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Kubanische Gegenwartsliteratur in Paris zwischen Exil und Transkulturalität

2013
978-3-8233-7846-4
Gunter Narr Verlag 
Andrea Gremels

Auf der Weltkarte verstreut formiert sich die kubanische Literatur heute jenseits von territorial fest umrissenen Grenzen in unterschiedlichsten Situationen des Kulturkontakts. Dieser Entgrenzung muss jedoch entgegengehalten werden, dass Kuba bis ins 21. Jahrhundert eine Bastion bleibt, die Schriftsteller ausgrenzt und nach wie vor in ein politisch motiviertes Exil zwingt. Im Spannungsfeld zwischen Exil und Transkulturalität nimmt Andrea Gremels die kubanische Gegenwartsliteratur in Paris in den Blick und untersucht deren kulturelles Selbstverständnis zwischen Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozessen.

Andrea Gremels Kubanische Gegenwartsliteratur in Paris zwischen Exil und Transkulturalität Frankfurter Studien zur Iberoromania und Frankophonie Frankfurter Studien zur Iberoromania und Frankophonie · 5 FFrraannkkffuurrtteerr SSttuuddiieenn zzuurr IIbbeerroorroommaanniiaa uunndd FFrraannkkoopphhoonniiee Herausgegeben von Roland Spiller und Sabine Hofmann Andrea Gremels Kubanische Gegenwartsliteratur in Paris zwischen Exil und Transkulturalität Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung von Eyda Machín aus dem Band Murmures du monde (Lille: TheBookEdition 2007): »Portique ouvert sur le néant Seuil entre vie et mort Passage aux lueurs d'aurore Voûte millénaire de pierres brûlées« Palenque, Méxique 1998 © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1868-1174 ISBN 978-3-8233-6846-5 Vorwort Nun, nachdem ich mit dieser Publikation die Grenzen der kubanischen Gegenwartsliteratur in Paris abgeschritten habe, möchte ich noch einigen Menschen danken, die mich bei dieser Arbeit begleitet haben. Zunächst und vor allem gilt mein Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Roland Spiller, der mich nach der Magisterarbeit dazu ermuntert hat, bei diesem Thema zu bleiben und es zur Promotion auszubauen. Sein Grundvertrauen in dieses Projekt hat mich immer wieder ermutigt. Auch konnte ich stets mit seiner Unterstützung rechnen und ich danke ihm für die vielen guten Gespräche, in denen ich von ihm wichtige Ratschläge und so manche Anregung empfing. Ihm sei auch für die Aufnahme meiner Arbeit in seine Schriftenreihe Frankfurter Studien zur Iberoromanistik und Frankophonie gedankt. Des Weiteren gebührt ein ausdrücklicher Dank meinem Korreferenten Herrn Prof. Dr. Ottmar Ette von der Universität Potsdam, der sich freundlicherweise dazu bereit erklärt hat, diese Arbeit als externer Gutachter zu betreuen. Seine ÜberLebenswissen-Trilogie hat meine Arbeit nennenswert bereichert und mir dazu verholfen, Kuba in all seinen viellogischen Facetten und Bewegungsläufen besser wahrzunehmen. Den Pariser AutorInnen Eyda Machín, William Navarrete, Miguel Sales und José Triana danke ich dafür, dass sie für Interviews und Gespräche zur Verfügung gestanden haben. William Navarrete trug darüber hinaus als kubanischer „Drahtzieher“ in Paris dazu bei, dass ich einige Kontakte mehr knüpfen und Querverbindungen entdecken konnte. Besonders glücklich schätze ich mich, dass ich durch Eyda Machín zu einem ansprechenden Titelbild gefunden habe. Anja Hardt rechne ich es hoch an, dass sie in einem eng gesteckten Zeitrahmen die Endkorrekturen begleitete und mich durch so manche Kommentare und Hinweise inspirierte. Meinem Vater, Dr. Georg Gremels, danke ich für die vielen Gespräche im Hintergrund, die mich in Fragen der Strukturierung bestärkt haben und in denen er mir trotz Fremdheit der Materie immer wieder interessante Denkanstöße und den ein oder anderen Korrekturvorschlag vermittelte. Meiner Schwester, Katja Gremels, danke ich für die sorgfältige Durchsicht der Autoreninterviews und meiner Mutter, Dorothea Gremels, für die persönlichen Ermunterungen und ihr immer offenes Ohr. Ich möchte auch nicht vergessen, Elisa Lorenz zu erwähnen, der ich für ihre aufmerksame und freundschaftliche Teilnahme am Werden dieser Arbeit dankbar bin. Schließlich gilt mein Dank dem Narr-Verlag, insbesondere Kathrin Heyng für ihre freundliche Beratung und Karin Burger für ihre Hilfestellung beim Erstellen des Schriftsatzes. Frankfurt im November 2013 Andrea Gremels Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ...............................................................................9 2. Die Ebenen der Untersuchung .........................................13 2.1 Exil und Transkulturalität ................................................... 13 2.2 Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozesse ................... 23 2.3 Kulturelles Selbstverständnis ............................................. 30 3. Kontext und Korpus der Untersuchung .........................39 3.1 Die Revolution und die kubanische Diaspora.................. 39 3.2 Leben und Schreiben in Paris ............................................. 43 3.3 Auswahl der Autoren .......................................................... 48 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung ...............53 4.1 Ich-Konstitution und Autopoiesis...................................... 53 4.2 Ausgrenzung......................................................................... 57 4.2.1 Selbstverlust und Selbsterhaltung ......................................... 57 4.2.2 Vergangenheitsverlust und Selbstentfremdung .................. 61 4.2.3 Abwesende Anwesenheit oder anwesende Abwesenheit? 63 4.3 Eingrenzung .......................................................................... 70 4.3.1 Fremdheitserfahrungen in Paris ............................................ 70 4.3.2 Das isolierte Ich ........................................................................ 73 4.4 Abgrenzung........................................................................... 78 4.4.1 Befremdliches Kuba................................................................. 78 4.4.2 Abgrenzungslinien in Paris .................................................... 82 4.4.3 Abgegrenzte Transnationalität............................................... 85 4.5 Entgrenzung.......................................................................... 88 4.5.1 Gebrochene Autobiographie: Pasarelas ................................ 88 4.5.2 Entgrenzung des Selbst ........................................................... 92 4.6 Zwischenfazit: Existentielle Situation................................ 96 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung...............99 5.1 Stimme, Sprachigkeit und Sprachlichkeit ......................... 99 5.2 Ausgrenzung....................................................................... 106 5.2.1 El olvido: Das Verstummen der Stimme .............................. 106 5.2.2 Los olvidados: Sprachberechtigung ....................................... 111 5.2.3 No olvides: Wortergreifung als Widerstand ........................ 115 5.3 Eingrenzung ........................................................................ 123 5.3.1 Sprachliche Isolation in Paris ............................................... 123 5.3.2 Exil als Motor des Schaffens ................................................. 129 5.3.3 Stille und Resonanz ............................................................... 133 5.4 Abgrenzung......................................................................... 140 5.4.1 Intertextualität und Regionalismus ..................................... 141 5.4.2 Transmediales Erinnern: María Belén Chacón................... 147 5.4.3 Lezama Lima als figura proa.................................................. 152 5.5 Entgrenzung........................................................................ 163 5.5.1 Stimmenvielfalt und kulturelles Übersetzen..................... . 164 5.5.2 Sprachenvielfalt und Übersetzungen .................................. 170 5.5.3 Ein frankophones Kuba? ....................................................... 180 5.6 Zwischenfazit: Sprachliche Positionierung..................... 189 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn .............193 6.1 Zwischenräume und Inselwelten..................................... 193 6.2 Ausgrenzung....................................................................... 201 6.2.1 Das Haus und die Straßen .................................................... 201 6.2.2 Zusammenkünfte ................................................................... 210 6.2.3 Havanna: Das verlorene Paradies........................................ 218 6.3 Eingrenzung ........................................................................ 224 6.3.1 Inseln als Fraktionierung von Räumen ............................... 225 6.3.2 Tierra encadenada.................................................................. 229 6.3.3 Insel-Welt: Patria-Mar ........................................................... 235 6.4 Abgrenzung......................................................................... 244 6.4.1 Karnevalisierung von Paris .................................................. 244 6.4.2 Flanieren in Pigalle ................................................................ 248 6.5 Entgrenzung........................................................................ 255 6.5.1 Paris im Herbst....................................................................... 255 6.5.2 Havanna: Utopie oder Dystopie? ........................................ 262 6.5.3 Die Inselwelt im Louvre ......................................................... 267 6.5.4 Kuba in Marokko ................................................................... 272 6.6 Zwischenfazit: Verortungsproblematik .......................... 281 7. Schlusswort ........................................................................285 8. Bibliographie .....................................................................289 Anhang A: Autoreninterviews ............................................307 1. Einleitung Mit ihrem 50-jährigen Bestehen im Januar 2009 hat die kubanische Revolution das 20. Jahrhundert überdauert und ist im 21. Jahrhundert angekommen. In dieser Zeit hat Kuba zahlreiche Ausreisewellen erlebt und ist heute - mit einem Anteil von 15-20% Exilierter an der Gesamtbevölkerung - eines der Länder mit dem höchsten Prozentsatz an Emigranten, vor allem an Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern. Durch die Migrationsbewegungen sind weltweit neue Zentren kubanischer Kultur entstanden. Eines davon befindet sich in Paris und beheimatet eine Gruppe zeitgenössischer Autorinnen und Autoren. 1 Einige unter ihnen haben bisher wenig Beachtung gefunden und wurden auf literaturwissenschaftlichem Terrain noch nicht bearbeitet. Was bedeutet es für diese SchriftstellerInnen, in Paris zu leben und zu schreiben? Und was heißt in diesem Zusammenhang Leben und Schreiben im Exil? Diese Fragen gaben den Anstoß für eine Magisterarbeit, die ich im Jahr 2007 schrieb. 2 Der Untersuchung lag der von William Navarrete im Jahr 2004 herausgegebene Gedichtband Ínsulas al pairo. Poesía cubana contemporánea en París zu Grunde, in der die Texte von elf DicherInnen vereint sind. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit erschien die Anthologie in einer zweiten, erweiterten Auflage. 3 Doch bot dies - und eine Reihe weiterer Publikationen in den letzten fünf Jahren - nicht den alleinigen Anlass für eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Vor allem ließ mich die Problematik des ZwischenWeltenSchreibens nicht los. 4 Dieses Phänomen über eine Konzeptualisierung der Grenze zu erfassen, auszuloten und zu begreifen, bildet die Ausgangslage der vorliegenden Arbeit. In Zeiten einer beschleunigten Globalisierung, die zunehmend transnationale Bewegungen von Menschen auslöst, transversale Vernetzungen von Kulturen erzeugt und transkulturelle Verfasstheiten von Gesellschaften hervorbringt, zeigt das Beispiel der kubanischen AutorInnen in Paris immer noch bestehende Grenzen auf, die Menschen und Kulturen vonein- 1 Im Folgenden wird auf die Schreibweise AutorInnen zurückgegriffen. In wenigen Ausnahmen wird aus stilistischen Gründen darauf verzichtet. 2 Gremels, Andrea (2007): Kubanische Lyrik in Paris am Beispiel von Ínsulas al pairo. Auf der Suche nach Identitäten zwischen Welten und in Zwischenwelten. Abschlussarbeit zur Erlangung des Magistergrades. Frankfurt: n.v. 3 Navarrete, William (Hg.) (2007): Ínsulas al pairo. Poesía cubana contemporánea en París. Valencia: Aduana Vieja. Im Folgenden IP. 4 Ette, Ottmar (2005): ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos. 1. Einleitung 10 ander trennen. Das 50-jährige Jubiläum der Revolution bedeutet für viele AutorInnen im Exil einerseits, weiterhin von ihrer Heimat ausgeschlossen zu bleiben und nicht dorthin zurückkehren zu können. Kuba im 21. Jahrhundert ist andererseits ein gutes Beispiel dafür, dass bestehende Grenzen immer mehr aufgehoben werden: Mit der neuen Reiseregelung vom 15. Januar 2013 vollzieht sich eine lang ersehnte Öffnung der Insel. Fortan ist allen Kubanern die Ausreise erlaubt und damit den ideologischen Hardlinern des kubanischen Exils ein weiterer Grund entzogen, sich über die Hartnäckigkeit eines Regimes zu beklagen, das die Bewohner der Insel von der Welt isoliert. Auch in Bezug auf die Kulturschaffenden weicht die scharf gezogene Grenze, die sich in fünf Jahrzehnten Diaspora-Geschichte zwischen den SchriftstellerInnen innerhalb und außerhalb Kubas aufgebaut hat, mehr und mehr auf. Der Dialog zwischen beiden Seiten nimmt zu und sorgt dafür, dass die Diaspora sich immer weniger um die bestehenden Grenzen kümmert. Zumindest erscheint Kuba heute 5 als exemplarisches Paradigma sowohl für transkulturelle Grenzüberschreitungen in einer globalisierten Welt als auch für die Existenz von klar gezogenen Grenzen, die mit Ausschlussmechanismen und trennenden Brüchen verbunden sind. Ausgehend davon ist also auch die kubanische Literatur in Paris diesen Grenzziehungen ausgesetzt. Und doch muss man sie gleichzeitig als entgrenztes Phänomen betrachten. Die vorliegende Arbeit rückt die widersprüchlichen Prozesse von Ausgrenzung, Eingrenzung, Abgrenzung und Entgrenzung ins Zentrum des analytischen Interesses und stellt damit die Frage nach dem kulturellen Selbstverständnis dieser Literatur, welches sich zwischen, entlang und mithilfe von Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozessen herausbildet. Im Hinblick auf den methodischen Zugang haben mich grundsätzlich die drei von Paul Ricœur aufgestellten Ebenen der Mimesis geleitet: Die Produktionsebene, die Textebene und die Rezeptionsebene. 6 So wird mit Blick auf die Produktionsebene gefragt, welche Auswirkungen das Exil auf das literarische Schaffen der kubanischen GegenwartsautorInnen in Paris hat. Auf der Textebene steht die Frage im Vordergrund, wie sich das Phänomen des Lebens und Schreibens zwischen den Kulturen inhaltlich und strukturell in den Texten widerspiegelt. Aufgrund der Marginalität, in der sich 5 In Anlehnung an den Titel des Sammelbands von Ette, Ottmar / Franzbach, Martin (Hg.) (2001): Kuba heute: Politik, Wirtschaft, Kultur. Frankfurt: Vervuert. 6 Vgl. Ricœur, Paul (1983): Temps et récit. Band I. Paris: Seuil, 83-129. Die Produktionsebene (Mimesis I) betrifft den Akt des Schreibens und damit die „médiations symboliques de l’action“ (88), die Textebene (Mimesis II) beschreibt die referentielle und strukturelle Dimension des Textes (101) und die Rezeptionsebene (Mimesis III) beschäftigt sich mit „l’intersection du monde du texte et du monde de l’auditeur“ (109). 1 Einleitung 11 die kubanischen AutorInnen in Paris befinden, wird - was das Verhältnis zwischen Text und Leser betrifft - rezeptionssoziologischen Überlegungen der Vorrang gegenüber rezeptionsästhetischen Analysen gegeben. Innerhalb dieser kontextbewussten Herangehensweise, die die lebensweltliche Situation des ‚kubanischen’ Schreibens in Paris mit einbezieht, wird die vorliegende Arbeit zusätzlich durch einen empirischen Teil in Form von Interviews erweitert, die sich im Anhang befinden (Anhang A: Autoreninterviews). Gattungsspezifisch liegen den Analysen zum Großteil lyrische Texte zugrunde. Somit werden Ricœurs Überlegungen zur (narrativen) Mimesis durch die Beschäftigung mit der (dichterischen) Poiesis ergänzt. 7 Dergestalt dient der vorliegende Textkorpus zum einen dazu, poetologische und ästhetische Merkmale einer Lyrik des Exils zu erarbeiten. Zum anderen liegt mir vor allem daran, die Lyrik für eine transkulturell ausgerichtete Literaturwissenschaft in den Blick zu bringen, da sie zugunsten der Narrativik oft vernachlässigt wird. 8 Ziel der Arbeit ist es, anhand des zu großen Teilen bisher unerforschten Werks der zeitgenössischen kubanischen AutorInnen in Paris das umfassende Bild einer grenzüberschreitenden Literatur zu entwerfen, die gleichzeitig durch die Grenzen des Exils geprägt ist. Damit ermöglicht die Konzentration auf den Korpus der in Paris schreibenden AutorInnen zugleich einen exemplarischen Einblick in die Situation der kubanischen Gegenwartsliteratur im 21. Jahrhundert. Das hier eingesetzte analytische Instrumentarium kann darüber hinaus der Erforschung der kubanischen Literaturgeschichte, sowie lateinamerikanischer Exil- und Migrationsliteraturen dienen. 7 Nach Aristoteles’ Poetik beschreibt die Mimesis den Akt der Nachahmung, die Poiesis den Akt der schöpferischen Hervorbringung. Aristoteles (1982): Poetik. Fuhrmann, Manfred (Hg. & Übers.): Stuttgart: Reclam, Kap. 25. 8 Vgl. den Beitrag von Birk, Hanne / Neumann, Birgit (2002): „Go-Between: Postkoloniale Erzähltheorie“. In: Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT, 115-152. Die Autorinnen machen den kontextuell ausgerichteten „postkolonialen Theoriekomplex“ der Kulturwissenschaften für die „formal orientierte [...] Erzähltheorie“ fruchtbar und entwerfen auf dieser Grundlage eine transkulturell ausgerichtete, „postkoloniale Erzähltheorie“ (115). Eine „transkulturelle Lyriktheorie“ existiert meines Wissens noch nicht. Einige, vor allem sprach- und übersetzungstheoretische Überlegungen zur „Lyrik in / nach Zeiten der Migration“ finden sich in Ette, Ottmar (2004): ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologien. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 245-252. . 2. Die Ebenen der Untersuchung In einem ersten Überblick werden die Termini näher beleuchtet, die für diese Arbeit konstitutiv sind. Dabei unterscheide ich zwischen vier Ebenen der Untersuchung: Zunächst geht es auf struktureller Ebene um das Thema Exil und Transkulturalität, das die Grundlage meiner gesamten Untersuchung darstellt (2.1). Auf der vertikalen Ebene werden dann die für meine Argumentation entscheidenden Begriffe von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen hergeleitet (2.2). Die horizontale Ebene schließlich untergliedert die Untersuchung in die drei Kategorien Existenz, Sprache und Raum. Dabei zieht sich die Frage nach kulturellem Selbstverständnis durch diese Arbeit, als deren wichtiges Element die Thematik von Erinnerung und Gedächtnis bedeutsam wird, die als zeitliche Kategorie einen roten Faden der Untersuchung darstellt (2.3). Die Gliederung dieser Arbeit lässt zwei Leserichtungen zu. Entlang der horizontalen Ebene kann man dem chronologischen Aufbau folgen. Es ist aber auch möglich, die Untersuchung ihrer vertikalen Ausrichtung nach zu erschließen, also entlang der Grenzbegriffe Ausgrenzung, Eingrenzung, Abgrenzung und Entgrenzung, die sukzessiv in jedem der Hauptkapitel behandelt werden. 2.1 Exil und Transkulturalität Das Begriffspaar Exil und Transkulturalität beschreibt ein Spannungsverhältnis, wenn nicht sogar eine kontrapunktische Gegensätzlichkeit. Diese Widersprüchlichkeit ist bereits in der Dialektik des Exilbegriffs selbst angelegt, die das Verlorengegangene wie das Gewonnene gleichermaßen umgreift: Das Ausgestoßensein und Fremdsein des Exilanten in der Welt könne im positiven Sinne zu einer „originality of vision“ beitragen, meint Edward Said; es führe zu einer „perspectiva más larga“, heißt es bei Karl Kohut und es berge die Möglichkeit „de multiplicar los focos“, so Claudia Hammerschmidt. 1 Doch zuallererst ist das Leben im Exil mit der Erfahrung eines existentiellen Bruches verbunden, mit einem „unheilbaren Verlust“, wie Said 1 Said, Edward (2001): „Reflections on exile“. In: Ders.: Reflections on exile and other literary and cultural essays. London: Granta Books, 186; Kohut, Karl (1983): Escribir en París. Frankfurt: Vervuert, 32; Hammerschmidt, Claudia (2010): „Escribir (d)el exilio o La literatura como experimento ecológico de Guillermo Cabrera Infante“. In: Gremels, Andrea / Spiller, Roland (Hg.): Cuba: La Revolución revis(it)ada. Tübingen: Gunter Narr, 191. 2. Die Ebenen der Untersuchung 14 es ausdrückt und einer essentiellen Traurigkeit darüber, etwas für immer zurückgelassen zu haben. 2 Leben im Exil bedeutet Leben in der Vorläufigkeit, in der steten - doch meist illusorischen - Hoffnung auf eine baldige Rückkehr, ein Sitzen auf gepackten Koffern, wie es bei Mario Benedetti heißt: „[T]e negás de deshacer las maletas porque tenés la ilusión de que el regreso será mañana.“ 3 Dem Leben im Exil ist qua definitionem die Abwesenheit eingeschrieben, die Abwesenheit der Heimat, der Sprache und Kultur, der vertrauten Menschen, ja die Abwesenheit einer gelebten und geliebten Vergangenheit, die der Exilant in der Gegenwart wiederzufinden sucht: „El desterrado es ese tipo de persona que ha perdido a su amante y busca en cada rostro nuevo el rostro querido“, schreibt Reinaldo Arenas. 4 Die Bezeichnung „desterrado“, die Arenas hier wählt, ist einer aus der Vielzahl an Begriffen, die das Spanische zu bieten hat, um den Zustand desjenigen zu benennen, der sein Land verlassen musste. Neben „destierro“, „Enterdung“, und „desarraigo“, „Entwurzelung“, ist noch „expatriado“ zu nennen, was man mit „entheimatet“ übersetzen kann und nicht zuletzt „desplazamiento“, das vor allem in der englischsprachigen Migrationsforschung als displacement sehr geläufig ist. All diese Begriffe betonen mit den Präfixen „ex“ und „des“ einen Bruch und setzen damit gleichzeitig eine vorgängige ‚Erdverbundenheit’ des Menschen voraus‚ eine territoriale ‚Verwurzelung’. Passend hierzu erscheint die herkömmliche Etymologie des aus dem Lateinischen stammenden Begriffs „exilio“, der seiner zweiten Silbe nach mit „solum“ in Verbindung gebracht wird, d.h. mit „Erde“, „Boden“ bzw. „Land“. 5 Gegenwärtige etymologische Erklärungen machen hingegen darauf aufmerksam, dass die zweite Silbe auf den Wortstamm „ul“ zurückgeht, der gemeinhin Verben des Gehens kennzeichnet (z.B. „ambulare“). Im Hinblick auf das lateinische „exul“ verweist das Wort dann auf das Weggehen, genauer auf „denjenigen, der fortgeht“. 6 Hierbei löst das Mo- 2 [T]rue exile is a condition of terminal loss [...]. Its essential sadness can never be surmounted“ (Said 2001: 173). 3 Benedetti, Mario (1997): Andamios. Santiago: Alfaguara, 21. Eine oft angewandte Metapher vieler ExilautorInnen sei die des „Wartesaals“, so Guy Stern (1998): „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Exilliteratur? “ In: Ders. (Hg.): Literarische Kultur im Exil. Gesammelte Beiträge zur Exilforschung. Dresden: Dresden University Press, 22. 4 Arenas, Reinaldo (2001): Antes que anochezca. Barcelona: Tusquets, 315. 5 Definition gemäß Kluge, Friedrich (1999): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 23. Auflage. Berlin / New York: de Gruyter, 239. 6 Vgl. Nancy, Jean-Luc (1996): „La existencia exiliada“. Aus dem Französischen übersetzt von Juan Gabriel López Guix. In: Archipiélago. Cuadernos de crítica de la cultura 26, 34-39, 35. Nancy erklärt die Etymologie ‚ex-solum’ sogar für „falsch“. Vgl. auch den Eintrag „exile“ im Oxford English Dictionary: 2.1 Exil und Transkulturalität 15 ment der Bewegung die Betonung der Erdhaftigkeit ab. Im Sinne dieser ‚Wegwärts’-Bewegung lässt sich das Exil mit seinem aus dem Griechischen stammenden Pendant in Relation bringen: Diaspora bedeutet so-viel wie „wegverstreut“ oder „zerstreut“ (von gr. „dia“, „weg“ bzw. „zer-“ und „sporá“, „Streuung“). Beide Begriffe kommen zuerst mit der Vertrei-bung der Juden aus Israel im sechsten Jahrhundert v.Chr. auf. 7 Auch in der Antike wurden Zwangsentfremdung, Verschleppung und Verbannung aus der Heimat als harte Strafe und Verurteilung eingesetzt - man denke hierbei an den römischen Dichter Ovid, eine der wohl berühmtesten antiken Figuren des Exilanten. Eine genaue Begriffsbestimmung von Exil und Diaspora vorzunehmen stellt eine ganz eigene Herausforderung dar. Dies ist einerseits auf den inflationären Gebrauch dieser Termini zurückzuführen, andererseits sind beide Themen lange nur meist historisch-deskriptiv untersucht worden. 8 Angesichts der Diaspora-Studien bringt die Betrachtung der jeweiligen ‚Einzelfälle’ mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten hervor. 9 Darüber hinaus existieren auch kulturspezifische Nuancierungen der Begriffe. Im aktuellen Fall Kubas hat der Exilbegriff einen stark ideologischen Beigeschmack angenommen. Im Gegensatz dazu erscheint Diaspora als der neutralere Terminus. Iván de la Nuez behauptet sogar, dass damit das politische Ausmaß des kubanischen Exils vertuscht werde: „[E]ste término [diáspora] surge precisamente como maquillage a otra palabra que al Estado cubano le disgusta en extremo: exilio.“ 10 Wenn Frauke Gewecke also zwischen dem Exil als „subjektive Befindlichkeit“ und der Diaspora als „faktische Positionierung“ unterscheidet, dann geschieht dies vor dem Hintergrund der oben genannten Begriffsnuancen: Diaspora meint - wertneutral - den „kulturgeographischen Aspekt der weltweiten Verstreuung kubanischer Litera- http: / / oxforddictionaries.com/ definition/ english/ exile? q=exile. Zugriff: 15.02.2013. http: / / www.hojaderuta.org/ imagenes/ jean-luc.pdf. Zugriff: 15.01.2013. Der Artikel erschien erst 2001 erstmals auf Französisch in der Zeitschrift Cahiers Intersignes 14-15. 7 Vgl. McClennen, Sophia (2004): The Dialectics of Exile. West Lafayette: Purdue UP, 15. 8 Dies gilt besonders für die Religionswissenschaft, so Ruth Mayer. In den Kulturwissenschafen sei die Debatte um den Begriff überhaupt erst richtig zu Beginn der 1990er Jahre losgetreten. Vgl. Mayer, Ruth (2005): Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung. Bielefeld: transcript, 9. 9 Robin Cohen versucht sich an einer Typologie von Diasporen, die nicht ganz überzeugen will: Er unterscheidet u.a. zwischen der klassischen Diaspora des Judentums, zwischen „Victim diasporas“, „Trade diasporas“ und „Labour and imperal diasporas“ (wobei die Verwendung des „Imperialen“ recht unglücklich gewählt ist, wie auch Ruth Mayer meint, 2005: 86). Auf die Karibik wendet Cohen den Typus „Cultural diasporas“ an, der sich für den Fall Kuba noch als problematisch herausstellen wird. Vgl. Cohen, Robin (1997): Global Diasporas. An Introduction. London: UCL Press. 10 De la Nuez, Iván (1998): La balsa perpetua. Barcelona: Editorial Casiopea, 30. Hervorhebung de la Nuez. 2. Die Ebenen der Untersuchung 16 tur und Kultur“. Das Exil hingegen enthält die wertende Konnotation einer „endgültigen Verbannung“ und steht darüber hinaus im Zusammenhang mit dem sozialpsychologischen Aspekt des Identitätsbruchs. 11 Die Definition Geweckes impliziert eine weitere Grundunterscheidung, der diese Arbeit folgt: während die Diaspora ein gruppenspezifisch zu betrachtendes Phänomen darstellt, verweist das Exil auf die Dimension der subjektiven Erfahrung, d.h. auf das Schicksal des Einzelnen. Die Debatte um Exil und Diaspora hängt darüber hinaus immer auch mit der Frage nach einer freiwilligen oder gezwungenen Ausreise und einer ‚vorläufigen’ oder aber endgültigen Emigration zusammen. Denn gemäß de la Nuez kann die Zugehörigkeit zur Diaspora vorübergehend sein, da sie die Möglichkeit einer Rückkehr auf die Insel einschließt. Das Exil hingegen ist eine Kategorie der Endgültigkeit (1998: 30). Karl Kohut differenziert stattdessen zwischen dem exilio político und dem exilio cultural. Letzterer stimmt mit dem Begriff „expatriado“ weitgehend überein, unter dem man das freiwillige Verlassen des Landes versteht, dessen politisches Klima gleichwohl von einer Unterdrückung der Meinungsfreiheit und einer Feindseligkeit gegenüber jeglicher künstlerischer Innovation gekennzeichnet ist (vgl. Kohut 1983: 13). 12 Wer aus kulturellen Gründen sein Land verlässt, dem stünde theoretisch jederzeit eine Rückkehr offen, könnte man meinen. Auf den Fall Kuba angewendet, stellt man allerdings fest, dass sowohl politisches wie auch kulturelles Exil oft endgültig sind. Zu den AutorInnen dieser Arbeit gehört Miguel Sales, der auf Kuba acht Jahre politisch inhaftiert war, als eindeutiger Fall eines politischen Exilanten. José Triana, dessen Werk seit Ende der 1960er Jahre der Zensur des Castro- Regimes unterlag, ging 1980 unter politischem Druck als kulturell Exilierter nach Paris. Eyda Machín hingegen reiste 1966 zwar als Flüchtling aus, jedoch nicht als politisch Verfolgte. Wie Machín gehört auch William Navarrete zur Gruppe des exilio cultural, eine Rückkehr ist ihm jedoch unmöglich, da er in Paris zum exiliado político wurde. Kohut selbst ist sich bewusst, dass sich seine Kategorien in der Praxis oft als problematisch erweisen, da in vielen Fällen keine klare Unterscheidung zwischen ihnen getroffen werden kann (vgl. 1983: 14). Gerade in Anbetracht des schriftstellerischen und künstlerischen Schaffens überschneiden sich die kulturelle und die politische Dimension des Exils. Denn das politische Exil eines Autors ist ohne den kulturellen Hintergrund seiner schriftstellerischen Tätigkeit kaum denkbar. 11 Gewecke, Frauke (2001): „Kubanische Literatur der Diaspora (1960-2000)“. In: Ette / Franzbach, (Hg.), 551f. Über psychosoziale Aspekte hinaus untersuchen Grinberg / Grinberg auch psychoanalytische Aspekte des Exils. Vgl. Grinberg, Léon / Grinberg, Rebeca (1984): Psicoanálisis de la migración y del exilio. Madrid: Alianza. 12 Wie Kohut unterscheiden auch Grinberg / Grinberg zwischen einem „exilio forzoso“ und einem „exilio voluntario“ (1984: 198). Im Folgenden zitiert als Grinberg 1984. 2.1 Exil und Transkulturalität 17 Die genannten Beispiele zeigen eine wichtige Bewegungsrichtung Exilierter auf: „No vienen ‚hacia’ algo, sino huyendo o expulsados ‚de’ algo“ (Grinberg 1984: 191). Durch eine Negierung der Gegenwart und die Perspektive einer Zukunft, die sich aus der Illusion der Rückkehr nährt, führt das Ausgestoßen-Werden aus der Heimat oft zur Mythifikation des Vergangenen (vgl. ebd.). Damit ist das Exil von einer Rückwärtsgewandtheit gekennzeichnet, einem konstanten Rückbezug auf den verlorenen Ursprung. Dieser Aspekt lässt sich als ein ebenso wichtiges Moment bei der Bestimmung des Diaspora-Begriffs beobachten. Demnach konstituiert sich eine diasporische Gemeinschaft dadurch, dass sie 1. sich von einem ursprünglichen Zentrum an mindestens zwei periphere Orte verstreut hat, 2. Erinnerung, Vision oder Mythos des ursprünglichen Heimatlandes aufrechterhält, 3. sich im Gastland nicht voll akzeptiert fühlt, 4. sich der Aufrechterhaltung und Rekonstruktion ihrer Heimat widmet, 5. sich über die Beziehung zum Heimatland als Gruppe oder Gemeinschaft definiert. 13 Robin Cohen und Ruth Mayer gehen mit dieser Definition weitgehend konform (vgl. Cohen 1987: ix-x). Dabei bringt Mayer insbesondere den Aspekt der „imagined communities“ in das Konzept ein, um die Dimension der kollektiven Imagination hervorzuheben. 14 In Anlehnung daran konstituiert sich eine Diaspora unabhängig von einem gemeinsamen Aufenthaltsort über die „Idee einer identitätsstiftenden Grundlage“, wie z.B. einem gemeinsamen Gründungsmythos oder einer Schicksalsvision (vgl. Mayer 2005: 13). Dies betont den Konstruktcharakter des Bezugpunktes ‚Heimat’ und darüber hinaus im Sinne Benedict Andersons das Fiktionsgehalt im Begriff der Nation, die sich über historische und kulturelle Imaginationen und Projektionen selbst erfindet (vgl. ebd.: 11 / Anderson 1983: 6). Stellen also insbesondere diasporische Gemeinschaften wie die kubanische durch ihr Verstreut-Sein in der Welt die Nation als ideelle Einheit und abgestecktes Territorium in Frage? Mayer ist hier kritisch. Sie warnt vor einer Überdehnung des Diasporabegriffs bis ins Utopische, die Diasporen - mit der Betonung auf Heterogenität und Diversität - zu postnationalen Symbolen globalen Kulturkontakts und alternativer Modelle des Zusammenlebens mache (Mayer 2005: 85). Der Versuch von postkolonialen Theoretikern wie Stuart Hall, Homi Bhabha und Paul Gilroy, auf diese Weise monolithische Vorstellungen von Identität, Ursprung und Einheit im 13 Vgl. Safran, William (1991): „Diasporas in Modern Societies. Myths of Homeland and Return“. In: Diaspora 1: 1, 83f. 14 Vgl. hierzu Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso. 2. Die Ebenen der Untersuchung 18 Hinblick auf ethnische, kulturelle und nationale Zugehörigkeit zu durchbrechen, läuft dadurch Gefahr, die real existierende Konflikthaftigkeit von Diaspora und Exil zu übergehen (vgl. ebd.). 15 Daher hält Mayer eine Identifizierung des Begriffs Diaspora mit dem Begriff des „Transnationalen“ im Sinne eines „kosmopolitischen Internationalismus“ für fragwürdig (2005: 14, 17). Diasporen mögen kosmopolitische und flexible Formen der (post)modernen Lebensweisen darstellen, aber sicherlich ist mit der diasporischen Existenz nicht wesentlich oder notwendig eine subversive oder kritische Tendenz gegenüber dem Nationalstaatsgedanken verbunden (ebd.: 14). 16 Das bedeutet, dass eine Diaspora nicht ohne Rückbezogenheit auf einen Ursprung auskommt, die immer auch mit der Frage nach der nationalen Zugehörigkeit verbunden ist. Was geschieht aber, wenn sich eine Diaspora so zur Welt hin öffnet, dass sich die Ursprungsbezogenheit verwischt, wenn der Exilant seine Koffer auspackt und sich im Aufnahmeland einrichtet? Die rückwärtsgewandten Begriffe Exil und Diaspora vermögen diese vorwärtsgewandten Phänomene nicht zu begreifen. In dieser Hinsicht erweist sich der Begriff der Transkulturalität in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion als Schlüsselkonzept, für das der kubanische Anthropologe Fernando Ortiz bereits 1940 die konzeptuelle Grundlage bereitstellte. 17 Lateinamerika und insbesondere die Karibik sind in Bezug auf (post)moderne Kulturtheorien besonders produktiv. Das ist auf die Tatsache der kulturellen, sprachlichen und ethnischen Durchmischung zurückzuführen, die durch den Kolonialismus zur Heterogenität der heutigen Bevölkerung geführt hat. 18 Den Ausgangspunkt der trans- 15 Stuart Hall plädiert für eine metaphorische Nutzung des Diaspora-Begriffs, um ihn von seinem essentialistischen Gehalt loszulösen und ihn als Begriff für Heterogenität und Hybridität zu verstehen. Vgl. Hall, Stuart (1994): „Cultural Identity and Diaspora“. In: Williams, Patrick / Chrisman, Laura (Hg.): Colonial Discourse and Postcolonial Theory. New York: Colombia University Press, 401f; Bhabha, Homi (1990): „Indroduction: Narrating the Nation“. In.: Ders. (Hg.): Nation and Narration. New York: Routledge, 1-7; Gilroy, Paul (1993): Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. London: Verso. 16 Dass „Cosmopolitanism“ ein sehr vages Konzept für die Beschreibung von Diasporen sei, meinen auch Marie-Aude Baronian u.a. Vgl. Baronian, Marie-Aude / Besser, Stephan / Jansen, Yolande (2007): „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Diaspora and Memory. Figures of Displacement in Contemporary Literature, Arts and Politics. Amsterdam / New York: Rodopi, 9. 17 Vgl. Ortiz, Fernando (2002): Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar. Madrid: Cátedra, 254. 18 Einen ausführlichen Überblick unter Bezugnahme auf Néstor Gárcia Canclini, Ángel Rama, Jesús Martín Barbero, José Joaquín Brunner und Nelly Richard liefert Rössner, Michael (2012): „Postcolonial Studies und Hispanoamerika“. In: Born, Joachim / 2.1 Exil und Transkulturalität 19 culturación in der Karibik bildet eine Phase der Gewalt, die Ortiz als „entrechoque terrible“ zwischen den Kulturen der ‚Alten’ und ‚Neuen’ Welt beschreibt (2002: 257). 19 Dieser Zusammenprall führte zu „desculturaciones“ („exculturaciones“) und „aculturaciones“ („inculturaciones“), durch die wiederum immer neue kulturelle Formationen („neoculturaciones“) entstanden sind (ebd.: 255). All diese Prozesse zusammen bezeichnet Ortiz als Transkulturation. Damit fasst er die kubanische Kultur als stets vorläufig, transitorisch und daher im ständigen Werden begriffen auf. Hierfür verwendet er die Metapher der „aves de paso“ (ebd.: 258). An anderer Stelle spricht er von der kubanischen Kultur als einem „ajiaco“, einem kubanischen Eintopf, wobei diese Metapher den Aspekt der Hybridität, also der Vermischung indigener, afrikanischer, europäischer und asiatischer Elemente einschließt. 20 Der Begriff der transculturación beinhaltet allerdings nicht nur die „Zutaten“ der Durchmischung, sondern vor allem „grenzüberschreitende Bewegungen“, so Ottmar Ette (2005: 166). Damit betont er vor allem den nomadischen und migratorischen Charakter, der durch das Präfix „trans“ zum Ausdruck kommt. Im Hinblick auf kulturelle Kreuzungen betont die Hybridität Verflechtungen und Vernetzungen im Sinne eines across cultures („quer durch“), während die Transkulturalität noch stärker auf das transversale Bewegungsmoment eines beyond cultures verweist („darüber hinaus“). 21 Folger, Robert / Laferl, Christoph / Pöll, Bernhard (Hg.): Handbuch Spanisch. Berlin: Erich Schmidt, 622f. Vgl. auch im gleichen Band: Borsò, Vittoria (2012): „Kategorien der Identität“, 429-439. Sie bespricht u.a. Konzepte kultureller Identität wie mestisaje (José Vasconcelos), criollismo (Pedro Henríquez Ureña), Antropofagismo (Mário de Andrade) und José Lezama Limas performativen Assimilationsbegriff (433f). In der frankophonen Karibik haben die von Édouard Glissant geprägten Begriffe Antillanité und Créolisation Konjunktur (Le discours antillais. Paris: Seuil, 1981; Poétique de la relation. Paris: Gallimard, 1990). Daran anschließend verfassen Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant 1989 den Éloge de la Créolité, eine Lobrede auf die Diversität (Paris: Gallimard, 2006). 19 Denn es kam dabei zur völligen Ausrottung der Urbevölkerung, gefolgt von der Sklaverei, die Tausende von Menschen „en condiciones de desgarre e amputación“ nach Kuba brachte (ebd.: 259). Diesen traumatischen Ursprung der transculturación betont auch Ángel Rama in seiner „transkulturellen Erzähltheorie“ Lateinamerikas. Rama, Ángel (1982): Transculturación narrativa en América Latina. Mexico: Siglo XXI, 32f. 20 Vgl. Ortiz, Fernando (1940): „América es un ajiaco“. In: La nueva democracia 40, 20-24. 21 Vgl. Welsch, Wolfgang (1997): „Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen“. In: Schneider, Irmela / Thompson, Christian (Hg.): Hybridkultur. Medien, Netze, Künste. Köln: Wienand, 83. Zum nomadischen, rhizomatischen und transversalen Verständnis von Hybridität und Transkulturalität vgl. auch Toro, Alfonso de (2005): „Pasajes - Heterotopías - Transculturalidad: estrategias de hibridaci n en las literaturas latinoamericanas: un acercamiento te rico“. In: Mertz-Baumgartner, Birgit / Pfeiffer, Erna (Hg.): Aves de paso. Autores latinoamericanos entre exilio y transculturaci n (1970-2002). Frankfurt: Vervuert, 21f. 2. Die Ebenen der Untersuchung 20 In der aktuellen Debatte der Literatur- und Kulturwissenschaften dient das Konzept der Transkulturalität dazu, die Komplexität der „veränderten Verfassung heutiger Kulturen“ im Kontext von Migration und Globalisierung beschreiben zu können und ein territorialisiertes Verständnis von Nation und Kultur in Frage zu stellen (Welsch 1997: Titel). 22 Er richtet die Aufmerksamkeit auf plurale Entwürfe kultureller Zugehörigkeit, die eindeutige, konstante Identitätsbestimmungen unterlaufen, d.h. auf eine multiple Zugehörigkeit, die verschiedenste kulturelle Ressourcen zu nutzen und auszuschöpfen weiß. 23 Mit der Betonung der Differenz, Uneinheitlichkeit, radikalen Vielfalt und Ursprungslosigkeit lehnt sich der Begriff an die Denkmodelle der Postmoderne an (vgl. Toro 2005: 13f). 24 Im Gegensatz zu den Implikationen des rückwärtsgewandten Exilbegriffs ist die Transkulturalität somit ein nach vorne gerichteter Begriff mit utopischem Gehalt, denn er deutet displacements positiv um. 25 Der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch geht beim Durchdenken des gegenseitigen Durchdringens und der fortschreitenden Hybridisierung von Kulturen soweit, die Kategorien des Eigenen und des Fremden gänzlich aufzulösen. Deswegen grenzt er die Transkulturalität von der Interkulturalität ab, einem ihm nach separatistischen und segmentierenden Begriff, der Kulturen als inselartig abgrenzbar und als homogene Einheiten versteht. 26 Mit Rücksicht auf den Aspekt des Durchdringens nimmt Ette eine ähnliche Unterscheidung vor: Er differenziert zwischen einem „interkultu- 22 Vgl. auch Schulze-Engler, Frank (2006): „Von ‚Inter’ zu ‚Trans’: Gesellschaftliche, kulturelle und literarische Übergänge“. In: Antor, Heinz (Hg.): Inter- und transkulturelle Studien. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 42. Welsch sagt in diesem Zusammenhang auf die personale Identität bezogen: „Es gehört zu den muffigsten Annahmen, daß die kulturelle Formation eines Individuums schlicht durch seine Nationalität oder Staatsangehörigkeit bestimmt sein müsse“ (1997: 73). 23 Vgl. Bhabha, Homi ([1994]2004): The location of culture. 13. Aufl. New York: Routledge; Schmidt-Welle, Friedhelm (2006): „Transkulturalität, Heterogenität und Postkolonialismus aus der Perspektive der Lateinamerikastudien“. In: Antor, Heinz (Hg.), 91; vgl. auch Birk / Neumann 2002: 120f. 24 Vgl. auch Ha, Kien Nghi (2005): Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld: transcript. Zur radikal widersprüchlichen Vielfalt der Postmoderne, vgl. Welsch, Wolfgang (2002): Unsere postmoderne Moderne. 6. Aufl. Berlin: AkademieVerlag. 25 Wie Ruth Mayer vor einer „romantisierten Verschleierung“ des Diasporabegriffs warnt (2005: 85), so kann sich im Hinblick auf die Transkulturalität das Denken in gegenseitiger Durchdringung und radikaler Vielfalt leicht den Vorwurf „Alles ist möglich“ einfangen. Vgl. Antor, Heinz (2006): „Multikulturalismus, Interkulturalität und Transkulturalität. Perspektiven für interdisziplinäre Forschung und Lehre“. In: Ders. (Hg.), 32. 26 Welsch kritisiert Johann Gottfried Herders Kulturbegriff, der sich „Kulturen wie geschlossene Kugeln oder autonome Inseln“ vorstellt. Diesen Separatismus behält der Interkulturalitätsbegriff seiner Ansicht nach bei (1997: 68-70). 2.1 Exil und Transkulturalität 21 rellen Miteinander“ und einem „transkulturellen Durcheinander“ (2005: 20, Hervorhebung Ette). 27 In Bezugnahme auf diese Konzepte werde ich beide Begriffe auf meinen Korpus kubanischer Literatur in Paris anwenden. Handelt es sich um Phänomene des Dialogischen, bei dem zwei vorwiegend voneinander abgrenzbare Kulturen sich gegenübertreten, wird der Terminus Interkulturalität verwendet. Überwiegt hingegen das Polylogische, also sowohl die transversalen Bewegungsmomente wie auch das Ineinanderdringen und ‚Sich-Queren’ verschieden(st)er Kulturen, tritt der Begriff der Transkulturalität in den Vordergrund. Die Rückwärtsgewandtheit - reflektiert in den Begriffen Exil und Diaspora - und die Vorwärtsgerichtetheit - herauskristallisiert im Konzept der Transkulturalität - stehen in einem kontrapunktischen Verhältnis zueinander. Was aber bedeutet dieses Spannungsfeld für die kubanische Gegenwartsliteratur in Paris? Ist der Schriftsteller im Exil „a retrospective and retroactive being“, wie es der russisch-amerikanische Autor Joseph Brodsky ausdrückt? 28 Oder handelt es sich um eine Gruppe von AutorInnen, die sich in guter kubanischer Transkulturationstradition verschiedenster kultureller Ressourcen bedient und sich damit jeglicher Essentialisierung widersetzt? Für meine Untersuchung werden die Brüche des Exils, die Heimatbezogenheit der Diaspora und das nach vorne gerichtete „transkulturelle Durcheinander“ gleichermaßen eine Rolle spielen. Im Hinblick darauf beziehe ich mich, angelehnt an die Überlegungen von Elisabeth Bronfen und Karl Kohut zur Exilliteratur, auf vier Kategorien: 1. Werke, in denen die AutorInnen die aktuelle oder historische Realität ihrer Heimat behandeln. 2. Werke, in denen das Exil als zentrales Thema vorherrscht. 3. Werke, die das Aufnahmeland zum Thema machen. 4. Werke, in denen weder das Thema des Exils noch die Realität der Heimat explizit zum Ausdruck kommt (vgl. Kohut 1983: 25). 29 27 Als dritte Kategorie kommt bei Ette noch das „multikulturelle Nebeneinander“ hinzu (20). Roy Sommer hingegen schlägt vor, Interkulturalität als Oberbegriff zu verwenden, unter den sich Multikulturalität und Transkulturalität einordnen lassen. Diese Einteilung ist insofern problematisch, als der Multikulturalismus den ‚Beginn’ der Kulturkontaktforschung markiert und seit den 1990er Jahren zunehmend wegen seiner Implikation der Trennung von Kulturen - im Etteschen Sinne eines ‚austauschlosen’ Nebeneinanders - abgelehnt wird. Vgl. Sommer, Roy (2008): „Interkulturalität“. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler, 326. Vgl. darin auch den Eintrag „Transkulturation“ von José Morales Saravia, der sich stark auf Ángel Rama bezieht (ebd.: 726). 28 Brodsky, Joseph (1991): „The condition we call exile“. In: Renaissance and Modern Studies 34, 4. 29 Bronfen unterscheidet vergleichbar zwischen 1. Der Identifikation mit dem Ursprungsland. 2. Der Identifikation mit dem Status oder der Existenz als Exilierter und 2. Die Ebenen der Untersuchung 22 Anhand der erstgenannten Kategorie werden die Art und Weise des Heimatbezugs und der Blickwinkel analysiert, aus dem heraus Kuba thematisiert wird. Darüber hinaus wird diskutiert, inwiefern sich diese Werke zur kubanischen Nationalliteratur zählen lassen, obwohl sie territorial ungebunden außerhalb der Insel geschrieben werden. Die zweite Kategorie dient dazu, das Augenmerk - insbesondere im Hinblick auf die Gattung der Lyrik - auf ästhetische Merkmale und formale Textstrukturen bei der Versprachlichung bzw. der Verdichtung des Exils zu lenken. 30 Mit der dritten Kategorie wird die Orientierung am Aufnahmeland erfasst, die zum potentiellen Ausgangspunkt für eine interkulturell ausgerichtete bzw. transkulturell durchdrungene Literatur des Exils wird. In der von Gewecke vorgeschlagenen Typologie von Exilliteratur beschreibt diese Neuorientierung, also der „Blick auf das Aufnahmeland“, den Moment, in dem ein Schriftsteller seine Identität als Exilant verlässt - damit aber auch gleichzeitig das Terrain der Exilliteratur (2001: 554). 31 Mit dieser dritten Kategorie, die bei Bronfen nicht auftaucht, kann einerseits das Phänomen einer universalen, kontext- und standortunabhängigen „Weltliteratur“ untersucht werden. Andererseits impliziert eben diese Kategorie, Möglichkeiten eines kontextgebundenen, transkulturellen und transversalen Schreibens zu erfassen, das über die Frage nach der Herkunft hinausgeht und multiple Zugehörigkeiten zum Ausdruck bringt. 32 Diese Kategorien dienen meiner Untersuchung als Leitlinien. Darüber hinaus zeigen sie, wie die aktuellen kulturwissenschaftlichen Paradigmen von Hybridität und Transkulturalität die literaturwissenschaftliche Exilforschung bereichern können. 33 3. der Identifikation mit dem Aufnahmeland. Vgl. Bronfen, Elisabeth (1993): „Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität“. In: Arcadia 28: 2, 170. Die dritte Kategorie Bronfens wird von Kohut allerdings ausgespart. Das erstaunt insofern, als dass er gerade Paris als Exilort lateinamerikanischer Literaten untersucht (vgl. 3.2 „Leben und Schreiben in Paris“). 30 Vgl. Englmann, Bettina (2001): Poetik des Exils. Tübingen: Niemeyer, 12. 31 Gewecke nennt lediglich zwei Kategorien, die in sich jeweils in zwei Richtungen ausdifferenziert sind. „Der Blick auf das Herkunftsland“ kann entweder mit dem „Gestus des Protests“ oder dem „Gestus der Resignation verknüpft“ sein. Der „Blick auf das Aufnahmeland“ kann von Isolation und Rückzug geprägt oder eben mit einem „neuen Lebensentwurf“ verbunden sein (ebd.: 553f). 32 Kohut bezieht sich mit dieser, m.E. etwas ungenauen Kategorie auf den kubanischen Autor Severo Sarduy, dessen Literatur poststrukturalistischen Charakters eher auf abstrakter Ebene anzusiedeln ist (1983: 25). 33 Dass transkulturelle und transnationale Perspektiven auch für die deutsche Exilforschung fruchtbar gemacht werden können, die sich meist auf das Exil von 1933-45 konzentriert, zeigen Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein (2012): „Vom anderen Deutschland zur Transnationalität. Diskurse des Nationalen in Exilliteratur und Exilforschung“. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 30, 2.2 Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozesse 23 Dadurch kann eine kulturwissenschaftliche Debatte um Hybridität und Transkulturalität, die Gefahr läuft, sich in einem utopischen „Alles ist möglich“ zu verlieren, durch Anwendung der Konzepte aus der Exilforschung wieder etwas eingegrenzt werden. 2.2 Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozesse Eine Untersuchung von Exil und Transkulturalität muss notwendigerweise das Phänomen der Grenze reflektieren, mit dem ExilantInnen und Diasporen qua natura verbunden sind, und Fragen nach Grenzzuständen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen aufwerfen. In den Kultur- und Literaturwissenschaften haben Reflexionen der Grenze gegenwärtig Konjunktur. Literatur der Grenze - Theorie der Grenze, Grenzen im Raum - Grenzen in der Literatur, Schreiben auf der Grenze: All diese Titel aus der Literaturwissenschaft stellen die Frage nach realen und symbolischen, sprachlichen und kulturellen, nationalen und historischen Grenzen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. 34 Die postkoloniale Literaturtheorie macht Gloria Anzaldúas Chicana-Roman Borderlands - La Frontera, der an der Grenze zwischen Mexiko und den USA angesiedelt ist, zu einem ihrer Gründungswerke. 35 Insbesondere im Hinblick auf den aktuellen Diskurs der kulturellen Hybridität ist gegenwärtig eine Tendenz zu verzeichnen, die die Durchlässigkeit von Grenzen als Überlappungszonen betont und so strenge Grenzziehungen immer mehr zu vernachlässigen scheint. Paradoxerweise sind es aber zugleich gerade diese Literaturen, die keinem Territorium, keiner Sprache und keiner Kultur eindeutig zugeordnet werden können, die ihren Lesern das Nachdenken über dennoch bestehende Grenzen - seien sie realer oder symbolischer Natur - förmlich aufdrängen. 36 Sie halten uns vor Augen, dass der Begriff der Grenze unüberholbar ist und in ihnen daher beständig mitgedacht werden muss. „Exilforschungen im historischen Prozess“, 242-273. Dieses germanistische Jahrbuch rückt die Themen Hybridität und Transkulturalität insgesamt immer mehr ins Blickfeld, was die Titel aktueller Ausgaben belegen, z.B. Nr.25 „Übersetzung als transkultureller Prozess“ (2007) und Nr.27 „Exil, Entwurzelung, Hybridität“ (2010). 34 Faber, Richard / Naumann, Barbara (Hg.) (1995): Literatur der Grenze - Theorie der Grenze. Würzburg: Königshausen & Neumann; Geulen, Eva (Hg.) (2010): Grenzen im Raum - Grenzen in der Literatur. Berlin: Erich Schmidt; Schuchardt, Beatrice (2006): Schreiben auf der Grenze. Postkoloniale Geschichtsbilder bei Assia Djebar. Köln: Böhlau. 35 Anzaldúa, Gloria (1987): Borderlands - La Frontera. The new mestiza. San Francisco: Aunt Lute. Radikal stellt dieses Werk nicht nur sprachliche und geographische Grenzen, sondern auch Gender-Zuschreibungen in Frage. 36 Hierzu meint Bernhard Waldenfels: „[J]ede reale Grenze hat einen symbolischen Einschlag, selbst die sogenannte natürliche Grenze, die es im strengen Sinne, als symbolunabhängige gar nicht gibt. Umgekehrt gibt es auch keine rein ideale 2. Die Ebenen der Untersuchung 24 Die Reflexion der Grenze am Gegensatzpaar des Begrenzten einerseits und Unbegrenzten andererseits gehört bereits in der antiken Naturphilosophie zu den Grundlagen des Denkens. Schon bei den Vorsokratikern setzt sich die Einsicht durch, dass ein denkerisches Erschließen der Welt ohne den Begriff der Grenze unmöglich ist. 37 Drei philosophische Positionen dazu seien hier aufgeführt: 1. Im Sinne Aristoteles’ ist nur das Begrenzte erkennbar, das Unbegrenzte hingegen notwendig unbestimmbar. Damit ist die Grenze das „Äußerste eines jeden Dings sowohl als erstes, außerhalb dessen nichts, als auch als erstes, innerhalb dessen alles ist.“ 2. Die Grenze verweist aus sich heraus auf dasjenige, was jenseits von ihr liegt. Damit bringt sie unweigerlich das „Diesseits“ mit dem „Jenseits“ zusammen. Sie trennt und verbindet zugleich (vgl. Wokart 1995: 279). 3. Erst die Grenze trägt zur Unterscheidung bei und ermöglicht so die Konstitution und Determinierung der Gegenstände. Grenze als Abgrenzung oder Grenzziehung verstanden impliziert ein „Wissen über beide Seiten der Grenze“. 38 Im Hinblick auf diese Kategorien müssen die absolute Grenze zwischen dem Endlichen und Unendlichen und die relative Grenze zwischen einem Bereich und einem anderen voneinander unterschieden werden. Im Folgenden geht es mir um diese relativen Grenzen, die ich daher im lebensweltlichen Diesseits und nicht in einem metaphysischen Kontext verorten Grenze.“ Waldenfels, Bernhard (1990): Der Stachel des Fremden. Frankfurt: Suhrkamp, 37. 37 Vgl. Artikel Grenze (Peras). In: Ritter, Joachim (Hg.) (1974): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, „Grenzbegriff“ Spalte 871-873; „Grenze“ Sp. 873-875, „Grenze, Schranke“ Sp. 875-877. Im Folgenden mit HWPh abgekürzt. Vgl. auch Wokart, Norbert (1995): „Differenzierungen im Begriff ‚Grenze’. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs“. In: Faber / Naumann (Hg.), 276. 38 Zum Zitat in Punkt 1 vgl. Aristoteles (1994): Metaphysik. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 144, 1022a. Punkt 2 bezieht sich auf Johann Gottfried Fichte, vgl. HWPh 3, Sp. 876. Hier wird betont, dass erstmals bei Fichte Endlichkeit und Unendlichkeit zu einem qualitativen Begriff werden. Zur Trennung zwischen Diesseits und Jenseits vgl. auch Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie I. Frankfurt: Suhrkamp, 186. Zur verbindenden und trennenden Qualität der Grenze, vgl. auch Borsò, Vittoria / Görling, Reinhold (2004): „Einleitung“. In: Dies. (Hg.): Kulturelle Topographien. Stuttgart: Metzler, 8. Zur Abgrenzung in Punkt 3 vgl. Aristoteles, Metaphysik V, 17, 1022a und Ludwig Wittgenstein: Tractatus logicophilosophicus, zitiert nach Schmitz-Emans, Monika (2006): „Vom Archipel des reinen Verstandes zur Nordwestpassage. Strategien der Grenzziehung, der Reflexion über Grenzen und des ästhetischen Spiels mit Grenzen“. In: Burtscher-Bechter, Beate / Haider, Peter / Mertz-Baumgartner, Birgit / Rollinger, Robert (Hg.): Grenzen und Entgrenzungen. Historische und kulturwissenschaftliche Überlegungen am Beispiel des Mittelmeerraums. Würzburg: Königshausen & Neumann, 21. 2.2 Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozesse 25 und untersuchen möchte. Dabei steht die Frage nach kulturellen Grenzziehungen und -überschreitungen im Vordergrund, die im Medium der Literatur vor allem auf der symbolischen Ebene Ausdruck finden. Die Diskussion um den Begriff der Grenze hat weder in der Philosophie noch in der Literatur- und Kulturwissenschaft zu eindeutigen Definitionen führen können. Das spiegelt sich auch in der „Polysemie“ des Grenzvokabulars (vgl. Schmitz-Emans 2006: 26). Man denke beispielsweise an das lat. „finis“, „limes“, „terminus“ oder auch „determinatio“ (vgl. Wokart 1995: 277). 39 Im deutschen Sprachgebrauch wird Grenze auch im Sinne von „Schranke“, „Ende“, „Rand“ oder „Front“ verwendet. 40 Letzteres steht in Beziehung zum lat. „frontis“, das sich in den romanischen Sprachen durchgesetzt hat (z.B. sp. „frontera“; frz. „frontière“; it. „frontiera“). Zur semantischen Vielheit äußert sich Régis Debray wie folgt: La notion de frontière [...] est si peu univoque qu’il y a, dans chaque langue, plus qu’un mot pour la dire: limes en latin, n’est pas finis, pas plus que border, en anglais, simple limite entre deux États, n’est frontier, limite provisoire d’un espace civilisé avec une zone barbare à conquérir. 41 Monika Schmitz-Emans zufolge transportiert das Verständnis relativer Grenzen im Sinne der „frontière“ immer auch die Bedeutung einer Konfrontation zweier Instanzen, die sich auf jeweils einer Seite der Grenze gegenüberstehen (2006: 21). Darüber hinaus stellt sie fest, dass diese Semantisierung des Grenzverständnisses spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der „Territorialisierung des Denkens“ steht, das seinen „konkreten Ausdruck“ in der Geschichte der europäischen Staaten findet. Im Zuge einer zunehmenden Politisierung weite sich das Grenzkonzept zu einem „nationalistischen Kampfbegriff“ aus (ebd.: 22). Kulturtheoretisch bedeutet dies, dass die Grenze zunehmend dazu dient, den Rahmen des Eigenen abzustecken, um es vom Anderen zu trennen. 42 Damit besitzt die Grenze einen Ordnung schaffenden Charakter: in 39 Vgl. auch das griech. „peras“, „horos“, „phragma“. 40 Aristoteles stellt fest, „dass man Grenze in ebenso viel Bedeutungen gebraucht wie Prinzip, ja in noch mehr Bedeutungen.“ Metaphysik V, 154, 1022a. Wokart kritisiert das HWPh, es leiste keine kongruente Begriffserläuterung und behandle zudem noch Grenze und Schranke separat (vgl. 1995: 277). 41 Debray, Régis (2010): Éloge des frontières. Paris: Gallimard, 44. Zum von Frederick Jackson Turner geprägten Begriff des frontier, der das „wilde Außen“ vom „zivilisierten Innen“ trennt, vgl. Wirth, Uwe (2012): „Zwischenräumliche Bewegungspraktiken“. In: Ders. (Hg.): Bewegen im Zwischenraum. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 12f. 42 Vgl. hierzu auch die konstruktivistische Theorie zur Vergesellschaftung von Georg Simmel, demnach Grenzziehungen einer Gruppe dazu verhelfen, sich innerhalb eines räumlichen Rahmens als Gesellschaft zu konstituieren. Simmel, Georg (1983): „Sozio- 2. Die Ebenen der Untersuchung 26 personaler und kollektiver Hinsicht brauchen Menschen sie, um sich ihrer selbst zu vergewissern und das Fremde, das chaotische und unbestimmte Außerhalb, auszuschließen. Derart mit „Vorstellungen der Ein- und Ausschließung“ verbunden, enthält dieser „jüngere“ Grenzbegriff eine wertende Konnotation (vgl. Schmitz-Emans 2006: 23). Hier an der Frage nach Inklusion und Exklusion des kulturell Fremden, Unbekannten und Anderen setzt die Migrationsforschung postkolonialer Prägung an. Sie macht auf das bis heute bestehende Machtgefälle zwischen Zentrum und Peripherie aufmerksam und bringt die Grenzziehung eines eurozentristisch ausgerichteten Nous et les autres kritisch zur Sprache. 43 Verbunden damit lässt sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine Explosion der Grenzbegriffe beobachten: Homi Bhabha spricht von „liminal spaces“, um die Verortung von Kulturen zu reflektieren (2004: 5), Stuart Hall von einer „production of ‚frontier effects’“, um den Differenzcharakter kultureller Identität zu diskutieren und Walter Mignolo von „border thinking“, „border gnosis“ und „border epistemologies“, um eine spezifisch (neo)koloniale Wissensherrschaft anzuprangern, die von einer postkolonialen Wissensproduktion subvertiert wird. 44 All dies verdeutlicht: An der Grenze wird es dynamisch, dort geschieht etwas, dort wird ge- und verhandelt, dort geraten statische Diskurse in Bewegung. Damit einhergehend tritt in der aktuellen Diskussion um kulturelle Topographien ein ausgeprägtes Schwellendenken in den Vordergrund, das die Grenze als durchlässig, überschreitbar und damit als potentiell aufhebbar reflektiert. Über die Tatsache hinaus, dass Grenzen selbst dynamisch, veränderlich und verschiebbar sind (vgl. Wokart 1995: 275, 283), liegt der Schwerpunkt des Schwellenbegriffs auf einem Verständnis von Grenze als Ort der Öffnung, des Kontakts, des Übergangs per se. 45 Die Schwelle gilt darüber hinaus als Schnittstelle, die Überlappungen und Überlagerungen kultureller Kreuzungen erzeugt (vgl. Toro 2005: 40). Hier aber sei Vorsicht vor einer Überbetonung der Durchlässigkeit und der Öffnung, des „cross-over“ und „open-up“, geboten, so Régis Debray, der dagegen provozierend ein Loblied auf das Begrenzende von Grenzen anstimmt (2010: 18, Hervorhebung Debray). Denn dass die Menschen in Zei- logie des Raums“. In Ders.: Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Dahme, Heinz- Jürgen (Hg.): Frankfurt: Suhrkamp, 221-242. 43 Todorov, Tzvetan (1989): Nous et les autres: la reflexion française sur la diversité humaine. Paris: Seuil. 44 Vgl. Hall, Stuart (1996): „ Introduction: Who Needs ,Identity’? “ In: Ders. / Du Gay, Paul (Hg.): Questions of Cultural Identity. London: Sage Publications, 3; Mignolo, Walter (2000): Local Histories / Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking. Princeton: Princeton University Press, 11. 45 Vgl. Borsò, Vittoria (2004): „Grenzen, Schwellen und andere Orte: ‚La geographie doit bien être au cœur de ce dont je m’occupe’“. In: Dies. / Görling (Hg.), 21. 2.2 Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozesse 27 ten beschleunigter Globalisierung und globaler Wanderungsphänomene immer mehr miteinander vernetzt würden und so immer näher zusammenrückten, führe nicht automatisch dazu, dass mehr Grenzen fielen als errichtet würden (ebd.: 19). Doch wenn nicht als Schwelle, wie genau hat man sich die Grenze vorzustellen - als Zone, Raum, Schranke, Linie? Dazu findet man bei Wokart eine interessante Beobachtung: Ein Grenzraum ist selber keine Grenze, vielmehr hat er Grenzen, zwischen denen sich Sachverhalte überlappen und durchdringen. Er wirkt dadurch wie ein Rand; denn Ränder sind diffus und fransen leicht aus, und man weiß bei ihnen nicht immer ganz exakt, ob man noch bei diesem oder schon bei jenem ist. Dagegen bezeichnet eine Grenze immer einen harten und eindeutigen Schnitt (1995: 284). In Anlehnung an Wokart werde ich in dieser Arbeit nicht den Begrifflichkeiten folgen, die mit einem Grenzraum diffuser Ränder bzw. einer schwellenartigen Zone verbunden sind. Vielmehr lege ich einen Begriff von Grenze zugrunde, der dem Wortsinn der Linie nach eine scharfe Trennung bedeutet und so eindeutige Grenzlinien und klare Grenzziehungen einerseits und potentielle Grenzüberwindungen andererseits in den Mittelpunkt meiner Untersuchung rückt. Denn erst das Denken in „harten Schnitten“ ermöglicht eine klare Unterscheidung, was bei einer Grenzüberschreitung nicht mehr zur Sphäre des Eigenen gehört und sich zum anderen hin öffnet. Somit ist auch jeder Grenzraum - um diesen vieldiskutierten Begriff noch einmal aufzunehmen - von Grenzziehungen umgeben, die sich nicht so sehr als durchlässige, verbindende Ränder, sondern vielmehr als unüberwindbare, trennende Linien erweisen. In diesem Sinne ist der Grenzraum „ein höchst polemischer Begriff, der die Grenze zwar zunächst negiert, doch nur, um sie uns doppelt zurückzugeben“ (Wokart 1995: 284). In diesem Zusammenhang verweist auch die Tatsache des Exils phänomenologisch auf die Undurchlässigkeit von Grenzen, während der Begriff der Transkulturalität das Moment der Grenzüberschreitung hervorhebt. Auf diese spannungsreiche Wechselwirkung macht Ette in Bezug auf die kubanische Kultur aufmerksam. Er verwendet zwei Termini, um die Gegenläufigkeit und gleichzeitige Interdependenz der Grenzhaftigkeit des Exils und des grenzüberschreitenden Potentials der Transkulturalität zu beschreiben: Die Ausgrenzung vieler kubanischer SchriftstellerInnen habe zur Entgrenzung der kubanischen Literatur geführt, die wieder neue Grenzziehungen mit sich bringe (2005: 177f). Diese zwei Grenzbegriffe Ettes, durch die Termini Eingrenzung und Abgrenzung erweitert, bilden die Grundkonzeption meiner Arbeit, um sowohl die Phänomene der Grenzüberschreitung als auch diejenigen der „wieder neuen Grenzziehungen“ genauer zu erfassen. 2. Die Ebenen der Untersuchung 28 Bei der Anwendung dieser Begriffsquaternität, die es im Folgenden zu spezifizieren gilt, geht es mir darum, das polylogische Zusammenspiel von Grenzaussetzungen, Grenzsetzungen und Grenzüberschreitungen zu untersuchen. Hierfür wird ein wesentlicher Widerspruch besonders herausgearbeitet: die Frage nach den Austauschmöglichkeiten im Gegensatz zu einer generellen Kontaktlosigkeit, d.h. der Gegensatz zwischen Monolog und Dialog, zwischen Bewegung und Stillstand und zwischen Statik und Dynamik. Die Ausgrenzung beinhaltet das Ausgeschlossen-Werden und in Folge dessen das Ausgeschlossen-Sein von Kuba. Der Ausgeschlossene ist der Grenze in besonderem - wenn nicht sogar in äußerstem Maße - ausgeliefert, weshalb ich hier von einer ‚Grenzaussetzung’ im Sinne des ‚außerhalb einer Grenze Gesetztseins’ sprechen möchte. Das Präfix „Aus“ verrät in Bezug auf das Eigene, Erkennbare gerade das Andere, Unbestimmte und damit eine entscheidende Umkehrung im Hinblick auf die Position des Subjekts, denn der Exilant wird in eben dieses ‚Aus’ gestoßen. Abgeschnitten vom ‚Innen’ einer „Eigenheitssphäre“ kann das Exil nur als Verlust erfahren werden (Waldenfels 1997: 22), der sich als existentielle Substanzlosigkeit erfassen lässt. Die Linie der Ausgrenzung markiert also einen besonders harten Schnitt, der eine Konfrontation mit dem Verlorenen bedeutet. Darüber hinaus spielt sich an dieser Front auch eine antagonistische Auseinandersetzung mit der ausgrenzenden Instanz ab. Darin wird offenbar, dass der Begriff der Ausgrenzung vor allem mit ideologischen Konnotationen behaftet ist. Die Eingrenzung kommt dem Phänomen des Grenzraums sehr nahe, nur mit dem ausschlaggebenden Unterschied, dass sie Öffnungen und Möglichkeiten des Austauschs negiert und durch eine von festen Umrissen umgebene Geschlossenheit gekennzeichnet ist. Sie ist als trennende, nicht verbindende Linie zu verstehen und beschreibt den Zustand der Isolation als Folge des Ausgegrenzt-Seins. Unter dieser Kategorie werden Phänomene wie Einsamkeit, Fremdheit, Marginalisierung und innere Gefangenschaft erfasst. Darüber hinaus spielt die Isolation im Sinne eines „a-isla-miento“ in Bezug auf Kuba auch topologisch, kulturtheoretisch und mentalitätsgeschichtlich eine Rolle (vgl. Ette 2005: 143, Hervorhebung Ette). Die Abgrenzung ist der Moment, in dem die Grenzaussetzungen von Grenzsetzungen abgelöst werden. Wie bereits anhand des Diaspora- Konzepts veranschaulicht, geht es hier um eine bewusste Markierung des Eigenen, das sich als Demarkationslinie und damit als Differenz zum anderen konstituiert. In diesem Prozess wird das Außen „Teil des inneren Raums, dessen Selbstidentität durch das Außen lediglich affirmiert wird, so dass sich das Selbe durch das Außen panoramahaft entfalten und offenbaren kann“ (Borsò 2004: 34). Als performatives Phä- 2.2 Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozesse 29 nomen umfasst die Abgrenzung variierende Bezugsrahmen und Bezugnahmen, die Identifikationsprozesse widerspiegeln. Sie ist folglich eine relationale Kategorie, die Beziehungsqualitäten über bewusst eingesetzte Positionierungen aufzeigt. 46 Die Entgrenzung beschreibt schließlich das den Grenzziehungsprozessen gegenläufige Phänomen der Grenzüberschreitungen. Unter Bezugnahme auf die Transkulturalität können darunter räumliche Öffnungen, kulturelle Aneignungsprozesse und Kreuzungsphänomene aufgezeigt werden. Im Zusammenhang damit findet eine Auseinandersetzung mit Michail Bachtins kultursemiotischem Konzept der Polyphonie, 47 Homi Bhabhas Hybriditätsverständnis ([1994]2004) und Ettes Terminus der „Multirelationalität“ statt, 48 der zudem in Verbindung zu Edouard Glissants Begriff der „identité-relation“ steht (1990: 158). Diese Schwerpunktsetzung dient dazu, Phänomene des Dialogischen und darüber hinaus des Polylogischen in der kubanischen Literatur in Paris hervorzuheben. Wenn diese Begriffe in der vorliegenden Untersuchung auch in chronologischer Abfolge und damit getrennt voneinander einbezogen werden, so zielt die hier vorgenommene Ausdifferenzierung und die damit einhergehende Fokussierung auf jeweils einen der Begriffe doch darauf ab, die viellogischen Gleichzeitigkeiten und nicht zuletzt komplexen Widersprüchlichkeiten kultureller Positionierungen herauszustellen. Insgesamt können so die oszillierenden Prozesse vielfältiger Grenzkreuzungen zwischen Exil und Transkulturalität verdeutlicht werden. 46 Im Hinblick auf die „awareness of subject-positions“ bei der Frage nach kultureller Identität, vgl. Hall 1996: 6 und auch Bhabha 2004: 2. 47 Vgl. Bachtin, Michail (1979): Die Ästhetik des Wortes. Grübel, Rainer (Hg.). Frankfurt: Suhrkamp. 48 Vgl. Ette, Ottmar (2001): „Kuba - Insel der Inseln“. In: Ette / Franzbach (Hg.), 23. 2. Die Ebenen der Untersuchung 30 2.3 Kulturelles Selbstverständnis Für diese Arbeit wird der Begriff des kulturellen Selbstverständnisses, der sowohl auf personaler wie auch auf kollektiver Ebene verwendet werden kann, fruchtbar gemacht. Das Substantiv „Selbstverständnis“ verweist auf ein autoreflexives ‚Sich selbst als etwas verstehen’. In Bezug auf die Phänomene von Exil, Diaspora und Transkulturalität schwingen dabei auch Begriffe wie Selbstfindung, „Selbsterfindung“ und „Selbstvergewisserung“ mit (vgl. Mayer 2005: 38), die integral mit Konzepten kultureller Identität verbunden sind. Vor diesem Hintergrund werde ich an dieser Stelle drei prinzipielle Bedingungen der Identitätsbildung vertiefend diskutieren: die Integration, die Relationalität und die Kontinuität. Diese Kategorien gelten sowohl für die personale als auch für die kollektive Identität und sollen mit meiner Konzeption verbunden werden, die anhand von Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozessen die Komplexität kulturellen Selbstverständnisses aufzuzeigen versucht. Identität bedeutet „traditionellerweise die ganzheitliche ordnungsstiftende Integration von disparaten Selbst- und Welterfahrungen, Selbst- und Fremdentwürfen [...] in eine relativ statisch-harmonische Instanz“. Aus dieser knappen Definition lassen sich die wichtigsten Punkte der Diskussion um den Identitätsbegriff herauskristallisieren. Zur „ordnungsstiftenden Integration“ äußern sich Rebeca und León Grinberg, die dabei sowohl die Aspekte der Prozesshaftigkeit als auch der Interaktion betonen. Die Autoren sprechen von einem „proceso de interacción continua“, aus dem heraus räumliche, zeitliche und soziale Bindungen erfolgen (1984: 156). Im Hinblick darauf ist Identität grundsätzlich immer mit einer sozialen Kategorie verbunden: „Ich-Bewusstsein“ entsteht durch Austauschbeziehungen (vgl. Borsò 2012: 430). Diese wiederum basieren laut Grinberg auf „projektiven und introjektiven“ Identifikationen, „mecanismos de identificación proyectiva y introyectiva“, über die sich Zugehörigkeit konstituiert (1984: 159). In Bezugnahme auf Freud verwendet Waldenfels an Stelle von Identifikation den Begriff der „Identifizierung“. Der Prozess des Sich-Identifizierens bedeutet, „daß ich ich selbst werde durch Einbe- Horatschek, Annegret (2008): „Identität, kollektive“. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 306. Vgl. auch den Eintrag „Identität, persönliche“, verfasst von Stefan Glomb (ebd.: 306f). Unter der räumlichen Kategorie verstehen die Autoren die Integration verschiedener Teilbereiche des Selbst und stellen sie damit in den Kontext der „individuación“. Die zweite Dimension bezieht sich auf das Selbstverständnis im Zeitverlauf. Hier sprechen Grinberg von der Notwendigkeit eines kontinuierlichen Gefühls der „mismidad“. Der soziale Aspekt bezieht sich auf Identifikationsprozesse und ermöglicht damit Zugehörigkeit, „pertenencia“ (1984: 159). 2.3 Kulturelles Selbstverständnis 31 ziehung anderer“, so Waldenfels, womit er auf die integrative Dimension verweist (1997: 22, Hervorhebung Waldenfels). Damit ist Identität zuerst und vor allem auch eine relationale Kategorie, sei es in Bezug auf „Selbst- und Welterfahrungen“ oder auf „Selbst- und Fremdentwürfe“ (Horatschek 2008: 306). Diese Relationalität ist dabei nicht feststehend zu denken, sondern steht im Zusammenhang mit dem stetigen „Werden“, das schon in Fernando Ortiz’ Konzept der transculturación anklang (vgl. 2.1 „Exil und Transkulturalität“). Identität wird im aktuellen Diskurs der Geistes- und Sozialwissenschaften als ein niemals abgeschlossener und stets offener Prozess begriffen, der eben nicht auf ein ‚Endergebnis’ hinausläuft. Darüber hinaus betont die Rede von ‚Entwürfen’ ihren multiplen und performativen Charakter. Hierbei wird der Schwerpunkt ebenso weniger auf die statische Instanz als auf eine dynamische Prozesshaftigkeit gelegt. Das ‚traditionelle’ Verständnis einer zu schaffenden integrativen, „ordnungsstiftenden Ganzheitlichkeit“ wird also vom Denken in „relationalen Operationen“, d.h. stets neu zu entwerfenden Beziehungsgeflechten, abgelöst (vgl. Borsò 2012: 431). Eine Auffassung, die die Konstrukt- und Prozesshaftigkeit von Identität in den Vordergrund rückt, verweigert sich dem Begriff einer wesenhaften Essenz. Die postkoloniale Theorie verschreibt sich in diesem Zusammenhang einer „anti-essentialist-critique“, um ethnische oder nationale Fremdzuschreibungen und Festschreibungen zu dekonstruieren. Diese Tendenz zur Dekonstruktion konzentriert sich für Stuart Hall zu der Frage, ob das Konzept der kulturellen Identität überhaupt noch benötigt würde (vgl. 1996: 1). Aus philosophischer Perspektive stellt Odo Marquard entlarvend fest, dass der Identitätsbegriff eben zu dem Zeitpunkt aufkommt und seine „Karriere“ antritt, als die „Suche nach der verlorenen essentia definitiv vergeblich wird.“ Die Tatsache, dass „alles fließt“ (ebd.: 347), dürfe jedoch nicht zu einer „unterschiedstilgenden Dauerveränderung“ führen, die dem Begriff der Identität das Konstante entziehe, das er doch notwendig brauche (ebd.: 352). Die Menschen seien zur Kontinuität verurteilt und dadurch „identitätspflichtig“, denn sie müssten bewahren, um ändern zu können (ebd.: 358). Identität wird also gerade in Momenten von Orientierungskrisen zu einem so wichtigen Thema - als Suche nach Beständigkeit in Zeiten zunehmender lebensweltlicher Vielfalt, Temposteigerung und Veränderung, die eine „Abnahme gesellschaftlicher Kohärenzbildung“ mit sich bringt (Borsò 2012: 431). Setzt man diese Überlegungen zur Identitätssuche in Zeiten der Identitätsverunsicherung in Bezug zu den Themen Auswanderung, Migration Marquard, Odo (1979): „Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz-Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion“. In: Ders. / Stierle, Karlheinz (Hg.): Identität. Poetik und Hermeneutik VIII. München: Fink, 362. 2. Die Ebenen der Untersuchung 32 und Exil, so sind Orientierungskrisen und Ordnungsverlust offenkundig damit verbunden: Aus dem sozialen und raum-zeitlichen Kontinuitätsgefüge herausgerissen entstehen Momente der „desorganización“, „despersonalización“, „desrealización“ und des „extrañamiento“, um nur einige der von Grinberg genannten psychologischen Aspekte aufzuführen (1984: 159f). Im Hinblick auf diesen Identitätsbruch rückt das Phänomen der Alterität im Exil in den Vordergrund, das genuin mit Erfahrungen der Fremdheit und des Fremdseins verbunden ist. Hier fungiert die Alterität einerseits als Antonym - „negative Folie“ der Identität. Sie ist aber gleichzeitig andererseits im Sinne einer „Anderheit“ zu verstehen, also als Grenzkategorie der Identität (Borsò 2012: 433, Hervorhebung Borsò). Begreift man das Andere als notwendigen Grenzbegriff des Selbst und so in dasselbe eingeschrieben, dann wird Alterität zum „Zeichen der Beunruhigung“, der Ambiguität (ebd.). Dass der Identitätsbegriff kaum mehr ohne die paradoxale Einbindung einer Alteritätsdimension auskommt, zeigen verschiedene Untersuchungen, die ich für meine Analyse herangezogen habe, um das Exil auf seine differentiellen bzw. alteritären Implikationen hin zu prüfen. Mit dem exemplarischen Titel Fremde sind wir uns selbst beispielsweise analysiert Julia Kristeva in einem historischen Durchlauf das Phänomen des Fremden im Eigenen auf psychoanalytischer Ebene. In seiner Topographie des Fremden nähert sich Waldenfels dem Thema phänomenologisch vor allem angesichts der Konstitution von Lebenswelten (1997). Von karibischer Seite seien an dieser Stelle speziell die Begriffe der „identité-relation“ und der „identité-rhizome“ von Édouard Glissant hervorgehoben. Für ihn sind die Identitäten der Karibik ohne ihre vielfachen und multirelationalen Verzweigungen und Öffnungen hin zu anderen Kulturen nicht denkbar (1990: 23, 158). Glissants Begriffe, mit denen er sich auf Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Modell des Rhizoms stützt, verdeutlichen, dass sich insbesondere poststrukturalistische Theorien dazu eignen, die Verschiebung des Identitätsdiskurses vom ‚Gleichen’ hin zum ‚Differenten’ zu beschreiben. 5 Alfonso de Toro schlägt in Bezug auf Jacques Derridas Begriff der différance Vgl. Kristeva, Julia (1988): Étrangers à nous mêmes. Paris: Gallimard. Waldenfels’ Kapitel „Fremdes in uns selbst“ steigt mit dem Verweis auf Rimbauds „Je est un autre“ ein (1997: 27f). Auch Glissant bezieht sich auf dieses Zitat von Rimbaud (1990: 39). Zum Fremden im Eigenen vgl. auch Ricœur, Paul (1998): Soi-même comme un autre. Paris: Seuil. Mit der antihierarchischen Denkfigur des Rhizoms ersetzen Deleuze und Guattari die Metapher des Baums als Beschreibung von Wissensordnungen. Das Rhizom charakterisiert sich durch seine vielfache Verwurzelung und Verzweigung ohne eindeutiges Zentrum und Ursprung. Glissant nennt das Modell „antikonformistisch“ (1990: 24). Vgl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (1976): Rhizome. Paris: Ed. de Minuit. Zu Derridas Begriff der différance vgl. 4.3.1 „Fremdheitserfahrungen in Paris“. 2.3 Kulturelles Selbstverständnis 33 vor, für die Untersuchung lateinamerikanischer Kulturen und Literaturen an Stelle von Alterität und „otredad“ den Begriff der „altaridad“ zu verwenden (2006: 19, Hervorhebung de Toro). Hiermit sollen vor allem dichotome und hegemoniale Zuschreibungen von „Eigenem“ und „Anderem“ unterwandert werden. Diese Oppositionsstruktur von Identität und Alterität versucht Ette in seinen Überlegungen zu den „Literaturen ohne festen Wohnsitz“ dadurch zu durchbrechen, dass er Identitätskonfigurationen über ihren relationalen Charakter hinaus auf ihre Mobilität hin untersucht (vgl. 2005: 15, 142). Wie lässt sich also eine kubanische Literatur im Exil begreifen, die offenbar gleichermaßen „identitätspflichtig“ im Sinne Odo Marquards und altaritätsträchtig gemäß Alfonso de Toro ist? Die spannungsreichen Beziehungen zwischen dem Eigenen und Fremden, dem Inkonstanten und dem Beständigen, dem wesenhaft Gesetzten und dem performativ Entworfenen und damit zuletzt zwischen Identität, Alterität und Transkulturalität können anhand der Grenzbegriffe adäquat erfasst werden: Beim Phänomen der Ausgrenzung wird der Schwerpunkt vornehmlich auf den Identitätsbruch gelegt. Die Eingrenzung stellt die Alteritätserfahrung - samt ihrer postmodernen Implikationen - in den Mittelpunkt der Analyse. Unter der Abgrenzung können Identifikationsprozesse besonders hervorgehoben werden. Die dadurch entstehenden Positionierungen werden einerseits vor dem Hintergrund ihres performativen Charakters betrachtet, andererseits aber auch im Hinblick auf ihre ‚Ursprungsdiskurse’ und damit ihrer essentialistischen Tendenzen. Das prozessual nach vorne gerichtete, mobile und vielfach verzweigte Identitätsverständnis kann schließlich anhand der Entgrenzung herausgearbeitet werden. Die Grenzbegriffe bilden so die vertikale Untersuchungsebene meiner Arbeit. Zusätzlich bietet es sich an, die Fülle des Stoffes auf horizontaler Ebene in drei weitere strukturrelevante Ebenen zu untergliedern: die existentielle, die sprachliche und die räumliche Ebene. Diese Aufteilung dient dazu, bestimmte Aspekte von Identität und Selbstverständnis in den Analysen wesentlicher zu akzentuieren und schwerpunktartig zu fokussieren. Sie bildet auf der Horizontalen die drei Hauptkapitel, die jeweils ein bestimmtes Spannungsfeld von Exil und Transkulturalität ausleuchten: Auf der existentiellen Ebene stehen unter dem Titel Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung (Kap.4) Ich-Konstitution und Autopoiesis im Mittelpunkt Der von Anderheit gekennzeichnete Identitätsdiskurs ist von Beginn an Leitfaden der lateinamerikanischen Kulturgeschichte (vgl. Borsò 2012: 433). Borsò verweist in diesem Zusammenhang auf den Aufsatz von Saúl Yurkievich (1986): Identidad cultural de Iberoamérica en su literatura. Madrid: Alhambra. Der Begriff der „otredad“ geht auf Octavio Paz zurück und beschreibt die Präsenz des Anderen im Eigenen als Störung und Entfremdung. Paz, Octavio ([1950]1973): El laberinto de la soledad. México D.F.: Fondo de Cultura Económica. 2. Die Ebenen der Untersuchung 34 der Untersuchung. Das Kapitel Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung (Kap. 5) ist dem Zusammenhang von Sprache und kulturellem Selbstverständnis gewidmet, der anhand der Phänomene Stimme, Sprachigkeit und Sprachlichkeit untersucht wird. Im Vordergrund des dritten, raumtheoretisch orientierten Hauptteils, Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn (Kap.6), wird der Frage nach der Verortung der kubanischen Texte in Paris mit Blick auf die in ihnen präsenten, repräsentierten und imaginierten Räume nachgegangen. Die Kategorie der Zeit zieht sich als roter Faden durch die Gesamtkonzeption meiner Arbeit. Eng mit den Themen Erinnerung und Gedächtnis verbunden, stellt sie einen wesentlichen Teilbereich des kulturellen Selbstverständnisses dar, das ohne - personale und kollektive - Erinnerungstätigkeit und Erinnerungsfähigkeit, ohne Gedächtnisbestand und Gedächtnisbildung nicht denkbar ist. In Bezug auf die Kategorie der Existenz (Kap.4) spielt die Zeit vornehmlich als individuelles Erinnern eine Rolle. Damit gerät die „Innendimension“ des menschlichen Gedächtnisses in den Blick. Das prekäre Spannungsverhältnis von Erinnern und Vergessen im Exil rückt dadurch in den Vordergrund der Untersuchung. Durch die Ausgrenzung aus Kuba nimmt die Erinnerung an Kuba zugleich verstörende wie verklärende Züge an. Im Sinne einer „autopreservación“ wird Erinnern im Exil überlebensnotwendig, um die bedrohte Existenz zu schützen (vgl. Grinberg 1984: 156). Nicht nur die räumliche, sondern vor allem auch die zeitliche Entfernung von Kuba führt oftmals zu einer nostalgischen Überhöhung der Vergangenheit. Gleichzeitig ist das Rückerinnern immer auch eine Konfrontation mit dem Trauma des Verlustes. So wiederum wird das Vergessen zum selbsterhaltenden Mechanismus. Hier können Formen der bewussten Erinnerungsverweigerung zutage treten. Vor diesem gedächtnispsychologischen Hintergrund werden anhand der biographisch motivierten Texte meiner Arbeit die narrativen Strategien der ‚Selbsterzählung’ betrachtet, um die Analogie von „Narrationsarbeit“ und „Identitätsarbeit“ aufzuzeigen. Paul Ricœur macht die Beobachtung „[r]épondre à la question ‚qui? ’ [...], c’est raconter l’histoire d’une vie“, zum Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck, 19. Im Sinne Grinbergs kann das Exil als Trauma bezeichnet werden, nicht nur im Hinblick auf die traumatisierenden Momente des Weggehens aus dem Vertrauten und der Ankunft im Unbekannten, sondern auch hinsichtlich des Phänomens der zeitlichen Dauer des Exils (1984: 23, Hervorhebung AG). Vgl. Neumann, Birgit (2005): „Literatur, Erinnerung, Identität“. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin / New York: De Gruyter, 155. Neumann bezieht sich hier auf die „narrative Wende“ der Gedächtnispsychologie. 2.3 Kulturelles Selbstverständnis 35 Ausgangspunkt seiner narrativen Identitätstheorie. Von besonderem Interesse ist also die (Re)Konstruktivität von Erinnerungen, d.h. ihre stete Aktualisierung und Anpassung an das Bedürfnis, dem „aktuellen Erlebenskontext Bedeutung zu verleihen“ (Neumann 2005: 154). Das Gedächtnis, das „die Vergangenheit fortwährend elastisch funktional an die Gegenwart anpaßt“ (Assmann 1999: 249), stellt damit weniger einen Speicherort der dauerhaften Einschreibung als vielmehr der permanenten Überschreibung dar (ebd.: 20). Im Narrationsprozess spielt die Frage nach der Kontinuität, also einem Kohärenz stiftenden Ordnungsprinzip der Selbsterzählung eine entscheidende Rolle. Hierbei wird das Trauma des Exils wieder zum Thema. Dessen latente, aber nicht zugängliche Präsenz im Bewusstsein ist das destabilisierende Moment der „individuellen Erfahrungskontinuität und Identitätsbildung“. Da das Trauma das „psychophysische Fassungsvermögen“ übersteigt, verweist es immer auf die Grenze des Sagbaren und Darstellbaren. Es entzieht sich einer konstruktiven und kohärenzstiftenen Verarbeitung (vgl. Neumann 2005: 154 / Assmann 1999: 259). Was die Kategorie Sprache in Bezug auf die Zeit betrifft (Kap.5), so wird bei diesem Schwerpunkt das Thema des kollektiven Erinnerns und damit des „kulturellen Gedächtnisses“ in die Analyse eingebracht, das Jan Assmann als „Außendimension des menschlichen Gedächtnisses“ bezeichnet, denn es fußt auf gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen (1992: 19f). Hierbei kommt der Literatur einerseits eine wichtige Funktion als „Speichermedium“ des kulturellen Gedächtnisses zu. Andererseits können literarische Texte im Sinne Astrid Erlls auch als „Zirkulationsmedium“ charakterisiert werden. In ihrer „zirkulierenden“ Funktion ver- Ricœur, Paul (1985): Temps et récit. Band III. Paris: Seuil, 355. Zur Rekonstruktivität der Erinnerung vgl. auch Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck, 20. Sie spricht in diesem Zusammenhang auch von einer hermeneutischen Selbstdeutung, die sich im wiederholten Sprechakt festigt (264). Vgl. hierzu auch Caruth, Cathy (1995): „Introduction“. In: Dies. (Hg.): Trauma: Explorations in Memory. Baltimore: John Hopkins University Press, 3-12. Assmann unterscheidet zwischen vier Formen der Außendimension von Gedächtnis: Dem mimetischen Gedächtnis, das sich auf ein konkretes Alltagshandeln der Nachahmung bezieht, dem Gedächtnis der Dinge, die dem Menschen ein Bild seiner selbst widerspiegeln, dem kommunikativen Gedächtnis, das dialogisch weitergetragen wird (hier bezieht sich Assmann auf Maurice Halbwachs) und schließlich dem kulturellen Gedächtnis, das einen Bestand von Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammenfasst, d.h. Überlieferungs- und Vergegenwärtigungsformen des kulturellen Sinns (hier verweist Assmann auch auf Aby Warburgs Begriff des „sozialen Gedächtnisses“, 1992: 15, 20f). Erll, Astrid (2005): „Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses“. In: Erll / Nünning (Hg.), 265. Erll unterscheidet zwischen kollektiven und kulturellen Texten. 2. Die Ebenen der Untersuchung 36 suchen die Texte der kubanischen DissidentInnen in Paris, die offizielle Geschichtsschreibung und Geschichtsauslegung des kubanischen Regimes mit einer „Gegen-Erinnerung“ antagonistischen Stils zu konfrontieren (Erll 2005: 265). Allerdings geschieht dies aus einer Position der Marginalität und Machtlosigkeit heraus. So wird das (Gegen-)Erinnern nicht nur im Hinblick auf den „memoria-Stil“, sondern vor allem auf konkurrierende memoria-Inhalte zu einer „kulturellen Überlebensstrategie“. Auch hier wird Vergangenes perspektiviert, aktualisiert und resemantisiert (vgl. Neumann 2005: 165). Im Kontext der Diaspora gewinnt die kollektive Gedächtnisbildung nicht nur angesichts sozialer, sondern auch auf medialer Bezugnahmen an Relevanz, durch die kulturelles Selbstverständnis erzeugt wird. 6 Hier geht es um Formen der Erinnerungstätigkeit und der Erinnerungsreflexion, die anhand von kontextuellen, intertextuellen und intermedialen Referenzen in den Texten untersucht werden. Das Erkenntnisinteresse liegt auf der Vergegenwärtigung und Resemantisierung „kultureller Texte“, d.h. „formativ und normativ“ gespeicherter, „kanonischer“ Texte eines kollektiven Gedächtnisses. In der jungen Nationalliteratur Kubas befinden sich Normativität und Formativität in ständiger Bewegung. Der existierende Literaturkanon ist obendrein erinnerungskulturell stark umkämpft. So treten in der kubanischen Literaturgeschichte „Risse und Verwerfungen“ zutage (Neumann 2005: 163), denn viele Verfasser der „kulturellen Texte“ Kubas waren zu ihren Lebzeiten von gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen betroffen. Das lässt sich z.B. an dem berühmtesten kubanischen Exildichter José Martí zeigen, der zum Ende des 19. Jahrhunderts gleichzeitig als Unabhängigkeitsdenker und -kämpfer in die Geschichte eingegangen ist. Gleiches gilt für den zeitgenössischen Autor José Lezama Lima, der seine letzten Jahre im insilio, dem inneren Exil, verbrachte, da seine Werke zu Beginn der 1970er Jahre zensiert und erst in den 1990er Jahren wieder offiziell in den Literaturkanon aufgenommen wurden. Heute werden die Texte beider Autoren sowohl vom Castro-Regime vereinnahmt, als sie auch den kubanischen AutorInnen der Diaspora ein hohes Identifi- Die kulturellen Texte gehören zu den „Speichermedien“ eines kollektiven Gedächtnisses, die kollektiven Texte charakterisiert sie als „Zirkulationsmedien“ (260-264). Lachmann, Renate (1990): Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt: Suhrkamp, 20. Ausführlich zu Erlls Begriff der medialen Bezugrahmen, cadres médiaux, vgl. 5.4.1 „Intertextualität und Regionalismus“. Assmann, Aleida (1995): „Was sind kulturelle Texte? “ In: Poltermann, Andreas (Hg.): Literaturkanon - Medienereignis - kultureller Text: Formen interkultureller Kommunikation. Berlin: Erich Schmidt, 232-244. Birgit Neumann problematisiert Assmanns Verständnis des kulturellen Textes, denn dessen „Homogenisierung [durch die Beschränkung Assmanns auf kanonische Texte] scheint kaum dazu geeignet, der zunehmenden Pluralität von Kollektivgedächtnissen [...] Rechnung zu tragen“ (2005: 163). 2.3 Kulturelles Selbstverständnis 37 kationspotential bieten, mit dem sie ihr Selbstbild und Gruppenbewusstsein als Diaspora stabilisieren. Hier zeigen mediale Bezugnahmen den Rangstreit um „kulturelle Texte“ auf, die von zwei ideologisch verfeindeten Fronten gleichermaßen für ihr Selbstverständnis beansprucht werden. In Bezug auf die Kategorie des Raums (Kap.6) wird die Zeit im Zusammenhang von Erinnerung und Ortsgebundenheit untersucht. Der Blick wird wieder von der Außendimension auf die Innendimension des Gedächtnisses gelenkt. Selbstverständnis konstituiert sich über Raumerfahrung, die wiederum von der Erinnerung entscheidend mitbestimmt wird. Durch die zeit-räumliche Spaltung des Exils kann der Einbruch der Erinnerung in den Raum eine störende, verwirrende und unheimliche Wirkung auf die subjektive Raumwahrnehmung ausüben (vgl. Borsò 2004: 22). Wie können die in der Vergangenheit erfahrenen und die im Exil erlebten Räume zusammenkommen, wenn sie doch in einem so disparaten Verhältnis zueinander stehen? Statt der Heimat selbst wird die Erinnerung an die Heimat in diasporischen Kontexten zum „‚ground’ of identity“ (Baronian u.a. 2007: 12). Dieser „Identitätsboden“ ist durch die zeitliche und räumliche Entfernung jedoch „rather unstable and shaky“ (ebd.). Deswegen muss er im displacement des Exils durch die Erinnerung genährt und stets rekonstruiert werden. Die leibhaftigen Erfahrungen der Vergangenheit treten zugunsten ihres immer mehr imaginierten Charakters zurück. Erinnerungen verwandeln sich in „ficción, en producto del lenguaje“ (vgl. Hammerschmidt 2010: 198). Die größte Gefahr besteht allerdings im Verblassen der Erinnerungen und damit einhergehend einer erstarrenden Imaginationskraft, in der eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit nicht mehr gelingt. Das kommt einer Identitätsbedrohung gleich. Darüber hinaus kann im Kontext von Exil und Diaspora das Gedächtnis selbst den Prozess des displacement veranschaulichen (vgl. Baronian u.a. 2007: 12, Hervorhebung Baronian). Hierbei geht es um die Frage, wie sich ein deterritorialisiertes Gedächtnis an anderen Orten reterritorialisiert. In diesem Zusammenhang werden Texte aus meinem Korpus aufgegriffen, anhand derer sich Aspekte eines transkulturellen Gedächtnisses herausarbeiten lassen, die Erll unter dem Titel „Travelling Memory“ erörtert. Auf Grund dessen werden mnemonische Prozesse untersucht, die sich „across and beyond cultures“ entfalten, gerade weil sie territoriale Grenzen überschreiten (Erll 2011: 9f, Hervorhebung Erll). Spezifische Orte können dabei zwar als entscheidende Impulsgeber solcher transkultureller Erinnerungsprozesse fungieren, vornehmlich geht es Erll jedoch um die „rei- Borsò bezieht ihre Überlegungen zur Raumerfahrung und Erinnerung auch auf Marcel Prousts Begriff des „mémoire involontaire“ (2004: 22). Erll, Astrid (2011): „Travelling Memory“. In: Parallax 17: 4, 4-18. 2. Die Ebenen der Untersuchung 38 sende“ Eigenschaft des Gedächtnisses, also die „mouvements de mémoire“, die mit einem transkulturellen Selbstverständnis korrespondieren (ebd.: 11). Hier entwickelt Erll Pierre Noras Begriff der Lieux de Mémoire weiter, mit dem Nora symbolische, mit Bedeutung aufgeladene Orte beschreibt, die für eine bestimmte Erinnerungskultur identitätsstiftend sind. Nora, Pierre (Hg.) (1984): Les lieux de mémoire. Band I-III. Paris: Gallimard. 3. Kontext und Korpus der Untersuchung 3.1 Die Revolution und die kubanische Diaspora Die Geschichte der Kubaner im Exil lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Schon der kubanische Nationalheld José Martí befand sich ab 1871 in Spanien, Mexiko, Venezuela und New York im Exil, von wo aus er den Unabhängigkeitskampf gegen die spanische Kolonialmacht organisierte (Ette 2001: 14). 1902 kam es nach Erreichen der politischen Unabhängigkeit zur Gründung eines Nationalstaates. Die Unabhängigkeit war jedoch von Beginn an „höchst relativ“, da die Kolonialherrschaft durch die Vormachtstellung der USA abgelöst wurde (vgl. Ette 2005: 74). Allein wegen der geographischen Nähe befindet sich die kleine Insel Kuba in einem fortwährenden Spannungsverhältnis zu dem Riesen USA, gegen den sie sich behaupten muss. Im Jahr 1953 übernahm Fulgencio Batista, der bereits zwischen 1940 und 1944 das Land mit bürgerlicher Verfassung regiert hatte, durch einen Militärputsch erneut die Macht auf Kuba. Das diktatorische Regime wurde von den USA unterstützt und machte Kuba zum Zentrum von „Korruption, Nepotismus, Günstlingswirtschaft“, Prostitution und Glücksspiel. 1 Havanna wurde zur Vergnügungsmetropole der US-amerikanischen Oberschicht, während der Großteil der kubanischen Bevölkerung in Armut an der sozialen Ungleichheit litt. Zudem nahmen politische Morde und gewaltsame Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung im Zuge des „zweiten Batistatos“ zu (Zeuske 2004: 157, 161). Mit dem Sturm auf die Moncada-Kaserne im Jahr 1953 begann Fidel Castros Widerstandsbewegung im Versuch, das Regime Batistas zu stürzen. Im November 1956 startete er an der Seite Che Guevaras einen über zwei Jahre andauernden Guerillakampf, der schließlich am 1.1.1959 zur Flucht Batistas führte. In ihren Anfangsjahren löste die kubanische Revolution eine weltweite Euphorie aus, denn sie verkörperte die Hoffnung auf die Überwindung neokolonialer Strukturen auf dem gesamten lateinamerikanischen Kontinent. 2 Sie beginnt als „Moderne-Projekt“, das auf Gleichheit, Einheit und Nationalismus basiert (vgl. Ette 2001: 17), und damit gleichzeitig als „humanistische Revolution“, die soziale Reformen in 1 Vgl. Zeuske, Michael (2004): Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert. Zürich: Rotpunktverlag, 157. 2 Vgl. Gremels, Andrea / Spiller, Roland (2010): „Prólogo: La Revolución revis(it)ada“. In: Dies. (Hg.), 10. 3. Kontext und Korpus der Untersuchung 40 Angriff nahm. 3 Doch mit der Gründung eines sozialistischen Staates kehrte sich die Situation bald um. Im Zuge der marxistisch-leninistischen Ideologisierung begannen auch die Ausgrenzungsmechanismen. An die Intellektuellen Kubas übermittelte Castro in seiner Rede von 1961 eine eindeutige Botschaft: [E]l artista más revolucionario sería aquel que estuviera dispuesto a sacrificar hasta su propia vocación artística por la revolución. […] ¿Cuáles son los derechos de los escritores […] revolucionarios o no revolucionarios? Dentro de la revolución: todo; contra la revolución ningún derecho. 4 Die Grenzziehung zwischen „dentro“ und „contra la revolución“ setzte eine Diasporabewegung in Gang, die bis heute anhält. In den ersten Revolutionsjahren flüchteten vor allem Großgrundbesitzer und Unterneh-mer aus Angst vor der Verstaatlichung ihres Besitzes (Zeuske 2004: 193). In der Zeit von 1959-1965 waren es unter den SchriftstellerInnen vor allem diejenigen, die die Revolution zunächst euphorisch begrüßt hatten, doch enttäuscht über den zunehmenden Machtmissbrauch schon zu Beginn der 1960er Jahre zum Castro-Regime auf Distanz gingen, wie Guillermo Cabrera Infante, Severo Sarduy und Nivaria Tejera. 5 Die zweite Auswanderungswelle koinzidierte mit einer gegen Ende der 1960er Jahre zunehmend sich radikalisierenden Kulturpolitik stalinistischer Prägung, unter der die Verfolgung von Nonkonformisten, Andersdenkenden und Dissidenten zunahm und damit auch die Zahl derjenigen, die ins Exil gingen (vgl. Moulin Civile 2011: 199). Mit der Festnahme des Dichters Heberto Padilla im März 1971 verspielte Castro die Sympathien der Weltöffentlichkeit. Die internationale Linke polarisierte sich in Gegner und Befürworter des Castrismus. 6 Eine weitere Auswanderungsbewegung ereignete sich 1980, als eine Gruppe Kubaner die Botschaft von Peru stürmte, um ihre Ausreise aus Kuba zu erzwingen. Aufgrund des politischen Drucks genehmigte die Regierung schließlich 120.000 Personen das Verlassen der Insel, die als marielitos in die Geschichte eingingen, unter ihnen die Autoren Reinaldo Arenas und Antonio Benítez Rojo (vgl. Moulin Civile 2011: 199). 3 Zeuske unterscheidet zwischen drei wichtigen Reformbestrebungen: der „reforma agraria“, der „reforma urbana“ und der „reforma universitaria“. Vgl. Zeuske, Michael (2011): „Einleitung: Kuba zwischen Reformen und Revolution“. In: Göttsch, Marieke / Loschky, Miriam / Wendle, Sarah u.a. (Hg.): Kuba: 50 Jahre zwischen Revolution, Reform - und Stillstand? Berlin: Wissenschaftlicher Verlag, 25. 4 Castro, Fidel (1988): La revolución cubana [1953-1962]. Mexico D.F.: Ed. Era, 360, 363. 5 Vgl. Moulin Civil, Françoise (2011): „De isla a mundo. Los avatares de la literatura cubana contemporánea“. In: Göttsch / Loschky / Wendle u.a. (Hg.), 199. 6 Schumann, Peter (2001): „Dissident in Kuba - Formen politischer und kultureller Opposition“. In: Ette / Franzbach (Hg.), 295. 3.1 Die Revolution und die kubanische Diaspora 41 Zu Beginn der 1990er Jahre, nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sah sich Kuba durch den drohenden wirtschaftlichen Ruin mit einer „ausweglosen Krise“ konfrontiert, zumal es nicht mehr auf die Unterstützung der Ostblockstaaten zählen konnte (Schumann 2001: 307). Gleichzeitig zeigten sich die USA weit davon entfernt, die Handelsblockade, die sie 1960 auf Kuba verhängt hatten, zu lockern (vgl. Zeuske 2004: 197). Von da an setzte die sogenannte ‚Spezialperiode’ ein, el período especial en tiempos de paz, eine Zeit des wirtschaftlichen Engpasses, in der fast das gesamte Volk Hunger litt und viele Waren aus den Regalen der Läden verschwanden. 7 Durch den período especial konnte die Regierung Kritik an der Revolution nicht mehr verhindern. Die Zensur wurde gelockert und das „Normen verletzende Verhalten“ der Dissidenten nahm zu (Schumann 2001: 309). Allerdings führte die ökonomische Notlage dazu, dass verzweifelte Maßnahmen ergriffen wurden, um das Land zu verlassen: 35.000 Kubaner versuchten in dieser Zeit mit Hilfe von improvisierten Booten die Küste Floridas zu erreichen (vgl. Strausfeld 2000: 15). Auch der Schriftsteller-Exodus nahm zu Beginn der 1990er Jahre wieder zu: Jesús Díaz und Zoé Valdés gehören zu den prominenten VertreterInnen. Seit Fidel Castro 2006 die Regierungsgeschäfte endgültig seinem Bruder Raúl Castro überlassen hat, da er sich aus gesundheitlichen Gründen im Jahr 2004 zurückziehen musste, scheint sich die ersehnte Öffnung zu vollziehen. Reformen bahnen sich an: die Reisefreiheit, differenzierte Löhne und privatwirtschaftliche Öffnungen versprechen einen Ausweg aus der „Dauerkrise“ (Zeuske 2011: 46, 48). Das Leben auf der Insel ist jedoch weiterhin von ökonomischen Engpässen geprägt. Dies wird vor allem an der fortbestehenden Knappheit der Wasser- und Nahrungsmittelversorgung und der katastrophalen Wohnsituation durch den Verfall der Bausubstanz und der Infrastruktur ersichtlich (vgl. ebd.). Das als Prozess der Befreiung bejubelte „historische Gewordensein“ der kubanischen Revolution ist längst dem Phänomen eines „Historisch-Gewordenseins“ gewichen: Castro ist lebend zum Mythos geworden, dessen Attraktivität aber auch dessen politische Radikalität in seiner Gestrigkeit besteht. 8 Damit haben sich im Kuba des 21. Jahrhunderts auch die harten 7 Vgl. Strausfeld, Michi (2000): „Isla - Diáspora - Exilio. Anotaciones acerca de la publicación y distribución de la narrativa cubana en los años noventa“. In: Ette, Ottmar / Reinstädler, Janett (Hg.): Todas las islas la isla. Frankfurt / Madrid: Vervuert / Iberoamericana, 15. 8 Vgl. Ette, Ottmar (2010a): „Mitologías de medio milenio y de media centuria: Cuba o el mundo como arquipiélago“. In: Gremels / Spiller (Hg.), 18. Im Zusammenhang mit der Entstehung einer „nueva izquierda“ in Lateinamerika misst auch Günther Maihold Kuba nur mehr die Bedeutung eines „referente simbólico e histórico“ zu und reiht sich damit in Ettes Argumentation des „historisch gewordenen“ kubanischen 3. Kontext und Korpus der Untersuchung 42 Fronten zwischen den Kubanern innerhalb und außerhalb der Insel aufgelöst, wie Moulin Civile meint (2011: 204). Gleichzeitig ereignet sich gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Zwischenfall, der in seiner Skandalträchtigkeit dem Caso Padilla ähnelt: im Frühjahr 2003, dem sogenannten primavera negra, werden 75 kubanische Schriftsteller und Journalisten gefangen genommen, deren endgültige Freilassung erst im Juni 2010 unter dem enormen Druck einer empörten Weltöffentlichkeit erfolgte. 9 Die noch auf Kuba lebende unabhängige Journalistin Yoani Sánchez wird weiterhin von Seiten des Regimes angefeindet, obwohl ihr inzwischen die lange erkämpfte Ausreisegenehmigung erteilt wurde. 10 Die Texte ihres Blogs Generación Y sind von Kuba aus nicht einsehbar, ihr Buch Cuba libre. Vivir y escribir en La Habana (Madrid 2010) offiziell verboten. Existieren sie also doch weiterhin, die verhärteten Grenzen, die Kubaner innerhalb und außerhalb der Insel bekümmern müssen? Die Insel der Extreme lebt weiterhin von ihren radikalen Widersprüchen und ebenso verhält es sich mit der kubanischen Diaspora, die von „discursos, prácticas y posiciones multipolares“ gekennzeichnet ist und damit bei weitem nicht als einheitlich bezeichnet werden kann (Gremels / Spiller 2010: 11). Andrea O’Reilly Herrera mahnt, man solle die starre Opferhaltung des kubanischen Exil-Narrativs einer „displaced and dispossessed Cuban identity“ endlich überkommen, und stattdessen die „transnational elements and forces“ und „multilocational potentials“ einer Insel in Bewegung in den Blick nehmen. 11 Genau an dieser Stelle setzt meine Arbeit an, die die Texte der kubanischen AutorInnen in Paris auf das paradoxe Phänomen von Stillstand und gleichzeitiger transterritorialer Mobilität hin untersucht. Modells ein. Vgl. Maihold, Günther (2010): „Los legados de la revolución cubana para la izquierda latinoamericana de hoy“. In: Gremels / Spiller (Hg.), 87. 9 http: / / www.rnw.nl/ espanol/ bulletin/ cuba-liberara-a-ultimos-dos-presos-politicosde-primavera-negra-de-2003. Zugriff: 09.02.2013. 10 Jahrelang kämpfte die Autorin für ihre Ausreise. Alle Anträge wurden abgelehnt. Seit der neuen Regelung vom 15.01.2013 konnte ihr die Regierung die Genehmigung nicht mehr verweigern. Am 17.02.2013 trat sie ihre symbolische Reise für 80 Tage um die Welt an, die mit dem Flug nach Basilisen began. Vgl. dazu den Blog-Eintrag vom 18.02.2013 mit dem Titel „Brasil… ay! Brasil” http: / / lageneraciony.com/ page/ 2/ ? s=viaje&submit_x=0&submit_y=0&submit=Sea rch. Zugriff: 09.11.2013. 11 O’Reilly Herrera, Andrea (Hg.) (2007): „Introduction“. In: Dies. (Hg): Cuba. Idea of a Nation Displaced. Albany: State University of New York Press, 3-5. 3.2 Leben und Schreiben in Paris 43 3.2 Leben und Schreiben in Paris Die Präsenz hispanoamerikanischer LiteratInnen stellt schon im Paris des 20. Jahrhunderts ein ergiebiges und schier unerschöpfliches Forschungsfeld dar. Das bezeugen aktuelle Publikationen wie z.B. die Studie Cristóbal Peras zu den Modernistas en París (1997), die u.a. den argentinischen Reformer Domingo Faustino Sarmiento, den guatemaltekischen Schriftsteller und Diplomat Enrique Gómez Carillo sowie die Autoren Ruben Darío, Octavio Paz und José Asunción Silva einbezieht. Marcy Schwartzs Untersuchung urbaner Topographien in Writing Paris (1999) widmet sich den hispanoamerikanischen Gegenwartsschriftstellern Julio Cortázar, Manuel Scorza und Bryce Echenique. 12 Auch im 21. Jahrhundert reißt das Interesse an der Thematik nicht ab: Jason Weiss schreibt die Literaturgeschichte eines Century of Latin American Writers in Paris (2003) und nimmt dabei vor allem die AutorInnen in den Blick, die ins Französische als Literatursprache gewechselt haben. Unter dem Titel Paris, capitale littéraire de l’Amérique latine (2007) entwirft Jean-Claude Villegas mit Blick auf den Boom der lateinamerikanischen Literatur der 1960er und 70er Jahre ein weitgehend literatursoziologisch ausgerichtetes Who-is-Who der Pariser Kultur- und Verlagslandschaft und ihrer Verbindungen zur lateinamerikanischen Literaturprominenz. Gustavo Guerrero veröffentlicht 2005 ein Dossier zu „Paris in der hispanoamerikanischen Literatur“ und 2011 erscheint Laila Nissens Dissertationsschrift Mythos fremde Metropole, die die lateinamerikanische Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts auf die Frage hin untersucht, inwiefern sie einen Beitrag zur Aktualisierung, Fortschreibung und auch Dekonstruktion des Stadtmythos Paris leistet. 13 Paris ist für Lateinamerika und weit darüber hinaus der exemplarische Kristallisationspunkt moderner Stadtmythologie, die Stadt, die „den Geist der Moderne“ nicht nur widerspiegelt, sondern ihm auch Gestalt gegeben und sich so ihr eigenes Bewusstsein geschaffen hat. 14 Seit der Unabhängig- 12 Pera, Cristóbal (1997): Modernistas en París. El mito de París en la prosa modernista hispanoamericana. Bern: Lang; Schwartz, Marcy (1999): Writing Paris. Urban Topographies of Desire in Contemporary Latin American Fiction. Albany: State University of New York Press. 13 Weiss, Jason (2003): The Lights of Home. A Century of Latin American Writers in Paris. New York / London: Routledge; Villegas, Jean-Claude (2007): Paris, capitale littéraire de l’Amérique latine. Dijon: Éditions Universitaires de Dijon; Guerrero, Gustavo (Hg.) (2005): „París en la literatura hispanoamericana“. In: Cuadernos hispanoamericanos 658, 5-45; Nissen, Laila (2011): Mythos fremde Metropole. Paris und New York in der lateinamerikanischen Erzählliteratur. München: Meidenbauer. 14 Stierle, Karlheinz (1993): Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München / Wien: Carl Hanser, 905. Vgl. auch Ingenschay, Dieter (1997): „Am Ende von Paris? - der Stadtmythos im peripheren Blick“. In: Schulz-Buschhaus, Ulrich / Stierle, Karlheinz (Hg.): Projekte des Romans nach der Moderne. München: Fink, 149-171. 3. Kontext und Korpus der Untersuchung 44 keit der lateinamerikanischen Staaten im 19. Jahrhundert wird Paris zu der Stadt, von der aus sich Lateinamerika und die Karibik neu denken und erkennen. Paris gilt bis heute als universaler „Ort der Literatur“ und damit als „Garant für die Freiheit der Kunst“. 15 Für die Autoren Lateinamerikas, die in den 1960er Jahren unter dem politischen Druck der Militärdiktaturen ihrer Heimatländer nach Paris kamen, besaß die Stadt nicht nur ein kulturelles, sondern auch ein humanistisches Prestige als „nación de los derechos humanos“. 16 Darüber hinaus ist die Ciudad Luz seit jeher in ihrer Eigenschaft als kosmopolitische Metropole Anziehungspunkt für Autor- Innen unterschiedlichster Herkunft. Dies hat zur Bereicherung und Internationalisierung der französischen Literatur geführt (vgl. Kohut 1983: 15), die einige AutorInnen hispanophoner Provenienz sprachlich adoptiert hat (vgl. Weiss 2003: 191-234). Für Kulturschaffende kann Leben in Paris immer auch ökonomisches Überleben unter schwersten Bedingungen bedeuten. Das zeigt das Beispiel des peruanischen Schriftstellers César Vallejo, dessen Pariser Jahre in den 1920ern von extremer Armut gekennzeichnet waren. 17 In diesem Zusammenhang kann der Mythos mit der Realität konflikthaft zusammenstoßen und die in der Vorstellung allesversprechende Stadt zum Ort enttäuschter Erwartungen und Desillusionierungen werden (vgl. Nissen 2011: 291f). 18 Vor diesem vielfältigen Hintergrund des Lebens und Schreibens in Paris nimmt meine Untersuchung die dort angesiedelte kubanische Gegenwartsliteratur in den Blick. Navarrete grenzt das Kulturschaffen dieser AutorInnengruppe entschieden von den neu entstandenen, hispanophonen Zentren der kubanischen Kultur in Miami, New York und Madrid ab, denn sie würde sich durch einen „marcado interés por la individualidad“ auszeichnen. 19 Weitere Überlegungen zum Mythos von Paris vgl. 6.4.1 „Karnevalisierung von Paris“. 15 Vgl. Mathis-Moser, Ursula (2006): „‚Französische’ Literatur aus der Feder von ‚Fremden’. Zur Konstruiertheit der Grenzen von Nationalliteraturen“. In: Burtscher- Bechter u.a. (Hg.), 99. 16 Palma, Milagros (2005): „París, ciudad mítica de escritores hispanoamericanos“. In: Orecchia Havas, Teresa (Hg.): Mémoire(s) de la ville dans les mondes hispaniques et lusobrésiliens. Bern: Lang, 411. Die Autorin gehört auch zu der Liste derjenigen, die lateinamerikanische Literatur in Paris erforschen. Vgl. Palma, Milagros (Hg.) (2006): Escritores de América latina en París. Paris: Indigo & Côté Femmes. 17 Vgl. Ferrari, Américo (1996): „Los poemas de París“. In: Vallejo, César: Obra poética. Edición crítica. Ferrari, Américo (Hg.). México D.F.: Consejo Nacional para la Cultura y las Artes, 275. 18 Marcy Schwartz hebt schon bei den Modernisten anhand verschiedener Beispiele Mo-mente des Scheiterns und einer „failed utopia“ hervor (1999: 19-25). Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sieht Nissen den Mythos Paris nur mehr als „unzureichende und irreführende Verstehenskategorie der Wirklichkeit entlarvt“ (2011: 293). 19 Navarrete, William (2007): „Prólogo“. IP 13. 3.2 Leben und Schreiben in Paris 45 Dieses „eigenwillige“ Leben und Schreiben von KubanerInnen in Paris lässt sich bis ins anbrechende 19. Jahrhundert zurückverfolgen. María de las Mercedes Santa Cruz de Montalvo, besser bekannt als Condesa de Merlín, eine der „führenden Belledames des kulturellen Pariser Establishment“, machte sich in der Zeit zwischen 1813 und 1839 als französischsprachige Schriftstellerin kubanischer Herkunft einen Namen. 20 Noch bekannter als die Comtesse ist José María de Heredia, der 1859 zum Studieren nach Paris kam und zum ausgehenden 19. Jahrhundert als „kubanischstämmiger“ Dichter in die französische Literaturgeschichte einging. 21 In diesem Zeitraum hielten sich auch viele kubanische Intellektuelle in Paris auf, um sich vom republikanischen Gedankengut für Reformen auf Kuba inspirieren zu lassen. 22 Pera macht in diesem Zusammenhang auch auf die Parisreise José Martís im Jahr 1889 aufmerksam, in dem er - bereits im New Yorker Exil - die Pariser Universalausstellung besuchte. Das hundertjährige Jubiläum der französischen Revolution nahm er zum Anlass, humanistische und emanzipatorische Zukunftsperspektiven für den südamerikanischen Kontinent, zu entwerfen (Pera 1997: 80-84). 23 Dies zeigt, wie sehr Frankreich bzw. Paris, dem durch die Aufklärung eine Vorbildfunktion zukam, im 19. Jahrhundert zu den Pflichtetappen der Intellektuellen und europaorientierten Oberschicht Lateinamerikas gehörte. (vgl. Weiss 2003: 1, 5). Kubas Blick nach Frankreich sieht de la Nuez durch zwei konkurrierende Einflüsse - den nordamerikanischen und den europäischen - in der Kulturgeschichte der Insel bedingt. Denn durch seine koloniale Vorgeschichte und die geographische Nähe zu den USA habe Kuba seit jeher wechselseitig in beide Richtungen geblickt (1998: 26). In Abgrenzung zur ehemaligen Kolonialmacht Spanien setzt sich die Frankophilie auf der Insel durch. Diese greift de la Nuez provozierend auf, indem er auf Jean Paul Sartre Bezug nimmt, der sich auf seiner Reise nach Kuba im Jahr 1960 zu der Bemerkung verleiten ließ, er erachte das „Französisieren“ kubanischer Intellektueller für sinnvoll, um sie vom nordamerikanischen Modell zu entfernen (ebd.). Implizit macht der kubanische Kulturkritiker hier deutlich, welche Bedeutung Frankreich und seine Hauptstadt für Kuba zukommen: Dort zentrieren sich avantgardistische Strömungen, revolutionäre Bestrebungen und kulturelles Prestige. Umgekehrt zeigt Sartres Besuch auf 20 Vgl. Müller, Gesine (2011): „Exil als Heimat - Heimat als Exil? “ In: Estelmann, Frank / Müller, Olaf (Hg.): Exildiskurse der Romantik in der europäischen und lateinamerikanischen Literatur. Tübingen: Narr, 235f. 21 Vgl. http: / / www.josemaria-heredia.com. Zugriff: 09.02.2013. 22 Vgl. hierzu die Aufsatzsammlung von Paul Estrade (Hg.) (2003): Reformistes cubains en France et en Espagne au milieu du XIX e siècle. Paris: L’Harmattan. 23 Pera bezieht sich auf Martís Aufsatz „La exposición de París“, den er an die „niños de nuestra América“ richtet: In: Edad de Oro. La Habana: Gente Nueva, 1972, 125-148. 3. Kontext und Korpus der Untersuchung 46 Kuba auch, dass Frankreich die kubanische Revolution in den frühen 60ern besonders gefeiert hat. Von Paris aus wurde jedoch auch der heftige Protest gegen den Caso Padilla losgetreten (vgl. Villegas 2007: 143). In diesem Kontext ist die lateinamerikanische Präsenz in Frankreichs Metropole, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt erlangte, von großer Bedeutung. Denn eine Reihe namhafter Autoren Lateinamerikas ging aufgrund der politisch instabilen Lage in ihren Heimatländern ins Exil, darunter z.B. Julio Cortázar und Augusto Roa Bastos. Hinzu kamen Exilierte des Franco-Regimes in Spanien, z.B. Fernando Arrabal, Jorge Semprún und Juan Goytisolo. So bildete sich eine spanischsprachige Schriftstellerenklave in Paris heraus, die Karl Kohut als „colonia literaria hispanohablante“ bezeichnet (1983: 20). In dieser Zeit wurde die kubanische Kultur in Paris offiziell von Alejo Carpentier repräsentiert, der von 1966-1980 als Kulturattaché in der kubanischen Botschaft in Paris tätig war. 24 Neben Carpentier ist Severo Sarduy in diesen Jahrzehnten eine weitere herausragende Figur des kubanischen Kulturschaffens. Er kam als exiliado cultural nach Paris und wurde dort zum Vertreter einer poststrukturalistisch ausgerichteten Literatur, die stark von der engen Verbindung mit der sprachkritischen Bewegung der Gruppe Tel Quel geprägt ist, zu der u.a. Jacques Derrida, Julia Kristeva und Roland Barthes gehören (vgl. Kohut 1983: 268f, 285). Vor dem Hintergrund dieses Einflusses entwickelte er sein Konzept des neobarroco. 25 Carpentier prägt in der Auseinandersetzung mit den Surrealisten in Paris den Begriff des real maravilloso, dem eine bahnbrechende Bedeutung für die lateinamerikanische Literatur zukommt, denn er legt die Grundlage für den Boom der 1960er Jahre. 26 Das Beispiel dieser Autoren zeigt, dass Paris fruchtbaren Boden für ein transkulturelles Schreiben bietet, das sich aus dem Dialog und der gegenseitigen Durchdringung von ‚Eigenem’ und ‚Anderem’ speist. Mit Zoé Valdés und dem New Cuban boom hat die kubanische Literatur seit den 1990er Jahren wieder eine „French connection“. 27 Diese boomende Literatur der período especial verhandelt das Scheitern der kubanischen Revolution kritisch und gleichzeitig marktgängig (Whitfield 2010: 15-25). Eine cubanomanía wird seit der Öffnung Kubas im ausgehenden 20. Jahrhundert 24 Vgl. Navarrete, William (2006): „La littérature cubaine en France: oublis ou mésententes? [sic]“. In: Critique 112, 754. 25 Vgl. Sarduy, Severo (1972): „El barroco y el neobarroco“. In: Fernández Moreno, César (Hg.): América latina en su literatura. México D.F.: Siglo XXI, 167-184. 26 Vgl. Carpentier, Alejo ([1967] 2002): „Prólogo“. In: Ders.: El reino de este mundo. Madrid: Alianza, 7-14. Weitere literaturgeschichtliche Überlegungen zu Carpentiers Rolle als Literat und Literaturvermittler in Paris, vgl. 5.3.1 „Sprachliche Isolation in Paris“. 27 Vgl. Whitfield, Esther (2010): Cuban Currency. The Dollar and „Special Period“ Fiction. Minneapolis: University of Minnesota Press, 57. 3.2 Leben und Schreiben in Paris 47 auch von der Touristikbranche genährt, die das Bild einer frivolen karibischen Kultur propagiert, in der ausgelaugte EuropäerInnen Rhythmus und Lebensfreude tanken und dabei noch den nostalgisch romantisierten Mythos einer kubanischen Revolution ‚morbiden Charmes‘ erleben können. 28 Der New Cuban boom hat allerdings nicht dazu beigetragen, dass die Publikationsmöglichkeiten für kubanische SchriftstellerInnen in Paris vergleichbar attraktiv geworden wären wie zu Zeiten des Booms der lateinamerikanischen Literatur in den 1960er und 70er Jahren. 29 Hinsichtlich der globalen Wanderbewegungen einer kubanischen Literatur, die zum Großteil außerhalb der Insel publiziert wird, kommt Paris eine „national-transnationale Doppelfunktion“ zu (Mathis-Moser 2006: 99). Einerseits erscheint die Stadt bis heute als internationale Megalopolis, die LiteratInnen jeglicher Herkunft offen empfängt und ihnen eine ideale Plattform für ihr literarisches Schaffen bietet. Dieser Ruf wird von Frankreich selbst gezielt gepflegt. 30 Andererseits beklagen gerade von außen Kommende die Blindheit Frankreichs dem ‚Fremden‘ gegenüber, der sich niemals vom „Handicap“ des Andersseins befreien könne, so Kristeva: „Nulle part on n’est plus étrangère qu’en France [...], les Français opposent à l’étranger un tissu social compacte et d’un orgueil national imbattable“ (1988: 57f). Dieses Spannungsfeld zwischen einer kosmopolitischen Offenheit und gleichzeitigen nationalen Geschlossenheit dem Fremden gegenüber bestimmt das kubanische Leben und Schreiben in Paris. Im Kontext des Exils besteht die besondere Herausforderung für die AutorInnen im Kampf um Öffentlichkeit und Anhörung. In der folgenden Analyse nimmt der ‚Standort’ Paris eine entscheidende Rolle für die Untersuchung von Exil und Transkulturalität ein. Dabei geht es nicht nur darum, am Beispiel einzelner Texte die Repräsentationen der Stadt produktionsästhetisch zu beleuchten. Auch außertextuelle Faktoren der literarischen Produktion und Rezeption fließen in die Analysen ein. Rezeptionssoziologische Überlegungen sind in diesem Kontext vor allem deswegen von besonderem Interesse, weil die Autor- Innen überwiegend auf Spanisch in einem frankophonen Umfeld schreiben. 28 Vgl. Bspw. http: / / www.tui.com/ reiseexperten/ tipps/ havannas-faszinierendermorbider-charme-2742/ ? expertpartials%5Bexpert%5D=1727. Zugriff: 13.02.2013. 29 Vgl. Hasson, Lilianne (2002): „¿Y en Francia qué? “ In: Revista Hispano Cubana 12, 95- 106, 99. Ausführlicher zum New Cuban boom siehe Kap. 5.3.1 „Sprachliche Isolation in Paris“. 30 Vgl. hierzu Casanova, Pascale (1999): La République mondiale des Lettres. Paris: Seuil, 55. 3. Kontext und Korpus der Untersuchung 48 3.3 Auswahl der Autoren Mein Korpus besteht aus Texten zeitgenössischer SchriftstellerInnen, die im Lichte der Veränderungen betrachten werden können, denen die kubanische Diaspora im 21. Jahrhundert ausgesetzt ist. Obwohl sie zwei unterschiedlichen Generationen und damit vor allem auch verschiedenen Ausreisewellen angehören (vgl. 3.1), haben sie eines gemeinsam: Auf Kuba geboren und aufgewachsen gingen sie erst im Erwachsenenalter ins Exil. 31 Hinzu kommt, dass sie zur kulturellen Bildungselite Kubas zählen und damit zwar als marginale, jedoch nicht als subalterne Gruppe zu erachten sind. Als postkoloniale Literatur ist dieser Korpus nur in weitestem Sinne aufzufassen. Denn gerade in Bezug auf Frankreich besteht keine postkoloniale - oft aufklärungskritische - Auseinandersetzung mit der ehemaligen Imperialmacht. So zeugt der Fall der kubanischen Literatur in Paris nicht von einem postkolonialen Writing Back „subversiven und konntestativen“ Charakters. In Paris leben und schreiben zu können stellt für die AutorInnen vielmehr ein Privileg dar. In Bezug auf ihr Aufnahmeland zeigt sie sich daher eher frankophil und weist als hispanophone Literatur, die nicht aus den ehemaligen Kolonialgebieten Frankreichs stammt, vielmehr Aspekte eines Writing In im Sinne Véronique Porras auf. 32 Die Konfliktlinie besteht zur Situation auf Kuba und der dort längst zur Diktatur erstarrten Revolution. Daran richten die ExilautorInnen ihre Strategien des Writing Back aus. Im Folgenden werden die zehn AutorInnen, die den Korpus dieser Arbeit bilden, kurz vorgestellt. Der Schwerpunkt der Einführung liegt auf deren Poesie, denn die Auswahl wurde auf Grundlage der in der Anthologie Ínsulas al pairo. Poesía cubana contemporánea en París vertretenen 31 Zu der inzwischen dritten Generation von KubanerInnen, die nach mehr als 50 Jahren andauernden Ausreisewellen in Miami heranwächst und die Insel selbst gar nicht erlebt hat, vgl. Sánchez, Yvette (2010): „Relevo generacional en Miami: del sustrato cubano a nuevas capas latinas“. In Gremels / Spiller (Hg.), 123-136. Im genau zehn Jahre zuvor erschienenen Band Isla de las Islas hatte Sánchez die zweite Generation beleuchtet, die Auswanderer der período especial. Vgl. Sánchez, Yvette (2000): „,Esta isla se vende’: proyecciones desde el exilio de una generación ¿desilusionada? “. In: Ette / Reinstädler (Hg.), 163-176. 32 Dieser Artikel enthält ein vergleichendes, schematisches Schaubild, das eine Unterscheidung zwischen den postkolonialen Literaturen Frankreichs vornimmt, die durch „subversion, contestation“ und Strategien des Writing Back gekennzeichnet sind und den Migrationsliteraturen aus der Feder von Autoren, die nicht aus frankophonen Räumen stammen und eher „orthodoxie, adhésion“ und Strategien des Writing In aufweisen. Vgl. Porra, Véronique (2007): „De l’hybridité à la conformité, de la transgression à l’intégration. Sur quelques amigüités des littératures de la migration en France à la fin du XXe siècle“. In: Mathis-Moser / Mertz-Baumgartner (Hg.): La littérature ‚française’ contemporaine. Contact de cultures et créativité. Tübingen: Narr, 24. 3.3 Auswahl der Autoren 49 DichterInnen getroffen. Unter ihnen befinden sich einige, die bisher weitgehend unbekannt sind und unerkannt schreiben. Ein Beispiel hierfür ist Gina Pellón, die schon im Revolutionsjahr 1959 nach Paris ging und nun bereits über ein halbes Jahrhundert als „francófila empedernida“ dort lebt. 33 Dass man ihre lyrischen Texte nicht kennt, liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass sie eigentlich als Malerin internationalen Ruf erlangte und ihre Gedichte erstmals in IP veröffentlichte. 34 Aktiv in der expressionistisch inspirierten Pariser Künstlergruppe COBRA suchte Pellón in ihren Bildern stets nach einem zufallsgelenkten, spontanen Ausdruck (vgl. Novo 2007: 93). Diesen findet man auch in ihrer Lyrik intimen Charakters wieder, die eine hohe Dichte gestisch und assoziativ aneinandergereihter Bilder aufweist. Nivaria Tejera ist die Pariser Pionierin unter den AutorInnen, denn sie verbrachte dort bereits in den späten 1950er Jahren einige Zeit, in der sie - inspiriert vom Kontakt zu den Surrealisten André Breton und Benjamin Peret - ihren ersten Gedichtband verfasste. 35 1965 ließ sie sich von der kubanischen Revolution bitter enttäuscht endgültig in Paris nieder. Ihr literarisches Schaffen ist vom Exil durchdrungen: Geprägt von der kubanischen Avantgarde der Grupo Orígenes, die sich um José Lezama Lima formierte, aber auch unter dem Einfluss des Nouveau Roman und des Poststrukturalismus kreiert Tejera eine komplexe Exilpoetik, gekennzeichnet von einer erdrückenden und gleichzeitig faszinierend eigenwilligen Bildersprache. 36 Auch im Hinblick auf formale Kriterien gehört sie zu den experimentierfreudigsten AutorInnen des Korpus. Gilda Alfonso war in Havanna lange Zeit als Radiojournalistin tätig, bevor sie 1992 ins Pariser Exil ging (vgl. IP 63). Ihre Gedichte weisen eine semiotisch motivierte Schreibtechnik auf, die analog zur „strukturalistischen Tätigkeit“ im Sinne Roland Barthes’ steht. Hierbei rückt die Anordnung von Wortfeldern im Textraum in den Vordergrund. 37 Am weitesten von einer solchen dezentrierenden Schreibweise entfernt, sind die Texte von Eyda Machín, die seit 1978 in Paris lebt und sich selbst als 33 Vgl. Novo, Mireya (2007): „Gina Pellón: La sugerencia en la pintura“. In: Navarrete, William (Hg.): Visión crítica de Gina Pellón. Valencia: Aduana Vieja, 91. 34 Einen guten Überblick über das Gesamtkunstwerk der Malerin erhält man in Zilioto, Anna (1999): Gina Pellón. Verona: Edizioni A dell’aurora. 35 Die Gedichte aus dieser Zeit sind als Anthologie erst kürzlich in Frankreich herausgebracht worden. Tejera, Nivaria (2003): Paris Scarabée. Paris: Cahiers Ulysse fin de siècle. Ins Französische übersetzt von Nicole Laurent-Catrice (in Zusammenar-beit mit der Autorin). 36 Zu den literarischen Einflüssen Tejeras, auch durch Kafka, Beckett, Sarraute und Gombrowicz vgl. Serrano, Pío (2005): „Nivaria Tejera. Entrevista“. In: Encuentro de la cultura cubana 39, 20. 37 Barthes, Roland (1963): „L’activité structuraliste“. In: Les Lettres Nouvelles 32, 211-219. 3. Kontext und Korpus der Untersuchung 50 „rescatada del siglo 19“ bezeichnet. 38 Ihre sinnliche, von einer stark femininen Ausdruckskraft geprägte Lyrik romantisierenden Charakters verdankt sie ihren literarischen Vorbildern George Sand und Colette. Darüber hinaus besitzen ihre Gedichte Züge einer surrealistisch gebrochenen und teilweise sogar modernistischen Ästhetik. 39 Der derzeit literarisch aktivste Autor in Paris ist William Navarrete, der darüber hinaus unermüdlich als Kunst- und Literaturkritiker, Herausgeber, und Essayist tätig ist. 40 Als ausgeprägter Sprachkultivator ornamentreichen Ausdrucks lässt er sich stilistisch dem (neo)barroco zurechnen. Dies gilt insbesondere für die Dialektik von Sein und Schein, die leitmotivisch immer wieder in seinen Texten auftritt. Seine barocke Fabulierfreude äußert sich bisweilen auch in einem sarkastisch-bissigen Ton, der karnevalistische Tendenzen aufweist. Immer mit Humor und einer leichten Ironie durchzogen sind auch die Gedichte Lira Campoamors, die zusammen mit Navarrete zu den jüngsten AutorInnen des Korpus zählt. Stilistisch lassen sich ihre Gedichte in die Kategorie der poesía circunstancial einbetten. Diese Gelegenheitslyrik greift vor allem Alltagsszenerien auf, die kurze Episoden und Momentaufnahmen erzählerisch festhalten. Die narrative Qualität ihrer Dichtung ist dem Konversationalismus geschuldet, der sich in der kubanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreut. Als „antipoetisches“ Genre verzichtet der conversacionalismo auf Versmaß, Reime und verdichtete Symbolsprache und tendiert im Gegenzug zu einem expliziten Ausdruck allgemeiner Verständlichkeit, der die Fusion zwischen Dichtung und Alltagswelt sucht. 41 Auch in Miguel Sales’ Texten herrscht ein solcher estilo conversacional vor. Für diese Arbeit wurde vor allem seine politisch motivierte Lyrik ausgewählt, in der der Dichter seiner konterrevolutionären Beziehung zu Kuba Ausdruck verleiht. Von besonderem Interesse sind diese Texte vor dem Hintergrund der politischen Gefangenschaft, in der sich 38 Vgl. Interview Andrea Gremels mit Eyda Machín vom 31.05.2007. Anhang A.I 307- 313, hier 310. 39 Vgl. Spiller, Roland u.a. (2004): „Traducir - el reflejo del reflejo“. Nachwort zur dreisprachigen Anthologie von Eyda Machín: Soy mucho más. Ich bin viel mehr. Je suis beaucoup plus. St. Ingberg: Edition Thaleia, 125-134, 125. 40 Sämtliche Artikel, Rezensionen und Essays zur kubanischen Kultur hat der Autor gesammelt herausgegeben in: Navarrete, William (2006): Catalejo de Lontananza. Crónicas cubanas (1995-2005).Valencia: Aduana Vieja. 41 Laut Hans-Otto Dill setzt sich der conversacionalismo auf Kuba vor allem seit den späten 1960er Jahren in Abgrenzung zur „deklamatorischen Heldenepik“ und der „wohlfeilen Politrhetorik“ durch, die die Lyrik in der Revolutionseuphorie der 1960er Jahre prägte. Dill, Hans-Otto (2001): „Ein halbes Jahrhundert kubanische Lyrik“. In: Ette / Franzbach (Hg.), 471. Der Konversationalismus „verwarf die Klischees und die verbrauchte Technik von Spätromantik, Modernismo und Surrealismus, verpönte Symbole, Metaphern, [und] ‚poetische Sprache’“ (ebd.). 3.3 Auswahl der Autoren 51 der Autor über acht Jahre befand, bevor er 1984 ins spanische Exil ging. Zehn Jahre später kam er nach Paris, um für die UNESCO zu arbeiten (vgl. IP 87). Im Gegensatz zu der Sales‘ ist die Dichtung José Trianas als apolitisch einzustufen und das, obwohl der Autor die künstlerische Freiheitsberaubung des Castro-Regimes am eigenen Leibe erfahren hat. Sein Theaterstück La Noche de los Asesinos erlangte 1965 internationalen Bekanntheitsgrad und wurde 1968 auf Kuba von der Zensur verboten. Dabei vermittelt Triana in seinen Texten eigentlich universale Botschaften über die stets im Verborgenen lauernden Konflikte menschlichen Zusammenlebens. Sein poetisches Programm gründet auf ontologischen Fragestellungen, bei denen das Unergründliche und Nicht-Greifbare des menschlichen Daseins und der Erinnerungsfähigkeit thematisiert und metapoetisch reflektiert werden. Dem Traum als „mundo más real“ kommt dabei eine entscheiden-de Rolle zu. 42 Zu den bekanntesten kubanischen Literaten in Paris zählen die bereits erwähnte Autorin Zoé Valdés und Eduardo Manet, der Kuba im Jahr 1968 verließ und seine Romane auf Französisch schreibt. Das umfassende, narrative Werk beider AutorInnen ist von einer realistischen Schreibweise gekennzeichnet und trägt überwiegend autobiographische Züge, wobei der Kubabezug stets sehr ausgeprägt ist. Die Lyrik spielt in ihrem Œuvre eher eine Nebenrolle. Manet ist überdies als Dramatiker einschlägig bekannt. Mit dieser Auswahl der AutorInnen eröffnet sich - vor allem mit Blick auf ihre Lyrik - gleichzeitig ein Panorama der kubanischen Gegenwartsliteratur, da in dieser sehr heterogenen Gruppe verschiedene Strömungen zusammenkommen, die für die kubanische Literaturgeschichte von Bedeutung sind. Die Fokussierung auf die AutorInnen in Paris gestattet so gleichzeitig einen weitreichenden Einblick in die unterschiedlichen ästhetischen Ausrichtungen der kubanischen Lyrik, wie z.B. ihrer transzendentalen, intimistischen, barocken und lebensnah-prosaischen Tendenzen, die auf vielfältige Weise mit der kulturellen Gedächtnis- und Identitätsbildung Kubas in Verbindung gebracht werden können. Vor diesem Hintergrund stellt sich darüber hinaus natürlich auch die Frage, inwiefern der Parisbezug und die daraus hervorgehenden literarischen und sprachlichen Einflüsse in den ausgewählten Texten zum Ausdruck kommen. Somit steht die Untersuchung der ausgewählten AutorInnen ebenso exemplarisch für die Auseinandersetzung mit der kubanischen Diasporaliteratur, die sowohl aus nationalliterarischer als auch aus transversaler Perspektive zu erfassen ist. 42 Vgl. Meyran, Daniel (2001): „Introducción“. In: Triana, José: La Noche de los asesinos. Madrid: Catedra, 17, 25f. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 4.1 Ich-Konstitution und Autopoiesis Bei der Untersuchung der existentiellen Grenzziehungen werden im Folgenden Eyda Machíns Autobiographie Pasarelas (2009), 1 Nivaria Tejeras poetisch-autobiographischer Essay Espero la noche para soñarte, Revolución (2002) sowie lyrische Texte von Tejera, Gina Pellón und Miguel Sales aus der Anthologie Ínsulas al pairo für die Analyse herangezogen. Methodisch stütze ich mich bei den Gedichtanalysen auf die Herangehensweise Rainer Warnings, der vorschlägt, Lyrik im Hinblick auf Syntagmatik, Semantik und Pragmatik zu interpretieren. Von der Syntagmatik, d.h. der Formanalyse, gelangt man zur Semantik, die die Analyse von Stilfiguren einschließt. Die Pragmatik dient dazu, die Perspektive bzw. die Artikulationsebene der Sprechsituation herauszuarbeiten. 2 Dass sich diese „semiotische Begriffstrias“ nicht nur für die Lyrik, sondern auch für die Untersuchung narrativer Texte gut eignet, zeigt Andreas Mahler, der sie auf Stadttexte anwendet. 3 Greift man auf das „Exil als Kategorie für eine Textanalyse“ zurück, so ist dies „sowohl biographisch referentiell, thematisch inhaltlich als auch textästhetisch strukturell zu dekodieren“, so Elisabeth Bronfen (1993: 167). In Bezug auf die biographische Referenzialität wird man bei der Lyrikanalyse vor eine besondere Herausforderung gestellt. Sie besteht darin, dem Spannungsfeld zwischen der klassischen Position, dass sich in der Lyrik der empirische Autor selbst ausdrückt, und der modernen Ansicht der Konstruiertheit und Abstraktheit des lyrischen Ichs gerecht zu werden. Zwar gilt gerade die Lyrik traditionellerweise als Gattung, in der die „Autor-Subjektivität“ bzw. die „Seelenlandschaft des Dichters“ besonders hervortritt. 4 Jedoch ist diese Position im Zuge der Moderne vielfach ange- 1 In diesem Teil wird aus Gründen der Einheitlichkeit mit der von der Autorin vorgenommen spanischen Übersetzung des Romans gearbeitet. Das Original erschien ein Jahr zuvor im gleichen Verlag auf Französisch unter dem Titel Passerelles (Valencia: Aduana Vieja 2008). Vgl. 5.5.2 „Sprachenvielfalt und Übersetzungen“. 2 Vgl. Warning, Rainer (1997): Lektüren romanischer Lyrik. Von den Troubadours zum Surrealismus. Freiburg: Rombach, 20f. 3 Die Syntax bezeichnet die Beziehung zwischen den Zeichen, die Semantik die Relation zwischen Zeichen und Bedeutung, und die Pragmatik den Zusammenhang zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer. Mahler, Andreas (1999): „Stadttexte - Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“. In: Ders. (Hg.): Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 11. 4 Bernhart, Walter (1993): „Überlegungen zur Lyrik aus erzähltheoretischer Sicht“. In: Foltinek, Herbert / Riehle, Wolfgang / Zacharasiewicz, Waldemar (Hg.): Tales and 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 54 zweifelt worden. Die Frage nach der Identität bzw. Nichtidentität des lyrischen Ichs mit der des empirischen Autors ist umstritten und wird gerade in Bezug auf die zeitgenössische Lyrik und deren sprachlichreferentielle Auflösungstendenzen problematisiert. 5 Dabei sieht man vielfach die bestehende Gefahr, das lyrische Subjekt mit dem empirischen Autor gleichzusetzen und es so auf eine emotional geprägte, individuelle Person einzuengen (vgl. Bernhart 1993: 372). Gerade die Konstruiertheit und die nicht „faktische Authentizität“ des lyrischen Textsubjekts eröffnen aber die Möglichkeit, eine problematische Identität des Subjekts zu artikulieren, „gespiegelt in der problematischen Identität des Diskurses“: 6 Das Subjekt macht sich selbst in dem Moment zum Thema, „wenn seine gewöhnlichen, gesicherten Relationen zu den gesellschaftlichen Instanzen, von denen her das Subjekt sich allererst als Subjekt begreifen kann, problematisch, unsicher, fragwürdig geworden sind“ (Stierle 1979: 520). Es geht also um die Wechselwirkung zwischen den äußeren, gesellschaftlichen Bedingungen des Gedichts und der „Aussageinstanz“ im Gedicht, die eine „bestimmte Geisteshaltung gegenüber Welt“ vermittelt (vgl. Bernhart 1993: 373). Hieran schließt sich meine Fraugestellung an: Wie gerät das Selbst durch seine gesellschaftliche Entortung im Exil in eine existentielle Krise, die die Frage der Subjektkonstitution in den lyrischen Texten in den Vordergrund rückt? Meine Analyse schließt daran an, dieser Ich-Konstitution in den Gedichten nachzugehen. Dies geschieht in Bezug auf die Phänomene der Ausgrenzung und der Eingrenzung, mit deren Hilfe Ich-Spaltung und Ich- Dopplung auf der Ebene der Ich-Artikulation ausgelotet werden. Die Pragmatik, also die Position, von der aus das Ich spricht und an wen es sich wendet, spielt hierbei eine wichtige Rolle. Auf die Artikulationsebene wird auch bei der Untersuchung der narrativen Texte Wert gelegt. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen erzählendem und erzähltem Ich sowie zwischen erinnerndem und erinnertem Ich ist in Bezug auf Tejeras Espero la noche para soñarte, Revolución und Eyda Machíns Pasarelas von besonderem Interesse. Da beide Texte vor dem Hintergrund des autobiographischen Schreibens untersucht werden, ist der Bezug auf eine außertextuelle Wirklichkeit, einer „ressemblance au vrai“ „their telling difference“. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 360. 5 Vgl. Hamburger, Käte (1968): „Die Beschaffenheit des lyrischen Ich“. In: Völker, Ludwig (Hg.) (1990): Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam, 410. 6 Stierle, Karlheinz (1979): „Die Identität des Gedichts. Hölderlin als Paradigma“. In: Ders. / Marquard (Hg.), 520. 4.1 Ich-Konstitution und Autopoiesis 55 durch den „pacte référentiel“ im Sinne Philippe Lejeunes gegeben. 7 Doch auch das Selbstportrait ist sprachlich inszeniert, da es an seine mediale Repräsentation gebunden ist. Dadurch hat die Autobiographie immer auch den Charakter einer Fiktion. 8 Vor diesem Hintergrund prägt Serge Doubrovsky den Begriff der Autofiktion, der gegenüber der wirklichkeitsbezogenen Referenzialität den fiktionalen Gehalt und die sprachliche Beschaffenheit autobiographischen Schreibens hervorhebt - „le langage d’une aventure à l’aventure du langange“. 9 Dieser Begriff beruht auf einer Ambiguität, die nicht vollständig zu einer Seite hin auflösbar ist, da dem Leser der Autofiktion immer sowohl der „autobiographische Pakt“ als auch der „Fiktionspakt“ angeboten wird. 10 Die Untersuchung der narrativen Texte dieses Kapitels erfolgt unter Bezugnahme auf den Begriff der Autofiktion, wenn die sprachlich und literarisch bedingte Wirklichkeitserzeugung im Vordergrund steht. Sie verzichtet jedoch nicht auf den Begriff der Autobiographie, wenn es um den außertextuellen Wirklichkeitsbezug geht. In einer gattungsspezifischen Abgrenzung werde ich für die Lyrik den Begriff der Autopoiesis zu Grunde legen, um die selbstschreibenden, selbsterschaffenden und nicht zuletzt in Bezug auf das Exil die selbstvernichtenden Qualitäten der Subjektkonstitution in den Gedichten zu beschreiben. Der Begriff der Autopoiesis verrät auch etwas über die Wirklichkeitserzeugung in lyrischen Texten. Denn im Gegensatz zur Narrativik, in der der Schwerpunkt in der Aussagesubstanz liegt, also der Möglichkeit, durch Mimesis „eine Welt zu generieren“ und damit außerfiktionale Wirklichkeit abzubilden, zeichnet sich die Lyrik dadurch aus, dass sie mittels ihrer kompositorischen „Sprachkraft“, der schöpferischen Poiesis, eine Welt generiert 7 „Par opposition à toutes les formes de fiction, la biographie et l’autobiographie [...] prétendent apporter une information sur une „réalité“ extérieure au texte, et donc se soumettre à une épreuve de vérification“ (Hervorhebung Lejeune). Lejeune, Philippe (1975): Le Pacte Autobiographique. Paris: Seuil, 36. 8 Vgl. hierzu die Position Paul De Mans: „[D]oes the referent determine the figure or is it the other way round: is the illusion of reference not a correlation of the structure of the figure, that is to say no longer clearly and simply a referent at all but something more akin to fiction which then, in its own turn, acquires a degree of referential productivity? “ Man, Paul de (1979): „Autobiography as de-facement“. In: Modern Language Notes 5, 920f. 9 Doubrovsky, Serge (1977): Fils. Paris: Gallimard, 10. 10 Vgl. Zipfel, Frank (2009): „Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? “ In: Jannidis, Fortis / Lauer, Gerhard / Winko, Simone (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin: de Gruyter, 305. Für eine Kombinierbarkeit von wirklichkeitsgetreuer Glaubhaftigkeit und erdachter Unglaubwürdigkeit im Begriff der Autofiktion plädiert Darrieussecq, Marie (1996): „L’autofiction, un genre pas sérieux“. In: Poétique 27, 378. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 56 (Bernhart 1993: 370, Hervorhebung Bernhart). 11 Die lyrische Aussage als Wirklichkeitsaussage bleibt dabei immer „aussageinstanzbezogen“ (ebd.: 373). Käte Hamburger geht davon aus, dass die dichterische Wirklichkeit nicht mit einer objektiven Wirklichkeitsdarstellung verglichen werden kann, sie sei vielmehr „subjektive, existentielle Wirk-lichkeit“ des lyrischen Ichs (1990: 411). Diese Wirklichkeit kann als „,inwendiger’, subjektbestimmter Erfahrungszusammenhang“ im Sinne Stierles verstanden werden (vgl. 1979: 522). Angesichts ihrer subjektive ‚Inwendigkeit’ erweist sich die Lyrik als „das gebräuchlichste, wohl weil intimste, Vehikel zur literarischen Gestaltung des Exilerlebnisses“ (Stern 1998: 18). In ihrer emotiven Funktion macht die Lyrik dem Leser die Erfahrung des Exils als textästhetisch verdichtetes „(Er)Lebenswissen“ unmittelbar erfahrbar (vgl. Ette 2004: 20). 12 Das durch die Lyrik vermittelte Erleben verweist im Kontext der Exildichtung immer wieder auf Motive des Abwesenden, des Verlustes und nicht zuletzt des Todes. Somit stellt sich die Frage, an welche Sprachbilder und Metaphern die Exilerfahrung im Repräsentationssystem des Textes geknüpft ist (vgl. Bronfen 1993: 168). Gerade die Symbolsprache der Lyrik mit ihrer Dichte an Topoi und Metaphern bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten, den Text auf den Begriff des Exils und der damit einhergehenden existentiellen Grenzsetzungen hin zu dekodieren. Dies wäre nach Bronfen die inhaltlich-thematische Untersuchungsebene, die in Bezug auf die Lyrikanalyse zweifelsohne nur in Abhängigkeit zur formal-ästhetischen Textgestaltung zu betrachten ist. Ich stütze mich in den Kapiteln zur Ausgrenzung und Eingrenzung überwiegend auf textimmanente Analysen, in der die Subjektkonstitution und die Positionierung des Ich ermittelt werden. In Bezug auf die Abgrenzung werden die literatursoziologischen Fragestellungen einbezogen, nicht nur um die existentiell äußeren Bedingungen des Schreibens zwischen den 11 Bernhart bezieht sich hier auch auf Müller, Wolfgang (1979): Das lyrische Ich. Erscheinungsformen gattungseigentümlicher Autor-Subjektivität in der englischen Lyrik. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 37. 12 Zur „emotiven“, direkt an den Sender gerichteten Funktion der poetischen Botschaft vgl. Jakobson, Roman ([1960]1979): „Linguistik und Poetik“. In: Ders.: Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hohenstein, Elmar (Hg.). Frankfurt: Suhrkamp, 89. Auch die Rezeptionsästhetik spielt in diesem kommunikativen Kontext eine Rolle, denn nach Wolfgang Iser konstituiert der Akt des Lesens den Text als erfahrbare Wirklichkeit. Iser, Wolfgang (1976): Der Akt des Lesens. München: Fink, 112. Auch Jorge Luis Borges stellt den Erlebnischarakter der Dichtung durch das Lesen in den Vordergrund. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er Kunst als Ereignis definiert: „Every time I read a poem, the experience happens to occur. And that is poetry. [...] I shall say: Art happens every time we read a poem“ (Hervorhebung Borges). Borges, Jorge Luis (2000): „The Riddle of Poetry“. In: Ders. This Craft of verse. The Charles Eliot Norton Lectures 1967-1968. Cambridge: Harvard University Press, 6. 4.2 Ausgrenzung 57 Kulturen zu reflektieren, sondern auch um die Positionierung der Autor- Innen zu Paris als Ort des Exils zu beachten. Die Entgrenzung greift am Beispiel der Texte Eyda Machíns autopoietische und autofiktionale Tendenzen auf, die die Konstitution eines Selbst aufzeigen, das seine ihm existentiell auferlegten Grenzen sprengt. In Hinsicht auf Bronfens Kategorien des Biographisch-Referentiellen, des Thematisch-Inhaltlichen und des Textästhetisch-Strukturellen geht es mir darum, das verdichtete „(Er)Lebenswissen“ von Identität und Alterität (Ette 2004), von Selbst- und Fremderfahrung in den Texten herauszuarbeiten. Dabei zeigt sich, dass Ausgrenzung und Eingrenzung eine konflikt- und krisenhafte Konstitution des Selbst schicksalhaft bedingen, während in Bezug auf Abgrenzung und Entgrenzung die Möglichkeiten diskursiver Neupositionierung und autofiktionaler Selbstentwürfe ausgelotet werden. 4.2 Ausgrenzung 4.2.1 Selbstverlust und Selbsterhaltung Tejeras autofiktional-poetischer Essay Espero la noche para soñarte, Revolución stellt gewissermaßen ein ,Manifest’ der Ausgrenzung dar. 13 Der Text zeichnet sich nicht nur als hybrides Genre aus. Er ist auch durch Fragmenthaftigkeit und einer chaotischen Anordnung von autobiographischen Elementen, lyrischen Passagen und harscher Revolutionskritik gekennzeichnet, die wechselseitig ineinander greifen. Die konstant wechselnden Artikulationsebenen stellen den Leser vor eine zusätzliche Herausforderung: So herrscht in einigen Passagen eine Ich-Perspektive vor, in anderen eine personale Erzählsituation. Neben der Verwendung des Subjektivpronomens „ella“ greift die Autorin zudem auf das entpersonalisierte „uno“ zurück, durch das die personale Aussageebene wieder zurückgenommen wird, was die folgenden Passagen exemplifizieren: El mes de mayo de 1965 abandono [...] la embajada de Roma (REV 35) Y ella vuelve desde Roma a París [...] y abandona el país. (REV 36) Regresaba uno de otro exilio al país en revolución [...] (REV 37) (Hervorhebungen AG) Im Wechsel der Artikulationsebenen scheint die Autorin die Artikulation des ‚Ich‘ konstant abwehren zu wollen: Die von ihr im Text erschaffenen Figuren konstituieren sich, wie sie selbst behauptet, durch „un rechazo del yo, rechazo que corresponde a un extraño connubio con el exilio“ (Serrano 2005: 18). Die konstante Brechung der Ich-Artikulation auf der Aussage- 13 Tejera, Nivaria (2002): Espero la noche para soñarte, Revolución. Miami: Ediciones Universal. Im Folgenden REV. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 58 ebene, die das Ich, das spricht, von dem Ich, von dem es spricht, abspaltet, verweist auf die gebrochene Biographie der Autorin, deren Leben von der Flucht vor Diktaturen und dem Exil gekennzeichnet ist. Ihre Kindheit verbrachte sie auf Teneriffa, wo ihr Vater in politische Gefangenschaft des Francoregimes geriet. Zurück auf Kuba, flieht die Familie 1954 vor der Diktatur Batistas ins Pariser Exil. Tejera kehrt 1959 noch einmal zurück, gelockt von den Versprechungen der Revolution und der Hoffnung auf ein freies Kuba. Sie bricht jedoch 1965 mit Fidel Castro und lebt seitdem im Pariser Exil (vgl. Serrano 2005: 14): „la trilogía Franco-Batista-Castro ha dominado mi vida como una siniestra tela de fondo que la amalgama de viajes, regresos, separaciones, huidas“ (REV 93). Diese dreifache Fluchterfahrung im Leben der Autorin hat Spuren der Verbitterung hinterlassen, die sich in der von Düsterkeit, Beklommenheit und Verzweiflung bestimmten Bildersprache ihrer Texte niederschlägt. Im Amalgam von Aufbrüchen, Rückkehr und Trennungen wiegt der Bruch mit der kubanischen Revolution besonders stark. Tejeras Schmähschrift übt aus der Betroffenheitsperspektive eine harsche Kritik am Revolutionsregime. 14 Ihre Anklage richtet sich auf den repressiven Überwachungsstaat und den Geheimdienst CDR, 15 die Unión de Escritores y Artistas de Cuba (UNEAC), die jegliche künstlerische Freiheit beschneidet (REV 17), die Heuchelei der revolutionären compañeros (REV 58f) und das ökonomische Versagen des Sozialismus (REV 135). Doch vor allem konzentriert sich ihre Wut auf Fidel Castro, den sie durchgängig zynisch als Máximo Líder oder Líder Máximo bezeichnet. Dadurch wird die Anklage personalisiert und nimmt die Form einer persönlichen Abrechnung der Ausgegrenzten mit dem Ausgrenzenden an: Resultado del castrador castrismo, pues, comercio castrado, evenenamiento de la vida social del país, pero masivo, leyes represivas justificadores del desastre, éxodos masivos, todo ello justificado por el Líder Máximo en su discursera verborrea... (REV 137) Wie an der wortspielerischen Alliteration des „castrador castrismo“ erkennbar, ist der Kastrismus nicht Befreier sondern im weitesten Sinne Beschneider der Freiheit, ja sogar Zerstörer. Die Tragik des kubanischen Exils besteht darin, dass Ausgrenzungen im Namen der Revolution vorgenommen werden, die sich als Phase des Umbruchs und der Umwälzung, also „traspaso“ oder „transición“, gestaltet (REV 15). Der Begriff beinhaltet 14 Gewecke nimmt eine Reihe von Texten in den Blick, die in den 1960er Jahren erschienen sind und stellt fest, dass sie von einer „polemischen“, „agitatorischen“ und „diffamatorischen“ Polemik gekennzeichnet sind (2001: 559). Eine solche findet sich ebenso in REV wieder. 15 CDR: Comité de la defensa de la revolución. 4.2 Ausgrenzung 59 also die Idee der Freiheit und eines großen Neuanfangs. 16 Im kubanischen Kontext ist diese Idee darüber hinaus an das von Ernesto „Che“ Guevara proklamierte Ideal der Erschaffung eines Hombre Nuevo gebunden. 17 Das utopische Moment des Revolutionsideals scheitert jedoch an der ideologischen Festschreibung der Revolution (vgl. REV 15): Mit Castros Rede an die Intellektuellen, „[d]entro de la revolución: todo; contra la revolución ningún derecho“ (vgl. 3.1), findet eine klare dichotomisierende Trennlinie zwischen Dazugehörigen und Ausgeschlossenen statt. Letztere, von Tejera als renegados bezeichnet (vgl. REV 29, 31), befinden sich in einem inneren Kampf mit der Ent-Täuschung über eine in ideologischer Verengung sich perpetuierende Revolution: „La historia del renegado es la de una batalla interior, la más antigua de la Historia“ (REV 32). Ausgegrenzt befindet sich das sprechende Ich in REV auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus dem Zustand zwischen Abtrünnigkeit und Abgründigkeit. Die daraus hervorgehende Haltung ist die der Ablehnung bzw. der Verweigerung, „una toma de conciencia de repudio“, wie es im Text heißt (REV 20, Hervorhebung AG). 18 Diese Verweigerung stellt einen Versuch dar, sich von der eigenen Geschichte zu befreien und damit sein Inneres umzuwälzen und sich selbst zu erneuern, „vivir una revolución desde el interior“ (REV 20, 15). Dieser Befreiungsversuch kann gleichzeitig als Fluchtbewegung verstanden werden, als Aufbruch hin zu einem Anderswo, was die folgende, versartig angeordnete Passage zum Ausdruck bringt: Revivir, sí, otras dimensiones. Porque recuperarse de ese pasado es como salir de un estado soporífero Es lento y doloroso. Es como cambiar de piel (REV: 19). Diese Passage verweist auf den schmerzhaften Akt des Sich-Loslösens von der Vergangenheit und so auf ein Sich-Wiederherstellen, ausgedrückt durch „cambiar de piel“. Im Exil ist jedoch jeder ‚neue Selbstentwurf’ nicht vom Zustand der Ausgrenzung loszulösen. Somit geht mit jedem Erneuerungsversuch ein Moment des Scheiterns einher (vgl. Bronfen 1993: 16 Hannah Arendt zufolge beruht der moderne Begriff der Revolution, wie er seit Ende des 18. Jahrhunderts verwendet wird, auf der Vorstellung, dass die Idee der Freiheit mit der des Neuanfangs zusammenfallen: Der moderne Revolutionsbegriff ist „unlösbar [mit] der Vorstellung verhaftet, dass sich innerhalb der weltlichen Geschichte etwas ganz und gar Neues ereignet, dass eine neue Geschichte anhebt.“ Arendt, Hannah (1968): Über die Revolution. Frankfurt: Büchergilde Gutenberg, 33f. 17 Guevara, Ernesto (1977): „El socialismo y el hombre en Cuba“. In: Ders.: El socialismo y el hombre nuevo. Aricó, José (Hg.). México D.F.: Siglo XXI, 12. 18 François Vallée, der Übersetzer der französischen Ausgabe, die fünf Jahre vor dem spanischen Original erschien, hat den in dieser Passage häufig auftretenden Begriff des refus durchgängig kursiviert. Tejera, Nivaria (1997): J’attends la nuit pour te rêver, Révolution. Paris: L’Harmattan, 15, 17, 19. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 60 170). Der Zustand des Exils ist also insofern widersprüchlich, als dass das Selbst sich nicht von sich selbst befreien kann. Jede Verweigerung der eigenen Geschichte kommt damit einer Selbstverweigerung gleich. In Tejeras REV ist das Selbst im Spannungsfeld zwischen Selbsterneuerung und Selbstverweigerung gefangen. Es kreist um sich, ohne jemals bei sich anzukommen: „En el exilio todo da vueltas. Estar estuve estoy... todo eso es equívoco. No hacemos otra cosa que dar vueltas, vueltas y más vueltas...“ (REV 103). Die Spirale, das Labyrinth und das Umherirren als Leitmotive für das in sich gefangene Selbst, das sich zu befreien versucht, durchziehen sämtliche Texte Tejeras, die narrativen wie auch die lyrischen. Die labyrinthische Verwirrung der Textanordnung auf formaler Ebene entspricht in REV der existentiellen Verirrung auf semantischer Ebene: Das Leben in Paris ist bei Tejera ein konstanter Transitzustand „de una frontera a otra, de uno a otro laberinto“ (REV 25). Es gibt kein Entrinnen aus dem Exilzustand, einem „círculo sin salida“ (REV 42), eine Spirale „de tantas bifurcaciones interiores que, como los laberintos, no acertaban nunca la salida“ (REV 43). Die Ausweglosigkeit aus der Spirale bzw. dem Labyrinth, die diese Textstellen veranschaulichen, führen zu einem Gefühl der existentiellen Leere, die das ausgegrenzte Ich zu verschlingen droht: „Al interior de ese juego, única ley de conservación, el vacío, vampiro devorador“ (REV 71). Stellt die Leere den einzigen Ausweg im Kampf um Selbsterhaltung dar, ist das Selbst an seiner Selbsterneuerung gescheitert. Espero la noche para soñarte, Revolución „se construye [...] con fragmentos de un naufragio“, stellt Pío Serrano im Interview mit Nivaria Tejera fest (2005: 24). Tatsächlich repräsentiert der Text das Umherirren des exilierten Subjekts am existentiellen Abgrund. Im Überlebenskampf, der sich täglich abspielt und somit zum Alltagsphänomen wird, droht der pausenlose Untergang: „Sobrevivir, sobrevivir... El trabajo se convierte en una amenaza. La vida diaria es un azote. [...] Todo es tejemaneje enrevesado y destructor.“ (REV 102). Tejeras ‚Manifest’ der Ausgrenzung, in dem sich die ohnmächtige Wut der Ausgegrenzten gegen die ausgrenzende Instanz entlädt, ist damit gleichzeitig auch als ‚Manifest’ des Untergangs zu lesen, ein autopoietisch inszenierter Kampf um Selbsterhaltung, den die „Protagonistin“ schließlich verliert. So endet der Essay in der personalen Erzählsituation mit der Betrachtung einer Reihe von Laternen, die das Ufer der Seine erhellen: esa temblorosa hilera de columnas, despojada de todas las esfigies del mundo, hundiéndose en los abismos de las aguas, sin cesar hundiéndose en sus abismos... sin cesar hundiéndose... sin cesar hundiéndose... sin cesar hundién... (REV 161) Das auf semantischer Ebene inszenierte Scheitern als negative Klimax wird auf formaler Ebene durch Reduktion und schließlichem Wortabbruch un- 4.2 Ausgrenzung 61 terstrichen, der den langsamen Untergang der Ertrinkenden veranschaulicht. Der Untergang, auf den REV hinausläuft, ist jedoch nicht als Finalität, sondern als sich perpetuierende Prozesshaftigkeit zu begreifen, als stetes Untergehen im Spannungsfeld zwischen Selbstverlust und Selbsterhaltung. Das permanente Scheitern an sich selbst verweist im Exil wiederum auf das Phänomen der Ausgrenzung. Denn der Exilant, ob er als exiliado cultural seinen Zustand nun wählen konnte oder ob die politischen Umstände ihn gezwungen haben, seine Heimat als exiliado político zu verlassen, ist unabhängig von seiner Position den politischen Umständen der Geschichte ausgeliefert. 4.2.2 Vergangenheitsverlust und Selbstentfremdung Die Gefangenschaft im Labyrinth und das daraus folgende Untergangsszenario, das Tejera in REV entwirft, stehen in enger Verbindung zu dem durch den raum-zeitlichen Bruch im Exil ausgelösten Vergangenheits- und Heimatverlust: „N’appartenir à aucun lieu, aucun temps, aucun amour. L’origine perdue, l’enracinement impossible, la mémoire plongeante, le présent en suspens“, so beschreibt es Kristeva (1988: 17f). Die Nichtzugehörigkeit als Folge des Verlustes macht eine ordnungsstiftende Integration des Gestern in das Jetzt unmöglich. Denn im Exil ist „die Erinnerung an Kuba stets identitätsstiftend und identitätsverweigernd“ (Gewecke 2001: 585). In REV heißt es: „¿La identidad? Vaya una clave. A través de ella todo se ha ido desplomando: cada vez que te reclama es como si tuvieras polvo en la cabeza“ (REV 105). Hier wird Identität als eine Kategorie außerhalb des Selbst dargestellt, als Akteurin, die nach einem verlangt, doch nur auf Staub trifft. Der Staub, „el polvo“, ist neben dem Labyrinth und der Spirale ein weiteres Leitmotiv in den Texten Tejeras, so beispielsweise in ihrem vierteiligen Gedicht „Rueda del exilado“, das im Folgenden in Ausschnitten untersucht wird (RUE, IP 43-47). 19 Auffällig an der Artikulationsebene ist die durchgängige Verwendung der ersten Person Plural. Mit dem ‚Wir’ appelliert die Dichterin an das kollektive Gedächtnis der Kubaner, in dem das Exil so tief verhaftet ist. Rueda del exilado I 01 ¿Qué cuando qué dónde qué cómo qué quién 02 Nos aguarda al final de nuestro tiempo 03 Para calmar y colmar tan sostenido desvelo? 04 Desde el bosque de piedra de este laberinto 05 preguntamos 19 Auch erschienen in Encuentro de la Cultura Cubana 39 (2005), 5-9. Diese Ausgabe der kubanischen Kulturzeitschrift ist Nivaria Tejera gewidmet. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 62 06 Mientras la sangre de los ojos rocía el cuerpo 07 Cada instante 08 Para que el polvo no se levante Schon in der ersten Strophe ist die unregelmäßige Versanordnung erkennbar, die sich durch das gesamte Gedicht zieht. Die Verseinrückung (V.5), der Wechsel von kurzen und langen Versen und die syntaktische Einheit abbrechende Versenden (V.4) verweisen wie in REV auf das Labyrinthische. Das Gedicht beginnt mit mehreren ins Offene laufenden Fragen: Was erwartet uns am Ende unserer Zeit? Neben dem „qué“ werden alle anderen Fragepronomina - wann, wo, wie, wer - zusätzlich aufgenommen. Der erste Vers kann somit einerseits als Fragenchaos betrachtet werden. Andererseits sticht durch die Wiederholung des Pronomens „qué“ ein klar taktierter Rhythmus hervor, der wie der tickende Sekundenzeiger einer Uhr immer weiter drängt. Dass das Thema Zeit sich mit dem Aspekt des Chaotisch-Verworrenen, also mit dem Motiv des Labyrinths verbindet, wird über das Fragenchaos hinaus am vierten Vers des ersten Teils deutlich. Durch die Präposition „desde“ wird der Standpunkt geklärt, von dem aus die Frage gestellt wird: „desde el bosque de piedra de este laberinto“ (V.4). Die Metapher des Waldes aus Steinen zeugt von unüberwindbaren Hindernissen und Undurchdringlichkeit. In einem Steinwald ist der Blick versperrt. Das verhinderte Sehen wird in den darauf folgenden Versen als verwundeter Blick inszeniert: das aus den Augen fließende Blut benetzt den Körper unablässig (V.6-7). Gleichzeitig steht das Blut als Bild für das Lebendig-Sein, das dem Körper buchstäblich entrinnt - um den Staub nicht aufwirbeln zu lassen, „para que el polvo no se levante“ (V.8). Der Staub kann hier als Motiv für die in Vergessenheit geratene, unlebendig gewordene Vergangenheit gedeutet werden. Zudem verdunkelt er das Transparente. Somit scheint der verwundete Blick im Jetzt gleichzeitig die Unmöglichkeit zu vermitteln, klar und ungetrübt auf das Vergangene und damit auch auf den eigenen Grund zu blicken. Dies belegt eine weitere Passage im dritten Teil von RUE: III 17 El fondo de las fronteras se confunde 18 Con el fondo rocoso de nuestras pupilas 19 Detrás de su polvo cegador Auch hier verweisen die Metaphern des felsigen Grunds, „el fondo rocoso“ (V.18), und des blind machenden Staubs, „el polvo cegador“ (V.19), semantisch auf Undurchdringlichkeit und Intransparenz, die sich wiederum mit dem Sehen, ausgedrückt durch „pupilas“ (V.18), verbinden. Der Blick nach Innen ist versperrt. Dies wiederum steht im Zusammenhang mit dem zeitlichen Andauern des Exilzustands, der die verbleibenden Erinnerungen immer mehr verblassen lässt. Damit ist eine die Existenz bejahende (Re)- 4.2 Ausgrenzung 63 Konstruktion des Vergangenen mittels der Erinnerung unmöglich. Dem Exilanten, im ewigen Jetzt des Exilrades kreisend, ist die nostalgische Erinnerung verweigert. Diese Bewegung eines Kreis-Laufs wird im Gedicht auch auf struktureller Ebene veranschaulicht. Denn die Eingangsfrage wird ausgangs noch einmal aufgegriffen: V 08 Y mientras el tiempo hora a hora sombrea 09 Sus huesos desalojándolos 10 Y los ojos (nave líquida de una clepsidra) 11 En sus extramuros ya no auscultan el límite 12 ¿Qué cuándo qué dónde qué cómo que quién 13 aguarda al final 14 Para calmar y colmar tan sostenido desvelo? Die offenen Fragen erscheinen wie eine das Gedicht umklammernde und umrahmende Inclusio. Der Leser kommt, nachdem er sich durch die labyrinthisch angeordneten Verse gekämpft hat, am Schluss genau dort wieder an, wo er begonnen hat. Die Frage, was ‚uns’ am Ende unserer Zeit erwartet, wird nicht beantwortet, denn die Zeit verläuft im Kreis. Das verlorene Umherirren in der Zeit ist damit wiederum paradoxerweise einem gleichzeitigen Stillstand ausgesetzt. 4.2.3 Abwesende Anwesenheit oder anwesende Abwesenheit? Die auf der Differenz und in vielerlei Hinsicht auf Erkenntnissen der Psychoanalyse gründende, poststrukturalistische Theorie ist programmatisch vom Oxymoron der abwesenden Anwesenheit überschrieben. Das Phänomen ist bereits in Sigmund Freuds Metapher des „Wunderblocks“ angelegt. Demnach lösen Wahrnehmungen Reize aus, die im Unbewussten gespeicherte Erinnerungen an die Oberfläche des Bewusstseins rufen. Verlischt der Reiz, verschwinden sie von dort wieder. Ihre Anwesenheit hinterlässt auf dem Papier des „Wunderblocks“ immer nur eine präsentische Spur und offenbart damit die Abwesenheit einer „Dauerspur“. 20 Jacques Lacans auf der Psychoanalyse basierendes Konzept des Spiegelstadiums verweist ebenso auf eine abwesende Anwesenheit. In der Bezugnahme auf de Saussures Zeichenlehre entwickelt er den Gedanken vom Differenzcharakter der symbolischen Ordnung der Sprache. Im Zeichen sind Signifikant und Signifikat stets voneinander getrennt. Dies verweist auf die Unmöglichkeit, einen stabilen, dauerhaften Sinn zu schaffen. Auch Derri- 20 Vgl. Freud, Sigmund (1995): „Notiz über den ,Wunderblock’“. In: Kimmich, Dorothee / Renner, Rolf Günter / Stiegler, Bernd (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam, 171-176, 172. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 64 das Begriff der différance steht exemplarisch für diese abwesende Anwesenheit, denn auch hier verweist das Bezeichnende (signifié) stets auf die Abwesenheit des Bezeichneten (signifiant). 21 Dieses Phänomen des Differenzcharakters lässt sich in Bezug zum Selbstverständnis im Exil setzen. Abwesende Anwesenheit, aber auch anwesende Abwesenheit sind immer auch mit der Erinnerungsfähigkeit verbunden, was ich zunächst am Beispiel von Pellóns Gedicht „Un espacio en la distancia“ (ED, IP 28) beleuchten werde, um es anschließend Passagen aus Tejeras RUE und REV vergleichend gegenüberzustellen. Das Gedicht besteht aus zwei Strophen. Die erste umfasst sechs Verse, in denen sich eine Semantik des Abwesenden, der Leere und der Trauer spiegeln: Un espacio en la distancia 01 Una ausencia sin recurso 02 Noche blanca y sin estrellas 03 Un océano me separa de la vida 04 Sólo siento el halo triste de una queja 05 Un murmullo de lamentos y angustias. 06 ¿No comprendes? Una y otra se suceden. Der erste Vers markiert die ausweglose Abwesenheit, die mittels des Oxymorons der weißen Nacht ohne Sterne im darauf folgenden Vers verstärkt wird. Die weiße Nacht vermittelt paradoxerweise die Abwesenheit jeglichen Lichts und verweist damit wiederum auf die vollkommene Leere, denn es handelt sich um eine von Sternen entleerte Nacht. Das Motiv des Lichts wird in Vers 4 noch einmal aufgenommen durch die Verwendung von „halo“, eines Lichthofes, der jedoch nur ein in Trauer und Klagen getränktes, schwaches Licht zu spenden vermag (V.4-5). Die Kraftlosigkeit wird durch die Verwendung von „murmullo“ im nächsten Vers unterstützt und lässt sich sowohl als Ursache des Klagens sowie als dessen Folge verstehen. Der dritte Vers, „un océano me separa de la vida“, steht im Zentrum dieser Strophe. Der Ozean verweist als Topos nicht nur auf das Unendliche, sondern auch auf den Ursprung des Lebens. In seiner ausweglosen Abwesenheit ist das lyrische Ich unendlich weit vom Leben entfernt oder auch: Das lyrische Ich ist als mittellos Anwesende - „sin recursos“ (V.1) - vom Leben ausgegrenzt. In der zweiten Strophe wird dieser Vers noch einmal aufgegriffen und kontextuell in das „reale po- 21 Vgl. Derrida, Jacques (1972): „La différance“. In: Ders.: Marges de la philosophie. Paris: Ed. du Minuit, 1-30; Lacan, Jacques (1966): „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je“. In: Ders.: Ecrits. Paris: Seuil, 93-100. Lacan entwickelt Freuds Theorie der Traumdeutung weiter, indem er die Begriffe der Verdichtung (Metapher) und Verschiebung (Metonymie) für den Differenzcharakter von Sprache einsetzt. Zu Kristeva vgl. 5.3.2 „Exil als Motor des Schaffens“. 4.2 Ausgrenzung 65 litische Erlebnis der kulturellen Auslöschung“ eingebettet (Bronfen 1993: 169): 07 Dictaduras 08 dictaduras a los pueblos 09 ellos viven de esperanzas 10 y los otros... 11 como perros disecados 12 se alimentan las entrañas con el fuego de las mentiras. 13 Ya estoy harta de mentiras 14 y de sueños... 15 Sólo quiero liberarme y estoy lejos 16 un océano me separa y una duda. 17 ¿Es mi culpa o es la culpa de los otros? 18 Nadie sabe que tengo pena de saberlo, 19 tengo pena de saber que no comprenden. 20 Tu universo está perdido 21 yo no existo, sólo tengo la presencia del espacio 22 yo he viajado por las luces de distancias 23 y traigo la esperanza de otros mundos... 24 carcajadas y ladridos por respuesta. 25 Su ignorancia estaba escrita en mi programa. (Hervorhebung AG) Hier drückt sich die Wechselwirkung zwischen Ausweglosigkeit und Hoffnung aus, die sich bereits in der ersten Strophe durch die Lichtmetaphorik andeutet. In den ersten drei Versen lassen sich drei Gruppen ausmachen, zwischen denen durch die Versanordnung eine Hierarchie besteht: Das Wort „dictaduras“ füllt den gesamten ersten Vers ausund überschreibt damit die zweite Strophe von ED. Im zweiten Vers ist von „los pueblos“ die Rede. Diese unterstehen den Diktaturen, was stilistisch durch die Geminatio von „dictaduras“ zu Beginn des zweiten Verses hervorgehoben wird. Diese Völker leben von der Hoffnung. Hier endet die syntaktische Einheit. Die dritte Gruppe wird in Vers 10 genannt - „los otros“. Nach der syndetischen Erweiterung durch das Enjambement läuft die Satzeinheit ins Offene, was zusätzlich graphisch durch die dreifache Punktierung unterstützt wird. So wie die Diktaturen der Strophe graphisch als Überschrift dienen, steht die Gruppe der Anderen isoliert am unteren Ende der Versanordnung und damit auch der hierarchischen Ordnung. Diese Anderen bezeichnen die Ausgegrenzten, die sich „von Lügen ernähren“ (V.12). Dass das lyrische Ich sich als Teil dieser Gruppe der Anderen sieht, wird in Vers 13 deutlich, in dem es heißt: „Ya estoy harta de mentiras“. Hier wiederholt sich das stilistische Mittel der polysyndetischen Erweiterung durch das Enjambement: „y de sueños...“. Versteht man die Träume an dieser Stelle synonym zum Begriff der Hoffnung, lässt sich die Sättigungsmetapher „estoy harta“ in zweifacher 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 66 Hinsicht analysieren: sowohl auf die Realität der Diktaturen und ihrer Lügen bezogen, als auch auf die imaginär erträumte Hoffnung auf eine andere Realität. Den Ausweg aus dieser existentiellen Übersättigung stellt der wie in Bezug auf REV bereits festgestellte Versuch der Befreiung dar, „sólo quiero liberarme“ (V.15). Die Möglichkeit des Sich-Befreiens steht wiederum in Relation zur räumlichen Distanz. Die Befreiung erfolgt jedoch nicht dadurch, dass die Distanz überwunden und das Leben auf der anderen Seite des Ozeans zurückerlangt wird (vgl. V.3). Denn durch den wiederholten Rückgriff auf den polysyndetischen Stil wird kein Gegensatz erzeugt: Die Verse „Sólo quiero liberarme y estoy lejos / un océano me separa y una duda“ (V.15-16) verdeutlichen, dass die Entfernung den Wunsch nach Befreiung nicht aufhebt. Zur räumlichen Dimension kommt zusätzlich die zeitliche ins Spiel. Der unüberwindbare und unwiederbringliche Verlust des eigenen Universums und die damit einhergehende Inexistenz drücken sich in den Versen „Tu universo está perdido / yo no existo [...]“ aus (V.20-21). Das angesprochene Du lässt sich hier als Teil des Ich begreifen. Auf pragmatischer Ebene erfolgt so eine dialogische Ich-Spaltung, die auf den Verlust des gestrigen Du und die damit einhergehende Auslöschung des im Jetzt lebenden Ich verweist. 22 Das Erschaffen eines „textuellen Doppelgängers“ deutet nicht nur die Ich-Spaltung, sondern auch eine Selbstentfremdung an: Der als ‚Heimat’ empfundene Ort, und die daran geknüpfte Vorstellung von Identität, wird durch die Aufspaltung in Dazugehörige und Ausgestoßene ‚un-heimlich’ und führt zu einer Teilung und Verdopplung des Ichs. Gleichzeitig wird sich der Exilant, von seiner Heimat abgespalten, auch selbst ‚un-heimlich’ (Bronfen 1993: 171). Das paradoxe Phänomen einer abwesenden Anwesenheit geht in ED einher mit den ineinander greifenden Aspekten von Ausweglosigkeit und Hoffnung. Mit den Versen „yo he viajado por las luces de distancias / y traigo la esperanza de otros mundos...“ (V.22-23) scheint es sich im letzten Teil des Gedichts hoffnungsvoll aufzuklaren, was auf formaler Ebene durch den ins Offene laufenden Vers unterstützt wird. Das Licht des offenen Raums und die Hoffnung auf andere Welten werden jedoch im daran anschließenden Vers verhöhnt (V.24). Die abwesende Anwesenheit 22 Eine erstaunliche intertextuelle Parallele, die auf pragmatischer Ebene ebenfalls die Ich-Spaltung beinhaltet, findet sich in William Navarretes Gedicht „Elegía sin flor“ wieder, dessen zentrale Verse die inexistente Existenz anhand der Anonymität ausdrücken. Dort heißt es: „No busques mi nombre / Ya no existo“ (IP 134, V.7-8). In diesen Versen wird das bereits Verlorengegangene mit dem Adverb „ya“ noch verstärkt. Zur weiteren Analyse des Gedichts siehe 5.2.1 „El olvido: Das Verstummen der Stimme“. 4.2 Ausgrenzung 67 kann so als Metapher für die Handlungsunfähigkeit im Exil verstanden werden. Durch die räumliche Distanz gibt es keine Möglichkeit, am Leben der verlorenen Heimat teilzunehmen und damit am Zukünftigen teilzuhaben. Das Wissen um die eigene Machtlosigkeit geht mit Schuldgefühlen einher, was als typisches Exilphänomen zu betrachten ist. Exilierte werden vor allem deswegen von Schuldgefühlen gequält, weil sie zwar dem Leiden entkommen sind, andere, ihnen verbundene Menschen jedoch in diesem Leiden zurückgelassen haben (vgl. Grinberg 1984: 182). Die Schuldfrage äußert sich in ED als quälender Zweifel (V.16): Ist es meine Schuld oder die der Anderen? (V.17). Auch bei Tejera wird die Thematik der Schuld als ins Offene laufende Frage inszeniert: „¿Culpable? ¿Es una culpa no aceptar la opresión? ¿Lo es la inadaptación, la insumisión? En todo caso, es culpa de ellos que este presente mío deba improvisar su incierto derrotero.“ (REV 155). Diese Textpassage liefert auf die offene Schuldfrage insofern eine Antwort, als dass dem diktatorischen Regime die Schuld an der durch die Ausgrenzung erfolgten Orientierungslosigkeit zugewiesen wird. Auch bei Pellón ist die eigene Machtlosigkeit der Macht der Diktaturen ausgeliefert, die die Existenz des Ich überschatten. Doch auf die Schuldfrage findet sich keine Antwort, nur Zweifel. Das Zweifeln beinhaltet die Aspekte des Wissens, Nichtwissens und Nicht-Wissen-Wollens, was die chiastisch angelegten Verse „nadie sabe que tengo pena de saberlo, / tengo pena de saber que no comprenden“ (V.18-19) exemplarisch zum Ausdruck bringen. Darin äußert sich einerseits die Angst vor dem Wissen um die eigene Schuld, von dem die anderen nichts wissen bzw. nichts verstehen könnten. Andererseits spiegelt sich hier auch ein aus der Distanz heraus erlangtes Wissen im Sinne einer anderen Sichtweise wider. Dies wiederum verweist auf den Vers „y traigo la esperanza de otros mundos...“ (V.23). Die Hoffnung auf andere Welten stößt jedoch nicht nur auf höhnisches Gelächter, sondern auch auf Nichtwissen, was der letzte Vers zeigt, der die rätselhafte Botschaft „Su ignorancia estaba escrita en mi programa“ enthält (V.25). Die andere Sichtweise, die das Ich aus der Distanz mitbringt oder auch über den Ozean herübertragen könnte, um einen dialogischen Austausch oder eine Zusammenführung von Sichtweisen zu ermöglichen, scheitert an der Ignoranz der Anderen. Die Aspekte des Wissens, Nichtwissens und Nicht-Wissen-Wollens stehen daher in Verbindung mit der Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit im Exil: Denn was nützt alles Wissen und Hoffen um die Heimat, wenn man doch von ihr ausgegrenzt bleibt? Wie Tejera hat Pellón Kuba als Exilantin zwar verlassen, aber Kuba verlässt sie nicht, es bleibt als abwesende Anwesenheit im eigenen „Lebensprogramm“ eingeschrieben. Der „Espacio en la distancia“ als Distanzraum kann letztlich niemals zum Freiraum wer- 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 68 den, denn die Freiheit des Ausgegrenzten stößt immer wieder an die eigenen Grenzen. Dreht man das Phänomen der abwesenden Anwesenheit nun um, so lässt sich ebenso von einer anwesenden Abwesenheit sprechen. Diese äußert sich im Leitmotiv des lebendigen Todes, das in vielen Gedichten der Anthologie Ínsulas al pairo auftritt. An dieser Stelle werden Gedichtpassagen aufgeführt, die im Vergleich zur abwesenden Anwesenheit auf das noch drastischere Phänomen der anwesenden Abwesenheit verweisen. Die letzte Strophe von Pellóns „Luz de Madrugada“ (LM, IP 19) dient als Einstieg in die Überlegungen: 19 Saberlo todo, sentirse hueco por la llanura 20 Tener el vício de la fatiga 21 El hambre llena las olas muertas 22 Siempre estar triste cantando al viento 23 Cadáver vivo, rojo cenizo de tumbas frescas. 24 Lámpara eterna para tu vida. Wie im Gedicht „Espacio en la distancia“ ist es hier das Thema des Wissens, von dem aus eine Atmosphäre von Leere und Lebensmüdigkeit erzeugt wird. Wehrlos gegen die Müdigkeit hält diese das Ich wie eine Sucht gefangen (V.20). Die „toten Wellen“ (V.21) deuten wiederum auf den Vergangenheitsverlust und die unendliche Distanz hin. Der Hunger wird hierbei zum Sinnbild eines niemals zu befriedigenden Bedürfnisses nach Lebendigkeit. Als menschliches Grundbedürfnis und damit als Sinnträger für das tägliche Überleben wird er mit der oppositiven Semantik des Todes - „las olas muertas“ (V.21) - kontrastiert. Wie durch die letzten beiden Verse erkennbar wird, ist das Licht des Tagesanbruchs, „la luz de madrugada“ (Titel), der „Lampenschein roter Asche“, eines toten Lebenden, der bereits im Grab liegt (V.23). Die Oxymora „lebendiger Kadaver“ (V.23) und „rote Asche“ verstärken die ungeheure Zerrissenheit, die von diesem Gedicht ausgeht. Gleichzeitig exemplifizieren sie das dialektische Verhältnis von Lebens- und Todeserfahrung im Exil. Nach Grinberg impliziert jede Trennung den Tod, insbesondere die des Exils, die durch Absolutheit gekennzeichnet ist. Denn von dort gibt es in absehbarer Zeit kein Zurück (vgl. 1984: 197). Das Leben in einem anderen Land hingegen gleicht einer Wiedergeburt, die jedoch das Tote in der Entfremdung nicht aufhebt. Dieses Paradox drückt sich in den Metaphern „lebendiger Kadaver“ und „rote Asche“ aus. Auch Tejera verwendet den Unendlichkeitstopos des Meeres im Zusammenhang mit dem lebendigen Tod, der sich im folgenden Ausschnitt im Paradoxon „el mar muerto de nuestra vida“ symbolhaft niederschlägt. Weiterhin lassen sich die für Tejera typischen Motive des Halbdunkels und des Überlebens am Abgrund feststellen: 4.2 Ausgrenzung 69 I 26 Desde el mar muerto de nuestra vida nos tocamos 27 Por los abismos 28 Acorralados por un coro de voces cómplices 29 De los desvelos que en la tiniebla animan 30 La sobrevida 31 Al fondo de los espejos rotos (RUE 43) Besonders ins Auge fällt der letzte Vers. Darin situiert sich das Überleben des Subjekts nicht nur am Abgrund, sondern in der Tiefe eines zerbrochenen Spiegels. Versteht man das Spiegeln hier als Innenschau, so lässt sich wiederum eine Brücke zum Vergangenheitsverlust und dem Bruch im Selbst schlagen. Zudem lässt sich die Spiegelungsmetapher auch in Bezug auf die Wahrnehmung des Selbst verstehen. Bezieht man die erste Strophe von Pellóns „Bajo tu ventana los enteraron vivo“ (IP 21) in die Analyse mit ein, so wird deutlich, dass Selbstwahrnehmung, Spiegelung und lebendiger Tod ineinander greifen. So spielt bereits der Titel des Gedichts auf das Begräbnis eines Lebendigen an. Die ersten Verse lauten: 01 Todos reunidos festejan la muerte, 02 de quien sin saberlo se quedó dormido. 03 Nudos de cabellos le cubren el cuerpo 04 Un espejo negro cuelga en sus espaldas. 05 Cortinas de mármol cubren las fronteras Im Vergleich mit Tejeras Metapher des im Grunde situierten, zerbrochenen Spiegels, findet sich das des schwarzen Spiegels wieder. 23 Ein Spiegelungsprozess ist nicht nur durch die Schwärze verhindert, vielmehr wird hier die Eigenwahrnehmung noch dazu dadurch unmöglich gemacht, dass der Spiegel an der Rückseite des lebendig begrabenen Körpers angebracht ist. Dies steigert die Bedeutung des schwarzen Spiegels als Semantisierung der Leere, die jegliche Spiegelung verweigert. Vor dem Hintergrund des Vergangenheitsverlusts ist das Selbst sich selbst unkenntlich geworden. Somit gleicht die Ausgrenzung im Exil dem lebendigen Tod, also nicht nur einer abwesenden Anwesenheit, sondern auch einer anwesenden Abwesenheit: „C’est à dire qu’établi en soi, l’étranger n’a pas de soi“ (Kristeva 1988: 19). Wie aber verhält sich die Selbst(er)kenntnis durch das Spiegeln im Anderen? Hieran anschließend wird unter dem Begriff der Eingrenzung dem Phänomen der Alteritätserfahrung nachgegangen. 23 Vgl. auch folgende Passage aus REV 32: „[N]o es nada saludable verse reflejado en ese espejo negro“. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 70 4.3 Eingrenzung 4.3.1 Fremdheitserfahrungen in Paris Die Relationalität kulturellen Selbstverständnisses steht im Zusammenhang mit der Intersubjektivität von Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die zuvor untersuchte Spiegelmetaphorik impliziert die Frage: Welches Bild wirft das Spiegeln im Andern auf das Selbst zurück? In Hinsicht darauf misst Sartre dem Blick existenzphilosophisch eine entscheidende Bedeutung zu. Für das Subjekt heißt Sehen zunächst, sich zu der es umgebenden Welt in Bezug zu setzen und sie von ihm ausgehend zu perspektivieren. Kreuzen sich jedoch Blicke, so führt das Anschauen eines Gegenübers dazu, sich in dessen Blick zu konstituieren und sich darin als wahrgenommenes Objekt zu erkennen. 24 Im Blickwechsel wird das Phänomen der Alterität offenkundig. An diese Überlegung schließt sich der Vers „nos reflejamos sin que nos vean“ aus dem dritten Teil von RUE an (IP 45f). Er verweist darauf, dass eine Wahrnehmung von Seiten des Anderen gar nicht stattfindet, also auch kein Blickaustausch, der dem sich im Blick des anderen Spiegelnden ein Bild zurückwerfen könnte. In Bezug auf die Fremdheitserfahrung im Exil wird hier der dritte Teil von RUE näher beleuchtet: III 01 El Sena la lluvia y la avenida forman un 02 mismo puente 03 En la charca mefítica de la ciudad 04 Nos reflejamos sin que nos vean 05 Los hombros caídos por el peso fantasmal del 06 mito 07 Denuncian nuestra identidad 08 Mientras los irreemplazables nos fijan 09 Atascando con mirada turbia 10 La solitaria traza de hombre libre que nos 11 disfraza al caminar 12 ¿Es usted griego armenio portugués argentino? 13 Los irreemplazables nos acusan del acento 14 Que disimula el silencio de nuestra espalda 24 Vgl. das Kapitel „Le regard“. In: Sartre, Jean Paul (1948): L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris: Gallimard, 310-364, hier 315. Zur intersubjektiven Relationalität des Blickwechsels in der Literatur unter Einbezug Sartres vgl. auch Spiller, Roland (2004): „La voz de la mirada (Marsé, Marías Merino)“. In: Ders. / Sánchez, Yvette (Hg.): Poéticas de la mirada. Madrid: Visor Libros, 177-198. 4.3 Eingrenzung 71 Zunächst wird in dieser Strophe ein düsteres Bild von Paris entworfen: der „mephitische Tümpel der Stadt“ (V.3) zeugt einerseits von Undurchsichtigkeit und damit auch von Großstadtanonymität. Andererseits spiegelt sich das kollektive Wir der Exilierten in der Stadt, ohne von den Anderen gesehen zu werden (V.4), wodurch die Stadt der Seine und der verregneten Avenuen gleichzeitig als Personifikation der in ihr beheimateten Menschen fungiert. Diese Menschen werden als „los irreemplazables“ - die Unersetzbaren - bezeichnet (V.8, 13). Zwischen diesen Unersetzbaren, die ihren festen Platz haben, und dem kollektiven Wir der Fremden wird eine grenzsetzende Binarität geschaffen. Der getrübte Blick auf die Fremden behindert das eigentliche Sehen - „nos fijan / Atascando con mirada turbia“ (V. 8-9). Die von Seiten der „irreemplazables“ vorgenommenen nationalstaatlichen Zuweisungen, griechisch, armenisch, portugiesisch oder argentinisch (V.12, Hervorhebung Tejera), erscheinen hier als arbiträre Bezeichnungen. Gleichzeitig spiegelt sich in diesen Zuweisungen stets eine Anklage des Fremden (V.13). In dem hier konstruierten, binären Verhältnis zwischen Dazugehörigen und Außenstehenden, findet sich genau jene von Kristeva psychoanalytisch beschriebene Bedrohtheit gegenüber allem Fremden wieder, das es zu verdrängen gilt. Denn der Andere dient dem Nationalstaatsbürger dazu, sich in Differenz zu ihm als einheitlich wahrzunehmen (1988: 12). Nicht über Integration und Absorption, sondern nur über die Anerkennung des Anderen könne dessen Aufnahme in das gesellschaftliche System erfolgen, da das Fremde ohnehin in uns selbst angesiedelt sei, so Kristeva (ebd.: 12f). Da der Fremde immer Faszination und Bedrohung zugleich ausübe, bleibe eine Ambivalenz ihm gegenüber jedoch erhalten. 25 Diese Ambivalenz entstehe vor allem dadurch, dass er als Nicht-Aufgenommener und Nicht-Eingebundener eine Aura der absoluten Freiheit um sich trage, die ihrerseits wiederum ambivalent sei, denn: „Disponible, libéré de tout, l’étranger n’a rien, n’est rien“ (ebd.: 23). In RUE äußert sich das Phänomen der einsamen Freiheit, wenn von der einsamen Spur des freien Menschen die Rede ist, die ihn beim Gehen gleichsam maskiert (vgl. V.10- 11). Dass diese „seule liberté“ auch mit einem Identitätsverlust zusammenhängt (Kristeva 1988: 23), zeigt die folgende Passage: III 20 Nadie nos reconoce 21 Nadie nos reclama 22 Nos encajan en una Carta de estar ahí 25 Bei Waldenfels heißt es: „Das Fremde als solches ist dagegen jenes, wovon wir ausgehen, wenn wir fragen, was es ist. Wir gehen vom Fremden aus, bevor wir darauf zugehen. Das Fremde kündigt sich an in Form einer Beunruhigung, eines ‚je ne sais quoi’“ (1997: 97). 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 72 23 Entre signos que alertan el acoso de la Ley 24 Porque somos los sospechosos deambuladores 25 de la Nada 26 Galopadores anónimos del pleno itinerario 27 Del vacío al acecho de nuestro enigma Unmittelbar ins Auge fällt hier der Gleichklang der ersten beiden Verse dieses Zitats durch die Anapher „nadie“ und die Alliteration von „reconoce“ und „reclama“ (V.20-21). Diese verstärken die von Verneinung und Nichtigkeit geprägte Gesamtwirkung der Passage, die zudem durch den eingerückten Vers „de la Nada“ untermauert wird (V.25). Semantisch verweist dies auf den von Kristeva aufgeworfenen Nexus zwischen Nicht- Wahrgenommenwerden und Nicht-Existieren. Dass die Position des Fremden sich nicht nur durch die Spur einer von allem entbundenen Freiheit bestimmt, sondern auch mit Abhängigkeiten zusammenhängt, zeigt der dritte Vers. Die Definition des Fremden erfolgt über eine äußere Kategorie, die seiner Aufenthaltsgenehmigung. Hier verlässt Tejera das Register der poetischen Sprache und verweist auf ein äußeres Phänomen der Exilerfahrung, indem sie nicht nur auf das innere, immaterielle Identitätsproblem anspielt, sondern auch auf das materielle, das an den Pass und die Aufenthaltsgenehmigung geknüpft ist. Die im Gedicht durch die Kursivsetzung hervorstechende „Carta de estar ahí“ (V.22) verweist wie die ebenfalls kursiv gesetzten nationalstaatlichen Zuweisungen auf die arbiträre Beziehung zwischen signifiant und signifié im Sinne Ferdinand de Saussures. Was - oder besser wer - wird damit überhaupt bezeichnet? Auch hier lässt sich eine Verbindung zwischen Zuweisung und Bezeichnung herstellen, die zudem mit der kontrastiven Gegenüberstellung zwischen der einsamen Freiheit des Fremden und dessen gleichzeitiger Abhängigkeit in der Fremde einhergeht. Denn die Präsenz des Fremden ist alarmierend (V.23) und muss in ein bürokratisches Ordnungssystem, z.B. eine Staatsbürgerschaft oder eine Aufenthaltsgenehmigung, eingegliedert bzw. eingepasst werden: „[N]e faut-il pas […] rester entre nous, chasser l’intrus, ou au moins le cantonner à sa place? “, fragt Kristeva provozierend (1988: 33). Verfolgt man nun die syntaktische Einheit des Gedichtausschnitts, so fallen darin zwei unterschiedliche Bewegungsläufe ins Auge: die Hetzjagd des Gesetzes (V.23) einerseits und die Verdächtigkeit der unverortbar im Nichts Umherstreifenden - „los sospechosos deambuladores / de la Nada“ andererseits (V.24f). Letztere Bewegung steigert sich in Vers 26 in der Metapher der „anonymen Galoppierenden“. Hier findet sich die für Tejera typische Metaphorik des Umherirrens wieder. Diese lebensweltliche Erfahrung der Alterität führt nicht zu einem sinnhaften Selbstverständnis. Das permanente Driften zwischen Selbstbezeichnung und Fremdzuweisung lässt sich so mit Derridas Begriff der différance in Beziehung setzen, mit 4.3 Eingrenzung 73 dem er den ewigen Bedeutungsaufschub ohne Ursprung im differentiellen Zusammenspiel der Signifikanten im Zeichensystem definiert (vgl. 1972: 8- 10). 26 Dieser im Sinne de Toros altaritäre Bewegungslauf des orientierungslos Umherirrenden steht in RUE der Versuch, die Fremden zwischen Zeichen (oder auch Bezeichnungen) einzupassen - im Sinne des Verbs „encajar“ (V.22) - kontrastiv gegenüber. Dieses Verb steht exemplarisch für das Phänomen der Eingrenzung. In Bezug auf die Alteritätserfahrung im Exil bedeutet dies, dass jegliche Identitätszuweisungen von außen, seien sie materieller oder immaterieller Art, den Fremden insofern eingrenzen, als dass sie ihm einen bestimmten Platz zuzuweisen versuchen, um ihn so in eine bestehende gesellschaftliche Ordnung zu integrieren. Die Tatsache jedoch, sich stets als fremd bzw. andersartig gespiegelt zu sehen, weist dem Fremden wiederum eine Position als Nichtzugehöriger außerhalb dieser Ordnung zu, in der er sich als gesellschaftlicher Niemand durch das alltägliche Nirgends bewegt. 4.3.2 Das isolierte Ich Bei Tejera und Pellón drückt sich die Alteritätserfahrung auch im Motiv der Einsamkeit aus, das Pellóns „Ser Solo“ (SSo, IP 25) schon im Titel aufgreift. Aufgrund seiner kurzen und gleichmäßigen Verse - jeweils drei- oder sechssilbig mit einer Zäsur nach der dritten Silbe - und der vielen Reime und Alliterationen hat sein Rhythmus etwas Tänzerisch-Unbeschwertes, das an einen Kinderreim denken lässt. Klang und Inhalt des Gedichts stehen in einem deutlichen Kontrast zueinander: Ser solo 01 Sin nada 02 ni nadie 03 sin cosa, ni casa 04 sin nadie 05 la lluvia que es rubia 06 la guerra que espera 07 afuera 08 sin hombres ni caza 09 fusiles de caza 10 de guerras 26 „Für die Autoren des Postkolonialismus bedeutet das Treiben zwischen den Kulturen eine lebensweltliche Erfahrung dieses permanenten Driftens der différance in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht.“ Bronfen, Elisabeth / Marius, Benjamin (1997): „Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte“. In: Dies. (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen: Stauffenberg, 11. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 74 Neben zwei identischen Reimen (V.2, 4 / V.3, 8, 9) gibt es zwei rimas llanas: „lluvia / rubia“ und „guerra / espera / afuera“. Durch den Aufbau des Gedichts wird man als Leser in ein Wortlabyrinth hineingezogen, noch verstärkt durch die rhythmisierenden Alliterationen, wie z.B. „cosa“ und „casa“. Obwohl „caza“ und „casa“ im kubanischen Spanisch eine identische Phonetik haben, unterscheiden sie sich hier in ihrer Bedeutung: „caza“ - die Jagd - ist das, was sich draußen abspielt, während „casa“ - das Haus - geschlossene Räumlichkeiten impliziert. Wie in dem zuvor untersuchten Gedichtabschnitt aus Tejeras RUE sticht außerdem die Alliteration der Negationspartikel „nada / ni nadie“ hervor, die wiederum eine Semantik der Verneinung schaffen. Diese wird in SSo durch die Anapher „sin“, die mehrfach am Zeilenanfang zu finden ist, und den Pleonasmus „sin nada“ im ersten Vers noch verstärkt. Damit wird die Verneinungssemantik absolut gesetzt: Es gibt kein Haus, keine Jagd und auch keine Menschen. Die Semantik der völligen Leere wird noch dazu dadurch unterstützt, dass in „Ser Solo“ kein lyrisches Ich spricht. Es gibt keine deiktische Ausgangssituation und so ist der Leser im subjektlosen Wortgeflecht gefangen. Während in der ersten Gedichthälfte zwei deklinierte Verben auftreten, „es“ und „espera“, ziehen sich durch den zweiten Teil nur Infinitive: 11 Ser solo, ser triste, ser limpio de nadie 12 Comerse las manos 13 guardar el secreto 14 discreto, despierto 15 Sacar el exilio por una gaveta 16 papeles de agua, espesos, dispersos 17 Llamarse en dos nombres 18 poner un anuncio bajo los periódicos 19 machacando maderas 20 con facturas de miel. Hier sind die Verse länger, bleiben aber in regelmäßigem Rhythmus sechs- oder zwölfsilbig. Dieser wird jedoch in Vers 17-19 gebrochen. Auffällig ist im zweiten Teil des Gedichts die häufige Verwendung von Alltagsbegriffen wie z.B. „gaveta“, „anuncio“, „periódicos“ und „facturas“. So findet nicht nur auf rhythmischer, sondern auch auf lexikalischer Ebene ein Bruch statt. Die in Pellóns Lyrik oft vorherrschenden Traumsequenzen werden hier durch konkrete Begriffe abgelöst. Sogar das Exil wird explizit erwähnt. Wie die in RUE hervorstechende „carta de estar ahí“ verweisen hier die „papeles“ auf die äußere, materielle Identitätsproblematik (V.16). „Llamarse en dos nombres“ (V.17) verwiese so konkret auf „zwei Pässe haben“, einen ungültigen, mit den Jahren gebleichten, den man wie ein Geheimnis in der Schublade aufbewahrt und einen gültigen, in einer anderen Sprache, in der 4.3 Eingrenzung 75 der Name einen anderen Klang hat. Die Alltagsbegriffe verschwimmen allerdings in Ellipsen und uneindeutigen Bildern. Die Papiere sind aus Wasser und werden beschrieben mit den Adjektiven „espesos“ und „dispersos“ (V.16) - zähflüssig und verstreut, d.h. nicht greifbar. Hierbei unterstreicht die Metapher „comerse las manos“ (V.12) zusätzlich die Verzweiflung über die eigene Handlungsunfähigkeit als Folge der Ausgrenzung im Exil. Der rhythmische und lexikalische Bruch in der zweiten Gedichthälfte wird durch Vers 11 eingeleitet, der in der Gesamtanordnung des Gedichts genau in der Mitte steht und auch semantisch das Zentrum darstellt. Durch die asyndetische Struktur mit der Anapher „ser“ stellt dieser Vers eine Klimax dar, die vom Alleinsein über die Traurigkeit auf das sich in die Verneinungssemantik paradox einpassende „ser limpio de nadie“ zuläuft. In Verbindung mit den Eingangsversen bedeutet „ohne Nichts und Niemanden“ - „sin nada / ni nadie“ - zu sein die äußerste Verneinung der Verneinung, eine Ver-Nichtung des Selbst als Folge der Einsamkeit. In Bezug auf die Identitätsproblematik im Exil kristallisiert sich hier das Phänomen der Isolation heraus. Dieses geht mit der subjektiven Befindlichkeit einer absoluten Einsamkeit einher, die an das Gefühl einer inneren Leere bzw. einer Selbstentleerung geknüpft ist. Im Gegensatz zum vorangegangenen Kapitel, in dem die Eingrenzung als Zuweisung von außen begriffen wurde, spiegelt sich hier der Zustand einer inneren Isolation, die von der Abwesenheit aller bzw. alles Anderen gekennzeichnet ist. Dieses Phänomen spiegelt sich auch in den Texten Tejeras wider. Auffällig ist hierbei das häufig auftretende Motiv des Fensters als Sinnbild der Eingrenzung, so z.B. in der ersten Strophe von „¿Donde están? ” (DE, IP 35): ¿Dónde están? 01 ¿Dónde están las calles de París. 02 Sus gentes silenciosas, su hambre ? 03 Desde mi ventana miro pasar los hombres 04 Todos marchan tan solos que apenas existen. 05 Existen como un escaparate un tren o un periódico 06 Que vuela solitário en el viento de la noche. 07 Yo tengo hambre y no puedo acercarme a nadie y decirle: 08 „Tengo hambre“. 09 Yo los amo y no puedo acercarme a nadie y decirle: 10 „Yo le amo“. Die eingangs gesetzte Frage kennzeichnet die Suche des lyrischen Ichs nach den Anderen. Das Motiv des Fensters, von dem aus das Ich die Menschen beobachtet, verdeutlicht dessen Trennung von der Außenwelt. Das Fenster markiert folglich eine Grenze zwischen dem Innenraum, in dem sich das 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 76 Ich befindet, und der Außenwelt, „las calles de París. / Sus gentes silenciosas“ (V.1-2). Die Menschen ziehen einsam und gleichsam stumm durch die Straßen, als würden sie kaum existieren (vgl. V.4). Die Unwirklichkeit des Außen äußert sich in der Verdinglichung der Menschen, die sich wie ein Zug oder eine vom Wind hinfort gewehte Zeitung durch die Nacht bewegen. Dabei fungiert die beobachtete Außenwelt nicht nur als externer, vom Ich getrennter Raum, sondern spiegelt gleichzeitig dessen inneren Zustand mit der für Tejera so typischen Motivik der Einsamkeit und des orientierungslosen Umherirrens wider. Die letzten vier Verse verdeutlichen wiederum explizit die Trennung des Ich von den anderen. Dadurch, dass die Versenden in den Zeilen sieben und neun syntaktisch übereinstimmen, entsteht mit Hilfe des wiederholten Satzglieds „y no puedo acercarme a nadie y decirle“ ein Parallelismus zwischen den beiden Versen. Damit werden der achte und zehnte Vers - „Tengo hambre“ und „Yo le amo“ - semantisch zueinander in Beziehung gesetzt. Warum heißt es in diesem Vers nicht „Yo te amo“? Das Personalpronomen „le“ verstärkt die Distanz des Ich zu den Menschen: Durch die 3. Person Singular als Höflichkeitsform wird erkennbar, dass es nicht um eine Liebesbeziehung zu einem bestimmten Menschen geht, sondern vielmehr um den Wunsch nach Nähe zu den Menschen im Allgemeinen, der dem nach Vereinigung gleicht. Das Fenster als Motiv für die Kontaktlosigkeit zu den anderen impliziert jedoch gleichzeitig die Unmöglichkeit einer Grenzüberschreitung und Annäherung, da es eine Schranke zwischen Innen und Außen setzt. Das Ich bleibt isoliert von den anderen, was durch die insistierende Wiederholung des Satzgliedes „y no puedo acercarme“ (V.7, 9) unterstützt wird. Der Hunger stellt in diesem Kontext nicht nur die Liebessehnsucht dar, sondern ebenso den Hunger nach Leben: In der Großstadt Paris herrscht ständige Bewegung. Die Menschen folgen ihren Tages- und Nachtaktivitäten. Sie sind unterwegs und hungern nach Leben. Auch das Ich verspürt diesen Hunger, aber es bleibt von den leibhaftigen Aktivitäten und den Begegnungen mit den anderen Menschen ausgeschlossen und ist damit gefangen in einem Zustand der Bewegungslosigkeit. Sein Nähebedürfnis und Lebenshunger können nicht befriedigt werden. Sie führen zum innerlichen Verhungern und zum Untergang: 11 De pronto 12 Todo París desaparece 13 No bajo la niebla sino bajo los hombres 14 No bajo el crecimiento de la Sena, sino en la oscuridad de 15 los hombres. 16 Yo me pregunto dónde estará el dolor y dónde está la alegría 17 de París. 4.3 Eingrenzung 77 Die Auflösung der städtischen Außenszenerie verweist hier auf die Selbstauflösung und Ver-Nichtung des Ich. Beachtlich ist dabei der Aspekt der Totalität des Untergangs, denn „ganz Paris“ verschwindet im Dunkeln. 27 Durch das contre-rejet in Vers 14 wird der ins Leere laufende Vers syntaktisch um die Dunkelheit der Menschen erweitert: „sino en la oscuridad de / los hombres“. Versteht man die externe Szenerie wiederum als Spiegel einer inwendigen Erfahrung, so dient das städtische Versinken im menschlichen Dunkel als Rückverweis auf das sich selbst unkenntlich gewordene Ich und dessen innere Leere. Dass das Fenster eine Grenze markiert, die nicht nur den Blick nach außen, sondern die Sicht nach innen versperrt, wird in der ersten Strophe von Tejeras „Cada Hombre“ (CH, IP 42) deutlich, die von Einsamkeit und Nachtmotiven geprägt ist: Cada hombre 01 Cada hombre lleva dentro de sí mismo 02 Un perro solitario que erra y que gime sin detenerse nunca 03 Un perro que muerde la luna y come las estrellas y se nutre de 04 esta nada. 05 Una ventana de viejo hierro que jamás se 06 abre 06 Y también viejas y poderosas hormigas 08 Que miran tan lejos que uno no puede seguirlas 09 Y un polvo cegador que gira siempre 10 Como gira la soledad del ciego en el mundo. Das Leitmotiv bildet der „perro solitario“ - ein einsamer Hund, der stöhnend wie ein gefangenes Tier in jedem Menschen umherstreunt und alles Lebendige in ihm verschlingt (V.2). Dieses Motiv weckt die Assoziation des einsamen Wolfes als Metapher für den im Leben rastlos umher vagabundierenden Menschen. Der Hund jedoch ist im Gegensatz zum Wolf ein gezähmtes Haustier, was auf die Dimension der räumlichen Gefangenschaft verweist, die wiederum durch das Motiv des Fensters unterstützt wird. Im fünften Vers verwendet Tejera das contre-rejet, das zu einem syntaktischen Einschnitt am Versende führt, der den Sprachfluss drastisch unterbricht. Die Metapher des von Spinnen bevölkerten, alten Eisenfensters, das den Blick nach innen versperrt, wird noch dazu durch die Tatsache gesteigert, dass es aufgrund seiner rostigen Schwere und der es von außen behindernden Spinnen keine Möglichkeit gibt, das Fenster je öffnen zu können. Der Rost erweitert die Semantik der inneren Gefangenschaft um die der inneren Zersetzung, womit ein zeitlicher Prozess evoziert und da- 27 Tiefergehend zu Tejeras Stadtdichtung vor dem Hintergrund raumtheoretischer Überlegungen vgl. 6.5.1 „Paris im Herbst“. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 78 mit auf das Verhältnis zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem angespielt wird. Das Fenster verwehrt hier nicht nur den Blick, sondern vielmehr den Zugriff nach innen. Das Fenstermotiv wird so einerseits zur Metapher für den Blick von innen nach außen auf eine Welt, an der man nicht leibhaftig teilhaben kann, weil man von ihr isoliert ist. Der versperrte Zugang zur Welt führt zu einer multiplen Einsamkeitserfahrung, weil das Fenster andererseits den Blick von außen nach innen verwehrt. Somit wird es sowohl zum Symbol der Selbstentfremdung vom Gestern wie auch der Fremdheit im Heute. Die Einsamkeit des Exils ist insofern eine Grenzerfahrung, als dass die Isolation sowohl durch die Abspaltung zum Außen als auch zum Innen bedingt ist: Von sich selbst ausgegrenzt ist das Selbst im Exil immer das Andere, das eingegrenzt im Zustand einer inneren Isolation nicht zum Leben durchzudringen vermag. 4.4 Abgrenzung 4.4.1 Befremdliches Kuba Bevor die Positionierungen der kubanischen AutorInnen zu Paris herausgearbeitet werden- u.a. mit Blick auf den Stellenwert, den der kubanischen Revolution dabei zukommt - steht hier zunächst die Abgrenzung zu Kuba im Vordergrund. Hierfür wird auf textueller und kontextueller Miguel Sales’ „Basta de Consignas y Reuniones“ (BCR, IP 90f) analysiert. Sales bedient sich in diesem Gedicht des estilo conversacional, um eine politische Aussage zu treffen und seine ‚konterrevolutionäre’ Haltung zum Ausdruck zu bringen. Dabei greift er auf ein alltagssprachliches Register zurück und setzt sogar wörtliche Rede im Text ein. Bewusst wird durch Schlüsselbegriffe wie „CDR“, „Comandante en Jefe“ und „Socialismo o Muerte“ auch auf semantischer Ebene ein Bezug zur konkreten politischen Situation Kubas hergestellt. In einer Fußnote weist der Autor darauf hin, dass es sich bei diesem Gedicht um eine „paráfrasis cubana“ von „Assaig de cantic en el temple“ des katalanischen Dichters Salvador Espriu handelt (IP 91). 28 In seiner Paraphrase inszeniert Sales eine Imitation als Transformation: die übersetzerische ‚Treue’ bei der Übernahme der Verse aus dem Original dient dazu, sie inhaltlich und sprachlich in den kubanischen Kontext zu versetzen. Dies wird bereits im ersten Vers deutlich, den nur ein Wort ausfüllt: Der Vulgärausdruck „coño“ ersetzt als Einleitung die von Espriu verwen- 28 Vgl. Espriu, Salvador ([1954]1972): El caminant i el mur. Barcelona: Edicions 62, 51. 4.4 Abgrenzung 79 dete Interjektion „Oh“. Zur besseren Anschaulichkeit setzt die folgende Analyse beide Versionen nebeneinander. Basta de consignas y reuniones Assaig de Cantic en el Temple 01 Coño, 02 qué cansado estoy de esta isla Oh, que cansat estic de meva 03 salvaje, inculta, violenta, Covarda, vella, tan salvatge terra, 04 y cómo me gustaría abandonarla i com m’agradaria d’allunyarme’n, 05 marcharme al norte nord enllà, 06 donde la gente „dicen“ es educada, on diuen que la gent és neta 07 rica, libre, noble i noble, culta, rica, lliure 08 despreocupada y feliz. desvetllada i feliç! Die Frustration des Ich, bereits in der Überschrift mit „Basta“ angedeutet, führt sich in den ersten beiden Zeilen fort. Die Adjektive „roh“, „unkultiviert“ und „gewaltsam“, die der Insel zugeschrieben werden, stehen kontrastiv denjenigen gegenüber, mit denen der Norden - die USA - beschrieben wird: als „gebildet“, „reich“, „frei“ und „nobel“ (V.6f). „Marcharme al norte“ steht für die Sehnsucht, das Gefängnis der Insel zu verlassen und in die „unbeschwerte“ und „glückliche“ (V.8) Freiheit zu gelangen. Das Ich spricht im Präsens Indikativ, der Wunsch des Entkommens wird im Konditional ausgedrückt (V.4). Allerdings zieht sich die Verwendung des Konditionals durch die gesamte zweite Strophe: 9 Entonces, en el CDR, los compañeros dirían Aleshores, a la congregació, els germans dirien 10 Con mezcla de envidia y amargura: Desaprovant: „Com l’ocell que deixa el niu, 11 „Aquí sólo se va la escoria. Així l’home que se’n va del sei indret“ 12 Comandante en jefe: ¡Ordene! “, 13 mientras yo, muy lejos ya, reiría mentre jo, ja ben lluny, em riuria 14 de las consignas y la ignorancia grotesca de la llei i de l’antiga saviesa 15 de éste mi pueblo rumboso. d’aquest meu àrid poble. Hier ist das Ich in seiner Vorstellung bereits weit entfernt von der Realität der Insel und würde über die groteske Ignoranz und die Parteiparolen in den politischen Versammlungen des CDR lachen, wenn es sie sagen hören 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 80 würde: „Aquí sólo se va la escoria“ (V.11). Diese Phrase ist im kollektiven Gedächtnis der Kubaner verhaftet und politisch behaftet. Denn mit „la escoria“ - der Abschaum - zitiert Sales Fidel Castros Rede, der im Zuge der Belagerung der peruanischen Botschaft durch Tausende von Kubanern im Jahre 1980 all diejenigen aufforderte, die aus Kuba fortgehen wollten, dies zu tun. Es sei ohnehin lediglich der „Abschaum“, der die Insel verließe. 29 Mit dieser Diffamierung erntete er begeisterte Zurufe, leitete aber zugleich eine der größten Auswanderungswellen der kubanischen Geschichte nach der Revolution ein: den Exodus von Mariel. In Sales‘ Vers sind es die compañeros des CDR, die Castros Phrase übernehmen. Ihre Heuchelei besteht darin, dass sie sich selbst gerne in der Lage sähen, die Insel zu verlassen, denn hinter dem Aufsagen der Parole verbergen sich Gefühle von Neid und Bitterkeit (vgl. V.10). In der dritten Strophe beklagt das Ich, dass sein Traum von der Freiheit niemals Wirklichkeit werden wird, es muss sich der alles dominierenden Parole „Socialismo o Muerte“ (V.18) unterordnen „hasta cantar el manisero“ (V.20), eine im alltagssprachlichen Gebrauch des Kubanischen verwendete Metapher für das Sterben. 30 16 Pero sé que mi sueño nunca se hará realidad Però no he de seguir mai el meu somni 17 Y que aquí he de quedarme sometido I em quedaré aquí fins a la mort. 18 al „Socialismo o Muerte“ 19 -valga la redundancia- 20 hasta cantar el manisero. 21 Porque yo también soy muy cobarde e inculto Car sóc també molt covard i salvatge 22 y quiero, a más no poder, I estimo a més amb un 23 con un amor desesperado desesperat dolor 24 esta pobre, triste y desdichada isla aquesta meva pobra, 25 que es mi patria. bruta, trista, dissortada pàtria. Schmerzhaft ist sich das Ich in den Schlussversen bewusst, dass es in der verzweifelten Liebe zu seiner „armen“, „traurigen“ und „verdammten“ Heimat gefangen (V.24) und damit auch Teil seiner Unkultiviertheit ist, die es in der ersten Strophe anprangert. Hierbei handelt es sich wiederum um eine genaue Paraphrase der Verse Esprius mit dem Unterschied, dass Sales 29 Castros Rede vom 1. Mai 1980 ist nachzulesen unter: http: / / www.cuba.cu/ gobierno/ discursos/ 1980/ esp/ f010580e.html. Zugriff: 10.04.2011. 30 Vgl. den Eintrag „Manisero“. In: Haensch, Günther / Reinhold, Werner (Hg.) (2000): Diccionário del español de Cuba. Madrid: Ed. Gredos. 4.4 Abgrenzung 81 das Verb „querer“ an die Stelle setzt, wo im Original von „estimar“ die Rede ist (V.20). Dies verstärkt die emotive Botschaft der Aussage. Die Position des lyrischen Ichs verweist auf einen Zustand des insilio, einer inneren Gefangenschaft, in der es bis zum Tod ausharren muss: „Aquí he de quedarme sometido / [...] hasta cantar el manisero“ (V.17, 20). Dieser Jetzt-Zustand wird kontrastiert mit dem Freiheitswunsch, der durch die Verwendung des Konditional einen Imaginationsraum öffnet, so dass der Standpunkt, von dem aus das lyrische Ich spricht, zwischen dem tatsächlichen und dem ersehnten Zustand oszilliert. In diesem Zusammenhang wirkt das syntaktisch eingeschobene „muy lejos ya“ in Vers 13 ambivalent auf den Leser, so als befände sich das Ich tatsächlich weit fort von der beschriebenen Szenerie, was durch die vierte Strophe noch gesteigert wird, die den Beiklang einer nostalgischen Rückbesinnung auf eine bereits verlorene Heimat hat, die das Ich liebt, obwohl es sie nicht (mehr) lieben kann. Zieht man darüber hinaus noch in Betracht, dass Sales das Gedicht aus dem Exil heraus schrieb und darin - im Dialog mit dem katalanischen Dichter Espriu- einen Zustand des insilio erinnert und verdichtet, so ergibt sich ein perspektivisches Wechselspiel zwischen Innerhalb und Außerhalb, zwischen insilio und exilio: Das im inneren Exil gefangene Ich sieht sich als Teil einer kubanischen Realität, die es politisch anprangert, bestrebt, sich existentiell und räumlich von dieser Realität abzugrenzen. Der Spott, den Sales’ Verse vermitteln, führt jedoch letztlich wieder auf die Einsicht zurück, dass eine Abgrenzung unmöglich ist, da das Ich in einer verzweifelten Liebe mit seinem Land verbunden ist. Die Unklarheit zwischen Innerhalb und Außerhalb auf der textimmanenten Ebene der Pragmatik lässt sich wiederum auf die außertextuelle Positionierung des Autors übertragen, der das Gedicht aus dem Exil heraus verfasste. Trotz dessen Abgrenzungsstrategien bleibt Kuba der Referenzrahmen, nicht nur kontextuell, sondern auch sprachlich durch den Rückgriff auf das kubanische Alltagsspanisch. Dass der Exilierte in der Fixierung auf sein Land verhaftet bleibt, beschreibt Tzvetan Todorov in Nous et les autres: „L’exilé s’intéresse à sa propre vie, voire à son propre peuple; mais il s’est aperçu que pour favoriser cet interêt, il valait mieux habiter à l’étranger, là où on n’‚appartient’ pas“ (1989: 382). Dies zeigt, dass die Abgrenzung von der Heimat nicht zwangsläufig mit einer Neuorientierung im Anderswo einhergeht. Mit der Abgrenzung vom politischen System Kubas geht eine gleichzeitige Fixierung auf dasselbe einher. Die kubanische Revolution bleibt der allen Kubanern gemeinsame Bezugspunkt. Für die im Exil lebenden AutorInnen stellt sie ein Identitätsmerkmal ex negativo dar. Sich zur kubanischen Revolution zu positionieren, bedeutet immer auch sich von ihr abzugrenzen. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 82 4.4.2 Abgrenzungslinien in Paris Die revolutionskritische Haltung der kubanischen AutorInnen ist mit widersprüchlichen Positionierungen der Abgrenzung verbunden. Diese sollen hier, ausgehend von Tejeras REV, aus literaturgeschichtlicher und soziologischer Perspektive näher bestimmt werden. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Rückblick auf die 1960er Jahre. Paris entwickelte sich in jener Dekade zur heimlichen literarischen Hauptstadt Lateinamerikas (vgl. Villegas 2007: Titel), was unter anderem auf die Präsenz der Boom-Autoren in Frankreich zurückzuführen ist: „Prácticamente todos los autores del llamado boom han vivido algún tiempo en Francia“ (Kohut 1983: 16). Un-ter ihnen nimmt Cortázar als zentrale Figur des Boom eine herausragende Stellung ein, zumal er bereits seit 1951 in Paris lebte und von dort aus schrieb. Nicht nur bot Paris eine Plattform für das literarische Schaffen, da die französischen Verlagshäuser begannen, den lateinamerikanischen Schriftstellern ihre Türen zu öffnen. Die französische Hauptstadt wurde darüber hinaus zum Treffpunkt spanischsprachiger Autoren linksintellektueller Orientierung und damit zum Standort, Lateinamerika auch in politischer und sozialer Hinsicht neu zu denken. In diesem Zusammenhang kam der kubanischen Revolution eine immense Bedeutung zu, weckte sie doch Hoffnungen und Erwartungen auf eine sozialpolitische Befreiungs- und Emanzipationsbewegung, die zu einer Erneuerung des gesamten südamerikanischen Kontinents führen sollte, um die Basis einer gemeinsamen lateinamerikanischen Identität zu bilden. 31 Die Utopie einer sozialpolitischen Umwälzung konnte sich nun auf ein real existierendes Modell berufen, was die Schaffenskraft der Boom-Autoren beflügelte, die sich als Sprachrohr des unterdrückten Volkes verstanden: „La idea de ser portavoz del pueblo oprimido tenía una referencia directa a la realidad: la existencia de Cuba fue la que otorgó a [sus] novelas, ante todo, su fuerza motriz y su eficacia“ (Müller 2010: 141). Die Kubabegeisterung nährte darüber hinaus auch die Studentenproteste in Frankreich von 1968, in denen Che Guevara, der ein Jahr zuvor in Bolivien umgekommen war, zur Ikone erhoben wurde. Die revolutionsfreudige Stimmung im Paris der 1960er Jahre hielt sich bis zum Caso Padilla, der Festnahme des Dichters Heberto Padilla aufgrund „dichterisch“ subversiver Aktivitäten gegen das Revolutionsregime im Jahr 1971. Von diesem Zeitpunkt an begannen sich viele Intellektuelle mehr und mehr vom Castro-Regime zu distanzieren und damit auch von der Hoffnung auf ein panlateinamerikanisches Identitätsprojekt: „Depuis Paris [...] ,cinquantequatre intellectuels européens et latino-américains s’adressent à Fidel Cas- 31 Vgl. Müller, Gesine (2010): „Del pueblo al público o la revolución cubana revis(it)ada por parte de los autores del boom“. In: Gremels / Spiller (Hg.), 141. 4.4 Abgrenzung 83 tro pour exiger la libération du poète emprisioné. [...] Cette affaire [...] sonne la fin d’un espoir“ (Villegas 2007: 143). Vor diesem Hintergrund lässt sich die Positionierung Tejeras näher beleuchten, die bereits 1965 als Dissidentin ins Pariser Exil ging und vom aufkeimenden Interesse der Verlagshäuser für lateinamerikanische Literaturen profitierte. So publizierte sie bereits 1961 erste Gedichte in der Zeitschrift Les Lettres Nouvelles, 32 herausgegeben von dem französischen Verleger Maurice Nadeau, der in Paris eine entscheidende Rolle als Förderer lateinamerikanischer Literatur und Entdecker zeitgenössischer Schriftsteller einnahm (vgl. Villegas 2007: 174). Tejeras frühe Revolutionsverbitterung trifft auf die in Frankreich zu dieser Zeit vorherrschende Revolutionseuphorie. Die daraus hervorgehende Abgrenzungslinie zieht sie mit ungefilterter Heftigkeit in ihrem autobiographischen Werk REV. Darin schildert sie einen Berührungspunkt mit Julio Cortázar - sicherlich nicht ohne Gedanken an die Publikumswirksamkeit, die eine schlichte Referenz auf diesen großen Namen ausmacht. Zu Beginn der 1970er Jahre schickt sie Cortázar, dessen Werk sie sehr schätzt, das Manuskript ihres Romans Sonámbulo del Sol, dessen Veröffentlichung in Frankreich unter dem Titel Sonambule du soleil auch von Maurice Nadeau gefördert wurde, und bittet ihn darum, ein Vorwort dafür zu verfassen. 33 Einen Absatz seines Antwortschreibens zitiert sie in REV: Creo que tu libro es muy bueno y que está lleno de poesía y de vida (dos cosas que son una pero que pocos saben aliar bien). Sin embargo me quedé fuera de él y casi todo el tiempo lo leí sin contacto. De ningún modo debe preocuparte esta reacción mía pues creo que yo salgo perdiendo más que tú (REV 24). Welchen Autor würde eine derartig freundliche doch klar positionierte Absage nicht im Kern der eigenen Künstlereitelkeit treffen? Jedenfalls bietet dieses Schreiben Tejera den Anlass, eine zynische Anklage gegen die Boom-Autoren hervorzubringen, die sich auf ihre persönliche Betroffenheit zurückführen lässt. Darüber hinaus verdeutlichen die bitteren Vorwürfe aber auch einen Abgrenzungsprozess. Denn Tejera bezieht Cortázars Ablehnung primär auf ihre Stellung als Dissidentin des kubanischen Regimes. Vor diesem Hintergrund sei Cortázars „solapado repudio“ zu verstehen, denn er könne als Unterstützer der „idealen Diktatur“ unmöglich deren 32 Unter dem Titel „Dans ce temps“ wurden drei Gedichte Tejeras in der Ausgabe „Nouveaux Écrivains d’Amérique Latine“ veröffentlicht. Les Lettres Nouvelles 9: 16, 1961, 87-89. Für diese Anthologie wählte Nadeau unter anderem Texte von Octavio Paz, Júlio Cortázar, Mario Vargas Llosa, Roberto Fernández Retamar und José Lezama Lima aus. 33 Vgl. Sonámbulo del Sol. Barcelona: Seix Barral, 1972; Sonambule du soleil. Paris: Les Lettres Nouvelles, 1970. Übersetzt von Adelaïde Blásquez. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 84 Dissidentin fördern (REV 24). Die Boom-Autoren bezeichnet sie als „Geheimagenten“ (ebd.) des Castro-Regimes: Mit ihrem „robusto sostén intelectual“ (ebd.) sorgten sie dafür, die kubanische Revolution international zu propagieren, ohne sich dessen gewahr zu werden, dass die massenhaften Auswanderungswellen aus Kuba auf massiven internen Schwierigkeiten gründeten. Zudem prangert sie die Gleichgültigkeit an, mit der die Autoren des Boom den Grausamkeiten, die politische Gefangene auf Kuba erlitten, den Rücken zukehrten (REV 25). Sicherlich spiegelt sich in der Heftigkeit der Vorwürfe ein dichotomes Verhältnis: auf der einen Seite steht eine marginale Autorin ohne breite Öffentlichkeit, während die Vertreter des Boom auf der anderen Seite längst zum zentralen Sprachrohr mit großer Publikumsbeliebtheit avanciert sind. Darüber hinaus spiegelt sich darin auch ihre eigene Erfahrung wider: Denn als Kulturattachée in Rom erlebte sie bereits kurze Zeit nach der Revolution - in den Jahren zwischen 1960 und 1964 - die Umkehrung der revolutionären Ideale durch Castros Machtmissbrauch, der im Namen der Revolution eine Überwachungsstruktur schuf, die der Kontrolle und in weiterer Konsequenz der Bestrafung von Andersdenkenden diente (vgl. REV 33). Vor diesem Hintergrund lehnt sie jedwede Idealisierung der kubanischen Revolution ab. Verbittert deklariert sie das politische Engagement der Boom-Autoren zur Farce. Dies erklärt ihr zynisches Resümee in Bezug auf Cortázars Stellungnahme zu ihrem Roman: „Y cronopio engagé no prefació a cronopio desertor“ (REV 25). 34 Tejera positioniert sich zwischen zwei Abgrenzungslinien, durch die sie sich als doppelt marginalisiert wahrnimmt: zum einen als Exilantin in Bezug auf Kuba, zum anderen als kubanische Autorin unter den hispanoamerikanischen Schriftstellern in Paris. Dass sich das kubanische Exil für die „colonia literaria hispanohablante“ in Paris als konflikthaft darstellt, wird von Karl Kohut bestätigt: „[E]l exilio cubano constituye un problema bastante agudo, porque para muchos Cuba sigue siendo la esperanza de un mejor futuro del continente [suramericano]“ (Kohut 1983: 20). Diese Beobachtung ist zu Beginn der 1980er Jahre gemacht worden. Wie gestaltet sich die Situation im 21. Jahrhundert? Dieser Frage nachgehend werden im Folgenden die Publikationsmöglichkeiten untersucht, die sich den Pariser Diaspora-AutorInnen in einem transnationalen Netzwerk bieten, was wiederum die Frage nach ihrer lokalen Standortbestimmung aufwirft. 34 Mit „cronopio“ bezieht Tejera sich auf Cortázars fantastische Figuren der cronopios, denen ein Band von Kurzgeschichten gewidmet ist. Vgl. Cortázar, Júlio ([1962]1970): Historias de cronopios y de famas. Barcelona: Edhasa. 4.4 Abgrenzung 85 4.4.3 Abgegrenzte Transnationalität In den 1980er Jahren beginnt sich die lateinamerikanische Schriftstellerenklave in Paris zunehmend aufzulösen (vgl. Kohut 1983: 23): Das Ende der Francozeit und der Militärdiktaturen in Lateinamerika bedeutete für viele Autoren das Ende ihres Exils und damit die Möglichkeit, in ihre Länder zurückzukehren. An der Situation der Kubaner hat sich durch das nunmehr seit einem halben Jahrhundert fortbestehende Castro-Regime jedoch nicht viel verändert, was die Besonderheit des Falls Kuba im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern ausmacht. Die stetig wachsende kubanische Diaspora hat sich ein eigenes transnationales Netzwerk geschaffen, das auf Kuba bezogen einen klar umgrenzten kulturellen Rahmen bietet. 35 In diesem Rahmen haben sich neue Zentren des Kulturschaffens formiert, so z.B. in Miami, New York, Madrid und Barcelona, in denen sich eine Infrastruktur an Kulturvereinen, Verlagshäusern und Zeitungen, Literatur- und Kulturzeitschriften entwickelt hat. Die kubanischen AutorInnen in Paris orientieren sich heute mit ihren Publikationen stark an diesem Netzwerk: So erschien die erste spanischsprachige Version von Tejeras REV 2002 im Verlag Ediciones Universal, der seinen Sitz in Miami hat. Die Rezension dazu wurde im September 2002 von William Navarrete im Nuevo Herald veröffentlicht, für den er seit 1988 als Journalist schreibt. Miguel Sales brachte seine Lyrikanthologie Desencuentros (1995) und die Aufsatzsammlung El poscastrismo y otros ensayos contrarrevolucionarios (2007) im Madrider Verlag Editorial Verbum heraus, dessen Gründer Pío E. Serrano wiederum das Interview mit Nivaria Tejera in der Kulturzeitschrift Encuentro de la Cultura Cubana durchführte. 36 Der in Valencia ansässige Verlag Aduana Vieja, den der kubanischstämmige Publizist Fabio Murrieta gegründet hat, vereint einen Großteil der hier untersuchten AutorInnen unter seinem Dach. 35 Vgl. hierzu Antor, der dem Diskurs um die kulturelle Hybridität das psychologische Bedürfnis vieler Menschen entgegenstellt, „sich durch Positionierung in einem klar umrissenen kulturellen Rahmen Sicherheit, Orientierung und Perspektiven zu verschaffen“ (2006: 36). 36 Die 1996 gegründete Zeitschrift Encuentro de la Cultura Cubana mit Sitz in Madrid hat den Dialog zwischen der kubanischen Literatur innerhalb und außerhalb der Insel sehr gefördert und wurde bedauerlicherweise 2009 eingestellt (vgl. Moulin Civile 2011: 205). Hier der Link zur letzten Ausgabe: http: / / www.cubaencuentro.com/ revista/ revista-encuentro/ . Zugriff: 15.02.2013. Einen breiten Überblick über die bestehenden Assoziationen und Literatur- und Kulturzeitschriften, die sich in New York, Madrid und Miami der kubanischen Kultur widmen, gibt William Navarrete in einen Interview. Vgl. Chávez Rivera, Armando (2009): „William Navarrete. Negro sobre blanco“. In: Ders.: Cuba per se. Cartas de la diáspora. Cincuenta escritores cubanos responden sobre su vida fuera de la Isla. Miami: Ediciones Universal, 393f. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 86 Das Eingebundensein der AutorInnen in diesem transterritorrialen Netzwerk geht jedoch wiederum mit einer Selbstpositionierung einher, die Paris für sie als bevorzugten Lebensmittelpunkt hervorhebt. Eyda Machíns Heimatgefühl in Paris liegt in ihrer Verbundenheit mit den französischen AutorInnen des 19. Jahrhunderts begründet. Besonders ausgeprägt ist ihre Identifikation mit Sand, Colette, Baudelaire und Verlaine (vgl. A.I 308). Diese literarisch-imaginäre Beziehung zu Paris wirkte sich auf die tatsächliche Begegnung mit der französischen Hauptstadt aus. Ihre erste Reise als Touristin von Venezuela nach Paris im Jahr 1973 kommentiert Machín wie folgt: „Cuando vi París comprendí que era mi casa. Comprendí que era aquí que yo quería vivir“ (ebd.). Im Gegensatz dazu steht ihr Aufenthalt in Miami, die erste Etappe ihres Exils, wo sie 1966 im Zuge der Vuelos por la Libertad landete und wo ein Großteil ihrer Verwandtschaft lebt (ebd. 311). 37 In ihrem autobiographischen Roman Pasarelas schreibt sie: [En Miami], nunca me sentí en casa. ¿Cómo identificarme con esos compatriotas que habían salido de la isla al alba de la Revolución y que vivían prisioneros del pasado, del recuerdo de lo que habían perdido? Su amargura les impedía avanzar y reconstruir sus vidas. 38 Die kubanische Exilgemeinde in Miami wird von ihr als geschlossener bzw. verschlossener Raum wahrgenommen, als Huit Clos im Sartreschen Sinn, in dem „solamente funciona lo que es cubano“ (A.I 309f). Das Leben in Paris hingegen steht für Offenheit und Zukunftsgewandtheit. Heute grenzt sich Machín durch ihre 1992 erlangte französische Staatsbürgerschaft von den Kubanern in Miami ab, indem sie sich explizit als Französin bezeichnet: „Yo soy francesa“. 39 Auch für Navarrete gibt es keinerlei Grund, sich in Miami niederzulassen, das er als provinziell beschreibt: „No voy a cambiar París por Miami, que es un campo” (A.IV 331). Navarrete besitzt ebenfalls die französische Staatsbürgerschaft und lebt seit nunmehr 20 Jahren in Paris, das er wie Machín als Lebensmittelpunkt ausgewählt hat: „Yo escogí París“ (ebd.). Auch Navarretes Leben in Paris geht eine Identifikation mit der Stadt voraus, bedingt durch sein Studium der Kunstgeschichte, das ihn mit 37 Zwischen 1965 und 1975 wurde Kubanern die Ausreise durch Flüge von Kuba nach Miami ermöglicht, bewilligt durch den US-amerikanischen Präsident Lynson B. Johnson. Weitere Hintergründe zu den Vuelos por la libertad: http: / / www.elnuevoherald.com/ 2008/ 12/ 16/ 340999/ tras-las-huellas-de-losvuelos.html. Zugriff: 15.04.2011. 38 Machín, Eyda (2009): Pasarelas. Valencia: Aduana Vieja. Zur eingehenderen Analyse des Romans vgl. 4.5.1. „Gebrochene Autobiographie: Pasarelas“. 39 Hierbei handelt es sich um ein Gespräch mit Eyda Machín und William Navarrete, das im November 2009 im Rahmen des Seminars „Poesie & Exil“ unter der Leitung von Andrea Gremels an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt stattfand. Vgl. Anhang A.IV 322-333, hier 331. 4.4 Abgrenzung 87 der französischen Malerei und Architektur vertraut machte. 40 Darüber hinaus hatte er die Stadt vor seiner Ankunft bereits als mental map gespeichert. Davon berichtet er in einer Kindheitserinnerung: Sein Großvater besaß eine großflächige Pariser Straßenkarte, auf der die Gebäude, Straßen und Plätze von Paris eingezeichnet waren und die an der Wand seines Hauses auf Kuba hing: „[D]esde niño yo jugaba con mis primos a decir un nombre de una calle o un pasaje o un edificio [...], y teníamos que buscarlo hasta que lo encontráramos“ (A.II 313). Über dieses Spiel habe er die Karte von Paris visuell so sehr verinnerlicht, dass ihm die Stadt bei seiner Ankunft völlig vertraut erschien (ebd.). Sich in Paris niemals fremd gefühlt zu haben, führen die AutorInnen ferner auf den Internationalismus der Stadt zurück. Machín beschreibt dies wie folgt: „París, sobre todo, es una ciudad cosmopolita. […] [E]n el metro, tú oyes hablar en chino, en japonés, en árabe, en hindú, en español, en francés, en inglés, en todas las lenguas” (A.I 309). Navarrete drückt es auf eine ganz ähnliche Weise aus und bringt damit wie Machín seine Wertschätzung der kosmopolitischen Pariser Stadtlandschaft mit ihrer kulturellen und sprachlichen Diversität zum Ausdruck: [A]quí, todo el mundo es finalmente extranjero. Quien no es árabe, es ruso o es polaco o, la madre es alemana […], otros vinieron de Turquía, otros de África [...], de América Latina, americanos. Aquí hay tanta gente de tantos lugares del mundo que tú no te puedes sentir extranjero en la ciudad. [L]os franceses se sentirán extranjeros en París (A.II 315). In einer Stadt voller Fremder sind alle fremd und darum fühlt sich keiner mehr fremd. „Étrangers de tous les pays, unissez-vous? “, kann man mit Kristeva provokativ fragen. „Pas si simple“, gibt sie selbst als Antwort. Denn in Frankreich sei für die Italiener der Spanier fremd, für den Spanier der Araber, der wiederum den Schwarzen als Fremden behandle und umgekehrt (Kristeva 1988: 38). Im urbanen Ballungsraum von Paris wird die Dimension des ‚multinationalen’ Frankreichs deutlich, das Menschen verschiedenster Nationalitäten aufgenommen hat. Als Phänomen der DissemiNation im Sinne Homi Bhabhas zeigen diese „scattered people“ die Grenze des Begriffs der einheitlichen Nation als Ort einer lokalisierbaren, homogenen Kultur auf. 41 Kulturelles Selbstverständnis bestimmt sich daher in einem heterogenen 40 Interview Andrea Gremels mit William Navarrete im Mai 2007. Anhang A.II 313-317, hier 313. 41 Bhabha überträgt Derridas texttheoretisch verwendeten Begriffs der dissémination auf die kulturtheoretische Ebene. Die DissemiNation bezeichnet so die Verstreuung von Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, deren Anwesenheit in den ehemaligen kolonialen Machtzentren den Begriff der einheitlichen Nation als Narration entlarvt (2004: 199f). 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 88 National- und Kulturraum, innerhalb desselben sich jedoch jede Gruppe in Abgrenzung zum ‚anderen‘ Fremden auf ihren Ursprung beruft und so eine eigene, exklusive Identität kreiert (vgl. Kristeva 1988: 38). Gerade für die kubanische Diaspora gilt, dass der Verlust der Heimat mit einem starken kollektiven Rückbezug auf die eigene Geschichte einhergeht, über den sich das kulturelle Selbstverständnis konstituiert. Im Spannungsfeld zwischen lokalen und transnationalen Bezugsfeldern wird erkennbar, dass die Eigenpositionierung je nach Bezugsrahmen changiert. Das kulturelle Selbstverständnis definiert sich über Identifikationen, die über Differenzierungsmomente verlaufen. Je nach diskursivem Standpunkt und situativem Kontext bringt dieses ‚kulturelle Distinktionsbedürfnis’ zu verschiedenen Seiten hin Abgrenzungslinien hervor. 42 Von anderen Lateinamerikanern in Paris grenzen sich die kubanischen AutorInnen durch die historische Besonderheit ihres Falls ab, leben Sie doch seit nunmehr einem halben Jahrhundert mit den Konsequenzen der kubanischen Revolution, deren Regime bis heute andauert. In Abgrenzung zu einer als rückwärtsgewandt wahrgenommenen, kubanischen Exilgemeinde in Miami spielt hingegen die Positionierung als weltoffen-kosmopolitische, französische Staatsbürger eine entscheidende Rolle. Innerhalb des multinational zusammengesetzten Stadtraums von Paris beruft man sich wiederum exklusiv auf den eigenen Ursprung und orientiert sich als Kulturschaffender am transnationalen Netzwerk der kubanischen Diaspora. Die unterschiedlichen Differenzierungsmomente, die sich hier herauskristallisieren, zeigen das existentielle Bedürfnis nach kultureller Abgrenzung auf, über die das Eigene in Differenz zum anderen diskursiv definiert wird. Dabei manifestiert sich kulturelles Selbstverständnis in unterschiedlichen Bezugsrahmen, mit denen changierende, teils widersprüchliche Positionierungen einhergehen. 4.5 Entgrenzung 4.5.1 Gebrochene Autobiographie: Pasarelas Vor dem Hintergrund von Ortiz’ Metapher der „aves de paso“ lässt sich Eyda Machíns Pasarelas (PAS) in die Analyse einbeziehen (Ortiz 2002: 258). Darin erzählt Machín ihre eigene Geschichte, die stets dem Lebensmotto folgt: „[P]erdí una patria y gané el mundo“ (A.I 312). Wie keine andere der AutorInnen dieses Korpus’ betont Machín stets ihr Selbstver- 42 In Anlehnung an Pierre Bourdieu verwendet Ulf Hannerz im Zusammenhang mit transnationalen Kulturen den Begriff der „habitats of meaning“. Hannerz, Ulf (1996): Transnational Connections: Cultures, People, Places. London / New York: Routledge, 49. 4.5 Entgrenzung 89 ständnis als Weltenbürgerin und den bereichernden Weltengewinn ihres Exils als „una apertura extraordinaria hacia múltiples mundos“ (PAS 42). Gemäß Phillippe Lejeunes „pacte autobiographique“ weist der Roman die Identität des erzählenden, des erzählten Ich und der Autorin auf (1975: 15), obwohl diese nicht mit ihrem Eigennamen bürgt. 43 Trotz der Namensänderung, die auf eine autofiktionale Erzählstrategie hinweist - erzählt wird aus der Ich-Perspektive der Protagonistin Nina - ist der referentielle Rahmen zur außertextuellen Wirklichkeit unverkennbar. Die retrospektive Darstellung des Lebenswegs der Autorin - ihrer „pasarelas“ - zeichnet die verschiedenen Stationen der realen Biographie Eyda Machíns nach: die Kindheit in Kuba, die Ausreise aus Kuba und ihre Aufenthalte in den USA, Venezuela und schließlich in Paris, das sie zu ihrer neuen Heimat wählt. Doch gleichzeitig weist PAS Züge einer Autofiktion auf, zum einen durch den fiktiven Namen der Protagonistin, zum anderen auch durch die Romanstruktur, die keinem linearen Erzählstrang folgt. In dieser autofiktionalen Dimension ist der Roman besonders vor seinem erinnerungskontextuellen Hintergrund von Interesse. Denn die autobiographischen Erinnerungssequenzen sind in raumzeitlichen Sprüngen bzw. „kaleidoskopartig“ aneinandergereihten Bildern“ angeordnet, wie es im Roman selbst heißt (PAS 12). Auf autofiktionaler Ebene verdeutlicht die Romanstruktur nicht nur die Momenthaftigkeit und Flüchtigkeit allen Erinnerns, sondern darüber hinaus auch die stete „Rekonfiguration“ und Aktualisierung von Erinnerungen aus der Perspektive der Gegenwart heraus (vgl. Neumann 2005: 157). Die Funktion des Erinnerns im Roman besteht darin, eine „Grundlage für das subjektive Gefühl einer biographischen Kontinuität zu schaffen“ (ebd.: 154). In diesem Zusammenhang verweist die narrative (Un)Ordnung der fragmentarischen und diskontinuierlichen Erzählstruktur auf die gebrochene Biographie der Autorin und verdeutlicht die Unmöglichkeit einer biographischen Repräsentation in einer linearen und nicht zuletzt kohärenz- und sinnstiftenden Ordnung. Neben der Erzählstruktur fällt das Spannungsfeld zwischen erinnerndem und erinnertem Ich ins Auge: Ausgangslage des erinnernden Ich ist der Aufenthalt im Krankenhaus, wo sich die Protagonistin mehreren schwerwiegenden Knieoperation zu unterziehen hat. Diese geschilderten Erfahrungen weisen eine direkte außertextuelle Referenz zur Biographie der Autorin auf, deren Leben im Jahr 2008 durch lange Krankenhausaufenthalte drastisch eingeschränkt wurde. 44 Dem Leiden der körperlichen 43 Nach Lejeunes Definition muss der autobiographische Pakt durch den „nom propre“ des Autors besiegelt werden (vgl. 1975: 34). 44 „[E]s la primera novela que escribí en el año 2008 donde -hospitalizada durante nueve meses en una clínica en París, incapacitada de caminar y de moverme- logré escapar de los cuatro paredes de mi prisión hospitalaria gracias a los recuerdos“ (A.I 312). 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 90 Immobilität und der räumlichen Gefangenschaft zwischen den vier Wänden des Krankenhauszimmers ist die befreiende Funktion des Erinnerns an das vergangene Selbst kontrastiv gegenübergestellt: „Quisiera despertarme liberada [...] de esta inmovilidad que me obsesiona día y noche. [...] La única puerta hacia la libertad: los recuerdos que afluyen en cascadas por las fisuras de mi mundo interior“ (PAS 48). Die Tür ins eigene Selbst zu öffnen bedeutet gleichzeitig eine Flucht ins Imaginäre, in Fantasien und Träume: „evadirme hacia territorios donde nada ni nadie detendría mi vuelo“ (PAS 35). So nimmt die Autorin den Leser mit auf Reisen an verschiedenste Orte der Welt, wie Wien, Istanbul, London, Kairo, Lissabon, aber auch an erträumte, ferne Strände und zu intimen Begegnungen, wobei einzelne Passagen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen, unterstützt durch die den Text wechselseitig durchziehenden Verben „viajar“ und „volar“. Dieser Akt der Selbst(be)schreibung im Nachzeichnen der Erinnerungen führt zu einer textuellen Rekonstruktion des Selbst, die sich nicht nur auf geistiger Ebene vollzieht, sondern zudem die Physis betrifft. Sie besteht in dem Versuch, den gebrochenen Körper wieder als Ganzes zusammenzusetzen und die ihm durch die Krankheit gesetzten Grenzen in eine existentielle vom Körper losgelöste Grenzenlosigkeit zu transzendieren. Diese Überschreitung des Selbst drückt sich wiederum in der Metaphorik des Fliegens, „un pájaro sobrevolando las tierras y los océanos“ (PAS 48), und der Flüchtigkeit aus, „no somos más que polvo de estrellas diseminado al antojo del viento“ (PAS 47). Der stete Aufbruch, „[f]ui propulsada fuera de las paredes de mi cuarto“ (PAS 21), und die Bewegungsläufe hin zu einem „más allá“ (PAS 12) führen jedoch immer wieder zur physischen Ausgangslage zurück: „Estoy de nuevo en este espacio cerrado“ (PAS 32). Im Krankenhausszenario wird das Verabreichen der Medikamente, das Sitzen im Rollstuhl, die Scham und Wut bei der Betrachtung ihres gebrochenen, immobilisierten Körpers detailliert durch die stets in das Gefängnis des Krankenhauszimmers zurückversetzte Ich-Erzählerin geschildert. Der befreiende Aufbruch in der Hingabe an die Erinnerungen ist nicht loszulösen von der belasteten und lastvollen Rückkehr ins Jetzt des Eingesperrt-Seins, das die Protagonistin wiederum zum erneuten Aufbruch antreibt. Der zirkuläre Prozess von Aufbruch und Rückkehr spielt eine besondere Rolle in den Passagen, die Kuba gewidmet sind. Die Erinnerungen an die Insel vollziehen sich anhand von drei Lebensetappen: der verlorenen Kindheit in den 1950er Jahren, die schwärmerisch und identitätsstiftend heraufbeschworen wird, der als Befreiung empfundenen Flucht aus dem frühen revolutionären Kuba, das sich für die Ich-Erzählerin als chaotisch, destruktiv und bedrückend darstellt (PAS 65-69), und der Rückkehr auf die Insel dreißig Jahre später, die ihr durch ihre französische Staatsbürgerschaft ermöglicht wird. Die herbeigesehnte Rückreise in die Heimat - die 4.5 Entgrenzung 91 Passage wird mit dem Zitieren von Carlos Gardels Tango „Volver“ eingeleitet - gestaltet sich nach einer solch langen Zeitspanne für die Protagonistin als dramatisch. Diese Dramatik wird noch verstärkt durch die Verwendung des Präsenz zu Beginn des Erzählstrangs. Dies rückt den Leser in unmittelbare Nähe zu der Wiederbegegnung der Ich-Erzählerin mit ihrer Heimat. In Havanna findet sie ein vollkommen verändertes Stadtbild vor, das auf keinerlei Weise mehr mit den Bildern ihrer Kindheitserinnerungen übereinstimmt: „Esa ciudad que reía, cantaba y bailaba se había convertido en un fantasma sepultado entre sus propias ruinas. Una ciudad herida, apuñalada y asesinada“ (PAS 105). In der als verwundet personifizierten Stadt spiegelt sich das Ich der Protagonistin, denn auf die ermordete Stadt in Ruinen projiziert sich der endgültige Verlust der Heimat. Das Havanna ihrer Kindheit existiert nicht mehr, deswegen ist auch der Versuch dorthin zurückzukehren gescheitert. Die verlorene Kindheit wird in diesen drei Etappen zunehmend zum Sinnbild der verlorenen Existenz, derer man durch das Exil beraubt wurde. 45 Erzählerisch hat das Motiv der Kindheit eine doppelte Funktion: Die im Innern als heil und ganzheitlich bewahrten Kindheitserinnerungen existieren getrennt von der Bedeutungsdimension einer beraubten, begrabenen Kindheit, die als Metapher für die verlorene Heimat dient: „mi dulce infancia está secretamente escondida en mí. Pero me robaron la otra infancia“ (PAS 25). Auch wenn die Beschreibung der einstmals lachenden, singenden und tanzenden Stadt im Angesicht ihres Ruins einen stark nostalgischen Anklang in sich trägt, führt der biographische Bruch des Heimatverlusts in Machíns Roman nicht zu einem Verharren im Gestern. Dies äußert sich auf formaler Ebene in den vielen vorwärtsgerichteten Bewegungsläufen der Aufbruchsepisoden im Roman, was auf inhaltlicher Ebene mit dem unbedingten Willen der Protagonistin einhergeht, den Verlust als Gewinn und Befreiung zu verstehen. Dieser Willensakt äußert sich in der immer wiederkehrenden Rhetorik der „reconstrucción“ als Folge jener Verlusterfahrung, aber auch jeder Lebenserfahrung generell: „Comprendí que cada país, cada historia, cada encuentro nos destruye, nos construye, nos reconstruye“ (PAS 42). Wie das dialektische Verhältnis von Aufbruch und Rückkehr werden Destruktion, Konstruktion und Rekonstruktion hier nicht als linearer, sondern als zyklischer Prozess begriffen. Zum anderen wird der Rekonstruktion des Selbst häufig mit der körpersemantischen 45 Zum Motiv der verlorenen Kindheit im Zusammenhang mit dem Exil, siehe auch William Navarretes Gedicht „Edad de Miedo al frío“ (IP 127), das in Kapitel 5.2.1 „El olvido: Das Verstummen der Stimme“ in den Blick genommen wird. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 92 Symbolik des „renacer“ Ausdruck verliehen: 46 „A pesar del desgarramiento de la partida, de las heridas del exilio, aprendí a renacer a cada instante“ (PAS 26, siehe auch 42). Im Gegensatz zum Begriff der Rekonstruktion, der einen aktiven Neuentwurf des Selbst impliziert und damit Identität als konstruierbar und neuerfindbar beschreibt, steht bei der Wiedergeburt als Sinnbild für die Selbsterneuerung das vom Willen unabhängige, schicksalhafte Widerfahrnis im Vordergrund. Dies verweist wiederum auf die Vorstellung einer wesenhaft originären Identität. Die Wiedergeburt beinhaltet weniger einen Neuentwurf als einen Neubeginn des Lebens. Dieser verhält sich auf zyklische Weise zu den „heridas del exilio“, wobei die Autorin auch hier auf die Körpersemantik zurückgreift. Damit macht sie das Trauma des Exils als in den Körper eingeschriebene Erfahrung und „‚verkörperte’ Erinnerung“ begreifbar (Neumann 2005: 154). Entgegengesetzt dazu besteht die existentielle Entgrenzung wiederum im Überwinden aller dem Körper gesetzten Grenzen hin zu einer im Geist sich vollziehenden Selbsterweiterung. Dafür stehen der autofikionale Akt der steten Selbst(re)konstruktion und die Metapher der Wiedergeburt. 4.5.2 Entgrenzung des Selbst Die existentiellen Abgründe und die daraus hervorgehende Selbsterneuerung finden sich auch als Themen in Machíns Liebeslyrik wieder. Eine intertextuelle Verbindung zwischen Pasarelas und der poetischen Bildersprache ihrer Gedichte bietet die lyrische Eingangspassage zu Beginn des Romans: Contaré esta historia con la cadencia del vaivén de las olas. Del amor. Del encuentro de dos cuerpos. De dos manos que se buscan ávidamente a través de la distancia. Más allá de los mares. Más allá de la vida. Más allá de la muerte. En el calor del abrazo. En el dolor del adiós (PAS 12f). Das Meer als Metapher für den Lebensfluss und als Unendlichkeitstopos, aber auch für die Koexistenz von Leben und Tod sind rekurrente Motive in Machíns Gedichten, einhergehend mit einer starken erotisch-sinnlichen Körperlichkeit, die anhand von Naturmotiven verbildlicht wird. Das Leben selbst wird hier als liebende Begegnung zweier Körper symbolisiert. Liebesbegegnung und Lebensbeschreibung sind ineinander verschränkt. Dies drückt den starken Wunsch nach Vereinigung aus, auch ein Grundmotiv in Machíns Lyrik, das in ihrem Gedicht „Soy mucho más“ (SMM, IP 74f) im Vordergrund steht. 46 Grinberg verwenden in ihrer Psychoanalyse des Exils auf die Metapher der „Wiedergeburt“ als Möglichkeit, die Krise bzw. das Trauma des Exils zu überwinden und daraus kreatives Potential zu schöpfen (1984: 27). 4.5 Entgrenzung 93 Das Gedicht besteht aus 50 Versen, die sich bis zu Vers 35 in fünfzeilige Abschnitte einteilen lassen. Strukturgebend ist die Anapher „Soy mucho más“. Soy mucho más 01 Soy mucho más 02 que este cuerpo 03 que entre tus manos estrujas 04 como un papel viejo y arrugado 05 que se arroja al camino después de leerlo. 06 Soy mucho más 07 que esta boca 08 que entre la tuya despiadado exprimes 09 intentando extraerle tiernos jugos 10 con palabras de amor que no concibes. 11 Soy mucho más 12 que estos ojos 13 insertos en la cuenca del desierto 14 de una luz transparente que no alcanza 15 a alumbrar las tinieblas de tus huesos. 16 Soy mucho más 17 que estos senos 18 livianos y cálidos, que tu lascivia anhela 19 morder ávidamente como frutas maduras 20 para saciar el hambre de tus deseos. 21 Soy mucho más 22 que estas dos piernas 23 torvas columnas del sagrado templo 24 que con tu prisa impaciente y lujuriosa 25 profanar intentas con tus sucios besos. 26 Soy mucho más 27 que estas dos manos 28 blandas y sinuosas como trigo nuevo 29 que entre tus manos callosas e infectas 30 oprimes convulso cual si fueras fuego. 31 Soy mucho más 32 que esta lengua 33 suave y envolvente como blanca espuma 34 que entre los garfios de ácida lengua 35 enroscas vehemente cual serpiente negra. 36 Soy mucho más 37 que cuerpo, boca, ojos, 38 senos, piernas, manos, lengua. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 94 Zu Beginn des Gedichts ist vom ganzen Körper die Rede, danach von seinen einzelnen Körperteilen, in der Reihenfolge Mund, Augen, Brüste, Beine, Hände und Zunge. Das Durchstreifen der Körperlandschaft steigert die erotische Spannung bis zum Klimax in Vers 39, wo der Titel des Gedichts als vollständige Satzeinheit noch einmal aufgegriffen wird. Zudem geht der hypotaktische Stil in einen parataktischen Aufbau über, der von der Anapher „Soy“ bestimmt wird. Die Vereinigung zwischen Ich und Du vollzieht sich in SMM nicht auf harmonische Weise, sondern in Form eines konflikthaften Gefechts, einer erotischen Kampfhandlung, die sich auf pragmatischer Ebene in einem die Spannung steigernden Wechselspiel zwischen Ich-Aussage und angesprochenem Du äußert. Die Brutalität des Du drückt sich in den eine zerstörerische Bewegung erzeugenden Verben wie „estrujar“ (V.3), „exprimir“ (V.8), „morder“ (V.19), „profanar“ (V.25) und „enroscar“ (V.35) aus. Auch die zahlreichen Adjektive unterstützen die Brutalität des Du. Mit seiner „keuchenden Geilheit“ (V.18), seinen „schmutzigen Küssen“ (V.25), seinen „schwieligen und verdorbenen Händen“ (V.29) und seiner „sauren Zunge“ (V.34) versucht es, sich des Ich zu bemächtigen. Im Kontrast zu dem zerstörerischen Du steht die Schönheit aber auch die Begehrlichkeit des angegriffenen Körpers mit den „zarten Säften seines Mundes“ (V.9), seinen „heißen und erregenden Brüsten“ (V.18), seinen „zarten und kurvigen Händen“ (V.28) und seiner „sanften und einhüllenden“ Zunge (V.33). Das Ich scheint die gierige Lust des Du durch sein eigenes Begehren zu provozieren. Sein dürstender Körper lässt sich jedoch nicht „zerknittern“, „aussaugen“, „zerbeißen“, „entweihen“ und „festschrauben“. Die Gegenwehr drückt sich stilistisch in der immer wiederkehrenden Anapher „Soy mucho más“ aus, mit der das Ich schließlich im Kampf gegen das Du siegt. Es ist viel mehr als nur dieser Körper, der einfach zerstört werden kann: 39 Soy mucho más. 40 Soy tierra seductora. 41 Soy un paisaje de dulzura y niebla. 42 Soy el mar desbordante y cristalina 43 que se enfrenta a la roca ígnea y ferrea. 44 Soy la ternura seductora de la ola. 45 Soy la caricia perdida de la espera. 46 Soy la vida que surge en cada instante. 47 Soy la muerte que a cada paso acecha. 48 Soy el canto interminable de la alondra. 49 Soy el ritmo sensual. 50 Soy la cadencia. Das Ich ist die personifizierte Natur, es birgt Erde, Landschaften, das Meer und die Wellen in sich. Es trägt dabei nicht nur ihre Schönheiten, sondern 4.5 Entgrenzung 95 auch ihre überschäumende Kraft und ihre dunklen, undurchsichtigen Seiten in sich: „Soy el mar desbordante“ (V.42), „Soy un paisaje de dulzura y niebla“ (V.41). Die Schlusswendung bildet die Kadenz (V.50), in der Rhythmus, Takt und Tempo in einem vielstimmigen Zusammenklang ertönen. In dieser Kadenz vereint das Ich die Welt in sich: Es ist Verführung und verlorene Zärtlichkeit (V.40, 45), Leben und Tod (V.46, 47), Rhythmus und Gesang (V.48, 49). Das gesamte Gedicht ist von einer Bewegung hin zum Licht gekennzeichnet, die durch den Kontrast zwischen dem Du als zerstörerische und dem Ich als erhaltene Kraft erzeugt wird. Die Augen des Ich spiegeln nicht nur dessen Schönheit und Begehrlichkeit wider, sondern auch seine Verlassenheit, ausgedrückt im Bild des ausgebrannten Wüstenbeckens (V.13). Das Licht in seinen Augen kommt nicht gegen die Dunkelheit an. Das zerstörerische Du bezeichnet nicht nur die drängende Begierde des Mannes, sondern symbolisiert auf höherer, universaler Ebene die Vergänglichkeit des Lebens bzw. den nahenden Tod, die düstere Einsamkeit und auch das schmerzhafte Leiden am Leben und führt damit all diese Dunkelheiten zusammen. Der Sieg im Kampf gegen die Finsternis (V.20) besteht im Sich- Loslösen von der Körperlichkeit. Gleichzeitig ist es der Körper selbst, in dem sich die Welt vereint. Im letzten Teil des Gedichts wird deutlich, dass das Ringen zwischen Ich und Du nicht in lichtem Frie-den beendet wird. Der Kontrast löst sich nicht auf, denn das Du ist nichts Äußeres, Anderes, das besiegt werden kann, sondern es ist ein Teil des Ich. Die Dialektik von Licht und Dunkel besteht im letzten Gedichtteil fort, was vor allem im Paradox „Soy la vida que surge en cada instante. / Soy la muerte que a cada paso se acecha.“ (V.46f) niederschlägt. Das Ich stellt nicht nur das kraftvolle Leben in jedem Moment dar, sondern auch den lauernden Tod, die besiegte Dunkelheit bleibt in ihm bestehen. Wie in Pasarelas der Aufbruch nicht in Freiheit mündet, sondern immer auch bruchhaft mit der Rückkehr verwoben ist, ist es hier die Vereinigung, in der das immer gebrochen Unvollständige mitschwingt. Das Bruchhafte wird aber insofern überwunden, als dass die Grenzen des Körperlichen in einem grenzenlosen Universum aufgehoben werden. Damit löst sich der Gegensatz zwischen innerhalb und außerhalb des Körpers auf. In SMM wird deutlich, dass Identität nicht mehr an einen äußeren Raum gebunden ist. Das Sprengen von Körpergrenzen repräsentiert ein Loslösen von räumlichen Grenzen und damit eine Befreiung des Subjekts von der räumlichen Abhängigkeit seiner Identität. Die Ich-Botschaft, die von SMM ausgeht, lautet: Ich bin nicht weder die Eine noch das Andere, noch bin ich sowohl das Eine als auch die Andere oder etwas dazwischen. Ich bin noch viel mehr. 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 96 4.6 Zwischenfazit: Existentielle Situation Sowohl in den lyrischen als auch den narrativen Texten der Untersuchung verdichtet sich das Exil als Erfahrung des Bruchs und des Verlustes, wobei sich mehrere Spannungsfelder von Autopoiesis herauskristallisieren: Zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Teilung und Dopplung, zwischen Verlust und Gewinn. Die Ausgrenzung steht in Beziehung zum Verlust von Vergangenheit und Heimat. In den untersuchten Gedichten von Nivaria Tejera und Gina Pellón treten die Motive des Vergangenheits- und des Selbstverlusts, der Abwesenheit und Leere und des lebendigen Todes wiederholt auf. Der Selbstverlust drückt sich auch in der körpersemantischen Dimension des versperrten Blicks auf das eigene Ich aus. Begrifflich lässt sich die Ausgrenzung als ein von außen vorgenommener Prozess fassen: man wird ausgeschlossen. Die existentielle Leere und der Selbstverlust bestimmen sich daher in einem Abhängigkeitsverhältnis zur ausgrenzenden Instanz. Die Wut der im Exil Ausgegrenzten richtet sich im konkreten politischen Kontext auf das Castro-Regime, was anhand von Tejeras REV verdeutlicht wurde, das passagenweise den Charakter einer vorwurfsvollen Schmähschrift gegen Fidel Castro persönlich aufweist. Der Fall des kubanischen Exils ist insofern problematisch, als dass Ausgrenzungen im Namen des revolutionären Emanzipations-, und Freiheitsversprechens stattfinden. Als Dissidentin positioniert sich die Autorin Tejera seit 1965 gegen die kubanische Revolution, die zu dieser Zeit von lateinamerikanischen Intellektuellen in Paris noch als Hoffnungsträger einer panlateinamerikanischen Identität euphorisch begrüßt wurde. In ihrer revolutionsenttäuschten Haltung der Abgrenzung nimmt sich die Autorin als doppelt marginalisiert wahr: zum einen als kubanische Autorin im Exil und zum anderen als kubanische Exilantin unter den lateinamerikanischen Schriftstellern in Paris. Die Marginalisierung als Folge der Ausgrenzung bedingt wiederum die Eingrenzung, die in den Motiven Einsamkeit und Isolation zum Ausdruck kommt. Die lyrischen Texte von Pellón und Tejera lassen eine ähnliche Bildersprache erkennen, die metaphorisch auf Undurchdringlichkeit und unüberwindbare Hindernisse verweist, wie z.B. die Motive des Nebels oder des Fensters. Ein entscheidendes Merkmal der Eingrenzung ist zudem die Alteritätserfahrung des Exils und damit einhergehend eine existentielle Ich-Konstitution, die weder im Hier noch im Dort verhaftet ist, weder im Gestern noch im Heute. Sowohl auf materieller Ebene, im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit, als auch auf diskursiver Ebene, als kulturell Anderer, gehört der Exilant der Aufnahmegesellschaft nicht an und ist damit als gesellschaftlicher Niemand unsichtbar. In diesem Zusammenhang zeigt sich die Problematik, die mit dem Versuch einer Selbsterneuerung verbunden ist. Denn bei jedem neuen Selbst- 4.6 Zwischenfazit: Existentielle Situation 97 entwurf ist ein Loslösen von der eigenen Geschichte unmöglich. Trotz Abgrenzung bleibt Kuba der Vexierpunkt, auf den sich die kubanische Diaspora innerhalb eines transnationalen Kontexts bezieht. Hierbei verlaufen Abgrenzungsmechanismen nicht nur zwischen Frankreich und Kuba. Das Beispiel der Publikationsmöglichkeiten für die kubanischen AutorInnen in Paris verdeutlicht, dass sich die Bezugsrahmen in diesem transnationalglobalen Kontext erweitert haben, was wiederum changierende Selbstpositionierungen je nach situativem und diskursivem Standpunkt erzeugt. Diese Narrativierungen bestimmen das Selbst in Differenz zum Anderen. Die transnationale Relationalität zeigt einerseits - wie am Beispiel des Lebens in Paris - ein kosmopolitisches Selbstverständnis auf. Gleichzeitig stellt die diasporische Rückbezogenheit auf Kuba andererseits eine monokulturell gedachte Positionierung dar (vgl. Antor 2006: 36). Im Spannungsfeld zwischen Verlust und Gewinn ist die Aufbruchsbewegung ein entscheidender Moment, der eine dynamische Öffnung hin zu neuen Welten ermöglicht. Während bei Tejera die „Ich-Fragmentierung“ im Vordergrund steht, sticht in Machíns Roman die „Ich-Pluralisierung“ hervor (vgl. Birk/ Neumann 2002: 121). Die Offenheit der autofiktionalen Erzählstruktur, in der sich raum-zeitliche Ebenen überlagern, verweist auf eine Entgrenzung des Ich, das seine Körpergrenzen sprengt. Trotz dieses Entgrenzungsmoments lässt sich die Dialektik von Aufbruch und Rückkehr nicht zu einer Seite hin auflösen. Der befreiende Aufbruch, die Flucht in die Erinnerungen mittels derer das Erlebte identitätsstiftend rekonstruiert wird, steht in einem zyklischen Verhältnis zur Rückkehr, das Zurückgeworfensein in die Grenzen des gebrochenen Körpers. In dieser Brüchigkeit, die sich auch in der diskontinierlichen Erzählstruktur äußert, ist Machíns Autofiktion wiederum mit der Autopoiesis Tejeras vergleichbar. Bei Tejera verweist das labyrinthische Umherirren des Textsubjekts am existentiellen Abgrund auf die Suche nach dem eigenen Zentrum, eine Suche nach Selbstbezeichnung und Selbstverständnis, die im immer differentiellen Bedeutungsaufschub ihren Ursprung bereits verloren hat. In dieser permanenten Differenzstruktur er-fährt das exilierte Selbst einen Zustand des Treibens und Getriebenseins, das immer wieder um eine existentielle Substanzlosigkeit kreist. Dadurch ist der Versuch einer sinnstiftenden (Re)Konstruktion des Ich zum Scheitern verurteilt, was die Schlusspassage des Untergangs in Tejeras REV verdeutlicht. Das die Existenz vernichtende Scheitern steht im Kontrast zur lebensbejahenden Rhetorik der Wiedergeburt bei Eyda Machín. Tejera verdichtet das Exil autopoietisch in Hinsicht auf die postmodernen Momente der Trennung, Dezentrierung und Spaltung eines ursprungslosen Subjekts. Das Subjekt ist in einem steten Prozess der Auflösung und Neuformierung begriffen. Bei Machín zeigt sich neben diesem konstruktivistischen Identitätsverständnis des steten Neuentwurfs auch ein essentialistischer Begriff vom Wesenhaf- 4. Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung 98 ten des Selbst. Ihre Poetik zielt auf eine Einheit in der Vielfalt hin, was an ihrem Gedicht „Soy mucho más“ verdeutlicht wurde, in dem ein an keine Grenzen gebundenes Ich nicht nur die Vielheit der Welt in sich vereint, sondern auch das Du seiner beunruhigenden Alterität, die gänzlich in die Identität mit eingesogen wird. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 5.1 Stimme, Sprachigkeit und Sprachlichkeit Im Spannungsfeld von Sprachverlust und Wortergreifung wird es darum gehen, wie das Sprechen selbst zur Sprache gebracht wird. Dabei wird schon in Hinsicht auf die Ausgrenzung die Phänomenologie der Stimme methodisch in den Vordergrund gerückt, um anhand der Untersuchung der Motive Stille, Schweigen und Vergessen ihre „Hörbarkeit, Ereignishaftigkeit und Fremdheit“ zu erfassen. 1 Mit der Verlagerung von der Sichtbarkeit im vorangegangenen, zur Hörbarkeit in diesem Kapitel wird das Sprechen selbst zum Thema und die Stimme zu einem „performativen Phänomen par excellence“ (ebd.: 11). Nicht nur das, was die dichterische Stimme vermittelt, sondern der „Akt der Setzung“ und damit das „Wie“ der „Bezugsetzung“ rückt dabei ins Zentrum des Interesses. 2 Doris Kolesch und Sybille Krämer führen verschiedene Aspekte der Performativität von Stimme auf, die der folgenden Analyse von Grenzziehungen und Entgrenzungen als Grundlage dienen: 1. Die Ereignishaftigkeit der Stimme, die die Frage ihrer Wirksamkeit und Wahrnehmbarkeit im Moment ihrer Entäußerung impliziert. Unter diesem Aspekt wird auch der Sprechakt als Form des Sprechereignisses erfasst, der das Reden als Handeln konstruiert (vgl. Kolesch / Krämer 2006: 8). 2. Der Verkörperungscharakter von Stimme als Spur eines individuellen und sozialen Körpers, 3. die Intersubjektivität und Sozialität der Stimme, die als Appell an den Anderen Macht und Ohnmacht „untrüglich zur Geltung“ bringt und 4. das Transgressionspotential, das der Eigendynamik der Stimme an semiotischen und medialen Bruch- und Schnittstellen Rechnung trägt (vgl. Kolesch / Krämer 2006: 11). 3 Im Hinblick auf diese Kategorien wird die poetische Funktion der dichterischen bzw. verdichteten Stimme reflektiert. Die lyrische Stimminstanz entäußert sich im Medium Schrift, in das sie im Sinne einer „meta- 1 Vgl. Kolesch, Doris / Krämer, Sybille (2006): „Stimmen im Konzert der Disziplinen“. In: Dies. (Hg.): Stimme. Frankfurt: Suhrkamp, 13. 2 Vgl. Mersch, Dieter (2006): „Präsenz und Ethizität der Stimme“. In: Kolesch / Krämer (Hg.), 229. Mersch bezieht sich mit dem Begriff der Bezugsetzung auf Platon. Die Kursivsetzungen des Autors wurden beim Zitieren übernommen. 3 Die Autorinnen fügen noch eine fünfte Kategorie hinzu, die des „Aufführungscharakters“ der stimmlichen Verlautbarung, der für die folgenden Betrachtungen ausgespart wird. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 100 phora herübergetragen“ wird, d.h. in diesem Medium wird sie eingesetzt und inszeniert, und zugleich übertragen und vermittelt (vgl. Mersch 2006: 218, Hervorhebung Mersch). 4 Lautlichkeit und Klanglichkeit sind der Lyrik gattungsspezifisch jedoch immer inhärent, so dass die dichterische Stimme an der intermedialen Schnittstelle zwischen schriftlicher Vermittlung und mündlicher Verlautbarung, also zwischen Semiotik und Akustik, hörbar wird, wobei die Schrift der Stimme vorausgeht. 5 Im Kapitel zur Ausgrenzung möchte ich zeigen, wie vor dem Hintergrund des Schweigens und der Stille das Wortergreifen zum Ereignis wird. Der Akt des Sprechens nimmt damit eine metapoetische Funktion ein, in der die Sagbarkeit selbst zur Sprache gebracht wird und die Dichtung sich in ihren (Sprach)Handlungsmöglichkeiten reflektiert. Hierbei wird in Bezug auf die Phänomene der Ausgrenzung und der Eingrenzung das Konzept des ÜberLebenswissens im Sinne Ettes einbezogen, das die Verdichtung von erlebtem Wissen als „Wissen über Leben“ erfassbar macht, das aber auch die existentielle Dimension des „Überlebens“ in der und durch die Literatur einbezieht (2004: 21). 6 Mir geht es zunächst darum zu zeigen, dass die Stimme, bevor sie performativ eingesetzt werden kann, zuallererst der Erfahrung der Ausgrenzung ausgesetzt ist. In den Gedichten von Miguel Sales, die er auf Kuba in politischer Haft verfasste, schreibt sich die Erfahrung des Überlebens in das Ereignis der Wortergreifung ein. An diesem Sonderfall des Schreibens aus der Gefangenschaft heraus soll hervorgehoben werden, inwiefern die poetische Handlung zu einer Form des Widerstandes wird, in der die Stimme sich ihrem Ausgesetztsein im Schweigen widersetzt. Der Aspekt des ÜberLebenswissens ist auch im Kontext des Exils ausschlaggebend. Denn die Wortergreifung, d.h. eine Stimme zu haben und überhaupt sprechen zu können, sichert das Überleben am existentiellen Abgrund der Ver-Nichtung im Exil. Hierbei spielt im Hinblick auf die oben aufgestellten Kategorien neben der Ereignishaftigkeit des Sprechaktes und des dichterischen Handelns der Verkörperungscharakter der Stimme eine Rolle (vgl. Punkt 2 bei Kolesch / Krämer). Wenn Schreiben zum Motor des Überlebens wird, verkörpert sich die Stimme als Spur eines vom Unter- 4 Die Überlegung der meta-phora nimmt Mersch in Anlehnung an Hans Blumenbergs Metapherntheorie vor. 5 Vgl. hierzu Mersch: „Weil nämlich die Stimme etwas sagt, das Sagen jedoch stets schon das Zeichen mitführt, geht folglich auch die Schrift der Stimme voraus. Sie bricht mit der Gegenwärtigkeit der Stimme, weil sie diese allein als Medium versteht, das heißt der Sekundarität ihrer Mediatisierung schon unterstellt hat“ (2006: 217). 6 „Dass das Lebenswissen der Literatur in der Konfrontation mit existentieller Bedrohung, mit dem Tod selbst zum Lebensmittel und damit zum Überlebenswissen werden kann,“ zeigt Ette anhand von ‚Auswanderung’ und ‚Lagererfahrung’ am Beispiel von Hannah Arendt, Emma Kann, Werner Krauss und Max Aub (ebd.). 5.1 Stimme, Sprachigkeit und Sprachlichkeit 101 gang bedrohten und sich im Prozess ständiger Auflösung befindlichen Körpers, der sich überhaupt nur im Schreiben konstituiert. Die Prekarität von Existenzverlust und Wiederherstellung korreliert zugleich mit dem zwischen Sprachverweigerung und Wortergreifung. Dass Stimme, Text und Körper in diesem spannungsgeladenen Verhältnis nicht voneinander loszulösen sind, wird anhand von Nivaria Tejeras poetischem Roman Huir de la espiral (2010) verdeutlicht. Unter Einbezug der poststrukturalistischen Theorie Kristevas in La révolution du langage poétique wird gezeigt, wie der Roman die symbolische Ordnung der Sprache und deren kommunikative und bedeutungsstiftende Funktion unterwandert und die „signifikante Praxis“ (pratique signifiante) als semiotischen Prozess einer kontinuierlichdiskontinuierlichen Sinngebung (procès de signifiance) offen legt. 7 Mit dieser auf das Zeichensystem ausgerichteten Theorie können gleichzeitig die resonanten Eigenschaften des Romans untersucht werden. Denn in seiner ‚akustischen’ Qualität, durch die Laute und Stille erzeugt wird, kristallisiert sich das Phänomen der sprachlichen Eingrenzung heraus. Wird die Hörbarkeit der stimmlichen Verlautbarung zum Thema, so treten die unter Punkt 3 aufgeführten Aspekte der Intersubjektivität und Sozialität von Stimme ins Zentrum des Interesses. Grundsätzlich wirft das Phänomen der Eingrenzung die Frage nach Resonanzbeziehungen auf, die auf textimmanenter, rezeptionstheoretischer und literatursoziologischer Ebene ermittelt werden. Laut Roland Spiller ist die Resonanz das Grundprinzip der Dichtung: La poesía es creación. Como poiesis busca la unión con la vida y con el mundo. Su principio central es la resonancia. La resonancia es más que la meritoria búsqueda del díalogo con el otro en la polifonía social, es la vibración compartida de los ritmos y sonidos, de la musicalidad […]. Como espacio de resonancias de la sociedad la poesía abarca no solamente lo auditivo, las voces y sonidos múltiples, sino también lo visual, las imágenes mediales, el espacio y el tiempo. 8 Besonders in Bezug auf die hier zu untersuchenden lyrischen Texte stellt sich im Kontext des Exils die Frage, ob das dichterische „In-die-Welt-Herausrufen“ auch auf Resonanz trifft und in welche intersubjektiven Beziehungen das Schreiben im Exil eingebunden ist. Denn die jedem literarischen Dialog inhärente „Dysjunktion von Produktion und Rezeption“, bei der die eigene der fremden Stimme gegenübertritt, 9 wird zu einem entscheidenden Charakteristikum des sprachlich-kulturellen displacement im 7 Vgl. Kristeva, Julia (1974): La révolution du langage poétique. Paris. Seuil, 13f. 8 Spiller, Roland (2011): „Resonancias de la diferencia: la poesía en vía hacia la transculturalidad“. In: Iberoamericana XI: 43, 193f. 9 Vgl. Waldenfels, Bernhard (2006): „Das Lautwerden der Stimme“. In: Kolesch / Krämer (Hg.), 193. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 102 Exil. Auf literatursoziologischer Ebene bedeutet dies, dass existierende Resonanzbeziehungen auch zum Bestandteil des ÜberlebensWissens für ExilschriftstellerInnen gehören. „Life in exile, abroad, in a foreign element, is essentially a premonition of your fate in book form“, heißt es bei Brodsky (1991: 6). Im Hinblick auf die Abgrenzung und die Entgrenzung richtet sich das Interesse auf das Verhältnis zwischen „Sprachlichkeit“ und „Sprachigkeit“. Während erstere sich auf „einzelne langages“, also Art und Charakter der Sprachverwendung innerhalb eines Sprachsystems bezieht, verweist die Sprachigkeit als langue auf eine Einzelsprache, d.h. eine „natürliche“ Sprache bzw. eine Nationalsprache. 10 Die literarischen Stimmen der kubanischen AutorInnen im Exil lassen sich angesichts ihrer sprachlichen und „sprachigen“ Position(ierung) und ihres kulturellen Selbstverständnisses folglich mit den Begriffen der Heterofonie („Anderssprachlichkeit“, Begriff von Waldenfels 2006: 193), der Exophonie („Anderssprachigkeit“, vgl. Arndt u.a.: 2007) und der Polyphonie („Vielsprachigkeit“ bzw. „Vielstimmigkeit“, vgl. Bachtin 1979) erfassen. 11 Alle drei Begriffe verweisen auf das Transgressionspotential der Stimmergreifung (Punkt 4 der Kategorien von Kolesch / Krämer). In Bezug auf die Phänomene von Sprachlichkeit und Sprachigkeit wird der performative Akt des Stimmgebrauchs als kulturspezifische Bezugsetzung zum Kriterium, durch das die sprachliche Positionierung der kubanischen AutorInnen in Paris ermittelt wird. Dies geschieht unter Rückgriff auf die Intertextualitätsanalyse. Hierbei stütze ich mich weniger auf Kristevas dezentralistischen Intertextualitätsbegriff, nach dem sich jeder Text aus einem Mosaik von Zitaten zusammensetzt und so andere Texte in einer grenzenlosen und beliebigen Sinnstreuung und -vervielfältigung absorbiert und transformiert, sodass die Eigenständigkeit eines Textes hinter einem unendlichen Verweisungszusammenhang ver- 10 Diese Unterscheidung stellen Arndt / Stockhammer / Naguschewsky auf. Vgl. Arndt, Susan / Naguschewsky, Dirk / Stockhammer, Robert (2007): „Die Unselbstverständlichkeit der Sprache“. In: Dies. (Hg.): Exophonie: Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 7-30, 25f. Die Autoren weisen darauf hin, dass Literatur immer schon eine Form der „Anders-Sprachigkeit“ ist, da sie sich vom alltagssprachlichen Gebrauch abhebt. In diesem Sinne ist „die Sprache der Literatur auch als Fremd-Sprache zu betrachten.“ Wintersteiner, Werner (2006): Poetik der Verschiedenheit. Literatur, Bildung, Globalisierung. Klagenfurt: Drava Verlag, 126. 11 Michail Bachtin verwendet den Begriff der Polyphonie, um damit die Dialogizität des Romans in seiner Stimmen-, Rede-, und Sprachenvielfalt zu charakterisieren (1979: 353f). Renate Lachmann (1990) zeigt, dass der Begriff entgegen Bachtins Konzeptualisierung, der von der Totalität und Einheitlichkeit des dichterischen Wortes ausgeht, auch auf das Genre der Lyrik angewendet werden kann. Auch neuere Untersuchungen sprechen von „lyrischer Polyphonie“, z.B. Spiller 2011 und Hernández, Consuelo (2009): Voces y perspectivas en la poesía latinoamericana del siglo XX. Madrid: Visor Libros. 5.1 Stimme, Sprachigkeit und Sprachlichkeit 103 schwindet. 12 Vielmehr steht die situierbare Beziehungsqualität beim Ermitteln intertextueller Referenzen im Vordergrund: „Die Weise, wie ein Text einen Text vergegenwärtigt, sagt zugleich etwas darüber aus, wie der Text sich zu dem Text verhält, den er hervorruft. [...] Diese Bezogenheit bedeutet nicht eine Dezentrierung des Textes, sondern vielmehr seine Situierung“. 13 Dennoch stehen im Kontext des Schreibens zwischen den Welten Dezentrierung und Situierung in einer dialektischen Beziehung zueinander. Dies verdeutlicht der starke sprachlich-sprachige Rückbezug auf Kuba, mit dem die ExilautorInnen Abgrenzungslinien zwischen „ihrem Eigenen“ und dem ihnen „Fremden“ ziehen. Intertextuelle Bezüge werden produktionsästhetisch als „Erinnerung an die Lektüre eines Textes“ in einen anderen Text hineingespielt (vgl. Stierle 1996: 358). Mit der Vergegenwärtigung bestimmter (kanonischer) Texte und historischer Kontexte Kubas wird die Insel aus dem Exil heraus zurückerobert. Darüber hinaus verhält sich die Intertextualität immer auch als heterofone „Doppelungsstrategie“, durch die sich literarische Stimmen in einem Prozess der „De- und Rekomposition“ überlagern (vgl. Lachmann 1990: 12). „Die Intertextualität der Texte zeigt das Immer-Wieder-Sich-Neu- und Umschreiben einer Kultur“, so Lachmann (ebd.: 36). Das Neu- und Umschreiben bzw. auch das schlichte Aufschreiben in Form des expliziten intertextuellen Zitats gewinnen in Bezug auf die De- und Reterritorialisierung der Autor- Innen an Bedeutung. Dies wird sowohl anhand der Alltagslyrik von Lira Campoamor und dem Gedicht „La otra rumba de María Belén“ von Miguel Sales, als auch am Beispiel von Texten des Sammelbandes Aldabonazo en Trocadero 162 (2008), einer Hommage an José Lezama Lima, gezeigt. Ein weiterer Aspekt der stimmlichen Transgression ist neben ihrer heterofonen Dopplung im Intertext ihre intermediale Qualität in der Verlautbarung. Irina Rajewksy fasst die Intertextualität als Unterkategorie der „intramedialen Bezüge“ auf, handelt es sich hierbei doch um eine Text- Text-Beziehung. 14 Die Intermedialität begreift sie als Relationen zwischen „einem oder mehreren semiotischen Systemen, wobei [...] per definitionem Mediengrenzen überschritten werden“ (Rajewsky 2002: 72). Erkenntnistheoretisch stellt ihr „kommunikativ-semiotischer“ Intermedialitätsbegriff die Interaktion zwischen mehreren semiotischen Systemen als produktiven, „verfahrenstechnischen Bestandteil der Umsetzung einer Bezug- 12 Vgl. Kristeva, Julia (1967): „Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman“. In: Critique 33: 239, 438-465. 13 Stierle, Karlheinz (1996): „Werk und Intertextualität“. In: Kimmich u.a. (Hg.), 357f. 14 Vgl. Rajewksy, Irina (2002): Intermedialität. Tübingen: A. Francke, 70f. Mögliche intramediale Relationen, also Bezüge zwischen Einzelmedien wären auch Bild-Bild, Film-Film etc. Rajewksys Konzeptualisierung wird im Folgenden angewandt, da sie eine umfassende Systematik der Intermedialität aufstellt. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 104 nahme“ in den Vordergrund (ebd. 63). 15 Zwei Beispiele werden für derartige intermediale Bezugnahmen an kulturellen und medialen Schnittstellen herausgegriffen: Miguel Sales’ Son-Gedicht dient als Beispiel für das Hören bzw. die Hörbarkeit an der intermedialen Überkreuzung zwischen Musik und Wort. Die Stimmenüberlagerung und polyphone Stimmenentgrenzung wird an der Schnittstelle zwischen Bild und Schrift am Beispiel der Ekphrasis untersucht, der sich Navarrete in La Canopea del Louvre (2008) bedient. Darüber hinaus wird anhand der beiden Textbeispiele das Phänomen der Transmedialität betrachtet, das neben der intermedialen Interaktion „medienunspezifische ‚Wanderphänomene’“ beschreibt, z.B. das Auftreten eines bestimmten Stoffes, der sich durch verschiedene Medien hindurchträgt (Rajewksy 2002: 12f). 16 Mit den hier erwähnten intertextuellen und intermedialen „Transpositionsmodi“ geht immer auch ein Übersetzungsprozess einher (vgl. Lachmann 1990: 11, und auch Rajewsky 2002: 63). Schon Roman Jakobson schließt diese Kategorien in seine Überlegungen zur Übersetzung mit ein. Er trifft die Unterscheidung zwischen der „intralingual translation“ als rewording, der „intersemiotic translation“ als transmutation und der „interlingual translation“, die er als translation proper, also der Übersetzung zwischen „natürlichen“ Sprachen auffasst. 17 Da die Praktiken des intra- und intersemiotischen Übersetzens und Übersetzens hier immer auch die Frage nach der kulturellen Positionierung bei der Bezugsetzung einschließen, wird im Folgenden ein erweiterter und performativer Übersetzungsbegriff angewandt, wie ihn de Toro mit dem Terminus translatio charakterisiert. Das Augenmerk liegt dabei auf me- 15 Dabei unterscheidet Rajewsky zwischen intermedialer Einzelreferenz und intermedialer Systemreferenz (2002: 65). Ihre Überlegung zur „Umsetzung einer Bezugnahme“ schließt an Karlheinz Stierles Intertexualitätsverständnis an: Der durch die erinnernde Lektüre hereingespielte Text ist ein „angeeigneter, umgesetzter, in Sinn oder Imagination überführter Text“ (vgl. 1996: 358, Kursivsetzung AG). 16 Hierbei entfällt nach Rajewsky die Unterscheidung in ein „kontaktgebendes“ und ein „kontaktnehmendes“ Medium, die in ihrer Intermedialitätssystematik ausschlaggebend ist (ebd.). 17 Jakobson, Roman (1971): „On linguistic aspects of translation“. In: Ders.: Selected Writings. Paris: The Hague, 261. Umberto Eco führt diese Überlegungen weiter aus: Die intralinguale Übersetzung, bei der Bedeutungsinterpretationen zur Kategorie von Übersetzung werden, hat bei ihm einen hermeneutischen Stellenwert (280). Die intrasemiotische Übersetzung stelle vor allem die Frage danach, wie die Interpretation durch den Adaptierenden beim Übergang von einem „Material zum anderen“ vermittelt wird (393). Bei der „translation proper“ geht es ihm um das Übersetzen von Sprachsubstanz, Inhaltssubstanz und Ausdruckssubstanz (64), wobei mit verschiedenen Zeichensystemen „quasi dasselbe“ zu sagen versucht wird. Eco, Umberto (2006): Quasi dasselbe mit anderen Worten. München: dtv. 5.1 Stimme, Sprachigkeit und Sprachlichkeit 105 dialen und kulturspezifischen Rezeptionen und Transformationen. 18 Die translatio schließt somit Prozesse der cultural translation mit ein, die die Performativität von kulturellen Aneignungen bei Übersetzungsprozessen in den Vordergrund rückt (vgl. Bhabha 2004: 325). Dabei gewinnt die Übersetzung einen eigenen, vom „Original“ emanzipierten Stellenwert. 19 Gleichzeitig zielt diese Konzeptualisierung - im Gegensatz zu einem universalen Verständnis von Übersetzung - auf einen Übersetzungsbegriff in situ ab, verstanden als „Vorgang, Geschehen, Ereignis oder Praxis“ in Situationen des Kulturkontakts (vgl. Scharlau 2002: 13). Die Frage nach der interkulturellen Dialogizität steht also im Vordergrund. Für das Spannungsfeld von Exil und Transkulturalität, das zwischen Abgrenzungslinien und Entgrenzungsprozessen erörtert wird, bedeutet dies: Exile texts can be examples of transculturation, where they reflect the resulting cultural change induced by the introduction of elements of foreign culture. On the other hand, exile texts are also an example of regionalism in as much as their language maintains ties that can be trayed back to the author’s country of origin. (Mc Clennen 2004: 125) Darüber hinaus wird die translation proper, also die interlinguale Übersetzung, im Abschnitt über die Entgrenzung besondere Beachtung finden. Aufgegriffen werden hierbei nicht nur Übersetzungsbeispiele aus den spanischsprachigen Texten, die ins Französische übertragen wurden. Auch die Übersetzungskontexte werden mit einbezogen, in denen die Werke der im Exil lebenden AutorInnen eingebunden sind. Im Zuge dessen erfolgt eine analytische Verlagerung vom Phänomen der Sprachlichkeit hin zur Sprachigkeit. Im Hinblick auf die Exophonie („Anders-Sprachigkeit“) wird die Position der hispanophonen AutorInnen in einem frankophonen Umfeld diskutiert. Dabei wird ihre Bezugsetzung zur französischen Sprache in den 18 Toro, Alfonso de (2008): „Translatio e historia“. In: Franco, Rafael Olea (Hg.): In Memoriam. Jorge Luis Borges. México D.F.: El colegio de México, Centro de Estudios Lingüísticos y Literarios, 191. Dass de Toro sein Übersetzungsverständnis auf die Begriffe „recodificación“, „transformación“ und „reinvención“ bezieht (ebd.: 192), wird vor dem Hintergrund seiner Borges-Forschung verständlich. Immerhin stammt von Jorge Luis Borges der vielzitierte Satz: „El original es infiel a la traducción.“ Borges, Jorge Luis ([1952]1996): „Sobre el Vathek de William Beckford“. In: Ders.: Obras completas. Band II. Barcelona: Emecé, 109. 19 Dies wurde am Radikalsten von Derrida formuliert, der mit seinem Begriff der différance jegliche Identität zwischen zwei Texten dekonstruiert. Das Übersetzen kennzeichnet sich durch Transformationen und Modifikationen, einem „à-traduire comme loi“, durch die die Sprache(n) sich selbst zur Sprache bringen. Vgl. Derrida, Jacques (1987): „Des Tours de Babel“. In: Ders: Psyché: Inventions de l’autre. Paris: Galilé, 203-235. Vgl. auch Birgit Scharlaus Zusammenfassung zu Derridas différance- Begriff in Bezug auf das Übersetzen. Scharlau, Birgit (2002): „Übersetzungsforschung zu Lateinamerika“. In: Dies. (Hg.): Übersetzen in Lateinamerika. Tübingen: Gunter Narr, 15. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 106 Blick genommen und schließlich ihre Vielsprachigkeit als transkulturelles Potential beleuchtet. Zur Veranschaulichung dieser exophonen Phänome werden Textbeispiele von Eyda Machín, Nivaria Tejera, José Triana und Eduardo Manet in die Analyse einbezogen. Letzterem kommt im Kontext des Übersetzens besondere Beachtung zu, da Manet einen Sprachwechsel vollzogen hat und von Paris aus als frankophoner Autor über Kuba schreibt. Wie in Kapitel 4 Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung, zeigt sich auch im Spannungsfeld zwischen Sprachverlust und Wortergreifung die konflikt- und krisenhafte Situation, der die dichterische Stimme im Exil ausgesetzt ist, was anhand der Phänomene von Ausgrenzung und Eingrenzung verdeutlicht wird. Der Akt der Setzung wird als Folge des Ausgesetzt- Seins begriffen. Aus ihm geht hervor, dass die Stimme sich einsetzt und sich dem Vergessen(-Werden) widersetzt. In Bezug auf Grenzziehungs- und Entgrenzungsphänomene stellt sich aber vor allem die Frage, ob die Stimme sich auch durchsetzt, hörbar wird und auf Resonanz stößt. 5.2 Ausgrenzung 5.2.1 El olvido: Das Verstummen der Stimme Ausgehend von der These, dass das Phänomen der Sprachlosigkeit als Folge der Ausgrenzung begriffen werden kann, wird an dieser Stelle das Motiv der Stille im Kontext des Exils ins Auge gefasst. Das Wort „silencio“ lässt sich aus dem Spanischen sowohl mit „Stille“ als auch synonym mit „Schweigen“ übersetzen. Während Stille Geräusch- und Lautlosigkeit im weiteren Sinn bedeutet, definiert sich das Schweigen konkreter über die antonymische Opposition zum Sprechen und verweist damit auf die Abwesenheit von Stimmen. Was bedeutet es für die dichterische Stimme, wenn die Stille zur Sprache und das Schweigen zum Sprechen gebracht werden? 20 Der Vers „No rompas mi silencio de isla remota“ leitet Navarretes Gedicht „Elegía sin flor“ (EsF, IP 134) ein. Bereits daran wird das Paradox von Schweigen und Sprechen deutlich. Denn mit einem Imperativ fordert das lyrische Ich ein Du auf, seine Stille nicht zu stören, vollzieht damit aber gleichzeitig einen kommunikativen Akt, durch den das Schweigen aufgebrochen wird. Die dialogische Grundsituation durchzieht auf binnenpragmatischer Ebene das gesamte Gedicht. 20 Zu den folgenden Überlegungen vgl. auch Gremels, Andrea (2010): „,No rompas mi silencio de isla remota’. El tema del silencio en la poesía cubano-parisina“. In: Gremels / Spiller (Hg.), 203-211. 5.2 Ausgrenzung 107 Elegía sin Flor 01 No rompas mi silencio de isla remota. 02 En él se refugian las miradas de los hombres de mar, 03 la sal de las tinieblas, el brillo de las escamas 04 de los peces, el horizonte infinito, 05 el alma endeble, la grandeza de la tierra, 06 la paz que lleva mi cautiverio dentro. 07 No busques mi nombre. 08 Ya no existo. 09 Soy pacto después de la batalla, reposo de la lanza, 10 el pájaro sin canto, la tregua de las Furias. 11 No seques tu flor en mi memoria, 12 te prohíbo que penetres el hechizo de las piedras, 13 las brumas del océano, mi santuario de hombre 14 perseguido por el fatídico destino de las islas. 15 Ofrécele tu flor a quien ignore 16 por qué me has dedicado una elegía. Im ersten Gedichtteil fungieren die Bilder „escamas, peces, horizonte infinito“ als konstitutive Elemente, die das Meer visualisieren. Damit evoziert Navarrete die Insel Kuba, „la isla remota“, die einerseits ein Refugium der Stille markiert, einen Ruhepol bzw. einen Ort des Waffenstillstands, an den sich das lyrische Ich nach geschlagenen Schlachten zurückzieht (V.9). Andererseits vermittelt die Weite und Tiefe des Meeres auch eine beunruhigende Atmosphäre der Finsternis, „la sal de las tinieblas“ (V.3) und des Nebels, „las brumas del océano“ (V.13). Die dunkle Stimmung wird jedoch gleichzeitig von lichten Bildern begleitet, die innerhalb der jeweiligen Verse auf die Zäsur folgen. Somit wird auf semantischer Ebene eine Ambivalenz zwischen Ruhe und Beunruhigung erzeugt. In Vers 3 wird die Finsternis mit dem Glanz - „el brillo“ - kontrastiert, so wie in Vers 13 die Nebelschwaden des Ozeans zur Heiligenstätte emporgehoben werden - „mi santuario de hombre“. Durch das Enjambement wird dieser akkusativische Satzteil durch einen Partizipsatz erweitert: Es handelt sich um die Heiligenstätte des Menschen, der verfolgt wird vom „fatídico destino de las islas“ (V.14). Das lyrische Ich ist sowohl ein von seinem Inselschicksal Verfolgter als auch ein darin Gefangener. Dieses innere „cautiverio“ (V.6) verweist im Kontext der Ausgrenzung im Exil wiederum auf den verlorenen Ursprung, der das Leben des Exilanten stets begleitet. Betrachtet man die zentralen, parataktischen Verse des Gedichts „No busques mi nombre. / Ya no existo.“ (V.7-8), so wird darüber hinaus deutlich, dass der verlorene Ursprung mit dem Verlust der eigenen Identität einhergeht, dem hier mittels der Anonymität, also der Namenlosigkeit, Ausdruck verliehen wird, ist doch der Name Beweis für die eigene Existenz. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 108 Die namenlose Inexistenz des Ich geht mit dem Verstummen seiner Stimme einher, das sich vor allem in der Metapher „el pájaro sin canto“ (V.10) niederschlägt. In dem Maße, wie das Ich als Gefangener der evozierten Szenerie von Meer und Insel erscheint, die zugleich beruhigend und verstörend wirkt, so ist es auch in seiner Stille eingesperrt, die eigentlich Frieden verschafft und doch gestört wird. So wie die Bilder des unheilbringenden Inselschicksals zu ihm sprechen und nicht zum Schweigen gebracht werden können, so verstummt auch das Ich nicht, denn es bricht sein Schweigen, indem es sich an ein Du wendet. Die häufige Verwendung von verneinenden Imperativen wie „no rompas“ (V.1), „no busques“ (V.7) und „no seques“ (V.11), die in der appellierenden Botschaft „te prohíbo“ gipfeln (V.12), macht deutlich, dass das Ich innerhalb der kommunikativen Situation eine abwehrende Haltung einnimmt. Es spricht und will doch schweigen. In diesem Zusammenhang lässt sich das Motiv der Stille als Versuch des Vergessens begreifen, der von den (ver)störenden Erinnerungen an die Insel beeinträchtigt und unterwandert wird. Die pragmatische Grundsituation des Gedichtes ist ein Hinweis auf die bereits angesprochene Spaltung des Ich und das Erschaffen eines „textuellen Doppelgängers“ (Bronfen 1993: 171). Dieses Phänomen erzeugt in Bezug auf die Verse „No seques tu flor en mi memoria / te prohíbo que penetres el hechizo de las piedras“ (V.11-12), eine besondere Spannung. Darin ist einerseits die Aufforderung an das Du enthalten, weiterhin im Gedächtnis des Ich lebendig zu bleiben, was sich in der Metapher der Blume niederschlägt. Andererseits verweisen die Steine, deren Zauber zu durchdringen dem Du verboten wird, auf das Du als störende Instanz eines unlebendig - steinern - gewordenen Gedächtnisses. Der Kontrast zwischen den Steinen, als starr-bewegungslosem und der Blume als sprießend-lebendigem Naturelement führt auf den Titel „Elegía sin flor“ zurück: Dem Klagelied fehlt das eigentlich Lebendige, das es besingt: die Blume. Mit einem intertextuellen Blick auf den großen kubanischen Elegiendichter Emilio Ballagas kann man Navarretes Gedichttitel als Hommage verstehen, vor allem, wenn man sich dessen Anthologie Elegía sin nombre (1936) ins Gedächtnis ruft. 21 Die Ambivalenzen und Spannungen erzeugende Ich-Spaltung nimmt auch in Navarretes Gedicht „Edad de Miedo al frío“ (EMF, IP 127) eine wichtige Funktion ein, um den Konflikt zwischen Schweigen und Sprechen zur Sprache zu bringen. Das zentrale Motiv bildet die verlorene Kindheit. Bronfen benennt die „Trennung von [...] der Unschuld der Kindheit“ als eine Ebene, die mythopoetisch als Sinnbildhaftigkeit des Exils in litera- 21 José Olivio Jiménez bescheinigt den Gedichten von Ballagas eine „inevitable presencia de lo elegíaco“. Vgl. Jiménez, José Olivio (Hg.) (1981): Antología de la poesía hispanoamericana contemporánea 1914-1970. Madrid: Alianza, 357f. 5.2 Ausgrenzung 109 rischen Texten eingesetzt wird (1993: 183). Der Rückgriff auf das Motiv der Kindheit betont weniger die räumliche als die zeitliche Distanz der Trennung von der Heimat. EMF besteht aus einer Strophe, die sich in drei Teile aufgliedern lässt, bestehend aus zwei sechszeiligen und einem fünfzeiligen, die jeweils eine syntaktische Einheit bilden und mit dem Wort „Sé“ - ich weiß - beginnen. Wie in EsF liegt auch hier eine dialogische Grundsituation auf binnenpragmatischer Ebene vor: Das lyrische Ich tritt in ein Gespräch mit dem Du seiner Kindheit, das es mit seinen süßen Bildern verführt. Edad de miedo al frío 01 Sé de tu maldad y hechizo, 02 infancia que acapara mis recuerdos, 03 sonrisa inútil de altamar, 04 espuma alegre en la barrera de corales, 05 disfraz de arena, alga mojada 06 que enreda mis pies en pura dicha. 07 Sé de todos tus embrujos 08 edad de miedo al frío, 09 canción que se enmudece con los años, 10 milagro repentino en el vacío, 11 feria lejana, halago en vano, 12 caricia devolviéndome la calma. Wieder taucht stereotyp das Meer auf, das hier keine beunruhigende Wirkung erzeugt, sondern als Metapher des puren Glücks erscheint (vgl. V.6). Personifikationen wie „sonrisa unútil de altamar“ (V.3) und „espuma alegre“ (V.4) lassen das Meer lebendig erscheinen und spiegeln das Glück des Kindes wider. Doch auch in EMF wird die Ambivalenz des lyrischen Ich deutlich. Denn parallel zum ersten Teil, der mit dem Vers „Sé de tu maldad y hechizo“ (V.1) eingeleitet wird, beginnt der zweite mit dem Satz „Sé de todos tus embrujos“ (V.7). Die Nomen „maldad“, „hechizo“ und „embrujos“ - Bösartigkeit, Zauber und Behexungen - stehen in einem Kontrast zu den Bildern des Glücks. Diese Oppositionsstruktur deutet darauf hin, dass das lyrische Ich sich einerseits nach dem Zauber seiner Kindheit sehnt, andererseits aber nicht mehr von ihr heimgesucht und belästigt werden möchte. Wie in EsF haben die heraufbeschworenen Bilder somit gleichzeitig eine verstörende wie eine beruhigende Wirkung. Die syntaktische Einheit des ersten Verses wird durch den darauf folgenden erweitert, wo es heißt: „infancia que acapara mis recuerdos“. Dieser steht wiederum parallel zu Vers 8: „edad de miedo al frío“. Die Kindheit, die die Erinnerungen des Ich an sich reißt, ist gleichzeitig das Zeitalter der Angst vor der Kälte. Auch darin drückt sich eine Ambivalenz aus. Die warmen Kindheitserinnerungen schützen zwar vor der Kälte der Gegen- 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 110 wart, stellen allerdings Trugbilder dar. Wie plötzliche Wunder (vgl. V.10) tauchen sie im Nichts auf, schmeicheln dem Ich und geben ihm durch ihre Wärme und Zärtlichkeit seine Ruhe zurück. Doch sie tun dies umsonst - „en vano“ (V.11), denn die momentane Wärme steigert nur die Angst vor der Kälte der Gegenwart. Die Dialektik zwischen Sprechen und Verstummen drückt sich vor allem im letzten Abschnitt aus, wird aber schon im neunten Vers angedeutet, der das Zentrum der 17-zeiligen Versanordnung bildet. Die Kindheit, bzw. das „Zeitalter der Angst vor der Kälte“ wird dort metaphorisch als „canción que se enmudece con los años“ dargestellt. Das Lied bedarf einer Stimme, die es singt, die in EMF jedoch im Fortlauf der Zeit immer mehr verstummt, bis sie sich im Schweigen verliert, was im letzten Teil thematisiert wird: 13 Sé más de ti o no sé nada 14 Cuando una voz remota, 15 perdida en el silencio, 16 habla por mí y yo por ti, 17 infancia de la nada. Das Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit kommt in Vers 13 zur Sprache: Paradoxerweise weiß das Ich mehr von seiner Kindheit als diese selbst, gleichzeitig weiß es jedoch nichts von ihr. 22 Es weiß vielmehr nichts mehr von ihr, denn sie ist nur noch eine weit entfernte Stimme, die zu ihm spricht. Da die Kindheit jedoch in der Stille verloren ist, ergreift das Ich ihre Stimme und spricht an ihrer Stelle. Dies verdeutlicht, dass Erinnerungen nur in dem Moment lebendig werden können, in dem man ihnen eine Stimme verleiht, was Navarrete hier in Form eines Gedichtes tut. Damit ist die Ambivalenz jedoch nicht aufgelöst, in EMF herrscht nicht die Stimmung des nostalgischen Heraufbeschwörens der heiligen Kindheit vor. Wie in EsF wirken die Bilder verstörend und verstärken die Angst. Sie existieren als Du im Ich, sind aber gleichzeitig verstummt und damit kein Teil mehr von ihm, sondern ein vom Ich separiertes Du. Das Gedicht EMF lebt von diesem Widerspruch. Neben der zeitlichen Dimension, auf die das Leitmotiv der verlorenen Kindheit verweist, spielt in Bezug auf die Ausgrenzung im Exil auch die räumliche Trennung eine Rolle. Die Stimme der Kindheit verstummt auch deswegen, weil kein physischer Kontakt zu den Orten besteht, an denen die Erinnerungen an die eigenen Kindheitsbilder wachgerufen werden können. Die Abnutzung der Erinnerung hat eine psychologische Konse- 22 Man denke hier auch an Sokrates legendären Ausspruch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ oder auch an Miguel de Unamunos berühmten Satz aus seinen politischen Schriften: „Sólo el que sabe es libre, y más libre el que más sabe“. Unamuno, Miguel de (1965): Pensamiento político. Díaz, Elías (Hg.). Madrid: Tecnos, 213. 5.2 Ausgrenzung 111 quenz. Sie drückt sich in EMF im Kontrast zwischen Wärme und Kälte aus. Die Angst vor der Kälte der Gegenwart steht nicht nur für ein Verblassen der Erinnerungen, sondern auch für die Befürchtung, dass diese nicht mehr fühlbar sein könnten. Das in den bisher untersuchten Gedichten immer wieder auftauchende Motiv der Leere weist auf eine Abstumpfung und ein Verstummen von Empfindungen hin, die durch die physische Abwesenheit nicht wiederbelebt werden können. Durch die fehlenden Sinneseindrücke kann das Verlorene nur mit Hilfe der Fantasie verlebendigt werden. Im Exil jedoch stellt sich die Frage, wie lange man auf die Ressourcen der Imagination zurückgreifen kann, und ob sie sich vielleicht erschöpfen könnten. Dies ist für die Existenz des Exilanten, der buchstäblich am seidenen Faden seiner Erinnerungen hängt, ebenso entscheidend wie für die literarische Produktion eines exilierten Autors. 23 Wenn Ausgrenzung an Sprachverlust gekoppelt ist, dann wäre die Stille gleichzeitig das drohende Verstummen des Autors, der die Worte verloren hat, die seine Vergangenheit ausdrücken. 24 Ein Autor im Exil ist dann nicht nur vom Identitätsverlust bedroht, sondern auch von der Angst vor der unschöpferischen Leere. 5.2.2 Los olvidados: Sprachberechtigung Inwiefern hängt die Stille mit dem Phänomen der Sprachberechtigung zusammen? Die durch die Ausgrenzung im Exil bedingte Tatsache, am Leben auf Kuba nicht mehr teilnehmen zu können und doch teilhaben zu wollen, wurde bereits am Beispiel von Pellóns „Un Espacio en la distancia“ hervorgehoben (vgl. 4.2.3). Die Sprachlosigkeit erhält hierbei die Bedeutungsdimension des Verlustes von Mitspracherecht, der zur Stummheit führt. Mit dem Titel „Testigo Mudo“ (TM, IP 92) kündigt Sales’ Gedicht einen stummen Zeugen an. Das Gedicht wird eingeleitet mit vier Versen, in denen das Ich ausdrückt, dass es plötzlich begreift, wie wenig es gespro- 23 Vgl. hierzu auch Grinberg: „El inmigrante, en su lucha por su autopreservación, necesita aferrarse a distintos elementos de su ambiente nativo (objetos familiares, la música de su tierra, recuerdos y sueños en cuyo contenido manifiesto resurgen aspectos del país de origen, etc.) para mantener la experiencia de ‚sentirse a sí mismo’“ (1982: 156, Hervorhebung AG). Dies wäre eine mögliche Erklärung dafür, dass Navarrete im Exil begann, sich ausführlich mit der Musik Kubas zu befassen. Aus dieser Auseinandersetzung entsanden zwei französischsprachige Monographien: La Chanson Cubaine (1902-1959): Textes et contexte. Paris: L’Harmattan, 2000 und Cuba: La Musique en Exil. Paris: L’Harmattan, 2003. 24 Dies gilt auch für die Worte, die den Schmerz des „entwurzelten Dichters“ im Exil ausdrücken, so Émile Cioran: „Personne ne peut sauver la jeunesse de ses chagrins; ils s’usent. Ainsi en est-il du mal du pays, de toute nostalgie. Les regrets perdent leur lustre, eux-mêmes se défraichissent, et, à l’instar de l’élégie, tombe vite dans la désuétude.“ Cioran, Émile (1956): La tentation d’exister. Paris: Gallimard, 66f. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 112 chen hat. Diese einleitenden Verse implizieren die Frage: Was habe ich eigentlich gesagt? Die zweite Strophe gibt Antwort auf diese Frage. Testigo Mudo 01 De repente 02 caigo en la cuenta 03 de que he hablado 04 poquísimo. 05 A lo sumo dije 06 palabras de aliento 07 a un amigo lejano; 08 ensayé susurros de amor 09 que se perdieron 10 en el oleaje de unas sábanas; 11 perpetré frases trémulas 12 contra el estruendo 13 de la Historia. Jeweils drei Verse bilden in diesen beiden Strophen eine syntaktische Einheit. Durch jede dieser Einheiten ziehen sich wie ein roter Faden Begriffe, die semantisch zur Wortgruppe des Sprechens gehören, wie „dije“, „palabras“, „susurros“, „fráses“. Das Ich richtet aufmunternde Worte - „palabras de aliento“ (V.6) - an einen fernen Freund, die genau wie das Liebesgeflüster, nicht zu ihm durchdringen, denn die Worte verlieren sich im „Wellengang der Bettdecken“ (V.8f). Die „zitternden Sätze“ kommen nicht gegen das „Getöse der Geschichte“ an (V.11-13). Zum ersten Mal wird nicht auf die Naturzeit, Alltagszeit und Lebenszeit angespielt wie in den zuvor untersuchten Gedichten, sondern auf eine historische Zeit, die Geschichte selbst. Dabei wird deutlich, dass es sich um die Geschichte Kubas handelt, von der das sprechende Ich Teil ist. Der entfernte Freund repräsentiert die personifizierte Heimat Kuba. Das Ich ist der Liebe zu seinem Land, aber auch dessen Geschichte ausgeliefert, gegen die es machtlos ist. Interessant ist die Verwendung der Verben „ensayar“ - einüben - und „perpetrar“ - ausüben. Letzteres impliziert semantisch einen kriminellen Akt, die zitternden Sätze (V.11) bezeichnen damit ein Sich- Wehren gegen die Übermacht der politischen Realität. Das Liebesgeflüster muss hingegen eingeübt werden, so als wäre die Liebe versteckt und als müsste man sich ihrer neben all dem Getöse erst wieder bewusst werden. Der direkte Bezug zu Kuba wird in der nächsten Strophe deutlich, deren sechs Verse eine syntaktische Einheit bilden: 14 Para ser hijo 15 de esta isla pródiga 16 en cotorras y asesinos elocuentes, 5.2 Ausgrenzung 113 17 casi me siento 18 testigo mudo de mi tiempo, 19 convidado de piedra. 20 Quizá mañana deba 21 comprarme un diccionario. Augenfällig ist auf semantischer Ebene der Begriff der Verschwendung. Durch das Enjambement in Vers 15 erhält das Adjektiv noch dazu eine Mehrdeutigkeit: Nach „isla“ findet eine Zäsur statt, auf die das Satzglied „pródiga / en cotorras y asesinos elocuentes“ folgt: Die Insel selbst ist verschwenderisch und sie geht verschwenderisch mit ihrer „Geschwätzigkeit“ und ihrer „Eloquenz“ um (V.15-16). In den folgenden drei Versen kommt im Gegensatz dazu die Stummheit des lyrischen Ich zur Sprache. Im Gegensatz zum „ewigen Geschwätz“ und der „totredenden Eloquenz“ (V.16), die sein Volk charakterisieren, fühlt sich das Ich wie ein „stummer Zeuge“ seiner Zeit (V.18). Der Idiomatismus „convidado de piedra“ (V.19), der ursprünglich auf die Statue des Don Gonzalo de Ulloa in Tirso de Molinas Komödie El burlador de Sevilla y convidado de piedra zurückzuführen ist, bezeichnet im umgangssprachlichen Gebrauch jemanden, der an einem Gespräch nicht teilnimmt und stumm und bewegungslos auf seinem Platz verharrt. Der politische Diskurs ist nicht nur auf Kuba in der sozialistischen Propaganda und den langen Reden Castros auf allen Fernsehkanälen omnipräsent, sondern auch außerhalb der Insel. Im öffentlichen Diskurs der exilkubanischen Gemeinschaften in Miami und an anderen Orten wird die Geschichte Kubas, die gegenwärtige Situation auf der Insel und ihre politische Zukunft, stets debattiert. So ist das Leben aller Kubaner, ob innerhalb oder außerhalb der Insel von politischen Diskursen mit stark moralischen Appellen bestimmt. 25 Innerhalb der kubanischen Diaspora finden sich unterschiedlichste diskursive Positionen wieder, die alle eines gemein haben: die Forderung nach einer politischen Veränderung auf Kuba. 26 Sales’ Verse verweisen darauf, dass all diese Diskussionen nichts bewegen, 25 Vgl. Vargas Llosa, Álvaro (1998): El exilio indomable. Madrid: Espasa Calpe, 376. 26 Navarrete kämpft aktiv für ein demokratisches Kuba. Im Jahr 2003 gründet er die Assoziation ATREC - Asociación Tercera República Cubana, deren Ziel vor allem die Gründung einer Zivilgesellschaft auf Kuba ist, die auf demokratischen Prinzipien basiert. ATREC unterstützt die Stimmen der Opposition in der Öffentlichkeit und spricht sich gegen das totalitäre Regime Castros aus. http: / / www.miscelaneasdecuba.net/ web/ article.asp? artID=3026. Zugriff: 02.03.2012. In Paris ist außerdem eine Gruppe kubanischer Anarchisten ansässig, die unabhängige Gewerkschaften auf Kuba unterstützen und regelmäßig die Zeitschrift Cuba libertaria veröffentlichen. Im Internet zu finden unter: http: / / www.nodo50.org/ ellibertario/ cubalibertaria.html. Zugriff: 02.03.2012. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 114 denn die Worte sind verschwendet, haben sie doch nicht zu den ersehnten Veränderungen geführt. Wie das lyrische Ich machtlos in seinen Handlungsmöglichkeiten gegen den Fortlauf der Geschichte ist, so können alle gesprochenen Worte doch nichts ausrichten gegen die Realität, die sie ständig übertönt. Die Tatsache, dass das Castro-Regime seit nunmehr 54 Jahren fortbesteht, führt die Sinnlosigkeit allen Redens der im Exil Ausgegrenzten vor Augen: Je mehr Worte nach außen verloren werden, desto sprachloser werden sie nach innen. In TM ist das Verstummen damit Ausdruck für eine frustrierte Hoffnung. 27 Auch die Verwendung des Pretérito Indefinido in der zweiten Strophe lässt auf eine Frustration schließen, im Sinne von „des Redens müde geworden sein“ - man denke hier auch an die ersten Verse in Sales’ BCR: „Coño / que cansado estoy de esta isla“ (IP 64). Auch Navarrete beklagt sich über die „verborrea sobre la política cubana, ese chapoteo incesante en las mismas aguas“ (Chávez Rivera 2009: 392) und drückt damit seine Frustration gegenüber dem Überfluss an überflüssigen Worten aus. Das Ich in TM nimmt die Position des Außenstehenden ein, der sich von den „cotorras y asesinos elocuentes“ (V.16) distanziert. In diesem Zusammenhang würden die Schlussverse „quizá mañana / deba comprarme un diccionario“ (V.20-21) ironisch darauf hindeuten, dass dem politischen Gerede, aber auch der politischen Realität mit Hilfe eines Wörterbuches Sinn verliehen werden könnte. Als Außenseiter - „convidado de piedra“ - hält sich das Ich darüber hinaus für nicht mitspracheberechtigt und schweigt deswegen. Es verstummt, weil seine Worte gegen den Strom der Geschichte ohnehin machtlos sind und weil es seine Sprachberechtigung in Bezug auf Kuba verloren hat. Dennoch fühlt sich das Ich seiner Heimat weiterhin zugehörig, was sich wie in BCR mittels des Liebesgeflüsters äußert, das auf die verbliebende, aber un-mögliche Liebe zu Kuba verweist, die sich im Wellengang der Laken - „en el oleaje de unas sábanas“ (V.10) - verloren hat. Im Gegenwärtigen der politischen Realität wird diese verschwiegene Liebe übertönt. Dennoch ist sie im Gegensatz zur Frustration als Hoffnung auf eine Wiedervereinigung des „hijo pródigo“ mit seiner Heimat gegenwärtig. 28 27 Vgl. Dazu Jacobo Machover: „Ceux qui sont partis se sont résignés, impuissants, à observer comment leur île, qu’ils avaient emportée avec eux dans leur mémoire, s’enfonçait dans le royaume de l’absurde“. Machover, Jacobo (2009): „Introduction“. In: Ders.: Cuba: Mémoires d’un naufrage. Paris: Buchet / Castel, 17. 28 Das Gedicht enthält eine versteckte Anspielung auf die biblische Geschichte des verlorenen Sohns im Lukas Evangelium des Neuen Testaments, wenn man die Worte „hijo“ und „pródiga“ an den Versenden 14 und 15 miteinander kombiniert. 5.2 Ausgrenzung 115 5.2.3 No olvides: Wortergreifung als Widerstand An dieser Stelle wird ein weiterer Aspekt der Biographie von Miguel Sales unter dem Phänomen der Ausgrenzung beleuchtet, nämlich die Erfahrungen des Autors als politischer Häftling auf Kuba. Sales wurde aufgrund konterrevolutionärer Tätigkeiten im Alter von 17 Jahren inhaftiert. Er befand sich zwischen 1968 und 1969 in Jaruco 2, einer Wiedereingliederungsanstalt für Jugendliche. Von dort aus wurde er bis 1972 in das Gefängnis von Guanajay verlegt. Nach einem waghalsigen, missglückten Fluchtversuch aus Kuba wurde er 1974 nochmals für vier Jahre inhaftiert. 1978 kam er frei, „à la faveur d’un ‚dialogue’ entre le gouvernement castriste et une partie de l’exil cubain, qui aboutit à l’élargissement de près de trois mille cinq cents prisonniers et à leur exil immédiat“ (Machover 2009: 93). Seine Zeugenschaft legt er in dem von Jacobo Machover in Paris herausgegebenen Band Cuba: Histoire d’un naufrage ab (2009). In Form von Interviews und autobiographischen Zeugenberichten hält der Band die traumatischen Erlebnisse von Gefangenen, Flüchtenden, marginalisierten Dissidenten und ausgegrenzten Intellektuellen fest. 29 Das Genre der „testimonialen Berichterstattung“ hat in Kuba eine lange Tradition, die auf den Unabhängigkeitskämpfer Martí im 19. Jahrhundert und auf die Revolutionsanführer Che Guevara sowie Máximo Gómez im Zuge der kubanischen Revolution zurückgeht. 30 Das Genre des dokumentarischen Testimonio dient vor allem dem Festhalten individueller Erinnerungen an die Erfahrungen des Guerrilla-Kriegs und der revolutionären Errungenschaften (vgl. Plesch 2001: 423). Auch die Opposition der Kubaner im Exil bedient sich dieses Genres, um ihrem Widerstand gegenüber dem Castro-Regime Ausdruck zu verleihen. Das testimonio mediado, in dem der Herausgeber Machover als Vermittler auftritt, kann als Aufbegehren der ‚Unerhörten’ betrachtet werden. 31 Es zielt darauf, die durch gesellschaftliche Ausgrenzung margina- 29 Darunter auch Berichte von balseros, ein 1987 geführtes Interview mit Reinaldo Arenas und ein Bericht der Dichterin María Elena Cruz Varela, die nach zwei Jahren Gefangenschaft ins spanische Exil ging. Von seiner 20-jährigen Gefangenschaft erzählt auch Lorenzo Pellón, der Bruder der Dichterin und Malerin Gina Pellón. 30 Vgl. Plesch, Svend (2001): „Literatur im Zeugenstand? Zur neueren kubanischen Testimonio-Literatur“. In Ette / Franzbach (Hg.), 423 und Franzbach, Martin (2001): „Kleiner Gattungsabriss der kubanischen Literatur seit 1959“. In: ebd., 449. Franzbach beschreibt die Beliebtheit des Testimonio, indem er überspitzt von einem „Heer der Testimonios“ spricht, mit denen die „Heldengeneration“ ihr Lebenswerk mit Memoiren beschließt (2001: 448f). 31 Vgl. hierzu die Unterscheidung Sklodowskas zwischen testimonios inmediatos, „unmittelbaren“, und testimonios mediados also „vermittelten“, von einem Herausgeber zusammengestellten Zeugenberichten. Vgl. Sklodowska, Elzbieta (1992): Testimonio 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 116 lisierten Stimmen der Kubaner zu Wort kommen zu lassen, „dont le monde a négligé les paroles“ (Machover 2009: 18). Dies geht mit dem Ap-pell einher, gegen das Vergessen zu rebellieren und so das kollektive Gedächtnis der Kubaner zu „rehabilitieren“ (ebd.). Machovers Projekt entwirft damit eine „Gegen-Erinnerung“, indem es das Gedächtnis einer marginalisierten Gruppe darstellt (vgl. Erll 2005: 266). Als Beitrag der Erinnerungsarbeit und der damit verbundenen Aufarbeitungsprozesse erzeugt das Buch aus der Perspektive der Dissidenten einerseits das altbekannte Freund-Feind-Schema, das die Trennlinie zwischen exilierten und auf der Insel gebliebenen Kubanern einmal mehr scharf zieht. Andererseits verdeutlicht sich anhand der Beiträge das von Ette angesprochene Spannungsfeld zwischen dem historischen Gewordensein und dem Historisch-Gewordensein der kubanischen Revolution (2010a: 18). 32 Denn viele Berichte reichen bis in die frühen Jahre des noch jungen Revolutionsregimes zurück, in denen die ersten Ausschlussmaßnahmen von Konterrevolutionären stattgefunden haben. Sie erscheinen daher als Aufarbeitung von zeitlich weit zurückliegenden und daher bereits historisch gewordenen Ereignissen. Dass Inhaftierungen von Oppositionellen jedoch auch im 21. Jahrhundert weiterhin eine Rolle im politischen Programm des Castroregimes spielen - die Vergangenheit in der Gegenwart also noch nicht überholt ist - zeigte sich 2003 mit der Gefangennahme von 75 kubanischen Journalisten, für deren Freilassung weltweit protestiert wurde. 33 Einer dieser Journalisten ist Raúl Rivero, der lange Zeit als Pressekorrespondent in Moskau tätig war. 1991 unterzeichnete er einen Protestbrief mit dem Plädoyer für Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit auf Kuba und wurde so zur Stimme der Opposition. Als er 1995 die unabhängige und daher „illegale“ Presseagentur Cubapress gründete, war er zunehmend den Repressalien des kubanischen Kontrollapparates ausgesetzt (vgl. Franzbach 2001: 457), die schließlich in seiner Verhaftung mündeten. 34 Sein Bericht erscheint gemeinsam hispanoamericano. Historia y poética. New York: Peter Lang, 102. Vgl. auch Plesch 2001: 424. 32 Im Interview mit Andrea Gremels vom August 2011 meint auch Miguel Sales dazu: „[E]l castrismo ya murió su muerte“. Vgl. Anhang A.V 334-336, hier 335. 33 Barbara Dröscher, die die Stimmen der Opposition auf Kuba unter dem Aspekt der „espacios in-between“ untersucht, greift in ihrem Artikel den Fall von 2003 auf und erörtert die internationale Aufruhr, die er ausgelöst hat. Vgl.: Dröscher, Barbara (2010): „Espacios in-between, notas sobre las dinámicas culturales en la Cuba actual“. In: Gremels / Spiller (Hg.), 110f. Im gleichen Band analysiert Karl Buck die Gefangennahme der 75 Dissidenten vor dem Hintergrund der Menschenrechtsdebatte, die dieser Fall in der EU ausgelöst hat. Die Beziehungen Kubas zur EU wurden dadurch stark beeinträchtigt (2010: 98-100). 34 Franzbach hebt die subversive Kraft von Riveros Lyrik hervor, dessen „Feder seine einzige Waffe“ war und ist (2001: 458). Seine „im Ausland verlegten Gedichte gehö- 5.2 Ausgrenzung 117 mit dem von Sales im Stil eines Interviews unter dem Titel „Deux époques de la prison“ (Machover 2009: 92-111). Zwischen den Erfahrungen von Sales und denen Riveros liegen drei Jahrzehnte, in denen sich das Verhalten gegenüber den politischen Gefangenen aufgrund des internationalen Drucks auf Kuba verändert hat. Rivero, obwohl ein Jahr in Isolationshaft, konnte auf die Unterstützung von Außen hoffen, um sich Gehör zu verschaffen, sodass man den politischen Häftlingen mit Vorsicht bzw. Rücksicht begegnete (ebd.: 104f). 35 Sales berichtet hingegen von der „totale impunité“ der Gefängnisaufseher gegen die politischen Gefangenen, die sich als plantados deklarierten, womit sie jegliche Maßnahme zur Wiedereingliederung („reeducación“) verweigerten und damit immer der Gefahr der Bestrafung durch Schläge und Isolationshaft ausgesetzt waren (ebd.: 95). Auch die nächtlichen Erschießungskommandos, die Sales in seiner zweiten Haftphase zwischen 1974 und 1978 im Gefängnis La Cabaña miterlebt hat, werden zur Sprache gebracht. Diese kündigten sich durch das Geräusch eines ankommenden Autos an, das den zum Tode Verurteilten abholte. Spätestens durch den Schall der fallenden Schüsse schreckten die verbliebenen Insassen hoch und konnten für die folgenden Tage keinen Schlaf mehr finden (vgl. Machover 2009: 109). Die politisch Inhaftierten der frühen Revolutionsjahre „frôlait le mort tous les jours,“ so Rivero, „[l]eur haine à l’égard de leurs bourreaux doit être immense, elle ne peut pas être la même que la nôtre“ (ebd.: 106-107). Sales’ dokumentarisch abgelegtem testimonio, das vom nüchternen Ton der Berichterstattung gekennzeichnet ist, steht seine in der Haft verfasste Poesie gegenüber, die er 1995 in der Anthologie Desencuentros veröffentlichte. 36 Der Band weist verschiedenste stilistische Kategorien von Gedichten auf, die alle in den Kontext der Gefangenschaft eingebunden sind: Liebeslyrik in Form einer poesía pura, Alltagsbeobachtungen gemäß der poesía circunstancial und nicht zuletzt die politisch engangierte poesía comprometida. 37 Analog zum Begriff der novela-testimonio, lässt sich Sales’ Gefangenendichtung an dieser Stelle als poesía-testimonio bezeichnen. 38 Der ren zu dem Besten, was in dieser Gattung gegenwärtig auf der Insel geschrieben wird“ (ebd.: 457). 35 Er stand in regelmäßigem Kontakt mit dem Comité Cubano para los Derechos Humanos y la Reconciliación Nacional Elizardo Sánchez und dem von Oswaldo Payá gegründeten Movimiento cristiano de liberación (MCL, ebd.). 36 Sales, Miguel (1995): Desencuentros. Madrid: Editorial Verbum. 37 Zu der Einteilung in die drei lyrischen Subgenres, vgl. Franzbach 2001: 457. 38 Als einer der bedeutendsten oppositionellen und tabubrechenden Vertreter der novela testimonio kann Reinaldo Arenas bezeichnet werden, der Zeit seines Lebens als homosexueller Schriftsteller unter der Verfolgung des Castro-Regimes litt. Auf der ideologisch gegenüberliegenden Seite steht Miguel Barnets Biografía de un Cimarrón, der vielzitierte „Gründungstext“ der Testimonio-Literatur, der sich mit der Geschichte der 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 118 lyrischen Gattungsspezifik gemäß, ‚dokumentiert’ diese poetische Zeugenschaft einen subjektiv inwendigen Erfahrungszusammenhang (vgl. 4.1), in dem sich das ÜberLebenswissen des Inhaftierten verdichtet. Dass diese Zeugenschaft wiederum in Beziehung zu der Interdependenz von Sprachverlust, Wortergreifung und Sprachberechtigung steht, wird hier anhand von Sales’ Sonett „A Fidel Castro“ veranschaulicht (AFC in Desencuentros 47). Der polemische Titel erinnert an Passagen aus Tejeras REV: die Wut des Ausgegrenzten richtet sich gegen die ausgrenzende Instanz, die in Fidel Castro als personalisiertem Feindbild ein persönliches Gegenüber findet. 39 An dieses wendet sich das lyrische Ich in AFC und führt so ein regel(ge)rechtes Streitgespräch im adäquaten Sinne der Polemik, die in den zwei Quartetten ausgefochten wird. Für die Lesererwartung erscheint die Verwendung des Sonetts genrespezifisch vor allem dadurch doppelbödig, weil diese Gattung überwiegend mit Liebeslyrik in Verbindung gebracht wird. A Fidel Castro 01 Me arrebataste un día mi guitarra y mis versos, 02 los brazos de mi madre y el calor de mi hogar; 03 me quedaban la voz, las manos y los sueños, 04 una fe y un recuerdo: aún podía cantar. 05 Me despojaste entonces de la luz y del viento, 06 -pensabas que en la cárcel tendría que callar-, 07 ¿no sabes que en la cárcel se domestica el miedo 08 y que las caracolas llevan consigo el mar? 09 Para decir quién somos tengo hoy como una herida 10 de ceniza y alambre, que resume mi vida, Sklaverei auseinandersetzt (Plesch 2001: 411). Barnet selbst spricht von einer socio literatura, in der Fiktion und Anthropologie einander ergänzen und die damit gleichzeitig einen dokumentarischen sowie einen literarischen Charakter aufweist (ebd.: 412). Im Zusammenhang mit der Testimonio-Literatur geht es immer auch darum, den Geschichtslosen eine Stimme zu geben und der offiziellen Geschichtsschreibung entgegen zu laufen. Consuelo Hernández bescheinigt auch der afrokubanischen und politisch engagierten Lyrik Nicolás Guilléns einen testimonialen Charakter, ohne jedoch weiter auf die Genrespezifika eines lyrischen testimonio einzugehen (vgl. 2009: 126). 39 So steht es in einem drastischen Kontrast zu Guilléns heroischem Castro-Gedicht „Fidel“: „Fidel, / el nombre de Cuba lleva / por siempre en el pecho fiel. [...] Fidel, / el que alzó una patria nueva / sin odio, crimen ni hiel.“ In: Guillén, Nicolas (1979): Nueva Antología Mayor. Augier, Ángel (Hg.). Havanna: Ediciones Unión, 314. Carilda Oliver Labra betitelte ihr 1957 verfasstes Gedicht sogar mit „Canto a Fidel“. http: / / www.trabajadores.cu/ news/ 2011/ 08/ 12/ los-primeros-poemas-en-decimasfidel. Zugriff: 15.01.2013. 5.2 Ausgrenzung 119 11 mi amor desmesurado sobre los duros cromos 12 de la tarde que en sombra lentamente convierte 13 el perfil de los pinos. Para decir quién somos 14 aún me queda la abierta inmensidad de la muerte. Sales folgt den Regeln des Sonetts in Bezug auf die Stropheneinteilung in zwei Quartette und zwei Terzette, bricht jedoch das Versmaß auf und verwendet das Reimschema auf unkonventionelle Weise. Letzteres weist eine gewisse Regelmäßigkeit in Form von Kreuzreimen auf, lediglich im ersten Terzett findet sich ein Paarreim (abab / cbcb / dde / aea). Der Autor setzt sich zum Sonett als musikalischem „Klanggedicht“ insofern in Beziehung, als dass er mit „mi guitarra y mis versos“ (V.1) und „cantar“ (V.4) auf semantischer Ebene den Gesang aufgreift. Dass dem lyrischen Ich seine Gitarre und seine Verse entrissen wurden, äußert sich im ersten Vers mittels einer Anklage, die das Sonett einleitet: „Me arrebataste“. In einer beinahe anapherischen Parallelstruktur wird die Anklage zu Beginn des zweiten Quartetts wiederholt: „Me despojaste“. Hierbei fällt auch die Verwendung des Pretérito Indefinido ins Auge, die sich bis in den sechsten Vers fortzieht, nach dem der Tempus ins Präsens wechselt. Die Verben selbst verdeutlichen, dass das lyrische Ich aus der Perspektive des Verlustes spricht. Es handelt sich um einen Menschen, der seiner Stimme, seines Lebens und seiner Freiheit - metaphorisch verdichtet durch „luz“ und „viento“ - beraubt wurde. Entrissen wurden dem Ich auch die Arme seiner Mutter und die Wärme seines Heims. Diese symbolisch aufgeladenen Motive der Geborgenheit referieren kontrastiv auf den Verlust. Die Quartette sind durchgehend von einer oppositionellen Semantik gekennzeichnet. Der im Aufbau augenfälligste Widerspruch ist der zwischen Schweigen und Sprechen. Dieser wird mit Hilfe der durch den rima aguda miteinander verbundenen Verben „callar“ und „cantar“, hervorgehoben: „-pensabas que en la cárcel tendría que callar-“ (V.6), „aún podía cantar“ (V.4). Parallel zur beraubten Stimme, lässt sich die Aneinanderreihung von „manos“ und „sueños“ lesen (V.3), die durch das Enjambement um den Glauben und die Erinnerung erweitert wird (vgl. V.4). Die Aufzählung verweist auf die trotz allen Verlustes immer noch vorhandene Handlungsfähigkeit, die durch die Imaginationsfähigkeit, einen auf die Zukunft gerichteten Glauben und die Erinnerungsfähigkeit gespeist wird (vgl. V.5-6). Die beraubte Stimme, die dennoch existiert und weiter singt, führt - durch den Doppelpunkt markiert - die Aufzählungsreihe am Strophenende zusammen. Das zweite Quartett entwickelt mit „luz“, „cárcel“ und „mar“ sowohl die Opposition von hell und dunkel als auch die von Enge und Weite. Exemplarisch hierfür steht die Metapher des Muschelhorns, die Schalen 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 120 der Meeresschnecke, die trotz ihrer Enge die Weite des Meeres in und mit sich tragen (V.8). Auch die „caracola“ dient als Musikbzw. als Signalinstrument, die Metapher schafft somit eine weitere Referenz zum Gesang, die sich auch durch das Reimschema bemerkbar macht (siehe „cantar“ und „mar“ V.4/ 8). In der Auseinandersetzung mit der Anklage an das Du, die das Ende des zweiten Quartetts in Form einer offenen Frage beschließt, geht ein kämpferischer Widerstand hervor, der aus den Versen heraus spricht und wie ein Ruf hörbar wird: Ich lasse mich nicht zum Schweigen verurteilen! Dabei stellt sich heraus, dass im Sprechakt, der sich hier binnenpragmatisch vollzieht, das Sprechen selbst reflektiert wird. In dieser metapoetischen Sprechhandlung wird die Stimmergreifung als Widerstand gegen die Stimmberaubung inszeniert. Sie repräsentiert folglich die Autoreflexion des Sprechenden in seiner Sprachlosigkeit. Das im Sprechakt hervorgehobene Sprechen wird in den Terzetten thematisch weitergeführt. Diese bestehen aus zwei syntaktischen Einheiten die mit der Anapher „Para decir quien somos“ parallelisiert werden (V.9 / 13). Die Anklage wird mit dem Versuch, die Seinsberechtigung sagbar zu machen, in eine Identitätsdebatte überführt. In Hinsicht auf die Pragmatik verschränkt sich durch das „wir“ die kollektive Ebene mit der personalen. Mit der Frage nach der kollektiven Identität werden interbzw. paratextuell die Epigraphe ins Spiel gebracht, die das Gedicht rechter und linker Hand überschreiben. Links befindet sich der vielzitierte Satz Martís: „Nosotros somos espuela, látigo, realidad, vigía, consuelo“. Hierbei handelt es sich um einen Satz aus dessen Rede von 1888 im Masonic Temple, New York, die Martí jährlich in Gedenken an den 10. Oktober 1868 abhielt, ein wichtiges Datum der kubanischen Geschichte, das den Beginn des ersten kubanischen Unabhängigkeitskrieges markiert. 40 Das Epigraph auf der rechten Seite: „Porque vivimos a golpes, / porque apenas nos dejan si nos dejan / decir que somos quien somos“ ist dem Gedicht „La poesía es una arma cargada de futuro“ des spanischen Poeten Gabriel Celaya entnommen. 41 Vor allem das Zitat des großen Nationaldenkers und „Apostels“ 40 Leidenschaftlich tritt der ‚Apostel’ der kubanischen Unabhängigkeit in dieser Rede für die Freiheit seines Volkes ein, das er ausschließlich bzw. einschließlich im „Wir“ anspricht, und richtet sich gegen Tyrannei und Despotismus, koloniale Ausbeutung und Sklaverei. Die Rede endet mit den Worten: „Nosotros unimos lo que otros dividen. Nosotros no morimos. ¡Nosotros somos las reservas de la patria! “ Martí, José (1992): „Discurso en conmemoración del 10 de octubre“. In: Ders.: Obras escogidas en tres tomos. Band II: 1886 - 1891. López Ugarte, Ela (Hg.). Havanna: Editorial de Ciencias Sociales, 241f. Auch im Internet zu lesen: http: / / jose-marti.org/ jose_marti/ obras/ discursos/ 1888oct10/ 1888oct10-3.htm. Zugriff: 01.03.2012. 41 In: Celaya, Gabriel (1976): Cantos íberos. Madrid: Ediciones Turner, 57. Sales’ Identifikation mit dem spanischen Dichter Celaya kann unter anderem darauf zurück- 5.2 Ausgrenzung 121 Martí macht deutlich, dass sich hier neben der subjektiven Existenzfrage die nach dem kollektiven, nationalen Selbstverständnis Kubas stellt. In Verbindung mit Celayas Worten „vivimos a golpes“ ist die nationale Identitätsfrage nicht von den gewaltsamen Momenten der Geschichte Kubas loszulösen. Auf der personalen Ebene äußert sich das beraubte Ich der Quartette als verletztes Ich in den Terzetten. Das Resümee des Lebens, „mi vida“ (V.10), ist gebunden an eine Verletzung, „una herida“ (V.9). Das verletzte Leben wird durch das Enjambement in den Kontext der Gefangenschaft überführt. Denn die Verletzung besteht aus Asche und Stacheldraht. Von diesem Vers an erfährt das Sonett einen atmosphärischen Verdunklungsprozess, der sich vor allem in der zweiten Satzhälfte der ersten Satzeinheit bemerkbar macht, die über ein Strophenenjambement in das letzte Terzett führt. Dort verwandeln sich die harten und klar gezeichneten Farben, „los duros cromos“, des Tages (V.11) in einen abendlichen Schatten, der sich auf die Pinien legt (V.12). Hierbei ist der Blick des Gefangenen aus seiner Zelle nach außen gerichtet. Darüber berichtet Sales: La luz del trópico es aplastante. En La Cabaña, desde algunas galeras se veían los fosos y, más allá, los árboles del recinto. Como una postal turística. Un detalle: podíamos oír los fusilamientos, aunque no los veíamos. Ocurrían a unos metros de las ventanas que daban al foso, en el patio 1 (A.V 335). Die „unermessliche Liebe“ (V.11), mit der der Blick des Gefangenen über die tropische Idylle und ihre grellen Farben schweift, löst sich schließlich in der offenen Unendlichkeit des Todes auf (V.14). Dieser letzte Vers erfolgt als Synthese auf die in den Quartetten aufgebaute Spannung: Denn das, was dem Ich blieb, Stimme, Hände und Träume, Glaube und Erinnerung, ist das, was ihm jetzt noch bleibt: der Tod. Das Nichts. Die widerständig rebellische Haltung der ersten Strophen ist damit gebrochen. Der Tod in seiner positiv konnotierten offenen Unendlichkeit erscheint beinahe als Vision der Befreiung, vielmehr der Erlösung von der begrenzten Härte der Reali-tät, die sich in den harten Farbkontrasten des Tageslichts und in den scharfen Schlagschatten der Pinien widerspiegelt. Er bezeichnet folglich das, was die unermessliche Liebe, ein Motiv, das in Sales’ Dichtung immer präsent ist, nicht mehr auszurichten vermag. Bezieht man gleichzeitig das oben angeführte Zitat des Autors mit ein, so erhält die alltägliche Nähe des Todes die Dimension eines subjektiven Erlebenswissens, das vor dem Hintergrund der Erschießungen politischer Häftlinge als Überlebenswissen im Sinne Ettes seinen Ausdruck findet. geführt werden, dass auch Celaya im spanischen Bürgerkrieg als Freiwilliger der Republikanischen Truppen 1937 in Gefangenschaft genommen wurde. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 122 Neben der subjektbezogenen Lesart muss jedoch zusätzlich die Ebene des „Wir“ in Betracht gezogen werden. Denn der Tod ist auch die Antwort auf die kollektive Identitätsfrage. Gerade im Kontrast zu den visionären Reden des kubanischen Nationalhelden José Martí verweist das Sterben symbolisch auf einen gebrochenen Glauben an die Zukunft Kubas und die in Asche gelegten Ideale. 42 Damit stünde die Gefangenschaft des Einzelnen als pars pro toto für die Gefangenschaft und den Freiheitsentzug des gesamten kubanischen Volkes und der Tod als Synthese des Sonetts wird zu einer Vision von dessen Untergang. Der „encuentro“ mit Fidel Castro erweist sich als „desencuentro“, wie der Titel der Anthologie so will, einer verhinderten Begegnung, deren polemische Streitlust sich im Nichts auflöst, da dem gesellschaftlich Ausgegrenzten und Weggesperrten nichts erwidert wird. Sales’ Sonett basiert als poesía-testimonio auf einer aktiven, kämpferischen Haltung. Sie entsteht aus der Notwendigkeit, das Unsagbare des Gefangenentraumas sagbar zu machen und sich mithilfe der poetischen Sprach- und Schaffenskraft aufzulehnen und zu widersetzen. Diese poetische Haltung geht gleichzeitig mit einer testimonialen Handlung einher. Denn als Wortergreifung bezeugt das Gedicht die „Fähigkeit zum Handeln […], die ihr Lebenswissen als Überlebenswissen birgt“ (Ette 2004: 201). Für die poetisch-testimoniale Autorschaft ist das Schreiben als Form des Überlebens ausschlaggebend. 43 In ihrer autoreflexiven Dimension wird aber auch das Wissen um die Präsenz des Todes nicht ignoriert, sondern vom Autor als Überlebendem mitgedacht. In seiner poetischen Sprachhandlung verdichtet sich folglich auch das Scheitern des Stimmlosen. Im Kontext des Exils sei dem hinzugefügt, dass nicht nur der Autor, sondern auch seine Gedichte die Gefangenschaft auf Kuba überlebt haben und in Spanien veröffentlicht werden konnten. In einem Prozess des Verinnerns bezeugt diese poesía-testimonio das Unsagbare, um es als Zeugnis des Erinnerns vor dem Vergessen zu bewahren. 42 Dieser Gedanke spiegelt sich auch in Sales’ kritischen Essays wieder. Darin reflektiert er den die kubanische Geschichte dominierenden Diskurs der „vocación revolucionaria“, des großen und einzigartigen Schicksals Kubas, eine Berufung, die ausgehend von Martí bis heute an der Realität scheitern musste. Vgl. Sales, Miguel alias Sorel, Julián (2007): El poscastrismo y otros ensayos contrarrevolucionarios. Madrid: Editorial Verbum, 61. 43 In Machovers Mémoires d’un Naufrage findet sich dazu ein Interviewausschnitt mit Arenas, in dem es heißt: „Si je n’écrivais pas, je ne pouvais pas exister sous ce régime. Je ne pourrais exister sans écrire sous n’importe quel autre système, mais là-bas mes besoins étaient plus impérieux parce que c’était ma seule façon de prouver que j’étais vivant“ (2009: 132). 5.3 Eingrenzung 123 5.3 Eingrenzung Anhand der Trias von Sprachverlust, Wortergreifung und Sprachberechtigung wurden in den vorangegangenen Überlegungen in Bezug auf die Motive der Stille und des Schweigens die Ambivalenzen hervorgehoben, die in vielerlei Hinsicht die Ausgrenzung markieren. Bereits angesprochen wurde der diskursive Wortüberfluss des kubanischen Exils, von Sales in TM als „cotorras elocuentes“ heraufbeschworen und von Navarrete als „verborrea incesante en las mismas aguas“ bezeichnet (s. 5.2.2). In diesem Wortreichtum äußert sich eine gewisse Verzweiflung der Marginalisierten. Darin wird jedoch auch das Phänomen der Eingrenzung, d.h. der sprachlichen Isolation, sichtbar. Denn in ihrer Wortergreifung erfahren sich die DichterInnen im wahrsten Sinne des Wortes als un-erhört. Diese Erfahrung steht in einem Spannungsverhältnis zu der Überzeugung, Erinnerungsarbeit leisten und die Ausgrenzungserfahrungen doch wieder zur Sprache bringen zu müssen, damit sie „ne demeurent pas enfouies dans un silence éternel“ (Machover 2009: 18). Der Versuch, das eigene Leiden in die Welt hinauszurufen, geht mit der Hoffnung einher, dort auf Widerhall zu stoßen, „[de] rencontrer d’échos bienveillants“ (ebd.: 11). Dies verweist auf den Wunsch nach Resonanzbeziehungen, die die so schmerzhaft erfahrene Eingrenzung dennoch überwinden könnten. Im Folgenden wird die Stille als Phänomen der Eingrenzung reflektiert, um so zu erörtern, wie sich Sprechen und Schweigen, Exil und Isolation zueinander verhalten. Daraufhin werden folgende Fragen berührt: Inwiefern ist die kubanische Literatur in Paris von einer fehlenden Resonanz bestimmt? Und umgekehrt: Richtet sich ein Schriftsteller nicht an das Gegenüber eines Lesers, sodass das Schreiben immer auch eine Suche nach Resonanz darstellt? Und welchen Widerhall findet das Schreiben im Exil auf literatursoziologischer Ebene, also wo ist tatsächlich die Resonanz der Eingegrenzten real geworden? 5.3.1 Sprachliche Isolation in Paris Im Exil spielt neben den displacements räumlicher, zeitlicher und sozialer Bindungen (Grinberg 1984: 156), die „linguistic dislocation“ eine ausschlaggebende Rolle. 44 „The condition we call exile is first of all, a linguistic event, an exiled writer is thrust, or retreats, into his mother tongue“, betont auch Brodsky (1991: 7). Der Rückzug in die eigene Sprache wirft die Frage nach einer Resonanz auf, nämlich in Hinsicht auf eine Leserschaft für die kubanischen SchriftstellerInnen im französischen Exil. In Bezug auf das litera- 44 Vgl. Kaminsky, Amy (1999): After exile. Writing the Latin American diaspora. Minneapolis: University of Minnesota Press, 64. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 124 rische Schaffen stellt Resonanz vor allem ein dialogisches Phänomen dar, „la meritoria búsqueda del díalogo con el otro en la polifonía social“, also eine „vibración compartida“ (Spiller 2011: 193). In diesem Zusammenhang lässt sich konzeptuell Charles Taylors Theorie einer „language of personal resonance“ einführen, die er in Bezug auf die responsiven Austauschbeziehungen des Subjekts in der Moderne entwirft. Mit dieser Theorie plädiert er gegen die Atomisierung des modernen Selbst in einer „beziehungslosen, nicht-resonanten Umwelt“, das „außerhalb seiner Selbst keine Antwort auf sein naturgemäßes In-die-Welt-Rufen findet.“ 45 Dabei beruft sich Taylor in seinen Schriften immer wieder auf die performative und resonanzerzeugende Kraft der lyrischen Poiesis um sein moralphilosophischanthropologisches Konzept zu verdeutlichen: 46 The resonances which matter are those which link speaker and hearer, writer and readers, and eventually (perhaps) whole communities. Poets may fail to be heard, but the end of the writing is to reach others and to effect a coming together in the Being revealed, or set free (Taylor 2007: 760). Eine derartige resonante Weltbeziehung erfährt in Bezug auf das Dichten im Exil eine Zersplitterung, denn die Bindeglieder, die den Austausch zwischen Autor und Leser ermöglichen, sind in verschiedene Richtungen abgeschnitten. Als spanischsprachige AutorInnen, die in einem frankophonen Umfeld leben und schreiben, stellt sich für die kubanischen Dichter- Innen in Paris die Frage, an wen sie sich richten. Ángel Rama differenziert zwischen drei Publikumsinstanzen, die für SchriftstellerInnen im Exil auf der Suche nach einer Leserschaft ausschlaggebend sind, „that of the country or culture in which he is temporarily settled; that of his country of origin, with which he tries to maintain communication in spite of dictatorial restraints; and the public of his compatriots, who make up the people of his diaspora.“ 47 45 Vgl.: Rosa, Hartmut: „Ist da draußen jemand? “ In: Frankfurter Rundschau vom 18.06.2011. http: / / www.fr-online.de/ kultur/ zeitdiagnose-ist-da-draussen-jemand- ,1472786,8569942.html. Zugriff: 22.02.2012. 46 Vgl. Taylor, Charles (1991): The Ethics of Authenticity. Cambridge: Harvard University Press, 84-91, und Taylor, Charles (2007): A Secular Age. Cambridge: Harvard University Press, 755-765. Taylors Konzeption liegt eine romantische Weltanschauung zu Grunde, die auf einen tieferen Einklang „des Subjekts in der Natur“ abzielt (vgl. Rosa 2011: 2). Vor diesem Hintergrund widmet er sich der postromantischen Lyrik und deren „indeterminacy of ontological commitment“ (2007: 757). Hierin sieht Taylor die spezifische Sorge einer säkularisierten, rationalisierten Moderne, die von der Angst vor einem Sprach- und Resonanzverlust geprägt ist, „the fear of language going dead, [...] of loss of its performative power“ (ebd.: 759). 47 Rama, Ángel (1981): „Founding the Latin American Literary Community“. In: Review: Latin American Literature and Arts 30, 12. 5.3 Eingrenzung 125 Dass der Kommunikation mit ihrem ,natürlichen’ Publikum auf Kuba, der zweiten Gruppe in Ramas Aufzählung, eine Grenze gesetzt ist, drückt Navarrete folgendermaßen aus: „En realidad el público ideal sería el de la gente sensible de mi país, o sea, el lector cubano en general, si pudiera comunicar, en condiciones normales, con él“ (Chávez Rivera 2009: 380). Diese Aussage verdeutlicht das Bewusstsein des Autors, dass seine Stimme von seinem Heimatland ausgrenzt ist, seine Worte durch die bestehende Grenzsetzung folglich nicht bis zur Insel Kuba vordringen können, um die dort zurückgelassene Leserschaft zu erreichen, mit der er sich eine „vibración compartida“ wünscht. Wie soll er sich unter diesen Umständen seiner eigenen Bedeutung als Schriftsteller vergewissern? „[T]he reality of exile consists of an exiled writer constantly fighting and conspiring to restore his significance, his poignant role, his authority“, so Brodsky (1991: 3). In diesem Kampf um die eigene Autorität zeichnet sich auch hier ab, dass das Schreiben im Exil an den Aspekt des Überlebens gekoppelt ist: „Hay una necesidad de contar además de existir. [...]. Porque ya [...] no existes dentro de tu país, […] tienes que intentar existir para el resto del mundo“, sagt Navarrete (A.II 317). Das Leben im Exil hängt somit von den Resonanzbeziehungen außerhalb Kubas ab und dieser Austausch kann nur durch eine Öffentlichkeit entstehen. Dass die Werke der kubanischen AutorInnen in Paris innerhalb der kubanischen Diaspora in einem transterritorialen Kontext zirkulieren, wurde bereits erörtert (vgl. 4.4.3 „Abgegrenzte Transnationalität“). An dieser Stelle soll die Standortfrage ins Zentrum des Interesses gerückt werden. Was bedeutet es für sie, in Frankreich zu schreiben und auf welche Resonanz treffen sie dort? Paris bietet einen potentiellen Resonanzboden für kubanische ExilautorInnen, was ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert zeigt. Denn laut Lilianne Hasson hat das Veröffentlichen kubanischer AutorInnen in Frankreich Tradition (2002: 95). Navarrete nennt Martís Verse Poèmes choisis (Paris: ed. Paul-Frères, 1929) als erste französische Übersetzung eines kubanischen Autors (2006: 751). Hasson verweist darauf, dass einige Werke vor ihrer spanischsprachigen Ausgabe auf dem französischen Buchmarkt erschienen sind, so z.B. Lydia Cabreras Contes Nègres de Cuba (Gallimard, 1936), und Arenas’ Autobiographie Avant la nuit (Actes Sud, 2000, vgl. Hasson 2002: 95f). Auch Tejeras Huir de la Espiral (2010) gehört in diese Gruppe. Ihr Roman wurde 1987 unter dem Titel Fuir la spirale bei Actes Sud verlegt, bevor er 34 Jahre später in Madrid erstmals in der Originalsprache erschien. 48 Dies spricht dafür, dass französische Verlagshäuser nicht von der ideologischen Debatte auf Kuba beeinflusst sind und die Grenze zwischen Literatur aus Kuba und Exilliteratur keine ausschlaggebende Rolle 48 Zum Übersetzungskontext des Romanwerks von Nivaria Tejera vgl. 5.5.2 „Sprachenvielfalt und Übersetzungen“. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 126 bei der Publikation kubanischer AutorInnen spielt. 49 Hasson betont, dass seit den 1950er Jahren alle wichtigen Vertreter der kubanischen Literatur des 20. Jahrhunderts in Frankreich verlegt wurden, von Guillén bis Lezama Lima (2002: 96). Seit Beginn der Revolution wurde die kubanische Kultur in Paris einerseits durch Alejo Carpentier bestimmt, der als Kulturattachée zwischen 1966 und 1980 als offizielles Sprachrohr des Castro-Regimes fungierte und damit Einfluss auf die Übersetzung von kubanischer Literatur ins Französische hatte (vgl. Navarrete 2006: 754). 50 Auf der anderen Seite stand Severo Sarduy, präsent unter den Poststrukturalisten der Gruppe Tel Quel (ebd.: 755). Übersetzungen seiner Werke wurden von Claude Durand gefördert, der außerdem andere Autoren bei den Éd. du Seuil unterbrachte, wie Guillermo Cabrera Infante (z.B. La Havane pour un infante defunt 1985), Heberto Padilla mit seiner skandalträchtigen Lyrikanthologie Fuera del juego (Hors Jeu 1969) und José Lezama Lima mit seinem Roman Paradiso (1971), der kurz nach seiner Veröffentlichung in Kuba vom Buchmarkt zurückgezogen wurde (vgl. Hasson 2002: 99-101). Sarduy selbst übernahm Durands Stelle als literarischer Direktor bei Seuil ab Mitte der 1970er Jahre und hatte somit Einfluss auf die Veröffentlichung kubanischer Autoren in Frankreich, unter denen erneut Reinaldo Arenas mit seinem Roman Encore une fois la mer (1987) und Virgilio Piñera mit seinen Kurzgeschichten Nouveaux Contes Froids (1988) zu nennen sind. 51 Nach dem Erscheinen von Zoé Valdés’ Roman Le Néant quotidien (Actes Sud 1995) öffneten sich wieder verstärkt die Türen der französischen Verlagshäuser für kubanische Literatur, so Navarrete (2006: 761). 52 Valdés, die 49 Dies belegt Hassons Fragebogen an die französischen Verlage. Daraus ergibt sich, dass „[n]ingún editor reconoce una influencia de lo ideológico en su elección“ (2002: 98). 50 Navarrete argumentiert, dass Carpentier vor der Alternative stand, entweder die vom Castro-Regime diktierte, qualitativ minderwertige Literatur des realistischen Sozialismus zu fördern, oder die Verbreitung von Exilautoren zuzulassen, die eine Brücke zur literarischen Tradition der Insel schlagen konnten. Sein Fazit lautet: „Il est peut-être inutile de préciser que Carpentier ne choisit ni l’une ni l’autre solution“ (2006: 754). Dazu Strausfeld: „El autor [Carpentier] defendió muchos intereses y algunos errores o embrollos oficiales, pero sus propios dudas quedan bien patentes en la última de sus grandes novelas, Sacre du printemps [1978]“ (2000: 13). Franzbach kommentiert: „[...] Carpentier spielte sein maskenreiches Leben zwischen Diplomat und Schriftsteller zwischen den Kontinenten“ (2001: 447). 51 Letztere allerdings in zensierter Form, wie Hasson betont. So ließ der Verlag Le Seuil Piñeras Satire „El muñeco“ außen vor, die sich gegen einen Diktator richtet (allerdings vor der Castro-Ära geschrieben), sowie die von Hasson gelobte Kurzgeschichte „El conflicto“, die bei Sarduy keinen Anklang fand (vgl. 2002: 99). 52 Navarrete vertritt die Ansicht, dass in der Zeit des quinquenio gris und der darauffolgenden Jahre, 1971 bis 1979, die von einer ideologischen Verengung des Castro- Regimes geprägt waren, das unter dem Leitspruch der ,Normalisierung der Schrift- 5.3 Eingrenzung 127 seit 1995 in Paris lebt, zeichnet in La nada cotidiana das Bild einer von der Revolution enttäuschten Generation, die den alltäglichen Mangel an Gütern einhergehend mit einer dolarización erfahren muss. 53 Die Mischung aus harscher Ideologiekritik, versehen mit einer Dosis Sex und Erotik, erklärt die Publikumswirksamkeit ihres Romans. Laut Franzbach hat diese Art der literatura light eine Reihe von Nachahmerinnen gefunden, deren Werke nicht unbedingt für eine literarische Qualität stehen. Der stream of consciousness dieser Werke würde sich auf ein internationales Publikum ergießen, „das sich am Leichenfleddern des kubanischen Tropensozialismus“ labe, jedoch wenig zum Dialog unter den Kubanern beitrage, so Franzbach (2001: 448). 54 Die cubanomanía, die zu Allgemeinplätzen und einer folkloristischen Ästhetik neigt, habe zu einer Beeinträchtigung der Qualität von Produkten made in Cuba geführt, so Hasson (2002: 99). Die vorherrschenden Stereotype - begleitet vom Tourismusboom nach Kuba - machen es kubanischen AutorInnen heute paradoxerweise oft schwerer, in Frankreich veröffentlicht zu werden, „una forma de matar la gallina de los huevos de oro“, wie es Hasson lakonisch kommentiert (ebd.). Navarrete äußert sich dazu wie folgt: Inondées de guides touristiques et d’ouvrages proposant une approche frivole de la culture ou de l’histoire cubaines, les librairies ont vu tripler les titres de référence sur l’île. Pendant ce temps maints auteurs cubains en exil, ou condamnés au silence à l’intérieur du pays, attendent, peut-être en vain, l’éditeur miraculeux qui les sauvera de l’oubli (2006: 761). Diese Aussage des Autors ist vor allem vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass die in Paris ansässigen SchriftstellerInnen neben publikumswirksamen Autoren wie bspw. dem Krimiautor Leonardo Padura, der bei den Éditions Points verlegt wird, kaum Gehör finden und vergeblich an steller’ eine akute Verfolgung Andersdenkender vornahm, kaum ein kubanischer Autor außer Carpentier und Sarduy die Chance hatte, in Paris veröffentlicht zu werden (2006: 756). Auch in den 1980er Jahren hätten Übersetzungen kubanischer AutorInnen eher eine Rarität dargestellt (ebd.). 53 Im Kontext des período especial gründet sich auf Kuba die Gruppe der Novísimos, die sich aus Schriftstellern der postideologischen Revolutionsgeneration zusammensetzt. Deren Programmatik richtet sich an einer realistischen Schreibweise aus, die Kritik an den kubanischen Verhältnissen übt. Der Begriff wurde von Salvador Redonet ins Leben gerufen. Vgl. Redonet, Salvador (1993): „Para ser lo más breve posible“. In: Ders. (Hg.): Los últimos serán los primeros. Havanna: Letras Cubanas, 5-31. 54 Als eine von Valdés’ ‚Nachahmerinnen’ gilt Daína Chaviano mit ihrem Roman El hombre, la hembra y el hambre (Barcelona 1998). In Bezug auf die Darstellung von Havanna beobachtet auch Yvette Sánchez sehr stereotype Visualisierungen bei beiden Autorinnen (2000: 170). Zur näheren Untersuchung der Romane von Valdés vgl. 6.3.3 „Insel-Welt: Patria-Mar“. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 128 die Türen der Verlagshäuser klopfen. Machíns Roman Passerelles, den sie auf Französisch schrieb und dann eigenhändig ins Spanische übersetzte, konnte bisher nur in Spanien bei Aduana Vieja veröffentlicht werden. Hierbei zeigt sich, dass die Überwindung von Sprachgrenzen durch Übersetzungen noch lange keine Garantie dafür ist, auch Resonanz zu finden. 55 Betrachtet man als weiteres Fallbeispiel die von Navarrete herausgegebene Anthologie Ínsulas al pairo, so muss zudem der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Lyrik ohnehin zumeist auf ein kleines Publikum beschränkt ist, ohne jemals die Breitenwirksamkeit zu erreichen, die Narrativik erzielen kann. Das Übersetzen von Lyrik stellt zudem eine große Herausforderung dar und ist meist an einzelne lyrikinteressierte Übersetzer und wohlwollende Verleger gebunden, die unabhängig von kommerziellen Kriterien tätig werden. 56 Schlussendlich ist es genau das ZwischenWeltenSchreiben (Ette 2005), das die Existenz und das Leben zwischen zwei Welten für die kubanischen AutorInnen in Paris zwar überhaupt erst ermöglicht, das aber gleichzeitig auch das Phänomen der Eingrenzung erklärt. Sie befinden sich in einem fremden Sprachraum, in dem sie als Kubaner eine kulturelle und als hispanophone AutorInnen eine sprachliche Minorität bilden. Ausgegrenzt aus Kuba mit dem, was sie schreiben, sind sie eingegrenzt in Paris, gerade weil sie auf Spanisch schreiben und nicht auf direktem Wege, sondern nur über den Umweg der Übersetzung ins Französische eine Leserschaft erreichen können. Der Gedichtband Ínsulas al pairo verdeutlicht diesen Weder-Noch Zustand par excellence. Schon im Titel macht er mit Poesía cubana contemporánea en París auf seine transkulturelle Verfasstheit aufmerksam, die Anthologie hat jedoch bis heute weder in Paris noch auf Kuba Resonanz gefunden. Dass Navarretes erster Roman La gema de Cubagua (Legua Editorial 2011) nach einem Umweg über Spanien im Oktober 2012 auf Französisch unter dem Titel La Danse des Millions beim Verleger Stock erschienen ist, entspricht zwar nicht dem Wunsch der Grenzaufhebung auf einer befreiten Insel Kuba, lässt wohl aber auf das Wunder hoffen, dass die als ‚un-erhört’ 55 Bei der Suche nach einem französischen Verleger spielt meist auch die Frage des „Wer kennt wen“ eine Rolle (Dies gilt auch für den Leser, der sich im unübersichtlichen Dschungel kontemporärer kubanischer Literatur orientieren möchte, so Strausfeld, 2000: 22). Reinaldo Arenas hat seine Veröffentlichung in Paris einer Begegnung mit dem Dramaturgen Jorge Camacho zu verdanken. Nivaria Tejera wurde von Maurice Nadeau unterstützt (vgl. 4.4.3 „Abgegrenzte Transnationalität“). 56 Hier lohnt sich ein weiterer Verweis auf Claude Couffon, der 2006 zusammen mit Milagros Palma eine umfangreiche, zweisprachige Gedicht- und Aufsatzsammlung herausgab, unter dem Titel Le Paris latino-américain. El París latinoamericano. Paris: Indigo. Der Band enthält Texte von den kubanischen VertreterInnen Alejo Carpentier, Jamís Fayad, Nivaria Tejera, Jacobo Machover, Eduardo Manet, Miguel Barnet und Zoé Valdés. 5.3 Eingrenzung 129 empfundenen Eingrenzungen durch Resonanzbeziehungen in Frankreich überwunden werden können. 5.3.2 Exil als Motor des Schaffens Sprache nimmt eine „particular resonance in exile“ ein (Kaminsky 1999: 68). Dem Zusammenwirken von Eingrenzung und Resonanz wird hier am Beispiel Tejeras tiefer auf den Grund gegangen. Das Motiv der Stille durchzieht ihr poetisches und narratives Werk. Bei dessen Untersuchung spielen die Isotopien von Einsamkeit, Isolation, innerer Leere und Ichauflösung eine konstitutive Rolle (vgl. 4.3). In REV wird die Thematik der Wortergreifung angesichts des bedrohlichen Verstummens in einer Vielzahl an autoreflexiv-metafiktionalen Passagen aufgegriffen wird. Das Verschwimmen von erzählendem und erzähltem Ich verweist auf ein fiktional gedoppeltes und gleichzeitig gebrochenes Subjekt, das den Kampf mit seiner inneren Gefangenschaft als „Krieg der Stille“ inszeniert: El exterior llega a tapiarla y la guerra del silencio la conquista, como si fuera preferible no mover, no tocar nada. [...] Es lo que llama su barrera: [...] una pared de granito infranqueable... (REV 51) Die drastische Symbolik der Gefangenschaft, in der sich die Protagonistin als von außen ummauert und durch eine unpassierbare Granitwand von allen und allem abgesperrt wahrnimmt, verdeutlicht den Zustand der Bewegungslosigkeit, der sie auf sich selbst zurückwirft. Es ist der Moment, in dem der „Krieg der Stille“ sie „erobert“ hat, ohne ihr ein Gegenüber oder einen Kontakt zu bieten. Der Kampf mit der Stille richtet sich jedoch nicht primär an einer äußeren Relationalität aus, sondern beschreibt vielmehr einen selbstreferentiell inneren Vorgang, wie das folgende Zitat verdeutlicht: „Este silencio la aplasta. Aunque es la misma noche de siempre no puede escribir“ (REV 48f). In dieser metafiktionalen Passage, die das Schreiben selbst zum Thema macht, verdeutlicht die erdrückende Stille ein Gefecht mit der Sprache, ein Ringen um Worte, die die innere Gefangenschaft zu durchbrechen vermögen: [...] habría que romper eslabones, Abrir puertas herrumbrosas. Desalojar recinto. Sólo te quedaba escribir, extraer entre líneas tantas voces ahogadas (REV 19). Hier findet sich in den Motiven der Ketten, der verrosteten Türen und des Geheges eine ähnlich drastische Symbolik des Gefangenseins wieder, während die Verwendung der Verben „romper“, „abrir“ und „desalojar“ in einer konstrastiven Semantik auf Handlungen verweisen, die nach einer 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 130 Überwindung dieses Zustands streben. Der Wechsel der Artikulationsebene zur zweiten Person Singular erscheint wie eine Art Selbstbeschwörung, ein verzweifelt monologischer Dialog, wobei sich die Stimme der Autorin in diesen autoreflexiven Passagen in die Stimme der Protagonistin einmengt und einschreibt. Auf metafiktionaler Ebene steht die Stille nicht nur für die Angst vor dem kreativen Verstummen, sie fungiert gleichzeitig als Synonym für die existentielle Leere. Sie steht also auch als Symbol für das Nichts, das in einer Sprachlosigkeit mündet, aus der es nur einen Ausweg gibt - die „ertrunkenen Stimmen“ mit Hilfe des Schreibens zwischen den Zeilen hervorzuzerren und somit ihr Nicht-Sein wiederzubeleben: „Es el silencio del vacío clamando voz... ¡Voz! “ (REV 141). Das Schreiben nimmt folglich die Funktion einer Sprachhandlung im Angesicht der Handlungsunfähigkeit im Exil ein. Es stellt sich folglich als Aufbegehren gegen die Ver- Nichtung im Exil dar. So wird es zur einzigen Möglichkeit, sich der eigenen Existenz zu vergewissern: „Siempre te queda la escritura. Ella es siempre la mejor salida, si no la única“ (REV 110). In dieser Absolutsetzung heißt Schreiben im Exil Überleben, „an act to reclaim ‚being’“, (McClennen 2004: 120), im Sinne eines „ich schreibe, folglich bin ich“ (vgl. ebd. 127). In der Überwindung der Sprachlosigkeit geht es also nicht nur darum, die eigene Stimme zu rekuperieren, sondern sie auch zu rekorporieren und die existentielle Abwesenheit des Selbst in eine textuelle Anwesenheit zu überführen. 57 Der Rückzug in das Schreiben schafft so einen Schutzraum und zugleich einen Freiraum. Die Aussage Andrew Gurrs, „freedom to write is a major stimulus to exile, and exile creates the kind of isolation which is the nearest thing to freedom which the [...] artist is likely to attain“, 58 bezeugt, dass das Schreiben als kreative Triebfeder im Exil zu einem befreienden Stimulus wird. Diese Freiheit schafft jedoch zugleich einen Zustand der sprachlichen Isolierung. Dies bestätigt die Argumentation Brodskys, der diese Freiheit in der Isolation als Verkapselung in die eigene Sprache beschreibt: [O]ne more truth about the condition we call exile is that it accelerates one’s [...] drift into isolation, into an absolute perspective; into the condition in which all one is left with is oneself and one’s own language, with nobody or nothing in between. [...] Your capsule is your language (1991: 7). 57 Dies gilt insbesondere für die Frage nach der nationalen (Nicht-)Zugehörigkeit: „[Exiles] have been excised from their nations: they are now invisible, non-existent. [...] Through writing, they challenge their national absence and create textual presence“ (McClennen 2004: 127). 58 Gurr, Andrew (1981): Writers in Exile. The Identity of Home in Modern Literature. Brighton: Harvester Press, 17. 5.3 Eingrenzung 131 Die „absolute” Freiheit der Eingrenzung in die eigene Sprache ist generell eine Entstehungsbedingung für Poesie, die Einsamkeit somit ein „‚poetogener Zustand’ par excellence“. 59 Der Fall Tejera verdeutlicht jedoch, dass im Exil das Verhältnis der Dichterin zur ihrer eigenen Sprache dennoch äußerst prekär bleibt, gerade weil das Schreiben die Dimension des Überlebens umfasst, das Ich sich also überhaupt erst als Text korporiert. Damit kommt jede Wortlosigkeit und jedes kreative Verstummen einer existentiellen Bedrohung gleich. Die Befreiung der eigenen Stimme heißt bei Tejera nicht, dass ihre Stimme von ihrer Exilerfahrung befreit ist. 60 Denn in einer spannungsgeladenen Wechselwirkung ist das Schreiben nicht nur die kreative Triebfeder im Exil, sondern der Exilzustand selbst Motor des Schaffens. Tejeras „voz poética“ äußert sich somit als erdrückte und bedrückende „voz insular“ (REV 96). In ihrer Textwelt erschafft sie einen beklemmenden Freiraum, der die existentiellen Traumata und Brüche der Exilerfahrung inkorporiert, in den sich aber auch das Nicht-Sein und die Leere einschreibt. Nimmt man nun Bezug auf Lacans Zeichentheorie und seinen Begriff der altération, demnach das Signifikat (signifié) im Signifikanten (signifiant) stets abwesend ist (vgl. Kristeva 1974: 45), so müsste man in Bezug auf Tejeras Exilpoetik von einer doppelten Abwesenheit im sprachlichen Zeichen ausgehen: Es handelt sich nicht nur um die Abwesenheit des Bezeichneten durch die Zäsur zwischen signifiant und signifié, sondern auch um eine Abwesenheit des Bezeichneten, weil das signifiant das Nicht-Vorstellbare des signifié in sich trägt. Die Leere des Exilzustands ist damit zwar bezeichenbar (signifiable im Sinne Julia Kristevas) aber letztlich nicht repräsentierbar und damit auch nicht kommunizierbar: [El arbol] parece querer romper la ventana, entero, total. Hasta se diría que comunicarse le resulta una monstruosa frivolidad. ¿Comunicar el qué? Qué es comunicable: sus horas insomnes cada noche, [...] las dificultades de encerrar entre las líneas la libertad de los vocablos? (REV 48) Die Frage, was es eigentlich zu kommunizieren gibt bzw. was überhaupt kommunizierbar ist, verweist auf die Instabilität des Aussagesubjekts - als sujet manquant im signifiant und im signifié -, die die poetische Sprachhandlung kennzeichnet. 61 In dieser Gebrochenheit erscheint jegliche Kommunikation, jede sprachliche Referentialität bzw. relationale Ausrichtung 59 Assmann, Jan / Assmann, Aleida (2000): „Schrift, Gott und Einsamkeit. Einführende Bemerkungen“. In: Dies. (Hg.): Einsamkeit. München: Fink, 13. 60 Vgl. auch hier Brodsky, für den der Zustand des Exils einhergeht mit „the disheartening idea that a freed man is not a free man“ (1991: 8). 61 „[P]our qu’il y ait énonciation, il faut que l’ego se pose dans le signifié, et ceci en fonction du sujet manquant dans le signifiant; [...] ce que Lacan appelle le lieu de l’Autre comme lieu du ‚signifiant’“ (Kristeva 1974: 45). 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 132 an einem Gegenüber, wie eine „monstruöse Frivolität“. Die vom Phänomen der Eingrenzung geprägte Sprachhandlung sucht nach einem Weg, die Worte zu befreien, ihnen einen Raum jenseits der Kommunizierbarkeit und des Nicht-Kommunizierens zu schaffen. El lenguaje, el lenguaje... exclamó ella quedamente... [...] Se acabó, no se puede ya crear un lenguaje, no se pueden crear nuevos símbolos y señales, no se puede comunicar más de lo que se ha comunicado...no se puede más volcar el cerebro y los sentidos explicar todo ceremoniosamente y con significados... [...] Además nosotros, increíbles criaturas, seguimos tratando de comunicarnos en pleno siglo XX con un lenguaje derruido, adulterado por el tiempo...“ (REV 116) Auf den ersten Blick vermittelt diese Passage mit „sé acabó“ eine Finalität, die auf das Scheitern einer sprachlichen Umwälzung bzw. einer Neuerschaffung der Sprache verweist. Auf den zweiten Blick impliziert das anapherisch ex negativo formulierte „no se puede“ dialektischerweise den Wunsch, jegliche sprachlich auferlegten Ketten zu sprengen, spezifisch die bedeutungstragenden Elemene: „símbolos y señales“, „sentidos“ und „significados“. Der Versuch, die Sprache zu revolutionieren ist der eigentlich entscheidende Prozess, in den das sprachliche und auch das kommunikative Scheitern als Finalitäten zirkulär eingebunden sind. Das Schreiben im Exil ist der Eingrenzung der Sprachhandlung ausgesetzt. Dieses Ringen mit der sprachlichen Eingrenzung ist bei Tejera als endlose Spiralbewegung beschreibbar, eine Spirale, die sich zwischen den Polen poetischer Revolution-Neuerschaffung und existentieller Leere- Sprachlosigkeit abwärts dreht: „Nadería primigenia, falla existencial, decadencia del lenguaje“, wie es in REV heißt (48). Genau in dieser Spiralbewegung liegt der spezifisch eigene poetische Ausdruck der Autorin: „Nivaria Tejera es texto. En la indagación perenne por la justa palabra poética, la autora crea un estilo propio, nivariano“, wie María Hernández-Ojeda es beschreibt. 62 Wann immer es darum geht, das ausgelöschte Ich in einem ständigen Prozess seiner textuellen Verkörperung überhaupt bezeichenbar und damit les- und spürbar zu machen, wird dem poetischen Schaffen eine immense Kraft abverlangt. Wie der Prozess der Verwirklichung des gebrochenen Subjekts als Text an die Suche nach einer eigenen poetischen Sprache gekoppelt ist, wird anhand von Tejeras experimentellen Romans Huir de la espiral verdeutlicht. 63 Hier kommt Kristevas semiotisches Konzept des procès de signifiance zum Tragen, das sie in La révolution du langage poétique entwirft. Damit ein- 62 Hernández-Ojeda, María (2005): „Una escritura sin márgenes“. In: Encuentro de la cultura cubana 39, 39. 63 Tejera, Nivaria (2011): Huir de la espiral. Madrid: Editorial Verbum. Im Folgenden ESP. 5.3 Eingrenzung 133 hergehend wird der Text auf das Phänomen seiner Resonanz hin untersucht. Dies geschieht sowohl in Bezug auf seine klanglichen Eigenschaften als auch in Hinsicht auf die Reichweite seines Erklingens, also auf seine Resonanzbeziehungen, die wiederum an den Zustand innerer Gefangenschaft gekoppelt sind. Was also kommuniziert die poetisch inszenierte Sprachlosigkeit, die innerhalb unpassierbarer Granitmauern - „paredes de granito infranqueables“ - der Kommunikationslosigkeit ausgesetzt ist? Finden die Worte einen Weg nach außen, weil das Unsagbare am Ende doch nicht unerhört bleiben kann? 5.3.3 Stille und Resonanz Wie der Titel schon verrät, schreibt sich auch der Roman Huir de la espiral in Tejeras Textuniversum der Exilpoetik ein. Die Spirale stellt nicht nur das konstitutive Symbol des Exils dar, sie ist auch das strukturgebende Element für den Narrationsverlauf. Ähnlich wie REV handelt es sich bei diesem Roman um eine hybride Gattung aus Poesie und Narration. Auf formaler Ebene wechseln sich narrative Passagen mit lyrischen Versanordnungen ab. Stilistisch inspiriert ist der Text vom Nouveau roman und dem späten Surrealismus, die Tejera ausschlaggebend geprägt haben (vgl. 3.3). Ihn charakterisiert eine gestische, von Irrationalität geprägte Schreibweise, bei der Fragmenthaftigkeit und Indeterminiertheit im Vordergrund stehen. María Hernández-Ojeda beschreibt ESP als „ejercicio lingüístico transgresor“, da der Roman in seiner labyrinthischen Form ohne Punktuation jegliche Normen durchbricht und sich dadurch in keine Gattung einordnen lässt: „no es novela, poema, ni ensayo o cuento“. 64 Gleichzeitig nimmt er alle Gattungen in sich auf, „un texto que incluye todos géneros literarios“ (Hernández-Ojeda 2009: 106). Ohne Zweifel ist ESP ein äußerst hermetischer und schwieriger Text und damit am Rande der Repräsentierbarkeit anzusiedeln. Die Autorin selbst bezeichnet ihn als „libro [...] ininteligible [...], una novela que no puede ser escrita“. 65 Es handelt sich folglich nicht um einen konsumierbaren Text, einen texte lisible im Sinne Roland Barthes, sondern vielmehr um einen texte scriptible, der den Leser als Schreibenden aktiviert und ihn folglich in den kreativen Prozess einer konstanten réécriture mit einbezieht. 66 Neben der Unterscheidung Barthes’ spielt bei der Analyse von Tejeras Roman noch eine weitere Kategorie eine Rolle: die den Leseprozess bestimmende „audible“ Qualität dieses Textes, d.h. dessen 64 Hernández-Ojeda, María (2009): Insularidad narrativa en la obra de Nivaria Tejera. Madrid: Editorial Verbum, 124. 65 Weiss, Jason (1999): „Descifrar el exilio. Entrevista a Nivaria Tejera“. In: Quimera 183, 11. 66 Vgl. Barthes, Roland (1970): S/ Z. Paris: Seuil, 10. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 134 Hörbarkeit, der in der folgenden Untersuchung besondere Beachtung zukommt. Der Roman ist in Paris situiert, in dessen Straßen der Exilant Claudio Tiresias Blecher umherirrt. Die Île-de France wirkt wie eine paranoide, halluzinöse Traumlandschaft, die mal als Danteskes Inferno, mal als mythologische Unterwelt des Hades erscheint, in denen sich der vollkommen isolierte Protagonist zwischen visionärem Delirium und erdrückendem Alptraum fortbewegt. 67 In seiner totalen Einsamkeit trifft Blecher auf kein greifbares Gegenüber, andere Figuren erscheinen als Visionen oder Traumbilder. In seinem Wahnsinn oder auch um sich von diesem zu befreien, spaltet sich der Protagonist fortwährend auf und wird sich selbst zum Gesprächspartner (vgl. Hernández Ojeda 2009: 121). Die folgende Passage verdeutlicht das wahnhafte Umherirren des von den Anderen abgeschotteten Protagonisten durch fragmenthaft angehäufte Aufzählungen, innerhalb derer die einzelnen Worte durch zusätzliche Leerzeichen graphisch voneinander abgetrennt werden. So assoziiert man bruchstückhafte Bildsequenzen von sich fortbewegenden Körpermassen und -teilen, die in einem ständigen Prozess des Sich-Auflösens und Sich- Wiederzusammensetzens begriffen sind. Abajo las gentes continúan viviendo descomponiendo recomponiendo los días [...] en tanto que los ojos las sandalias los senos los bastones los anteojos los brazos los cráneos se extienden como céspedes como rocas como hiedras justificando su rosada lisura, comunicándose entre trizas penden agitan el ritmo de la marcha de negros blancos indios alzando con un pie y luego el otro su propio polvo a ambos costados del „quartier latin“ dando saltos desde la calle de Hirondelle y su sombra de salamandra hasta la torre de Nesle y sus orgías fantasmas provocadoras des amours criards des chats (ESP 28) In den sinnzersetzenden und -ersetzenden Signifikantenketten liegt der in REV metafiktional beschriebene Versuch, die Worte zu befreien. Diese „Revolution der poetischen Sprache“ besteht laut Kristeva darin, deren symbolische Ordnung aufzubrechen und innerhalb der signifikanten Praxis (pratique signifiante) den Prozess der Sinngebung (procès de signifiance) of- 67 Wie Hernández-Ojeda hervorhebt, ist der Roman hochgradig intertextuell und intermedial aufgeladen. Ihre intertextuelle und intermediale Spurensuche ist bemerkenswert, da sie eine Vielzahl an intertextuellen Bezügen aufdeckt, darunter zu Dantes La Divina Comedia, zu Homers Versepos Odyssee, zu Gérard de Nervals Gedicht „El desdichado“, sowie auch zur griechischen und chinesischen Mythologie (2009: 107-112). Selbst der Protagonist ist ein hybrider Intertext: Der Nachname Blecher verweist auf den rumänischen Autor Maurice Blecher, Claudio evoziert den römischen Zensor Apio Claudio Caeco, mit Beinamen „der Blinde“, könnte aber auch ein Verweis auf den trunk- und spielsüchtigen römischen Kaiser Tiberio Claudio Neron sein (ebd.: 121). 5.3 Eingrenzung 135 fenzulegen (Kristeva 1974). Das Semiotische spielt dabei eine wichtige Rolle, da es jeder (symbolischen) Subjektpositionierung und Bedeutungsbestimmung vorausgeht (ebd.: 35). Der triebgesteuerte, präsymbolische, semiotische Raum (chora sémiotique) ist dadurch bestimmt, dass in ihm kein Sinn und keine Vorstellung (représentation) vorgegeben ist, sondern Sinngebung stets multipliziert, neu strukturiert und erzeugt wird (ebd.: 97). Die chora sémiotique kennzeichnet zudem eine mobile und unbestimmte Artikulation, die immer plural, heterogen, widersprüchlich und diskontinuierlich ist (ebd.: 85). Der procès de signifiance umfasst auch den menschlichen Körper, eine plurale Totalität mit verschiedenen Gliedern, die keine Identität besitzen, „mais qui sont le lieu d’application des pulsions. Ce corps démembré ne se réajuste, ne se met en branle, ne foncionne biologiquement et physiologiquement, qu’à condition d’être inclus dans une pratique qui embrasse le procès de la signifiance“ (ebd.: 96). Vor diesem Hintergrund wird die oben zitierte Passage aus ESP sowohl als semiotisch prozessgesteuerter Textkörper sowie auch als triebgesteuerter Körper-Text greifbar. Dieses Phänomen macht der Roman vor allem graphisch sichtbar, was die folgende Passage veranschaulicht, die innerhalb der Zeilenanordnung eine ‚treppauf-treppab-Bewegung’ verbildlicht, erst mit Satzfragmenten, dann mit einzelnen Wörtern und schließlich mit den einzelnen Buchstaben aus „suben“ und „bajan“, die sich zum unteren Seitenende hin verlaufen. los más sagaces han preferido construir escaleras peldaños y largueros largueros y peldaños que los empotren en las leyes de la gravedad y uno a uno suben bajan s b u a b j e a n n (ESP 34) 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 136 Folgt man den Bewegungen der Vokabeln und Buchstaben, so fällt neben dem Zusammenhang Textkörper - Körper-Text noch eine dritte Kategorie ins Auge, die sich bei der Romanlektüre erschließt. Diese Kategorie umfasst die rhythmische und klangliche Qualität der signifikanten Praxis. In Analogie zu Kristevas Terminologie kann man hier vom rhythme sémiotique sprechen, der dem Geschriebenen unterschwellig zu Grunde liegt, „indifférent au langage, énigmatique et féminin, déchaîné, irréductible à sa traduction verbale intelligible: il est musical, antérieur au juger, mais retenu par une seule garantie - la syntaxe“ (Kristeva 1974: 29). Dass sich das rhythmische Element in den Körper-Text einschreibt, zeigt im Folgenden der wahnhaft innere Monolog des Protagonisten Blecher, der in seinen bewegungslos-versteiften Körper hineinhört, um den Schlägen seines Herzens zu folgen: el delirio domina mi respiración mis gestos mi mirada... levantarse es lo peor porque cómo me pondré a andar otra vez los pies endormidos las piernas tiesas los ojos huecos las manos engarrotadas el vientre solo solo como un charco en el campo y el corazón pumpatapum pum pum mmmmmmmmm pum pummmmmmmm puño cerrado sobre el pecho y no ya dentro portón de resortes herrumbrosos abierto al vendaval toda la noche y en la boca rebotando una lengua inmóvil a todo esfuerzo de avanzar con el pensamiento hacia una idea sonora (ESP 111) Dieser Textausschnitt zeigt, wie in die Wechselwirkung Textkörper - Körper-Text auch die Kategorie Resonanzkörper - Körperklang hineinspielt. Die Rhythmik der Sprache manifestiert sich im Schriftbild, in dem das Geräusch „pum“ lautmalerisch den Herzschlag verbildlicht. Dabei zeigt sich der entfesselte Rhythmus darin, dass die einzelnen Phoneme des Gesamtlauts unregelmäßig angeordnet sind. Die bis zu neunfache Aneinanderreihung des Lautes „m“ vermittelt zudem eine Ausdehnung des Klangs und eine Tontiefe. In seiner sprach-klanglichen Hybridität lässt sich der Roman an der intermedialen Schnittstelle sowohl zwischen Wort und Bild, als auch zwischen Text und Musik verorten. Das Loslösen von der Sprache hin zur Musik wird zudem metapoetisch reflektiert, denn das Denken Blechers will sich jenseits des rationalen Verstehens hin zu einer klanglichen Idee, „hacia una idea sonora“, bewegen. Versteht man ESP als Resonanzkörper im Gesamten, so gilt es, ihn in Bezug auf seine Qualität als texte audible wahrzunehmen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Textkörper nicht als Mittel der Kommunikation, sondern schlichtweg als Artikulation im Sinne der Lauterzeugung, also als Versuch des Körper-Textes, sich klanglich hörbar zu machen. La melodía recomienza lalalalaaa lalalala tralalarala lalalala ( ) Afilando sus dientes en la piedra amoladera de los huesos la melodía resuena imperceptible y lúbrica por la trompa de Eustaquio armándose en 5.3 Eingrenzung 137 el caracol para deslizarse después fluida hasta el fondo del laberinto tralalalalalalala laaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa entre un desvelo y un sueño (ESP 59) In dieser Textpassage wird das Erklingen einer Melodie im Schriftbild durch das Buchstabenpaar „la“ dargestellt. Zwischen Wachen und Traum verklingen die Schwingungen des Tons in der Tiefe des Labyrinths, was graphisch anhand des Vokals „a“ verdeutlicht wird, der sich beinah durch eine gesamte Zeile zieht. Was sich auf graphischer Ebene vollzieht, wird auch durch die Textsemantik begleitet, denn die Melodie „resuena imperceptible“ - sie ist also trotz ihres graphischen Hervorstechens nicht hörbar. Dies fällt auch in einer anderen Passage ins Auge. Darin doppelt sich der Protagonist in eine „dualidad en vilo“ (ESP 109), wodurch sich seine Stimme in zwei teilt, die Claudios und die von Tiresias, der nach seiner anderen Hälfte ruft: Claudioooooooooooooooooooooooooooooooo ¿dónde dónde estás? ( ) (ESP 109) An dieser Stelle wird des Hallen des Rufes durch die Häufung des Vokals „o“ markiert, der wiederum beinahe eine gesamte Zeile ausfüllt. Auf die Frage „¿dónde estás? “, die im Textverlauf eingerückt ist, folgt ein Leerraum auf der Buchseite, in dessen Mitte eine leere Parenthese eingefügt ist - zwei Klammerzeichen, die nichts einklammern. So arbeitet auch diese Passage auf graphischer Ebene mit dem Phänomen der Klangerzeugung und der Stille. Das Sich-Hörbar-Machen trifft immer wieder auf ein Nicht- Gehört-Werden und hier kommt das Phänomen der Eingrenzung zum Tragen. Denn ESP erklingt als Schrei, der in der Stille verklingt, da er zu keinem Außen durchzudringen vermag, so ostentativ ,laut’ er auch dargestellt wird. So scheint der gesamte Text in seiner Ansammlung von klingendem Wortmaterial zur Darstellung eines stillen Schreis zu dienen. Dieses Phänomen wird besonders deutlich im folgenden Textausschnitt. Wieder befindet sich der Protagonist am Rande des Wahnsinns in einem Zustand der Gespaltenheit, in dem Tiresias beginnt, einen monologischen Dialog mit Claudio zu führen, der nicht aufhört zu schreien, da er sich von Bestien verfolgt sieht. Alptraumartig-wahnhafte Bilder von Zerstörung und Tod bevölkern die Textpassage mit wütenden Schlangen, Ertrunkenen, Kadavern und Gefolterten, die nackt an den Füßen aufgehängt sind (vgl. ESP 71). 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 138 [...] Claudio Tiresias grita grita con la boca abierta en óvalo oblícuo [...] pero más grita, más los otros avanzan más lo aíslan [...] ayyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyy inútil gritar nadie te ve nadie te oye ( ) es ese el exilio ES ESE EL EXILIO (ESP 71) Der sich beim Schrei in ein schräges Oval verzerrende Mund erinnert lebhaft an Edward Munchs Gemälde Der Schrei. Dies wirft aus intermedialer Perspektive die Frage auf, wie man einen Schrei visuell darstellen kann und zwar in einem Medium, das grundsätzlich keine auditive Fähigkeit besitzt. 68 Bei Tejera findet sich der gedehnte Schrei lautmalerisch im Schriftbild wieder. Er wird im Verlauf des Textes vier weitere Male wiederholt. Das Phänomen der verzweifelten Einsamkeit und der totalen Isolation des Protagonisten wird auch auf semantischer Ebene erschreckend deutlich. Denn je mehr Claudio Tiresias schreit, desto weiter entfernen sich die Anderen, so dass jedes Rufen unnütz ist, denn niemand sieht noch hört ihn. Genau in diesen/ m von Stille und Leerräumen umgebenen Rufen (be)steht das Exil, was die Wiederholung des Satzes „ES ESE EL EXILIO“ in Majuskeln besonders deutlich hervorzuheben scheinen will. Die Großbuchstaben vermitteln darüber hinaus die Totalität der Eingrenzung, aus der es kein Entrinnen gibt. In ihrer Selbstspaltung vervielfältigt sich zwar die Stimme des Protagonisten, doch - um in der Terminologie der Musik zu sprechen - in ihrem Monolog-Dialog schwingt die gedoppelte Stimme in ihrer Eigenfrequenz lediglich von einer Wand des Resonanzkörpers zur nächsten, ohne sie zu passieren und den Klang nach außen zu tragen. Auch hier geht es nicht eigentlich um die Kommunikationsfähigkeit der Stimme, sondern um ihre Audibilität. Im Textverlauf greifen fünf in das Textfeld geworfene, beinahe identische Passagen das Paradox des Monolog-Dialogs auf. Diese erscheinen wie ein rhythmisches Element, eine Art Litanei, die wortwörtlich wiederholt wird, in der die Satzfragmente jedoch durch Enjambements, Parenthesen und Leerzeichensetzungen graphisch unterschiedlich angeordnet sind, sodass sie verschiedene Klangrichtungen und Sprachrhythmen vermitteln. 68 Dies gilt nicht nur für das Medium Bild, sondern natürlich auch für das Medium Schrift. Hier sei auf das Gedicht „El grito“ der kubanischen Lyrikerin Dalmaris Calderón verwiesen, das Munch gewidmet ist. Darin heißt es: „Inaudible / Inasible / el grito cruza las gargantas / como el navío que se hunde. / Monstruoso en su silencio.“ Aus der Anthologie De Guijarros. In: Guerrero, Gustavo (Hg.) (2010): Cuerpo Plural. Antología de la poesía hispanoamericana contemporánea. Madrid / Buenos Aires / Valencia: Pre-Textos / Instituto Cervantes, 269. 5.3 Eingrenzung 139 Monólogos-diálogos monosilábicos Rachas de silábas interjectivas a falta de respiración ESO a falta de respiración huracanes del contrapunteo intercambio de sombras y luces del pensamiento tajadas por mecánicas de tortura el pensamiento un ahogado en descomposición ( ) (ESP 35) (Monólogos-diálogos monosilábicos Rachas de silábas interjectivas a falta de respiración ESO a falta de respiración huracanes del contrapunteo intercambio de sombras y luces del pensamiento tajadas por mecánicas de tortura El pensamiento un ahogado en descomposición ( ) (ESP 73) 69 In diesem Zitat wird das, was die Schreibweise des Romans ausmacht, noch einmal auf semantischer Ebene aufgegriffen, indem von einer Atemlosigkeit die Rede ist, die Böen von „sílabas interjectivas“ erzeugt. Die Klanglichkeit des Textes ist von seinem Atemrhythmus bestimmt. Tejera selbst beschreibt ihren Roman als „un libro, que trata de plasmar en silencios múltiples la respiración de un exiliado“ (Weiss 1999: 11). Der procès de signifiance ist gekennzeichnet von einem aus der Atemlosigkeit hervorgebrachten semiotisch entfesselten Rhythmus, begleitet von einer aufsteigenden Klanglichkeit und ihrem Verklingen. Was Stille und Klang für den Resonanzkörper sind, sind Zersetzung und Neuformierung von Sinn und Bedeutung für den Textkörper. Dekomposition und Neu-Kombination sind Momente einer signifikanten Praxis „en référence à un arrêt, à une limite, à une barrière symbolique“ (Kristeva 1974: 97). Mit den grenzüberschreitenden, Sprache sprengenden Bewegungsläufen fordert Tejera in ihrem Roman die symbolische Ordnung der Sprache heraus: „En su archipiélago poético, la autora reta el discurso del poder con la palabra“ (Hernández- Ojeda 2009: 20). Das Grundprinzip der sinnzersetzenden und -ersetzenden Praxis besteht im Klangerzeugnis. Tejera schafft einen eingegrenzten Hohlraum, den sie in einen pulsierenden Resonanzkörper verwandelt, in dem unendlich viele Stimmen und Worte durch Schwingungen zum Klingen gebracht werden, der jedoch in sich hermetisch abgeschlossen bleibt. Die sprachliche Eingrenzung lässt die verzweifelt stummen Schreie des exilierten Protagonisten zwar nach innen erklingen, jedoch nicht nach Außen heraus schallen. In einer intermedialen Dimension lässt sich ESP als Körperschrift und auch als Körperklang erfassen, der sich in seiner Unsagbarkeit schreibbar und in seiner Atemlosigkeit hörbar machen will. Wie sich der fragmentierte und verirrte Körper-Text in den Textkörper einschreibt, so schwingt der stumm-schreiende Körperklang als unhörbare 69 Weitere Passagen in ESP 96 und 117. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 140 Melodie im Resonanzkörper. Schlussendlich ist der gesamte Roman als corps en procès im Sinne Kristevas zu begreifen. ESP ist ein eingegrenzter Körper im Exil, der sich selbst in einem ständigen Prozess der Sinngebung zersetzt und wieder fortschreibt, dessen Atem- und Stimmlosigkeit in der Melodie eines unaufhörlichen Prozesses der Lautgebung erklingt. Die physische Dimension des eingegrenzten Text-Klang-Körpers zeugt von einem Rückzug auf eine verkapsulierte Sprachinsel, die von jeglicher Kommunikation nach außen abgeschottet ist. Tejera erschafft in ESP einen Resonanzkörper, der die Brüche des Exils von Innen her zum Klingen bringt. Durch die Wechselwirkung der Phänomene Körper als Medium und Medium als Körper erhält ESP in seiner Prozessualität einen Ereignischarakter, der die Unterscheidung zwischen Dichtung und Leben aufhebt. Das Ereignis heißt Überleben, weil es die Stille zum Klingen bringt und den Tod verlebendigt. 5.4 Abgrenzung Inwiefern verschreibt sich die kubanische Gegenwartsliteratur in Paris einer sprach- und textbezogene „Kubanität“ (Ette 2005: 164)? Ette geht davon aus, dass die kubanische Nationalliteratur von ihrem Beginn an durch ein Oszillieren gekennzeichnet ist. Zwar richtet sie sich stets am „Zentrum der Insel Kuba“ aus, aber im kubanischen Selbstverständnis ist jede Verbarrikadierung im vorgeblich „Eigenen“ immer schon mit dem „Anderen“ untrennbar verwoben (2005: 171, 164). Vergleichbar damit spricht Gustavo Pérez Firmat in Bezug auf die Literatur und Kultur Kubas von „translational performances“, um damit zu betonen, dass die Suche nach einer eigenen nationalen, aber vor allem literarischen Sprache sich immer innerhalb einer sich vom „Vorbild“ Europa abgrenzenden Übersetzungsleistung vollzieht. 70 Der kubanische Stil obliegt also einer „relationalen Originalität“: „Cuban style is translation style“ (ebd.: 4). Diese Relationalität entsteht auch durch die Bewegungen der AutorInnnen kubanischer Literatur zwischen „Vertreibung und Exil“, „Diaspora und Wohnsitzlosigkeit“, die „der escritura cubana von Beginn an eingeschrieben“ sind (Ette 2005: 171). Die Relationalität der Kubanität erzeugt laut Ette eine „Vielfalt an Blickwinkeln, Resemantisierungen und Logiken“ (ebd.: 178), die hier besondere Beachtung finden soll. Mit Rücksicht auf die Phänomene der Sprachlichkeit und der Spachigkeit geht es dabei um den Rückbezug auf Kuba, der für die DichterInnen der Diaspora das eigene Selbstverständnis erzeugt (vgl. 5.1), die Selbstverständigung mit anderen ermöglicht und ihnen so Selbst- 70 Pérez-Firmat, Gustavo (1989): The Cuban Condition: translation and identity in modern Cuban literature. Cambridge: Cambridge University Press, 12. 5.4 Abgrenzung 141 verständlichkeit verschafft. Die sprachlichen Übersetzungsphänomene stellen somit eine „intralingual translation“ dar, mit der in einem Prozess der Abgrenzung ein „insulares Bewusstsein“ erzeugt wird (vgl. Pérez Firmat 1989: 5). 71 Im Vordergrund steht die Analyse intertextueller Bezüge, mit Hilfe derer festgestellt werden kann, wie sich die kubanischen GegenwartsdichterInnen in Paris im anbrechenden 21. Jahrhundert zu den literarischen Traditionen der Insel positionieren und so ein ‚insulares Gedächtnis’ aufrechterhalten. In sprachlicher Hinsicht wird der Rückbezug auf Kuba im Spannungsfeld des die kubanische Lyrik seit den 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts beherrschenden Gegensatzes zwischen engagierter und ,lebensnaher‘ Dichtung (z.B. Nicolás Guillén) und dem Transzendentalismus (z.B. José Lezama Lima) erfolgen: 72 Erstere orientiert sich sprachlich an einem „literary vernacular, [...] that respects and reflects the specificity of Cuban life“ (Pérez-Firmat 1989: 6), letzterer beruft sich auf die Autoreferentialität der Sprache und löst sie damit von ihrer kontextuellen Einbettung los. Beide Strömungen finden Resonanz in der kubanischen Dichtung in Paris und verdeutlichen Prozesse der kulturellen Gedächtnisbildung im Kontext der Diaspora. 5.4.1 Intertextualität und Regionalismus Die Anthologie Ínsulas al pairo enthält sechs Gedichte der Lyrikerin und Kinderbuchautorin Lira Campoamor, die biographisch motiviert sind. Allen gemeinsam ist die von Kubanismen durchdrungene Umgangssprache, die durch eine Vitalität gekennzeichnet ist, deren Effekt der Mündlichkeit zusätzlich eine ganz eigene Rhythmik und Klanglichkeit erzeugt. Für die folgende Analyse wird das Gedicht „Poeta Joven“ (PJ, IP 101f) herangezogen, um das spezifisch kubanische Selbstverständnis, wie es in der Lyrik Campoamors zum Ausdruck kommt, näher zu bestimmen. Dabei spielt die Bezugnahme der Dichterin auf das kulturelle Gedächtnis Kubas eine ausschlaggebende Rolle. Gemäß der drei Kategorien Erlls wird das Gedicht „Poeta Joven“ auf seine Speicherfunktion kultureller Texte, auf seine Zirkulation als kollektiver 71 Pérez-Firmat verwendet Jorge Mañachs Begriff der „insular consciousness“, um zu zeigen: „translation needs to isolate itself“ (1989: 5). Der Meinung Scharlaus entsprechend, zeigt sich hier, dass Pérez-Firmat einen sehr weit gefassten Übersetzungsbegriff anwendet: „Mal meint er damit sprachliche Übertragungen, mal eine bestimmte amerikanische Art Texte zu lesen, mal die Aneignung von Fremdmodellen. Übersetzung dehnt sich hier vom linguistischen Fachterminus, über literarische Prozeduren bis hin zur kulturtheoretischen Metapher“ (Scharlau 2002: 19). 72 Vgl. Dill, Hans-Otto (1999): Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick. Stuttgart: Reclam, 454. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 142 Text und schließlich auf seine erinnerungskulturellen Abrufhinweise, auf die sogenannte cue-Funktion hin untersucht (2005: 256). In Anlehnung an Maurice Halbwachs’ Begriff der cadres sociaux, der sich auf soziale Bezugsrahmen bei der Gedächtnisbildung bezieht, die in Form von Kommunikation und Interaktion geschaffen werden, entwirft Erll zusätzlich den Begriff der cadres médiaux (ebd.). 73 Die Lyrik bildet hier einen solchen „medialen Rahmen des Erinnerns“ (ebd: 257) und entfaltet darin eine „gedächtnisbildende Wirksamkeit, die zur individuellen und kollektiven Sinnstiftung beiträgt“ (Neumann 2005: 151). Dem „erfahrungshaftigen Modus“ (Erll 2005: 268) von Campoamors poesía circunstancial wird dabei besondere Rechnung getragen. Wie der Titel schon ankündigt, erzählt das Gedicht in Form einer alltäglichen Momentaufnahme von einem jungen Dichter. Er ist afrokubanischer Abstammung und sagt von sich selbst - stark schwitzend, mit einem „explosiven schwarzen Gesicht“ (V.5) - er sei Poet: Poeta Joven 01 Ese tipo que está ahí dice de sí mismo que es un poeta joven. 02 Suda fuerte, 03 sólo a veces parece maricón 04 carga con una explosiva cara negra 05 que no sabe el viceversa 06 de su bisabuela en la llanura manchega 07 de su bisabuelo 08 vendido por un fula en Guinea. Der erste Vers des Gedichtes erscheint wie ein einleitender Satz, auf den eine zweite syntaktische Einheit folgt, die sich auf sieben Verse erstreckt. Schon zu Beginn werden die unpoetische Sprache und der narrative Konversationsstil besonders deutlich, was sich vor allem in der Lexik niederschlägt, betrachtet man die in der Alltagssprache verhafteten Substantive „tipo“ (V.1), „maricón“ (V.3) und „fula“ (V.8). 74 Das implizite lyrische Ich tritt damit aus einer Beobachterposition heraus in Erscheinung und zieht so den Leser in die Szene aus der kubanischen Alltagswelt hinein. Obwohl es sich nicht explizit äußert, verdeutlicht das implizite Ich einen Wissensvorsprung dem jungen Poeten, dem Sujet des Gedichts, gegenüber, und nimmt daher - um einen Terminus aus der Narrativik zu verwenden - die Position eines auktorialen Erzählers ein. 73 Halbwachs, Maurice (1950): La Mémoire collective. Alexandre, Jeanne (Hg.). Paris: Presses Universitaires de France. 74 Letzteres bezeichnet im umgangssprachlichen kubanischen Spanisch eine vertrauensunwürdige Person und wird in diesem Fall auf einen Sklavenhändler angewandt. Vgl. http: / / buscon.rae.es/ draeI/ SrvltConsulta? TIPO_BUS=3&LEMA=fula. Zugriff: 06.03.2012. 5.4 Abgrenzung 143 „Poeta Joven“ dreht sich um eine Gegenwart, in der die Vergangenheit ausgeblendet ist. Diese Ausblendung manifestiert sich im Unwissen des jungen Poeten, „que no sabe“ (V.5). Die Verse 5 bis 8 verweisen auf den ‚Ursprung‘ der kubanischen Kultur, die auf dem Erbe der Sklaverei beruht. Der junge Dichter weist kein Bewusstsein einer afrokubanischen Identität auf. Er weiß weder von der Vergangenheit seiner Urgroßmutter, die als Sklavin auf den Zuckerrohrfeldern der „llanura manchega“ (V.6) schuftete, noch von seinem Urgroßvater, der aus Afrika verschleppt wurde. Die Geschichte der Vorfahren wird hier über einen intertextuellen Verweis auf Nicolás Guilléns Gedicht „Balada de los dos abuelos“ verhandelt (Antología Mayor 74-76). 75 Damit reihen sich diese Verse in die pankaribische Gedächtnisdebatte ein, die in engem Zusammenhang mit den Begriff der transculturación stehen. Dieser Diskurs wurde im Kontext der kubanischen Literatur vor allem von Nicolás Guillén und Nancy Morejón geprägt, deren Dichtung die kulturelle Hybridität der Afrokubanität zum Gegenstand hat. 76 Was an dieser Stelle als intertextuelle Referenz mitschwingt, wird in den folgenden Versen durch explizite Bezugnahmen auf die kubanische Kultur und Literatur erweitert. Das Unwissen des jungen Poeten kommt durch das Verb „sospechar“ noch einmal zum Ausdruck, als Form des ‚Nicht-Einmal-Erahnens’. 09 No sospecha que existe El ingenio 10 de Moreno Fraginals 11 ni María Teresa Vera 12 ni puede pasar por un negrito fino 13 de esos que terminan Filología en la Universidad, 14 buscan las tertulias de Víctor Fowler en la Biblioteca Nacional, 15 aman a Poveda, Casal, Loynaz 16 y tienen todos sus huecos 17 repletos de letras y cisnes. Hier zeigt sich, was Emilio Ichikawa in seiner Rezension zu IP dazu bewogen haben wird, Campoamors Lyrik als „desafio referencial“ zu qualifizieren. 77 Anhand einer Aufzählung von kubanischen Intellektuellen und SchriftstellerInnen wird in aller Dichte die kubanische Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts durchlaufen. Genannt werden Moreno Fraginals, der mit El ingenio eine ökonomisch-historische Abhandlung über die 75 Dass sich das Trauma der Geschichte wie ein Schatten auch über die Folgegenerationen der deportierten Sklaven legt, drücken die ersten zwei Verse von Guilléns Ballade aus: „Sombras que sólo yo veo, / me escoltan mis dos abuelos.“ 76 Zu einer näheren vergleichenden Analyse beider Dichter, vgl. Hernández 2011: 126- 138. 77 Ichikawa, Emilio (2005): Más allá de las profesiones: poesía cubana en París. http: / / www.eichikawa.com/ critica/ poesia_cubana_paris.html. Zugriff: 06.03.2012. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 144 kubanische Zuckerindustrie im 19. Jahrhundert schrieb, María Teresa Vera, als Sängerin, Gitarristin und Komponistin eine wichtige Repräsentantin der kubanischen Musik und der Poet und Essayist Víctor Fowler, der als Literaturförderer das von der Biblioteca Nacional ins Leben gerufene „Programa Nacional por la Lectura“ unterstützt. 78 Die Namenskombination Poveda, Casal und Loynaz wird die Kenner des nationalen Literaturkanons Kubas zum Schmunzeln bringen, da sich Campoamor hier explizit auf die kubanischen Empfindsamkeitsdichter bezieht, die den „negritos finos“ im Philologiestudium vorbehalten sind (V.12f). Der Modernist Julián del Casal gilt als modebewusster Dandy mit einer Vorliebe für Geschmeide, der in lyrische Antiwelten flieht und darin „kunstvoll ziselierte Verse voll Unbefriedigtsein, Nostalgie und Exotismus“ schafft (Dill 1999: 190). José Manuel Poveda zeichnet sich durch seine „Vorliebe für Raffinement, Luxus und Antikult sowie Abscheu vor der Alltagstrivialität“ aus (ebd: 213), während Dulce María Loynaz durch ihre imaginierten Gegenwelten und ihre Intimitätslyrik als grande dame in die kubanische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts einging (vgl. ebd: 273). Die intertextuellen Verweise auf verschiedene kulturelle Texte des kubanischen Literaturkanons nehmen durch ihre explizite Aufzählung eine cue-Funktion ein, also eine Abruffunktion, die in der „Erinnerungsgemeinschaft“ des kubanischen Lesepublikums Identifikationen stiften (Erll 2005: 255). So argumentiert Ichikawa, die Gedichte Campoamors seien geprägt von „evocaciones referencialistas donde a veces uno se siente como en casa“ (2005). Sicherlich wird dieses „heimatliche“ Gefühl durch den Stil der gesprochenen Alltagssprache verstärkt. Innerhalb des Gedichts stehen die evozierten Namen jedoch im Kontrast zum Unwissen des „Poeta Joven“, der sich an der Unterhaltungskultur der USA orientiert. Im zweiten Teil des Gedichts werden die Referenzen auf kulturelle Texte durch solche auf kulturelle und historische Kontexte erweitert: 18 Mientras dice de si mismo que es un poeta joven 19 se le caen de la mochila 20 dos VHS repletos de rap 21 una revista que saca a Eddie Murphy 22 levantando un capitolio de millones, 23 su sueño es largarse a la yuma ahora mismo. 24 A ese tipo no se le van los ojos 25 detrás del culo de una negrita con pelo de muñeca 78 Vgl. Moreno Fraginals, Manuel (1978): El Ingenio. Complejo económico-social cubano del azúcar. Band I-III. Havanna: Editorial de Ciencias Sociales. Zu Victor Fowler: http: / / www.visiblecity.ca/ index.php/ artists/ 101-victor-fowlercalzada. Zugriff: 11.03.2012. 5.4 Abgrenzung 145 26 si sueña con violar blancas. 27 Nació después que alguna secreta se había echado a 28 Luther King, Che Guevara, Malcolm X, John Lennon y Silvio Rodríguez. 29 Era muy pequeño para que el Caballo lo mandara 30 a morirse en Angola o en alguna otra misión. 31 Tiene miedo de montarse en una balsa y que se lo jamen los tiburones 32 En el golfo o que lo cargue la Griffin 33 Ese poeta joven 34 se pierde en las grandes noticias de fin de siglo. 35 Está oyendo FM. Vers 23 spiegelt die zentrale Aussage dieser Gedichtpassage wieder. Der idiomatische Kubanismus „Largarse a la yuma“, „in die USA abhauen“, spiegelt den Lebenstraum vieler Kubaner, die in ihrem Land die Hoffnung auf eine Zukunft verloren haben. 79 Der Schauspieler Eddie Murphy, Repräsentant der amerikanischen Unterhaltungs- und Massenkultur, steht hier kontrastiv zum verarmten, Mangel erleidenden Kuba und symbolisiert damit den Traum vom Paradies USA. Die Vereinigten Staaten stehen auch für einen Reichtum an Unterhaltungsmedien, wie Radiokanäle, Videokassetten und Zeitschriften, die den Kubanern vorenthalten sind, die aber dennoch auf der Insel zirkulieren. Die Abkürzungen VHS und FM für technische Medienformate sind in PJ geradezu antipoetisch hervorgehoben. In der Orientierung des jungen Dichters an der nordamerikanischen Popkultur zeichnet sich auch ein Generationenkonflikt im kollektiven Gedächtnis des heutigen Kubas ab. Dieser kommt am Schluss des Gedichts zum Ausdruck, der mit Martin Luther King, Che Guevara, Malcolm X, John Lennon und Sílvio Rodriguez auf die internationale Friedensbewegung verweist. 80 Der Dichter ist zu jung, als dass der Bürgerkrieg in Angola noch in seinem Gedächtnis verhaftet wäre, in den Fidel Castro, hier als „el Caballo“ bezeichnet, 1975 seine Truppen sandte (V.29). Die Angst des jungen Mannes besteht vor allem darin, dass ihm die Flucht von der Insel nicht gelingen könnte. Und auch hier wird mit „montarse en una balsa“ (V.31), das auf die Massenflucht der balseros seit Beginn der 1990er Jahre verweist, an das kollektive Gedächtnis der Kubaner appelliert. Das Durchlaufen der kubanischen Geistesgeschichte durch die mittels der Intertextualität evozierten AutorInnen kultureller Texte, aber auch die Aufzählung historischer Ereignisse zeigen die gedächtnisbildende Qualität des Gedichtes, das kulturelle Texte und Kontexte des kollektiven Gedächtnisses Kubas in sich speichert. Die erinnernde cue-Funktion der Inter- 79 Yuma ist ein Kubanismus, der ursprünglich auf die USA angewandt wurde, inzwischen aber Ausländer und Touristen auf Kuba im Allgemeinen bezeichnet. 80 Silvio Rodríguez ist ein kubanischer Liedermacher der linksintellektuellen Nueva Trova Cubana. Zusammen mit Pablo Milanés dessen bekanntester Vertreter (vgl. Dill 1999: 457). Vgl.: http: / / www.silviorodriguez.org/ . Zugriff: 11.03.2012. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 146 textualität, die den künstlerischen Reichtum der Insel evoziert, steht jedoch in Abgrenzung zu der Tatsache, dass der junge Poet - als exemplarische Figur für die junge Generation Kubas - sich nicht auf diese Texte und Kontexte kultureller Selbstverständigung bezieht, da sie nicht in seinem Gedächtnis verhaftet sind. Damit kommuniziert das Gedicht nicht nur „gedächtnisbildende“ Aspekte kultureller Sinnstiftung, sondern beinhaltet auch das Potential der „Gedächtnisreflexion“ (Erll 2005: 265). Der Wunsch des Poeten, die Insel verlassen zu wollen - und zwar „ahora mismo“ -, stößt eine Identitätsdebatte an, die die kritische Frage nach einem „quien somos“ in den Kontext einer postideologisch geprägten Revolutionsgeneration stellt. In deren Werthierarchie nehmen Rap-Songs eine höhere Stellung ein als die Protestlieder von Silvio Rodríguez. „Die Bestimmung der Identität bleibt ein zentrales Thema der kubanischen Lyrik über die Grenzen hinweg“, so Franzbach (2001: 459). Hierbei stellt sich die Frage nach der Zirkulation der Gedichte Campoamors. Denn will man sie erinnerungskulturell kontextualisieren, so muss der Tatsache Beachtung geschenkt werden, dass sie, obwohl auf Kuba verfasst, Teil der diasporischen Erinnerungsgemeinschaft sind, erscheinen sie doch in der Anthologie kubanischer Dichtung in Paris. Die Abgrenzungslinie vollzieht sich also zwischen „poesía cubana contemporánea“ und „en París“, da sich die Dichterin, unabhängig von der geographischen Transplantation ihrer Gedichte, auf Kuba und auf dessen nationale (Kultur)Geschichte bezieht und sich damit an ein kubanisches Lesepublikum richtet. Die Standortgebundenheit in einem kulturellen Kontext außerhalb Kubas hebt die Bedeutung ihrer Gedichte als Zirkulationsmedium hervor, auch wenn sie in diesem Kontext nur marginale Bedeutung haben. In Bezug auf das Phänomen der sprachlichen Abgrenzung besteht deren Gedächtniswirksamkeit vor allem in der Vitalität der Sprache, die in einem Rezeptionskontext außerhalb Kubas eine dialogische und damit resonanzstiftende Funktion einnimmt. Durch die Aufnahme kubanischer Alltagssprache und Idiomatismen und der damit einhergehenden Oralität wird der Leser in den Text und seine momentane und regionale Wirklichkeit hineingezogen. Das dichterische Verfahren des conversacionalismo zeichnet sich in den Gedichten Campoamors durch einen „erfahrungshaftigen Modus“ aus (Erll 2005: 268). In ihrer Erfahrungsspezifität „erscheint das Erzählte als Gegenstand des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses“ (ebd.). Die Vitalität der Sprache vermittelt durch die regionale Verankerung einen hohen Grad an Authentizität. Das im geschriebenen Text gesprochene Wort erzeugt einen effet du réel im Sinne Barthes’, durch den die beobachtete Momentaufnahme noch einmal erfahrbar ge- 5.4 Abgrenzung 147 macht und verlebendigt wird. 81 Im kommunikativen Potential dieser erfahrungshaften Alltagspoesie werden die externe Wirklichkeit und die interne Textwelt miteinander fusioniert und Fragen nach den Grenzen zwischen Dichtung und Leben aufgeworfen. 82 Im transnationalen und diasporischen Kontext ihrer Zirkulation vergegenwärtigt dieses Gedicht Campoamors darüber hinaus die Erinnerung an Kuba und erinnert gleichzeitig an verschiedene Inhalte des kollektiven Gedächtnisses. Im Sinne eines „Travelling Memory“ (Erll 2011) betreibt die Dichterin eine rege Kommunikation über nationale Grenzen hinweg, die zum Austausch über sinnstiftende Gedächtnisinhalte der Kubanität in der Erinnerungsgemeinschaft der kubanischen Diaspora anregt und dadurch nicht zuletzt „heimatliche Gefühle“ bei ihren LeserInnen heraufbeschwört. 5.4.2 Transmediales Erinnern: María Belén Chacón Ähnlich wie mit Campoamors referentiell aufgeladener Dichtung verhält es sich mit Miguel Sales’ Gedicht „La otra rumba de María Belén“ (RMB, IP 89). Er adressiert sein Gedicht als Hommage an Emilio Ballagas, mit dem er in pragmatischer Hinsicht in einen Dialog tritt. Titel und Widmung kontextualisieren das Gedicht für den kundigen Leser, dem beide Paratexte als cue-Funktion dienen können. Denn sie rufen das bekannte Son-Gedicht von Emilio Ballagas, „Elegía de María Belén Chacón“, in Erinnerung, das in dessen Anthologie Cuaderno de poesía negra (1934) erschien. Ballagas’ Lyrik zeichnet sich einerseits durch eine transzendentale, an Schönheit und Vergänglichkeit ausgerichtete poesía pura aus, die von der Neoromantik in seiner frühen Dichtung bis zum Neoklassizismus späterer Jahre reicht (vgl. Jímenez 1981: 357). Andererseits wendet sich Ballagas dem negrismo zu - und zwar aus einem Blickwinkel des Außenstehenden -, da er selbst im Gegenzug zu Guillén der weißen, burgeoisen Oberschicht Kubas angehörte. Mit seiner „brillante interpretación lírica de sentimientos y tradiciones que le eran ajenos“ (ebd.) widmet er sich den Lebensumständen der afrokubanischen Bevölkerung auf der Suche nach der spezifischen Sinnlichkeit der afrokubanischen Kultur und deren Rhythmen, Sprachen und Tänzen. 83 81 Barthes, Roland (1993): „L’effet du réel“. In: Ders.: Œuvres Complètes. Band II. Marty, Éric (Hg.). Paris: Seuil. 82 Vgl. hierzu die Untersuchung von Sarabia, Rosa (1997): Poetas de la palabra hablada. Un estudio de la poesía hispanoamericana contemporánea. Rochester: Tamesis. 83 Cintio Vitier charakterisiert die poesía negra von Ballagas als „fase ocasional y secundaria“, die auf den starken Einfluss der négritude und des negrismo in beiden Amerikas der 1930er Jahre zurückzuführen sei. Für Ballagas stellte dieser Ausflug „otro plano de evasión“ dar, eine Suche nach einer „sensualidad sin pecado, adánica o pueril“, nach einer „elementalidad sensorial“, die auch dessen ersten Gedichtband Júbilo y Fuga kennzeichneten. Vitier, Cintio (1955): „La poesía de Emilio Ballagas“. In: Obra poética de Emilio Ballagas. Havanna, XIIIf. Im Folgenden Obra poética 1955. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 148 Wie bei Guillén findet sich in der poesía negra von Ballagas die Verquickung von Musik und Dichtung. Die traditionellen Musikstile von Son und Rumba werden mit afrokubanischem Vokabular in die Rhythmik der Verse aufgenommen. In seiner Elegie an María Belén Chacón verdichtet Ballagas das Schicksal einer afrokubanischen Sängerin und Rumba-Tänzerin (rumbera), die sich als Wäscherin ihren Lebensunterhalt verdient. Eines Morgens verbrüht sie sich bei Tagesanbruch die Lunge durch ein Bügeleisen. Fortan kann sie nicht mehr singen: Elegía de María Belén Chacón 01 María Belén, María Belén, María Belén 02 María Belén Chacón, María Belén Chacón, María Belén Chacón 03 Con tus nalgas de vaivén de Camagüey a Santiago, de Santiago a Camagüey 04 En el cielo de la rumba, 05 ya nunca habrá de alumbrar 06 tu constelación de curvas. 07 ¿Qué ladrido te mordió el vértice del pulmón? 08 María Belén Chacón, María Belén Chacón... 09 ¿Qué ladrido te mordió el vértice del pulmón? 10 Ni fue ladrido ni uña 11 Ni fue uña ni fue daño. 12 La plancha, de madrugada, fue quien te quemó el pulmón! 13 María Belén Chacón, María Belén Chacón... 84 Die Rhythmik und Musikalität des Namens María Belén Chacón in Ballagas’ Gedicht wird durch dessen Wiederholung in den refrainartigen Strophen besonders hervorgehoben (V.1-2, 8, 13). Auch die chiastische Struktur der anapherischen Aneinanderreihung von „ni fue“ erzeugt eine rhythmische Klanglichkeit (V.10-11). Sales verweist nun in seiner Variation des Gedichts schon im Titel auf die literarische Referenz und deren Liedhaftigkeit, indem er von der „otra rumba de María Belén“ spricht. Auch die Struktur des Refrains übernimmt er. Ausschlaggebend für die folgende Analyse ist die Frage, wie sich Sales’ Version in ihrer Resemantisierung von Ballagas’ Elegie unterscheidet. Die Tatsache, dass er seine Hommage rund sechzig Jahre später, im Jahr 1997 in Paris verfasste und diesen beabsichtigten Anachronismus durch eine 84 In: Obra Poética 1955: 66-67. Erstmals veröffentlicht 1928 in der Revista de Avance. Vgl. Benítez-Rojo, Antonio (1999): „The role of Music in the emergence of Afro-Cuban Culture“. Übersetzt von James Maraniss. In: Okpewho, Isidore / Boyce Davies, Carole / Mazrui, Ali (Hg.): The African Diaspora. African Origins and New World Identities. Indianapolis: Indiana University Press, 200. 5.4 Abgrenzung 149 paratextuelle Zeit- und Ortsangabe in der Anthologie explizit betont, wirft erneut die Frage der erinnerungskulturellen Kontextualisierung des an Kuba gerichteten und in Paris geschriebenen Gedichts auf. La otra rumba de María Belén 01 Voz de plata macuquina, 02 cutis de canela fina 03 María Belén Chacón. 04 Un negro de Camagüey 05 Matrero y baracutey 06 Te ha robado el corazón. 07 María Belén 08 María Belén 09 María Belén Chacón. 10 Y a la noche, en el batey 11 Se oye subuso este son: 12 „Tu boquita de mamey 13 ha sido tu perdición“. 14 María Belén 15 María Belén 16 María Belén Chacón. Im Gegensatz zu Ballagas’ Gedicht zeichnet sich RMB durch die Kürze der siebenbis achtsilbigen Verse und ein regelmäßiges Reimschema aus (aab / ccb / ddb / cbcb / ddb). Die erste Strophe greift die Schönheit der Sängerin auf. An Stelle der „nalgas“ (V.3) und der „constelación de curvas“ (V.3), mit der Ballagas die Schönheit der tanzenden Bewegungen betont, hebt Sales ihre Stimme, die er als geprägte Silbermünze, „macuquina“, metaphorisiert und ihre feine, zimtfarbene Haut hervor (V.1). Die zweite Strophe bringt im Gedichtvergleich den semantischen Einschnitt. Zwar bleibt mit Camagüey die Ortsgebundenheit an den stark afrokaribisch geprägten Oriente Kubas bestehen (vgl. Ballagas V.4), doch flechtet Sales eine unglückliche Liebesgeschichte in sein Gedicht mit ein, die man in Ballagas’ Versen vergeblich sucht: Ein Afrokubaner aus Camagüey, dem mit den Regionalismen „matrero“ und „baracutey“ die Attribute des Betrügerischen und Eigenbrödlerisch-Egozentrischen zugeschrieben werden, stiehlt das Herz María Belén Chacóns (V.4-6). An dieser Stelle hat sich vermutlich beim Verfassen des Gedichtes die musikalische Adaption von „María Belén Chacón“ des Komponisten Rodrigo Prats in Sales’ Gedächtnis eingeschlichen. Prats führte diesen Son als Zarzuela erstmals 1932 öffentlich auf. Der Erfolg und die Berühmtheit des Liedes auf Kuba gehen auch auf das Orchester der Lecuona Boys und auf Rita Montaner zurück, die Prats’ Version 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 150 immer wieder spielten und sangen (vgl. Benítez-Rojo 1999: 200). Prats’ letras wandeln Ballagas’ Sozialkritik in die Geschichte einer verratenen Liebe um. Der folgende Auszug weist die typischen Themen und Motive der enttäuschten Liebe auf: Verrat, Schmerz, Zurückweisung, Weinen und ein blutend zurückgelassenes Herz, dessen trauriges Schicksal von den Negationspartikeln „ya jamás“ und „nunca más“ verstärkt wird: María Belén Chacón 09 María Belén Chacón 10 Después de la traición 11 Y este no se da 12 Nunca más a tu corazón 13 María Belén Chacón 14 Supiste del dolor 15 Inmenso del saber 16 Que no fue tuyo su querer. 17 María Belén Chacón 18 Tu pobre corazón 19 Nacido para amar 20 Hoy tendrá que llorar 21 María Belén Chacón 22 No podrás ya jamás cantar 23 Tu corazón sangró 24 María Belén Chacón. Dass Sales nicht nur Ballagas’ Elegie, sondern auch dessen Liedadaptation performativ variiert, zeigt sich in der dritten Strophe, die den Liedtext mit den Versen „tu boquita de mamey / ha sido tu perdición“ (V.12-13) indirekt einspielt. Mittels einer mise en abyme integriert Sales’ Son-Gedicht einen Son, ein Lied im Lied, das nächtlich in den Behausungen der Landbevölkerung („batey“) gesungen wird (V.10). Chacóns verführerischer Mund, als Metonymie für ihren Gesang, führte sie ins Verderben. Nicht nur die Anführungszeichen vermitteln Mündlichkeit, sondern auf stilistischer Ebene vor allem die Regionalismen, die sogar in der Entwendung des aus dem afrikanischen Yoruba stammenden Wortes subuso mündet (V.11), das mit „calladamente“ oder „en voz baja“ - verschwiegen oder mit leiser Stimme - zu übersetzen ist. 85 Hier finden sich architextuell weitere Anklänge an die Gedichte von Ballagas, aber auch an die Lyrik Nicolás Guilléns, der Begriffe aus dem Yoruba immer wieder in seine Verse ein- 85 Vgl. http: / / www.alocubano.com/ cubano_vulgar.htm. Zugriff 03.02.2013. 5.4 Abgrenzung 151 fließen lässt, um das afrikanische Erbe nicht nur als ethnisch-kulturelles, sondern auch als sprachliches Element der Afrokubanität hervorzuheben. 86 Dass Sales mit RMB die Modeerscheinung des negrismo der 1930er-Jahre erinnernd wachruft, zeigt, wie sehr das musikalische Erbe der afrokubanischen Kultur seither zum integralen Bestandteil des kubanischen Selbstverständnisses geworden ist - und zwar durch die sozialen Schichten hinweg: „the poetry of Guillén and Ballagas, ensured that the rhythm, the image, the culture, and the language of black people would begin to be accepted as integral parts of Cuban identity“, so Benítez-Rojo (1999: 201). So scheint es auch nicht verwunderlich, dass der in Paris lebende, ‚weiße‘ Dichter Sales sich auf formaler, stilistischer und semantischer Ebene ausgerechnet auf die poesía afrocubana bezieht und mit dieser folkloristischen Ausrichtung die Kultur der Insel von Paris aus vergegenwärtigt. Darüber hinaus handelt es sich bei dieser Musik-Dichtung, also der hybriden Form der poesía-son in produktions- und rezeptionsästhetischer Hinsicht um eine transmediale Erinnerung, die sowohl die dichterische als auch die musikalische Tradition Kubas und deren enge Verbundenheit zueinander in den Vordergrund rückt. Damit positioniert sich Sales innerhalb eines kubanischen Selbstverständnisses, das sich auf Son und Rumba als spezifisch eigene Elemente einer kulturellen Musikalität und dichterischen Vitalität gründet. 87 Der Rückbezug auf Kuba manifestiert sich darüber hinaus in der Figur María Belén Chacóns und ihrer vielfältigen kulturellen Kodierungen, die RMB vergegenwärtigt. Dabei fließen auf intertextueller Ebene Liedtext und dichterisches Wort, letras und palabras, semantisch ineinander. Nicht zuletzt re-präsentiert das tragische Schicksal der schönen afrokubanischen Sängerin, die ihre Stimme verliert, auch die Realität des Exilanten. Wie bereits anhand von „Testigo Mudo“ und „Soneto a Fidel Castro“ verdeutlicht, treten das Verstummen und die unmögliche Liebe immer wieder als Leitmotive in Sales’ Gedichten auf. Sie verweisen auf die schmerzhafte Verlusterfahrung der Ausgrenzung. Wer könnte sich also besser dazu eignen, dieses Verstummen zu symbolisieren als die berühmte Figur der María Belén Chacón mit ihrem gebrochenen Herzen, die tief im kulturellen Gedächtnis der Kubaner verankert ist? 86 Vgl. Guilléns „Son Número 6“, das mit den Versen beginnt: „Yoruba soy, lloro en Yoruba / lucumí.“ In: Jímenez 1981: 273. Lucumí bezeichnet einen Dialekt des Yoruba, der vor allem in die Liturgie der kubanischen Santería einfließt. Diese greift Ballagas in „Comparsa Habanera“ auf, dessen zweite Strophe ausschließlich das Yoruba enthält (Obra poética 83-85). 87 Benítez-Rojo bezieht sich auf das Fremdverständnis der kubanische Kultur, wenn er behauptet: „the cultural expression that best defines what is Cuban to a foreigner is Cuban popular music“ (1999: 197). 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 152 Die kulturelle Gedächtnisbildung im Kontext der Diaspora geschieht bei Sales durch Perspektivierung einerseits und Resemantisierung andererseits. Die Perspektivierung erfolgt durch die Orientierung am regionalistisch und populärkulturell geprägten poesía-son, der im Literatur- und Kulturkanon Kubas einen hohen Stellenwert und damit auch eine identitätsstiftende Funktion einnimmt. Mit dieser Positionierung grenzt Sales sich als kubanischer Dichter von seinem Standort Paris ab. Die Resemantisierung des tragischen Schicksals María Belén Chacóns verdeutlicht darüber hinaus das Schicksal des Exilanten, dessen Stimme ihm zum Verhängnis geworden ist: Getrennt von seiner Heimat schreibt er von Paris aus und richtet sich un-erhört an Kuba aus. 5.4.3 Lezama Lima als figura proa Im Folgenden wird José Lezama Lima als figura proa für die kubanischen AutorInnen in Paris in den Blick genommen. Dies geschieht am Beispiel des 2008 von Regina Ávila und William Navarrete herausgegebenen Bandes Aldabonazo en Trocadero 162. 88 Dieser Sammelband widmet sich Lezama Lima, dessen Adresse im Stadtteil Centro Habana, Calle Trocadero 162, schon mit dem Titel heraufbeschworen wird. 33 SchriftstellerInnen der kubanischen Diaspora „klopfen“ an Lezama Limas Tür und widmen dem 1976 verstorbenen Dichter, Romancier, Essayist und Kulturkritiker aber auch Literaturförderer ihre unterschiedlichen Texte. 89 Die Herausgeber vereinen in Aldabonazo unter der Prämisse der „absoluten Freiheit des Ausdrucks“ unterschiedliche Textformen, darunter Essays, Gedichte, testimonios und Literaturkritiken (Navarrete in Aldabonazo 13). José Lezama Lima gilt als einer der bedeutendsten lateinamerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er entwickelte ein universalistisches, poetisches Weltsystem. 90 Dessen zentraler Begriff ist das Bild (imagen), das jenseits eines direkten Wirklichkeitsbezugs, einer Abbildungsfähigkeit und auch jeglicher Entität im Prälogischen, Präkodifizierten, Präformalen und Präkategorialen zu verorten ist. 91 Die Bewegung hin zu diesem nicht greif- 88 Ávila, Regina / Navarrete, William (Hg.) (2008): Aldabonazo en Trocadero 162. Valencia: Aduana Vieja. Im Folgenden Aldabonazo. 89 Cintio Vitier bescheinigt Lezama in seiner Fähigkeit als Literaturförderer eine „vocación de constructor, de fundador“. Lezama Lima ist Gründer der Zeitschrift Verbum, Espuela de Plata, Nadie Parecía und Orígenes. Vitier, Cintio (1970): Lo Cubano en la poesía. Havanna: Ed. Letras Cubanas, 440. Um die Zeitschrift Orígenes, die von 1944-1956 erschien, formierte sich die avantgardistische Grupo Orígenes, zu denen u.a. Vitier, Gastón Baquero, Eliseo Diego, Virgilio Piñera und Ángel Gaztelu gehörten. 90 Vgl. Borsò, Vittoria (2008): „José Lezama Lima“. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 422. 91 Vgl. Yurkievich, Saúl (2002): Fundadores de la nueva poesía latinoamericana. Barcelona: edhasa, 410. 5.4 Abgrenzung 153 baren Ursprung erfolgt durch die Metapher, die Bilder aneinanderreiht und so fortwährend fluide Bildhaftigkeiten entfaltet. In semantischer Hinsicht geht es bei der Metaphernbildung nicht um eine Aufklärung des ungreifbaren Ursprungs, sondern um Verdunklungsprozesse, Irrationalisierungen, Radikalisierungen, Flüchtigkeiten und Unbestimmtheiten („desdibujos“, ebd.: 408). 92 Die Metapher wird sich so selbst zum Referent und öffnet, so Yurkievich, ein „pasaje a la imaginación omnívora y omnímoda“ (2002: 410). Die Poesie verhält sich damit als potens, als stete, auf die Zukunft gerichtete Möglichkeit des Unendlichen. Dem Dichter kommt die Aufgabe zu, „die Saat des potens zu behüten“. 93 Auf dem Feld dieser komplexen Poetik entwickelt er eine „Denkmethode der Kulturkritik“ des barocken, lateinamerikanischen Selbstverständnisses (Borsò 2008: 422). 94 Damit kommt Lezama Lima zwar unangezweifelt eine bahnbrechende Bedeutung für Kubas Literaturgeschichte zu, die seit den 1990er Jahren wieder von der offiziellen Kulturpolitik der Insel eingeräumt wird. 95 Aber er nimmt auf Kuba auch eine ambivalente Rolle ein: Sein Werk Paradiso (1969) wurde wegen homosexueller Anklänge im 92 Vgl. auch Rogmann, Horst (1978): „José Lezama Lima“. In: Eitel, Wolfgang (Hg.): Lateinamerikanische Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Kröner, 255. 93 Lezama Lima, José (1971): Interrogando a Lezama Lima. Centro de Investigaciones Literarias de la Casa de las Américas. Barcelona: Anagrama, 20. „[L]o imposible al actuar sobre lo posible engendra un potens, que es lo posible de la infinidad. Ahora se ha adquirido esa posibilidad, ese potens por el cubano. Toda imagen tiene ahora el altitudo y la fuerza de su posibilidad.“ Vgl. Lezama Lima, José (1981): „La cantidad hechizada“. In: Ders.: El reino de la imagen. Ortega, Júlio (Hg.). Caracas: Biblioteca Ayacucho, 324. 94 Vgl. hierzu Lezamas Aufsatz La expresión americana. Analog zu seinem poetischen System orientiert sich sein Kulturbegriff an einer „kontrapunktischen Assimilation“. Dabei fusioniert er das Wissen der Alten und der Neuen Welt im Hinblick auf einen inhaltlichen und formalen Universalismus. Der Assimilationsbegriff meint jedoch keine Synthese, sondern setzt einen dynamischen Prozess voraus, der sich auf ein paradoxales Denken als Erkenntnismethode stützt (vgl. Borsò 2008: 422). Mit seiner Kulturtheorie nährt Lezama auch den Insel-Mythos: „¿Por qué la fea palabra síntesis? Mientras en los continentes la síntesis tiene que ser superada por el concepto de sentirse deudor; en las islas, la suspensión que hay que vencer para llegar hasta ellas, no hacen la síntesis continental de lo blanco y lo negro, sino de raíces oscuras, cambiantes y ligerísimas; no de Oriente-Occidente, no de mundo antiguo y nuevo, sino del Príncipe de las Flores y de la Dama de las Serpientes.“ Lezema Lima, José (1981): „Analecta del reloj“. In: El reino de la imagen, 212. 95 Laut Teresa Basile fand mit dem Zusammenbruch des Ostblocks Anfang der 1990er Jahre eine Revalorisierung der nationalen Kultur statt: Autoren, die aus dem nationalen Literaturkanon ausgeschlossen worden waren, wurden fortan wieder gefeiert. Dies gilt vor allem für den Fall Lezama Lima. Vgl. Basile, Teresa (2010): „Confines y sinfines de la revolución cubana. Reflexiones de un escritor impolítico: Antonio José Ponte“. In: Gremels / Spiller (Hg.), 154. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 154 Zuge des quinquenio gris der Zensur unterworfen, woraufhin er aus dem Schriftstellerverband der UNEAC ausgeschlossen wurde und bis zu seinem Tod im Schweigen des insilio, des inneren Exils, verharrte. Als verurteilter Konterrevolutionär gerät der ideologieferne, metaphysisch-universalistische Dichter, der den politisch-sozialen Kontext Kubas weitgehend ignorierte und laut Hans-Otto Dill „im Wesentlichen von der Revolution unbeeindruckt“ weiter schrieb (2001: 467), trotz seiner Weltabgewandtheit in die ideologiekritische Debatte um Regimetreue und Regimegegnerschaft (vgl. Rogmann 1979: 251f). Die folgende Analyse wird auf zwei Leitfragen eingegrenzt: Inwiefern trägt der Rückbezug auf Lezama Lima zu einem kollektiven Selbstverständnis und dem Wir-Gefühl einer imaginären Gemeinschaft außerhalb Kubas bei? Welche Elemente biographischer, ästhetischer und imaginärer Natur spielen für die AutorInnen von Aldabonazo bei der Rezeption Lezamas eine bedeutungskonstituierende und identitätsstiftende Rolle? Im Hinblick auf die Figur des Dichters, aber auch auf dessen poetisches Programm werden William Navarretes Prolog „Trocadero 162: Una toponimia, un aldabonazo“, José Trianas einleitendes Gedicht „Coloquio de sombras“ von 1976, Nivaria Tejeras Hommage „Ardiendo en aguas muertas, llamas vivas“ und Yoani Sánchez’ abschließender Essay „De mitos, mitómanos y otras fabulaciones“ untersucht. Letzterer wird neben den Texten der kubanischen AutorInnen in Paris deswegen mit einbezogen, da Sánchez, die inzwischen mit ihrem regimekritischen Blog Generación Y internationalen Bekanntheitsgrad erlangt hat, die einzige Autorin des Bandes ist, die nicht zur literarischen Diaspora gehört, sondern weiterhin auf der Insel lebt, sodass Innenperspektive und Außenperspektive einander gegenübergestellt werden können. In seiner Einleitung betont Navarrete, dass Lezama Lima für die junge Generation kubanischer SchriftstellerInnen, die in den 1960er und 1970er Jahren geboren wurden, zu einem Mythos geworden ist, der die kubanische Ideenwelt - „el ideario cubano“ - entscheidend prägt (Navarrete in Aldabonazo 13f). Seine Bedeutung als figura proa sei unter anderem auf die „censura velada de su obra“ zurückzuführen (ebd.). So haben vor allem die Marginalisierung und das Schweigen um den großen Dichter seitens der offiziellen Kulturpolitik entscheidend zu dessen Mythologisierung als geheimer Identifikationsfigur beigetragen. Navarretes Verse „Te has vuelto tótem vestido de silencio / la falsabraga que sostiene la memoria“ aus seinem Gedicht „Parodia en Pompeya“ (Aldabonazo 103-108) bringen es auf den Punkt: Lezama verteidigt das kollektive Gedächtnis Kubas wie ein Schutzwall, „la falsabraga“, obwohl er doch in Stille gekleidet ist. Nicht umsonst bedient sich Navarrete der Metapher des Totems aus der Mytho- 5.4 Abgrenzung 155 logie der Naturvölker, um Lezamas emblematische Rolle als beschützenden Ahnherrn oder sogar „Stammesvater“ hervorzuheben. Damit nimmt er intertextuell Bezug auf den steten Rekurs Lezamas auf Mythen und Mythologien. 96 Mit dem Bild des in „Schweigen gekleideten Totems“ verweist Navarrete auf das Paradox der anwesenden Abwesenheit bzw. des sprechenden Schweigens des Dichters. Dessen Ausgrenzung im insilio wird zum identitätskonstituierenden Merkmal für die kubanischen ExilschriftstellerInnen, deren Stimmen gleichermaßen dem Schweigen unterworfen sind. Lezama erscheint somit als Opfer: Fue testigo estoico del desmembramiento de su familia, del exilio de sus hermanas y sobrinos, del dolor del desamparo familiar en que vería fallecer a su madre. Vivió los últimos años de su vida sobresaltando por el temor al asma y la escasez de los medicamentos que aliviaban su mal. Y se enfrentó, como a un enemigo invisible, a la ausencia de una de sus alegrías mayores: los alimentos, colocados para goce de los sentidos sobre la mesa. Con ellos era capaz de fabular [...] una genealogía de desbordante fantasía y barroquismo. (Navarrete in Aldabonazo 15) Mit den Worten „desmembramiento“, „desamparo“, „temor“ und „ausencia“ wird die existentiell verzweifelte Situation des Dichters inmitten von Zerfall, Verlassenheit, Furcht und Mangel gezeichnet, die ihm fortschreitend das Leben beschneiden: Neben dem Auseinanderbrechen familiärer Bindungen fehlte es an Medikamenten, um die Qualen seiner Asthmaerkrankung zu lindern, mangelte es an Nahrungsmitteln, um seine Freude und Lust am Kulinarischen auszuleben. Hier wird deutlich, dass die Zusammenkünfte bei gutem Essen „para el goce de los sentidos“ zum Lebens- und Schaffenselixier des Poeten gehörten und seine Kapazität des genussvoll überschäumenden Fabulierens beflügelten. 97 Mit dem Zerfall der bürgerlichen Strukturen seit der kubanischen Revolution wird Lezama Lima stoischer Zeuge seines eigenen körperlich-seelischen Zerfalls. Von den Zusammenkünften mit Lezama Lima zehrt auch Tejera, die den Dichter in ihren jungen Jahren kennen gelernt hat, als sie das neunte Kapitel ihres Romans El Barranco in der Zeitschrift Orígenes publizierte. 98 Ihre Identifikation vollzieht sich über das geistige Erbe des Poeten. Die metaphorisch dichte Prosa ihres Essays „Ardiendo en aguas muertas, lla- 96 Den Mythos behandelt Lezama Lima vor allem in seiner Aufsatzsammlung „Las Eras imaginarias“. In: El reino de la imagen, 369-441. 97 Dass Lezamas alimentatorische Leidenschaft im Zusammenhang mit seiner „euphorischen“ und „wollüstigen“ Poesie steht, stellt auch Rogmann fest. Einen direkten Bezug zwischen Erotik, Genuss und Sprache findet man in der „ausführlichen Beschreibung der Zubereitung von Süßspeisen“, die der Roman Paradiso enthält (Rogmann 1979: 256). 98 Der Text erschien 1954 in Orígenes 35: XI. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 156 mas vivas“ zeigt, wie sehr Lezamas Imaginationskraft zum Lebenselixier der Autorin wird. Sein Geist sei beseelt von einem „voluptuoso furor poético“, dessen überbordende Manier eine „dimensión mesiánica“ innewohne, die einen mitreißenden Aufbruch in die Freiheit bewirke: „arrastrando todos los océanos en su propio oleaje“ (Tejera in Aldabonazo 162). Hierbei spielt Tejera auf den poetischen Glauben Lezamas an die energetische Mobilisierung der Sprache jenseits von fixierten Bedeutungen an (vgl. Rogmann 1979: 256). Lezamas poetische Vision verknüpft Tejera mit ihrer eigenen Poetik, mit der sie eine Freiheit durch die Sprache mittels der Befreiung der Worte sucht (vgl. 5.3.2 „Exil als Motor des Schaffens”). Entscheidend ist für sie daher Lezamas Suche nach einer „anderen Atmung“ der Worte, seine Gegensinnigkeit, die Aufhebung von Oppositionstrukturen dadurch, dass er sie unlesbar macht, seine Negation jeglicher festgelegter Ordnung, seine Zurücknahme des Signifikats einhergehend mit seiner Fähigkeit, die Worte zu bedrängen, auszusieben und neu zu verketten, um der Kreation ihren eigenen Raum jenseits von Normen, Theoremen und Allgemeinplätzen zu schaffen (ebd. 162). Damit nimmt Tejera Bezug auf Lezamas Begriff des potens, der poetischen Schaffenskraft, über den sie einen imaginären und existentiellen Zusammenhalt mit ihm beschwört, der Erlebenswissen und Überlebenswissen in sich vereint: Y es que él nos contaminaba una vecindad con la distancia en su transporte de contrasentidos, una lucubración estilizada, arrobada del tiempo, un deslindar horizontal inventados por él para convivir cada encuentro (frente a él, con él, en él) de imposible reproducción: no en balde había descubierto que „cuando encuentro una palabra no tengo que poner a su lado un abismo, sino otra palabra“. Y era ese encabalgar al que él nos adiestra (ebd. 161f). Die kollektive Ebene, das „wir“ im Zusammenhalt, zeigt sich in diesem Zitat als Erlebnis eines ‚poetischen convivir’ jenseits von Zeit und Raum - Lezama gegenüber, mit ihm und in ihm. Dieses Erleben ist sowohl durch Einmaligkeit geprägt, da sich eine Begegnung mit dem Dichter jeder Wiederholbarkeit entzieht, als auch durch das Visionäre In-Bewegung-Sein. Die Zusammenkünfte mit dem Dichter lehren sie das Fortfahren als stete gedankliche und imaginäre Fort- und Weiter-Bewegung, die von Tejera metaphorisch als „encabalgar“ - „Enjambementieren“ - bezeichnet wird. 99 Hierbei zitiert sie den Satz aus Lezamas Essay „Analecta del Reloj“, der im platonischen Stil des Dialogs geschrieben ist: „Cuando encuentro una pa- 99 Dass der Bewegungsmoment ein ausschlaggebendes Merkmal des lezamianischen Denkens ist, hebt auch Ette hervor: „Un espacio [...] aparece en su condición de espacio universal en movimiento, un espacio libre (Spiel-Raum), en el que la relacionalidad se convierte en móvil de una potencialidad y fuerza generadora, que no se agota y cansa“ (Ette 2010a: 24). 5.4 Abgrenzung 157 labra no tengo que poner a su lado un abismo, sino otra palabra“ (Lezama Lima 1981: 212). 100 Ruft man sich in diesem Zusammenhang die abgründige Exilpoesie Tejeras in Erinnerung, so wird deutlich, dass sich ihr persönliches, poetisches convivir mit Lezama Lima genau in diesem Zitat manifestiert. Lezamas Überlegungen zur Fähigkeit der Metapher dienen Tejera dazu, ihre Sprachfähigkeit im Exil als Form des Überlebenswissens auszudrücken. Denn eben dieses stete Fortschreiten im Aneinanderreihen der Worte, das poetische Schaffen am existentiellen Abgrund, bewahrt die Dichterin davor, in der völligen Bewegungslosigkeit und Leere des Exils unterzugehen. Sie bringt das mit dem Titel des Essays zur Sprache, nach dem Lezama Lima als „lebendige Flamme“ in „toten Wassern“ brennt: „Ardiendo en aguas muertas, llamas vivas“. Auch das Gedicht „Coloquio de sombras“ (Aldabonazo 23-28) von José Triana bezeugt auf sehr persönlicher Ebene das poetische convivir mit Lezama Lima. Triana, der 1980 ins Pariser Exil ging, war ein gern gesehener Gast in der Calle Trocadero 162 und lebte in freundschaftlicher Verbundenheit mit den Mitgliedern der Gruppe Orígenes, vor allem mit dem Dramaturgen Virgilio Piñera. Der Tod Lezama Limas markiert für ihn das Ende einer prägenden Epoche und Lebenszeit: „Con la muerte de Lezama para mi murió una parte de mi juventud. Con la muerte de Virgilio decidí salir de Cuba.“ 101 Am Tag von Lezamas Totenwache, im August 1976, schrieb Triana das bewegende Abschiedsgedicht, das den Band Aldabonazo eröffnet. „Coloquio de sombras“ entstand folglich nicht aus der Retrospektive, sondern aus einer unmittelbaren Erfahrung der Erschütterung, die die ergreifende Wirkung dieses Gedichts ausmacht: „Él estaba de cuerpo presente y yo estaba escribiendo el poema. Porque si no lo hubiera hecho, me hubiera suicidado. Si el poema tiene valor, es por eso“ (A.VI 343). Trianas Verse sind somit als Geste des Abschiednehmens zu verstehen, was sowohl auf semantischer, als auch auf sprachlicher und stilistischer Ebene verdeutlicht werden kann. Nicht nur evoziert Triana Erinnerungen an die Begegnungen mit Lezama Lima, er orientiert sich gleichzeitig an dessen barrocker und hermetischer Bildersprache und erzeugt so ein „eco lezamiano y nos hace ver a través de metáforas de impresionante contundencia por qué un poeta, 100 In dieser Passage philosophiert Lezama über das Geheimnis der Pausen, das sich über die Sicherheit der Worte, der Erinnerungen und der Blicke legt. Die Neugier versucht, dieses Geheimnis aufzudecken, ohne es jedoch nachweisen oder ergründen zu wollen. Diese Überlegung führt ihn zur Metapher: die erste erfolgreich gefundene Metapher muss synonym weitergesponnen werden und macht das gesamte Geheimnis eines Gedichts aus (ebd. 212). Zu Lezamas „platonischer Lust am Gespräch“, vgl. Borsò 2008: 422. 101 Interview Andrea Gremels mit José Triana im April 2012. Anhang A.VI 337-345, hier 341. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 158 el Poeta, sigue dando quehacer aun después de su pérdida física“, wie Félix Luis Viera es beobachtet. 102 Dieses Echos erzeugende „quehacer“ findet in den Worten Trianas eine Bestätigung. Seine Intention habe in einer Wiedererarbeitung der lezamianischen Poesie bestanden, „reelaborando la poesía de él para transmitirle una imagen, […] regalarle una imagen a Lezama“ (A.VI 344, Hervorhebung AG). Darüber hinaus spiegelt sich in den Versen auch Trianas eigene Schreibweise wider, die von einer Ästhetik des Traumhaften, Ungewissen und bisweilen Phantastischen zeugt, wobei das dichterische Wort den Leser an die existentiellen Grenzbereiche zwischen (Da)- Sein und Nicht(da)sein führt. Das Gedicht weist insgesamt zwölf Strophen auf und wird mit den folgenden Versen eröffnet: I 01 Cuando un poeta abandona su cuerpo 02 se suceden de pronto los más claros 03 signos del cataclismo: algunas llaves 04 desaparecen de los monederos 05 y se quedan exangües las calandrias. In diesen Eingangsversen erscheint der „cataclismo“, die Umwälzung, als Dramatik erzeugendes mot clé. Auffällig ist in Verbindung mit dem „cataclismo“ die anschließende Verwendung von Alltagsbegriffen. Das Verschwinden der Schlüssel aus dem Portemonnaie deutet auf das Ende eines Lebens in seiner Alltagshaftigkeit und verweist gleichzeitig darauf, dass die Türen zum Haus des verstorbenen Dichters von nun an verschlossen bleiben: „el llavín de casa se hace polvo / como un símbolo de azogue irradiante“ (I, V.21f). Der das Gedicht einleitende Strophenanfang wird anapherisch in der fünften Strophe noch einmal aufgenommen und symbolisch wiederholt in Bezug zur Metapher des Hauses gesetzt: Das Verlassen des Körpers durch den Tod steht analog zur Leere des Hauses: „Cuando un poeta abandona su cuerpo / vemos la casa fiel de la amistad / en el vacío, [...]“ (V, V: 1-3). Die fünfte Strophe markiert auch auf semantischer Ebene einen Wechsel, so dass sich das gesamte Gedicht in zwei Teile untergliedern lässt. Strophen II bis IV beginnen jeweils mit „Uno quisiera ser“, während im zweiten Teil die Anapher „Ahora nos queda sólo“ die Strophenanfänge bestimmt (VI, VII, IX und XI). Die erste Strophe ist von einer Atmosphäre des Un-Heimlichen durchzogen, eine geisterhafte Erscheinung bevölkert die Verse, die den verlassenen Körper des Poeten in das Reich des Todes zu überführen trachtet. Das lyrische Ich beschwört 102 Viera, Félix Luis: Aldabonazo por Lezama. Rezension vom 19.05.2008: http: / / lamoradadepitibuchi.blogspot.de/ 2008/ 05/ aldabonazo-por-lezamalima.html. Zugriff: 25.04.2012. 5.4 Abgrenzung 159 ihn: „vete, déjalo / quédate con el júbilo de tu / guadaña, no es tiempo todavía“ (I, V.13-15). Auch in Strophe 10 findet sich ein solcher Ausruf der Trauer wieder, mit dem das lyrische Ich die Endgültigkeit des Todes aufzuhalten sucht: „No te vayas tan pronto, tan temprano“ (X, V.15). Die Unheimlichkeit der Trauer und die Un-Heimlichkeit des Verlassen-Werdens, die sich in der ersten Strophe verdichtet, wird in den darauf folgenden noch gesteigert, in denen sich Bewegungsirrläufe hin zur Selbstauflösung vollziehen, was die Entpersonalisierung des lyrischen Ich im neutralen „uno“ und der damit einhergehenden überwiegenden Verwendung von Infinitiven zusätzlich unterstreicht. „Uno quisiera ser“ erklingt so als Ausdruck der Nicht-Existenz („man ist nicht, würde aber gerne sein wollen“), einer Nihilierung, in der das Ich sich in einen gesichtslosen Niemand aufzulösen wünscht, „un alguien“ der sich schließlich verflüssigt: II 01 Uno quisiera ser entonces nadie, 02 despojarse de todos los anillos, [...]. III 01 Uno quisiera ser, uno quisiera 02 correr por las azoteas, arrasando 03 los hospitales negros, los hoteles 04 extraviados de un mapa seráfico, 05 ir por los claustros de cal cegadora, 06 atormentado, críptico, sin rostro, 07 casi energúmeno, casi entre nubes. IV 01 Uno quisiera ser entonces río 02 Levísimo, muñeco de azafrán, 03 un alguien que se cubre de ceniza [...] Der Semantik des Verlassen-Seins und der existentiellen Entleerung durch den Tod des Freundes wird in der zweiten Gedichthälfte mit der Anapher „Ahora nos queda sólo“ in einer beinahe kontrapunktischen Gegenbewegung die Perspektive des Bleibenden entgegengesetzt. Hierbei evoziert Triana die Erinnerungen an die persönlichen Begegnungen und Gespräche mit Lezama Lima und ruft darin dessen ausschweifende Gedankenwelt als „heilenden Balsam“ wieder ins Leben (vgl. VII, V.1): seinen Rekurs auf die kreolische Vergangenheit, „sus venturas criollas“ (IX, V.2), seine Eloquenz und Vorliebe für das Kontrapunktische, „su elocuencia integrando contrapuntos, / contrapuntos de voces favoritas / o favoritos círculos de asombro / que borran las trajines de la nada“ (VI, V.3-6), seine Liebe zur Musik (VI, V.2), seine elegante Erscheinung, „su sencilla elegancia“ (VII, V.3) und seine barock anmutenden Erinnerungen an imaginierte Reisen 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 160 nach Europa, „su nostalgia / de viajes coloquiales por Florencia / bajo el sol terracota y exultante“ (XI, V.2f). Die Bilder, mit denen Triana die Erfahrungen dieser Gesprächsrunden wachruft, verflechten sich mit den Bildern, die die Imaginationswelten Lezamas und dessen umfassendes, chaotisch „aus allen Himmelsrichtungen zugeflossenes“ Weltwissen evozieren (Rogmann 1979: 260f): So servierte der Dichter Tee in japanischen Porzelantassen, deren Dekor aus wütenden Kriegern und Drachen bestand, um auf dieser Grundlage über den Syllogismus zu philosophieren und von dort aus gedanklich über die Gräber des alten Ägypten, zum byzantinischen Reich über die griechische Pilgerstätte des Orakels von Delphi bis hin zu den aztekischen Pyramiden zu schweifen (vgl. VII und VIII). Die Erinnerungen an Lezama verschwimmen in diesen Versen mit den Erinnerungen von Lezama und reflektieren so die Erinnerungsfähigkeit an sich, ein unergründliches Mysterium, in dem sich Erinnerungen über Erinnerungen legen, sie nostalgisch trüben und sie dem steten Verdunsten aussetzen. „Nápoles, París, Toledo / en unos ayes caen, peregrinas / como evaporaciones de recuerdos / o recuerdos que enturbian los recuerdos“ (XI, V.15-18). Mit einem Augenzwinkern spielt Triana in diesen Versen darauf an, dass Lezama nostalgisch vergangene Gedankenreisen heraufbeschwört, die er selbst nie unternommen hat. Dessen Erinnerungsfähigkeit koppelt sich so an eine ausschweifende Erfindungslust und Imaginationsfähigkeit. Diese Verse verweisen letzthin auch auf die Unzuverlässigkeit der nostalgischen Erinnerungen an Lezama Lima am Tage seines Todes und stellen implizit die Frage nach dessen Fortleben im kollektiven Gedächtnis Kubas. Diese wird in der letzten Strophe des Gedichtes mit Nachdruck beantwortet: XII 01 No estamos solos, no; intacto vive 02 en el verbo como un niño maldito, 03 como el sonido agudo de una flauta 04 que reparte el fervor del caracol. 05 La perfección acuna los jazmines, 06 el enigma furioso de sus sueños 07 rozando una incendiada mascarilla. In dieser Strophe wird das lezamianische Echo in stilistischer Hinsicht besonders deutlich, was sich vor allem in den schillernden Metaphern „una flauta / que reparte el fervor del caracol“ und „La perfección acuna los jazmines“ widerspiegelt, mit denen durch die „transcursos naturales“ eben jene fluide Bildhaftigkeit erzeugt wird, die auch Lezamas Poesie kennzeichnet. Aus den verwendeten Motiven des Schneckenhauses und des Jasmins heraus erklingt intertextuell Lezama Limas Gedicht „Noche in- 5.4 Abgrenzung 161 sular: Jardines invisibles“. 103 Darin schafft Lezama mittels einer barocken, ausufernden Natursymbolik ein musikalisches „festejo nocturno fabuloso“, so Vitier (1970: 447). Dieses Fest evoziert Triana in seinen Versen. An dieser Stelle wird das „Bildgeschenk“ ersichtlich, das Triana seinem verstorbenen Freund mit diesem Gedicht übermitteln will. Darin lebt Lezama Lima ungetrübt fort, „como un niño maldito“ (XII, V.2): im Wort, im Klang seiner Poesie, in der Rätselhaftigkeit seiner Träume, in seinem unumstößlichen Glauben an das Paradiesversprechen des Bildes, diesem „impedido sueño de la inocencia“, wie Vitier es formuliert (1970: 442). Damit gibt die letzte Strophe Antwort auf das Verlassen-Werden und den hereinbrechenden „cataclismo“, der zu Beginn des Gedichtes angekündigt wird. Dies kommt besonders stark im Eingangsvers der letzten Strophe zum Ausdruck, der mit den Worten „Wir sind nicht allein“ Lezamas Da-Bleiben auf kollektiver Ebene beschwört. Wie bei Tejera ist es auch hier die Imaginationskraft Lezamas, an der die ihm Nachfolgenden festhalten und ihn so post mortem zu einer unerschöpflichen Identifikationsfigur machen, einem Halt und einer Heimat: „Y su casa, la casa del poeta, / [...] es el jardín del mundo, eternamente“ (Triana in Aldabonazo I, V.23, 25). Für Triana, dem sich die Türen zu Lezamas Haus an dessen Todestag schließen, aber auch für die kubanischen PoetInnen im Exil symbolisiert der Dichter das nicht mehr bewohnbare Zuhause der Insel als ewig bewohnbare Heimat in einem stets sich an der Imagination labenden und ausweitenden Geist. Die Verherrlichung des messianischen Geistes Lezamas als ewig blühenden Garten, fasst Yoani Sánchez in ihrem Essay „De mitos, mitómanos y otras fabulaciones“ kritisch ins Auge (Aldabonazo 176-179). Sie bezieht sich auf Lezamas Hinwendung zur Mythologie, um daran die „mitomanía“ der nationalen Selbstfindung Kubas kritisch aufzuzeigen (vgl. Sánchez in Aldabonazo: 176). Die Nationalgeschichte sei schon immer mit Hilfe von trügerischen Inventionen und Phantasien geschrieben worden, so Sánchez. Lezamas Paradiso lehre den Leser genau dieses bewusste Spiel der Neuerfindungen von großen universellen Mythen, bei denen der historische Mythos zur Phantasie und die „authentischen“ Referenzen zur Fiktion würden. Dies reiche bis dahin, dass sich der Leser in den Irrealitäten des Textes 103 Darin heißt es: „En estos mundos blandos el hombre despereza, / como el rocío del que parten corceles, / extiende el jazmín y las nubes bosteza.“ Lezama Lima, José (1975): „Noche insular: Jardines invisibles“. In: Ders.: Poesía completa. Barcelona: Barral ediciones, 84-88, 88. Die Schnecke, mit ihrem spiralförmigen Haus, ist ein rekurrentes Motiv in Lezamas Lyrik, so z.B. in „Muerte de Narciso“ (Poesía completa 11f). Nach Rita Molinero steht das Symbol der „caracol“ für die Sublimation. Molinero, Rita (1989): José Lezama Lima o el hechizo de la busqueda. Madrid: Editorial Playor, 41. Dem würde ich hinzufügen, dass die spiralförmig gewundene Schale der Schnecke auf die „extensión“verweist, einen der Lieblingsbegriffe Lezamas,. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 162 und seiner fernab abstrakt zirkulierenden Gedankenwelt verliere (ebd.: 177f). Der schmerzhaften „Phantasie Kuba“ könne man nur im lezamianischen Geist begegnen, in der „mezcla del mito y la ironía, la creencia y el cinismo“, so Sánchez (ebd.: 178). Das Scheitern der kubanischen Revolution, deren Mythos im „staubigen Alltag“ auf der Insel schon längst untergegangen sei, verlange eine erneute Rückkehr zur erfinderischen Phantasie, im Sinne der lezamianischen Ausweitung eine Neuerfindung der Neuerfindung. Daher lautet ihr Plädoyer: „De hace un tiempo para acá, nos hemos vuelto tremendamente lezamianos“ (ebd.: 178). Die „lezamianische Verfassung“ des heutigen Kubas liege jedoch weniger im zukunftsweisend Visionären, sondern vielmehr im zurückgezogen Ausharrenden: Ahora sí que somos lezamianos. Nos mecemos en el sillón, solos, con la respiración jadeante, la casa cayéndosenos a pedazos, la metáfora como refugio y el forzado peregrinar inmóvil. Velamos desde aquí porque „alguien tenía que guardar las bóvedas del cementerio, donde están nuestros padres y nuestros abuelos“ y alimentar el fuego del próximo mito, de la nueva ilusión que nos hará reinventar la Isla (Sánchez in Aldabonazo 179). Diese Passage führt die Figur Lezamas vor Augen, der sich asthmakrank, in einem Schaukelstuhl schwerfällig wiegend, gezwungenermaßen in die Welt der Metapher flüchtet, da ihm nichts anderes übrig bleibt. Mit dem ironisch gebrochenen Bild, das Sánchez vom großen Maestro zeichnet, verweist sie auf den Zustand einer paralysierten Gesellschaft, der bei aller Geduld langsam der Atem ausgeht. Abgeschottet von der Außenwelt, „solos“, sind die Bewohner Kubas gefangen in einem „peregrinar inmóvil“, auf einer Pilgerschaft in stoischer Bewegungslosigkeit, die möglicherweise zu einer neuen Illusion führt, mit der sich die Insel wieder neu erfinden kann. Während Sánchez von innerhalb der Insel das Moment des stoischen Ausharrens in Bezug auf Lezama Lima hervorhebt, steht bei Navarrete, Tejera und Triana das Moment des Festhaltens im Vordergrund. In allen vier Fällen wird ein Zusammenhalt heraufbeschworen, das Wir-Gefühl eines diasporisch auseinander gerissenen Kubas, das im poetischen convivir mit der Vaterfigur Lezama Limas ihr unheimlich gewordenes und verloren gegangenes Zuhause sucht. Sowohl in der Identifikation mit seinem insilio, als auch in den überschäumenden Visionen seiner Imaginationskraft finden die AutorInnen im Exil aus ihrer eigenen Position der Marginalisierung heraus bekräftigenden Halt für ihre eigene Existenz und ihr kreatives Schaffen. Mit der Hommage an Lezama Lima versuchen sie ein kollektives Gedächtnis über nationale Grenzen hinaus zu (re)konstruieren und appellieren damit an eine gemeinsame kulturelle Gedächtnisbildung innerhalb und außerhalb der Insel. Die Rezeption des elitären Dichters erscheint darüber hinaus als Distinktionsmerkmal, mit dem sich die AutorInnen von 5.5 Entgrenzung 163 dem folkloristisch geprägten Kuba-Stereotyp abgrenzen, das seit den 90er Jahren mit dem New Cuban Boom auf die Bildfläche getreten ist. In diesem Zusammenhang stellen Lezamas Schriften auch das Symbol einer untergegangenen Epoche der Bürgerlichkeit auf Kuba dar, „un recorrido por lo perdido y añorado“ (Sánchez in Aldabonazo 177). 104 Die Texte von Aldabonazo sind durch einen poetischen, imaginierten und existentiellen Erfahrungsmodus bestimmt, in dem sich ein poetisches convivir mit Lezama Lima ereignet. Sie rekurrieren auf ein „kubaspezifisch eigenes“ Erlebens- und Überlebenswissen, mit dem sich die AutorInnen der Diaspora auf ihre Insel zurück(be)ziehen. 5.5 Entgrenzung Sowohl die „lebensnahe“ Lyrik von Lira Campoamor und Miguel Sales, die sich auf die afrokubanischen Traditionen der Insel rückbeziehen, als auch der Rekurs auf den großen kubanischen Transzendentalisten Lezama Lima in Aldabonazo zeigen eine Überkodierung des Kubanischen, was anhand dieser zwei sich kontrapunktisch gegenüberstehenden Stilrichtungen verdeutlicht wurde. Der intermediale, intertextuelle, sprachliche und stilistische Rückbezug markiert einen Rückzug in das Eigene, so dass man von einer Nationalliteratur sprechen kann, die zwar räumlich displaced ist, sich aber über räumliche Grenzen hinweg von anderen kulturellen Einflüssen abzugrenzen sucht, um sich ihres Selbstverständnisses zu vergewissern. Wie verhält es sich jedoch im Gegenzug dazu mit dem Phänomenen (trans)kultureller Öffnungen? Hier kommen Kulturtransfer und Aneignungsprozesse im Sinne der „cultural translation“ ins Spiel. Diese werden einerseits im Hinblick auf mediale Schnittstellen untersucht, die Formen des intersemiotischen Übersetzens im Sinne Jakobsons darstellen. Andererseits rücken neben medienspezifischen Phänomenen die sprachspezifischen in den Vordergrund. So wird das interlinguale Übersetzen vom Spanischen ins Französische als exophone sowie polyphone Grenzüberschreitung betrachtet. Einleitend sei darauf verwiesen, dass jeder Übersetzung ein „Utopismus“ innewohnt. Zwischen den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, „dasselbe“ in einer anderen Sprache auszudrücken, besteht der Wunsch, 104 Sánchez’ Aussage, dass Paradiso eine Welt kreiert, die „nos suena tremendamente irreal en los tiempos que corren“ steht in Verbindung zu Rogmanns Ausführungen, der behauptet: „Lezama ist ein aufmerksamer Zeuge des erst gemächlichen dann beschleunigten Zerfalls der bürgerlichen Ordnung seines Landes. Den Zerfall registriert er in Paradiso in unverhohlen nostalgischer Erinnerung an eine - seine eigene - bourgeoise Familie, die sich auflöst“ (1979: 260). 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 164 „[de] corregir la realidad natural que confina a los hombres en el recinto de lenguas diversas impidiéndoles la comunicación.“ 105 Diese Aussage Ortega y Gassets impliziert jedoch auch, dass das Übersetzen das sprachliche „Überleben“ und „Fortleben“ eines Werkes sichert. 106 Jede Übersetzung ergänzt eine Sprache (Benjamin 1973: 166). Denn sie schreibt sich in einen kontinuierlichen „progreso“ ein, stellt also den Versuch dar, die durch die Sprachen aufgezwungene „babylonische“ Getrenntheit der Menschen zu überwinden (Ortega y Gasset 1976: 26). Hieran schließen sich die folgenden Überlegungen an, die am Phänomen des kulturellen und sprachlichen Übersetzens die Möglichkeiten inter- und transkultureller Kommunikation bedenken. 5.5.1 Stimmenvielfalt und kulturelles Übersetzen Navarretes literarischer Essay „La sombra de Tarpeya“ erscheint im Band La Canopea del Louvre (2007), einer Sammlung von ekphrastischen Texten in denen sich die Autoren Regina Ávila und Navarrete auf ausgewählte Gemälde beziehen, die im Louvre ausgestellt sind. 107 Der Begriff der Ekphrasis geht zurück auf die Antike und ist seit dem 5. Jh. auf die Literatur übertragen worden, um das intermediale Phänomen der „schriftlichen Darstellung von Kunstwerken“ zu beschreiben und sich von dort aus zu einer poetischen Gattung des „Bildgedichts“ zu entwickeln (vgl. Rajewsky 2002: 196). Ab dem 1990er Jahren gewinnt der Begriff im Zuge der interart studies wieder an Bedeutung (ebd.). Neuere Ansätze heben über den semiotischen Aspekt der Übersetzung von Bild in Sprache hinaus die kontextuelle bzw. die kulturspezifische Einbettung der Ekphrasis hervor. 108 In diesem Zusammenhang setzt Anne-Kathrin Reuleckes Ansatz den Schwerpunkt bei 105 Vgl. Ortega y Gasset, José ([1948]1976): Miseria y esplendor de la traducción / Elend und Glanz der Übersetzung. Zweisprachige Ausgabe. Stuttgart: dtv, 24f. Ortega y Gasset unterscheidet zwischen dem „mal utopista“, der selbstverständlich an die Übersetzbarkeit glaubt und sich sofort ans Werk macht, und dem „buen utopista“, der die Unmöglichkeit des Übersetzens in den Raum stellt und weiß, dass jede Übersetzung nur eine Annäherung sein kann (ebd.: 26). 106 Vgl. Benjamin, Walter (1973): „Die Aufgabe des Übersetzers“. In: Störig, Hans Joachim (Hg.): Das Problem des Übersetzens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 158. Benjamins historische Herangehensweise an das Übersetzen enthält auch die Utopie eines „Versöhnungs- und Erfüllungsbereichs der Sprachen“ (ebd.: 162): „Wie Bruchstücke eines Gefäßes“ wird jede Übersetzung als „Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar“ (ebd.: 165). 107 Ávila, Regina / Navarrete, William (2007): La canopea del Louvre / La Canopée du Louvre. Zweisprachige Ausgabe. Valencia: Aduana Vieja, 169-174. Im Folgenden Canopea. 108 Vgl. Boehm, Gottfried (1995): „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache“. In: Ders. / Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: Fink, 38. 5.5 Entgrenzung 165 der Kunstbeschreibung darauf, wie Kunstwerke neu geschrieben werden und sich damit im Text vergegenwärtigen. 109 Das „Korrespondenzverhältnis“ der Ekphrasis führt zu einer Doppelungsstruktur der Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen, die durch die Intermedialität erzeugt wird (vgl. Reulecke 2002: 35). Denn der Verfasser fungiert gleichzeitig als Rezipient (Bildbetrachter) und Produzent (Autor). Damit ist der Leser einer doppelten Wahrnehmung ausgesetzt, der des mimetisch reproduzierten beschriebenen Bildes und der des poetisch „transformierten“ geschriebenen Bildes im Text. Somit ist auch der Rezipient gleichzeitig Bildbetrachter und Leser. Dem Ansatz der „Neuschreibung“ verpflichten sich auch die beiden Autoren der Essaysammlung. Auf dem obersten Blätterdach des Waldes, „la canopea“, treffen sie sich auf halbem Weg zwischen himmlischem Paradies und irdischem Dasein (Canopea 35). Die Beschreibung der Kunstwerke steht zu allererst in Verbindung mit der Kunstbetrachtung. Diesen Aspekt der Wahrnehmung beleuchtet Ramón Alejandro, ein kubanischer Maler, der in Paris lebt und vor allem durch seine exotischen, überbordend farbigen Papayamotive bekannt ist. 110 Er liefert das Vorwort zu dem Band und berichtet von eigenen Erfahrungen bei der Betrachtung von klassischen Gemälden und den auf ihnen abgebildeten nackten Figuren, die ihn, sich selbst ironisierend als „alguien venido de tierras más interesadas por todo tipo de satisfacciones sensuales“, allzu oft zu erotischen Fantasien angeregt haben (Canopea 15). El hecho de que las cosas sean lo que nos imaginamos que son, y no algo con sentido intrínsicamente definido en sí mismas, nos resulta tan evidente como que la importancia que esas cosas tienen es exactamente, ni más ni menos, la que nosotros mismos, con nuestro bagaje cultural particular, nos complace darles (ebd.: 16f). Die Wahrnehmung von Kunst sei daher immer ein offener Dialog und eine Form der imaginativen Aneignung, bei der sich die kubanischen Autoren mit ihrem spezifischen „kulturellen Gepäck“ jede Waghalsigkeit und ungezwungene Frechheit erlauben dürften. (ebd.: 20f). So verlautet das Vorwort bereits, dass es sich bei den Essays nicht um eine reine Form der Kunstkritik handelt, sondern dass auch die Fiktion in ihnen eine Rolle ein- 109 Reulecke, Anne-Kathrin (2002): Geschriebene Bilder. Zum Kunst- und Mediendiskurs in der Gegenwartsliteratur. München: Fink, 9. 110 Vgl. hierzu den Bildband Ramón Alejandro. Brüssel: L’Atelier des Brisants, 2006. (Keine Angabe zur Herausgeberschaft). Neben Abbildungen von Alejandros Gemälden sind darin auch Texte zu dessen Werk enthalten, z.B. von Roland Barthes, Roger Callois, Édouard Glissant, Jacques Lecarrière, Severo Sarduy, Antonio José Ponte und Rafael Rojas. Zur Interpretation der Papayamotive siehe Guillermo Cabrera Infante: „¡Vaya Papaya! “, keine Seitenangaben. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 166 nimmt. Die Idee, die Figuren auf Gemälden zu fiktionalisieren und sie so zum Leben zu erwecken, ist inspiriert von dem Kurzgeschichtenband Un novelista en el museo del Prado des argentinischen Autors Mújica Lainez. Darin treten die Figuren nach der Schließung der Ausstellungsräume aus ihren Bilderrahmen heraus und entwickeln ein Eigenleben. 111 Der Erzähler nimmt die Rolle des Beobachters ein, der des Nachts die Intrigen und Abenteuer der zum Leben erwachten Figuren mitverfolgt. Derart gestaltet sich auch die erzählerische Perspektive in Navarretes literarischen Essays mit dem Unterschied, dass die Figuren im Moment der Betrachtung in Interaktion mit dem Gegenüber des Autors treten, der ihnen eine Stimme verleiht. Die polyphone Stimmüberlagerung ist daher das Grundprinzip der Erzählstruktur, was in „La sombra de Tarpeya“ (Tarpeya) besonders deutlich wird. Der Essay bezieht sich auf Jacques-Louis Davids neoklassizistisches Gemälde Les Sabines arrêtant le combat entre les Romains et les Sabins von 1799, dessen Motiv auf die Mythologie der römischen Städtebildung zurückgeht, wie sie Titus Livius in seinem Werk Histoire romaine erzählt. Nach der Gründung Roms fehlte es den Römern an Ehefrauen, so dass sie sich Töchter aus der benachbarten Stadt raubten, die Sabinerinnen. Drei Jahre später ziehen die Sabiner nach Rom, um ihre Töchter zurückzuerobern, die sich zu diesem Zeitpunkt jedoch mit ihrem Schicksal abgefunden haben, denn sie haben zum Fortbestand Roms durch ihre Heirat beigetragen und Kinder geboren. Daher werfen sich die Frauen im Kampf der Sabiner gegen die Römer zwischen die Truppen. 112 Die auf der Mitte des Gemäldes abgebildete Figur, die im weißen Kleid über den anderen Frauen und ihren Kindern steht, stellt Hersilia dar, die Ehefrau von Romulus, der mit Schild und Speer bewaffnet rechter Hand mit dem Rücken zum Betrachter abgebildet ist. Auf der linken Seite von Hersilia steht ihr Vater, der Sabiner Tatius, der von vorne zu sehen ist. 111 Lainez, Mújica (1984): Un Novelista en el Museo del Prado. Barcelona: Seix Barral. Im Zusammenhang mit der Analyse der fiktionalisierten Bildbeschriebungen bei Lainez macht Heydenreich auf einen weiteren Dopplungsaspekt aufmerksam: der „vorsätzlichen Verschränkung von Kunst und Realität.“ Heydenreich, Titus (2003): „Un Novelista en el Museo del Prado (1984). Madrids Kunstschätze im Blick des Argentiniers Manuel Mújica Lainez.“ In: Tappert, Birgit / Jung, Willi (Hg.): Heitere Mimesis. Tübingen: Francke, 792. Zur Vertiefung dieses Dopplungsaspekts am Beispiel der Ekphrasis, vgl. 6.5.1 „Die Inselwelt im Louvre“. 112 Livius, Titus (1965): Histoire romaine. Buch I. Bayet, Jean (Hg.). Paris: Société d’Ed. „Les belles Lettres“. Kap. 9-13. Nachzulesen im Internet unter: http: / / www.insecula.com/ oeuvre/ O0028300.html. Zugriff: 29.05.2012. 5.5 Entgrenzung 167 Abb.1 Jacques-Louis David: Les Sabines arrêtant le combat entre les Romains et les Sabins (1799) (http: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: The_Intervention_ of_the_Sabine_Women.jpg. Zugriff: 15.10.2013). Über Jahrhunderte hinweg symbolisiert die Figur der Hersilia Frieden und Versöhnung, denn ihr gelingt es, Waffenstillstand zwischen den verfeindeten Lagern zu stiften. Sie ist es auch, der Navarrete seine Stimme verleiht: „No soy más que un ideal: el de la concordia que debería reinar entre los hombres. Ni siquiera a mí me extraña lo mucho que he sido idealizada a lo largo de estos siglos“ (Tarpeya 169). Aus dieser Eingangspassage heraus spricht eine Skepsis, als wolle die Figur ihrer Idealisierung entgegenwirken. Mit eben dieser Skepsis vermittelt die Figur dem Leser einen kunsthistorischen Überblick über ihre Existenz aus der Perspektive der Ich- Erzählerin. Sie habe schon als Ikone für Poussin, Rubens und Barbieri dienen müssen und sei nun schließlich, für immer gefangen, auf diesem Gemälde von David gelandet. Ihre Anwesenheit schulde sie ihrem Erschaffer David, der als Anhänger Robespierres vom französischen Revolutionsregime gefangen genommen wurde und sie, das Frieden stiftende Motiv seines Bildes, aus seiner Gefängniszelle heraus schuf. Durch diesen Entstehungskontext habe er zusätzlich zu ihrer Idealisierung beigetragen 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 168 (Tarpeya 170). 113 Sie glaube nicht an die hehren Ideale des Menschen. Damit beschließt sie ihren kunstgeschichtlichen Exkurs. Im Fortlauf des Textes schaltet sich nun der Autor metatextuell in die Überlegungen der Figur ein. In Form eines Spiegelungsmechanismus tritt die Ich-Erzählerin in Interaktion mit ihm und reflektiert sich in ihrem Betrachter, der sich wiederum dadurch, dass er ihr seine Stimme verliehen hat, in ihr widerspiegelt. No creo en los hombres. Como podría creer en ellos sabiendo, como sé, que hasta mi salvador, quien reescribe o intenta reescribir una vez más mi atormentada historia, me ha escogido entre las miles de imágenes que pueblan este Museo, por el mero y frívolo hecho de que admira lo que Winckelmann llamó „la precisión del contorno de lo Antiguo“, manifiesto en las líneas corpóreas perfectamente táctiles del cuerpo de mi esposo (Canopea 171). 114 Wie diese Passage verdeutlicht, schafft Navarrete aus der räumlichen Situation der Spiegelung heraus eine heterofone Situation der Stimmenkonkurrenz. Ihm wird von Hersilia zwar die Rolle des Retters zugewiesen, da er sie mit seiner Stimme zum Leben erweckt, allerdings sei seine reescritura mitnichten von edlen und wohlwollenden Motiven geleitet. Denn, von niederen Trieben besessen, verfange sich sein Blick in den perfekt gezeichneten Linien des Hinterteils ihres Ehemanns Romulus (Tarpeya 172). Über die Bekundigungen seines weiblichen Gegenübers gibt der Autor-Betrachter seine Homosexualität preis. Dies führt allerdings zur Ausweitung der Kampfzone, denn Hersilia muss sich nun nach drei Seiten hin verteidigen, nicht nur im Gefecht zwischen ihrem Vater und ihrem Ehemann, sondern auch mit Blick auf ihren „schreibenden Retter“ und dessen „libidinöse Absichten“ (ebd.). In der konkurrierenden Interaktion tritt die Figur aus dem Rahmen heraus und zieht gleichzeitig den Betrachter in das Bildinnenleben hinein. 115 Darüber hinaus wird durch die metatextuelle Verknüpfung nicht nur das einbezogen, was sich vor dem Bild abspielt, 113 Zu den historischen Entstehungsbedingungen des Gemäldes vgl. Schnapper, Antoine (1980): David. Témoin de son temps. Fribourg: Office du Livre, 167-193. 114 Das Zitat stammt aus Johann Joachim Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst von 1755. Stuttgart: Reclam, 1977. 115 Zum Spiegelungsaspekt zwischen Maler und Betrachter äußert sich auch Michel Foucault, der in Les mots et les choses eine Ekphrasis des Gemäldes Las Meninas von Velázquez vornimmt. Die Grenzen der Repräsentation werden von Foucault insofern in Frage gestellt, als durch einen ständigen Austausch sich kreuzender und überlagernder Blicke die Rollen von Subjekt und Objekt, Zuschauer und Modell umgekehrt werden: „[L]e regardant et le regardé s’échangent sans cesse. Nul regard n’est stable, ou plutôt, [...] le sujet et l’objet, le spectateur et le modèle inversent leur rôle à l’infini. [...] Vus ou voyant? “ Vgl. Foucault, Michel (1966): Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard, 20f. 5.5 Entgrenzung 169 sondern auch das, was sich hinter dem Sichtbaren verbirgt. So weist die Figur die unwissenden Galeriebesucher des Louvre, die blind am Gemälde vorbeilaufen, darauf hin, dass vom Felsen Tarpeya, der im Bildhintergrund repräsentiert ist, die Gefallenen des Krieges hinabgeworfen werden (Tarpeya 172). 116 Als Schatten des verbrecherischen Daseins von Menschen lungert der Tod hinter dem Tarpeya. Er beweist, „cuán elemental y burda es la condición humana“ (ebd.). Die Unsinnigkeit des menschlichen Zusammenlebens in ihren kriegerischen Auseinandersetzungen äußert sich symbolisch in dem düsteren Gewitterszenario, das sich auf der rechten Bildhälfte zusammenbraut: „[E]l horizonte de los hombres ha estado siempre poblado por la misma negrura que presagian esas nubes, por el sentimiento de que a sus caprichos belicosos y dictámenes absurdos quedamos sometidos“ (ebd.: 173). Die Abbildung der dunklen Wolken veranlassen die Figur aber auch zur Beschwerde: David habe es mit seinem klassizistischem Hochmut nicht einmal für nötig befunden, das wahrhafte Ausmaß des Kampfgetümmels durch Staubwolken zu repräsentieren. Stattdessen habe er die dunklen Wolken am linken Rand des Gemäldes abgebildet, die den Wetterbedingungen und dem wolkenfreien Himmel am Tage des Kampfes gar nicht entsprochen hätten (ebd.). Schließlich ist es die anmutige und heroische Pose Hersilias mit ihren ausgebreiteten Armen, die den Autor dazu veranlasst, sie in der Konkurrenzsituation mit ihm gewinnen zu lassen. Leidenschaftlich schwört sie, „él quien me reescribe“ vom Tarpeya herunterzuwerfen, sollte er es wagen, sich ihrem Mann zu nähern und ihn zu entführen „llevarlo lejos, quién sabe a dónde, a otras tierras desconocidas, más allá del gran océano, de donde no volverá de seguras nunca más a las cuatro maderas del marco de este cuadro“ (ebd.: 174). So erklärt sie alle für „vencidos“ (ebd.), ihren Vater, ihren Ehemann, ihren Erschaffer David und schließlich ihren zynisch eigenbedachten „Retter“, der sie schreibend zum Leben erweckt. Hierbei erweitert Navarrete das Thema der Entführung der Sabinerinnen, indem er eine weitere Entführungssituation imaginiert und dabei die Geschlechterverhältnisse umkehrt. Die erotischen Fantasien des Betrachters vermischen sich dabei mit denen der Figur, die im Text ausgeführt werden (ebd.: 174). In seiner Verlebendigung des Gemäldes wird die Stimme zum Ereignis einer heterofonen Konkurrenzsituation. Durch die polyphone Stimmenüberlagerung schafft Navarrete mittels der Ekphrasis einen Dialog der 116 Im Hinblick auf die Semantisierung des Bildhintergrunds findet sich hier eine interessante Parallele zu Arenas’ Novelle „Mona“. Darin verselbstständigt sich die Mona Lisa als „erotischer Vielfraß“ (Heydenreich 2003: 790). Die - im wahrsten Sinne - männermordende Femme Fatale ertränkt ihre Opfer in dem düsteren Gewässer, das im Hintergrund auf der linken Seite des Portraits abgebildet ist. In: Arenas, Reinaldo (1995): Viaje a La Habana. Novela en tres Viajes. Miami: Ediciones Universal, 57-91. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 170 transmedialen Entgrenzung. Die metatextuell vom Autor reflektierte, Umordnung von Text und Bild und seine reescritura des aufgegriffenen Stoffes führen zu einer polylogischen Überlagerung mehrerer Kontexte. Die „poetologische Reflexion“ (Reulecke 2002: 14) über die Abbildungsmöglichkeiten und -grenzen des Mediums Bild und über das Sichtbarkeit erzeugende Potential des Mediums Schrift geht mit einer existentiellen Reflexion im Spannungsfeld zwischen De- und Reterritorialisation einher. Nicht umsonst greift Navarrete die römische Städtegründungsmythologie auf, um in zynischer Schreibweise den Kampf von Familien gegen die eigene Familie zu erzählen. Damit spielt er auch auf sein eigenes Schicksal an: Denn als Kubaner im Exil bleibt er den „dictámenes absurdos“ des kubanischen Regimes unterworfen. Somit wird nicht nur der Kampf der Römer gegen die Sabiner in die Gegenwart transportiert, sondern auch der zeitgenössische Kontext, in dem das Gemälde entstand. Vor dem Hintergrund der blutigen Auseinandersetzungen der französischen Revolution, denen der Maler David zum Opfer fiel und nur knapp dem Tode entrann, findet eine transkulturelle Übersetzung in den Kontext der kubanischen Revolution statt, die zu einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Thema revolutionärer Freiheitsversprechen führt, die im Freiheitsentzug enden. Die Aufhebung von Grenzen, die Frieden und Eintracht zwischen den Menschen zu stiften vermag, bleibt dabei ein niemals zu erreichendes Ideal. Was bleibt dem Bildbetrachter in seiner Bildbeschreibung also anderes übrig, als von den hehren Idealen Abschied zu nehmen und sich den grenzenlosen Fantasien irdischer Sinnlichkeit hinzugeben? Am Beispiel der medialen und kulturellen Übersetzung in Navarretes Essay wird die „relationale Originalität“ (Pérez-Firmat 1989: 4) des kubanischen Selbstverständnisses deutlich: die Aneignung des Anderen, dem die eigene Stimme ausgeliehen wird, dient dazu, das spezifisch Eigene zur Sprache zu bringen. Dieser Aneignungsprozess, der sich vom „canopea“ des Louvre aus vollzieht, verweist auf ein transkulturelles Selbstverständnis, das das Springen zwischen verschiedenen kulturellen Texten und Kontexten an der intermedialen Schnittstelle zwischen Bild und Schrift genüsslich - wenn auch zynisch - ausspielt. 5.5.2 Sprachenvielfalt und Übersetzungen Ein weiterer Aspekt, der das Schreiben zwischen den Kulturen in La Canopea del Louvre markiert, ist die Zweisprachigkeit des Bandes. Die AutorInnen selbst haben ihre Essays ins Französische übersetzt, sodass sie, wenn auch in Spanien publiziert, dem französischen Lesepublikum zugänglich sind. Die Überschreitung von Sprachgrenzen wird im Folgenden als Phänomen der transkulturellen Entgrenzung näher untersucht. Wie gehen die hispanophonen AutorInnen damit um, in einem frankophonen 5.5 Entgrenzung 171 Umfeld zu leben und zu schreiben? Behält das Französische den Stellenwert des fremdsprachlich anderen? Oder machen sie sich die fremde Sprache zu Eigen? Im Spannungsfeld zwischen zwei Nationalsprachen angesiedelt zeigt die transkulturelle Wortergreifung „enriching and debilitating aspects of bilingualism“, sodass die literarische Sprachwahl nicht nur linguistisch sondern auch kulturell zum „project in translation“ wird, in dem sich das Eigene im Anderen und das Andere im Eigenen reflektiert (Kaminsky 1999: 73). Bei Navarrete fällt auf, dass er Artikel und Sachtexte zwar auf Französisch schreibt und publiziert, seine literarischen Texte jedoch mit Ausnahme der Essays in Canopea ausschließlich auf Spanisch verfasst. Interessanterweise überträgt er die Gedichte Gina Pellóns ins Französische, seine eigenen lyrischen Texte lässt er als Übersetzer jedoch unberührt. 117 Hierbei sei erneut auf die Schwierigkeit bei Übersetzungen von Lyrik verwiesen. Im Hinblick auf die eingeforderte Äquivalenzbeziehung von Original und Übersetzung hält sich zu Recht die These der Unübersetzbarkeit von Lyrik. 118 Hierzu meint Hans-Georg Gadamer: Im lyrischen Gedicht ist die Einheit von Sinn und Klang oft so innig, daß man in einem anderen Sprachstoff nur mittelbare Annäherungen schaffen kann oder ganz neue Dichtungen an die Stelle der originalen Dichtungen setzen muß. In einem guten Gedicht haben wir ein unauflösliches Geflecht, ein so dichtes Zusammenwirken von Klang und Bedeutung, daß schon kleine Änderungen im Text das ganze Gedicht zerstören können. 119 Diesem Argument stimmt auch Navarrete zu, wenn er über das Übersetzen von Gedichten aussagt: „Porque el momento de llevarlo a otra lengua hay que hacerlo de nuevo. […] Lo interesante y lo difícil es importar las palabras que caigan, que encajen perfectamente en ese molde“ (A.IV 331). Hierbei verweist er sowohl auf das Übersetzen der Musikalität dichterischer Verse als auch auf das Suchen nach Worten und Metaphern, die in und zu dieser Klanglichkeit passen. Während Navarrete der Übersetzbarkeit seiner Gedichte eher skeptisch gegenübersteht, begeget Machín dem Phänomen mit ihrer langjährigen Erfahrung auf dem Gebiet des Übersetzens mit einer Offenheit, die ihr die Übersetzung ihrer eigenen Verse ins 117 Pellón, Gina (2005): Vendeur d’oublis. Übersetzt von William Navarrete. Valencia: Aduana Vieja. 118 Was nicht heißen soll, dass nicht „de facto, und zwar seit Jahrtausenden, die Menschen übersetzen“, so argumentiert Eco aus pragmatischer Sicht (2006: 20, Hervorhebung Eco). 119 Gadamer, Hans Georg (1993): Kunst als Aussage. Ästhetik und Poetik. Band I. Tübingen: Mohr, 252f. Dieser These aus dem Blickwinkel der Hermeneutik schließt sich auch Jakobson aus der linguistischen Perspektive an: Für ihn ist Dichtung per definitionem unübersetzbar. Möglich ist lediglich eine schöpferische Transposition („creative transposition“, Jakobson 1971: 265). 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 172 Französische gestattet. Dabei ist sie sich der unterschiedlichen Sprachwelten und der ihnen inhärenten „Weltanschauungen“ bewusst (Spiller 2004: 131). Das Über-Setzen von einer internen Sprachwelt in die andere folge immer dem Prinzip der grenzüberschreitenden reescritura, so Machín. Dabei werde der Übersetzer zwangsläufig zum Dichter: „la condición fundamental para poder traducir poesía es ser poeta“ (A.IV 327). 120 Somit besitzt die Zweisprachigkeit für Machín das Potential, durch dichterisches Über-Setzen neue Welten und Klanglichkeiten zu erschaffen. In Bezug auf den dreisprachigen Gedichtband Soy mucho más, dessen Übersetzung ins Deutsche auf eine studentische Initiative zurückgeht, bestand die Aufgabe vor allem in der Übertragung der „emotiven Resonanz“ (vgl. Ortega y Gasset 1976: 18). Die sinnliche Lyrik Machíns und ihr „emotionaler, kraftvoller Bilderreichtum“ im kubanischen Spanisch sei eine Herausforderung für das Übertragen ins Deutsche und damit in einen anderen kulturellen Kontext gewesen, so Spiller u.a. (2004: 131). Bei Machín steht folglich vor allem die Übersetzbarkeit von Gefühlswelten im Vordergrund. In diesem Zusammenhang werden einige Probleme - auch rezeptionsästhetischer Natur - aufgezeigt, die sich der Übersetzergruppe stellten, so z.B. bei den vielen Übersetzungsvarianten des Wortes „vértigo“, die mit „Schwindel“, „Taumel“ oder „Strudel“ jeweils unterschiedliche Bilder im Deutschen erzeugen („En un sólo minuto de vida“), oder auch beim Ausdruck „volverse viejo“, der im kubanischen Spanisch positiv konnotiert ist, während „alt werden“ im Deutschen eher eine negative Konnotation aufweist (vgl. 2004: 132, 131). Hier zeigt sich, wie im Sinne Benjamins „vom Gemeinten die Art des Meinens zu unterscheiden ist“, was wiederum in Relation zu Saussures Arbitraritätsprinzip sprachlicher Zeichen steht (Benjamin 1973: 161). Obwohl das „Gemeinte“ dasselbe ist, verweist das Signifikat „bosque“ auf einen anderen Signifikanten als das deutsche „Wald“, so Ortega y Gasset. 121 Viele der oben angeführten Übersetzungsprobleme wurden im Dia- 120 Auch hier wird klar, dass es beim Übersetzen von Lyrik nicht um das Übertragen einer Mitteilung geht, sondern um die Sprachsubstanz selbst, so Walter Benjamin: „Was aber außer der Mitteilung in einer Dichtung steht - und auch der schlechte Übersetzer gibt zu, daß es das Wesentliche ist -, gilt es nicht allgemein als das Unfassbare, Geheimnisvolle, ‚Dichterische’? Dass der Übersetzer nur wiedergeben kann, indem er auch dichtet? “ (1973: 156). 121 „Es falso, por ejemplo, suponer que el español llama bosque a lo mismo que el alemán Wald, y, sin embargo, el diccionario nos dice que Wald significa bosque (Ortega y Gasset 1976: 16). Das gleiche Beispiel ist auch bei Umberto Eco zu finden. Er verweist darauf, welche Verwirrung das französische bois in Bezug auf die inhaltliche Substanz stiften kann. „Im Deutschen kann das französische bois sowohl Holz als auch Wald sein (ein boschetto ist ein Wäldchen), aber im Deutschen steht Wald sowohl für forest als auch für foresta und forêt, bis hin zum dichten Urwald eines ,selve‘ (frz.)“ (2006: 47). 5.5 Entgrenzung 173 log mit Machín verhandelt und gelöst (Spiller u.a. 2004: 133f). 122 Die reescritura ihrer Gedichte ins Französische nimmt die Lyrikerin in der Anthologie Soy mucho más selbst vor. Dies kommentiert sie wie folgt: [C]omo los poemas iban a ser publicados en alemán y en español, yo quise también traducirlos al francés, porque el francés es la lengua de mi vida diaria. Mi lengua materna es el español. Después estudié el inglés y el francés en Cuba, antes de salir de Cuba. [...] Ya hace 31 años que vivo en París. No puedo publicar un poemario en español y alemán en que el francés no esté presente. No es posible (A.IV 326). Aus diesem Interviewausschnitt geht hervor, dass die alltägliche Präsenz des Französischen der seit drei Jahrzehnten in Paris ansässigen Dichterin das lyrische Über-Setzen in die andere Sprachwelt als potentielle Erweiterung ihrer poetischen Ausdrucksfähigkeit ermöglicht. Ein vollständiges Übersetzen mit der Hinwendung zum Französischen gelang ihr in der Narrativik mit dem Roman Passerelles (2008), den sie originär auf Französisch verfasste, um ihn ein Jahr darauf unter dem Titel Pasarelas (2009) ins Spanische zu übertragen. In diesem Fall kann man beinahe von einer sprachlichen Parallelexistenz beider Versionen des Romans sprechen, die eine sprachliche Entgrenzung in einem Prozess des übersetzerischen Hin- und Herspringens verdeutlicht. Dadurch entsteht die Frage, welche Version eigentlich als Ausgangstext und welche als Zieltext zu bezeichnen ist: die erste, die mit dem Zurücklassen der Muttersprache Sprachgrenzen überschreitet und neue Sprachräume durchschreitet oder die zweite, mit der eine Rückkehr in die „originäre“ Sprache des Spanischen erfolgt? Darüber hinaus gibt das intertextuell eingeflochtene Eingangszitat von Colette, „J’appartiens à un pays que j’ai quitté“, Aufschluss über Machíns transkulturelles Selbstverständnis. 123 Denn die Wortergreifung Machíns vollzieht sich über die Stimme der französischen Schriftstellerin, die identifikationsstiftende Bezugsetzung zu Colette verhilft ihr folglich dazu, das eigene Schicksal des Exils und der doppelten kulturellen Zugehörigkeit zu benennen und aufzuschlüsseln, das mit dem Verlassen Kubas seinen Lauf nimmt. Einen französischen Verleger konnte Passerelles bisher nicht finden, ist allerdings in beiden Versionen, der spanisch- und französischsprachigen, bei Aduana Vieja in Valencia publiziert. 122 Umberto Eco verabschiedet sich vom Begriff der Äquivalenz als Prinzip übersetzerischer „Treue“, indem er das Übersetzen als eine Form der „loyalen“ Verhandlungssache begreift (Eco 2006: 20). 123 Das Zitat stammt aus Colettes Essay Les Vrilles de la Vigne (1908). Zur Analyse von Pasarelas vgl. 4.5.1 „Gebrochene Autobiographie: Pasarelas“. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 174 Ein in Bezug auf die Sprachräume gegenläufiges Beispiel, das aber in einen ähnlichen zeitlich widersprüchlichen Übersetzungskontext eingebunden ist wie Machíns Roman, ist das narrative Werk Tejeras. Ihre Romane erschienen durchgängig zunächst in Frankreich als Übersetzungen der spanischsprachigen Texte: Le Ravin (El barranco) übersetzte Claude Couffon 1958 für Juillard, 1970 wurde Sonambule de Soleil (Sonámbulo del sol) bei Denöel in der Übersetzung von Adelaïde Blasquez publiziert, bevor der Roman ein Jahr später auf Spanisch bei Seix Barral verlegt wurde. Fuir la spiral erschien 1987 bei Actes Sud und J’attends la nuit pour te rêver, Révolution 1997 bei L’Harmattan. 124 Bei Le Ravin und Fuir la spiral ist der zeitliche Graben zwischen dem Erscheinen der Übersetzung und dem des Originaltextes besonders weit: El Barranco erschien beinah ein halbes Jahrhundert nach der Erstausgabe im hispanophonen Raum und zwar im auf Teneriffa ansässigen Verlag Ediciones Idea. Ebenso verhält es sich mit Huir de la Espiral: Es brauchte 23 Jahre, bis die Leser den Roman 2010 auch auf Spanisch beim Editorial Verbum erhalten konnten. Diese Publikationsumstände verdeutlichen die „transatlantische, trikontinentale“ Existenz der kubanischen Autorin, die auf den kanarischen Inseln aufwuchs und seit nunmehr über fünfzig Jahren in Paris lebt (Hernández-Ojeda 2009: 19). Damit entzieht sie sich jeglicher Einordnung in nationalliterarische Kontexte und kann nur in einem transkulturellen Kontext jenseits fester Kategorisierungen wahrgenommen werden, als „cubano-canaria“, cubano-parisina“ oder darüber hinaus als „canario-cubana-parisina“ (ebd.). Als Autorin einer „sogenannten Bindestrich-Literatur“ (vgl. Schulze-Engler 2006: 49) ist Tejera eine Grenzgängerin, die Grenzen kontinuierlich überschreitet (vgl. Hernández-Ojeda 2009: 20). Ein Merkmal der Grenzüberschreitung stellt der „Plurilingualismus“ ihrer Texte dar (ebd.: 13), angesichts dessen Huir de la espiral (ESP) an dieser Stelle noch einmal betrachtet wird. Die grenzüberschreitende Sprachlichkeit des Romans wurde bereits anhand seiner lautlichen und resonanten Eigenschaften und der Dekonstruktion von Bedeutung gezeigt (vgl. 5.3.3 „Stille und Resonanz“). An dieser Stelle bilden Phänomene der „Sprachigkeit“ das Zentrum des Interesses. Das Augenmerk liegt dabei auf der exophonen Hybridität des spanischsprachigen Ausgangstextes, in den das Französische fragmentarisch einfließt. Die Sprachräume überschreitende Heterogenität wird dagegen in der monolingualen französischen Übersetzung gar nicht ersichtlich. Im Sinne Derridas wirft dies die Fragen auf: „Comment traduire un texte écrit en plusieurs langues à la fois? Comment ,rendre’ l’effet de pluralité? “ (1987: 208). Fragmente französischer Textpassagen erscheinen in Tejeras experimentellem Roman in dreierlei Hinsicht: Erstens, als intertextuelle Zitate, in 124 Tejeras erster Roman, Le Ravin, wurde 1986 bei Actes Sud neu aufgelegt. 5.5 Entgrenzung 175 denen in der Stimme des Protagonisten die Stimmen Anderer heterofon mitklingen. Zweitens, als Außenbedingungen und -wahrnehmungen, z.B. von Radionachrichten und Stadtszenerien, Straßenschildern und Aushängen, die in die Innenwelt des Protagonisten eingesaugt werden. Dessen Exil „en tierra extranjera“ wird hierbei durch das Alternieren zwischen den Sprachen untermauert (ESP 32, vgl. auch ESP 33, 56). Und drittens, als sprachliche Hybridität in Form eines zwischen den Sprachen alternierenden Codeswitchings, das auch auf innersyntaktischer Ebene zu beobachten ist. In allen drei Fällen dringt das Französische als das Andere in die Innenwelt des isolierten Protagonisten Claudio Tiresias Blecher ein und wird gleichsam aufgesogen in die Spiralbewegung des Romans, die sich um die immerwährende Alterität des Exilanten dreht. Nicht umsonst handelt es sich bei einem intertextuellen Zitat um eine Passage aus Gaston Bachelards La Poétique de l’Espace, in der die Spirale als existentielle Metapher thematisiert wird: „quelle spirale que l’être de l’homme ( ) dans cette spirale que de dynamismes qui s’inversent ( ) on ne sait plus tout de suite si l’on court au centre ou si l’on s’en évade“ (ESP 85). 125 Mit Bachelards Worten reflektiert und identifiziert Tejera ihr eigenes Werk und poetisches Programm, das in ESP gipfelt. Nicht nur entwirft der Roman in seiner Fragmenthaftigkeit mit jedem Satz, jeder Buchseite und jedem Abschnitt ein Labyrinth multipler Zentren, die sich umeinander drehen, auch der Protagonist selbst, „un ser variable, móvil e inestable“ folgt in der existentiellen Ausweglosigkeit seines Umherirrens der Bewegung der Spirale, in der sich alle Richtungen auflösen, innen und außen, hinein und hinaus, hoch und tief (vgl. Hernández-Ojeda 2009: 116f). Die Stimme Bachelards wird intertextuell in den monologischen Dialog der Textstruktur aufgenommen. Sie verschwämme darin bis zur Unkenntlichkeit mit der Stimme des Protagonisten, wenn nicht das Französische seine Fremdeinwirkung als eine zu Eigen gemachte andere Stimme kennzeichnen würde. Der zweite Aspekt wird in Hinsicht auf die Nachrichten über den Vietnamkrieg ersichtlich. Hier hat das Eindringen der anderen Sprache in die Spiralbewegung des Romans etwas Aggressives und Terrorisierendes, dessen Dominanz durch das Hervorheben in Majuskeln unterstrichen wird: „LES BOMBARDEMENTS AMERICAINS POURSUIVENT LEURS RAIDS... [...] Claudio Tiresias se esfuerza en configurar ese caos encorvado 125 Vgl. Bachelard, Gaston (1967): La Poétique de l’Espace. Paris: Presses Universitaires de France, 193. Das Zitat ist im Roman als solches durch Anführungszeichen kenntlich gemacht. Die leeren Parenthesen markieren keine Auslassungen im Zitat, sondern stellen Einfügungen Tejeras dar. Mehr zu Bachelards Poetik des Raums vgl. 6.2.1 „Das Haus und die Straßen” 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 176 por un paso invisible [...]“ (ESP 32, vgl. auch 33). Die Feindseligkeit der Außenwelt steht zudem im Zusammenhang mit der als gewaltsam erfahrenen Trennung von den anderen Menschen, die den Protagonisten im Pariser Stadtraum auf seine eingegrenzte Alterität zurückwerfen: El quartier indiferente a su hilera de robots mutilados Feu rouge feu vert feu rouge feu vert LA MULTITUD LA GUERRA DEL VIET NAM Feu rouge feu vert Pasen pasen avancen hombrescarteles Distancien cada hora de la próxima (ESP 28) Le quartier indifférent à sa file de robots mutilés Feu rouge feu vert feu rouge feu vert LA FOULE LA GUERRE DU VIET-NAM Feu rouge feu vert Passez passez avancez hommes-affiches Séparez chaque heure de la précédente de la suivante (SP 11) Hier konstituieren sich die Fremdheit des Außen und das Fremdsein des Protagonisten nach Innen in der Wahrnehmung des konstanten Farbwechsels der Ampel, in dem sich dessen Orientierungslosigkeit, Bedrohtheit und Immobilität widerspiegeln. Dies wird in der spanischen Fassung durch die Verwendung des französischen „feu rouge, feu vert“ auch mittels der Exophonie vermittelt. In der französischen Übersetzung kann man sich lediglich an der Semantik orientieren, also der „inhaltlichen Substanz“ im Sinne Umberto Ecos, um die Verstörung Blechers zu erfassen. Das Übertragen der „sprachlichen Substanz“, nämlich dem Alternieren zwischen dem Französischen und dem Spanischen, entfällt. 126 Ein weiteres Beispiel aus der französischen Übersetzung von Jean- Marie Saint-Lu, die er in Zusammenarbeit mit der Autorin vorgenommen hat, zeigt uns dessen Umgang mit der Mehrsprachigkeit des Originaltextes. Darin wird das Phänomen des Codeswitching ersichtlich: Desde ce point du non retour con su cabeza de ídolo cicládico 127 con Avec sa tête d’idole des Cyclades du troisième millénaire avec sa 126 Des Weiteren fällt jedoch am letzten Satz dieser Passage auf, dass der Übersetzer der zeit-räumlichen Progression-Regression des Protagonisten noch mehr Ausdruck verleiht, indem er neben der „nächsten“ Stunde („próxima, suivante“) noch die „vorherige“ hinzufügt („précédente“). Mit der daraus entstehenden Alliteration („próxima, précédente“) stellt er eine paradoxale Verbindung zur spanischsprachigen Version her. 127 Kykladenidole sind Figuren, die aus der jungen Steinzeit oder frühen Bronzezeit stammen und dadurch gekennzeichnet sind, dass ihre Gesichtszüge abgesehen vom Nasenvorsprung nicht ausgearbeitet sind. Die Gesichter dieser Figuren erscheinen damit leer. Vgl. Fitton, Lesley (1990): Cycladic Art. Cambridge: Harvard University Press. 5.5 Entgrenzung 177 su andar acústico resonando sobre los canteros del patio Claudio Tiresias huye a zancadas (ESP 85, Hervorhebung AG) marche accoustique sur les pierres de la cour Claudio-Tiresias s’enfuit à grandes enjambements (SP: 78) Der Ausdruck „ce point du non retour“ verfremdet und potenziert die Rhythmik des spanischen Sprachflusses. In der Übersetzung fällt die adverbiale Bestimmung „desde ce point“ jedoch vollständig weg. Damit geht nicht nur die ästhetische Wirkung der exophonen Sprachsubstanz verloren. Darüber hinaus handelt es sich zudem um eine Reduktion auf der Inhaltsebene. Denn die adverbiale Bestimmung „desde ce point“ fällt vollständig weg. Von wo aus Tiresias flieht, verrät uns die französische Übersetzung also nicht. Die sprachliche Hybridität des „Originals“, die sich auch auf die Rhythmik, Semantik und Atmosphäre des Textes ausweitet, zeugt von einer unübersetzbaren Heterogenität exophoner Phänomene. Somit wird ersichtlich, dass nicht die Vielstimmigkeit, wohl aber die heterogene Vielsprachigkeit durch die monolinguale, französische Übersetzung eingeebnet wird. Darüber hinaus zeigt sich in der Hybridität des Sprachgebrauchs auch eine Tendenz zur Dekonstruktion (national)sprachlicher Grenzen, womit Tejera einen weiteren Schritt zur Befreiung der Sprache zugeht. Diese sprachliche Entgrenzung und damit die „desnacionalización“ ihrer Texte, wie Hernández-Ojeda es formuliert, erweist sich jedoch als Hindernis für die Verbreitung ihres Werks (2009: 158). Gerade dadurch, dass ihr Werk nicht nur literarisch, sondern auch nationalsprachlich nicht eindeutig einzuordnen ist, befindet es sich zwar in einer „transozeanisch“ wandernden, aber auch in einer an den Rand gedrängten, marginalisierten Position (vgl. ebd.). Rafael Rojas bezeichnet sie als Teil einer „vanguardia peregrina“, da sie sowohl mit der kubanischen Avantgarde der Gruppe Orígenes in Berührung kam als auch mit den Surrealisten, den Autoren des Nouveau Roman und der poststrukturalistischen Avantgarde der 1960er: 128 „A la extrañeza de ser una cubana exiliada y de vanguardia, en el París del 68, Nivaria Tejera sumó una voluntad de escritura cosmopolita y exterior, que tomaba distancia de las representaciones más telúricas del drama cubano“, so Rojas (2010: 18). Im Gegensatz zu Tejera, deren Werk sich in und durch Paris ausweitet, bleibt Triana wenn auch nicht in der ideologischen Auseinandersetzung, so doch tellurisch auf Kuba verhaftet. „[S]igo alimentando la isla“, behauptet der Autor (A.VI 344). Dies wird in seinem einzigen narrativen Werk Fragmentos de humo deutlich. Dabei handelt es sich um einen Kurzgeschichtenband, der das Schicksal von fünf verschiedenen Frauen in einzelnen Epi- 128 Rojas, Rafael (2010): „La vanguardia peregrina“. Vorwort zu Huir de la espiral, 18. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 178 soden erzählt. Die Erzählungen sind in Bayamo situiert, einer ländlichen Region Kubas, in der Triana aufwuchs. Die Figuren der Geschichte seien seiner Kindheitserinnerung entsprungen, „los he retomado y he inventado toda una serie de historias a partir de lo [...] que se contaba cuando era niño. Ese fantasmear lo he incorporado al relato.“ 129 In Form von inneren Monologen spiegeln die weiblichen Figuren die bedrückend engen Familienbindungen und Sozialstrukturen auf dem Land wider, die ihnen ein Verhaltenskorsett aufzwingen, unter dem die menschlichen Abgründe lauern: verhasste Schwiegerväter, inzestuöse Beziehungen, in den Wahnsinn getriebene Tanten u.a. werden thematisiert. Auch dieses Buch unterliegt einem sprachlichen displacement, denn es ist bisher, ähnlich wie im Fall Tejeras, nur in der französischen Übersetzung unter dem Titel Les cinq femmes erschienen. 130 Die Schwierigkeit bei der Übersetzung besteht vor allem in den regionalen Besonderheiten der karibischen Pflanzenwelt und ihrer Esskultur, für die es keine Entsprechungen im französischen Wortschatz gibt. Die Übersetzerin Alexandra Carrasco belässt die Ausdrücke kursiv in der Originalsprache, so dass dem europäischen Leser in den Texten ein recht hoher Grad an unübersetzbarer Fremdheit begegnet. So imaginiert die Protagonistin Alejandra in der Erzählung „La braise“ in der Auseinandersetzung mit ihrem verhassten Schwiegervater eine positive Wendung in deren Verhältnis: Regardez-moi ce beau matin de printemps. Les manguiers ont fleuris. L’été venu, sa récolte sera abandante. Doña Vidalina [die Hausangestellte, Anmerkung AG] lui mijote une purée de malanga avec une petite sauce à l’ail et des œufs à la coque. Oh mon Dieu! (Triana 1999: 26) Abgesehen davon, dass hier mit den Mangobäumen dem nordeuropäischen Raum fremde, blühende Phänomene im Frühling evoziert werden, kann sich der Leser unter der Köstlichkeit eines „purée de malanga“ vermutlich wenig vorstellen, wenn er die Tannia-Pflanze und die daraus zubereiteten Speisen im karibischen Raum nicht kennt. Das wird am Beispiel des „pâte pour les croquettes de manioc et de malanga“ deutlich, das in der zweiten Erzählung genannt wird (ebd.: 36). Rezeptionsästhetisch betrachtet könnte der andere Erfahrungshorizont des Lesers ein ähnliches Gefühl der Befremdung hervorrufen, wenn kurz darauf der kubanische Süßwasserfisch biajaca ins Spiel kommt: „Les gars ont apporté un sac rempli de biajacas“ (ebd.: 27). „Der Bildcharakter der Vorstellung“ kann durch den Leser, in dessen Wissensbestand die Kenntnis von malanga und biajaca fehlt, nicht nutzbar gemacht und vergegenwärtigt werden (vgl. Iser 1976: 129 Triana, José (1997): „Siempre fui y seré un exiliado“. José Triana entrevisto por Christina Vasserot. In: Encuentro de la cultura cubana 4/ 5, 34. 130 Triana, José (1999): Les cinq femmes. Paris: Actes Sud. 5.5 Entgrenzung 179 222). Bei der Vorstellung, Gäste zu einem Fest einzuladen, imaginiert die Protagonistin: „[L]a fête est grandiose, on convie les gens de Guanes, de Najasa et de Sibanicú. Il paraît que Mme Ordoñez et Peraltas seront là et don Agustín Zabaleta qui distribue l’aliñado.“ (ebd.) An dieser Stelle entscheidet sich die Übersetzerin für eine kommentierende Fußnote, um die von Don Agustín Zabaleto zubereitete Bowle zu beschreiben: Aliñado bezeichne einen „[b]oisson obtenue en laissant macérer des pruneaux, des raisins sec et d’autres fruits dans de l’alcool.“ (ebd.). Die geographische Zuordnung der fremd klingenden Ortschaften im Osten Kubas wird dem Leser dagegen nicht weiter erläutert. Die Übersetzung von Trianas Les cinq femmes stellt einerseits eine transatlantische Beziehung zwischen Text und Leser her und verweist auf die Unterschiede zwischen den Erfahrungshorizonten der Leserschaft und denen, die der karibisch gefärbte Text vermittelt möchte. Andererseits steht auch der Autor in einer transatlantischen Beziehung zu seinen Texten, die er als Gedächtnisübung - also als Prozess der Vergegenwärtigung im 18. Jahr seines Exils in Paris - verfasst. Damit findet sich hier der erinnerungskontextuelle Rückbezug des Autors auf die Kultur Kubas und auf dessen eigene Kindheit in der Region Bayamo wieder: „La memoria me asalta...[...] Es algo tan evanescente, tan fragmentario, y eso es lo que conforma nuestra historia,“ so Triana (1997: 35). Les cinq femmes stößt durch die Übersetzung vom kubanischen Spanisch ins Französische einen interkulturellen Dialog zwischen Eigenem und Fremden an, der sich vor allem in Bezug auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen vollzieht. Der auf dem Buchmarkt fehlende spanischsprachige Ausgangstext verweist auf die exophone Situation des Autors, dessen Eigensprachigkeit durch das Exil zur Anders-Sprachigkeit geworden ist. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass alle untersuchten Autor- Innen und deren Werke in einen konstanten Prozess des sprachlichen und kulturellen Übersetzens eingebunden sind. Das ZwischenWeltenSchreiben der AutorInnen führt zu einer zeitlichen Gegenläufigkeit im Übersetzungskontext, die die Suche nach dem Original bzw. dem originären Ausgangspunkt erschwert und das Verhältnis von Ausgangstext und Zieltext dadurch umkehrt. Was bei Eyda Machín als harmonisches Nebeneinander der natürlich voneinander abgegrenzten Sprachen erscheint, zeigt sich in der Mehrsprachigkeit von Tejeras ESP als hybrides Ineinander und spiralartig alternierendes Umeinander. Die zunächst auf Französisch und teilweise erst Jahrzehnte später auf Spanisch erschienenen Texte der trikontinentalen Autorin verweigern sich einer eindeutigen Zuordnung in einen nationalsprachlichen Raum. José Trianas Les cinq femmes lässt sich zwar geographisch mit der Situierung auf Kuba eindeutig einordnen, die Texte 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 180 existieren jedoch nur in Form der französischen Übersetzung, die das Original, das für den Leser bis heute unerhältlich ist, lediglich als Spur durchscheinen lässt. In allen Fällen geht die marginalisierte Position der Autor- Innen mit anderssprachigen Grenzüberschreitungen einher. 5.5.3 Ein frankophones Kuba? Der literarische Sprachwechsel ins Französische stellt ein weiteres Phänomen dar, das für die sprachliche Entgrenzung von Interesse ist. „Die neue in Frankreich produzierte Literatur lebt [...] deutlicher und sichtbarer als zuvor vom ‚Beitrag von außen’“ (vgl. Mathis-Moser 2006: 109). 131 Frankreich hat im 20. Jahrhundert einige von außen kommende Autoren hispanophoner Provenienz in seinen literarischen Kanon aufgenommen: Darunter sind vor allem der Spanier Jorge Semprún, der sich stets beider Sprachen bediente, der italo-argentinische Romancier Hector Bianciotti, der seit 1982 ausschließlich auf Französisch schreibt, oder auch der argentinische Comiczeichner und Theaterautor Raúl Damonte Botana, alias Copi, zu nennen. Im Gegenzug dazu gehören Juan José Saer, Júlio Cortázar, Juan Goytisolo oder Alejo Carpentier zur „colonia literaria hispanohablante“ in Paris (Kohut 1983: 20), die zwar „auf Französisch leben“, jedoch das Spanische als Literatursprache beibehalten. In diesem Kontext ist es erstaunlich, dass z.B. Tejera, die nunmehr ein halbes Jahrhundert in Paris lebt, nie die Sprache gewechselt hat und so auf das Übersetzt-Werden angewiesen ist, um eine Öffentlichkeit zu erlangen. Als einziges zeitgenössisches Beispiel eines „frankophonen Kuba“ dient der Dramatiker und Romancier Eduardo Manet, Un Cubain à Paris, wie er sich plakativ in seiner letzten autobiographischen Veröffentlichung bezeichnet, in der er nach Mes années cubaines (2004) seine Jahre in Paris beschreibt. 132 Manet betont darin: „J’ai choisi la France comme terre d’accueil et épousé la langue française pour écrire“ (2009: 7). Durch seine Zugehörigkeit zur Frankophonie wird er überwiegend in Frankreich und Kanada rezipiert und bewegt sich damit abseits des hispanophonen, kubanischen Diasporanetzes und auch des spanischen Literaturmarktes, zu dem viele kubanische ExilschriftstellerInnen in Europa Zugang suchen. 133 Alle seine Werke schreibt er auf Französisch: Seine französischsprachigen Gedichte 131 Allerdings problematisiert Mathis-Moser die immer noch bestehenden „mentalen Grenzen im französischen Literaturbetrieb“, der weiterhin klar zwischen der „nationnalen“, französischen Literatur und den von außen kommenden, frankophonen Literaturen unterscheide, die damit marginalisiert würden (2006: 105). 132 Manet, Eduardo (2009): Un Cubain à Paris. Paris: Écriture. 133 Vgl. Berger, Verena (2007): „Des identités ‚entre les cultures’: Cuba, Porto Rico, la France et le Pays Basque chez Eduardo Manet“. In: Mathis-Moser / Mertz-Baumgartner (Hg.), 138f. 5.5 Entgrenzung 181 unter dem spanischsprachigen Titel „Pasos peatonales“ sind für die Anthologie Ínsulas al pairo von Navarrete ins Spanische übertragen worden (IP 33-35). 134 Die Kategorisierungen als „auteur français d’origine cubaine“ und gleichzeitig als „cubano afrancesado“ nimmt er selbst als „Schizophrenie“ wahr. 135 Der Sprachwechsel hat bei Manet keine postkolonialen Implikationen, denn das Französische wurde ihm nicht aufgedrängt, wie es beispielsweise in der frankophonen Karibik der Fall ist. Vielmehr spricht er bei seiner kreativen Aneignung dieser Sprache von einer „Heirat“. Damit gehört er zu den Vertretern der „‚individuellen’ Frankophonie“ (Mathis-Moser 2006: 108), für die die französische Sprache und Kultur eine „freiwillige“ Wahl darstellen, „qui se fait dans l’enthousiasme, puisqu’il est integré à un discours non plus de dénonciation et de l’oppression, mais bien au contraire de célébration de la libération, celui de la ‚France, patrie des droits de l’Homme’“ (vgl. Porra 2007: 24). Der Sprachwechsel erhält bei Manet nichtsdestoweniger ideologischen Charakter: Frankreich steht für ihn in Abgrenzung zu Kubas Tropensozialismus für Demokratie und Freiheit. Der Sprachwechsel ist darüber hinaus Ausdruck seines kosmopolitischen und transkulturellen Selbstverständnisses, das sich in seiner Vielsprachigkeit manifestiert. Seine Vorliebe für den Begriff der métissage kommt in vielen seiner Werke zum Ausdruck. Die „mixture of colours, classes and languages“, die Leila Sebbar in Bezug auf Habanera feststellt, kann als Leitspruch für sein gesamtes Romanwerk gelten. 136 Betrachtet man das narrative Œuvre Manets, so fällt in diesem Zusammenhang ins Auge, dass fast alle seine Romane einen autofiktionalen Charakter aufweisen und die kulturelle métissage des Autors reflektieren, „his own bilingual-bicultural background as a Cuban-French writer as well as his depth and breadth of interest in other languages and cultures.“ 137 Wie Phyllis Zatlin feststellt, wird vor dem Hintergrund der „fictional autobiography“ die Identitätssuche zum entscheidenden Merkmal seiner Romane (2000: 220). Obwohl er in den ersten Jahrzehnten seines Exils versucht habe, seine Bindung zur Insel abzuschneiden und sich mit dem Sprachwechsel „maximal zu französisieren“ - „afrancesarme al máximo“ - lässt Kuba den Autor nicht los: „Decidí arreglar mis relaciones con Cuba escribiendo novelas que pasan en la Isla y que me han permitido hacer una obra de autobiografía disimulada a través de algunos personajes“ (Chávez 134 Erstveröffentlichung in der Literaturzeitschrift Travioles 4 (2001), wie ein editorischer Hinweis Navarretes verrät (IP 33). 135 Chávez Rivera, Armando (2008): „Eduardo Manet. Huellas en el papel“, 313. 136 Vgl. Sebbar, Leila (1994): „Review of Habanera“. In: Magazine Littéraire 325, keine Seitenangabe. 137 Zatlin, Phyllis (2000): The novels and plays of Eduardo Manet: an adventure in multiculturalism. Pennsylvania: Pennsylvania State University Press, 220. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 182 Rivera 2008: 312). In seinen frühen Romanen, die durch literarische Preise ausgezeichnet wurden, durchläuft der Autor die Jahrzehnte vor der kubanischen Revolution. Der Kindheitsroman La Mauresque (1982) ist in den 1930er Jahren situiert und thematisiert über seine Mutter, einer sephardischen Jüdin, die in Spanien aufwuchs, seine kubanisch-spanisch-jüdische Herkunft. Darauf folgt sequentiell die Fiktionalisierung seiner Jugend in L’île du lézard vert (1992), der die 1940er Jahre der jungen Republik schildert und die Machtübernahme Batistas auf Kuba problematisiert. Der Roman wurde mit dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet. Mit Rhapsodie Cubaine (1996), der den Prix interallié erhielt, wendet sich Manet dem kubanischen Exil in Miami zu und bewegt sich episodisch zwischen verschiedenen Räumen, von Kuba nach Miami, und Zeiten, von den 1940er bis in die 1990er Jahre, hin und her; hauptsächlich ist der Roman jedoch in den 1960er Jahren situiert. Der Autor, der seit 1979 französischer Staatsbürger ist, genießt eine relativ große Öffentlichkeit, konnte in den Verlagshäusern Gallimard und Grasset publizieren. Manet tritt thematisch in seinen Romanen für den interkulturellen Dialog ein und wird gleichzeitig durch den Sprachwechsel zu einem Vermittler und Übersetzer zwischen den Kulturen, „an intermediary between Cuba and the French reading public“ (Zatlin 2000: 44). 138 In der Fiktionalisierung seiner eigenen Erfahrungen auf französischer Sprache setzt Kuba nach Frankreich über. Durch das - teilweise nostalgisch-romantisierte - Zurückversetzen des Autors nach Kuba transportiert er mittels der Fiktion seine „Ursprungskultur“ in einen anderen Sprachraum, dem er selbst zugehört. Dieser „double regard“ führt zu einem ständigen Blickwechsel im Vermitteln zwischen den Kulturen (vgl. Berger 2007: 135). Er impliziert eine kontinuierliche Annäherung und eine gleichzeitige Distanznahme sowohl in Bezug auf die französischsprachige Leserschaft als auch in Hinsicht auf die Thematisierung Kubas. Dieses Wechselspiel zwischen Innen- und Außenperspektive beim Vermitteln zwischen den Kulturen wird im Folgenden am Beispiel von D’amour et d’exil (1999) gezeigt. 139 Dabei werden auch die mit dem Sprachwechsel einhergehenden Übersetzungs- und Mehrsprachigkeitsphänomene untersucht. Dieser Roman, der in den späten 1990er Jahren angesiedelt ist und damit den fortschreitenden ökonomischen Umbruch auf der Insel thematisiert, eignet sich auch deswegen für eine vertiefende Analyse, weil er geographisch an der Schnittstelle zwischen Südfrankreich und dem spanischen Baskenland situiert ist. Einhergehend mit seiner topographischen 138 Vgl. auch Verena Berger: „Manet est consciemment devenu un médiateur culturel entre Cuba et le public français / francophone, un auteur d’ailleurs qui parle parce qu’il faut parler de sa culture pour attirer le public“ (2007: 138). 139 Manet, Eduardo (1999): D’amour et d’exil. Paris: Grasset. Im Folgenden AE. 5.5 Entgrenzung 183 Verortung zieht der Roman auf der Handlungsebene Verbindungslinien zwischen der kubanischen, baskischen und französischen Kultur. Erzählt wird aus der Perspektive Leonardo Estebans, einem kubanischen Parteifunktionär des Außenhandelsministeriums COMEX (Comercio Exterior), der auf Geschäftsreise nach Bayonne geschickt wird. Von dort aus beschließt er, nicht mehr nach Kuba zurückzukehren, denn eine innere Stimme sagt ihm: „Tu ne rentreras pas à Cuba. Tu restes ici, quoi qu’il t’en coûte, ta vie est ici désormais, Leonardo, dans ce pays“ (AE 72). Unterstützt wird er in diesem Beschluss vom ethisch vorbildlichen Entrepreneur Ambroise Gómez Pérez, einem französischen Basken, der Esteban als Geschäftspartner gewinnen möchte. Die Reise Estebans folgt auch einem persönlichen Motiv: Er sucht nach Spuren seines verstorbenen Freundes und Vorbildes Antonio Altuna, alias Antton le Basque, der in der Francozeit aus dem Baskenland ins kubanische Exil ging, wo er dem unehelichen Leonardo zum Ziehvater und Familienersatz wird. Im Zentrum der Romanhandlung steht allerdings eine Liebesgeschichte. Denn in Bayonne trifft der Protagonist auch auf seine Geliebte Berta Maria Diaz, Mutter zweier Kinder und auch Parteifunktionärin, die ausgesandt wird, Leonardo zu überwachen und von der Rückkehr nach Kuba zu überzeugen, denn im Ministerium ahnt man seine Absicht, Kuba den Rücken zuzukehren. Die gemeinsam verbrachten Tage des Liebespaars enden abrupt mit der Abreise Berta Marias, die sich für ihre Familie entschließt und gegen ihren Geliebten, den sie in Europa mit den Worten „nous vivrons d’amour et d’exil“ zurücklässt (AE 249). Über diese vier Charaktere spannt Manet Rückblenden und Zeitsprünge ein, die bis ins Ende des 19. Jh. zurückreichen, in dem der Onkel Antton le Basques im kubanischen Unabhängigkeitskrieg kämpfte. Parallel zu den Wirren des spanischen Bürgerkriegs vor der Machtübernahme Francos kommen auch die neokolonialen, rassistischen Verhältnisse auf den Zuckerrohrplantagen während der 1930er Jahren im Osten Kubas zur Sprache: Leonardos Mutter war die Tochter eines Arbeitsaufsehers, der die haitianischen und dominikanischen Saisonarbeiter wie Sklaven behandelte. Darüber hinaus wird das Leben im Havanna der 1940er Jahre geschildert, die Machtübernahme Batistas und der Guerilla-Krieg in der Sierra Maestra. Die episodenreiche Ambitioniertheit des Romans verleiht dem Text auf struktureller Ebene den Charakter einer „bricolage laborieux“: Die Multiplikationen der Zeiten und der Erzählstimmen ermöglichten ein Puzzlespiel, „dont les pièces n’auraient ni les mêmes configurations ni les mêmes emboîtements selon le joueur qui les manipule et le moment où il le fait.“ 140 Dennoch lässt sich m.E. nicht übersehen, dass durch den Einbezug all 140 Vgl. Lepape, Pierre (1999): „La Havanne mon amour“. In: Le Monde vom 19.02.1999, keine Seitenangabe. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 184 dieser geschichtlichen Ereignisse das Erzählte an vielen Stellen faserig und hastig verkürzt wirkt. Auch wenn der „cinematographic style“ (Zatlin 2000: 57) und das Episodische zu Manets Schreibweise gehören, so fehlt es den Rückblenden und Gegenwartsszenarien, mit denen er ein umfassendes Bild der kubanischen Geschichte und Kultur zu vermitteln sucht, an Tiefe und Kohärenz. Besonders die Kulturvermittlung im Setting der 1990er Jahre zeigt, dass sich der Autor an einer kubafernen Leserschaft ausrichtet, so dass sich der Roman in die Reihe der literarischen Special Period-Produkte einreiht, „whose subject is Cuba but whose consumers are elsewhere, and whose producers are themselves outsiders“ (Whitfield 2008: 31). Manet ist durch seinen „double regard“ als „inside-outer“ zu bezeichnen, der Kuba zwar in sich trägt, von der Realität der Insel durch sein langjähriges Exil jedoch weit entfernt ist und die Hoffnung auf eine Rückkehr verloren hat (vgl. Chávez Rivera 2008: 312f). Das Kuba der Spezialperiode wird in D’amour et d’exil immer aus Frankreich heraus geschildert, beschrieben und vermittelt durch die Figurenrede, d.h. in den Dialogen des Liebespaars und den kommunikativen Begegnungen mit Gómez Pérez. Der Schmerz des Protagonisten über die stereotype Repräsentation seiner Insel in den europäischen Medien kommt mehrfach zur Sprache: La veille, à l’hotel de Louisiane de la rue de Seine où j’ai logé, j’avais vu à la télévision française un reportage sur Cuba. Toujours les mêmes images, les mêmes clichées. Les putes du Malécon, les queues devant les magasins vides, les murs décrépits des immeubles, les camions-autobus, les bicyclettes et les vieilles bagnoles rafistolées… (AE 120) Der exotisch-morbide Charme des Tropensozialismus sorgt für eine telegene Vermarktung der Insel, die sich an den Tourismusmarkt verkauft: „Nombre de magazines et catalogues de voyage vantaient sa mer, son climat et ses cocotiers, son rhum, ses cigares. Le métissage, la beauté de ses femmes, la liberté sexuelle et la musique faisaient de l’endroit un paradis“ (ebd.: 53). In diesen kritischen Passagen wird deutlich, dass der Autor gegen diese stereotypen Repräsentationen der Insel anschreiben möchte und dem Leser ein komplexeres Bild Kubas entgegenzuhalten versucht. Umso erstaunlicher erscheint es darum, dass sich der Roman selbst in genau diesen Stereotypen verfängt und sie teilweise reproduziert. So bekommt man in zwei fiktionalen Auftritten Fidel Castro in persona serviert. Eingestreut werden auch die klassischen Revolutionsparolen „La patrie ou la mort“ (Patria o muerte, AE 37) und das immerwährende Castro-Zitat „Avec la Révolution tout, contre la Révolution rien“ (AE 17). Auch die Prostitution der 1940er Jahre und der jineterismo der 1990er Jahre sind in die Fiktion eingebunden und zu den katastrophalen Transportverhältnissen auf der Insel lässt der Protagonist verlauten: „Ces gouagouas cubains dont 5.5 Entgrenzung 185 on sait qu’ils sont, aujourd’hui encore, le transport le plus religieux du monde: ils arrivent quand Dieu le veut“ (ebd: 207). 141 Besonders augenscheinlich manifestiert sich die exotisierende Stereotypisierung Kubas am Verhältnis des Liebespaares. Leonardo Esteban spielt darin die klassische Rolle des südamerikanischen Machos, der die begehrliche Schönheit Berta Marias zu erobern trachtet. Bei ihrer ersten Begegnung im sozialistischen Bruderstaat Bulgarien beschreibt er sie, von ihrer erotischen Ausstrahlung geblendet, wie folgt: „une mulâtresse cubaine en pleine campagne de séduction, rayonnante d’énergie et de santé, un de ces spécimen uniques que seule notre île peut produire“ (AE 32). Die Exotisierung der schönen Mulattin, die auf ihren begehrenswerten Körper reduziert wird, steigert sich in der folgenden, sexuell konnotierten Passage: „Taille moyenne, proportions parfaites, seins lourds et fermes, chute de reins exceptionnelle, croupe qui pourrait devenir imposante avec le temps, charme inégalable de la femme cubaine! “ (AE 33) Das Bild ihrer Exotik und Erotik, die sämtliche sexuellen Fantasien eines Mannes wachzurufen vermögen (ebd.), wird noch dazu als kulturelle métissage angepriesen: „Un métissage réunissant pour le meilleur les qualités de l’Afrique et celles de l’Asie, le mystère et l’énergie, la subtilité de la vaillance, une sensualité à fleur de peau“ (AE 34). Vervollständigt wird die Darstellung der bunten asia-afrokubanischen métissage Bertas noch durch ihre afrokaribische und revolutionsbegeisterte Mutter, „déesse noire et révolutionnaire volcanique“ (AE 45), die sich im Bereich der Santería als animistische Heilerin ihren Lebensunterhalt verdient und im Dialog mit ihrer Tochter munter die Vereinbarkeit des Unvereinbaren in ihrer Person zum Besten gibt: „Je suis noire, prêtresse de Santa Barbara, marxiste-leniniste, animiste, et alors? “ (AE 18). Später erfährt der Leser, dass Berta Maria nicht nur eine heißblütige Geliebte afrokubanischer Abstammung, sondern auch eine hingebungsvolle Mutter und eine kämpferische Frau ist, die sich den Idealen der Revolution und dem Sozialismus verschrieben hat, auch wenn diese der Realität der Spezialperiode entgegenlaufen, die immer stärker vom Eindringen des Kapitalismus geprägt ist: „Partout on vole, on se vend, on piétine et on bafoue les principes de cette révolution qui nous a tout donné! “ (AE 119) Mit den Worten Whitfields lässt sich hier von der Ästhetisierung einer „post-sowjetischen Exotik“ sprechen, die Themen wie das Scheitern der kubanischen Revolution und den anachronistischen Realsozialismus im 21. Jahrhundert zusammen mit der „Sexyness“ des Tropischen ausreizt (2008: 21). Mittels dieser „strategischen Exotisierung“ sichert sich diese 141 Einen ähnlichen Witz findet man in Zoé Valdés’ Roman Café Nostalgia: „¿Cual es la compañia más religiosa del mundo? : Cubana de Aviación, vuela cuando Dios quiere“. Valdés, Zoé (1997): Café Nostalgia. Barcelona: Planeta, 117. Hier tritt das ‚Kuba-Vermitteln’ bei beiden Autoren deutlich hervor. Zu einer vertiefenden Analyse des Romans von Zoé Valdés, siehe 6.3.1 „Insel-Welt, Patria-Mar“. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 186 Literatur ihren Zugang zu einer Leserschaft außerhalb Kubas, orientiert sich an deren Vorstellungen und stellt deren Erwartungen zufrieden, um die Publikumswirksamkeit zu steigern (vgl. ebd. 19). Hat Manet mit diesem Roman trotz des Versuchs, eine differenzierte Sicht auf die konfliktreiche Geschichte der Insel darzustellen, zu sehr in Richtung der kubanischen Boom-Themen und der französischsprachigen Leserschaft geschielt, dass der Versuch, stereotype Wahrnehmungen in Bezug auf Kuba im interkulturellen Dialog abzubauen, misslingen musste? Auch das Merkmal der Vielsprachigkeit, das Manets Romane kennzeichnet, ist in D’amour et d’exil teilweise klischeebelastet. So schmeichelt der Autor dem französischen Leser, indem er das Französische als „Sprache der Liebe“ darstellt: 142 „M’aimerais-tu jamais comme tu m’as aimée au début de notre affaire? “ Elle a dit affaire en français. Le français, la langue de l’amour, ils le réservaient à leurs moments de tendresse, en distillant quelques mots précieux comme du bon vin (AE 28). Demgegenüber wird das Spanische eingesetzt, um dem heißblütig karibischen Temperament Berta Marias Ausdruck zu verleihen: „Comme chaque fois qu’elle se fâchait, Berta Maria perdait le sens des convenances. Le ton de saine vulgarité avec lequel elle avait lancé: ‚¡Abre ese paquete, cabrón! ’ avait allumé l’œuil de quelques chauffeurs [...]“ (ebd.: 20). Wenn auch in den aufgezeigten Passagen stark klischeeisiert, muss man Manet nichtsdestotrotz zu Gute halten, dass er verschiedene Sprachen stets umspielt und damit die Vielsprachigkeit in seinen Romanen virtuos ausspielt. Nicht nur der Sprachwechsel ins Französische, sondern das konstante Überschreiten von Sprachgrenzen und das Einsetzen von sprachlicher Hybridität werden vom Autor als kreative Ressource genutzt (vgl. Berger 2007: 142f). Dies macht der erste Satz von D’amour et d’exil deutlich, mit dem sich Leonardo Esteban die Worte seines Ziehvaters Antton le Basques in Erinnerung ruft: „Ne laisse jamais personne te raconter des histoires sur l’exil“, me répétait Antton le Basque quand j’étais petit, comme s’il avait peur que j’oublie ses conseils. „Jamás.“ Et il insistait sur le mot, jamais, en accentuant rageusement le son rude de la jota espagnole. Inoiz. (AE 7) In dieser Passage wird das „niemals“ in polyphoner Dreisprachigkeit betont. Das Französische jamais, das Baskische inoiz und das Spanische jamás, dessen Lautlichkeit durch das hart klingende „j“ zudem beschrieben wird, verweisen außerdem auf die Kulturräume, in denen sich der Roman ab- 142 Für Verena Berger ist dies ein Zeichen kreativer Produktivität: „Le cliché du français comme langue d’amour se révèle-t-il productif dans D’amour et d’exil“ (2007: 143). 5.5 Entgrenzung 187 spielen wird. Verena Berger macht auf das Phänomen des Codeswitching in La Sagesse du singe aufmerksam (2007: 143). In einem italienischen Restaurant in der Grenzregion zwischen Frankreich und Spanien stellt sich der Protagonist Mauricio vor, seine Bestellung wie folgt aufzugeben: „,Me pones un peu plus de pomodori en el assiette, maja! ’“. 143 Nicht nur das Ineinanderwerfen der Sprachen, sondern auch das Vermitteln zwischen den Sprachen, lässt sich bei Manet beobachten: So wird dem kubanischen Liebespaar durch Gómez Pérez Einblicke in die Struktur der baskischen Sprache gewährt: „Pottok, le nom d’une race de petits chevaux basques. Pottok au singulier, pottokak au pluriel. Tu vois la force de la langue basque! Par exemple, lagun veut dire ami, laguna l’amie, et lagunak les amis“ (AE 151). Besonders hervorzuheben ist das Vermitteln zwischen dem Spanischen und dem Französischen, womit der Autor Redewendungen aus dem kubanischen Spanisch teilweise erkärend übersetzt: „,Mírame y no me toques pepito’. Regarde-moi et ne t’approche pas, Pepito“ (AE 38). In seinen Roman La Mauresque lässt der Autor darüber hinaus afrokubanische Elemente einfließen. Darin wird eine Santería-Zeremonie geschildert, in deren Gesängen sich das haitianische Kreol mit dem Französischen und dem Spanischen abwechseln. 144 Dies beweist einmal mehr die sprachliche Heterogenität und das Aufbrechen von Sprachgrenzen im Werk Manets, der als in viele Richtungen weisender Kultur- und Sprachvermittler in plurilinguistischer und transkultureller Hinsicht tätig wird. Durch die Hybridität seiner Werke spielt der Autor stets mit der Utopie eines „modernen Babels“, in der die Aufteilung der Menschheit in abgegrenzte Sprachräume aufgehoben ist (Manet 2001: 17). Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit sich die Inszenierung der transkulturellen métissage einem strategischen Blick auf die Marktgängigkeit und Anschlussfähigkeit dieser Themen verdanken. Manet zeichnet ein vielseitiges und oft buntes Bild der Karibikinsel Kuba. Seine Romane sind jedoch nicht frei von Stereotypen und Romantisierungen, obwohl sie einen vertiefenden Blick auf Kubas Geschichte und Kultur zu vermitteln versuchen: „if at times romanticized and nostalgic, they simulteaneously provide a critical view of modern Cuban history“ (Zatlin 2000: 220). Der differenzierte Blick auf Kuba entstehe vor allem dadurch, dass Manets Romanen keine ideologische Wertung zu Grunde lägen (vgl. Lepape 1999). Damit heben sie sich zwar einerseits von dem Schwarz- Weiß-Diskurs ab, mit dem Castro von der ersten Exilgeneration oft verteufelt wird. Andererseits drängt sich der Eindruck auf, dass der Autor in AE eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Brüchen des Exils vermeidet, indem er das Thema der ideologischen Verquickung der beiden Hauptprotagonisten, die für das kubanische Regime tätig sind - Berta 143 Manet, Eduardo (2001): La sagesse du singe. Paris: Grasset, 132. 144 Manet, Eduardo (1982): La Mauresque. Paris: Gallimard, 100f. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 188 Maria sogar im Auftrag der Spionage - weichzeichnet und damit die wahrhaft konfliktträchtige Dimension der Liebesgeschichte, die in einer Trennung durch das Exil endet, erzählerisch nicht wirklich vertieft. Die Aussagen Leonardos, „[j]e ne m’exile pas, Bert, je choisis d’être un étranger sur la terre“ (AE 211) oder „[t]out n’est que mélange et transmission sur cette terre“ (AE 202) erscheinen in diesem Zusammenhang beinahe wie Allgemeinplätze. 145 Schließlich ist das Exil als welteneröffnende Perspektive sprachlicher und kultureller Entgrenzung die gelebte Erfahrung des Autors, die stets mit einer Rückbindung an seine Heimat verbunden ist. Die „Hassliebe“ zu Kuba bleibt eine konstante Auseinandersetzung in all seinen frankophonen Romanen, so Zatlin (2000: 220). Dazu äußert sich Manet wie folgt: Je vis et travaille à Paris. Je continue d’écrire en français. J’accepte toutes les invitations et participe à tous les colloques pour soutenir et défendre la francophonie, sans jamais manquer de rappeler, à ceux qui l’ignorent, que je suis un écrivain français d’origine cubaine. La France est mon pays. Cuba est mon calvaire. Impossible d’oublier mon île, elles se situe au cœur de l’actualité mondiale (Manet 2009: 213). Am Ende bleibt hervorzuheben, dass es Manet geglückt ist, zum Repräsentaten eines frankophonen Kubas avanciert zu sein. Dadurch, dass er als französischsprachiger Autor kubanischer Herkunft Sprach- und Kulturgrenzen aufbricht, bereichert er nicht nur den Kanon frankophoner Literatur, sondern schreibt sich auch in die französische Literaturlandschaft ein. Damit stellt er die Normativität des nationalliterarischen Diskurses und seiner Grenzziehungen in Frage. Denn sein Werk entzieht sich jeder identitären Festlegung und eindeutigen sprachräumlichen Kategorisierung. 146 Der Autor selbst proklamiert mit seiner Stimme ein transkulturelles Selbstverständnis, eine multiple und polyglotte Zugehörigkeit. In seiner Rolle als kosmopolitischer Vermittler zwischen den Kulturen weiß er seine kulturelle Hybridität aber durchaus auch strategisch einzusetzen. Emblematisch hierfür steht das Etikett Un Cubain à Paris, mit dem er sich schmückt. 145 Lepape steht dieser Meinung konträr entgegen, indem er den Protagonisten als „vrai exilé“ bezeichnet, einer derer „qui ont choisi l’exil quand rien ne les obligeait à le faire, sinon une impérieuse et intérieure nécessité. C’est le cas de Leonardo Esteban, le héros du roman d'Eduardo Manet. C’est le cas de Manet lui-même, qui a quitté Cuba et sa langue maternelle il y a trente ans pour vivre en France et écrire en français“ (1999). 146 „Il fait émerger des identités transnationales, flexibles et enrichissantes pour l’individu, identités qui invalident les paradigmes manichées et rigides, [qui] sont indépendantes de la langue, de la culture et du lieu“ (Berger 2007: 144). 5.6 Zwischenfazit: Sprachliche Positionierung 189 5.6 Zwischenfazit: Sprachliche Positionierung Im Spannungsfeld zwischen Sprachverlust und Wortergreifung wurden die Widersprüchlichkeiten zwischen Sprechen und Schweigen, zwischen Verstummen und Sprachberechtigung, zwischen Monologizität und Dialogizität und zwischen sprachlichen Grenzsetzungen und vielsprachigen Entgrenzungen aufgedeckt. Die Phänomenologie der dichterischen Stimme, d.h. ihre Ereignishaftigkeit, Handlungsfähigkeit und Hörbarkeit, wurde vor allem in Hinsicht auf das „wie“ ihrer Bezugsetzung erfasst. Die unterschiedlichen sprachlichen und „sprachigen“ Bezugsrahmen und Bezugnahmen geben Aufschluss über das kulturelle Selbstverständnis der kubanischen Autor- Innen in Paris und deren Positionierung hinsichtlich der Grenzen, denen sie ausgesetzt sind, die sie selbst setzen und die von ihnen überschritten werden. Die resonanten und relationalen Beziehungsqualitäten, die sich im Hinblick auf das Schreiben zwischen Welten herauskristallisieren, berühren immer auch die zeitliche Ebene und damit gedächtnistheoretische Fragestellungen, die an die Dimensionen der Erinnerungsfähigkeit, der Erinnerungstätigkeit und dem Schaffen einer Erinnerungsgemeinschaft geknüpft sind. Damit vollziehen sich Grenzziehungen und Entgrenzungen als Prozesse individueller, kollektiver und kultureller Gedächtnisreflexion und Gedächtniskonstitution. Daher wird in Bezug auf die sprachliche Ausgrenzung das Spannungsfeld zwischen Vergessen und Erinnern aufgegriffen. Hierbei rückt die Stille als Leitmotiv der kubanischen Dichtung in Paris ins Zentrum der Untersuchung. Bei Navarrete dient die Thematisierung des Verstummens dazu, die fortschreitende Abnutzung der Erinnerungen im Zustand der Ausgrenzung zur Sprache zu bringen. Was in seinen Gedichten „Elegía sin flor“ und „Edad de miedo al frío“ bereits anklingt, wird in Miguel Sales’ „Testigo Mudo“ offenkundig, das die Themen der Sprachberechtigung und des Mitspracherechts der im Exil Ausgegrenzten, die durch ihren Ausschluss aus Kuba ihre Stimme verloren und zum Schweigen verurteilt sind, zur Sprache bringt. Dass der Stimmverlust paradoxerweise an die Wortergreifung gekoppelt ist, in der sich das Erinnern dem Vergessen entgegenstemmt, zeigt sich in der poesía-testimonio von Miguel Sales, die das ÜberlebensWissen des Autors aus der politischen Gefangenschaft heraus bezeugt. Die Wortergreifung dient auf individueller Ebene nicht nur dazu, das Unsagbare des Gefangenentraumas sagbar zu machen, sondern stellt auf kollektiver Ebene eine testimoniale „Gegen-Erinnerung“ dar, die sich dem offiziellen Diskurs des Castroregimes widerständig entgegenstellt, nicht ohne dabei das seit über fünfzig Jahren bestehende Feindschema zu kultivieren, mit dem Castro aus dem Exil heraus verteufelt wird. 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 190 Hierbei stellt sich die Frage, inwiefern die Wortergreifung und das darin vermittelte ÜberLebenswissen der im Exil Marginalisierten auch Gehör findet. Während im vorangegangen Teil die Unsichtbarkeit als entscheidendes Phänomen der Eingrenzung begriffen wurde, spielt an dieser Stelle das An-Hören der Un-Erhörten eine wichtige Rolle, also die Frage, in wel-che Resonanzbeziehungen das literarische Schaffen der kubanischen Exil-autorInnen eingebettet ist. Die metapoetische Analyse von Nivaria Tejeras REV verdeutlicht die Isoliertheit der dichterischen Stimme im Exil. Die Verkapselung in der eigenen Sprache wird zur Voraussetzung des Existierens. Wird das Schreiben jedoch zum Motor des Überlebens, so hat das Verstummen eine lebensbedrohliche Dimension. Der Prozess, sich immer wieder durch das Schreiben zu (re)konstituieren und der Ver-Nichtung im Exil damit entgegenzuwirken, geht bei Tejera mit einer Schreibweise einher, die die Sprache von ihrer Referentialität, von ihrer bedeutungskonstituierenden Dimension und ihrer kommunikativen Funktion loszulösen sucht. Dies gelingt der Autorin vor allem in dem experimentellhermetischen Roman Huir de la espiral, dessen procès de signifiance einerseits durch eine konstante Sinnzersetzung und -ersetzung auf semiotischer Ebene, andererseits durch das Erzeugen von Audibilität und Stille auf akkustischer Ebene gekennzeichnet ist. Der monologisch-dialogische, stummschreiende Textkörper erklingt in seiner Gesamtheit als ein nach außen abgeschlossener Resonanzkörper, der sich nicht hörbar machen kann. Auch in Bezug auf die Prozesse der Abgrenzung erweist sich die Frage nach Resonanzbeziehungen als wichtiges Kriterium. Durch intertextuelle und intermediale Referenzen evozieren die kubanischen AutorInnen in Paris andere dichterische Stimmen, die in ihre Texte eingespielt werden, darin anklingen und mitschwingen. Dabei manifestiert sich ein starker Rückbezug auf die literarischen und musikalischen Traditionen Kubas. In den Gedichten von Lira Campoamor und Miguel Sales wird eine „Überkodierung“ des Kubanischen ersichtlich, die sich nicht nur anhand der kontextuellen, intertextuellen und intermedialen Bezüge ausmachen lässt, sondern auch an der Sprachwahl, die von Regionalismen und kubanischer Alltagssprache geprägt ist. Die Suche nach Resonanz vollzieht sich damit in Hinwendung zu Kuba und einer „Verbarrikadierung im vorgeblich Eigenen“ (Ette 2005: 171), mit der sich die in der Welt verstreute kubanische Diaspora über nationale Grenzen hinweg als Erinnerungsgemeinschaft zu konstituieren versucht, die an ein gemeinsames kollektives Gedächtnis appelliert. Besonders eindrücklich zeigt sich die gemeinschaft- und sinnstiftende Erinnerungstätigkeit in dem von Navarrete herausgegebenen Sammelband Aldabonazo en Trocadero 162, durch dessen testimoniale, lyrische und essayistische Texte ein „poetisches convivir“ mit José Lezama Lima heraufbeschworen wird. Der große kubanische Dichter des 20. Jahrhunderts, der durch die rigide Kulturpolitik des quinquenio gris vom ku- 5.6 Zwischenfazit: Sprachliche Positionierung 191 banischen Literaturkanon über Jahrzehnte ausgeschlossen blieb und im insilio verstarb, dient den AutorInnen des Bandes einerseits als Vaterfigur, bei dem sie ihr unheimlich gewordenes und verloren gegangenes Zuhause wiederfinden. Andererseits bekräftigt Lezama Limas überschäumende Imaginationskraft, die sich am visionären potens des Poetischen ausrichtet, die AutorInnen in ihrer Position als marginalisierte LiteratInnen, sodass sein poetisches Programm, aber auch seine poetische Stimme sie in ihrem eigenen kreativen Schaffen inspirieren. Am Phänomen der Aus- und Eingrenzung lässt sich die Wiederaneignung der Stimme im Kontext des bedrohlichen Stimmverlustes im Exil herauskristallisieren. Die Abgrenzung markiert hierbei die Rückeroberung des Eigenen im Prozess des Erinnerns. Im Gegenzug dazu erfolgt mittels der Entgrenzung die Untersuchung der Aneignung des Anderen. So inszeniert Navarrete im Louvre bei der Betrachtung von Jacques-Louis Davids Gemälde Les Sabines arrêtant le combat entre les Romains et les Sabins von 1799 einen konstanten Blick- und Wortwechsel im französisch-kubanischen Kulturkontakt. Indem der Autor das Bildinnenleben durch seine Ekphrase auf parodistisch-sarkastische Art zum Leben erweckt, erzeugt er eine Stimmen- , Zeiten- und Kontextüberlagerung, die von einem konstanten Prozess des medialen und kulturellen Übersetzens geprägt ist. Im Prozess der intermedialen Übersetzung des Gemäldes von Bild in Schrift nimmt Navarrete transkulturelle Umordnungen, Neuschreibungen und Transformationen vor. Neben der polyphonen Stimmentgrenzung, die das mediale und kulturelle Übersetzen ermöglicht, stellt man bei den kubanischen AutorInnen in Paris auch Tendenzen einer exophonen Entgrenzung fest, die im Hinblick auf das interlinguale Übersetzen vom Spanischen ins Französische untersucht wurde. Dabei wird offenkundig, dass ein solches Überschreiten von Sprachräumen immer auch mit der Problematik von Kategorisierungen einhergeht, mit denen ihre Werke einem bestimmten (nationalen) Sprach- und Kulturraum zugeordnet werden. Die Transkulturalität und Mehrsprachigkeit der AutorInnen läuft diesen eindeutigen Zuordnungen jedoch zuwider. Bei dem frankophonen Kubaner Eduardo Manet erweist sich die Heteroglossie als kreative Triebfeder und Aushängeschild seines literarischen Schaffens. Die Tatsache, dass der Autor ins Französische übersetzt, geht mit dem vermittelnden Übersetzen des Themas Kuba für ein französischsprachiges Publikum einher. Mit Blick auf die exophonen und polyphonen Charakteristiken ihrer Werke lässt die Positionierung zwischen den Sprachen Rückschlüsse auf das kulturelle Selbstverständnis der kubanischen AutorInnen in Paris zu, das sich auf jeweils unterschiedliche Weise äußert: José Triana würde das Etikett Un Cubain à Paris, mit dem Manet seine sprachlich-kulturelle métissage proklamiert, wohl nicht für sich beanspruchen. Er nimmt sich 5. Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung 192 vielmehr als Teil der disseminierten Nationalliteratur Kubas wahr, deren AutorInnen unabhängig von ihrem Aufenthaltsort mit ihren Werken, die sie in ihrer Muttersprache schreiben, die Insel ‚nähren’: „Sigo siempre con el español. Yo no me puedo atrever de escribir en otra lengua. El español es la lengua que me acunó, la lengua de mi madre. Es una forma espiritual“ (A.VI 345). Auch Navarretes literarische Kreativität bleibt im Spanischen verhaftet, obgleich er in La Canopea del Louvre transkulturelle Öffnungen inszeniert. Tejera ist dagegen im radikalen Dazwischen zu positionieren, was sich vornehmlich am Übersetzungskontext ihres Werks manifestiert. Darüber hinaus zeigt Huir de la espiral im heterofonen Zusammenspiel der Stimmen und dem exophonen Alternieren zwischen den Sprachen auf textimmanenter Ebene ihre multiple Alterität auf, die sich jeder Identitätsbestimmung verweigert. Dahingegen findet man bei Eyda Machíns Zweisprachigkeit ein ausbalanciertes „Sowohl-als-auch“ vor, bei dem das Französische und das Spanische nebeneinander leben, ohne dass das Spanische von einem afrancesamiento bedroht oder das Französische von der lengua madre übertönt würde. Im Spannungsfeld ihrer sprachlichen Positionierung stellen die AutorInnen durch den Kontext der Vielsprachigkeit, in den ihre Werke eingebunden sind, statische und dichotome Konzeptualisierungen von Muttersprache und adaptierter Sprache sowie von Original und Übersetzung in Frage, obwohl genau diese Kategorisierungen ihre sprachliche Positionierung bedingen. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 6.1 Zwischenräume und Inselwelten Mit dem raumtheoretischen Fokus dieses Kapitels werden insbesondere Phänomene des existentiellen und kulturellen Dazwischen ausgelotet. Denn Grenzziehungen erzeugen Zwischenräume. Diese werden im Spannungsfeld von Beheimatung und Wohnsitzlosigkeit der kubanischen Gegenwartsliteratur in Paris eingehend untersucht. Mein Zugang zum Phänomen des Zwischenraums möchte Auffassungen von dynamischen und produktiven Räumen zwischen den Kulturen, wie sie vor allem durch Bhabhas postkoloniale Theorie des hybriden Third Space angestoßen wur-den, kritisch beleuchten. Insbesondere dessen Implikation als „unhomely“ wirft mit dem Blick auf Exilliteraturen die Frage auf (2004: 13f): Sind Grenzräume im Exil als solche produktiven (Spiel)Räume der Freiheit zu denken oder kennzeichnet sie eher eine isolierte Geschlossenheit? 1 Zudem spricht Bhabha vom kulturellen Zwischenraum als Ort, „where difference is neither One nor the Other, but something else besides, in-between“ (2004: 313). Müsste man nicht das ‚Dazwischen’ („in-between“) vom ‚darüber hinaus’ („something else besides“) ausdifferenzieren? „Heimat bedeutet die Möglichkeit des Rückgriffs auf nicht-beliebige, vertraute Strukturen“ (Bronfen / Marius 1997: 1). In der Bezogenheit auf einen „Kern“ bezeichnet sie einen greifbaren Ursprung, über den sich personales sowie kollektives Selbstverständnis konstituieren kann. 2 Die „Ver- 1 Zur Aufwertung des „Grenzraumes als Freiraum“ der „Erneuerung, Dynamisierung und Subversion“ im Hinblick auf Victor Turners Konzept der Liminalität, vgl. Dietrich, René (2009): „Postmoderne Grenzräume und Endräume in der Gegenwartslyrik: Bewegungen ins Dazwischen und ins Nichts in Frank Bidards The war of Vaslav Nijinsky“. In: Hallet, Wolfgang / Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Bielefeld: transcript, 356f. Auch Bachmann-Medick betont das Potential des vielschichtigen Zwischenraums als dritten Raum des konstruktiven Aushandelns kultureller Unterschiede. Sie warnt jedoch auch davor, mit dem Begriff der Hybridität die potentiellen Handlungsspielräume des Lebens zwischen den Kulturen zu übertreiben. Vgl. Bachmann- Medick, Doris (1999): „1 + 1 = 3? Interkulturelle Beziehungen als ‚dritter Raum’“. In: Weimarer Beiträge 45: 4, 524f. Zu aktuellen Überlegungen, die Bhabhas Konzept in den Zusammenhang mit einem Bewegen im Zwischenraum bringen und dabei auf Michel de Certeaus Theorie des Gehens als denkendes Handeln Bezug nehmen, vgl. Wirth 2012. Auch Wirth hebt die Dynamik des Übergangs im Zwischenraum hervor (11). 2 Hierzu Ette: „Denn jenseits eines sehr unterschiedlich diskutierten und konzipierten, nicht selten verworfenen kubanischen Staates bildete sich die kubanische Kultur als ein zwar im ‚Kern’ auf die Insel Kuba bezogener, sich aber stets de- und reterritorialisierender Entwurf heraus“ (2001: 13). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 194 werfungen und Raumbrüche“ im Exil führen jedoch dazu, dass dauerhaftes Raumerschließen gesprengt und eindeutige Verortbarkeiten aufgehoben werden. 3 Phänomene des Nomadischen lösen Formen der Sesshaftigkeit ab. Dies stellt einerseits den Begriff von Heimat grundsätzlich in Frage. Andererseits bringt gerade der Verlust von Heimat dialektisch die Rückbezogenheit auf einen unaustauschbaren Ursprung hervor, dessen vertraute - wenn auch verloren gegangene - Strukturen Orientierung gewährleisten können (vgl. Bronfen 1993: 170). In Kap. 4, Zwischen Selbstverlust und Selbstdopplung, standen autopoietische Fragen, also solche nach der Konstitution des Ich, im Mittelpunkt der Untersuchung. An dieser Stelle rücken nun raumpoietische Aspekte ins Zentrum der Analysen, um räumliche Konfigurationen näher zu bestimmen. 4 Gerade die kubanische Lyrik „ohne festen Wohnsitz“ (Ette 2005), die hier vornehmlich - mit Ausnahme der Romane von Zoe Valdés - in die Analyse einbezogen wird, weist in Anbetracht ihrer poetischen Topographien ein hohes Potential zum Ausloten von existentiellen und kulturellen Zwischenräumen und transkulturellen Raumöffnungen auf. Die Untersuchung poetischer Topographien kommt allerdings nicht ohne eine „Poetik der Bewegung“ aus, die Ette im Hinblick auf transareale Literaturen konzipiert (vgl. 2005: 19). 5 In Bezug auf die kubanische Literatur tut sich hierbei das Spannungsfeld zwischen ihrer „erzwungenen Bewegungslosigkeit“ und ihrer gleichzeitigen transterritorialen „Beschleunigung“ auf (Ette 2005: 169). Vor dem Hintergrund dieses Wechselverhältnisses liegt mein Anliegen darin, angesichts der Orientierung an dynamischen Raumkonzeptionen aktueller Forschungen das zugrundeliegende, statische Mo- 3 Vgl. Bachmann-Medick, Doris (2009): „Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze: Bewegungshorizonte und Subjektverortung in literarischen Beispielen“. In: Hallet / Neumann (Hg.), 269. 4 Zum Begriff der Raumpoiesis vgl. Hallet, Wolfgang / Neumann, Birgit (2009): „Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung“. In: Dies. (Hg.), 22f. Sowohl der konjunkturelle spatial turn der Geisteswissenschaften, der Raumbegriffe thematisiert, als auch der topographical turn, der sich mit Repräsentationsformen von Raum beschäftigt, rücken die Frage nach den Verfahren von Raumerzeugung in den Vordergrund, d.h. sie fragen danach, wie und wodurch Räumlichkeit hervorgebracht wird. Vgl. Günzel, Stephan (2007): „Raum - Topographie - Topologie“. In: Ders. (Hg.): Topologie: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld: transcript, 15, 17. Zum spatial turn siehe Edward Sojas Thirdspace (Cambridge / Oxford: Blackwell, 1996). Der topographical turn wurde von Siegrid Weigel proklamiert: „Zum ‚topographical turn’. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“. In: KulturPoetik 2.2, 2002, 151-165. 5 Konkreter kann unter dem Begriff der Bewegung auch das Gehen selbst gefasst werden. Über das Gehen als raumerzeugende Praxis, vgl. Certeau, Michel de (1990): L’invention du cotidien. 1. arts de faire. Paris: Gallimard, 155-165. 6.1 Zwischenräume und Inselwelten 195 ment herauszuarbeiten und das Dazwischen des Exils auch als Raum der Enge zu erfassen, der Bewegungen geradezu verhindert. 6 Folgende Fragestellungen leiten meinen Untersuchungsgang: Inwiefern entstehen Zwischenräume dadurch, dass Kuba Ort (be)ständigen Rückbezugs für die kubanischen AutorInnen in Paris bleibt? Inwiefern ist dieses Dazwischen Ausdruck eines konfliktbeladenen Heimatbezugs aus dem Exil heraus? Und im Gegensatz dazu: Wie und wo überwinden ihre Texte isolierte Zwischenräume und eröffnen neue Welten, d.h. Lebens-, Erfahrungs- und nicht zuletzt Imaginationsräume? Darüber hinaus: In welcher Beziehung stehen Insel und Welt für die AutorInnen zueinander? Hinsichtlich dieser drei Leitfragen werden literarische Raumrepräsentationen untersucht, die vom Mikrobereich des Hauses bis zum Makrobereich der Stadt und sogar der Nation reichen. Schon die Untersuchung des Phänomens der Ausgrenzung bringt Zwischenräume des Un-Heimlichen und Un-Heimischen hervor, die sich anhand der Lyrik José Trianas und Lira Campoamors aufzeigen lassen. In Bezugnahme auf Bachelards La poétique de l’espace (1967) stütze ich mich dabei auf eine raumphänomenologische Herangehensweise, um poetische Raumbilder wie Häuser, Innenhöfe und Straßen als Erlebnisräume zu erfassen. Bachelards Überlegungen zur Poetik des Raums nehmen von der Lyrik ihren Ausgang: Die Poesie eignet sich durch den Rückgriff auf eine Dichte von Bildern dazu „Stimmungsräumlichkeit“ einzufangen. 7 Diese Phänomenologie des Räumlichen ist gleichzeitig an eine Studie zur poetischen Imagination gekoppelt, die er am Beispiel des Hauses ausführt. Der Innenraum des Hauses wird vom Subjekt als sicherer und geborgener „espace heureux“ eingenommen und so als Resonanzraum erfahren, der die poetische Imagination beherbergen und gleichzeitig freisetzen kann (vgl. 1967: 8, 17). 8 Unter der Perspektive der Ausgrenzung möchte ich dieser phänomenologischen „Stimmungsräumlichkeit“ näher auf den Grund gehen. Dabei wird sich herausstellen, dass mit den Leitkategorien des Un-Heimlichen und Un-Heimischen in José Trianas Sonetten - im Gegensatz zu Bachelards Begriff der „topophilie“ (1967: 17) - geradezu topophobische Merkmale sichtbar werden, 6 Zum dynamischen Raumbegreifen in der Literaturwissenschaft, vgl. Bachmann- Medick 2009: 258, Hallet / Neumann 2009: 21. 7 Der Begriff stammt von Stephan Günzel in seiner Darstellung von Gastón Bachelards Poetik des Raums. Günzel, Stephan (2006): „Phänomenologie der Räumlichkeit“. In: Ders. / Dünne, Jörg (Hg.): Raumtheorie. Frankfurt: Suhrkamp, 123. 8 Bachelards Poétique de l’espace wird von Knut Ebeling „eines der seelenvollsten Raumbücher des 20. Jahrhunderts“ genannt. Vgl. „‚In situ’: von der Philosophie des Raums zur ortsspezifischen Theorie“. In Günzel (Hg.) (2007), 314. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 196 die mit der Destruktion stabiler und Sicherheit gewährleistender Ordnungen verbunden sind. Navarretes Gedichte „Ciudad“ und „Manjar de Dioses“ zeigen darüber hinaus, wie die Stadt Havanna selbst dem heimatlosen Dichter zum ‚un-heimlichen’ Gegenüber wird. Was in Bezug auf die Ausgrenzung thematisch angeschnitten wird, soll im Abschnitt über die Eingrenzung weiter vertieft werden: die Erfahrung einer Unbehaustheit auf personaler und kollektiver Ebene, die die KubanerInnen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Insel machen. Diese Unbehaustheit lässt sich meiner Argumentation nach in einem Zwischenraum der Isolation verorten. Um diesen zu erfassen, wird auf eine raummetaphorische Denkfigur Ettes zurückgegriffen, mit der nicht nur räumliche Figurationen der Eingrenzung, sondern zugleich der Entgrenzung reflektiert werden. 9 Um die Literaturen und Kulturen der Karibik zu beschreiben, setzt Ette vielfach das Bild der Insel als Denkfigur ein. Daher wird sein begriffliches Oppositionspaar „Insel-Welt“ und „Inselwelt“ für die Analyse verwendet, da sie das die Insel Kuba betreffende Paradox von Isolation einerseits und Vielverbundenheit andererseits exemplifizieren (vgl. 2005: 123f). 10 Die „Insel-Welt“ definiert er als „eine abgeschlossene, in ihren Grenzen fest umrissene [...] und von außen abgegrenzte Einheit“ (2010b: 260), die „eine Totalität in ihrer Abgeschlossenheit verräumlicht“ (2005: 124). Der Bindestrich zwischen Insel und Welt impliziert eine beinahe antagonistische Gegenüberstellung zwischen einer intern eingeschlossenen Entität und deren Abtrennung von dem außerhalb liegenden Rest der Welt. Dieses Konzept Ettes geht mit Ulrich Fleischmanns Begrifflichkeit der „Fraktionierung von Inselräumen“ einher. 11 Die Fraktionierung wird hier im Sinne einer Aufspaltung, d.h. einer Trennung von Räumen verstanden, die voneinander isoliert keinen Bezug zueinander aufweisen. Dem gegenüber macht Ette den Begriff des „Fraktals“ für die Literaturen der Karibik fruchtbar. Dabei lehnt er sich an Benoît Mandelbrots mathematischen Begriff der „fraktalen Geometrie der Natur“ an. 12 Damit sind geometrische Figuren gemeint, deren Struktur eine Form der Selbst- 9 Knut Ebeling zeigt, wie philosophisches Wissen durch räumliche Denkmodelle und figuren illustriert und spatialisiert wird. Als Beispiele nennt er Lyotards Denkbild des Atolls und Derridas Krypta (2007: 314). 10 Das Spiel mit diesem Paradox führt Ette in unterschiedlichen Inselmetaphern weiter, was bereits die Kapitelüberschriften zu erkennen geben: „Insel-Grenzen und mise en abyme“ (2005: 124), „Insel-Scherben und Insel-Relationen“ (132), „Insel-Haus und Insel-Literatur“ (142). Weitere Überlegungen zu „Insel-Welt“ und „Inselwelt“ finden sich in Ette, Ottmar (2010b): ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 259-262. 11 Vgl. Fleischmann, Ulrich (2004): „‚Small is beautiful’: Inselmythen und die Fraktionierung von Räumen in der Karibik“. In: Neue Romania 30, 159. 12 Vgl. Mandelbrot, Benoît (1991): Die fraktale Geometrie der Natur. Basel / Boston / Berlin: Birkhäuser Verlag. 6.1 Zwischenräume und Inselwelten 197 ähnlichkeit aufweist und somit „eine sich auf den verschiedensten Ebenen quasi unendlich weiterprojizierende und vervielfachende Strukturisierung bietet“ (Ette 2010b: 283). Im Unterschied zur vielfachen Verzweigung des Rhizoms ist der Denkfigur des Fraktals eine Brechung inhärent. Diese steht der Gebrochenheit der Fraktionierung allerdings konträr gegenüber. Denn die Brechung des Fraktals verweist auf Inseln als Räume, die eine Vielverbundenheit, also „vielfältige innere Verbindungen und Konstellationen“ zueinander, kennzeichnet (vgl. Ette 2005: 124). Versinnbildlicht wird der Begriff des Fraktals im Phänomen der Inselwelt. Der bewusst weggelassene Bindestrich macht eine Zusammenführung von Insel und Welt deutlich und rückt das „Bewußtsein einer fundamentalen Relationalität“ in den Vordergrund (Ette 2010b: 260). Diese Vielverbundenheit lässt sich in Zusammenhang mit den postmodernen Paradigmen von Heterogenität, Inkohärenz und Prozesshaftigkeit bringen, wie sie auch von dem kubanischen Kulturtheoretiker Antonio Benítez Rojo in La Isla que se repite. El Caribe y la perspectiva posmoderna aufgegriffen wird. 13 Die Fraktionierung von Räumen wird im Unterpunkt Eingrenzung am Modell der Insel-Welt untersucht. Dies geschieht anhand von Navarretes Gedicht „Islas“ und den Romanen La nada cotidiana und Café Nostalgia von Zoé Valdés. Am Beispiel der semiotischen Schreibweise der Lyrik Gilda Alfonsos wird diese Denkfigur darüber hinaus auch auf der Ebene der graphischen Textstrukturierung veranschaulicht. Mit der Entgrenzung hingegen kommt das Modell der Inselwelt und damit die Frage nach einer „fraktalen Schreibweise“ der kubanischen LiteratInnen in Paris zur Anwendung (Ette 2010b: 283). Dabei treten die relationalen Raumvorstellungen besonders in den Vordergrund. Für das Denken in räumlichen Relationen wurde in der neueren wissenschaftlichen Diskussion Michel Foucault mit seinem Aufsatz „Des espaces autres“ zum maßgeblichen Ideengeber. 14 Darin spricht er von „unserer“ Zeit als Zeitalter des Raums und „l’époque de la juxtaposition“ (1994: 752). Damit meint er heterogene Raumkonstellationen, die von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ bestimmt sind (Hallet / Neumann 2009: 14). Mir geht es darum, diese heterogenen „Vielorte“, die im Gegensatz zur Utopie real existieren, für die Analyse räumlicher Öffnungen und Pluralisierungen anzuwenden. Foucault bezeichnet diese gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Gesell- 13 Rojo, Antonio Benítez (1989): La Isla que se repite. El Caribe y la perpectiva posmoderna. Hanover: Ediciones del Norte. 14 Vgl. Foucault, Michel (1994): „Des espaces autres“. In: Dits et Écrits. Band IV: 1980- 1988. Defert, Daniel / Ewald, François (Hg.). Paris: Gallimard, 752-762. Der proklamierte Paradigmenwechsel sowohl des spatial als auch des topographical turn besteht darin, dass die „Substanzvorstellung“ von Raum als einer „eigenständigen Entität“ durch das Denken in raumkonstitutiven Relationsgefügen abgelöst wird (vgl. Günzel 2007: 15, 21). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 198 schaft angesiedelten Orte, wie z.B. Bibliotheken und Museen, als Heterotopien (1994: 755f). Am Beispiel von Navarretes ekphrastischen Essay „Hundimiento de la isla“, der im Museum des Louvre entstanden ist, kann exemplarisch ein wichtiges Prinzip der Heterotopie aufgezeigt werden: „le pouvoir de juxtaposer en un seul lieu réel plusieurs espaces, plusieurs emplacements qui sont en eux-mêmes incompatibles“ (ebd.: 758). 15 Ein weiterer analytischer Schwerpunkt der Entgrenzung liegt auf poetischen Topographien von Städten. Grund hierfür ist, dass sie sich als verräumlichte Sinnbilder und damit als Sinnträger einer Kultur begreifen lassen. Dies macht sie zu symbolisch aufgeladenen Räumen, in die Generation um Generation ihre sozialen, politischen und nationalen Projekte, Vorstellungen und Zukunftsvisionen hineinprojizieren. 16 Damit sind Städte zugleich mythenbesetzte Imaginationsräume: „Denn seit es sie gibt, war die ‚große Stadt’ immer auch ein hochbesetzter imaginärer Raum, nicht nur kultureller Speicher von Bildern, Texten und Zeichen, sondern auch Gegen-stand mythischer Überhöhungen.“ 17 Im Diskurs des 19. Jahrhunderts gilt dies sowohl für Paris, das Zentrum der europäischen Moderne (vgl. 3.2), wie auch für Havanna, die blühende Hauptstadt der „Perla del Mar“, wie Gertrudis Gómez de Avellaneda die Insel Kuba bezeichnete. 18 Hinsichtlich der Poetisierung beider Städte stellt sich die Frage, wie die in Paris lebenden kubanischen AutorInnen sich zu ihnen positionieren, indem sie existierende Topoi und Mythen aufgreifen oder aber verwerfen. Außerdem wird die Stadt als Lebensraum untersucht, um aufzuzeigen, wie der jeweilige Stadtraum nicht nur existentiell erlebt, sondern auch performativ geschaffen und kulturell besetzt wird. Im Hinblick auf die Raumpoiesis spielen mimetische Stadtdarstellungen hierbei eine unterge- 15 Weitere Überlegungen zur Heterotopie finden sich in Foucault, Michel (2005): „Les Hétérotopies“. In: Ders.: Die Heterotopien / Les Hétérotopies. Der utopische Körper / Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Frankfurt: Suhrkamp, 44. 16 Vgl. Heffes, Gisela (2008): Las ciudades imaginarias en la literatura latinoamericana. Rosario: Beatriz Viterbo, 15f. Die imaginären Städte, die Heffes in der lateinamerikanischen Literatur erforscht, haben immer auch den Charakter einer Experimentierplattform („laboratorio de experimentación“) dafür, städtische und damit auch gesellschaftliche Ordnungen grundlegend neu zu denken (15). In der kubanischen Literatur untersucht sie Antonio José Pontes imaginäre Stadt „Tuguria“ in der Kurzgeschichte „El Arte de hacer ruinas“ (213f). 17 Keller, Ursula (2000): „Einleitung“. In Dies. (Hg.): Perspektiven metropolitaner Kultur. Frankfurt: Suhrkamp, 8. 18 Vgl. Avellanedas Gedicht „Al partir“ von 1836. In: Avellaneda, Gertrudis Gómez de (2003): La noche de insomnio. Antología poética. Arrufat, Antón (Hg.). Havanna: Editorial Letras Cubanas, 152. Während Paris den berühmten Beinamen „Ville Lumière“ trägt, wird Havanna bis heute der Name „Perla del Caribe“ verliehen, den zahlreiche Touristenführer aufgreifen. Vgl. http: / / viajes.turismo.hispavista.com/ v4299-la-habana-la-perla-del-caribe; http: / / www.elalmanaque.com/ turismo/ cuba.htm. Zugriff: 04.01.2013. 6.1 Zwischenräume und Inselwelten 199 ordnete Rolle. Vielmehr geht es darum, wie die Stadt „erst durch den Text hervorgebracht, hergestellt, produziert wird“ (Mahler 1999: 12). Andreas Mahler differenziert diesbezüglich zwischen den Begriffen „Stadttext“ und „Textstadt“, wobei er letztere als Resultat von „Imaginationsprozessen“ begreift. 19 Die Unterscheidung beinhalte aber gleichzeitig einen kausalen Zusammenhang, da „Stadttexte im Grunde immer nur Textstädte modellieren“ (ebd.). Mahlers Begriff der Textstadt wird hier vor dem Hintergrund „kultureller Bedeutungszuschreibungen“ verwendet, die der jeweiligen poetisch geschaffenen Stadt eingeschrieben sind (vgl. Hallet / Neumann 2009: 11). Hierbei wird der Konflikt um kulturelle Zugehörigkeit hervorgehoben. Als Beispiel für die raumpoietische Entgrenzung werden Nivaria Tejeras „Textstädte“ Paris in „Champ de Mars“ und Havanna in „La Habana un día“ einander gegenübergestellt. Dabei verdeutlicht Tejeras transkulturelle Aneignung von Paris zwar einen ‚Weltengewinn’, legt jedoch zur gleichen Zeit in Form einer radikalen Entgrenzung die Ortlosigkeit des Exils offen. Im Gegenzug dazu erscheint Havanna als ideeller und imaginärer Fluchtpunkt für die Möglichkeit der Beheimatung. In Bezug darauf wird das Spannungsfeld zwischen dem dystopischen Jetzt-Zustand der Stadt und einem utopischen Neuentwurf näher beleuchtet. Tejeras prospektive Vision auf Havanna korrespondiert mit der Utopie eines gelingenden Zusammenlebens und einer Zusammenführung der in der Welt verstreuten kubanischen Nation. William Navarrete hingegen verschafft sich das Gefühl der Beheimatung in einer ganz anderen, ihm fremden Stadt auf der Welt, nämlich in Marrakesch. Jenseits nationaler Grenzziehungen sieht er dort die Utopie eines gelingenden Zusammenlebens aller menschlichen Diversität verwirklicht. Das wird schließlich am Beispiel seines Gedichts „El gran Halka“ aus dem in Marokko entstandenen Gedichtband Lumbres Veladas del Sur gezeigt. Das Phänomen der Abgrenzung ist - der Chronologie dieser Arbeit nach - dem paradoxen Verhältnis von eingegrenzter Isolation und entgrenzender Öffnung zwischengeschaltet und legt das Hauptaugenmerk auf poetisch-parodische Stadtaneignungen von Paris. Hierfür werden zwei Gedichte von William Navarrete herangezogen. Er kann durch die konstante Bezugnahme auf Städte in seinen Gedichten als Stadtlyriker par excellence bezeichnet werden. Im Vordergrund steht die Frage nach dessen subjektiver Positionierung zu Paris. Darüber hinaus spielt insbesondere seine kulturspezifische Perspektive eine Rolle. Hierfür werden das Wie und das Wo der dichterischen Positionierung zu den ausschlaggebenden Kriterien der Untersuchung von Abgrenzungslinien: Einerseits stellt sich die Frage, wie die Stadt semantisch kodiert wird, andererseits wird herausgearbeitet, 19 Mahler bezieht sich mit seinen Begrifflichkeiten auch auf lyrische Texte (vgl. 1999: 13f). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 200 aus welchem Blickwinkel heraus die Bedeutungskonstitution erfolgt. Methodisch lehne ich mich dabei an die Herangehensweise Horst Weichs an, der vor allem anhand der pragmatischen Sprechsituation in Gedichten den jeweiligen Standort des Dichters ausmacht, der maßgeblich die Perspektive auf die Stadt bestimmt. 20 Dabei wird das für die Abgrenzung konstitutive Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanz sichtbar. Darüber hinaus kann auch die Bewegung eines lyrischen Ich in der Stadt, also eines Subjekts im Raum analysiert werden. Angesichts der „Wechselwirkung von Bewegungsformen, Raumerschließung und Subjektverortung“ (Bachmann-Medick 2009: 260) wird das Konzept des Flaneurs für die Untersuchung fruchtbar gemacht. 21 Die Funktion des Flaneurs im Text bildet das Wechselverhältnis zwischen Denk- und Gehbewegung beim ziellosen Umherstreifen in der Stadt ab. 22 Unter dem Aspekt der Abgrenzung möchte ich zeigen, wie Navarrete den Flaneur auf spezifisch ‚kubanische’, spielerische Weise für die Modellierung der Textstadt Paris einsetzt. Zudem wird herausgearbeitet, inwiefern der Blickwinkel des kubanischen Autors den Mythos Paris, wenn nicht dekonstruiert, so doch „signifikant ‚dezentriert’“ (Ingenschay 1997: 148). Die Untersuchung der Stadtlyrik hebt das Spannungsfeld von Insel-Welt und Inselwelt im Sinne des eingesperrten Dazwischen und der räumlichen Öffnungen besonders hervor. Denn zwischen, in, mit Blick auf und über Havanna und Paris hinaus lassen sich die unbehauste Heimatlosigkeit, die Konfliktivität von Heimatbezogenheit sowie nationaler und kultureller Zugehörigkeit und transkulturellem Weltengewinn verorten. 20 Vgl. Weich, Horst (1996): Paris en Vers. Aspekte der Beschreibung und semantischen Fixierung von Paris in der französischen Lyrik der Moderne. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 23. 21 Vor allem in Hinsicht auf die Lyrik der Moderne gilt Charles Baudelaire mit Les Fleurs du Mal (1857), hierin insbesondere mit seinem Gedicht „A une passante“, und mit Petits poèmes en prose (1869) als wichtiger ‚Begründer’ der Figur des Flaneurs. Seine Überlegungen hierzu finden sich in dem Aufsatz „Le peintre de la vie moderne“ (1863) wieder. Weiter ausgeführt wurde das Konzept von Walter Benjamin (1974): „Über einige Motive bei Baudelaire“. In: Ders.: Gesammelte Schriften Band 1.2. Schweppenhäuser, Hermann / Tiedemann, Rolf (Hg.). Frankfurt: Suhrkamp, 605-653. 22 Zur Funktion des Flaneurs vgl. Neumeyer, Harald (1999): Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 11. Das „beobachtende Denken“ wird in der Untersuchung von Mathias Keidel besonders hervorgehoben. Vgl. Keidel, Mathias (2006): Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion. Würzburg: Königshausen & Neumann, 15. 6.2 Ausgrenzung 201 6.2 Ausgrenzung 6.2.1 Das Haus und die Straßen Zu Beginn wird bei der Poetisierung von Räumen der Intimraum und Mikrokosmos des Hauses ins Auge gefasst. Das Haus ist ein Symbol des Heimisch-Seins und damit der Geborgenheit und gibt daher der Sicherung eines menschlichen Grundbedürfnisses sinnenfälligen Ausdruck. Gastón Bachelard entwirft in La poétique de l’espace eine „Phänomenologie der poetischen Imagination“ und untersucht Möglichkeiten eines „verdichteten Gedächtnisses“, das an den Intimraum des Hauses gekoppelt ist (1967: 8, 16). Dabei bezieht er den Terminus der topophilie mit ein, um mittels einer Poetik des Hauses dessen innen-räumliche Geborgenheit zu beschreiben (ebd.: 18). Die poetischen Bilder dieses „espace heureux […] visent à déterminer la valeur humaine des espaces de possession, des espaces défendus contre les forces adverses, des espaces aimés“ (ebd.: 17). Das Haus ist darüber hinaus ein lebendiger Raum gelebter Erinnerungen, die ihn bewohnen und ihn in Bildern konstituieren. Beim Erinnern fließen Imagination und „valeurs de songe“ ineinander, so dass in die als wahrhaft empfundenen Erinnerungen immer auch die Dimension des Phantasierens und Träumens hineinragt. Besonders die Lyrik, in der Bilder in Konkurrenz zwischen Funktionen des Realen und des Irrealen entstehen, vermag es daher, den poetischen Grund des Hauses zu erfassen (vgl. ebd.: 25, 67). Die Poetik des Hauses im Sinne Bachelards wird im Folgenden auf die Lyrik José Trianas angewandt, in der räumliche Kategorien in Form von Träumen, Imaginationen und Phantasmen eine wichtige Rolle spielen. Dies zeigt sich bereits in seinem Theaterstück La Noche de los asesinos, in dem der „espacio cerrado“ des Hauses gerade nicht, wie man erwarten sollte, Geborgenheit und Beheimatung repräsentiert, sondern zum Symbol menschlicher Konfliktaustragungen und damit zum Ort des Grauens wird. Die drei Hauptfiguren des Stückes sind die Geschwister Lola, Cuca und Beba. Sie versuchen der einschränkenden Enge ihres Elternhauses zu entkommen, indem sie den Mord an Vater und Mutter inszenieren. Zum Ende des Stückes stellt sich allerdings heraus, dass es sich bei der Tat um eine Fiktion handelt, ein „ceremonial exorcista [...] a puerta cerrada“, das die Geschwister immer wieder als makabres Ritual in unterschiedlichen Rollenaufteilungen durchspielen. Den Befreiungsakt des Elternmordes führen sie jedoch niemals wirklich aus (vgl. Meyran 2001: 35). Das Stück ist von einem konstanten mise en abyme gekennzeichnet, ein metatheatralisches Spiel im Spiel, in dem die räumlichen und familiären Ordnungen permanent zerstört und umgeschaffen werden, wobei sich Phantasie und Wirklichkeit ineinander verschränken (ebd.: 37). Auf der Makroebene symbolisiert das Haus soziale Ordnungen als Maskenspiele, hinter denen men- 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 202 schliche Abgründe lauern, die im Verborgenen liegen und immer wieder aufbrechen. Was in La noche de los asesinos zu beobachten ist, kennzeichnet auch die Poetik Trianas. In seinen Gedichten erscheint das Reale als Unwirkliches und wird dem Geträumten als eigentlich Wirkliches gegenübergestellt. So spielt er stets mit Elementen des Phantastischen und der Dopplung und Ambiguität der Ordnungen. Es handelt sich also um ein poetisches Schaffen, das die Prozesse „soñar, pensar y escribir“ in Korrelation bringt (vgl. Meyram 2001: 22). Kreativität wird aus diesen Prozessen generiert, d.h. sie gründet sich immer auf Traumtätigkeit, Denktätigkeit und Erinnerungstätigkeit. Auf metapoetischer Ebene werden dabei immer die Möglichkeiten und Grenzen dieser Tätigkeiten reflektiert und die Frage nach der Traum-, Denk- und Erinnerungsfähigkeit ausgelotet. Dabei bewegt sich Trianas Poetik stets in einer Sphäre des Ungewissen, der Unruhe und der Flüchtigkeit, die sich in einer Ästhetik des Träumerischen und des Traums niederschlägt, in der Denken und Nichtwissen, Erinnern und Vergessen thematisch verhandelt werden. Diese Themen stehen im Zusammenhang mit der Konstitution des Subjekts im Konflikt zwischen seinen Möglichkeiten der Selbst(er)kenntnis und den unbekannten Zonen des Selbstseins. Angesichts dieses universal ontologischen Anspruchs besteht die Herausforderung in der Analyse der Gedichte Trianas darin, eine Beziehung zur Ausgrenzung im Exil herzustellen. Obwohl sich seine Lyrik nicht ohne weiteres in den Kontext des Exils einordnen lässt, kann über das Thema der Erinnerungsfähigkeit und ihrer Gefährdung ein Bezug zur Frage nach der Ausgrenzung erfolgen. Alle seine Werke würden ein Spiel der Erinnerungen darstellen, so Triana (zitiert nach Meyram 2001: 14). Dabei nimmt das Haus als Hort der Erinnerungen eine wichtige symbolische Funktion ein, was im Sonett „Inquietud“ zum Ausdruck kommt. Der freie Umgang mit dem Sonettschema stellt auf formaler Ebene ein weiteres spielerisches Element der Lyrik Trianas dar: er orientiert sich an der Strophenaufteilung, verzichtet jedoch auf Reimschemata und Versmaß, um sich so einen schöpferischen Freiraum innerhalb der Genrevorgaben zu verschaffen (vgl. Triana 1997: 36). In Bezug auf die raumtheoretische Herangehensweise ist auch die Bewegung im Raum zu beachten. Die „gehende Körperbewegung“ des lyrischen Subjekts steht analog zu seinen „Gedankengängen“ und seinen träumerischen Grenzgängen. 23 Diese in Analogie zueinander stehenden „Fort-Schritte“ (ebd.) beim Durchschreiten des Innenraums spielen in Trianas Gedichten „Inquietud“ (IP 54) und „Soñé“ 23 So argumentiert Bachmann-Medick: „Die Analogie zwischen dem inneren Gedankengang (‚Ideengang’) und der gehenden Körperbewegung des Subjekts“ sind seit dem späten 18. Jahrhundert bis heute weitreichend in die Literatur eingegangen (2009: 258). Im Zusammenspiel zwischen Traum, Erinnern und Denken in Trianas Poetik kann dieser Analogie noch die Traumbewegung hinzugefügt werden. 6.2 Ausgrenzung 203 eine Rolle. 24 Darauffolgend wird das Sonett „Faubourg Saint-Denis“ (FSD) auf seine Bewegungsläufe im Außenraum hin ins Auge gefasst (Triana Poesía II: 41). Inquietud 01 Entro en la casa. Todas las puertas 02 permanecen abiertas. Me detengo. 03 Dudo a dónde voy. Ante mí se abre 04 una ardua interrogante. ¿Sigo el paso 05 aprendido? O me lanzo a la aventura? 06 ¿Qué parte de mí entra en la ceremonia? 07 ¿Que parte la rechaza? ¿Y lo fantástico? 08 en qué medida me seduce o anula? 09 ¿Es esto acaso una ilusión, un juego 10 de penumbra o un sucedáneo de aguas, 11 semejante a lo que escribo y omito? 12 La casa me respira dulce ciervo, 13 un jarrón halagado por la música. 14 Todo testifica sombra y es sagrado. Der Ausgangspunkt des Gedichts ist eine Schwellensituation: Das lyrische Ich befindet sich außerhalb des Haus und vollzieht im ersten Vers die Bewegung des Eintretens in den Innenraum. Die erste Strophe erscheint vor dem Hintergrund des dramatischen Schaffens Trianas wie eine Art Regieanweisung. Paradoxerweise nimmt das Symbol des Hauses hier nicht die Funktion des Abgeschlossen-Vertrauten, sondern des Offensichtlich- Unbekannten ein. Die Unabgeschlossenheit des häuslichen Raums zeigt sich zunächst darin, dass alle Türen offen stehen (V.2). Das lyrische Ich befindet sich im Hausinneren nicht in einer von Zufälligkeiten gesicherten, vertrauten Umgebung, sondern ist durch das Eintreten einer Offen-heit und Fülle von Möglichkeiten ausgesetzt und zögert bei der Entscheidung sich weiterzubewegen. In diesem Moment befällt den Eintretenden der Zweifel und eine Vielzahl an Fragen tun sich auf, vornehmlich die nach dem Weg, den er einschlagen soll: den vertrauten oder einen neuen unbekannten. Hierin zeigt sich eine Beunruhigung, die zu Beginn des ersten Terzetts darin mündet, dass das Haus nicht als real existierende Räumlichkeit erscheint, sondern als Sphäre des Unsicheren, eine „Illusion“ bzw. ein „Spiel des Halbschattens“ (V.9, 10). Das Bewusste und das Unbewusste sind ineinander verschlungen. Auf der Ebene der Denktätigkeit wirft Tri- 24 „Inquietud“ ist Teil der Anthologie Vueltas al espejo von 1994. Vgl. auch Triana, José (2011): Poesía completa. Band II. Valencia: Aduana Vieja, 82. „Soñé“ befindet sich im ersten Band der Poesía completa (325). Im Folgenden Triana Poesía. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 204 ana mit diesem Sonett die Frage auf, ob den gesicherten Strukturen des „paso aprendido“ zu trauen ist oder ob man nicht mit jedem Eintreten in vertraute Räumlichkeiten den Ungewissheiten, Zufälligkeiten und Abenteuern eines neu einzuschlagenden Weges ausgesetzt ist. Das Bekannte erscheint in einer Unordnung bzw. ungewohnten Ordnung, bis hin zu einer phantastischen, die das Ich zu verführen, aber auch auszulöschen vermag (V.7-8). Hierbei erweist sich das Sonett als metapoetische Reflexion über das Erinnern. Das Haus kann man dabei als Symbol für die Erinnerungstätigkeit und Schreibfähigkeit des Dichters verstehen, dessen Gewissheiten immer auf dem Spiel stehen. Das Eintreten in das Haus ist somit vergleichbar mit dem poetischen Schreibprozess, der gleichzeitig Worte offen legt und verdeckt. Dabei ist sich der Dichter immer im Klaren darüber, dass Unklarheit vorherrschen muss, denn „alles zeugt von Schatten“ (V. 14). Metaphorisch verweist der Schatten im letzten Vers jedoch nicht auf die Unruhe, die das lyrische Ich angesichts der offenen Türen beim Eintreten in das Haus befällt, sondern auf einen Zustand des „heiligen“ Friedens und der Ruhe, in dem sich das letzte Terzett auflöst. Dies wird durch das Adjektiv „dulce“ und das Verb „halagar“ bezeugt. Erstaunlicherweise gewährleistet die Gewissheit des Unergründlichen die Bewohnbarkeit des Hauses und genau darin besteht die Topophilie, die im letzten Vers transportiert wird. Denn nicht das Offenkundige, sondern die Grenzbereiche der Unsicherheit im Geheimen und Unbekannten beherbergen die häuslichen Räume, „[l]os secretos, lo que no se dice, lo que se va a develar y no se devela, como una especie de barreras que van apareciendo cuando uno va a exponerse, […] barreras extrañas a uno mismo“ (A.VI 339). Das Gedicht „Inquietud“ zeigt, dass das Phänomen der Ausgrenzung bei Triana eine universale Dimension aufweist. Ausgerechnet das Haus, das für eine Sicherheit stiftende Geborgenheit im Vertrauten steht, wird dem Außen geöffnet und so zum Symbol für die Ausgrenzung des Menschen. Niemand ist in sich selbst vollständig zu Hause. Jeder bleibt sich selbst fremd und ist von Teilbereichen seines Selbst ausgegrenzt. Dass im Exil die Erinnerungsfähigkeit auf dem Spiel steht, wird im Sonett „Soñé“ offenkundig, in dem das Haus als Symbol im Traum erscheint. Das Sonett stammt aus Trianas Anthologie Otro retrato olvidado von 1990 und erscheint außerdem in der von Odette Alonso herausgegebenen Gedichtsammlung Antología de la poesía cubana del exilio, die mehr als 150 DichterInnen der kubanischen Diaspora zusammenführt. 25 Dass das Träumen ein konstitutiver Bestandteil des Gedichts ist, verrät bereits der Titel: 25 Alonso, Odette (2011): Antología de la poesía cubana del exilio. Valencia: Aduana Vieja, 278. 6.2 Ausgrenzung 205 Soñé 01 Soñé que atravesaba una curiosa, 02 indefinible casa recubierta 03 de papeles, así, de un extremo a otro, 04 como si fuera un cuerpo pestilente. 05 Soñé que los papeles se caían 06 y fisgoneaban ojos de cocuyos 07 en los muros, y extrañamente luego 08 mojábame de oscuro y de presagios. 09 Soñé, soñé, soñé. Qué corredores 10 mugrientos, qué tachos, qué candelabros 11 y mamparas volando a la deriva. 12 Algo siento que oculto y se me escapa 13 o se diluye en un lugar que ignoro. 14 testifico al azar solo fragmentos. Die erste Strophe gibt Aufschluss darüber, dass es sich um einen Alptraum handelt. Durch das Tempus des Präteritums markiert, „berichtet“ das lyrische Ich von einem Traum. Darin durchquert es ein Haus, das mit den Attributen „curiosa“ und „indefinible“ (V.1, 2) beschrieben wird, was auf die Rätselhaftigkeit und die imaginäre Verselbstständigung von Traumbildern verweist, die „gegebene Wahrnehmungsräume“ überschreiten. 26 Das Haus stellt sich im Traum entgegen gängiger Vorstellung nicht als stabiles Gebäude dar, denn es ist von einer Seite zur anderen mit Papier gedeckt (V. 2-3). Dazu kommt noch, dass es als übel riechender Körper imaginiert wird (V.4), was es von der Objektwelt in die Subjektwelt befördert. In Verbindung zu den Papieren kann das Bild der Körperlichkeit die Assoziation eines in Tücher gehüllten, modernden Leichnams erwecken. Die Atmosphäre des Morbiden steigert sich im zweiten Quartett, das auf lautlicher Ebene von dunklen Vokalen durchzogen ist. Sie stehen für eine Dunkelheit, die auch semantisch erzeugt wird. Die Beklemmung des Ich spiegelt sich in den Augen dunkler Insekten wider, die aus den Mauern hervortreten. Dabei wird zwischen „cocuyos“ (V.6), „muros“ (V.7) und „oscuro“ (V.8) eine quasi-Reimstruktur erstellt. Das Ich wird von der Dunkelheit nicht nur eingehüllt, sondern gleichsam von ihr erfasst und umfasst, ja sogar durchnässt, wie es Vers 8 metaphorisch ausdrückt. Die Instabilität des Hauses steigert sich hier durch das Fallen der Papiere, die es bedecken (V.5). Im ersten Terzett erfährt die Entfesselung des Traums eine Klimax, die sich 26 Reck, Hans Ulrich (2010): „Traum / Vision“. In: Barck, Karlheinz / Fontius, Martin / Wolfzettel, Friedrich u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band VI. Stuttgart: Metzler, 174. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 206 vornehmlich darin äußert, dass sich die Anapher „Soñé“, die die syntaktischen Einheiten der Quartette einleitet, hier in einer Geminatio steigert, mit der die Traumtätigkeit betont wird. Die Traumbilder verselbstständigen sich vollständig, indem sich die Gegenständlichkeit des Hauses selbst und dessen Gegenstände, Eimer, Lüster und Wandschirme, verflüchtigen, „volando a la deriva“ (V.11). Selbst die schmutzigen Korridore sind in dieses willkürliche Abdriften inbegriffen, sodass kein Weg mehr gangbar ist. Im zweiten Terzett findet ein Tempuswechsel statt. Die sprechende Instanz äußert sich im Präsenz und wechselt vom Modus der Traumdarstellung in den Reflexionsmodus der Traumdeutung. Auffällig ist dabei die Verwendung der Verben „ocultar“, „escapar“, „diluir“ und „ignorar“, die auf Unwissenheit, Ungewissheit und Flüchtigkeit verweisen. 27 Mit dem Satz „Ich bescheinige dem Zufall lediglich Fragmente“ (V.14) unterstreicht der letzte Vers des Gedichts diese Semantik. Zieht man gemäß Bachelard das Haus als „corps d’images qui donnent à l’homme des raisons ou des illusions de stabilité“ in Betracht (1967: 34), so stellt man fest, dass in Trianas Sonett Chaos durch Ordnung, Beliebigkeit durch Sicherheit, Bruchstückhaftigkeit durch Ganzheit ersetzt werden. Die Prozesse von Träumen, Schreiben und Denken, die in Trianas Poetik aneinander gekoppelt sind, münden in „Soñé“ in einem Zustand des Unheimlichen und Unheimischen. Die Tatsache, dass der Intimraum des Hauses alle Klarheit und Stabilität verliert, zusammenfällt und sich in Fragmenten verflüchtigt, zeugt im Sinne Bachelards von einem „cauchemar ontologique du poète“. 28 Die bedrohte, da immer der Instabilität und Unsicherheit ausgesetzte Traum-, Erinnerungs- und Denkfähigkeit findet im Struktur- und Ordnungsverlust und im Zusammenstürzen des Hauses auf der Ebene der Traumsymbolik ihren Ausdruck. Das Haus als Grundmotiv des Alptraums „trouble les notions d’une spatialité“, kann man hier mit den Worten Bachelards behaupten (1967: 198). Im Gegenzug zu einer Topophilie transportiert das Sonett eine Topophobie in zweierlei Hinsicht. Denn „das Bild des Traums“ ist gleichzeitig „der Traum als Bild“ (Reck 2010: 181). Einerseits repräsentiert der Traum das angstbesetzte, beklemmende und un-heimliche Bild des Hauses. Andererseits besteht die Topophobie gerade darin, dass der Traum keine Sicherheit stiftende Zuflucht ins Imaginäre bildet, sondern dem Zufälligen unterliegt, die verstörenden Bilder also überhaupt erst produziert. Ausgrenzung ist in diesem Zusammenhang einerseits eine ontologische Kategorie, die auf die Erfahrung zurückzuführen ist, dass der Mensch 27 Der Vers „Algo [...] se me escapa“ (V.12) spielt intertextuell auf Lezama Limas Gedicht „Ah que tú escapes“ an, das die Flüchtigkeit bildhafter Imagination zum Thema hat (Poesía completa 21). 28 In Betrachtung von Henri Michauxs Prosagedicht L’espace aux ombres (Bachelard 1967: 196). 6.2 Ausgrenzung 207 kaum je auf vertraute und vertrauenswürdige Strukturen zurückgreifen kann und stets in einem dritten Raum der Ungewissheit und Unwissenheit oszilliert. „Siempre fui y seré un exiliado“, wie der Autor selbst es beschreibt (Triana 1997: 45). Andererseits spiegelt sich in dieser alptraumhaften Verdichtung des Hauses die Gebrochenheit im Exil auf personaler Ebene. Denn das Im-Haus-Sein stellt keine Erfahrung des geborgenen Zu- Hause-Seins dar. Vielmehr vermittelt „Soñé“ die Erfahrung eines Ich, das einer unsicheren, instabilen und bedrohlichen Unbehaustheit ausgesetzt ist, sowie das Exiliertendasein dem Dichter die Insel genommen und ihn in die existentielle Unsicherheit versetzt hat. Somit fließen auf der Suche nach dem genuin Poetischen und dem Universal-Menschlichen immer auch der persönliche Lebensweg und dessen Brüche in die Lyrik Trianas ein: „Los cambios que he tenido a lo largo de mi vida, fragmentos, retazos, raciones, ¿es lo que queda? O si en el instante último, al desvanecerse las palabras, sólo nos acoge el silencio, un frío silencio y olvido“ (ebd.). Im Hinblick auf dieses Zitat verdeutlicht die Symbolik des zusammenstürzenden Hauses auch die Unzuverlässigkeit der Erinnerungen. Die in Fragmenten sich verflüchtigenden Gegenstände des Hauses verweisen im Sinne Bachelards eben nicht auf die Inbesitznahme des Raums durch sinnstiftende und wertbesetzte Erinnerungen, die den Menschen vor gegnerischen Kräften schützen (vgl. Bachelard 1967: 17). Vielmehr ergreift die Unbehaustheit Besitz vom Subjekt. Im Gegensatz zu Bachelards positiv besetzten Begriff der „rêverie“, die Orte und Zeiten im Jetzt durch die Vorstellungskraft der Erinnerung mit einer Irrealität imprägniert (ebd.: 66), imaginiert Triana einen von Negation gekennzeichneten „rêve“, der den menschlichen Wert des Zu-Hause-Seins anzweifelt, indem er die Erinnerungsfähigkeit grundsätzlich in Frage stellt. Das Haus fungiert damit als Symbol eines bedrohlichen und bedrohten Gedächtnisraums, in dem eine Angst vor sich verflüchtigenden und auflösenden Strukturen vorherrscht. Indem dieser Raum das Subjekt vereinnahmt, grenzt er es gleichzeitig von sich selbst aus. Die Gefährdung der Erinnerungsfähigkeit und damit auch der Sprachfähigkeit zeigt sich in einem weiteren Sonett Trianas aus der Anthologie Oscuro de Enigma von 1993. Der Titel ist eine Allusion auf Trianas ersten Wohnort in Paris nach seiner Ausreise aus Kuba, die Straße Rue Faubourg Saint-Denis im zehnten Arrondissement (vgl. A.VI 344). Während die vorherigen Gedichte den Innenraum des Hauses zum Thema hatten, wird in „Faubourg Saint-Denis“ der städtische Außenraum verdichtet. Doch auch in diesem Sonett ist die Bewegung das bestimmende Element des Gedichtverlaufs: Während in „Soñé“ das Eintreten („entrar“) und in „Inquietud“ das Durchqueren („atravesar“) des Hauses das auslösende Bewegungsmoment darstellt, wird hier das Überqueren („cruzar“) der Straße zum Ereignis des poetischen Geschehens. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 208 Faubourg Saint-Denis 01 Al cruzar esta calle de lluviosos 02 aleros pienso en otra diferente 03 y la misma improbable, sin excusas 04 alargándose en onda y sobresalto. 05 Una calle que nunca he conocido, 06 que se agita en alguna pesadilla 07 con la simplicidad de una pantera 08 o el estupor delante de un cuchillo. 09 Una calle que dice el deterioro 10 de los tiempos marcados por el látigo 11 y las afrentas de varias guitarras. 12 Una calle, al cruzar, ay, una calle 13 que viene a la memoria intacta, en hueso 14 airado de imprecación y lágrimas. Im Gegensatz zur Abstraktheit, die das Haus als Symbol in den vorangegangenen Gedichten einnimmt, erwartet der Leser durch die topographische Allusion des Titels eine referentielle Konkretion. Die Metapher „lluviosos aleros“ (V.1-2) erweckt die Assoziation eines nassen Paris-Tages, an dem der Regen von den Vordächern tropft. Doch die Konkretheit löst sich schon im dritten Vers auf. So indiziert bereits die erste Strophe die für Triana charakteristische Ästhetik des Unbestimmten. Dabei schreiben sich Denken, Erinnern und Fantasieren in das poetische Schaffen ein. Das Überqueren der Straße ist Auslöser eines Erinnerungsprozesses: das Denken an eine „andere“ Straße, „otra diferente“ (V.2). Dadurch wird die Wahrnehmung der gerade benannten Straße einer Unwahrscheinlichkeit ausgesetzt. Das kommt durch die syndetische Erweiterung von „y la misma improbable“ in Vers 3 zum Ausdruck. Im vierten Vers löst sich die referentielle Konkretion vollständig auf und Triana treibt das verwirrende Spiel mit der topographischen Referenzialität im weiteren Verlauf des Sonetts auf die Spitze. Mit phantastischem Anklang wird eine Straße vor Augen gemalt, die sich wellenartig und erschreckend unaufhaltsam ins Unendliche erweitert. Im zweiten Quartett wird die Traumästhetik explizit, die Straße verkörpert sich nun als aufwühlender Alptraum. Die Metaphern des Panthers (V.3) und des Messers (V.4) vermitteln eine Aggressivität. Dass sich die Straße Faubourg Saint-Denis in eine beliebige und damit in einen vollkommen unbekannten Ort verwandelt, drückt sich in der Anapher „una calle“ aus, die die zweite bis vierte Strophe einleitet. Die Straße wird von der Wirklichkeitsreferenz auf einen extratextuellen Ort in ein areferentielles poetisches Bild umfunktioniert, das im weiteren Verlauf die Sprechfunktion übernimmt, denn auf der Ebene der Pragmatik findet man in den 6.2 Ausgrenzung 209 Terzetten keine sprechende Ich-Instanz mehr vor. Die Straße wird als Symbol metapoetisch reflektiert, indem sie eine eigene Aussagekraft erlangt: Sie „spricht“ vom Verfall der Zeiten, die unter Anbetracht des Enjambements von Vers 9 auf Vers 10 gleichzeitig geprägt sind von Peitschenhieben, „marcados por el látigo“. Die Fragmentierung, die das lyrische Ich denkend, erinnernd und träumend bei der Straßenüberquerung erfährt, spiegelt sich stilistisch im ersten Vers der letzten Strophe wider, der die Worte „una calle“ und „al cruzar“ in der Umkehrung des ersten Gedichtverses als Bruchstücke aneinanderreiht und zudem mit einer Interjektion versetzt. Im emotional aufgeladenen Ausruf „ay“ (V.12) schwingt eine wütende Verzweiflung mit, die sich zudem in den Worten „imprecación y lágrimas“ im letzten Gedichtvers niederschlägt. Dass die Fragmentierung vor allem an die Erinnerungstätigkeit und -fähigkeit gebunden ist, verrät die letzte Strophe des Sonetts. Obgleich die Straße auf ein „intaktes Gedächtnis“ trifft, wird sie darin nur als nutzloses Bruchstück aufgenommen, das Verbitterung, Verwünschungen und Tränen auslöst (V.13-14). Im Kontext des Exils erscheint die Straße als instabil schwankender Boden. In ihrer erschreckenden Dynamisierung und bildhaften Verselbstständigung macht sie die Bedrohtheit des lyrischen Ich sichtbar. Die Straßenüberquerung spiegelt die Erfahrung der Ausgrenzung als Trauma wider, das die sicher daliegende Rue Faubourg Saint-Denis als „latente Präsenz“ bedrohlich unterlagert (Assmann 1999: 259). Durch den Bruch im Exil verweigert das Gedächtnis eine sinnstiftende, kohärente und greifbare Vergegenwärtigung und Zusammenführung von Orten. Daher halten Trianas Verse die Unmöglichkeit vor Augen, von einer Straßenseite zur anderen und überhaupt von einem Ausgangspunkt zu einem Endziel zu gelangen. Das lyrische Ich verliert sich auf der Straße in Denk-, Traum- und Erinnerungs-bewegungen, die eine räumliche Dynamisierung verursachen, eine Selbstverortung und Selbstvergewisserung jedoch verhindern. Das Spiel mit den Erinnerungen, das Trianas Poetik bestimmt, mündet in FSD in einer kognitionstheoretischen Überlegung, die sich um die Fraugen des Wahrnehmens und Wiedererkennens dreht. Obwohl der Titel auf eine konkrete Straße in Paris verweist, enthalten Trianas Verse keinen Wiedererkennungswert. Die Sprache erweist sich als unwillig, die Straße vertrauenswürdig zu repräsentieren. Analog dazu steht die Vertrauensunwürdigkeit des Gedächtnisses, dessen Fähigkeit einen Ort wiederzuerkennen, sinnstiftend zu besetzen und ihn so als vertrauten Ort zu konstituieren, angezweifelt wird. 29 Dabei liegt die Komplexität des Sonetts darin begründet, dass die Topologik, das Überqueren der Straße, in eine Plurilogik ausufert, in der Denk-, Erinnerungs- und Traumprozesse sich überlagern. 29 Assmann betont: „Die Frage nach der (In)Stabilität von Erinnerungen ist untrennbar mit der Frage nach ihrer (Un)Zuverlässigkeit verbunden“ (1999: 265). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 210 Während sich der Wahrnehmungsprozess ad infinitum ausweitet, wird das Wiedererkennen ad absurdum geführt. Der topologische Ausgangspunkt des lyrischen Subjekts geht in einer Bewegung der poetischen Verirrung und der kognitiven Verwirrung auf, die jegliche Verortung unmöglich machen. Dadurch, dass die existentielle Unortbarkeit vornehmlich an die Erinnerungen und deren Verzerrungen geknüpft ist, wird die Verzweiflung verständlich, die als Wut über die Unzuverlässigkeit und Unbändigkeit des Gedächtnisses laut wird. 30 Die von Widersprüchen, Instabilität und Brüchen gekennzeichnete Poetisierung einer dem Dichter vertrauten Straße verdeutlicht einmal mehr das Spannungsfeld zwischen Zuhause-Sein und Unbehaustheit. Die Ausgrenzung aus Kuba als annihilierende Erfahrung und unbenennbares Trauma verdüstert und verunsichert den an und für sich sicheren Raum des Exils. Anhand der sich auflösenden Ordnungsstrukturen lässt sich bei Triana ein Aufweichen bis hin zum Zusammenbruch von Raumstrukturen beobachten. Beim Durchschreiten des Hauses in „Soné“ sowie beim Überqueren der Straße in FSD gehen Ausgangspunkt und Endziel verloren. Es geht nicht darum, von einer Seite zur anderen zu gelangen. Thematisiert wird gerade der Zwischenraum der Überquerung und damit der Bewegungsmoment, der sich grauenartig ins Unendliche ausweitet. Dem Exilanten ist buchstäblich der „Identitätsboden“ unter den Füßen weggezogen (vgl. Baronian u.a. 2007: 12). Daher befindet er sich im unsicheren, ungewissen und un-heimlichen Raum der Bewegung und des Dazwischen. 6.2.2 Zusammenkünfte In der transzendenten Lyrik Trianas strahlt das Haus eine starke Symbolkraft aus. Der Rückgriff auf dieses Motiv wirft die Frage nach dem des Heimisch-Seins auf, die uns am Beispiel der Gedichte Campoamors weiter beschäftigen wird. Durch die an den Alltag gebundene Lyrik dieser Dichterin weist die Poetisierung von Orten eine lebensweltliche Referenzialität auf. Dies ist einerseits auf den narrativen Stil ihrer poesía conversacional zurückzuführen, andererseits auf die biographisch motivierte poesía circunstancial, mit der die Dichterin gelebte Erfahrung poetisch inszeniert (vgl. 4.5.1 „Sprachwahl als Abgrenzung“). Ihre Anthologie Una, mujer que pasa y otros poemas (2004) setzt mit jedem Gedicht einzelne Szenen aus Havanna zusammen. Darin versetzt Campoamor den Leser mit intensiven Sinneseindrücken, einer Liebe zum Detail und einer mit leichter Ironie versetzten Melancholie unmittelbar in die Wirklichkeit Kubas zu Beginn der 1990er Jahre hinein. Die szenischen Gedichte schildern neben dem 30 Triana spricht in diesem Zusammenhang mit Bezug auf Marguerite Duras von einem „untröstlichen Gedächtnis“, einer „memoria inconsolable“ (1997: 45). 6.2 Ausgrenzung 211 „Poeta Joven“ (vgl. 5.4.1), die Alltagssorgen einer Frau, die auf der Straße am liebsten „miserable país de mierda“ herausschreien würde, dann aber doch schweigt („Una, mujer que pasa“, IP 103), ein Fest mit afrokubanischen Musikern in der Fischerbucht von Regla, einer Ortschaft, die östlich an die Hauptstadt Havanna angrenzt, getrennt von ihr durch die Bahía de la Habana („Wemilere“, IP 105), eine Begegnung mit italienischen Touristen, die den ökonomischen Mangel auf Kuba zum Thema hat („Party con italianos“, IP 106) und die Lesung einer Dichterin, deren enge Oberbekleidung eine fatal erotisierende Wirkung auf das männliche Publikum ausübt („La Poetisa“, IP 104). An dieser Stelle wird „Tertulia“ (TER, IP 107), das Campoamor - wie auch die oben genannten Gedichte - auf Kuba schrieb, für die Analyse herangezogen. Daran werden anhand der Semantisierung von Innenräumen Aspekte der Ausgrenzung veranschaulicht. Vergleichend hierzu wird „Poema 6: Patria de encargo“ (P6) untersucht, das nach ihrer Ausreise aus Kuba im Exil entstand und wie Trianas „Soñé“ Teil der 2011 erschienenen Antología de la poesía cubana del exilio ist (Alonso 2011: 61). Dabei lässt sich im Voraus schon vermuten, dass aufgrund des charakteristischen Erfahrungsmodus ihrer Poesie Differenzen zu beobachten sein werden. Der Vergleich zielt folglich darauf ab, diese Unterschiede hervorzuheben um zu zeigen, welche Auswirkungen das Exil auf das Dichten Campoamors hat. Tertulia 01 A las once y treinta de la noche 02 comienza la tertulia en la casa de 03 Johnny Ibañez, 04 Calzada de Managua. 05 Y es así desde antes que yo naciera. 06 Tiene una Ciudad Celeste, 07 tan lejos, tan cerca del ruido apestoso de la calle. In narrativem Stil erzählt das Gedicht „Tertulia“ (IP 79) von den allabendlichen Zusammenkünften bei Johnny Ibañez, einem kubanischen Intellektuellen, der für seine geheimen Treffen am Stadtrand Havannas bis in die 1990er Jahre bekannt war. 31 In der ersten Satzeinheit, die sich bis zum sieb- 31 Auch in Arenas’ Autobiographie Antes que anochezca findet sich ein Verweis auf Ibañez. Die repressive Stimmung im Kuba der 1980er Jahre und damit einhergehend die immer eingeschränkteren Möglichkeiten des intellektuellen Austausches außerhalb des ‚revolutionären’ Programms schildert Arenas wie folgt: „Las tertulias clandestinas se hacían cada vez más peligrosas y todos los escritores nos desplazábamos a casas particulares donde podíamos dar a conocer fragmentos de nuestras obras. [...] La casa de Ibañez era solitaria y estaba fuera de la ciudad de La Habana; una de las pocas casas del siglo dieciocho que aún se conversaban intactas, con 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 212 ten Vers zieht, erhält der Leser genaue Ortsreferenzen und Zeitangaben, die ihn unmittelbar ins nächtliche Havanna versetzen: Calzada de Managua, 23: 30 Uhr (V.1, 3). Die Straße liegt außerhalb von Havannas Zentrum im südlichen Stadtteil Mantilla. Wie bereits im Paratext der Widmung indiziert, haben die Zusammenkünfte einen mystisch-poetischen Charakter: Das Haus, in dem die „tertulias“ stattfinden, wird von Ibañez und seinen Freunden mit „Ciudad Celeste“ betitelt und beschreibt damit eine Stadt innerhalb der Stadt, einen himmlischen Ort geistiger Freiheit, der sich fernab der alltäglichen Wirklichkeit befindet und doch nicht ganz von ihr abgekoppelt ist. Mittels der Synästhesie des „stinkenden Lärms“ wird die Unbehaglichkeit des städtischen Außenraums in Kontrast zum schützenden Innenraum der „Ciudad Celeste“ gestellt (V.7). Gleichzeitig wird man durch die Intensität der Synästhesien noch stärker in die kubanische Wirklichkeit hineingezogen. In der dritten Satzeinheit wird der Kontext weiter konkretisiert und zeitlich in das typische Ambiente des período especial versetzt: 08 Allí su cara apergaminada de hambre y recuerdos 09 flota entre el bombillo verde 10 y el humo del cigarrillo Popular. 11 Ssssscht, sssssscht, sssscht 12 y Johnny se lleva su largo dedo seco 13 a la boca: 14 cierren esas bembas 15 aquí no se habla de política, ni de sexo, ni de Radio Martí, 16 nada que tenga que ver con el hambre compartido, 17 con los homosexuales 18 o el suicidio voluntario de la prensa, 19 nada, nada, nada de modas. 20 Las pobres ixoras se abren para nosotros y la madrugada 21 aprendan a escuchar 22 el doloroso parto de su perfume. Ibañez tritt in Vers 8 als eine vom Hunger ausgemergelte Figur auf, deren pergamentenes Gesicht von Falten durchzogenen ist. Er raucht die billige, in der Währung des kubanischen Peso erhältliche Zigarettenmarke Popular. Schwarzer Tabak füllt mit seinem Qualm das Zimmer aus. Die Rauchschwaden und das grünliche Licht einer Glühbirne ohne Lampenschirm hüllen Ibañez’ Gesicht ein, das in den Qualmwolken auf- und wieder untertaucht. Die Verwendung des Verbs „flotar“ verleiht der beschriebenen Szene eine Note des Irrealen (V.9-10). Deutlich ins Auge fällt Vers 11, enormes jardines y plantas que crecían desmesuradamente. Entrar en aquella casa era llegar a un sitio donde aún parecía que la Revolución de Fidel Castro no había arribado. Las tertulias comenzaban a las doce de la noche“ (2001: 160f). 6.2 Ausgrenzung 213 den die dreifache Onomatopeia „sssscht“ ausfüllt. Mit der Geste des vor den Mund geführten Fingers fordert der Hausherr die um ihn Versammelten auf zu schweigen. Der im kolloquialen, kubanischen Spanisch hervorgebrachte Imperativ, „den Mund zu halten“ - „cierran esas bembas“ (V.14) - geht mit einer genauen Anweisung einher, wovon nicht gesprochen werden soll: „Aquí no se habla de“ (V.15). An dieser Stelle integriert Campoamor in die Alltagsrede ihres narrativen Gedichtstils auch die Figurenrede: Johnny Ibañez ergreift das Wort und richtet sich an die in seinem Haus Versammelten. Zusammen mit dem prosaischen Stil erhält auch der außerweltliche Kontext in den poetischen Raum Einzug. Durch eine in aller Dichte aneinandergereihte Aufzählung werden die wichtigsten politischen und sozialen Konfliktfelder des período especial auf Kuba aufgeführt. Zu ihnen gehört der Hunger, unter dem die kubanische Bevölkerung seit dem Zusammenbruch des Ostblocks leidet (V.16), die Verfolgung Homosexueller (V.17) und der „freiwillige Selbstmord“ der Presse, also das Ende freier Meinungsbildung durch die Gleichschaltung der Medien (V.18). Dabei steigert sich die Anweisung des Sprechverbots in einer dreifachen Geminatio des Negationspartikels „nada“ (V.19). Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Ibañez dazu aufruft, Vorsicht mit offener Kritik an den herrschenden Verhältnissen walten zu lassen, denn Opposition kann im Überwachungsstaat Kubas jederzeit zum Verhängnis werden. Mit „nada de modas“ (V.19) wird jedoch darauf verwiesen, dass in Gesprächen - wie kraft einer Mode - die immer gleichen Themen vorherrschen: Politik, Sex und Radio Martí, 32 wie es in Vers 15 ausgedrückt wird. Die Intention des Gastgebers besteht vielmehr darin, genau diese sich ständig wiederholenden Diskurse ‚draußen’ zu lassen. In seiner „Ciudad Celeste“ fordert er die Versammelten dazu auf, einen davon freien Raum zu schaffen, in dem das Reden über die genannten Konflikte, die den kubanischen Alltag bestimmen, ausgegrenzt wird. Beim Erschaffen dieses Freiraums geht es ihm vor allem darum, das Alltagsleben in Poesie zu verwandeln. Ibañez’ macht seine Zuhörer darauf aufmerksam, das eigentlich Wichtige zu entdecken, das anbrechende Morgengrauen und die erblühenden Ixora-Pflanzen. Daraus genau sollen sie eine Lehre ziehen (V.20): „aprendan a escuchar / el doloroso parto de su perfume“ (V. 21-22). Mit diesem Imperativ appelliert er mittels der Synästhesie zwischen Hören und Riechen an die Wahrnehmung des Alltäglichen als Poesie. In einer leichten 32 Radio Martí ist ein exilkubanischer Sender, der von Miami aus betrieben wird und kritische Themen Kuba betreffend diskutiert. Vgl. http: / / www.martinoticias.com/ section/ radio/ 117.html. Zugriff: 06.12.2012. Die Ausstrahlung des Senders wird von Kuba aus kontrolliert. Ideologische Hardliner versuchen, Radio Martí auf Cuba durch „señales de interferencia“ zu blockieren, weil sie den Sender als Propagandainstrument der USA betrachten. Vgl. http: / / www.cubanet.org/ CNews/ y02/ feb02/ 28o6.htm. Zugriff: 06.12.2012. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 214 Ironie spiegeln die letzten Verse des Gedichts die Reaktion der Zuhörer auf die Rede des Gastgebers wider: 23 En la tertulia de Johnny 24 la gente, casi entendiendo, sonríe, 25 y escucha a las ixoras perfumar la noche 26 tomando té de tamarindo. Sie lächeln und während sie den Ixora-Pflanzen beim Parfümieren der Nacht lauschen und dabei Tamarindentee trinken, begreifen sie fast, was Johnny Ibañez ihnen hat sagen wollen: Hat er sie doch in beinahe romantischer Manier dazu aufgefordert, die Unschuld der Natur, „las pobres ixoras“, wahrzunehmen und sich der verführerischen Intensität ihres Duftes hinzugeben. Der Kultur, d.h. dem von Menschen geschaffenen Unglück auf der Insel, steht die Bescheidenheit der Natur tröstend gegenüber, die das konflikthafte Außen in diesem Moment des poetischen Entdeckens ausschaltet. „Tertulia“ spielt auf stilistischer und inhaltlicher Ebene mit der Verquickung von Alltagshaftigkeit und Poesie: Die poetische Sprache wird im Narrativen aufgebrochen und das Prosaische wird umgekehrt wieder im Poetischen aufgelöst. Die Versammlungen im Haus Johnnys schaffen einen Freiraum, der das Außen ausgrenzt und so einen schützenden Innenraum bildet. Draußen bestimmen die immer gleichen Dauerthemen, der politische Diskurs, die Alltagskonflikte, der Hunger, und die Unfreiheit das Leben. Drinnen, in der „himmlischen Stadt“, herrschen Poesie und Freiheit. Insofern wird das Haus im Sinne Bachelards als Raum semantisiert, in dem sich die Imagination fernab der Realität verdichten und ausweiten kann (1967: 55). Hierbei tut sich jedoch auch eine Ambiguität auf: Der Appell, die Konflikte draußen zu lassen, integriert sie dialektisch in den Innenraum dadurch, dass ihnen im Gedicht an so zentraler Stelle Platz eingeräumt wird. Campoamors Verse sprechen explizit das aus, was nicht gesagt werden darf und worüber doch ständig im Geheimen geredet wird. So enthält das Gedicht in der Referenz auf die vom offiziellen Diskurs des Castro- Regimes tabuisierten Themen indirekt eine politische Botschaft. Die nächtlichen Zusammenkünfte weisen die Versammelten als Nonkonformisten im Hinblick auf die politischen Verhältnisse und die Beeinträchtigung der Grundrechte aus. Sie teilen ein gemeinsames Lebens- und Erlebenswissen über die Zustände des Außen. Doch in bewusstem Ausschluss dieses ständig gegenwärtigen Außen erschaffen sie sich einen Moment des Zusammenlebens durch ein Zusammen-Erleben, bei dem sie die Wirklichkeit im Drinnen neu erkennen und erfahren. Freiraum verschaffen sich die Versammelten folglich durch eine bewusste Selbst-Ausgrenzung von den sie erdrückenden, politisch-alltäglichen Diskursen. Im Entdecken des von Menschen unberührt Natürlichen und Bescheidenen setzen sie sich über 6.2 Ausgrenzung 215 die von Menschen so bedrückend gemachte Realität auf der Insel hinweg und widersetzen sich so einer konflikthaften Gegenwart, die sie in ihrer Freiheit einschränkt. Im Gedicht „Poema 6: Patria de encargo“ verliert sich dagegen die unmittelbare Vergegenwärtigung von Alltagsszenerien, die die auf Kuba verfasste Lyrik Campoamors kennzeichnet. In der folgenden Analyse möchte ich daher die These untermauern, dass sich dieser Bruch mit der referentiellen Konkretheit auf die Entfernung von Kuba durch das Exil zurückführen lässt. Poema 6: Patria de encargo 01 Vaya usted a saber 02 en qué rajadas fisuras preparas tu vuelta 03 tan lejos, tan escondida. 04 Quizás fingiendo 05 detrás de un color deslavado 06 patria de encargo 07 resonancias de otras épocas. 08 Sentarse en patios 09 donde los almendros crean sombras de voz baja 10 escuchar lenguas vaciadas de tiempo 11 sin temer 12 palabrear de cosas grandes. 13 Allí donde el apuro no está de visita, 14 la intimidad de lo mínimo que se desvanece 15 parece pena perdida. 16 ¿Y cómo hacen los demás 17 para sobrevivir a tanta pena? Das Gedicht wird mit der idiomatischen Wendung „Vaya usted a saber“ eingeleitet, die eine Ungewissheit andeutet und am Besten mit „wer weiß das schon“ zu übersetzen ist (V.1). Die Verwendung der Höflichkeitsform „usted“ sorgt auf pragmatischer Ebene für eine Uneindeutigkeit und Distanz im Anfangsvers, denn schon in Vers 2 findet ein Wechsel in die zweite Person Singular und damit eine persönliche Ansprache an ein lyrisches Du statt, das seine Rückkehr vorbereitet - aber wer weiß schon von wo und wohin und in welchem Zustand? Der Zielort der Rückkehr ist die „patria de encargo“, die einem unerbittlich auferlegte Heimat (V.6). 33 Will man den Standort des lyrischen Du im Unterschied zum Ort der Rückkehr bestimmen, so fällt die Isotopie der Entfernung ins Auge, die sich zunächst 33 Unerbittlich wurde deswegen ausgewählt, weil der Ausdruck „de encargo“ im kubanischen Spanisch auf die Attribuierung einer Person als „severa, rigurosa, intransigente“ verweist. Vgl. http: / / lema.rae.es/ drae/ ? val=encargo. Zugriff: 04.07.2012. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 216 in „lejos“ und „escondida“ ausdrückt (V.3), vor allem aber in der Metapher „rajadas fisuras“, die zerspaltenen Klüfte. Das zurückkehrende Du lässt sich in diesen Rissen verorten, einem Zwischenraum zwischen dem Hier und dem Dort. Weitere Metaphern verstärken die Semantisierung der räumlichen, aber auch der zeitlichen Entfernung von der Heimat, wie zum Beispiel die ausgewaschene Farbe, „un color deslavado“ (V. 5), die Klänge anderer Zeiten, „resonancias de otras épocas“ (V.7), und die von der Zeit entleerten Sprachen, „lenguas vaciadas del tiempo“ (V.10). Dass die Ungewissheit der Rückkehr mit dem Phänomen der Auflösung einhergeht, drückt sich vor allem in der Verwendung des Verbs „desvanecer“ aus: Die „Intimität des Minimalen“ und mit ihr die intimen Details, ja alles Konkrete gehen verloren (V.14). Dadurch entsteht eine Semantik der Ferne, die verdeutlicht, dass es sich nicht um eine faktische ‚Heimreise’ handelt, sondern um eine Rückkehr, die sich in der Imagination und mittels der Erinnerungen vollzieht. Gerade dadurch, dass die „otras épocas“ so weit entfernt sind, erscheint es mühsam, die verschwimmenden und verwaschenen Erinnerungen daran zum Erklingen und Aufleuchten zu bringen. Die Rückkehr in die Erinnerungen und insbesondere die zurückkehrende Erinnerung an die Heimat erscheinen somit als Trugschluss, was durch „quizás fingiendo“ zum Ausdruck kommt (V.4). Im dritten, durch ein fehlendes Subjekt unvollständigen Satz, der von Vers 8 bis 12 reicht, werden schlaglichtartig Szenerien hervorgerufen, die, könnte die Dichterin in ihre Heimat zurückkehren, sich sofort mit Leben und konkreten Erfahrungen füllen würden: Sich in Innenhöfe zu setzen (V.8), Stimmen zu hören (V.10), angstfrei große Worte zu verlieren (V.11-12). Die Aneinanderreihung von Infinitiven verleiht der Passage etwas inkohärent Bruchstückhaftes, das sich auch durch den darauffolgenden Satz zieht, der mit einem Adverbial- und einem Relativsatz ebenso unvollständig ist wie der vorangegangene. Dass sich die implizite, sprechende Instanz damit in einen anderen Raum hineinversetzt, wird durch die adverbiale Bestimmung des Ortes „allí“ deutlich: Dort, im Innenhof, herrscht keine Eile vor (V.13). Dass aber genau dieser Ort unerreichbar ist und sich dessen Intimität verliert, zeigt die Alliteration „parece pena perdida“ (V.14). Es scheint, als würde sich damit der Versuch, sich erinnernd Bilder dieses anderen Zeit-Raum-Gefü-ges vor Augen zu malen, als eine vergebliche Mühe erweisen. Die ins Offene zielende Frage, mit der das Gedicht schließt, unterstützt die Semantik der Frustration und des Leidens, die heimatlichen Räume nicht betreten zu können: Wie machen es die anderen, in solchem Schmerz zu überleben? (V.16-17). Im Vergleich zwischen „Tertulia“ und „Poema 6“ fallen deutliche Unterschiede ins Auge: Im Gegensatz zu der poetischen Inszenierung der Zusammenkünfte bei Johnny Ibañez, die von einer detaillierten Konkretheit und einer unmittelbaren Lebendigkeit zeugt, herrscht in „Poema 6“ 6.2 Ausgrenzung 217 eine Verschwommenheit und Fragmenthaftigkeit vor, die bis in die Ebene der Pragmatik reicht. Wer ist das angesprochene Du, das unbestimmte „man“ der Infinitive und wer sind die anderen, die auch mit dem Schmerz überleben müssen? Während der Leser in TER durch genaue Zeitangaben, Ortsreferenzen und Kontextbestimmungen in die kubanische Gegenwart des período especial versetzt wird, bleiben Kontext, Standortbestimmung und Sprechsituation in P6 blass und diffus. Besonders vor dem Hintergrund des alltags- und erfahrungshaften Modus, die Campoamors Gedichte kennzeichnen, spiegelt P6 die Unmöglichkeit wider, in der raum-zeitlichen Entfernung die Lebendigkeit des „allí“ poetisch zu erzeugen. Besonders die Metapher der verwaschenen Farben steht für das Verblassen der Sinneswahrnehmungen und Alltagserfahrungen, hinter denen die sonst in der Sprache erzeugte, so typische Lebendigkeit der Dichterin zurückgetreten ist. Die Kluft zwischen der Konkretheit und der Unbestimmtheit lässt sich auch im Vergleich der Rauminszenierungen in beiden Gedichten feststellen: „Tertulia“ thematisiert in einer für die Lyrik ungewöhnlichen außerweltlichen Referentialität Zusammenkünfte in einer faktisch existierenden Adresse von Havanna bei einem empirischen Freund der Dichterin. In „Poema 6“ verweisen die unbestimmten „patios“ im Plural hingegen auf Innenhöfe, in denen durch „voz baja“ und die Verben „escuchar“ und „palabrear“ zwar auf eine Gesprächssituation angespielt wird, ohne dass diese jedoch mit Leben gefüllt wäre. Während Campoamor in TER die Figurenrede stilistisch dazu einsetzt, die Wirkung der Szene noch unmittelbarer zu gestalten, sind sprechende Personen in P6 gänzlich abwesend. An ihre Stelle treten Schatten leiser Stimmen und von der Zeit entleerte Sprachen. Auch hier fällt die Unbestimmtheit erzeugende Verwendung des Plural auf. In Anbetracht der Aussage Emilio Ichikawas, durch die „referentiellen Evokationen“ fühle er sich als Leser der Gedichte Campoamors „como en casa“ (Ichikawa 2005), muss man in Bezug auf P6 feststellen, wie erschreckend abwesend Kuba ist, die „patria de encargo“. Es scheint, als brauche die Dichterin die „Berührung mit der kraftspendenden Heimaterde“ zum poetischen Überleben (Franzbach 2001: 448). Durch die Ausgrenzung aus Kuba zeigt sich der Bezug zur Heimat bei Campoamor vor allem in Hinsicht auf das räumliche Erleben als unerbittlich und unumkehrbar. Denn die vertrauten Erlebnisräume, die konkrete Erfahrungen ermöglichen könnten, sind nur noch in der Erinnerung vorhanden und darin nicht wirklich zugänglich. Zwar versucht die Erinnerung Vergegenwärtigungen, aber die schwachen Schemen des Erinnerten können nicht mit der vitalen Fülle des Erlebens zusammenkommen. Das Evozieren von unbestimmten „patios“ wird somit zum Ausdruck einer Unbehaustheit, denn in der Semantisierung dieses fernen, blassen und entpersonalisierten Innenenraums spiegelt sich das Erleben der schwindenden Lebendigkeit der Erinne- 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 218 rungen, und damit des Heimatverlustes wider, dem die Dichterin im Exil ausgesetzt ist. 6.2.3 Havanna: Das verlorene Paradies In der Lyrik Navarretes spielt das Dichten über die Stadt eine besondere Rolle. An dieser Stelle wird untersucht, wie Havanna dichterisch (re)präsentiert wird. Der retrospektive Blick auf die Heimatstadt macht ihr identifikationsstiftendes Potential deutlich, lässt aber gleichzeitig die Ausgrenzung des Dichters von seiner Heimat erkennen. Wie Havanna dem Dichter zum persönlichen Gegenüber wird, zeigt das Gedicht „Ciudad“ (IP 133), in dem mittels einer Dialogsituation die Stadt als lyrisches Du personifiziert wird. 34 Ciudad 01 Debes llorar, procura hacerlo, 02 porque es el hombre quien echó 03 sal en tus ojos de vidrios, 04 clavó en tu torso antes esbelto 05 de colegiala azul su miedo, 06 ahuyentó las aves que hacían 07 de tu cielo una bóveda de cantos, 08 limó las últimas secuelas 09 de tu alegre sonrisa callejera 10 dejando un sollozo en donde 11 paseaba silueta hecha de alegría, 12 podó la ceiba de tus arrabales, 13 selló tu hambre de eterno señorío, 14 de estrella de horizontes, 15 mástil, rosa de vientos, vela. 16 Procura llorar mucho ciudad 17 porque una lágrima ha de borrar 18 ese dolor de hembra maltratada. Das Gedicht umfasst zwei Satzeinheiten in 18 kurzen Versen. Eingeleitet wird es durch einen Imperativ: „Debes llorar, procura hacerlo“ (V.1), der die dialogische Grundsituation auf der Ebene der Pragmatik verdeutlicht. 34 Eine Interpretation dieses Gedichts unter dem Thema der „personifizierten Städte“ findet sich in folgendem Artikel: Gremels, Andrea (2012): „Personificaciones de La Habana y París: posicionamientos (trans)culturales como formas de convivencia en la poesía de William Navarrete“. In: Ette, Ottmar / Kraume, Anne u.a. (Hg.): El Caribe como paradigma. Convivencias y coincidencias históricas, culturales y estéticas. Berlin: edition tranvía, 369-379. In diese vergleichende Analyse wurde auch das Gedicht „Soneto a una matrona“ aufgenommen (IP 135), das in 6.4.1 „Karnevalisierung von Paris“ untersucht wird. 6.2 Ausgrenzung 219 Die Verwendung des Verbs „llorar“ impliziert einen Schmerz oder besser eine Verletzung. Wo diese herrührt, zeigen die darauf folgenden Verse auf. Der Appell „procura llorar“ aus dem Eingangsvers, der am Anfang des zweiten Satzes mit Emphase wiederholt wird, wird vor dem Hintergrund der Brutalität begreiflich, die die Stadt erleiden muss. „El hombre“ (V.2), der Mensch - oder der Mann - ist hierfür verantwortlich. Die Grausamkeit seiner Taten findet auch hier in der Verwendung der Verben, wie „clavar“ (V.4), „ahuyentar“ (V.6) und „podar“ (V.10) Ausdruck. Die Stadt wird als verstümmelter Körper personifiziert: Die Metaphern „ojos echados sal“ (V.3) und „torso clavado“ (V.4) verweisen auf die verletzten Körperteile, in den Bildern „sonrisa limada“ (V.8) und „hambre sellado“ (V.13) spiegelt sich eine gebrochene Vitalität. Dass es sich um den Körper einer jungen Frau handelt, verdeutlicht die Charakterisierung der Stadt als „colegiala“ (V.5) und „hembra maltratada“, wie es im letzten Gedichtvers heißt. Die Isotopie der be- und geschädigten Jugend verweist auf die Wehrlosigkeit des personifizierten Stadtkörpers. Die zerstörerische Wirkung verstärkt sich im Kontrast zur jugendlichen Unschuld, die voller Erwartungen, Hoffnungen und Träume in eine vielversprechende Zukunft blickt. Vor allem im Lächeln, „tu alegre sonrisa callejera“ (V.9), drückt sich die frohgemute und hoffnungsvolle Schönheit der Jugend aus, die Bilder „una bóveda de cantos“ (V.7) und „estrella de horizontes“ vermitteln darüber hinaus ein Freiheitsgefühl, dessen Zukunftszugewandtheit durch das Evozieren eines Schiffes mit Segel und Mast verstärkt wird (V.15). Vor der Zerstörung glich die Stadt einem Paradies, lassen diese Bilder den Leser wissen. Der Dichter gibt sich somit als Liebender zu erkennen, der Havanna mit einer „declaración de amor“ als verlorenes Paradies poetisiert (Gremels 2012: 372). Die Semantik der Zerstörung wird folglich von einer Liebeserklärung unterfangen, in der sich nostalgisch der Wunsch äußert, das Verlorene zurückzugewinnen, der Zerstörung die Schönheit und den Fortschritt entgegenzusetzen, die Menschen so gewaltsam vernichtet haben. Die Personifikation Havannas als einen durch menschliche Gewalt malträtierten Frauenkörper wirft die Frage auf, welche Art der Brutalität und Zerstörung die Stadt eigentlich erleidet, obwohl sie doch bei und seit der Revolution kein Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen war. Navarretes Stadtgedicht reiht sich damit in einen aktuellen Diskurs unter kubanischen Intellektuellen ein, die seit den 1990er Jahren den zunehmenden materiellen und architektonischen Verfall Havannas thematisieren, indem sie Havanna als Ruinenstadt in einer Art Nachkriegsszenario stilisieren: „[A] inicios de los años noventa, La Habana era una ciudad muerta. A la espera de más bombardeos aunque nunca hubiese sido bombardeada.“ 35 Für den „Ruinologen” Antonio José Ponte sind die einfallenden und ver- 35 Ponte, Antonio José (2007): La fiesta vigilada. Madrid: Anagrama, 72. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 220 fallenen Häuser Havannas Symbol für das Scheitern der kubanischen Revolution. Die Ideologie, einen „neuen Menschen“ zu schaffen und so die Utopie eines idealen Zusammenlebens zu verwirklichen, scheitert in der ideologischen Verengung eines totalitären Regimes, das die Stadt mit seinen politischen Diskursen, vor allem mit seiner antiimperialistischen Propaganda, ruiniert hat. 36 De la Nuez spricht von Havanna als „destruida no por las bombas, sino por el efecto demoledor del discurso“ (1998: 69). 37 Auch Navarrete bezieht sich auf den „Ruinen“-Diskurs, indem er sagt: Es una ciudad que se ha derrumbado, que se ha caído. […] La Habana está más o menos cerca de una o cataclismo sin que haya habido guerra, que es lo peor. Yo hice este poema pensando en La Habana que es mi ciudad a la que no he regresado (A.IV 324f). Dieses Zitat zeigt, dass die Verletzungen, die der Stadt angetan worden sind, eigentlich nicht in der aktiven, tätlichen Zerstörung, sondern im Nicht-Agieren besteht, im Nicht-Handeln einer Revolution, die sich in einem Zustand der Bewegungslosigkeit seit über 50 Jahren perpetuiert, während ihre Ideale zunehmend zerfallen. Gegen diese Bewegungslosigkeit und ideologische Starre begehrt Navarrete mit seinem Gedicht dadurch auf, dass er das eigentliche - aber nunmehr einstige - Zukunftspotential der „jungen“ Stadt Havanna schwärmerisch aus den Ruinen hervorhebt und damit mittels des retrospektiven Blicks das Potential der Stadt prospektiv hervorhebt. In dieser Laudatio an ‚seine’ Stadt steckt eine tröstende Geste, die mittels des Dialogs zwischen dem lyrischen Ich und dem Du der personifizierten Stadt explizit zur Sprache gebracht wird: In dem Appell an das „geschundene Mädchen“ zu weinen, um so seinen Schmerz zu lindern und gar auszulöschen, „borrar ese dolor“ (V.17-18), verbirgt sich ein empathisches Mitgefühl dem Du gegenüber. Diese tröstende Sprachhandlung, die Navarrete in seinem Gedicht inszeniert, verweist aber gleichzeitig auf die 36 Im Dokumentarfilm La Habana - Arte Nuevo de hacer ruinas des deutschen Regisseurs Florian Borchmeyer äußert sich Ponte wie folgt: „Todo el discurso de Fidel Castro [...] se basa en la invasión norteamericana. [...] Para legitimar arquitectónicamente ese discurso político la ciudad tiene el aspecto de haber sido [...] invadida. [...] Como la invasión no tuvo lugar nosotros somos la ruina falsa de esa invasión. De esa guerra que no fue.“ (Ponte, Antonio José in: Borchmeyer, Florian / Hentschler, Matthias 2007: min. 49: 05- 51: 06). 37 Diesen Diskurs entdeckt auch Anja Hardt in ihrer Untersuchung der Texte von Leonardo Padura, dessen Kriminalromane international bekannt sind. In seinem Roman Pasado Perfecto (2000) heißt es, das Havanna der 1990er Jahre entspräche einer „especie de paisaje después de una batalla casi devastadora“ (Barcelona: Tusquets, 18). Vgl. Hardt, Anja (2010): Stadträume zwischen utopía & desencanto. Havanna in der Kriminaltetralogie von Leonardo Padura Fuentes. Abschlussarbeit zur Erlangung des Magistergrades. Frankfurt: n.v., 103. 6.2 Ausgrenzung 221 außenseitige Position des Dichters. Ganz und gar aus Kuba ausgegrenzt, kann er nichts für Havanna, seine geliebte Stadt, tun. Unfähig die städtische Zerstörung aufzuhalten, bleiben ihm nur die Ideale vergangener Schönheit und die Anteilnahme, der Geschändeten Trost zuzurufen. Die Drastik dieser Situation zeigt sich in einem weiteren Gedicht Navarretes aus seiner Anthologie Edad de miedo al frío, das den Titel „Manjar de Dioses“ trägt und ebenfalls die Zerstörung Havannas zum Gegenstand hat. 38 Die deiktische Grundsituation stellt sich ebenso wie in „Ciudad“ dar: Mit einem einleitenden Appell tritt das lyrische Ich in einen Dialog mit der Stadt. Manjar de Dioses 01 Debes morir ahora, entregarte sin requiebros. 02 Dioses ajenos a tu sangre dulce ignoran tu cara, 03 soñolientos encienden el fuego de la pira, 04 incineran tus vigas, 05 vuelven polvo blanco tus fustes, 06 idolatran a otros dioses 07 de cera, 08 se disputan en jauría 09 los cristales de tus mieles 10 expuestas al ardor. Die Aufforderung „debes llorar“ in „Ciudad“ steigert sich hierin im Imperativ „debes morir ahora“: die Stadt soll jetzt sterben, sich widerstandslos ausliefern: „entregarte sin requiebros“ (V.1). In diesem vierstrophigen Gedicht ist nicht der Mensch, sondern ferne Götter, „Dioses ajenos“ (V.2), für die Zerstörung der Stadt verantwortlich. Sie zünden den Scheiterhaufen an (V.3), auf dem die Balken der Stadt verbrannt (V.4), ihre Säulen in Staub verwandelt werden (V.5). Die Götter machen die Stadt ‚dem Erdboden gleich’. Die Semantik des Brennens, „encender“, „incinerar“, „volver polvo“, „expuesto al ardor“, evoziert Szenen der Inquisition. Die Isotopie der Zerstörung ist so von einer Semantik des willentlichen Vernichtens durch Tatenlosigkeit geprägt. Die Destruktion tritt wie in „Ciudad“ in Opposition zur Lebendigkeit und süßen Schönheit der personifizierten Stadt, die mit den Bildern „tu sangre dulce“ (V.2), „los cristales de tus mieles“ (V.9) und „tus gracias“ (V.16) charakterisiert wird. Der das Gedicht einleitende Appell wird als Anapher in der letzten Strophe wiederholt: 38 Navarrete, William (2005): „Manjar de Dioses“. In: Edad de miedo al frío y otros poemas. Valencia: Aduana Vieja, 22f. Im Folgenden MD. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 222 19 Debes morir ahora 20 espectro disfrazado, 21 silencio sordo, 22 polvo estelar, 23 fruta seca, 24 extinguido aroma, 25 perla 26 Habana Die Semantik der Auflösung wird hier auch auf formaler Ebene sichtbar, denn die Schreibbewegungen laufen auf eine Minimierung zu: die letzten beiden Verse sind mit nur einem Wort ausgefüllt und heben damit emphatisch die „Perle Havanna“ in den Vordergrund. Diese Attribuierung steht intertextuell in Verbindung mit Gómez de Avellanedas Sonett „Al partir“, das den Abschied von Kuba zum Thema hat und in schwärmerischer Manier mit den Interjektionen „¡Perla del mar! ¡Estrella del occidente! / ¡Hermosa Cuba! “ beginnt (Avellaneda [1836]2003: 152). 39 Das lyrische Ich richtet sich im Aufbruch, „al partir“, mit romantischem Impetus an Kuba, die paradiesische Heimat, der es in seinem Abschiedsgruß zuruft: „¡Adiós! , ¡patria feliz, edén querido! “ (V.9). Während bei Avellaneda die Insel als Perle des Meeres bezeichnet wird, ist es bei Navarrete die Stadt Havanna. In semantischer Umkehrung der Verse Avellanedas hat sich ihr Sternenglanz in Sternenstaub verwandelt (V.22). Die Verfallssemantik spiegelt sich in der gesamten Strophe wider, in der Alliteration des „silencio sordo“, die pleonastisch auf eine gehörbzw. geräuschlose Stille verweist (V.21), dem Naturmotiv der „vertrockneten Frucht“ (V.23) und schließlich dem „ausgelöschten Geschmack“ (V.24). Die Verwendung des Adjektivs „extinguido“ ist mit einer Todesmetaphorik nuanciert, die Aufschluss über die zentrale Aussage des Gedichts gibt. Das lyrische Ich wünscht der Stadt Havanna den sofortigen Tod, um ihre Qualen eines langsamen Sterbens zu lindern. Ihre Lebendigkeit ist bereits erloschen: Sie hat sich in ein „espectro disfrazado“ (V.20), ein unkenntlich verhülltes Phantom verwandelt. Schicksalshaft ist Havanna einer schleichenden, unaufhaltsamen Zerstörung ausgesetzt, die sie zu einem kränkelnden, sinnlosen Dasein verurteilt. Das lyrische Ich richtet sich also an das Du der Stadt, die ihre Identität und damit das Eigentliche ihres Lebens verloren hat. Dies unterstreichen die Anfangsverse der zweiten und dritten Strophe: 39 Avellanedas Gedicht „La vuelta a la patria“ von 1860 steigt mit dem fast gleichen Versen ein: „¡Perla del mar! ¡Cuba hermosa! “ (2003: 130). Beide Gedichte können autobiographisch gelesen werden. Die Dichterin verließ Kuba im Jahr 1836 und kehrte nach langer Abwesenheit 1859 erstmals wieder dorthin zurück. Eine biographische Lesart beider Gedichte stammt von Eyda Machín (1987): „Gertrudis Gómez de Avellaneda: La presencia de Cuba en su poesía“. In: Heydenreich, Titus (Hg.): Kuba. Geschichte - Wirtschaft - Kultur. München: Fink, 153-168. 6.2 Ausgrenzung 223 11 Si no mueres, errarás sobre las aguas 15 Si persistes, vagarás sin tierra Die Verben des richtungslosen Umherirrens, („errar“) und Umhertreibens („vagar“) warnen vor dem Standortverlust einer Stadt, die kurz davor ist, sich von der Erde loszulösen und buchstäblich den Boden unter den Füßen zu verlieren, um unlokalisierbar wie ein Geisterschiff auf dem Meer herumzutreiben. Mit dieser Metaphorik erfolgt gleichzeitig eine Parallelsetzung von Insel und Stadt. Die Bewegung ihres eigenen Abdriftens verweist auf eine Stadt-Insel, die standortgebunden der Auslöschung schon ausgeliefert ist, aber darüber hinaus standortlos in einer vagabundierenden Heimatlosigkeit sich zu verlieren und in der Weite des Meeres aufzugehen droht. 40 Dient diese Bildhaftigkeit Navarrete dazu, auf seinen eigenen heimatlosen Zustand im Spiegel einer von sich selbst entfremdeten und ziellos auf dem Meer umherirrenden Stadt hinzuweisen und damit der Unbehaustheit der Insel seine Heimatlosigkeit gegenüberzustellen? Mit einem perspektivisch durch die Ausgrenzung geschärften Blick inszeniert der Dichter das hoffnungslose dem Tode Entgegendämmern seines geliebten Havannas, dem er Erlösung durch schnellen Tod wünscht. In ihrem vertrocknenden, verdorrenden, dem Zerfall ausgelieferten Zustand verliert die Stadt ihr Identifikationspotential und spiegelt damit die Position des Exildichters wider, der seine Stadt immer weniger wiederzuerkennen vermag und sich zugleich weigert, sie in diesem hoffnungslosen Zustand anzuerkennen. Was ihm jedoch bleibt, ist die Liebe zu dieser einstigen „Perle“. Somit lässt sich analog zu Avellanedas Sonett auch Navarretes Gedicht als eine mit Nostalgie angereicherte Abschiedsgeste auffassen, in der der Perlenglanz Havannas noch einmal aufglimmt, bevor er endgültig verlischt. Die auf eine Minimierung zulaufende Schreibbewegung erweist sich darüber hinaus als eine auf das Schweigen hinauslaufende Sprachhandlung, mit der das Abschiednehmen als untröstliche Geste eines Ich vor dem Gegenüber seiner geliebten, doch todgeweihten Stadt verdichtet wird. 40 Fleischmann kommentiert die geographische Unbestimmtheit von Inseln wie folgt: „Als Orte ohne eindeutige Koordinaten navigieren [Inseln] im zeitlichen und räumlichen Irgendwo, wo alles möglich ist: das paradiesische Glück historisch beliebiger Vorgeschichte ebenso wie Tyrannei eines bösen Herrschers oder Zauberers, der, fernab von der Welt, ein grausames System der Unterdrückung aufrechterhalten kann“ (2004: 144). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 224 6.3 Eingrenzung In Navarretes Stadtgedichten wird Havanna als „verlorene Insel“ auf der Insel Kuba repräsentiert. In ihrer Mythologisierung und den nostalgischen Anklängen erscheint die Stadt als ein nicht mehr zu rettendes, verlorenes Inselparadies, das an einem weit entfernten, „scheinbar nicht mehr erreichbaren Ort gelegen“ ist (Fleischmann 2004: 142, 144). Dies verweist auf den Standort des Dichters selbst, der seine Insel aus der Perspektive des Heimatlos-Gewordenen betrachtet. Beide untersuchten Gedichte, „Ciudad“ und „Manjar de Dioses“ spielen mit der „Janusköpfigkeit des Inselbildes“, das stets in einer Doppelrolle zwischen „Glücks- und Unglücksbringerin“ oszilliert (vgl. Fleischmann 2004: 144). 41 Im Hinblick auf Raumkonfigurationen der Eingrenzung wird die Zwiespältigkeit dieses „Inselbildes“ zwischen „Versprechen“ und „Fluch“ tiefer gehend untersucht. (vgl. ebd.: 157). Die Insel kann als bildlich exemplarisches Modell für die Eingrenzung im Sinne der Isolation gelten. Dies ist etymologisch bereits im spanischen Begriff „aislamiento“ angelegt. „Las islas nos presentan las fronteras más definitivas“, so de la Nuez, sind sie doch vom Meer nach allen Seiten hin umschlossen (1998: 125). Die insulare Isolation besteht so vor allem darin, dass sich Fluchtmöglichkeiten schwierig gestalten (vgl. Fleischmann 2004: 151). Inseln können somit als eng und ausweglos wahrgenommen werden und im subjektiven Raumempfinden wie ein Gefängnis erscheinen. 42 Die in den Texten auftretenden Inselbilder und -vorstellungen, die nicht zuletzt auf eine „Inselmentalität“ hinweisen (Fleischmann 2004: 151) bzw. ein ‚insulares Selbstverständnis’ konstruieren, stehen im Zusammenhang mit dem Aspekt der Insel-Welt. Um dies aufzuzeigen möchte, habe ich drei recht heterogene Textbeispiele ausgewählt. Zunächst wird anhand des Gedichts „Islas“ noch ein weiterer Blick auf Navarretes Stadt-Dichtung geworfen. Darauffolgend wird die Dichtung Gilda Alfonsos herangezogen, um daran zu zeigen, wie sich ‚Inselbildungen’ mittels einer semiotischen und postmodern dezentrierenden Schreibweise konstituieren. Schließlich wird das eingrenzende Insel-Welt-Verhältnis in Zoé Valdés’ Romanen La 41 Vgl. auch Bitterli, Urs (1987): „Die exotische Insel“. In: Koebner, Thomas / Pickerodt, Gerhardt (Hg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt: Athenäum, 11-30, 16. 42 Fleischmann geht in seinen Ausführungen auf die historische Bedeutung von „Gefängnis-Inseln“ in Lateinamerika ein und macht darauf aufmerksam, dass diese zwar historisch gut aufgearbeitet sind, literaturwissenschaftlich hingegen weniger (2004: 150f). Eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf das Thema der Insel in seiner historischen und symbolischen Dimension als Gefängnis und Straflager entwirft Ette. Dabei nimmt er insbesondere auf Reinaldo Arenas’ Werk Bezug (2005: 148-151). 6.3 Eingrenzung 225 nada cotidiana und Café Nostalgia untersucht. 43 Trotz der Unterschiedlichkeit, die in Bezug auf Form, Stil und sogar Gattung zwischen diesen Texten bestehen, möchte ich zeigen, dass sich die Insel-Welt raumphänomenologisch in allen Beispielen auf ähnliche Weise widerspiegelt. 6.3.1 Inseln als Fraktionierung von Räumen Der Titel der Anthologie Ínsulas al pairo gewinnt in Bezug auf Ettes Begriff der Insel-Welt eine neue Dimension. Für seine Anthologie wählt Navarrete bewusst das Bild von Inseln inmitten des Meeres. Dabei ist die Metapher Insel schillernd: Sie kann für jedes Gedicht in der Anthologie stehen, sie kann sich aber auch auf die einzelnen Autoren beziehen oder auf die Gruppe der AutorInnen als eines kubanischen Archipels in Paris: „cada uno de estos poetas es como una isla, una isla que flota, una entidad que flota,“ wie es Navarrete beschreibt (A.II 316). Der Ausdruck „estar al pairo“ stammt aus der Navigation: Bevor Schiffe durch Dampfmaschinen und Motoren angetrieben wurden, waren sie auf den Wind angewiesen. Blieb dieser aus, so steckten die Segelschiffe auf dem Weg von Kuba nach Europa oder zurück inmitten des Atlantiks fest, ohne sich weiter fortbewegen zu können. Navarrete erklärt die Wahl des Titels folgendermaßen: „[E]stamos al pairo, porque estamos esperando que pase algo, algún viento favorable que […] nos permite avanzar un poquito“ (ebd.). Sowohl auf der „Insel der Inseln“ als auch auf allen anderen verstreuten „Inseln“ inmitten des Daseinsmeeres stecken daher viele Kubaner in einer „erzwungenen Bewegungslosigkeit“ (Ette 2005: 169) fest und warten auf einen „viento favorable“. Im Titel Ínsulas al pairo findet folglich eine Bewegungslosigkeit im Unterwegs-Sein Ausdruck. Er verbindet das Transitorische im Phänomen des Durchreisens mit der immobilen Isoliertheit von Inseln im Meer. 44 Aber nicht nur die AutorInnen der Anthologie kubanischer Lyrik in Paris gleichen den in Bewegungslosigkeit gefangenen Inseln auf dem Meer, sondern eigentlich ist Kuba selbst die „ínsula al pairo, cuya quietud se vuelve, con los años, ensordecedora, dejando a estos versos varados en una ciudad sin puerto“ („Prólogo“, IP 14). Mit diesen Gedanken aus der Einleitung zum Lyrikband spinnt Navarrete den Faden der Inselmetaphorik weiter, indem er die Assoziation weckt, die Gedichte seien auf ihrem Weg 43 In dieser vergleichenden Lesart läuft meine Interpretation von Café Nostalgia in die entgegengesetzte Richtung zu der Ettes. Denn er erörtert daran das Inselwelt- Phänomen (2005: 179f). 44 Die Inselmetaphorik wird in einigen kubanischen Lyrikanthologien aufgegriffen, vgl. z.B. Arcos, Jorge Luis (1999): Las palabras son islas. Havanna: Letras Cubanas; Lázaro, Felipe (1995): Poesía cubana, la isla entera. Madrid: Betania; oder auch in Anspielung auf Lezama Lima: Dés, Mihály: Noche insular. Antologia de poesía cubana. Barcelona: Ed. Lumen. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 226 förmlich ‚gestrandet’, nämlich in Paris, einer Stadt ohne Hafen. Sind sie also an einem Ort gelandet, wo sie eigentlich gar nicht hingehören sollten bzw. wollten? Der Zustand des bewegungslosen Abwartens im Oszillieren zwischen Hoffen und Hoffnungslosigkeit betont einmal mehr die starke Bezogenheit auf die Kerninsel Kuba. Im Folgenden wird ein weiteres Gedicht Navarretes aus der Anthologie Edad de miedo al frío aufgegriffen, um damit die Reflexion über die Insel- Welt einzuleiten. Es trägt den Titel „Islas“ (2005: 24). Daher erstaunt es, dass Navarrete dieses Gedicht nicht auch für die Anthologie Ínsulas al pairo ausgewählt hat. Einerseits reiht es sich in die für Navarrete charakteristische Stadtdichtung ein, die im Zusammenhang der Ausgrenzung bereits untersucht wurde. Die „Islas“ im Titel sind jedoch andererseits ein Hinweis auf das „a-isla-miento“ der Eingrenzung, der an dieser Stelle auf den Grund gegangen wird. Im Hinblick auf die Raummetaphorik ist dieses Gedicht deswegen von Interesse, weil darin nicht die ‚klassische‘ Bildkombination von Insel und Meer auftritt, sondern Städte als Inseln inszeniert werden. Es geht also nicht um abgrenzbare Entitäten - Stadtinseln - innerhalb eines komplexen urbanen Gebildes, sondern um die Gesamtheit einer Stadt, die mit der Metapher der Insel besetzt ist. Islas 01 Esta ciudad, islas habitadas 02 de un mundo extraño, 03 oprimido silencio, 04 es mi casa. 05 La camino como un niño a gatas 06 recoge del suelo una manzana 07 mordisqueada. En mi boca 08 la acidez vence el néctar 09 de las frutas limpias. 10 Esta ciudad, fantasma errante 11 de un paraíso extraviado 12 endulzado con recuerdos, 13 es mi cama. 14 La adormezco como un ave sin canto 15 toca con la rama de un árbol 16 una melodía. En mi garganta 17 el ruido hosco acalla la nota 18 de los cantares prístinos. 19 Esta ciudad, vacío, 20 me libra todo a ella. 6.3 Eingrenzung 227 Gleich zu Beginn des Gedichts fällt auf, dass mittels der Apposition die Stadt im Singular und die Inseln im Plural aufeinander bezogen werden. Dadurch wird die Stadt zu einem fraktionierten, d.h. zerteilten Raum, der sich aus einzelnen Inseln zusammensetzt. Dabei verweist die Metapher der bewohnten Inseln auf das Motiv der Isolation. Im Verlauf des Satzes kommt das Haus als drittes bildliches Element hinzu, wodurch „ciudad“, „islas habitadas“ und „mi casa“ (V.4) einander gleichgesetzt werden. Angesichts der Frage, wie das lyrische Ich die Stadt bewohnt, fällt neben dem Motiv der Isolation die widersprüchliche Überlagerung vom Außenraum „ciudad“ mit dem Innenraum „casa“ auf. Obwohl von „meinem Zuhause“ die Rede ist, sind Stadt und Haus in den ersten beiden Strophen auf einen Fremdraum, „un mundo extraño“ (V.2) verwiesen, in dem das lyrische Ich verloren erscheint. Diese Verlorenheit in der Fremde findet Ausdruck in der zweiten Strophe. Denn nicht nur bewohnt das lyrische Ich die Stadt, es „begeht“ sie auch: „La camino“, wie es in Vers 5 heißt. Dieses Gehen in der Stadt erfolgt nicht aufrechten Ganges, sondern gleicht dem Krabbeln eines Kindes auf allen Vieren (V.5). Der abgebissene Apfel (V.6-7), der wertlos am Boden liegt, verweist in seiner biblischen Metaphorik auf die Verbannung des lyrischen Ich aus einem Paradies, das es in dieser ihm fremden Stadt wiederzuerlangen versucht. Der Genuss paradiesisch süßer Früchte, „frutas limpias“, ist ihm jedoch verwehrt, da der Apfel einen bitteren Geschmack im Mund hinterlässt (V.7-9). In der dritten Strophe wird das Motiv des verlorenen Paradieses weitergesponnen. Darin erscheint jedoch nicht das lyrische Ich, sondern die Stadt als verirrtes Wesen, das aus dem Paradies verbannt wurde. Sie gleicht einem „fantasma errante / de un paraíso extraviado“ (V.10-11). Erneut findet auf formaler Ebene eine Parallelisierung statt, die die erste Strophe mit der dritten verbindet. Der räumlichen Überlagerung von Stadt, Inseln und Haus zu Beginn des Gedichts entspricht die von „ciudad“, „fantasma errante“ und „mi cama“ in der dritten Strophe (V.10, 13). Wieder sind Innenraum und Außenraum ineinander verflochten, wobei der innenräumliche Mikrokosmos noch weiter eingeengt wird und sich nun auf die Intimität des Bettes beschränkt. Die Innenräumlichkeit wird zusätzlich durch die Alliteration von „casa“ und „cama“ hervorgehoben. Auch die Handlung des Gehens in der Stadt erfährt eine Entsprechung: An die Stelle von „La camino“ rückt zu Beginn der vierten Strophe „La adormezco“ (V.14). Doch im Schlafenbzw. Zubettgehen findet das lyrische Ich keine geborgene Ruhe, sondern einen stummen Unfrieden, denn die einstigen Gesänge, „los cantares prístinos“ (V.18), werden von einem rauen Laut erstickt. Die Stimme bleibt ihm förmlich im Halse stecken. Hier tritt das Leitmotiv der Stille erneut auf, das in der Lyrik Navarretes häufig für den Erinnerungs- und Stimmverlust im Exil eingesetzt wird (vgl. 5.2.1 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 228 „El olvido: Das Verstumen der Stimme“). Wie im Gedicht „Elegía sin flor“ transportiert das Bild „ave sin canto“ aus „Islas“ (V.14) durch die Semantik gebrochener Stimmfähigkeit von Singvögeln den Verlust von Heimat (vgl. „pájaro sin canto“, EsF, V.10). Zudem wird bereits in der ersten Strophe mit „oprimido silencio“ (V.3) Unfrieden und Beunruhigung ob dieses bedrückenden Schweigens zum Ausdruck gebracht. Mit der Stille auf der sprachlichen geht die Leere auf der räumlichen Ebene einher. Mit einer weiteren Apposition in der letzten Strophe wird die Stadt mit der Leere gleichgesetzt (V.19), die das Ich umschließt, da sie sich ihm ganz hingibt, „me libra todo a ella“ (V.20). 45 Die Räumlichkeit, die durch die Bilder „ciudad“, „casa“, „cama“ dichterisch geschaffen wird, mündet in Navarretes Gedicht in einer isolierten Leere, von der das Ich eingeschlossen ist. So erzeugt „Islas“ keine räumliche Öffnung, sondern vielmehr eine räumliche Eingrenzung, die sich zur Enträumlichung steigert. So wird die Unbehaustheit des lyrischen Ich widergespiegelt. Doch zu welcher Stadt setzt sich der Dichter in Bezug, wenn er von „esta ciudad“ spricht? Richtet sich Navarrete etwa auch an Havanna, wie in so vielen seiner Gedichte oder ist „diese Stadt“ zugleich eine andere? Stellt man die Verirrtheit des lyrischen Ich in der zweiten Strophe der Verirrtheit der umhergeisternden Stadt in Strophe drei gegenüber, so kann man davon ausgehen, dass Navarrete die Stadt Paris, den zwar „begehbaren“ aber fremden Lebensraum des Exils, mit Havanna, der verlorenen, unzugänglich gewordenen Stadt, überlagert. Doch diese Überlagerung der Städte weist gleichzeitig auf eine räumliche Fraktionierung hin. Denn zwei als disparat erfahrene Stadträume werden zueinander in Bezug gesetzt, die als Inseln voneinander getrennt sind. Die Städte, die in „Islas“ als Räume der Eingrenzung inszeniert werden, spiegeln die Verortungsproblematik des lyrischen Ich wider, das weder in der einen noch in der anderen Stadt heimisch ist und sich in der Bezugnahme zu beiden Städten als insular eingegrenzt erfährt. Demnach findet sich das lyrische Ich in einem dritten Raum zwischen der einen und der anderen Stadt gefangen wieder. Damit ließe sich „esta ciudad“, wie sie in der letzten Strophe noch einmal auftritt, als noch eine weitere, imaginäre Stadt deuten, die in eben diesem identitätslos einsamen und unbewohnbaren Zwischenraum zu verorten ist, dessen Leere das Ich vollkommen überwältigt. In „Islas“ überlagern sich die Städte Havanna und Paris als Inseln, d.h. fraktionierte Räume, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, obwohl sie zueinander in keiner Beziehung stehen. Aus der Relationalität von Insel 45 An Stelle der gängigen Verwendung von „librarse de“ greift Navarrete hier mit der Präposition „a“ auf einen im Standardspanischen eher unüblichen Gallizismus zurück, der im Sinne von „entregarse“ bzw. „abandonarse“ verstanden werden kann. Vgl. http: / / lema.rae.es/ dpd/ ? key=librar. Zugriff: 08.09.2012. 6.3 Eingrenzung 229 und Insel ergibt sich im Hinblick auf das „Insel-Welt“-Phänomen ein unbewohnbarer Zwischenraum der Eingrenzung, eine in der Leere der Weder- Noch-Verortung gefangene ínsula al pairo. 6.3.2 Tierra encadenada Wie sich Insularität direkt in graphischer Form in den Textraum einzuschreiben vermag, zeigt Gilda Alfonsos Lyrik, der ein semiotisches Textverfahren zugrunde liegt. Wie bereits anhand von Tejeras Huir la espiral veranschaulicht, wird dadurch die Räumlichkeit der Textgestaltung in den Mittelpunkt gerückt (vgl. 5.3.3 „Stille und Resonanz“). Dabei geht es nicht mehr nur um die Substanz der Worte, sondern um deren Funktion im Raum (Barthes 1963: 211). Nach Roland Barthes umfasst die strukturalistische Tätigkeit zwei Operationen, die Zerlegung und das Arrangement: Indem man ein Objekt zerlegt, findet man in ihm „des fragments mobiles dont la situation différentielle engendre un certain sens“ (ebd.: 215). Die zu untersuchenden Gedichte „Duda“ (IP 68) und „Poética Política“ (IP 65) von Gilda Alfonso bestehen aus losen Wortfragmenten, durch deren Anordnung und Strukturierung im Textraum Wortfelder entstehen, die sich relational aufeinander beziehen und die, Derridas Begriff der Sinnstreuung gemäß, immer andere Bedeutungen hervorbringen. 46 Nach Barthes handelt es sich hierbei um skriptible Texte, deren Leseprozess gleichzeitig einen Akt der ré-écriture mit sich führt, die den Text immer neu entwirft (vgl. 1970: 10). Die Graphie nimmt dabei die pluralisierende Funktion im Sinne einer „cacographie intentionelle“ ein (ebd.: 15). Trotz dieser entgrenzenden, da Sinn pluralisierenden Schreibweise wird im Folgenden das Phänomen der Eingrenzung untersucht, um damit zu zeigen, wie die einzelnen Worteinheiten in ihrer differentiellen Qualität „n’ont d’existence significative que par leurs frontières“, die eine Einheit von der anderen trennt (Barthes 1963: 215). Alfonsos Gedichte verbinden das strukturalistische Textverfahren mit einer politischen Aussage. Das wird nicht nur am Titel „Poética política“ (PoP), sondern auch durch die Widmungen der jeweiligen Gedichte deutlich. Mit den Paratexten „al pueblo cubano“ („Duda“) und „para todos los cubanos“ („Poética política“) richtet sich die Dichterin aus dem Exil heraus an das Kollektiv aller Kubaner. Das Leitmotiv beider Gedichte stellt die Einsamkeit dar, die bereits als Schlüsselbegriff der Eingrenzung untersucht worden ist (vgl. 4.3). 46 Derrida, Jacques (1972): La dissémination. Paris: Seuil. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 230 Duda 01 Revelar 02 Que los sentidos 03 Y su latín 04 Cantan 05 Tierra solitaria 06 Revelar 07 Que el hombre 08 Y su ambición 09 Destruyen 10 Sin esfuerzo 11 Nuestro propio barro 12 Que no existirá más 13 Seguramente In der Vertikale enthält das Gedicht 13 Zeilen, in der Horizontale sind hauptsächlich drei Anordnungsebenen hervorzuheben. Das Verb „revelar“ befindet sich am linken äußeren Rand, die Verben „cantan“ und „destruyen“ in der äußersten rechten Position. Darüber hinaus gibt es vier mittig angelegte Wortfelder, zu denen vor allem die durch das Relativpronomen „que“ eingeleiteten Satzfragmente gehören (V.2, 4, 7, 12), um die sich wiederum andere Fragmente sammeln. Wie das Verb „revelar“ zu Beginn des Gedichts indiziert, wird mittels des semiotischen Verfahrens der Versuch unternommen etwas aufzudecken. Verbunden damit lässt das Arrangement der Wortfelder unterschiedliche Leserichtungen zu. Das Textfeld bildet bezüglich der Infinitive zwei Relativsätze ab, die sich in oppositioneller Semantik gegenüberstehen: „revelar que los sentidos y su latín cantan“ und „revelar que el hombre y su ambición destruyen“ (V.1-4 und 6-9). Der semiotische Bezug beider Satzfragmente macht den semantischen Kontrast zwischen dem „Singen der Sinne“ und der „Zerstörung des Menschen“ erkennbar. Ebenso könnte man alle links liegenden Wortfelder von oben nach unten lesen, so dass sich ein semantisches Bedeutungsfeld des sicheren Aufdeckens - „revelar seguramente“ - ergibt. Oder man könnte andersherum das rechte Wortfeld betrachten. Dann wird zu den Verben „cantan“ und „destruyen“ der Ausdruck „sin esfuerzo“ hinzugefügt. Daraus entstehen zwei neue Sinnzusammenhänge: das Singen der Sinne erscheint mühelos - „los sentidos cantan sin esfuerzo“. Zugleich wird aber auch die Zerstörung so qualifiziert, dass sie keiner Anstrengung bedarf: „[E]l hombre y su ambición destruyen sin esfuerzo“. Besonders hervorzuheben ist die Stellung der Worte „tierra solitaria“, die von den beiden über vier Verse verlaufenden Satzfragmenten eingerahmt und gleichzeitig in ihrer mittigen Position auffällig hervorgehoben sind. Durch diese zentrale Position wird es möglich, das Gedicht auch von 6.3 Eingrenzung 231 der Mitte her in alle anderen Richtungen zu lesen. Durch eine Verbindungslinie vom Singen zur Zerstörung liest sich die „tierra solitaria“ als ein kraftloses Besingen der einsamen Erde oder eben umgekehrt als ihre mühelose Zerstörung. Gleichzeitig veranschaulichen die graphischen Leerstellen um dieses Wortfeld herum die Isolation der „tierra solitaria“ im Textraum, so dass die Semantik der Verlassenheit durch das räumliche Arrangement unterstützt wird. Damit wird das Phänomen der Eingrenzung graphisch veranschaulicht. Zum unteren Gedichtabschnitt hin wird das „mühelose Zerstören“ erweitert durch das Satzfragment „Nuestro propio barro / Que no existirá más / seguramente“ (V.11-13), wobei die Zeilen durch ihre unterschiedliche Einrückung möglicherweise das Hin und Her eines Wellengangs verbildlichen können, der sich von der rechten Texthälfte hin zur linken bewegt und mit „seguramente“ abebbt. Die Verwendung von „barro“, Lehm bzw. Ton, ist besonders hervorzuheben, da es sich hierbei um ein Gemisch aus Erde und Wasser handelt und so mit einer Betonung des Tellurischen in Verbindung zur zentral angeordneten „tierra“ steht. Zudem wird mit „barro“ ein kollektiver Wir-Appell erzeugt, der die „erdhafte“ Zugehörigkeit betont. „Unser eigener Ton“, also das woraus das Kollektiv gemacht ist, wird vom Menschen und seinen Ambitionen zerstört und ist so einem zukünftigen Nicht-Existieren ausgeliefert. Die Erdhaftigkeit wird mit der Semantik der Auflösung kontrastiert, die wiederum durch die Fragmentierung auf der Ebene der Graphie untermauert wird. Somit veranschaulicht der Textraum selbst die Dissemination und Fragmentierung des „pueblo cubano“, an das dieses Gedicht gerichtet ist. Die semiotische Schreibweise ermöglicht so eine Produktion von „Textinseln“, die einerseits differentiell aufeinander bezogen sind und sich dadurch in ihren Sinngebungen stets wandeln und erweitern, die jedoch andererseits getrennt voneinander und damit solitär im Raum stehen bleiben. Dabei sticht die Bezogenheit der dezentralisierten Textinseln auf ein texträumliches Zentrum hervor, in dem die verlassene und damit isolierte Erde als eingegrenzte Entität versinnbildlicht wird. Im Kontext der kubanischen Diasporabewegungen lässt sich die zentrale Textinsel „tierra solitaria“ als Kerninsel verstehen, auf die sich die im Raum verstreuten Text-Archipel beziehen. Dieser insulare Textkern erhält seine „signifikative Existenz“ (Barthes 1963: 215) so vor allem durch die Isolation, die ihn von den anderen Text-Inseln trennt, sowie das „kubanische Volk“ von dem, was es eigentlich zusammenhält, getrennt ist. Das Thema des kollektiven Zusammenhalts und Selbstverständnisses tritt in „Poética Política“, das an die Gesamtheit „aller“ Kubaner gerichtet ist, noch stärker in Erscheinung. Wieder spielt das Motiv der Einsamkeit eine tragende Rolle. Darüber hinaus betreibt Alfonso in PoP ein ausgeprägtes 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 232 Spiel der Sinnvervielfältigungen durch syntaktische Überkreuzungen. So lässt sich die folgende Gedichtanalyse um die Aspekte der Spiegelung und des Echos erweitern, die Derrida in seiner poststruktualistischen Lesart am Beispiel von Stéphane Mallarmés Gedicht „Un Coup de dés“ hervorhebt. Diese Aspekte bilden die Grundlage zur Verdeutlichung seines Begriffs der Dissemination: Jedes Textfragment wird im Prozess der Spiegelung im anderen zugleich deformiert und verdoppelt (Derrida 1972: 387, 391). Damit zeigt er, wie zugleich jede Anwesenheit das Echo einer Abwesenheit ist. Spiegelung und Echo verweisen zwar auf einen realen und originären Ursprung, doch versinnbildlichen sie gleichzeitig den Prozess der Dezentralisierung. Denn das Zentrum ist niemals präsent. Es klingt im Zeichen echoartig nach und vervielfacht sich in der Spiegelung (ebd.: 391). 47 „Poética Política“ weist vier horizontale Gliederungsebenen auf. Dabei sind die Wortfelder überwiegend von der Mitte aus zur rechten Texthälfte hin angeordnet. Im Gegensatz zu „Duda“ wird durch dieses graphische Arrangement eher ein Textfluss erzeugt. Im Unterschied zur starken Fragmentierung und Isolierung in „Duda“ sind die Wortfelder vom ersten bis zum dreizehnten Vers insgesamt dichter miteinander verbunden: Poética política 01 Estamos juntos 02 Y no importa 03 Que el camino sea 04 Ya los días dejaron de ser 05 Esqueleto 06 Porque no siempre 07 Amanece la mañana 08 Estamos solos 09 Inhumanamente 10 En este baboso 11 Pedazo de noche 12 Eterna 13 Tierra encadenada 14 Sólo 15 Será un recuerdo 16 Sólo 17 Será un recuerdo Semantisch ist das Gedicht durch das Motiv der Nacht dominiert. Die ewig anhaltende nächtliche Dunkelheit grenzt den Tag aus: „Ya los días dejaron 47 Zur Verdeutlichung von Spiegelung und Echo nimmt Derrida an Mallarmés Gedicht eine intertextuelle Transformation vor. Im Zitieren des Originals „würfelt“ er die Textfelder der letzten beiden Gedichtseiten anders zusammen und reiht die dadurch entstandenen Fragmente neu aneinander (vgl. Derrida 1972: 389f). 6.3 Eingrenzung 233 de ser“, wie es der einzige in der linken Texthälfte angeordnete Vers verdeutlicht, der semantisch durch den Kausalsatz „porque no siempre / amanece la mañana“ erweitert wird (V.6-7). Das Gedicht lässt sich in drei Abschnitte unterteilen (V.1-7, V.8-13, V.14- 17), deren jeweils erste Verse in einem Spiegelungsverhältnis zueinander auf der zentralen Ebene stehen. In der Gegenüberstellung von „estamos juntos“ (V.1) und „estamos solos“ (V.8), die anapherisch miteinander verbunden sind, wird ein Paradox zwischen Zusammensein und Alleinsein eingeleitet: „Wir gehen zusammen den gleichen Weg entlang“ (V.3) und „Wir sind jeder allein in der nie enden wollenden Nacht gefangen“ (V.11- 13). Das erscheint zunächst wie ein Widerspruch. In der Spiegelungsfunktion schließen die Gegensätze einander jedoch nicht aus. Vielmehr ergänzen sie sich, was zu der gespiegelten Aussage führt: „Wir sind alle zusammen in einer nie enden wollenden Nacht allein.“ Eine Absolutsetzung erfährt der Zustand der Einsamkeit durch die Verwendung des Adjektivs „eterna“, das für sich eine gesamte Zeile ausfüllt (V.12). Darüber hinaus wird es im Enjambement gedoppelt, wodurch eine Überkreuzung der syntaktischen Strukturen entsteht: Das Wortfeld „Pedazo de noche / eterna“ (V.11-12) wird somit verschoben und in ein anderes Wortgefüge einreiht - „eterna / tierra encadenada“ (V.12-13). In dieser semiotischen Erweiterung verbindet „eterna“ auf der Ebene der Semantik die unendliche zeitliche Ausweitung mit der endlosen räumlichen Ausdehnung. Gleichzeitig werden „tierra“ und „noche“ zueinander in Bezug gesetzt, sodass die Nacht als zeitliche Kategorie zusätzlich mit der Funktion einer Raummetapher kombiniert wird. Diese Deutung wird dadurch unterstützt, dass von „diesem Stück Nacht“ die Rede ist. Wie in „Duda“ die „tierra solitaria“ erweist sich die „ewig in Ketten gelegte Erde“ hier als Schlüsselvers, der auf eine Gefangenschaft verweist, die im texträumlichen Arrangement von einer Semantik der Dunkelheit und Einsamkeit durchdrungen ist. Die Einsamkeit wird zum unteren Textraum hin noch einmal gespiegelt. In der ersten Zeile des letzten Gedichtabschnitts, die wie „estamos juntos“ und „estamos solos“ in die Mitte gerückt ist, steht das Wort „sólo“ - einsam und bezuglos im Textraum. Das unterstützt exemplarisch dessen Semantik. Doch ist es nicht referenzlos isoliert, denn seine Einzelstellung im Textraum steht im Bezug zu den anderen Worten. Zudem fungiert es auch als adverbiale Bestimmung in der letzten Satzeinheit „Sólo será un recuerdo“ (V.14-15), die darauffolgend in einer anderen graphischen Konstellation wiederholt wird (V.16-17). Die semiotische Echofunktion korrespondiert hierbei mit dem Echoeffekt auf der Ebene der Semantik. Denn eine Erinnerung taucht wie ein Echo der Erfahrung und damit als Spur des Gewesenen auf. Die dissémination wird dadurch deutlich, dass durch die Wortstellung des geechoten „sólo“ im vorletzten Vers zwei verschiedene Sinneinheiten 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 234 entstehen: „Será un recuerdo / sólo“ (V.15-16) und „Sólo / será un recuerdo“ (V.16-17). Wie „eterna“ in Vers 12 bildet also das Adverb „sólo“ in Vers 16 graphisch eine Spiegelfläche, die den Satz „será un recuerdo“ sinnstreuend erweitert: Die Erinnerung wird eine einzelne Erinnerung - unter vielen - sein oder sie wird nichts weiter als nur eine Erinnerung sein. Beide Bedeutungen implizieren eine an das Kollektiv aller Kubaner gerichtete Frage: Was bleibt uns von Kuba? Ist unser Weg für immer und ewig von Gefangenschaft, Einsamkeit und Dunkelheit bestimmt? Sind wir auf diese Weise isoliert? Mittels des semiotischen Textverfahrens gelingt es Alfonso, diese Isolationsmotive zu potenzieren. Durch konstante Dopplungen der Spiegelung und Pluralisierungen im Echo dehnt sich die Eingrenzung erweiternd aus. Diese Potenzierung der einsamen Dunkelheit demonstriert auch die Ebene der Pragmatik, auf der das Gefangensein in der Einsamkeit als das gemeinsame Schicksal erscheint, das alle KubanerInnen betrifft. Das Oxymoron in der Aussage „Wir sind zusammen allein“ verweist auf eine universalisierte Eingrenzung, die die Befindlichkeit der Kubaner innerhalb und außerhalb der Insel durch die semiotisch-fragmentierende Schreibweise zum Ausdruck bringt. Die isolierten Textinseln, die auf der graphischen Ebene hervorgebracht werden, veranschaulichen in ihrer texträumlichen Brüchigkeit letzthin auch die kulturräumliche DissemiNation Kubas (vgl. Bhabha 2004: 199f). Doch trotz der disseminierten Dezentralisierung steht die Insel in ihrer Einsamkeit im Mittelpunkt beider Gedichte Alfonsos. Sie steht symbolisch für ein verlassenes Zentrum, eine verlorene Erde. Betrachtet man in diesem Zusammenhang die „eterna tierra encadenada“ aus PoP, so erschließt sich neben der „in Ketten gelegten“ Erde noch ein wieterer Bedeutungshorizont. Denn „encadenar“ verweist auch auf den Prozess des Verkettens und damit wird ein weiterer Aspekt der universalisierten Insularität erkennbar: In der endlosen Ausweitung ihres „encadenamiento“ hält die Insel alle Kubaner in der Verkettung mit ihr gefangen. Das Paradox von isolierter Trennung und gleichzeitiger Verkettung macht wiederum das Phänomen der Insel-Welt sichtbar. Die „Insel“ vervielfältigt sich in der Welt, jedoch vollzieht sich im Prozess dieser Universalisierung dialektisch die Abschottung als eingrenzendes Geschehen. Die Trennung von der Insel, die als verlorenes Zentrum und als Echo in der Erinnerung fortlebt, weitet sich wie ein dunkler Raum der Gefangenschaft in alle Welt aus, der den Kubanern den Tagesanbruch verwehrt und sie in einer ausweglosen Nacht einsperrt. 6.3 Eingrenzung 235 6.3.3 Insel-Welt: Patria-Mar Nach Esther Whitfield gehört Zoé Valdés’ Roman La nada cotidiana (NC) 48 zu den „Gründungstexten“ der literatura del período especial bzw. des New Cuban Boom und dürfe in seiner Bedeutung als „major influence on the reception and production of Cuban literature in the 1990s“ nicht ignoriert werden (2008: 63). Der wegen seiner beißenden Revolutionskritik und pornographischen Passagen skandalträchtige und heftig umstrittene Roman wird allerdings im Hinblick auf seine literarische Qualität vielfach bemängelt. 49 Dies lässt sich unter anderem auf Valdés’ herbe und obszöne Sprache zurückführen. Diese wird wiederum unterschiedlich bewertet - als intendierte literarische Subversivität oder aber als banale Vulgarität literarischen Unvermögens. 50 Nanne Timmer klassifiziert den Roman als „testimonio urgente“, das aus einer provokativen Ich-Perspektive mit autobiographischen Elementen durchmischt in erbarmungslos deutlicher Direktheit das Scheitern des Projekts der kubanischen Revolution thematisiert (Timmer 2007: 265). 51 Ein Merkmal des systemkritischen Subtextes ist die textuelle Collage, die „dichos, consignas, aforismas, citas de escritores cubanos y jerga callejera“ miteinander kombiniert (ebd.: 267). Diese collagenartige „Retextualisierung“ und „Desemantisierung“ von Revolutionsparolen im Roman verweisen gemäß Carmen Faccini auf den sozialen, 48 Valdés Zoé (1995): La nada cotidiana. Barcelona: Emecé. 49 Zur Kritik von literaturwissenschaftlicher Seite vgl. 5.3.1 „Sprachliche Isolation in Paris“. Zu den Kritikern seitens der kubanischen Intellektuellen gehören u.a. Jesús Díaz, Abilio Estévez, Francisco López Sacha und Edel Morales, die Valdés auf der Basis ihrer Unterscheidung zwischen „wahrer“ und „falscher“ Literatur vom Kanon der kubanischen Gegenwartsliteratur ausschließen (vgl. Whitfield 2008: 63). Vgl. auch Nanne Timmer: „Se expresaron fuertes juicios de valor dentro de la comunidad cubana acerca de la calidad de la obra, acerca de la autenticidad o del oportunismo de su testimonio.“ In: „La crisis de representación en tres novelas cubanas: La nada cotidiana de Zoé Valdés, El pájaro, pincel y tinta china de Ena Lucia Portela y La última playa de Atilio Caballero“. In: Revista Iberoamericana LXXIII: 218, 266. 50 Ziemlich treffend bringt es Dennis Böhme in seiner Buchbesprechung von Café Nostalgia auf den Punkt: „Rätsel“ gebe Valdés ihren Lesern vor allem mit „einer zwischen hochpoetisch und banal oszillierenden Sprache auf. Eine Sprache, in der auf gossenhafte Vulgarismen hochgradig intellektuelle Verweise und literarische Reminiszenzen folgen.“ Böhme, Dennis (2007): „Im Exil: Über die Befindlichkeit der kubanischen Seele“. http: / / www.rezensionen.ch/ buchbesprechungen/ zoe_valdes_cafe_cuba/ 344273428 2.html. Zugriff: 20.07.2012. Zur Bewertung des „obsceno literario“ in seiner Funktion als „tropología de la fuga“ vgl. auch Vera-León, Antonio (2000): „Narraciones obscenas: Cabrera Infante, Reinaldo Arenas, Zoé Valdés“. In Ette / Reinstädler (Hg.), 177-191, 186f. 51 Mit dem Begriff des testimonio urgente bezieht sich Timmer auf das „autobiographische Modell“ von Reinaldo Arenas’ Antes que anochezca (2007: 265). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 236 ökonomischen und kulturellen Zerfall Kubas. 52 Ein Beispiel hierfür ist die Überschrift des ersten Kapitels, „Morir por la patria es vivir“, mit dem Valdés auf paratextueller Ebene eine Liedzeile der kubanischen Nationalhymne einfließen lässt. Die Worte „morir y vivir: el mismo verbo“, wie es später im Text heißt (NC 16), implizieren eine Umkehrung des Inhalts in „vivir por la patria es morir“ (vgl. Timmer 2007: 267). In der „Desemantisierung“ bzw. semantischen Verkehrung dieser patriotischen Parole spiegeln sich gegensätzliche Existenzfragen: Die Oxymora von toter Lebendigkeit und der lebendigen Todeshaftigkeit reflektieren auf drastische Art die Lebenserfahrung auf der Insel. Bemerkenswerterweise hebt sich dieses erste Kapitel, das hier in den Mittelpunkt der Romananalyse gestellt wird, in seinem „lyrisch-prosaischem Stil“ von der realistischen Schreibweise und dem sarkastisch-vulgärem Ton der Erzählung ab (vgl. Faccini 2007). Räumlich befindet sich die Protagonistin in einer unbestimmten Zone, in einem Zustand des Wachtraums oder auch des Drogenrausches (NC 17), in dem sie zunächst von einem Engel, dann von der geisterhaften Erscheinung des Nichts heimgesucht wird. In der mystischen Irrealität der Traumsituation wird die alltagshafte Sprache durch lyrische Passagen angereichert. In diesem Eingangskapitel spricht die Hauptfigur „desde un yo aislado alienado que no siente la vida“ (Timmer 2007: 271). Die personale Erzählsituation, die sich von der eigentlich im Roman vorherrschenden Ich-Perspektive unterscheidet, unterstützt diese Selbstdistanz und Selbstentfremdung. Die Protagonistin befindet sich allein, von allen anderen abgeschieden, in einem entleerten, unbeschriebenen Raum, den sie sich als umgeben von weiß getünchten Mauern vorstellt: „El espacio se transforma en nube blanca, pura. Podríamos imaginar un muro que acaba de ser pintado con lechada. Nadie se acerca de ella. Además, no hay nadie“ (NC 16). In der isolierten Leere existiert eine Atmosphäre der Gleichgültigkeit, die gleichzeitig mit einem Gefühl der Todesnähe einhergeht: „Ella es como cualquier mujer, salvo que abre los ojos a la manera de las mujeres que habitan las islas: hay una tranquila indiferencia en sus párpados. [...] Ella no cambia nunca, no cambiará. Morirá joven y con todos sus deseos“ (NC 15). Der isolierte Zustand des Leerraums, in dem sich die Protagonistin zwischen Wachen, Träumen und Fantasieren befindet, impliziert eine Fluchtbewegung: „Ella ama el gusto de la fuga, del viaje al vacío“ (NC 17). Flüchten erscheint jedoch nicht nur als Wunsch, dem „estado normal“ (ebd.) zu entkommen und sich in der Leere zu verlieren, sondern gleicht einer kol- 52 Faccini, Carmen (2007): „El discurso político de Zoé Valdés: La nada cotidiana y Te di la vida entera“. http: / / www.lehman.cuny.edu/ ciberletras/ v07/ faccini.html, Zugriff: 18.07.2012. 6.3 Eingrenzung 237 lektiven Verpflichtung aller Kubaner: „Perderse... Nosotros mismos... Uno debe partir... Allá habrá eternamente un sitio, un país que nos espera... Una nada que nos espera... Una nada enternecedora“ (NC 17). In dieser ellipsenhaften Passage wird umso deutlicher, dass die Flucht ins Nichts positiv konnotiert ist und als utopischer Ort herbeigesehnt wird, dessen Weichheit - mit dem Attribut „enternecedora“ belegt - im Gegensatz zur Härte der Realität steht. In der Fantasie ihres eigenen Todesmoments befindet sich die Protagonistin in einer Schwellensituation zwischen Paradies und Purgatorium. Die geisterhafte Erscheinung des Nichts trifft für sie die Entscheidung, sie zurück auf ihre Insel zu schicken. 53 So endet die „fantasía de la fuga“ (Vera-Leon 2000: 187) sukzessiv mit einer „vuelta del Purgatorio“ (Faccini 2007), die eine Rückkehr auf die Insel bedeutet (NC 20) und damit in die kubanische Realität des „täglichen Nichts“ (vgl. Titel). Die eigentliche Hölle, noch grausamer als Tod und Fegefeuer, ist das Leben auf Kuba, geprägt vom unentrinnbaren „exceso de vida obligatoria“ (NC 16). Dass die Topoi Paradies und Hölle, Insularität und Nichts nicht nur auf der Imaginationsebene der Flucht- und Todesfantasie eingesetzt werden, sondern vor allem auf die Realität anspielen, zeigt der erste Satz des Romans, der durch den Einsatz eben dieser Topoi pathetisch aufgeladen erscheint: „Ella viene de una isla que quiso construir el paraíso“ (NC 15). Mit diesem Satz nährt Valdés den janusköpfigen Inselmythos zwischen Versprechen und Fluch (vgl. Fleischmann 2004: 157). Die Verwendung des Präteritums indiziert bereits, dass das Paradiesversprechen der Vergangenheit angehört und in der Gegenwart gescheitert ist. Die ellipsenhafte Wiederholung dieses Satzes, mit der das Eingangskapitel abgeschlossen wird, steigert dessen Dramatik, indem es den höllischen Ausgang des Paradiesversprechens pointiert: „Esa isla que, queriendo construir el paraíso, ha creado el infierno“ (NC 20). Programmatisch überschreibt dieser Satz den gesamten Roman, der von einer klaustrophobischen Grundstimmung gekennzeichnet ist, die einem „höllenartigen“ Zustand der ausweglosen Eingrenzung gleichkommt, der schließlich auch in einer Gleichgültigkeit gegenüber der Fluchtfantasie und sogar dem Tod mündet: „¿Para qué nadar? ¿Para qué ahogarse? “ (ebd.) Das mehrfach konnotierte Nichts beschreibt vor allem einen identitären Leerraum, in dem die Protagonistin schreibend ihren Zustand der Entfremdung durch eine Identifikation mit ihrem Körper zu überkommen versucht 53 Mit den Worten des Nichts an die Protagonstin wird die lyrische Sprache aufgebrochen und erfährt die Umkehrung ins Alltagshaft-Banale, die so oft im Werk Valdés’ bemängelt wird: „Estamos en el Purgatorio. Usted está muerta. Y nosotros, los que decidimos, tenemos un grave problema con usted. Pues tiene cincuenta puntos para entrar en el Paraíso y cincuenta puntos para ganar el Infierno. Su alma es demasiado inocente para obtener el Infierno y fue lo suficientemente malvada para merecer el Paraíso. No podemos permitirle una estancia en el Purgatorio...“ (NC 19f) 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 238 (vgl. Timmer 2007: 267). Sie betrachtet sich nackt im Spiegel, ohne ihren Körper erinnernd als den eigenen wieder zu erkennen (NC 17). Und doch nimmt der Körper nicht die Funktion einer rettenden Insel ein, vielmehr ist die insulare Gefangenschaft in ihm eingeschrieben. Ausgezehrt von der nackten Leere auf der Insel ‚erzählt’ der Körper selbst die politische und ökonomische Situation auf Kuba: Tiene hambre y nada que comer. Su estómago comprende muy bien que debe resistir. En su isla, cada parte del cuerpo debía aprender a resistir. El sacrificio era la escena cotidiana, como la nada. Morir y vivir: el mismo verbo (NC 16). Wie Campoamors „Tertulia“ (vgl. 6.2.2 „Zusammenkünfte“) spielt auch diese Passage auf den ökonomischen Notstand des período especial an: den Hunger, den die Kubaner zu Beginn der 1990er Jahre durch die massive Unterversorgung mit Lebensmitteln auf der Insel erleiden mussten. Wie das obige Zitat verdeutlicht, ist der Körper Opfer dieser Zustände, fungiert aber gleichzeitig als ‚Ort’ des Widerstands. Doch in dem Versuch, ihn von der politischen, ökonomischen und ideologischen Situation auf der Insel zu befreien, ihn neu zu identifizieren und anders zu definieren, zeigt sich die totale Eingrenzung des von der Insel domestizierten Körpers: Ihm ist es unmöglich, sich als Ich außerhalb des insularen Gefängnisses zu verkörpern. 54 Auf die Spitze treibt Valdés diesen Körper-Insel-Diskurs mit dem Namen der Protagonistin, die von ihren Eltern „Patria“ genannt wird. Als Fidel Castro am 1. Mai 1959 auf dem Plaza de la Revolución eine Rede hält, platzt der Mutter, im neunten Monat schwanger, die Fruchtblase und die Wehen setzen ein: „Che Guevara le puso la bandera cubana en la barriga“ und so wird das Kind schon bei der Geburt triumphal von der Revolution gekürt, was die Eltern dazu bewegt, ihr an Stelle von Victoria, den noch symbolträchtigeren und vielversprechenderen Namen Patria zu geben (NC 21, 26). Ironisch inszeniert die Protagonistin schon in dieser Situation der Niederkunftsszene ihre pränatale, körperliche Auflehnung im Mutterleib als quasi politische Opposition: „[Y]o seguía jodiéndola, provocándole unos dolores del carajo. Y Fidel continuaba con su arenga más verde que las palmas. Y yo dando cabezazos, codazos, tortazos, queriendo huir de su cuerpo, de todas partes“ (NC 21). Dem hegemonialen, politischen Diskurs wird auch hier ein widerständiger Fluchtmoment entgegengesetzt. Später im Romanverlauf verwirft Patria ihren Namen und entscheidet sich für einen neuen, der in einer hybriden Zusammensetzung die Frauen Ca- 54 Die Befreiung des Körpers impliziert auch die Befreiung der Sprache, so Timmer: „Esto nos muestra la urgencia y, a la vez, la imposibilidad de convertir el cuerpo en palabras y encontrar un yo fuera de un marco político, ideológico y lingüístico“ (2007: 267). 6.3 Eingrenzung 239 sandra und Yocasta aus der griechischen Mythologie in sich vereint: Yocandra (vgl. Timmer 2007: 266). Im Moment ihrer Namensänderung, der gleichzeitig die Phase ihrer „Frau-Werdung“ markiert, beginnt auch das sich maßlos entäußernde Sexualleben der Protagonistin (vgl. ebd.). Die entgrenzte Lust erscheint dabei als einziger Fluchtweg von der Klaustrophobie des Alltags. Und doch können die sexuellen Ausschweifungen keine wirkliche Befreiung vom erdrückenden Insel-Gefängnis bewirken, das der Protagonistin die Luft abschneidet: „Yo nací asfixiada y aún me falta el aire“ (NC 28). Der politische Einheits-Diskurs der kubanischen Revolution erzeugt für die Widerständigen einen bedrückenden Zustand der Isolation auf der Insel. Gleichzeitig bezeugt der kubanische Alltag der 1990er Jahre, der Mangel an Lebensmitteln, die fehlende Elektrizität und die katastrophale Infrastruktur, dass das revolutionäre Regime an seinen Versprechen gescheitert ist. Indem das Regime aber in aller Beharrlichkeit an seinen Parolen festhält, isoliert es die Bewohner der Insel vom Rest der Welt in einem erdrückenden, ihr Leben einschränkenden Gefühl der Gefangenschaft. In dieser Isolation ist der Identitätskonflikt der Protagonistin zu verorten: In Bezug auf das Phänomen der Insel-Welt ist sie nicht nur eine auf ihrer Insel Eingesperrte, sondern in ihrer widerständigen Haltung auch eine sich von der vermeintlich nationalen Einheit und Einigkeit Ausgrenzende. Damit befindet sie sich in einem unauflösbaren Zustand der inbetweenness (vgl. Timmer 2007: 267), einem selbstentfremdeten, von der Enttäuschung des insularen Paradiesversprechens geprägten identitären Zwischenraum, einem „Leben auf dem Bindestrich“ zwischen Insel und Welt. 55 Im Dazwischen von Gefangenschaft und imaginärer Fluchtbewegung ist die räumliche Leere doppelt konnotiert. Denn die Janusköpfigkeit insularen Selbstverständnisses verbindet den „Fluch“ des täglichen Nichts mit dem „Versprechen“ der Flucht hin zu einem utopischen Außerhalb der Insel-Welt. Während La nada cotidiana von der konstanten Bewegung des Sich- Abkehrens von der Insel-Welt bestimmt ist, die die Bewegungslosigkeit und Gefangenschaft in diesem abgeschlossenen System nur noch mehr hervorhebt, thematisiert Valdés’ drei Jahre später erschienener Roman Café Nostalgia (CN) die permanente imaginierte Rückkehr zur Welt der Insel. Dies macht bereits der Titel explizit, denn er greift den Begriff der Nostalgie auf, der sich von den griechischen Worten nóstos (Rückkehr) und álgos 55 Vgl. hierzu Gustavo Pérez Firmats Metapher „life on a hyphen“, die sich auf das interkulturelle Phänomen der Cuban-Americans in den USA bezieht. Auch im Hinblick auf das Insel-Welt-Phänomen wirft das Leben auf dem Bindestrich die Frage nach der Zugehörigkeit auf, jedoch hier im ausschließenden als im einschließenden Sinn, wie er von Pérez-Firmat verstanden wird. Vgl. Pérez-Firmat, Gustavo (1999): Life on a Hyphen: the Cuban-American Way. Austin: University of Texas Press. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 240 (Schmerz) herleitet. Im Gegensatz zu NC, in dem jegliches Glücksversprechen auf ein utopisches Außerhalb der Insel projiziert wird, richten sich in CN Glücksphantasien in umgekehrter Richtung wieder an der Insel aus und zwar in den nostalgischen Erinnerungen aus dem Exil heraus. 56 Dass diese Nostalgie exemplarisch als Form der Eingrenzung verstanden werden kann, möchte ich hier zeigen. Auch dieser Roman trägt autobiographische Züge, denn die Protagonistin ist eine kubanische Fotografin, die in Paris lebt. Wie in NC erzählt der Roman aus der Ich-Perspektive von ihrem Lebensweg, bei dem „Liebe, Liebesleid und Liebesglück“ den größten Raum einnehmen. Doch das eigentliche Leitmotiv des Romans ist das unstillbare Heimweh der Kubaner, die ihre Insel verlassen haben (vgl. Böhme 2007). Dies wird in den Begegnungen der Protagonistin mit kubanischen ExilantInnen in Paris, Spanien, Miami und Südamerika in exzessiven Erinnerungssequenzen geschildert. Sprachlich und strukturell weist der Text die für Valdés so typische, collagenartige Erzählweise auf: Sprachlich durchsetzt mit Aphorismen, Intertexten und kubanischer Umgangssprache ergeben die zusammenhangslosen Einzelepisoden auf struktureller Ebene keinen kohärenten Handlungsverlauf. In der Gegenüberstellung beider Romane hinsichtlich des Insel-Welt- Phänomens ist vor allem der Perspektivwechsel von Interesse. Während NC den erdrückenden Alptraum auf Kuba aus dem Zustand des insilio schildert, handelt CN von den bedrückenden Träumen des exilio. Das Motiv des verlorenen Inselparadieses zieht sich jedoch weiter fort. Von Außen perspektiviert wird Kuba zur rettenden Insel nostalgisch verklärter Erinnerungen, die an die Stelle der Repräsentation einer nicht mehr zu rettenden Insel aus der Innenperspektive treten. Gleich zu Beginn des Romans wird das wehmütige Erinnern exzessiv eingesetzt, was die folgende Passage belegt. Auf einer Ausstellung interessiert sich ein kolumbianischer Künstler für ihren Namen. Dies nimmt die Protagonistin Marcela zum Anlass, über ihre Identität nachzudenken bzw. sie erinnernd zurückzuholen: Entonces quedé en blanco unos segundos; frente a mí una escultura en la cual predominaba como sugestión el tema marino ayudó a que recuperara mi cicatriz de nacimiento, la identidad. El encrespamiento del bronce trajo a 56 Sonia Behar macht darauf aufmerksam, dass die Nostalgie vor allem ein zeitliches Phänomen darstellt. So argumentiert sie, der Roman produziere „una nostalgia en la que el aspecto temporal prevalece sobre el espacial.“ Vgl. Behar, Sonia (2009): La caída del Hombre Nuevo. Narrativa cubana del „período especial”. New York: Peter Lang, 94. Meine Argumentation möchte den räumlichen Aspekt der Nostalgie hervorheben, im Sinne einer sehnsuchtsvollen Rückkehr in verlorene Räume, die die Nostalgie mit sich bringt. Insofern ist das Zusammenspiel beider Aspekte, des zeitlichen und des räumlichen, von besonderem Interesse. 6.3 Eingrenzung 241 mi memoria el olor del mar como referencia: letargo perfumado a guayaba, brisa sosegada debajo de la nariz como cuando sube la espuma del mamey en el vaso de cristal de la batidora eléctrica, eco sudado del mango acabado de transformarse en deliciosa tajada, candor del guarapo exprimido de la caña, jaibas saltarinas en el interior de las redes del pescador, uvas caletas, vaciadas dentro de una jícara, café hirviente colado en una teta de yute, caracoles recogidos en la arena y a mis tobillos vendrían en busca de refugio cientos de alocados peces...¡Ah, ya recuerdo! , exclamé retando a las neuronas; las tres letras de esta palabra son las mismas que las tres primeras de mi nombre. Mar... (CN 10) In einer endlos anmutenden Aufzählung entlockt die Protagonistin ihrem Gedächtnis mit sinnlicher Kraft die regionalen Besonderheiten Kubas: die tropischen Früchte „guayaba“, „mamey“ und „mango“, der Zuckerrohrsaft, Meerestiere wie Krebse, Muscheln und Fische, der Sand und schließlich: das Meer. So gibt Valdés auch in CN ihrer Protagonistin einen sprechenden Namen und vervollständigt damit das Inselbild von Festland und offenem Meer: Während Patria das oppressive Inselgefängnis verkörpert, symbolisiert Mar(cela) die entgrenzte Inselwelt. Programmatisch verbildlicht ihr Name die in der Welt verströmte kubanische Diaspora. Der Fluchtimperativ in NC, „debemos partir... nosotros mismos...“ (NC 17), der das Überleben und überhaupt Leben-Können als permanente Fantasie auf ein Außerhalb der Insel-Welt projiziert, hat sich in CN verwirklicht. Mar(cela) ist in der Welt zu Hause und führt als berühmte Fotografin ein kosmopolitisches Leben in transnationalen Bezügen zwischen New York und Paris. Und doch bleibt die Insel, „Aquella Isla“ wie sie in abgrenzender Distanznahme von der Protagonistin getauft wird, hauptsächlicher Bezugspunkt und Referenzrahmen der Erzählung. Dies führt dazu, dass sich Marcela, obwohl sie sich vornehmlich von „jener Insel“ abzugrenzen sucht, von der Welt abschottet, was auch ihre Positionierung zu Paris aufzeigt: „Siempre quise afincarme donde pudiera pasar anónima. Aquí [en París], nadie se mete en nada. [...] Por eso escogí esta ciudad, porque todavía una puede esconderse con cierta naturalidad“ (CN 23). Die Anonymität von Paris, wo sich niemand in die Affären des anderen einmischt, erscheint als wohltuende Antwort auf die starren Kontroll- und Überwachungsmechanismen, die auf Kuba vorherrschen und klaustrophobische Gefühle bei den Inselbewohnern verstärken. Indes liegt das identitätsstiftende Moment von CN nicht in der zentrifugalen Bewegung von der Insel hin zur Welt, sondern umgekehrt in der Zentripetalkraft, die die Protagonistin immer wieder von der Welt zurück zur Insel führt. Das Meer versinnbildlicht also nicht den Fluchtimpuls, sondern die Rückkehrfantasie und damit die konkrete Referenz auf die verlorene Heimat in der Karibik: „La etimología de mi nombre me lastima. Sí, porque la mayoría de las veces que leo sueño 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 242 con el mar, con su bramido oscuro, y no puedo abrir la ventana y husmear su proximidad“ (CN 13). Auch hier flüchtet sich die Protagonistin in eine unbestimmte Zone des Wachtraums, in der sie sich ihrem Heimweh hingibt. Beim Lesen träumt sich Marcela auf ihre Insel und malt sich die immer gleichen Bilder, Personen und Orte Havannas vor Augen: „[S]ueño tanto mientras leo y siempre con lo mismo, con arena y playa [...], con mi madre, con ciertos lugares de la ciudad que ni siquiera existen más en la ciudad original. Tal vez por eso sea mejor leerla y soñarla que vivirla, que olfatearla“ (CN 17). Die Inselbilder von Sand und Strand, dazu die Erinnerungen an Havanna und die Mutter bewirken eine nahezu klischeehaft besetzte Verklärung der verlorenen Heimat. Die Prozesse von Lesen und Träumen werden dabei als Erinnerung stiftende Impulse metatextuell reflektiert und so mit dem Schreiben in Beziehung gesetzt, womit sich die Autorin in ihren Text einschreibt. Denn nicht nur Lesen und Träumen, sondern das Schreiben selbst eröffnet einen Imaginationsraum, in dem die Insel wieder hergestellt wird. 57 Dieser Raum der Rückkehr ins Vertraute ist dem Identitätsverlust gegenüber resistent. Daher zieht Marcela den Zustand der „semivigilia“ der Realität vor (CN 18), die sie von ihrer Insel entfremdet und als Fremde in die Welt geworfen hat. Doch stellt sich die Frage, ob dieser Imaginationsraum den eigentlichen Freiraum gewährleisten kann: „cuando has probado el amargo trago de no ser libre, nunca más podrás saborear la libertad sin que te destroce los labios la mordida de la memoria. Ahora somos ilusoriamente libres - no sabemos que hacer con el peligro de la libertad“ (CN 20). Die Inselbilder sind Segen und Fluch, verheißend und beißend, zugleich. Das Erinnern stellt somit einen Prozess der nostalgischen Eingrenzung dar, der im permanenten Rückbezug auf Kuba ein insulares Selbstverständnis widerspiegelt, das die Protagonistin von der Welt isoliert. Von der Insularität gibt es kein Entkommen, weder im Negativen noch im Positiven, und dies gilt nicht nur auf individueller Ebene, sondern betrifft auch das kollektive Wir der Kubaner: „No nos desembarazaremos jamás del peso agónico de la isla, ni aunque vivamos en París, en Nueva York, en México, en Argentina, en Ecuador, en Miami, no nos libraremos ni así volvamos a vivir en La Habana. Algún día“ (NC 346). Mit „peso agónico“ spielt Valdés intertextuell auf Virgilio Piñeras Gedicht „La isla en peso“ aus dem Jahr 1943 an, dessen erste Verse, „La maldita circunstancia del agua por todas partes / 57 Das Leitmotiv des Erinnerns in CN wird von Isabel Alvarez Borland vor allem im Hinblick auf die intertextuellen Bezüge des Romans aufgeschlüsselt, der eine Vielzahl an Verweisen auf Marcel Prousts A la recherche du temps perdu enthält (vgl. auch Behar 2009: 92). Alvarez Borland geht so weit, Valdés in eine Reihe mit Rainer Maria Rilke, José Lezama Lima und Marcel Proust zu stellen. Vgl. Alvarez Borland, Isabel (2007): „‚Fertile Multiplicities’: Zoé Valdés and the Writers of the ´90s Generation“. In: O’Reilly Herrera, Andrea (Hg.), 253-266. 6.3 Eingrenzung 243 me obliga a sentarme en la mesa del café. / Si no pensara que el agua me rodea como un cancer / hubiera podido dormir a pierna suelta“, zum literarischen Bezugspunkt des insularen Selbstbildes der Kubaner avanciert sind. 58 Der für Piñeras Lyrik charakteristische sarkastische Grundton erscheint bei Valdés in pathetischer Romantisierung: das schmerzhafte Gewicht der Insel lastet auf allen Kubanern und hindert sie daran, in der Welt anzukommen, obwohl sie diese zunehmend „invadieren“: Cada vez somos más numerosos los desperdigados por el mundo. Estamos invadiendo los continentes; nosotros, típicos isleños que, una vez fuera, a lo único que podemos aspirar es al recuerdo. Aferrados al nombre de las calles apostamos a una geografía del sueño. Dormir es regresar un poco (NC 126). Die Insel zu überleben bzw. überhaupt auf ihr Leben zu können projiziert sich auf ein unbestimmtes Irgendwann, „algún día“, das topographisch nur in einer „Geografie des Traums“ lokalisierbar ist. Die imaginierte Insel ist der Ort, an dem die in der Welt verstreuten Kubaner wieder zusammengeführt werden können: „un sitio en el mundo, un espacio en mi isla imaginaria, un lugar donde por fin pudiéramos hallarnos todos reunidos“ (CN 312). Der nationale Diskurs des Einheitsversprechens, an dem die kubanische Revolution in der Realität so kläglich gescheitert ist, wird im kubanischen Exil weiter kultiviert und auch weiterhin in die Zukunft projiziert, wie die obige Passage zeigt. Während NC von der ständigen Resistenz gegen den essentialistischen Vereinheitlichungsdiskurs der Revolution geprägt ist, schlägt sich in CN eine essentialistische Tendenz zur Vereinheitlichung der nostalgisch verklärten Insel nieder, auf der doch wieder alle zusammengehören. Mit den Begriffen der filmischen Kameraeinstellung operiert, bedeutet dies: Kuba in der Nahaufnahme (close-up) ist die Hölle, Kuba aus der Totale (long-shot) bleibt das Paradies. 59 Beide Romane von Zoé Valdés nähren ein insulares Selbstverständnis, in dem die Doppelrolle des Inselbildes als „Glücks- und Unglücksbringerin“ eine entscheidende Rolle einnimmt (Fleischmann 2004: 142). Die Insel- Welt enthält sowohl den Fluch als auch das Versprechen des Inselpara- 58 Piñera, Virgilio (1994): „La isla en peso“. In: Ders.: Poesía y Crítica. México D.F.: Cien del Mundo, 45-57, 45. Das Gedicht schrieb Piñera im Jahr 1943, also lange vor der Revolution. Ähnlich wie im Fall Lezama Limas sind die Texte Piñeras nach ihrem Ausschluss im quinquenio gris wieder in den Kanon kubanischer Literatur aufgenommen worden. Auch Reinaldo Arenas schrieb eine Hommage unter dem Titel „La isla en peso con todas sus cucarachas“. In: Mariel 2 (1983), 20-24. 59 Der Bezug zum Filmischen drängt sich auf. Allein in den ersten zwei Kapiteln enthält CN acht Filmverweise: Auf die Klassiker Gone with the wind und Micheal Curtis’ Elizabeth and Essex (101), das Musical-Comedy Singin’ in the rain mit Gene Kelly (104), Pretty Woman (38), Les Amants du Pont Neuf mit Juliette Binoche (55), Alfred Hitchcocks Vertigo (100), Julio Iglesias Film La vida sigue igual und Stephen Spielbergs Jaws (70). Die Autorin gibt sich als Filmliebhaberin zu erkennen. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 244 dieses. Denn obwohl von unterschiedlichen Standorten aus verfasst - NC von innerhalb, CN von außerhalb der Insel - bestimmt der Mythos des verlorenen Inselparadieses die Identitätskonstitution der beiden Protagonistinnen. Die Eingrenzung bezieht sich weder nur auf die (Gefängnis)Insel, noch ausschließlich auf die Fremdheit der Exilkubaner in der Welt, sondern offenbart sich gerade in der Bedingtheit des Zwischenraums, der die disparate Trennung von Insel und Welt im ständigen Oszillieren zwischen Hier und Dort verdeutlicht. Das Dazwischen ist ein unbehauster Ort des Weder-Noch, da ihn zentrifugale Fluchtfantasien und zentripetale Rückkehrträume bestimmen. Die Insel isoliert ihre Bewohner nicht nur von der Welt, sondern auch in der Welt. Die einzige Möglichkeit, das Paradiesversprechen und den Inselfluch endlich abzuschütteln, bestünde im Schaffen eines dekodierten Leerraums auf einer unbeschriebenen Seite, auf der Insel und Welt und deren Verkörperungen im Subjekt neu geschrieben werden können: „El blanco: yo“ (NC 245). 6.4 Abgrenzung Zur Untersuchung der Abgrenzung wird erneut die Stadtdichtung Navarretes aufgegriffen. Am Beispiel zweier Gedichte, „Soneto a una matrona“ und „Pigalle II“ wird dessen Bezugnahme auf die Stadt Paris in den Blick genommen. Beide Gedichte zeugen von Strategien der „literarischen Stadtaneignung“, mit denen aber auch die Grenzen zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit verhandelt werden. In den Gedichtanalysen wird einerseits die Perspektive auf die Stadt erkenntnisleitend, also das Wo bzw. der Standort des Dichters. 60 Andererseits wird dem Wie der poetischen Inszenierung Rechnung getragen, um dessen abgrenzende Positionierung herauszuarbeiten. 6.4.1 Karnevalisierung von Paris Bei der literarischen Bezugnahme auf den realen Stadtraum Paris darf die Dimension des Imaginären nicht außer Acht gelassen werden: Der Mythos Paris wird bis heute von Lateinamerika aus genährt. Denn für viele lateinamerikanische AutorInnen, so Marcy Schwartz, gilt Paris als die „metaphor for a broad spectrum of culturally bound desires“ (1999: 1). Paris wird 60 Ingenschay spricht an Stelle von der Perspektive, d.h. einer „Sicht auf die Stadt“, von „Hinsichten“ und meint damit den diskursiven Status und nicht zuletzt die „transportierte ‚Ideologie’“ in literarischen Stadtaneignungen. Vgl. Ingenschay, Dieter (2000): „Großstadtaneignung in der Perspektive des ‚peripheren Blicks’“. In: Ders. / Buschmann, Albrecht (Hg.): Die andere Stadt. Würzburg: Königshausen & Neumann, 9. 6.4 Abgrenzung 245 als hegemoniales Zentrum idealisiert und nimmt damit eine Modellfunktion für die europäische Moderne ein (ebd.). Wenn Navarrete von seinem Leben in Paris spricht, so bringt er zum Ausdruck, dass auch für ihn der Mythos Ausgangspunkt seiner Stadterfahrung bleibt und das, obwohl das Durchqueren der Straßen von Paris inzwischen zu seiner Alltagserfahrung geworden ist. Der Nimbus des Mythos überlagert die Stadt: He podido escribir una obra con materia prima cubana porque vivo fuera de Cuba. Me parece que si quisiera escribir sobre París tendría que tomar distancia y retirarme a vivir a otra parte. Cuando se vive en París por largo tiempo, como es mi caso, se pierde la capacidad de juzgar realmente la ciudad porque se empieza a vivirla más bien a partir de mitos. Caminas por una calle de París y aunque te parezca cotidiana e, incluso, común y corriente, sabes que esa calle representa un ideal estético para millones de seres humanos que sueñan desde los lugares en que viven con estar en este lugar, con recorrerla y vivirla. Entonces la ciudad se cubre de un halo de ‚objeto deseado y soñado por la Humanidad’ y ya casi no te queda margen para definirla por ti mismo o para verla con tus propios ojos. Sólo en la distancia se opera el milagro del discernimiento. 61 Dieses Zitat macht überdies deutlich, dass das Leben in Paris nicht an das Schreiben über Paris gekoppelt ist. Dazu fehle ihm die nötige Distanz, zu einem Urteil über sein spezifisch eigenes Paris zu gelangen, so der Autor. Allerdings gehört „Soneto a una matrona” (IP 135) zu einem der wenigen Gedichte Navarretes, die sich explizit an Paris ausrichten. An diesem Beispiel lässt sich zeigen, dass er sich durch Humor distanziert, denn es handelt sich hierbei um eine parodistische Stadtdarstellung. Sie geht insofern über den bloßen Darstellungsmodus hinaus, als der Dichter - wie im Gedicht „Ciudad” (vgl. 6.2.3 „Havanna: Das verlorene Paradies”) - auf das Stilmittel der Personifikation zurückgreift, um der Stadt Gestalt zu verleihen. Im Sinne Andreas Mahlers handelt es sich daher nicht um einen mimetischen Stadt-Text. Vielmehr modelliert Navarrete eine poetische Textstadt anthropomorphen Charakters (1999: 12). Während Havanna in „Ciudad“ als verletztes Mädchen personifiziert wird, verdichtet Navarrete Paris in diesem Sonett als Hure. Schon Literaten des 19. Jahrhunderts förderten den Mythos von Paris als „Sündenpfuhl“, indem sie Paris als „Hure Babylon“ allegorisierten, verführerisch und sündhaft zugleich. 62 Dieser literarische Topos findet sich in den Werken von Victor Hugo, Émile Zola, Char- 61 Navarrete entrevistado por Andrés Candela (2012): „Con pasaporte francés, ¡pero tan cubano como las palmas! “ http: / / comunidad.soho.com.co/ t5/ POSTALES-E-HISTORIAS/ Con-pasaportefrancés-pero-tan-cubano-como-las-palmas-PARTE-I/ ba-p/ 6813. Zugriff: 15.09.2012. 62 Schüle, Klaus (2003): Paris: Die kulturelle Konstruktion der französischen Metropole. Opladen: Leske + Budrich, 139. Vgl. auch Ingenschay 2000: 9. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 246 les Baudelaire und Henry Miller wieder. 63 In Aneignung dieses Topos‘ besteht das Innovative von Navarretes Inszenierung darin, dass Paris in die Jahre gekommen ist, denn die „matrona“ ist gleichzeitig eine alternde „patrona“: die Chefin des Bordells. Ihren Glanz und die Kraft der Verführung hat sie eigentlich schon verloren: Soneto a una matrona 01 París ramera viene maquillada 02 vendiendo cara todas sus flojeras 03 a quien saltando evita mojoneras 04 y de un traspiés recoge su tajada. 05 Escándalos de estrella sosegada 06 muta, la asisten mañas y parteras, 07 no recuperará capas ni hombreras 08 de esta definitiva cuchillada. 09 Terrazas de café, de lis los yesos, 10 y mucho gangarreo que engatusa 11 poniéndonos los humos en los sesos 12 friendo un huevo o dos a quien le acusa 13 diciéndole coqueta, entre mil besos, 14 que todo lo que saca es made in USA. Zunächst fällt der Kontrast zwischen Form und Sprache auf: Auf formaler Ebene orientiert sich Navarrete an den traditionellen Genre-Vorgaben eines Sonetts, indem er das Vermaß des endecasílabo, des Elfsilbers, einsetzt und ein sonettistisches Reimschema beibehält (abba / abba / cac / aca). Diese formale Akkuratesse wird jedoch durch das umgangssprachliche Register des vulgär anmutenden kubanischen Spanisch unterwandert bzw. karnevalistisch verkehrt. 64 Dieser schon stilistisch hervortretenden Widersprüchlichkeit entspricht der Inhalt des Sonetts, in dem Paris im ersten Vers mit genüsslicher Vulgarität als „ramera maquillada“ personifiziert 63 Vgl. Klaus Schüle, der sich konkret auf Victor Hugos Les orientales (1829) und Émile Zolas Le Ventre de Paris bezieht. Schüle macht nicht nur auf einen spezifisch männlichen Blick aufmerksam, der den Stadtmythos Paris nährt. In Bezugnahme auf Henry Miller, Ernest Hemingway und Tennessee Williams wirft er zudem die Frage auf, inwieweit das Bild der „Hure Babylon“ nicht auch besonders durch die Literatur von Fremden konstruiert wurde (2003: 139). Bei Henry Miller heißt es: „Paris is like a whore. From a distance she seems ravishing, you can’t wait until you have her in your arms. And five minutes later you feel empty, disgusted with yourself. You feel tricked.“ Miller, Henry (1961): Tropic of Cancer. New York: Grove Press, 209. 64 Im Sinne Michail Bachtins, der das Konzept des Karnevals literaturtheoretisch für die Inversion von Ordnungen und deren Besetzung mit Differenz verwendet (vgl. 1979: 347). 6.4 Abgrenzung 247 und in Szene gesetzt wird, die ihre nicht gerade herausragenden Dienste, „sus flojeras“, teuer verkauft (V.2). Doch selbst wer versucht, sie zu umgehen, gerät in ihre Fallen und bekommt seinen Teil ab, „recoge su tajada“ (V.3-4). Sie ist und bleibt die „Starfigur“ und daher reagiert sie, die „estrella sosegada“, stets mit Gelassenheit auf Skandalträchtiges (V.5). Mit ihrem Glanz und ihrer Koketterie schafft sie es zwar immer wieder, die Männer zu umschmeicheln und ihr „Hirn zu umnebeln“ - „poniéndonos los humos en los sesos“ (V.11). Doch eigentlich sind ihre besten Zeiten bereits vorbei. Von der glorreichen Vergangenheit ist nur noch eine stark geschminkte und billig beschmückte Fassade übrig geblieben, hinter der sich nichts Authentisches mehr verbirgt. Dies drückt der Kubanismus „gangarreo“ aus (V.10), d.h. billiger Glitzerkram, der viel Aufmerksamkeit erregt und wenig wert ist. Diesem Kubanismus stellt Navarrete das Wort „lis“ (V.9) entgegen, das auf das Wappenzeichen der französischen Monarchie verweist, der aus drei Lilien geformte Fleur de Lys. Selbst dieses Wappen besteht nurmehr noch aus billigem Gips (V.9). Doch den endgültigen Todesstoß, „la definitiva cuchillada“ (V.8), erhält Paris im letzten Vers, denn: „todo lo que saca, es made in USA“ (V.14). Die Parodie kulminiert hier in einem Anglizismus, der die Rhythmik des Versmaßes durchbricht und den Leser über den wahren Zustand der Stadt aufklärt: Im 21. Jahrhundert hat die neue Welt mit dem, was sie zu bieten hat, die alte Welt des zum Mythos gewordenen Paris schon längst eingeholt und überholt. Navarrete bedient sich einer literarischen Praxis, die die Paris-Mythologie „signifikant ‚dezentriert’“ (Ingenschay 1997: 148). Die Stadtaneignung vollzieht sich als „Wiederverwendung des literarischen Paris-Mythos [...] im Sinne eines postmodernen ‚recycling’“ (ebd.: 150). Hierbei spielt der ,periphere‘ bzw. ,dezentrierte‘ Blick des Dichters auf die Stadt eine entscheidende Rolle (vgl. ebd.). Denn aus der Perspektive des Außenstehenden betreibt er ein poetisches Spiel à la cubaine und entwirft damit ein Image von Paris, das die zum Mythos erhobene Großartigkeit der Stadt ,dezentriert‘. Das vermeintlich homogene Zentrum der französischen Kultur wird von Navarrete auf formaler, thematischer und stilistischer Ebene banalisiert, ja sogar vulgarisiert. Dem Diskurs der Homogenität der französischen Kultur hält er eine kulturelle Heterogenität in Form von Kubanismen und Anglizismen entgegen. Navarretes Abgrenzung vollzieht sich vor allem über den genüsslich ausgespielten Gebrauch kubanischer Alltagssprache innerhalb der formalen Akkuratheit des Sonetts. Damit positioniert er sich im Spannungsfeld zwischen den Kulturen. Als cubano-parisino eignet er sich Paris an und tut dies gleichzeitig aus einem Blickwinkel des Außenstehenden, mit dem er zu „seiner“ Stadt auf Distanz geht und sich über ihre 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 248 Dekadenz beschwert. Sich abgrenzend bewegt er sich zugleich auf einer Grenzlinie zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. 65 6.4.2 Flanieren in Pigalle Der abgrenzende Blick auf Paris ist auch in Navarretes Gedicht „II [Pigalle, París]“ von Bedeutung. Dieses Gedicht ist Teil der Anthologie Estos parajes de lobos solitarios, die bisher nur in Teilen veröffentlicht ist. 66 Das Konzept des Gedichtbands geht auf das Interesse Navarretes an städtischen Rotlichtmilieus zurück, die er in Paris und Miami dichterisch erkundet. Die Gedichte sind einerseits autobiographisch motiviert, andererseits kennzeichnet sie ein deskriptiver und prosaischer Charakter. Es handelt sich auf dem verdichteten Raum der Lyrik um Beobachtungen städtischer Szenerien, also im Sinne Horst Weichs um eine „Stadtlyrik“ als „Beschreibungslyrik“ (vgl. Weich 1996: 123). In pragmatischer Hinsicht bedient sich Navarrete der Perspektive des Flaneurs und dessen „anwesend-abwesende [...] Position des Außen innerhalb der Großstadt“ (vgl. Neumeyer 1999: 57). Das literarische Flanieren eines umherstreifenden Müßiggängers wird dazu genutzt, aus einem „beweglichen Perspektiv“ heraus das soziale Geschehen zu beobachten und für die eigene Reflexion zu nutzen (vgl. Keidel 2006: 15). Diese „Wechselwirkung von Wahrnehmung und Reflexion“ (ebd.: 16) wird am Beispiel von „Pigalle II“ in den Blick genommen. Zusätzlich geht es auch hier bezüglich der „städtischen Hinsicht“ (Ingenschay 2000: 9) einerseits um das wie des Flaneursmodus, also die Art und Weise der „Stadtlektüre“, andererseits um das wo, d.h. die Perspektivierung zwischen „Distanz und 65 Navarretes „Soneto a una matrona“, das hier in Bezug auf den sich abgrenzenden Blickwinkel des Kubaners in Paris untersucht wurde, kann auch als Beispiel für die Entgrenzung herangezogen werden. Eine Lesart, die das Sonett unter dem Aspekt der Transkulturalität betrachtet, findet sich in Gremels, Andrea (2013): „Exilio y transculturalidad en los poemas de William Navarrete“. In: Gernalzick, Nadja / Pisarz-Ramirez, Gabriele (Hg.): Transmediality and Transculturality. Heidelberg: Winter, 181-191. 66 Hier durchgängig „Pigalle II“. Die aus der Anthologie veröffentlichten Gedichte zirkulieren in einem transnationalen Kontext. Das hier im Fokus stehende „Pigalle II“ ist im Sammelband Cuba - La revolución revis(it)ada enthalten (Gremels / Spiller 2010: 269f). Dieser in Deutschland veröffentlichte Tagungsband geht auf den gleichnamigen Kongress zurück, der vom 9.-11. November 2009 in Frankfurt stattfand. Neben den überwiegend kultur- und literaturwissenschaftlichen Beiträgen beinhaltet er einen literarischen Anhang mit Texten von Daína Chaviano, Eyda Machín, Antonio José Ponte und William Navarrete („Revis(itac)iones de los escritores“, ebd.: 241-276). Weitere Gedichte der Anthologie wurden 2011 in der mexikanischen Literaturzeitschrift Posdata verlegt. „Otra voz, otro ámbito“. Posdata 9: 5, 32. 6.4 Abgrenzung 249 Nähe“. 67 Darüber hinaus nimmt wie im „Soneto a una matrona“ der Humor eine wichtige Rolle in der Stadtdarstellung ein, der zu einer weiteren Distanznahme beiträgt. Denn der Flaneur beobachtet nicht nur die Anderen aus einer inneren Entfernung heraus, sondern auch seine eigene Person mit einer Distanz schaffenden Selbstironie. In den Paris-Gedichten der Anthologie ist der Schauplatz des „beobachtenden Denkens“ (Keidel 2006: 12) das berühmte Vergnügungsviertel Pigalle, ein „typisch pariserischer Ort“ und damit eines der „Merkzeichen“ des „prototypischen Paris“. 68 Seine touristische Attraktion verdankt Pigalle vor allem dem Varieté-Theater Moulin Rouge auf dem Boulevard de Clichy, auf dem sich außerdem das Musée de l’erotisme befindet. Wenn auch kein Randbezirk der Stadt, so halten sich im Rotlichtviertel Pigalles vor allem gesellschaftliche Randfiguren auf, die in das Blickfeld des Flaneurs geraten, der sich diesem ihm fremden sozialen Milieu mit einer „Mischung aus Gleichgültigkeit und Neugier“ nähert (vgl. Gomolla 2009: 35). 69 In Abgrenzung zu diesem Milieu nimmt das flanierende Ich die Rolle des intellektuell Distinguierten ein. Im traditionellen Sinne des literarischen Flaneurs im 19. Jahrhundert erfolgt die Betrachtung der Umgebung aus einer privilegierten, wenn nicht sogar „elitären Position“ heraus (Gomolla 2009: 30). 70 II [Pigalle, París] 01 Está pasando algo bajo un toldo. 02 Son las cuatro. Sol fugaz 03 y gotas de sudor que nos anuncian 04 un verano como arena movediza 05 escapando veloz entre las manos. 67 Stephanie Gomolla bezeichnet den Flaneur als Inkarnation einer spezifischen „Wahrnehmungsästhetik“. Am Beispiel zeitgenössischer französischer Literatur untersucht sie neben der Perspektivierung und der Stadtlektüre den Aspekt der „Langsamkeit und Zweckfreiheit der Flanierbewegung“. Vgl. Gomolla, Stephanie (2009): Distanz und Nähe. Der Flaneur in der französischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 16. 68 Vgl. Weich, Horst (1999): „Prototypische und mythische Stadtdarstellung. Zum ‚Image’ von Paris“. In: Mahler, Andreas (Hg.), 46. 69 Auch in Charles Baudelaires Tableaux Parisiens findet sich diese Vorliebe für bizarre Randfiguren in der Großstadt wieder, wie z.B. Bettler, Prostituierte und Greise. An ihnen entzündet sich die Fantasie des Flaneurs (Vgl. Keidel 2006: 20f). 70 Diese ,elitäre‘ Positionierung kommt im Gedicht „Pigalle III“ deutlich zum Ausdruck, in dem polizeiliche Durchsuchungen in Pigalle geschildert werden. Dabei charakterisiert sich der Flaneur selbstironisierend wie folgt: „A mí me ignoran porque tengo / cara de buen cristiano, / de blanquito criado en el reparto / de las mejores familias habaneras [...]. Soy para ellos el perfecto ciudadano... / mientras no sepan lo que pienso“ (Navarrete in posdata 2011: 32). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 250 06 La alameda central está desierta, 07 los listones de metal de los canteros 08 descansan del que vende lo que sea 09 por tal de vender algo, 10 y meterse en el vientre, en el bolsillo, 11 un billete o media caja de cigarros. Schon zu Beginn wird der Leser enttäuscht, der sich aufgrund der topographischen Referenz des Titels „Pigalle“ die Schilderungen erotischer Ausschweifungen in den Varietés und Nachtclubs des Viertels erhofft. Denn entgegen solcher Erwartungen flaniert das lyrische Ich des Tags auf dem Boulevard, lange bevor Pigalle zum Leben erwacht. Es ist einer der wenigen schwül-heißen Pariser Sommernachmittage, die sich meist recht bald - „como arena movediza“ (V.2) - wieder verflüchtigen. „Son las cuatro“ (V.2): Zu solch einer Stunde am Spätnachmittag ist der Boulevard de Clichy, „la alameda principal“, wie leergefegt (V.6), mit Ausnahme einiger schillernder Gestalten, die auf den Metallplanken der Straße sitzen und sich ausruhen (V.7-8). Sie tun dies nicht, ohne auch tagsüber ihren Schwarzmarkt-Aktivitäten nachzugehen, mit der Geschäftigkeit dessen, „que vende lo que sea / por tal de vender algo“ (V.8-9). Die Beschleunigung großstädtischen Lebens wird in den ersten beiden Strophen mit einer beinahe karibisch anmutenden Langsamkeit kontrastiert. Es herrscht eine Atmosphäre der Trägheit wie während der nachmittäglichen Siesta vor, wenn sich die Menschen vor der aufgestauten Hitze der Stadt in ihre Häuser zurückziehen. Diese städtische Entschleunigung mit ihrer Verlassenheit des Boulevards bringt den Flanierenden ins Nachdenken. Der Wechsel vom beobachtenden in den reflektierenden Modus vollzieht sich in der dritten Strophe: 12 Tal vez se han ido todos 13 al lugar de donde vienen: 14 al famoso bled, siempre me dicen, 15 que yo imagino como esos pueblos 16 fantasmas de La Mancha 17 o como aldeas tragadas por raíces 18 en las tierras misteriosas de los mayas. 19 Un Más-Allá donde gozar no esté prohibido 20 siempre y cuando no se abra, de golpe, 21 la ventana severa del orden celestial. 22 Si me pregunto por qué no fui tras ellos, 23 es porque no tengo bled, ni raíz, 24 ni otra geografía del otro lado de la puerta, 25 porque se van borrando mis recuerdos 26 para que el aire que respiro no me asfixie 6.4 Abgrenzung 251 27 al contemplar en las márgenes del paso 28 el precipicio de mar a mis espaldas. Wo sind bloß alle geblieben? , fragt sich nun das lyrische Ich im ersten Vers der dritten Strophe und stellt sich daraufhin vor, sie seien dorthin zurückgekehrt, woher sie kommen. An dieser Stelle nimmt der Dichter Bezug auf die am gesellschaftlichen Rand sich bewegenden Schlepper und Kleindealer Pigalles, meist Jugendliche aller ethnischer Couleur, besonders franko-maghrebinischer Herkunft. Obwohl ein Großteil der jungen Generation, also die Kinder der nordafrikanischen Einwanderer, in Frankreich geboren und aufgewachsen ist, verbindet sie doch ein gemeinsamer Begriff von Heimat: „el famoso bled“ wie es in Vers 14 heißt. Der Begriff bled, der sich aus dem maghrebinischen Arabisch stammenden „blad“, d.h. „Land“ ableiten lässt, 71 bezeichnet einen ‚Ursprung’, der an den geographisch bestimmbaren Herkunftsort der Familie und das dort vorherrschende soziale Gefüge gekoppelt ist und damit die Zugehörigkeit zur Kultur dieser Herkunft zum Ausdruck bringt. In der Imagination des flanierenden Ich gewinnt der „bled“ die Exotik unwirklicher und jenseitiger Landschaften. Ironisch überspitzt stellt es sich darunter Dörfer der spanischen Inlandsprovinz La Mancha vor, die im öden Steppenland der Hochebene Südkastiliens wie geisterhafte Trugbilder erscheinen (V.15-16). 72 Ebenso könnte es sich um eine der mysteriösen, über Jahrtausende alten Besiedlungen der Mayas handeln, die der Dschungel Zentralamerikas verschluckt hat (V.17-18). Die referentiell auf-gerufenen Wüsten- und Dschungellandschaften steigern sich schließlich in der Vorstellung des bled als geographisch jenseitiges, ideales „Más-Allá“ - das Paradies eines grenzenlos erotischen Genusses (V.19). In exotisierender Übersteigerung und ironischer Brechung gibt das reflektierende Ich hier zu verstehen, wie fremd ihm der Ausdruck bled ist, dessen Klang Fantasien über ferne und unwirkliche Landschaften wecken. Aus dem sicheren Abstand des Beobachters grenzt es sich damit von der nordafrikanischen Bevölkerungsgruppe in Paris ab. Seine Heimat ist nicht deren Heimat und deswegen kann das lyrische Ich ihnen auch nicht dorthin folgen, könnte man meinen (V.22). Und doch fragt sich eben dieses lyrische Ich: Warum gehe ich ihnen nicht einfach nach? Zu Beginn der vierten Strophe wird deutlich, dass sich die eigentliche Distanznahme in Bezug auf das „Heimat-Haben“ vollzieht. Das lyrische Ich würde den Be- 71 Vgl. http: / / www.larousse.com/ de/ worterbucher/ franzosisch/ bled. Zugriff: 16.09.2012. Im umgangssprachlichen Gebrauch hat sich eine Verwendung von „bled“ eingebürgert, die allgemein ein hinterwäldlerisches Dorf bezeichnet. 72 Hier drängt sich der intertextuelle Verweis auf Cervantes’ literarische Figur Don Quijote de La Mancha auf, der stets gegen Chimären kämpft. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 252 griff bled sogar für sich beanspruchen können, wenn es denn eine Heimat hätte. Aber: „no tengo bled, ni raíz“ (V.23). Für den Heimatlosen existiert die Geographie des Más-Allá nicht. Der ironisierende Grundton des Gedichts wird zum Ende der vierten Strophe von einer Ernsthaftigkeit abgelöst, die außerdem den Bewegungsmodus des Flanierens wieder aufnimmt: Darin wird der Konflikt zwischen Erinnern und Vergessen als ‚Gehen am Abgrund’ thematisiert. Bei jedem Schritt nach vorne lauert hinterrücks der Abgrund des Ausradierten, „el precipicio de mar a mis espaldas“ (V.28), dessen abwesende Präsenz dem Ich jederzeit die Luft zum Atmen nehmen kann (V.26). Das Meer dient hierbei als Metapher für die unüberbrückbare Entfernung des Dichters zu seinem Herkunftsort, der Insel Kuba. Ihr kehrt er den Rücken zu. Mit jedem Schritt nach vorne liegt sie immer weiter hinter ihm zurück. Im Gegensatz zu den nordafrikanischen Immigranten und deren Nachkommen, denen ein „retour au bled“ zumindest in Form des Dorthin-Zurückreisens möglich ist, gibt es für den Exilanten keine Rückkehr. 73 Es gibt keine Tür, die sich zur anderen Seite öffnen ließe, denn die Erinnerungen daran lösen sich zunehmend auf und lassen das Ich ursprungslos zurück (V.24). Erreicht der reflektierende Gedankengang an dieser Stelle seinen Höhepunkt, so schlüpft der Flaneur in der darauffolgenden Strophe wieder in die Rolle des Beobachters, der sich von seinen Gedankenspielen distanziert und sich erneut auf die städtische Szenerie Pigalles konzentriert. Im Gebrauch einer humorig-bissigen Sprache spielt sich diese Distanznahme auch auf stilistischer Ebene ab. 29 En esta tarde de engañoso sudor 30 sólo se ve de banco en cuando 31 un fantasma, alguna sombra, 32 un viejo cabizbajo, la estoica figura 33 de una puta…mesopotámica, 34 una loca de argollas hasta el pelo, 35 un chulo con tatuajes en la lengua 36 y la mirada triste de perros vagabundos 37 como mujeres sedientas de marinos 38 en el muelle incierto de la vida. 39 En esta tarde de engañosa muerte, 40 (y de pasado) 41 es mejor comprar un diario 42 y abanicarme el rostro con todas las noticias. 73 Zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Problematik von Herkunft und Rückkehr am Beispiel der zweiten Generation maghrebinischer Immigranten vgl. Vurgun, Sibel (2007): Voyages sans retour. Migration, Interkulturalität und Rückkehr in der frankophonen Literatur. Bielefeld: transcript. 6.4 Abgrenzung 253 Die Stimmung des trügerischen Sommernachmittags und die Verlassenheit der Straßen rückt die Wahrnehmung des Boulevards in ein unwirkliches Licht. Darin erscheinen auch die Figuren wie groteske Geister- und Schattenwesen (V.31), die „von Zeit zu Zeit“ bzw. „von Bank zu Bank“ auftauchen, wie es das Wortspiel mit dem Idiomatismus „de cuando en cuando“ verrät, das hier in „de banco en cuando“ umgewandelt wird (V.30). So beobachtet das flanierende Ich außer einigen vagabundierenden Hunden einen Bettler mit gesenktem Kopf, eine in die Jahre gekommene Prostituierte, auf deren ‚Antiquität’ das Attribut „mesopotámica“ sarkastisch hinweist (V.33), einen Schwulen, „una loca“, mit immens großen Ohrringen (V.34) und einen derartig tätowierten Zuhälter, dass er sich sogar auf der Zunge Tattoos hat einstechen lassen (V.35). Diese Randfiguren wirken wie nomadische Existenzen „en el muelle incierto de la vida“ (V.38), denen das Leben keinerlei Sicherheit oder Sesshaftigkeit zu bieten vermag. Die grotesk überzeichnete Maskenhaftigkeit dieser Menschen demaskiert zudem den Stadtteil Pigalle, den das flanierende Ich als gealtert und dekadent wahrnimmt, denn dessen Mythos gründet auf einer Vergangenheit, die in der Gegenwart déjà passé ist (V.39-40). In „Pigalle II“ betreibt Navarrete ein karnevalistisches Spiel der Umkehrungen, aus denen sich unterschiedliche Abgrenzungslinien ergeben. Sowohl im Wahrnehmungsals auch im Reflexionsmodus bewegt sich das flanierende Ich in einem Spannungsfeld zwischen engaño und desengaño im Sinne der barocken Dialektik von Sein und Schein, das auf eine trügerische Wirklichkeit und auch auf den Topos der ‚verkehrten’ Welt im Sinne Bachtins verweist. 74 Schon die Uhrzeit ist ‚verkehrt’: Das prototypische Bild Pigalles als nächtliches Vergnügungsviertel wird karnevalisiert, weil sich der Flaneur am helllichten Tag dort aufhält. Damit unterläuft Navarrete Lesererwartungen und grenzt sich von einer mythisierenden Kultivierung und dichterischen Ästhetisierung Pigalles ab. Dies schlägt sich auch im Stil des Gedichts nieder, der wie im „Soneto a una matrona“ vom Gebrauch einer vulgären Sprache und einem bissigen Unterton gekennzeichnet ist. Doch genau die Ironie, die passagenweise bis zum Zynismus reicht, stellt ein weiteres trügerisches Element dar. Denn hinter dieser Ausdrucksweise verbirgt sich wiederum eine Ernsthaftigkeit, die im gesamten Gedichtverlauf in einem oszillierenden, wenn nicht sogar konkurrierenden Verhältnis zur humoristischen Darstellung steht. Auch die Komik, die durch den schwitzenden Flaneur in der Nachmittagshitze Pigalles transportiert wird, ist insofern trügerisch, als dessen Spaziergang in ihm eine zutiefst ernsthafte Reflexion über die Frage nach Heimat auslöst. Durch seine Beobachtungen der maskenartigen Figuren auf dem 74 Vgl. Bachtin, Michail (1990): Literatur und Karneval. Frankfurt: Suhrkamp. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 254 Boulevard erkennt der Flaneur sich im Schicksal eines nomadisch Heimatlosen und demaskiert sich somit selbst. Diese Erkenntnis vollzieht sich einerseits perspektivisch, d.h. aus dem distanzierten Blickwinkel des gebildeten „Bürgerlichen“, der sich in einem Stadtteil mit einem ihm fremden sozialen Milieu aufhält. Andererseits konstituiert sich das Erkennen des Eigenen in der Positionierung zu den „anderen Fremden“ der franko-maghrebinischen Unterschicht. In Abgrenzung zu deren Heimatbegriff des bled, mit dem sie sich auf einen ‚erreichbaren’ Heimatort und einen ‚greifbaren’ Ursprung berufen können, erkennt das lyrische Ich seinen endgültigen Verlust von Heimat und entlarvt damit gleichzeitig den ‚Besitz’ von Heimat als trügerische Gewissheit. Dabei wird auch klar, dass trotz der grotesken Überzeichnung der auf dem Boulevard wahrgenommenen Figuren nicht deren Existenz in Frage gestellt wird, sondern eigentlich die des Flaneurs selbst, dessen vermeintlich distanzierte und damit stabile Beobachterposition ins Wanken gerät. Im Spiegel der Anderen erkennt der „kubanische Flaneur“ in Pigalle seine eigene Existenz als trügerisches Spiel zwischen engaño und desengaño. Zwischen Sein und Schein spiegelt sein Aufenthalt in Pigalle seine Aufenthaltslosigkeit in der Welt wider. Dies lässt schließlich auch auf die Positionierung des Dichters zu Paris schließen. Denn diese Stadt stellt sich für den Nicht-Sesshaften weniger als ,Wohnort’, sondern vielmehr als ortloser Aufenthaltsort dar, eine Art des Transits, den er nach über zwanzig Jahren inzwischen nur noch mit einem übersättigten Ennui zu betrachten vermag. Gerade dadurch, dass bei Navarretes ‚Paris-Lektüre’ immer die städtische Dekadenz im Vordergrund steht, grenzt er sich von jeglicher Form der mythisierenden und idealisierten Überhöhung dieser Stadt ab. Was hat denn Paris überhaupt noch zu bieten außer billigen Glitzerkram („gangarreo“)? Und was findet man in dem berühmten und als so lebendig gepriesenen Vergnügungsviertel Pigalle heute noch vor außer einigen ,antiken’ Freudenmädchen? Angesichts seines Überdrusses bleibt dem Flaneur im unaufhebbaren Transit des Abwartenden nichts anderes übrig als sich mit der Tageszeitung, deren Nachrichten ihn ohnehin nicht weiter interessieren, etwas Luft zuzufächern, „abanicarme el rostro con todas las noticias“ (V.42). Die Analyse von „Pigalle II“ lässt insgesamt Rückschlüsse auf Positionierungen zwischen Heimatverlust und Weltengewinn zu. So kann der Dichter weder Kuba als Ort der Beheimatung für sich beanspruchen, denn dieser Ursprung entfernt sich ihm immer weiter, noch kann Paris dem Heimatlos-Gewordenen einen dauerhaften ‚Wohnsitz’ bieten. In einer abgrenzenden Haltung zum Verlorenen einerseits und zum Gewonnenen andererseits stellt die nomadische Ortlosigkeit des Exils jegliche Form der Sesshaftigkeit in Frage. 6.5 Entgrenzung 255 6.5 Entgrenzung Das Kapitel zur Entgrenzung möchte das Nomadische und Wohnsitzlose der kubanischen Gegenwartsliteratur in Paris weiter vertiefen. Hierfür werden jeweils zwei Textbeispiele von Nivaria Tejera und William Navarrete untersucht. Am Beispiel von Tejeras Herbstgedicht „Champ de Mars“, das auf Paris Bezug nimmt, werden Formen transkultureller Stadtaneignung und zugleich entgrenzter Schreibweisen untersucht. Ihr Gedicht „La Habana un día“ richtet sich dagegen an Havanna aus und verhandelt das Thema der Wohnsitzlosigkeit im Spannungsfeld zwischen Utopie und Dystopie. Dass es hier nicht mehr nur um eine Subjektverortung geht, sondern um die Verortbarkeit der gesamten kubanischen Nation kann am Beispiel von Navarretes „Hundimiento de la isla“ weiter ausgeführt werden. Hierbei wird auch Ettes Modell der Inselwelt und damit einhergehend die fraktale Vervielfältigung der Insel in der Welt in die Analyse einbezogen. Schließlich wird der Frage nach einer transkulturellen Beheimatung nachgegangen, die nicht nur zwischen den Polen Frankreich und Kuba, sondern auch darüber hinaus, an einem Ort in Marokko erfahren werden kann. Dies zeigt das Gedicht „El gran Halka“ aus Navarretes Anthologie Lumbres veladas del Sur (2008). 6.5.1 Paris im Herbst Wie Navarretes „Pigalle II“, so hat auch Tejeras „Champ de Mars“ (CM, IP 40-41) einen Stadtspaziergang zum Gegenstand (vgl. 5.4.2 „Flanieren in Pigalle“). In der folgenden Analyse wird untersucht, wie sich der „Redegegenstand Stadt“ aus dieser beweglichen Perspektive heraus konstituiert. Dabei wird auch der Abstand zwischen dem wahrnehmenden Textsubjekt und dem wahrgenommenen Objekt Stadt ermittelt (vgl. Mahler 1999: 21). Hierbei spielt der Bewegungsmodus deswegen eine entscheidende Rolle, weil der im Gehen sich wandelnde Standpunkt die Lokalisierung des Textsubjekts erschwert. Eine topographische Lokalisierung hingegen ist insofern gegeben, als dass durch den Titel eine explizite Referenz auf den Champ de Mars vorgenommen wird, die den Leser ins Zentrum der Stadt führt. Die großflächige Grünanlage des Marsfeldes, die bis ins 18. Jahrhundert hinein als militärischer Manövrierplatz genutzt und später repräsentativer Ort zahlreicher Weltausstellungen wurde, läuft direkt auf das ‚prototypischste’ Merkzeichen von Paris zu: den Eiffelturm (vgl. Weich 1999). Im Hinblick auf diese topographische Bezugnahme, die eine „textinterne Stadtpräsenz“ impliziert, stellt sich die Frage nach der spezifischen Semantisierung dieses Ortes: Wie ‚verdichtet’ Tejera die Stadt im Text und was für einen „Typ Textstadt“ entwirft sie damit (vgl. Mahler 1999: 24)? Und inwiefern trägt gerade das wahrnehmende Textsubjekt zum Entwurf 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 256 dieser Textstadt bei? Diese Fragen dienen in der folgenden Untersuchung dazu, die Möglichkeit einer transkulturellen Stadtaneignung zu ermitteln und damit auch das Problem der kulturellen Verortung in den Blick zu nehmen. „Champ de Mars“ besteht aus fünf Strophen unterschiedlicher Versanzahl. Durch unregelmäßige Einrückungen einzelner Verse innerhalb der Strophen wirkt das Gesamtbild des Gedichts chaotisch, die Rhythmik erscheint brüchig. Diese Brüchigkeit der äußeren Form spiegelt die Verlorenheit des lyrischen Ichs wider, das den Park des Champ de Mars im anbrechenden Herbst durchquert: Champ de Mars 01 Luces en la ciudad gris esta ciudad lechuza 02 todo gira 03 Las primeras hojas otoñales caen penetran en 04 mis ojos cerrados 05 Su sombra de miel cerca de la arboleda musgosa 06 Desnudez del movimiento este trazo visible del 07 éxtasis 08 Mientras camino por el Champ de Mars detengo 09 el ritmo de todo 10 ¿En qué puedo pensar sino en mi vida y en mi 11 muerte 12 Viendo las ramas engendrar su renacer? 13 Las dos imágenes inseparables figuras sugieren 14 La imposible inmortalidad que la nieve 15 Fija un instante ahí In Verbindung mit dem Titel enthält der Eingangsvers mit den Lexemen „luces“ und „ciudad“ eine Allusion auf die ciudad luz, die spanischsprachige Entsprechung für die ville lumière, als die Paris prototypisch bezeichnet wird. Semantisch setzt diese Bezeichnung immer die Nacht voraus, die durch die vielen Lichter erhellt ist. Der funkelnde Glanz dieser „Stadt der Lichter“ wird jedoch durch die Verwendung des Attributs „gris“ im Zentrum des ersten Verses eingetrübt. Mit der parallelisierenden Repetitio von „ciudad gris“ und „ciudad lechuza“ wird eine eintrübende Verdunklung hervorgehoben, die sich vor allem in der Metapher von der Stadt als „Schleiereule“ niederschlägt (V.1). Die gesamte Stadtdarstellung oszilliert zwischen Licht und Dunkelheit, worauf nicht nur die „Lichter in der grauen Stadt“ im ersten Vers, sondern auch die Metaphern „sombra de miel“, der Honigschatten, und „arboleda musgosa“, der moosverhangenen Allee, verweisen (V.5). Der überschattete und verhangene Park weist auf die anbrechende Jahreszeit des Herbstes hin. Die ersten Blätter fallen von den Bäumen (V.3). 6.5 Entgrenzung 257 Der Herbst, der diese Licht- und Sichtverhältnisse von Hell und Dunkel hervorbringt, steht zusätzlich in Verbindung mit der Wahrnehmung des lyrischen Ich zwischen Blindheit und Sehen. Denn die fallenden Blätter dringen in dessen geschlossene Augen ein, „penetran / en mis ojos cerrados“ (V.3-4). Hier findet sich ein weiterer Verweis auf das Motiv eines verwundeten Blicks, das bereits anhand von Tejeras Gedicht „Rueda del exilado“ untersucht wurde (vgl. 4.2.2 „Vergangenheitsverlust und Selbstentfremdung“). Dass die Wahrnehmungsfähigkeit des lyrischen Ich bedroht ist und dessen Sicht weniger von Klarheit als vielmehr von Verdecktheit gekennzeichnet ist, bestätigt auch der Schlüsselvers „todo gira“ (V.2). „Alles dreht sich“ um das Ich herum. Die subjektive Wahrnehmung des Außen nur noch als kreisende, verwirrende Totalität spiegelt die instabile Position eines desorientierten Ich wider. Die zweite Strophe greift den für das Flanieren typischen Modus des Denkens im Gehen auf. Der Bewegungsablauf, der sich vom Gehen zum Denken hin vollzieht, wird hier präzise durch die Verwendung der Verben „gehen“ (V.8), „anhalten“ (V.8) und „denken“ (V.10) zum Ausdruck gebracht: Während des Gehens, „mientras camino“, findet ein Moment des Innehaltens statt, „detengo / el ritmo de todo“, der zum Nachdenken führt: „¿En qué puedo pensar [...]? “ (V.10) Die urbane Herbstlandschaft des Champ de Mars drängt dem gehend denkenden Ich die Frage nach Leben und Tod auf - diese „imágenes inseparables“ - zwei nicht voneinander zu trennende Metaphern der Existenz (V.13). Im Fallen der Blätter vergeht das Leben und bereitet sich doch gleichzeitig auf eine Wiedergeburt im nächsten Frühjahr vor (V.12). In der dritten Strophe wird der Stadtspaziergang in die Bewegung eines orientierungslosen Umherirrens überführt. Dieser Bewegungslauf wird, wie bereits in den ersten Strophen, auf der graphischen Ebene im Einrücken einzelner Verse nachvollzogen, die hier eine Regelmäßigkeit aufweisen: 16 Un cuerpo atraviesa Champ de Mars reniega 17 la gravitación y cae 18 Reaparece al fondo de la avenida colgado entre 19 dos balcones 20 Ya no pienso en la vida ni en la muerte erro 21 hacia abajo 22 Los ruidos de las hojas como los pasos de un 23 amor que empieza 24 Miro busco indago alrededor de ese sol que no 25 nace 26 Un páramo Champ de Mars 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 258 Im Hinblick auf die Enjambements fällt hier - noch stärker als in den ersten Strophen - die Verwendung von contre-rejets ins Auge, durch die die syntaktische Einheit der Verse drastisch zerschnitten wird: Konjunktionen, Artikel und Präpositionen kennzeichnen die Versenden (V.18, 22, 24). Durch diese syntaktischen Brüche meint man, die Verse liefen ins Offene bzw. ins Leere. Gleichzeitig verstärken diese contre-rejets den grenzenlosen Fluss von einem Vers zum nächsten, der zudem durch die fehlenden Satzzeichen gegeben ist. Die Pausenlosigkeit und Beschleunigung des Rhythmus durch die Enjambements findet ihre Entsprechung auf der semantischen Ebene in der Verwendung zahlloser Verben, die auf Suchbewegungen verweisen. Dabei fällt die asyndetische Aneinanderreihung von „Miro busco indago“ (V.24) auf, die den Akt des Wahrnehmens, „mirar“, mit einer Suchbewegung verbindet, „buscar“, die wiederum das Ergründen-Wollen, „indagar“, zum Ziel hat. Diese verzweifelte Suche wird begleitet von einer nicht aufgehenden Sonne, die das lyrische Ich umgibt (V.24f). Die Isolation von „nace“, das allein stehend den gesamten Vers 25 ausfüllt, bewirkt einerseits eine semantische Akzentuierung der Geburt und damit des Neubeginns. Andererseits steht gerade dieses „nacer“ im Zusammenhang mit einer negierenden Semantik. Diese drückt sich in den zwei syntaktischen Überkreuzungen aus, die durch die Enjambements entstehen: zum einen verweist die semantische Einheit „ese sol que no / nace“ (V.24-25) auf eine Sonne, die nicht aufgeht, zum anderen verwandelt gerade die Lichtlosigkeit der nicht aufgehenden Sonne den Champ de Mars in ein „Ödland“: „nace / un páramo Champ de Mars“ (V.25-26). Die Verwendung des „páramo“ für den Champ de Mars ist hierbei beachtenswert, da dieser Begriff eine andenspezifische Naturlandschaft oberhalb von 3000 Metern bezeichnet, wie man sie vornehmlich in Süd- und Zentralamerika vorfindet. Die Metapher führt so eine Stadtlandschaft, d.h. die Grünanlage des Marsfeldes in Paris, mit der Naturlandschaft der südamerikanischen Anden zusammen, sodass sich beide ‚Landschaften’ bildhaft überlagern. 75 So wird der Textstadt Paris in der Metapher des Ödlands indirekt vor allem eine Charakteristik zugewiesen: die totale Entvölkerung des Stadtraums, die auch durch die völlige Abwesenheit anderer Menschen auffällt. Auch der menschliche Körper, der, von der Schwerkraft losgelöst, wie ein welkes Blatt fällt und am Ende der Avenue zwischen zwei Balkonen hängen bleibt (V.16f), ist kein im Außen wahrgenommenes ‚Objekt’. Vielmehr verdinglicht sich in diesem Körper das umherirrende Ich des Textes, so- 75 Des Weiteren drängt sich vor allem im Hinblick auf Tejeras Semantik des lebendigen Todes ein intertextueller Verweis zu Juan Rulfos Pedro Páramo (1955) auf. Der Roman des mexikanischen Schriftstellers ist von einer Atemporalität und einer räumlichen Dualität gekennzeichnet; die Protagonisten bewegen sich in einem Reich, in dem die Toten lebendig ihren Platz neben den Lebenden einnehmen. Vgl. Rulfo, Juan ([1955]1980): Pedro Páramo. Barcelona: Planeta. 6.5 Entgrenzung 259 dass der Körper, die Herbstblätter und das Textsubjekt zu einer Einheit verschmelzen, die alle der gleichen Bewegung folgen: dem Fallen. Auch in der formalen Gestaltung wird diese fallende Bewegung durch die hin- und hergerückten Verse unterstrichen. Die Graphie des Textes verkörpert somit die Textstadt als Text-Körper, d.h. Stadt, Körper und Schrift gehen ununterscheidbar ineinander auf (vgl. 5.3.3 „Stille und Resonanz“). Darüber hinaus wird schließlich auch das Motiv des Herbstes explizit in diese Symbiose mit aufgenommen, was in der vierten Strophe zum Ausdruck kommt: 27 Las hojas de otoño se siembran al fondo de mis 28 manos 29 Secreta alianza para volver ilegible sus heridas 30 Desde su vientre el polvo levanta una música 31 agazapada 32 Es el instante en que la torre Eiffel se acuesta 33 en mis brazos 34 Una hemorragia su esqueleto de sal 35 Desde su coche un niño explica que Marx ya 36 pasó 37 El barrendero sigue aplastando hojas 38 Ignora el malvado que soy 39 Una rama de aquel eucaliptus Hier säen sich die Herbstblätter in die Hände des Ich, bilden eine „heimliche Allianz“ mit ihnen und bedecken seine Verwundungen (V.27- 29). Eine versteckte Musik erhebt sich und in diesem Moment legt sich der Eiffelturm, als Geliebter personifiziert, in die Arme des Ich. Das verzweifelte Umherirren erreicht so scheinbar ein ersehntes Ziel. Impliziert daher die Vereinigung des Ich mit dem Eiffelturm eine herannahende, beginnende Liebe, „pasos de un / amor que empieza“ (vgl. V.22-23)? Keineswegs, denn die angedeutete Liebe zu Paris, die sich hier bildhaft an das prototypische, städtische Merkzeichen des Eiffelturms koppelt, erfährt einen radikalen semantischen Bruch. Die Bilder im letzten Vers der vierten Strophe transportieren nämlich eine erschreckende Brutalität. Durch die Umarmung mit dem „Salzskelett des Eiffelturms“ ist eine Blutung entstanden, „[u]na hemorragia su esqueleto de sal“ (V.34). Obwohl dem Eiffelturm ein anthropomorpher Charakter zugewiesen wird, so wird er doch nicht als Wesen aus Fleisch und Blut erlebt, sondern als Konstruktion aus Eisen und Stahl, die sich als beißendes Salz in die Wunden frisst. Eben diese ‚kalte’, schmerzhafte Umarmung des Eiffelturms verweist auf eine Subjektverortung, die jeglicher Abgrenzung entbehrt und eine totale und überdies vernichtende Entgrenzung offenbart. Damit inszeniert Tejera ein regelrechtes ‚Anti-Flanieren’ im Text, denn der Stadtspaziergang 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 260 bleibt nicht an die Perspektive einer distanzierten Beobachterposition gebunden. Vielmehr vollzieht sich im Gehen ein Prozess der radikalen Grenzaufhebung, einem ebenso schmerzhaften wie grenzenlosen Aufgehen und Untergehen des Körpers im Stadtraum. In dieser Selbstauflösung spielen Leben und Tod keine Rolle mehr (V.20), die Schmerzen sind unleserlich geworden (V.29), die Vergangenheit ist abwesend. „Nivaria ha engullido París, ella está hecha de [...] las calles de París“, schreibt Maurice Nadeau. 76 Die Textstadt Tejeras sei ein Paris „de piedra y de tiempo que pasa, un París duro y desierto“ (ebd.). In diesem Aneignungsprozess verkörpert das Subjekt die Stadt und die Stadt gleichzeitig das untergehende Subjekt. So konstituiert sich die Textstadt Tejeras über diese ineinander greifenden Prozesse städtischer Vereinnahmung und gleichzeitiger körperlicher Entäußerung. Dies kommt bereits in der ersten Strophe durch die Metapher „desnudez del movimiento“ zum Ausdruck (V.6). Damit macht die Dichterin Paris zum signifikanten Ort ihrer Exilpoetik. Paris ist das ‚nackte’ und offene Territorium, in das sie die existentiellen Verwundungen des Exils - Selbstverlust, Orientierungslosigkeit und Leere - einschreibt. Vor diesem Hintergrund ist das Gedicht „Champ de Mars“ nicht nur im Hinblick auf die „Konstitutionsisotopie“ von Interesse, die den „Redegegenstand“ Stadt über die Lexeme „ciudad“, „luces“ (V.1) und „avenida“ (V.18) aufbaut und mit den topographischen Elementen „Champ de Mars“ und „torre Eiffel“ konkretisiert (vgl. Mahler 1999: 19). Sondern vor allem über die „Spezifikationsisotopie“, nämlich den Herbst, erfährt die Textstadt ihre spezifische Bedeutungszuweisung (vgl. ebd.). Der Herbst ist ein rekurrierender Vergänglichkeitstopos in der Lyrik: Das Sterben der Natur, das sich vor allem im Fallen der Blätter bemerkbar macht, weckt im Menschen das Bewusstsein darüber, wie kurz doch seine Lebenszeit und wie bedrohlich nah der Tod das Leben bei jedem Schritt begleitet. Gleichzeitig ruft der Herbst nostalgische Erinnerungen an vergangene Tage wach: Im Kontrast zur Kälte der Herbsttage symbolisiert der Sommer die Lebensfülle und Lebenslust. 77 76 Nadeau, Maurice (2005): „París Scarabée“. In: Encuentro de la cultura cubana 39, 43. 77 In Bezug auf den Vergänglichkeitstopos des Herbstes erscheint Tejeras Gedicht hochgradig intertextuell aufgeladen: In Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbst“ (1902) dominiert das Motiv des Fallens. Die graphische Verbildlichung fallender Herbstblätter durch das Einrücken von Versen findet sich in Paul Verlaines „Chanson d’automne“ wieder, in dem die schmerzhaften Erinnerungen an die „jours anciens“ das Bewusstsein der Vergänglichkeit wachrufen. In Baudelaires „Chant d’automne“ klingt der Herbst nach einem baldigen Abschied vom Leben. Ausführlichere Überlegungen zum Phänomen der Intertextualität anhand kubanischer Herbstgedichte in Paris habe ich in folgendem Artikel angestellt, in dem auch Tejeras „Champ de Mars“ untersucht wird: Gremels, Andrea (2011): „Der Herbst als Motiv kubanischer Dichtung in Paris: Textwissen oder Lebenswissen? “. In: Kittler, Judith / Nickenig, Annika / 6.5 Entgrenzung 261 In Verbindung damit lässt sich die Tatsache mit einbeziehen, dass die Autorin mit den karibischen Klimaverhältnissen aufgewachsen ist, in denen das Sterben der Natur, der graue Himmel und die Kälte des europäischen Herbstes nicht existieren. Dessen Erleben sollte daher zu einer verstärkten Entfremdungs- und Fremdheitserfahrung führen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass der Herbst in Tejeras literarischer Aneignung semantisch jegliche Nostalgie und schmerzhafte Erinnerungen an vergangene Tage entbehren lässt. Der Leser befindet sich in einer vergangenheitslosen, bedrückenden Gegenwart. Im Gegensatz zum Bewusstsein eines nahenden Todes wird in „Champ de Mars“ mit dem Herbst die Erfahrung des gegenwärtigen Todes vor dem Hintergrund der kulturellen Auslöschung im Exil poetisiert. Somit dient die Spezifikationsisotopie Herbst der semantischen Besetzung des Identitätsbruchs im Exil. Das Fallen, das im Gedicht auch graphisch veranschaulicht wird, verdichtet so die Bewegung einer nomadischen Ortlosigkeit, die mit einer konstanten, orientierungslosen Suchbewegung am existentiellen Abgrund der Identitäts-Vernichtung einhergeht. Die literarische Aneignung des Herbstes, insbesondere im Motiv des Fallens, bringt exemplarisch den Zustand des Ver-worfenseins im Exil zum Ausdruck, einer „girovagancia existencial“, wie Tejera selbst es beschreibt, indem sie in einer Wortneuschöpfung die Verben „girar“ („sich im Kreise drehen“) und „vagar“ („umherirren“) in einem Substantiv zusammenfügt (Chávez Rivera 2009: 539, Hervorhebung Chávez Rivera). 78 Dass diese sich im Kreise drehende Suchbewegung in einen entgrenzten Prozess der Unabschließbarkeit eingebunden ist, zeigt die letzte Strophe, in der die Blätter nach ihrem Herabfallen von einem Straßenfeger aufgekehrt werden, der jedoch nicht weiß, dass sich inmitten des abgestorbenen Laubs noch lebendige Natur verbirgt, „soy / una rama de aquel eucaliptus“ (V. 39). Der Eukalyptus als immergrüner Baum symbolisiert das Leben, das im Verlust dennoch erfahren wird. Das Überleben im Exil trägt im Wissen von der Vernichtung die schwache Hoffnung eines Neubeginns in sich. Das Aufgehen des lyrischen Ich in der Herbstlandschaft des Champ de Mars und die Symbiose von Körper und Herbstblättern verweisen auf die poetische Inszenierung eines radikalen Alteritätsentwurfs, der das Andere vereinnahmt, ohne sich noch abgrenzend auf ein Eigenes zurückzubeziehen. Sowie die Stadt in den (Text-)Körper eingesogen wird, so vereinnahmt Siebenborn, Eva (Hg.): Repräsentationsformen von Wissen. Beiträge zum XXVI. Forum Junge Romanistik in Bochum. München: Maidenbauer, 313-325. 78 Zum Begriff des Verworfenseins vgl. Kristeva, Julia (1980): Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Paris: Seuil. Darin schreibt sie über den Verworfenen im Exil: „Celui par lequel l’abject existe est donc un jeté qui (se) place, (se) sépare, (se) situe et donc erre, au lieu de se reconnaître [...]. Au lieu de s’interroger sur son ‚être’, il s’interroge sur sa place: ‚Où suis-je? ’ plutôt que ‚Qui suis-je? ’“ (1980: 15, Hervorhebung Kristeva). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 262 der (Text-)Körper auch die Stadt im Herbst ganz für sich. Darüber hinaus verdeutlicht Tejeras „Champ de Mars“, dass durch die Aneignung des Herbstmotivs aus dem vornehmlich europäischen Toposbestand eine transkulturelle Rekonfiguration literarischen Wissens erfolgt. Dabei führt die Besetzung des Herbstmotivs zu einer semantischen Erweiterung. Sie dient dazu, das am eigenen Leib erfahrene ErLebenswissen der Entfremdung dieser Dichtung „ohne festen Wohnsitz“ verfremdend auszudrücken (vgl. Ette 2005: Titel). 6.5.2 Havanna: Utopie oder Dystopie? Tejeras Gedicht „La Habana un día“ (IP 48-49) wird hier ihrer Paris- Dichtung, die am Beispiel von „Champ de Mars“ im vorangegangenen Kapitel untersucht wurde, gegenübergestellt. So wird der Blick wieder auf Kubas Hauptstadt zurückgelenkt. „Havanna, eines Tages“: Bereits dieser Titel verheißt einen in die Zukunft weisenden, visionären Charakter, von dem das gesamte Gedicht auf semantischer Ebene gekennzeichnet ist. Auf formaler Ebene wird die lineare Versstruktur aufgebrochen und durch eine Text-Räumlichkeit ersetzt, in der Verselemente und Satzfragmente auf unterschiedlichen Ebenen angeordnet sind. Die Frage nach dem Textarrangement und den daraus hervorgehenden differentiellen Beziehungsqualitäten wurde bereits anhand der Gedichte Gilda Alfonsos untersucht (vgl. 6.3.2 „Tierra encadenada“). Während am Beispiel Alfonsos das Phä-nomen der eingrenzenden Insel-Welt dargelegt werden konnte, dient Tejeras „La Habana un día“ (LHD) dazu, entgrenzte Bewegungsabläufe aufzuzeigen. Schon auf formaler Ebene veranschaulicht das Gedicht durch die verstreuten, ins Offene laufenden und gleichsam ausufernden Verse die „unstete und diskontinuierliche, [...] aus dem Ruder gelaufene Bewegung“, die sich gemäß Ette in „ungeheurer Dichte“ in der kubanischen Literatur wiederfinden lässt (2005: 170). In Bezug auf die Entgrenzung wird im Folgenden der Leitfrage nachgegangen, inwiefern der Entwurf der Textstadt Havanna in LHD zu einer utopischen oder einer dystopischen Vision tendiert und welche Signifikanz diese für die Inselwelt-Relationalität aufweist. La Habana un día 01 Un día 02 mi palma crecerá hasta la Manchuria 03 un buen día 04 pueblo mío 05 tú crecerás sobre el mar... 06 de pronto un día 07 los obreros felices pensarán en su ciudad 08 inventarán rampas infinitas 6.5 Entgrenzung 263 09 parques transparentes 10 para que los niños corran 11 por el espacio libres 12 extraños a los ruidos de la ciudad 13 a la impaciencia de la ciudad... 14 Un día 15 mi ciudad 16 te cansarás 17 de esa rigidez ajena 18 de los dominadores... 19 (Mi ciudad de La Habana 20 engarrotada 21 no se parece al mar 22 no se parece al cielo 23 ni a la palma 24 ni al Cauto 25 no se parece a mi isla 26 despejada 27 serena 28 ni al ser isleño 29 vegetal 30 sonriente...) 31 Un día 32 mi ciudad... 33 el mar te cubrirá 34 crecerá sobre ti 35 el mar... 36 Y tus obreros 37 te construirán en el mundo. Die in die Zukunft ausgerichtete Temporalbestimmung „un día“ fungiert als Leitmotiv des Gedichts und bestimmt auch dessen Struktur, da es als Anapher an drei Stellen eingesetzt wird, die jeweils eine „Strophe“, bzw. einen Gedichtabschnitt einleiten (V.1, 14, 30). Dass es sich um eine Zukunftsvision auf Havanna handelt, manifestiert sich im überwiegend verwendeten Tempus des Futurs, wie z.B. „crecerás“ (V.5), „pensarán“ (V.7) und „inventarán“ (V.8). Auf pragmatischer Ebene findet sich ein dialogisches Grundprinzip wieder, wie es auch in Navarretes Stadt-Gedichten auftritt: Das lyrische Ich wendet sich an das Du ,seiner‘ Stadt, zu der es sich in Beziehung setzt. Im ersten Gedichtabschnitt wird durch „mi palma“ (V.2) und „pueblo mío“ (V.4) darüber hinaus ersichtlich, dass sich die Be- 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 264 zugnahme nicht auf Havanna beschränkt, sondern die gesamte Insel und ihre Bevölkerung umfasst. Dass die sprechende Instanz einen beinahe messianischen Ton anschlägt, zeigen schon die ersten fünf Verse, in denen sich auch im Hinblick auf Form und Inhalt eine entgrenzende Bewegung manifestiert: „mi palma crecerá hasta la Manchuria“ (V.2) - eines Tages wird meine Insel bis in die Mandschurei wachsen. Das Bergland der Mandschurei befindet sich im nordöstlichen China und markiert von Kuba aus betrachtet einen genau gegenüberliegenden Punkt auf der Weltkarte. Das Bild der bis an das andere ‚Ende‘ der Welt wachsenden Palme zeugt von einer visionären Ausweitung, in der die Insel den gesamten Globus zu umspannen vermag. Entsprechend zu dieser Semantik verweist auch die Länge des zweiten Verses in ihrer nach vorne gerückten Stellung auf eine texträumliche Ausdehnung. Dieser Erweiterungsgedanke trägt sich dann durch die Folgeverse, in denen das lyrische Ich sein Volk, „pueblo mío“ (V.4), beschwört, es werde über die Grenzen des Meeres hinauswachsen und zwar nicht einfach „eines Tages“, sondern „eines schönen Tages“, „un buen día“ (V.3). Die messianische Botschaft des lyrischen Ich an seine Insel ist ein Glücksversprechen, das durch eine Befreiung eingelöst werden wird. Die Adjektive „feliz“, „infinito“, „transparente“ und „libre“ im zweiten Gedichtabschnitt unterstützen die Semantik einer prospektiven Öffnung. Hierbei stechen die „glücklichen Arbeiter“, „obreros felices“, als Akteure hervor, die mit ihrer Imaginations- und Schaffenskraft zur Konstruktion der ins schier Unendliche geöffneten, freien Räume in der Stadt beitragen (V.7). Rhetorisch greift Tejera mit dem Terminus glücklich für die Arbeiter den spezifisch an der Arbeiterklasse ausgerichteten Diskurs des marxistischen Kommunismus auf, den sie unterläuft, um ihn sich kontradiktorisch für ihre eigene Botschaft anzueignen, die da lautet: Die Schaffenskraft des sozialistischen Kubas ist eingefroren, „engarrotada“ (V.20) und erstarrt durch die „rigidez ajena“ derjenigen, die sie beherrschen (V.17). Damit hat sich der gesellschaftliche Anspruch der revolutionären Utopie in sein Gegenteil verkehrt und Kuba ist zur Dystopie geworden, einem totalitären Raum der repressiven Kontrolle und des Freiheitsverlustes. Dieser erstarrten Entfremdung werden die Stadt und die darin lebenden Menschen eines Tages überdrüssig werden, denn in ihrer Lebendigkeit sind sie ungeduldig, sich weiterzubewegen und weiterzuentwickeln (V.13). Dass noch etwas kommen muss, ja dass es weitergehen muss, verdeutlichen auf formaler Ebene auch die Vielzahl offener Versenden, in denen die jeweilige syntaktische Einheit durch drei Auslassungspunkte abgeschlossen wird, die ellipsenhaft auf die verbleibende Offenheit des Satzes, auf einen noch zu vollendenden Gedanken verweisen (V.5, 13, 18, 30, 35). Im Hinblick auf das Phänomen der Öffnung ist für die ersten beiden Gedichtabschnitte die Unterscheidung zwischen der Stadt Havanna und 6.5 Entgrenzung 265 der Insel Kuba konstituierend. Sie zieht gewissermaßen eine Trennlinie zwischen Kultur und Natur: Die Stadt ist der Raum, „en donde se plasman los proyectos políticos, sociales, económicos y culturales de toda una generación, de un movimiento o una ideologia“ (Heffes 2008: 15). Damit kann die Hauptstadt als Sinnbild der Nation betrachtet werden, denn dort zentralisieren und vereinen sich nationale Ideen und Werte (vgl. ebd.). In LHD vermittelt die Metapher von Havanna als eingefrorener und entfremdeter Raum vor allem das Scheitern des politischen Projekts auf Kuba. Die Insel hingegen nimmt die apolitische und zeitunabhängige Stellung des Natürlichen, Originären und Unabänderlichen ein. Das kommt in der Gedichtpassage zum Ausdruck, die dem Jetzt-Zustand der Stadt ihren ‚eigentlichen’ Charakter gegenübergestellt (V.19-30). Dass die Stadt diesem natürlichen Charakter der Insel in nichts mehr gleicht, wird durch die Anapher „no se parece“ (V.21, 22, 25) gleichsam beschwörend hervorgehoben und mittels der durchgehenden Verwendung von Negationspartikeln zusätzlich unterstützt. In einem mittig eingerückten Versblock werden die auf die Insel hinweisenden Natursymbole „mar“ (V.21), „cielo“ (V.22) und „palma“ (V.23) aufgegriffen. Zusätzlich wird durch den Eigennamen „Cauto“, der einen zwischen den östlichen Provinzen Santiago de Cuba und Granma entlangströmenden Fluss benennt, spezifischer Bezug auf die Geografie Kubas genommen (V.24). Pars pro toto stehen die Natursymbole für die gesamte Insel, was im darauffolgenden Abschnitt invers zum Ausdruck gebracht wird: „Mi ciudad de La Habana [...] / no se parece a mi isla“ (V. 19, 25). An dieser Stelle findet auf texträumlicher Ebene zusätzlich eine Entzerrung der Versstruktur statt. Korrespondierend zur Semantik wird dadurch dem eigentlichen Charakter der Insel, ihre Heiterkeit und Ungezwungenheit, großräumig Platz gewährt: Die inmitten des Textraums angeordneten Adjektive „despejada“ (V.26) und „serena“ (V.27) füllen jeweils einen gesamten Vers aus und stehen offen und frei im Textraum. Diese Versstruktur wird im Darauffolgenden wiederholt und damit die Insel parallel zum „ser isleño“ gesetzt (V.28), dem die Attribute „vegetal“ (V.29) und „sonriente“ (V.30) zugewiesen sind. Durch diese Attribuierung entsteht das Bild eines naturverbundenen, vitalen und frohgemuten Inselbewohners. Das natürliche Wesen der Insel und auch die kreatürlichen ‚Inselwesen’ werden semantisch so mit einer beinahe unschuldig-kindlichen Unbeschwertheit charakterisiert. Neben der texträumlichen Entzerrung der Verse lässt sich eine weitere Auffälligkeit beobachten: Der aus elf Versen bestehende Gedichtabschnitt (V.19-30), in dem der entfremdete Jetzt-Zustand Havannas thematisiert, ist von Klammern umrahmt. Diese Parenthese ist auch als rhetorische Figur von signifikanter Bedeutung, handelt es sich hierbei doch um einen ergänzenden Kommentar. Dieser gedankliche Einschub, der zwar nicht im Vordergrund eines Textbzw. Satzgefüges steht, nimmt aber in Tejeras 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 266 Gedicht bemerkenswert viel Raum ein. Die Parenthese wächst sich dadurch zu einem gedanklich eigenständigen Beitrag aus, in dem die visionäre Zukunftsaussicht präsentisch entwickelt wird. Das schlägt sich auch im Tempuswechsel vom Futur ins Präsens nieder. Der vorletzte Gedichtabschnitt (V.31-35) greift den ersten wieder auf, jedoch in Form einer semantischen Umkehrung. Das lyrische Ich überbringt seinem Volk zu Beginn des Gedichtes die messianische Botschaft, dass es über das Meer hinauswachsen werde. Hier dagegen spricht es vom Meer, das die Stadt „überwachsen“ wird. Die Verben „cubrir“ (V.33) und „crecer“ (V.34) parallelisieren dabei als Alliteration das Überdecken und das „Überwachsen-Werden“ der Stadt durch das Meer. Diese Alliteration schließt im letzten Vers auch noch das Verb „construir“ mit ein (V.37). Damit bekräftigt der negativ prophetische Gedanke des Ausgangs den positiv visionären des Eingangs, d.h. Beginn und Ende des Gedichts stehen in einem antizyklischen Verhältnis zueinander: Erst der totale Untergang der Stadt wird dafür sorgen, dass sie von den befreiten Kubanern wieder neu aufgebaut werden kann, und das nicht nur an einem bestimmten Ort, sondern in der gesamten Welt. Hierbei muss die Unterscheidung von Natur und Kultur noch einmal hervorgehoben werden, denn die Naturgewalt und die ‚Gewalt der Kultur’ sind zwei unterschiedlich wirkende Kräfte: Nicht die Insel in ihrer natürlichen Wesenheit, sondern die Stadt Havanna symbolisiert das dystopisch totalitäre Projekt der „dominadores“ (V.18). Havanna muss daher ‚freigeräumt’ werden, damit das wahre, originäre Wesen der Insel wieder zum Vorschein kommt, so die Vision des Gedichts, die dem Leser mit einem gleichsam essentialistischen Pathos überbracht wird. Der Befreiungsgedanke wird auch durch die Graphie der Versstruktur unterstützt, die den Textraum freilegt, um Platz für noch auszufüllende Lücken, für neu zu besetzende Leerstellen zu schaffen. Die negative Vision einer tabula rasa macht die auf den Stadtraum bezogene positive Konstruktion von „rampas infinitas“ (V.8), „parques transparentes“ (V.9) und „espacios libres“ (V.11) überhaupt erst möglich. In der ausufernden Versarchitektur spiegelt sich das Potential einer zu erbauenden Stadt-Architektur, in deren Offenheit jegliche Grenzen ausgeräumt werden. Auf das nationale Projekt Kubas übertragen bedeutet dies, dass erst der Untergang desselben dazu führen kann, es wieder neu zu denken und zu erschaffen. Der totale zivilisatorische Untergang in der Metapher der vom Meer überfluteten Stadt erinnert an den Topos der biblischen Sintflut und damit auch an die Metapher des Kataklysmus, die im Diskurs der kubanischen Gegenwartsliteratur auf das Scheitern der Revolution verweist (vgl. 6.2.3 „Havanna: Das verlorene Paradies“). Der Kataklysmus referiert auf das Resultat einer verheerenden Revolution, die sich zerstörerisch auf das Stadtbild Havannas ausgewirkt hat. Mit der an die Sintflut erinnernden Meta- 6.5 Entgrenzung 267 phorik hingegen eröffnet sich in Tejeras LHD eine prospektive Vision, die im Gegensatz zu einer nostalgischen Rückbezogenheit auf die einstige Schönheit der Stadt steht, und stattdessen den Blick in die Zukunft richtet. Auf der Suche nach einer „espacialidad alternativa“ (Heffes 2008: 19) entwirft die Dichterin die Utopie einer alle Grenzen überwindenden und entterritorialisierten Inselwelt, die sich über den gesamten Globus ‚ergießt’, eine Nation, die sich überall auf der Welt neu aufbauen wird. Dieser utopischen Vision steht spiegelbildlich die Dystopie einer eingesperrten Gesellschaft gegenüber, die dem Untergang geweiht ist: Erst deren imaginierte „descomposición“ ermöglicht eine imaginäre „resignificación“ der dystopisch eingegrenzten Insel-Welt als utopisch entgrenzte Inselwelt (vgl. ebd.). Tejeras Utopie ist ein prospektiver Imaginationsraum, in dem sich mittels der vorgängigen Vision einer tabula rasa das Freiheitsversprechen verwirklichen kann. Die messianische Botschaft überwindet so die dystopische Horrorvision des ‚revolutionären’ Jetzt-Zustands auf der Insel Kuba und proklamiert eine neue Revolution, in der Hoffnung, dass sich die Insel künftig der Welt anschließt und die verlorene Nation Kuba weltumschließend ihr Zuhause finden kann. Die Vorstellung eines gelingenden Zusammenlebens projiziert sich in die Zukunft. Die kubanische Nation bleibt damit ein offenes Projekt, eine Utopie, die erst noch erdacht werden muss. 6.5.3 Die Inselwelt im Louvre Im Folgenden wird ein weiterer Essay Navarretes aus Canopea del Louvre herangezogen, „Hundimiento de la Isla“ (Canopea 213-219). 79 Im Hinblick auf die Intermedialität der Ekphrasis wird neben der Frage nach medialen Übersetzungs- und Rekonfigurationsprozessen verstärkt das Phänomen räumlicher Überlagerungen in den Blick genommen (vgl. 5.5.1 „Stimmenvielfalt und kulturelles Übersetzen“). Der Louvre, meistbesuchtes und drittgrößtes Museum der Welt, kann im Sinne Michel Foucaults als Heterotopie bezeichnet werden. Denn die Heterotopie bringt an einem reellen Ort mehrere Räume und Zeiten zusammen, „qui normalement seraient, devraient être incompatibles“ (Foucault 2005: 44). Im Museum wird an ein und demselben Ort durch die Ansammlung von Gemälden ein Raum aller Zeiten geschaffen (ebd.: 46). Hinsichtlich der Strategien kultureller Aneignung schlägt sich in Navarretes Essay das Phänomen einer „fraktalen Schreibweise“ nieder (Ette 79 Im Folgenden „Hundimiento“. Eine Interpretation dieses Aufsatzes findet sich in Gremels, Andrea (2010): „Grenzgänger in Paris: kubanische Poeten im Louvre“. In: Becker, Lidia / Demeulenaere, Alex / Felbeck, Christine (Hg.): Grenzgänger und Exzentriker. Beiträge zum XXV. Forum Junge Romanistik in Trier. München: Maidenbauer, 161-173. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 268 2010b: 283), die den heterotopischen ‚Vielort’ des Louvre aus seiner kulturspezifischen Perspektive fortschreibt. Das Phänomen der fraktalen Vervielfältigung der Insel in der Welt lässt sich am Beispiel des Essays „Hundimiento de la Isla“ exemplarisch untersuchen. Darin thematisiert Navarrete mittels der Ekphrasis das Schicksal der balseros. Die Auseinandersetzung mit den Bootsflüchtlingen, die Kuba seit des período especial auf improvisierten Flößen gen Florida zu entkommen versuchen, tritt in der kubanischen Gegenwartsliteratur häufig auf. 80 Ihr Schicksal spiegelt die Not der kubanischen Bevölkerung im ausgehenden 20. Jahrhundert wider. Verzweifelte Flüchtlinge riskieren auf brüchigen Flößen ihr Leben auf hoher See. De la Nuez argumentiert: „Quizá la tragedia de los balseros sea la más absoluta metáfora de Cuba y, a la vez, de las utopías y frustraciones que han mareado el Atlántico“ (1998: 19). Die Betrachtung des Gemäldes Le radeau de la Meduse von Théodore Géricault bietet dem Autor den Impuls zur Auseinandersetzung mit den kubanischen Bootsflüchtlingen. Das Gemälde, das im Pariser Herbstsalon von 1819 ausgestellt wurde, schockierte die Besucher zunächst durch seine eindrucksvolle Größe von fünf mal sieben Metern, durch die es „alle übrigen Werke im Salon zu erschlagen drohte“. 81 Zudem löste nicht nur die imposante Größe des Gemäldes, sondern auch dessen Thema einen Skandal aus, denn Géricault bezieht sich auf ein Ereignis seiner Zeit, das sich als Trauma in das kollektive Gedächtnis Frankreichs einbrannte: den Untergang der Fregatte Medusa im Jahr 1816. Die Fregatte war im Zuge der napoleonischen Kriege zum Schutz der wiedergewonnen Kolonie Senegal ausgesandt worden und an der Küste Mauretaniens gekentert. Die Überlebenden retteten sich auf ein Floß. 80 Das Schicksal der balseros fließt vor allem auch in die Testimonio-Literatur ein, wie bspw. in Jacobo Machovers Cuba: Histoire d’un naufrage (vgl. 5.2.3 „No olvides: Wortergreifung als Widerstand“. Auch Zoé Valdés hat Zeugenschaftsberichte von kubanischen Bootsflüchtlingen gesammelt. Valdés, Zoé (1995): En fin, el mar: cartas de los balseros cubanos. Palma de Mallorca: Bitzoc. 81 Weiss, Peter (2005): Die Ästhetik des Widerstands. Frankfurt: Suhrkamp, 425. In seiner Ekphrasis der Medusa betont der Romancier Weiss, Géricaults Gemälde habe einen „gefährlichen Angriff auf die etablierte Gesellschaft“ dargestellt (ebd.) 6.5 Entgrenzung 269 Abb.2 Théodore Géricault: Le radeau de la Méduse (1819) (http: / / commons.wikimedia. org/ wiki/ File: Theodore_Gericault_Raft_of_the_Medusa-1.jpg. Zugriff: 15.10. 2013) In einem Prozess der intermedialen De- und Rekontextualisierung setzt Navarrete das Scheitern der französischen Nation angesichts des Untergangs der Medusa in Bezug zum Untergang seiner Insel Kuba. Das Floß der Medusa steht für ihn synonym zum ‚Schiffbruch’ der kubanischen Revolution: 82 „Nuestra isla se hunde. Los últimos sobrevivientes del cataclismo nos hemos puesto al salvo“ (Hundimiento 213). Schon diese einleitende Textzeile des Essays deutet an, dass für Navarrete nicht primär das Schicksal der balseros im Vordergrund steht, sondern der Untergang der Insel selbst: „¡Como si la isla entera no fuera también un barco que naufraga, con hombres a bordo que se delatan, se humillan, se rehúyen, o intentan, como nosotros, ponerse a salvo sin importarles lo descabellado de la empresa! “ (Hundimiento 214f). Auffällig ist hier, dass sich die narrative Instanz als Stimme eines Wir positioniert. Die Verwendung der Verben „delatarse“, „humillarse“ und „rehuirse“ - sich gegenseitig verraten, ernie- 82 Vgl. Spiller, Roland (2010): „,Nuestra isla se hunde’: naufragio con espectadores o como d/ escribir el fracaso del castrismo“. In: Gremels / Spiller (Hg.), 216, 220. Spiller hebt an verschiedenen Beispielen der kubanischen Gegenwartsliteratur hervor, dass das Scheitern der kubanischen Revolution ausschlaggebend in der Metapher des Schiffbruchs Ausdruck findet. Dabei bezieht er sich neben Navarretes Essay auf ein weiteres intermediales Beispiel: den Song „Mi balsa“ der kubanischen Punkband Porno para Ricardo (222-227). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 270 drigen und ausweichen - zeigt das Auseinanderfallen des kollektiven Wir in der akuten Notlage des Schiffbruchs. Doch trotz der Uneinigkeit und Uneinheitlichkeit des Kollektivs wird bei der Wortergreifung mit dem ‚Wir’ die Stimme aller Kubaner aufgegriffen: „No deseamos seguir viviendo en el silencio sordo de miles y miles voces apagadas“ (214). Navarrete nimmt die Stimmen derjenigen auf, die nicht mehr gehört werden können, da sie auf der Flucht gestorben sind, aber auch die derjenigen, die sich haben retten können, deren Stimme aus dem Exil jedoch unerhört bleibt (vgl. 5.2). Damit verweist der Autor auf sein individuelles Schicksal, denn er gehört der Gruppe der „Überlebenden“ an, die sich vor dem Untergang der kubanischen Revolution in Sicherheit haben bringen können. Im zweiten Teil des Essays wird diese Stimme des kollektiven Wir durch einen Ich-Erzähler abgelöst. Er ist identisch mit der dritten Figur von rechts auf dem Gemälde, aus deren Perspektive fortan erzählt wird. Der Mann schaut in nachdenklicher Pose mit starrem Blick ins Leere. Er ist die einzige Figur des Gemäldes, die dem Bildbetrachter zugewandt ist. Schützend - so Navarette - hält er einen sterbenden Körper in den Armen, im Wissen, ihn vor den Wellen des Meeres nicht retten zu können, die ihn zu verschlingen und begraben drohen (Hundimiento 216). Auf diese Weise dringt der Schriftsteller in das Bildinnere hinein, um sich darin als Teil und Teilnehmender des Untergangs der Insel in Szene zu setzen. Zugleich tritt die von ihm be- und geschriebene Figur aus dem Bildinnern heraus, indem sie sich an ihre Betrachter, die Besucher des Louvre, wendet: ¿Quiénes tendrán ahora, en este justo instante en que la muerte nos acecha, la dicha de poder pasearse por las extensas galerías del museo, rebosantes de obras maestras y de belleza? ¿Quién estará ahora contemplando nuestro naufragio creyendo de seguras que somos personajes del pasado cuya historia no volverá a repitirse? (Hundimiento 217) Die im Text imaginierte Interaktion zwischen Betrachter und Betrachteten bringt die klare Grenze zwischen beiden Positionen ins Wanken und geht so weit, die Distanz zwischen Innen und Außen aufzuheben, denn der Text „elimina la distancia lucreciana entre el observador en tierra firme, segura y tranquila y los náufragos luchando con las olas del mar“, so Spiller (2010: 221). Damit erwacht das Gemälde nicht nur für den schreibenden Kunstbetrachter zum Leben. Auch für den lesenden Galeriebesucher wird das Kunstwerk zu einem lebendigen Erfahrungsraum. In Anlehnung an John Deweys philosophische Überlegungen zur Kunst als Erfahrung (Art as experience 1934) wird der Schaffensprozess des Künstlers vom Betrachter nachvollzogen, denn das Geschaffene löst in ihm einen eigenen Erlebensprozess aus. In ihrer Vergegenwärtigung fungieren die auf dem Gemälde repräsentierten Figuren nicht mehr nur als bloße Abbildungen der Ver- 6.5 Entgrenzung 271 gangenheit. Die Interaktion verlebendigt das Kunstwerk, bringt es in Bewegung und verwandelt es in gelebte Erfahrung. 83 Dass der Schiffbruch der Medusa nicht auf den Rahmen des Gemäldes beschränkt bleibt, sondern denselben gleichsam sprengt und bis in die Hallen des Museums vordringt, macht die folgende Passage deutlich, in der das Bildinnenleben in transversale Bewegungsläufe überführt wird: Si no tuviera tanto miedo a los tiburones [...] me tiraría al mar y daría tantas, tantas y tantas brazadas, que llegaría, mojado, harapiento, pero con los ojos radiantes de felicidad a esa galería del museo, dondo tal vez, mirándome de frente, lograría saber si viviré (Hundimiento 219). Im Text ist die Figur des Bildes auf dem Floß in Bewegungslosigkeit gefangen, stellt sich aber gleichzeitig eine Grenzüberschreitung in die Freiheit vor. Das Meer stellt eine unüberwindbare Grenze dar. Der Ich-Erzähler imaginiert deren Überwindung, die dazu führen könnte, dass er sich wieder als lebendig wahrnimmt. Er bleibt jedoch gefangen und dem Untergang des Floßes ausgeliefert. Während die anderen Figuren des Bildes dem Betrachter den Rücken zukehren und hilfesuchend ‚zurück’ schauen, dorthin, wo ein auftauchendes Schiff am Horizont Rettung verspricht, erkennt die ‚nach vorne’ blickende Figur die Hoffnungslosigkeit der Situation: „Nuestra suerte no importa a nadie. No encontraremos en nuestra huida ningún barco que se apiade de nosotros“ (ebd.: 214). Die Ausweglosigkeit der Flucht verweist wiederum auf die metaphorische Bedeutung des Floßes als untergehende Insel: „Huimos porque hay que huir“, heißt es im Text (ebd.). Das Motto „Rette sich wer kann“ spiegelt die Befindlichkeit der Kubaner seit der Spezialperiode wieder (vgl. Spiller 2010: 221). Die Betrachtung von Géricaults Gemälde löst in dem kubanischen Schriftsteller einen Erlebensprozess aus, der in Beziehung zu seiner kulturspezifischen Wahrnehmung steht. Im erzählerischen Prozess der Ekphrasis entsteht ein „intermediales Palimpest“ (Spiller 2010: 221), in dem sich die eigentlich unvereinbaren zeiträumlichen Ereignisse, der Untergang der Medusa und der ‚Schiffbruch’ Kubas, heterotopisch überlagern. Navarrete „revisita [...] los resultados devastadores de la Revolución“ (ebd.). Damit schreibt er den ‚Schiffbruch’ der kubanischen Revolution in Géricaults Gemälde ein, das er auf diese Weise kulturell umkodiert und neu erschafft. Die räumliche Überlagerung stellt eine transkulturelle Grenzüberschreitung dar. Im Prozess der medialen Interaktion von Schrift und Bild zeigt 83 Dewey übt Kritik am isolierten Zustand von Kunstwerken in Museen, wo sie lediglich als „specimens of fine art and nothing else“ fungieren: „Objects that were in the past significant because of their place in the life of a community now function in isolation from the conditions of their origin. By that fact they are also set apart from common experience, and serve as insignia of taste and certificates of special culture“. Dewey, John (1934): Art as experience. New York: Peregree, 9. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 272 sich eine „fraktale Schreibweise“, die die Insel Kuba in der Welt vervielfacht (Ette 2010b: 283). Damit ‚transplantiert’ der Kunstbeschreiber die Inselwelt unmittelbar in die Gänge des Louvre. Damit lässt sich die transterritoriale Ausweitung der kubanischen Kultur erfassen, die in multirelationale Begegnungen und dynamische Bewegungen eingebunden ist. Im Sinne de la Nuez’ bringt die Metapher des „treibenden Floßes“, „la balsa perpetua“, dieses In-Bewegung-Sein exemplarisch zum Ausdruck: „La balsa [es] como una isla flotante, como esa pieza perdida en el puzzle del mundo que cada cual quiere insertar a su manera y según su propio mapa“ (1998: 19). Mit „Hundimiento de la isla“ lässt sich das Spannungsverhältnis von Heimatverlust und Weltengewinn beispielhaft aufzeigen. Denn Géricaults Le radeau de la Méduse wird dem Autor zur Projektionsfläche, auf der sich das fehlende Puzzlestück, „la isla flotante“, heterotopisch vergegenwärtigt und fraktal vervielfältigt. 6.5.4 Kuba in Marokko Das Thema des Reisens soll an dieser Stelle die Reflexionen über die Verortung und Beheimatung der kubanischen Literatur in Paris abschließen. Spiller bezeichnet Navarrete als „infatigable viajero“ (2010: 220), einen unermüdlich Reisenden, der sich jeder Sesshaftigkeit widersetzt und stets im Aufbruch begriffen ist, andere Kulturen und Welten zu entdecken. Das Reisen ist auch in Navarretes Blog omnipräsent. Dieser Blog dient ihm als virtuelles Verbreitungsmedium und stellt eine Kommunikationsplattform dar, mit der Navarrete auf eigene Texte, Veröffentlichungen und Rezensionen aufmerksam macht. Darüber hinaus publiziert er auch zahlreiche literarische Fundstücke und Veröffentlichungen anderer AutorInnen, die für ihn von Interesse sind. Mit dem Titel „Desde París y a veces desde donde me agarra la noche“ hält Navarrete die internationale Leserschaft seines Blogs - die von Moskau bis nach San Fransisco reicht - mit wenigen Unterbrechungen fast tagtäglich über künstlerische und literarische Ereignisse und Veranstaltungen in Paris und rund um das kubanische Kulturschaffen weltweit auf dem Laufenden. 84 In seiner Funktion als virtuelles Tagebuch dient Navarrete der Blog darüber hinaus zur fotographischen Reisedo- 84 Vgl. http: / / cubalpairo.blogspot.de/ . Zugriff: 17.11.2012. Aufgrund der Überschreitung der Datenmenge auf dieser seit September 2007 genutzten Website hat Navarrete am 15. Juli 2012 zu folgender Adresse gewechselt, auf der die Einträge unter dem Titel „Un nuevo blog, nuevas aventuras, temas, historias…“ fortgeführt werden: http: / / williamnavarrete.wordpress.com/ . Zugriff: 17.11.2012. Auf einer Weltkarte auf der rechten Seites der Website ist markiert, wer sich von wo einloggt, um den Blog zu lesen. Die Leserschaft ballt sich in Spanien und rund um die Karibik, wo sie von Mexiko bis Kolumbien reicht (mit Leerstellen in den zentralamerikanischen Staaten Guatemala, Honduras und Nicaragua). 6.5 Entgrenzung 273 kumentation: In der Zeitspanne von 2007 bis 2012 hat der Leser die zahlreichen Reisen des Autors mitverfolgen können: Er bereist ganz Frankreich von der Normandie bis an die Côte d’Azur, in Spanien besucht er die Städte Salamanca, Valencia, Sevilla, Madrid und Barcelona und die kanarischen Inseln. Zudem zieht es ihn nach Italien, ins türkische Zypern und nach Malta, nach London, Dublin und Amsterdam. Auf dem amerikanischen Kontinent durchquert er Florida und reist von dort gen Süden über Guayaquil in Mexico und Cartagena in Kolumbien bis hin zur Stadt Cuenca in Ecuador. 85 In der Ortlosigkeit des Reisens fühlt sich der Dichter verortet: „Viajo. Es para mí, mi lugar“ (A.IV 332). Drückt das Reisen zwischen Heimatverlust und Weltengewinn sein transkulturelles Selbstverständnis aus? Unter dieser Leitfrage wird abschließend Navarretes Anthologie Lumbres veladas del sur in die Analyse aufgenommen. 86 Sie enthält fünfzehn Gedichte, die während einer im Jahr 2007 unternommenen Reise in den Süden Marokkos entstanden sind. Die Anthologie verschränkt als poetischer Reisebericht das empirische Abenteuer und das poetische Erleben des Reisens, „le voyage réel et poétique“, miteinander. 87 Somit bringen die Gedichte auch die „doppelte Prozessualität von Reisen und Schreiben“ im Sinne eines schreibenden Reisens und eines reisenden Schreibens zum Ausdruck. 88 Wie Friedrich Wolfzettel in Bezug auf den typischen Reisebericht französischer Literaten feststellt, ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit dem Reisen immer auch eine existentielle Suche verbunden, „die die Begegnung mit dem Fremden zur Selbstbegegnung werden läßt.“ 89 Dieses Phänomen ist im Hinblick auf LVS von besonderem Interesse, lässt sich doch hier in ausgezeichneter Weise das transkulturelle Selbstverständnis des kubanischen Dichters entfalten, der in Paris lebt und über Marokko schreibt. Es geht in Navarretes Reiseberichten nicht primär um ein „Evasionsbedürfnis“ bzw. um eine ‚Ausbruchserfahrung’ aus den festen Strukturen eines „heimatlichen“ Gefüges (vgl. Wolfzettel 1986: 9, 10). Im Verhältnis zwischen Fremderfahrung und Selbsterkenntnis ist Lumbres veladas del sur 85 Bilder und Texte zu diesen Reisen finden sich auf: http: / / cubalpairo.blogspot.de/ . Zugriff: 17.11.2012. 86 Navarrete, William (2008): Lumbres veladas del sur. Valencia: Aduana Vieja. Im Folgenden LVS. 87 Roy-Camille, Christian: Präsentation Lumbres veladas del sur im Februar 2009, Maison d’Amérique Latine. Anhang A.III 318-321, hier 319. 88 Vgl. Kraume, Anne (2008): „Raum und Literatur in den Reisetagebüchern von Gide und Michaux“. In: Buschmann, Albrecht / Müller, Gesine (Hg.): Dynamisierte Räume. Online-Publikation, 27-36, 29. http: / / www.uni-potsdam.de/ romanistik/ ette/ buschmann/ dynraum/ kraume.html. Zugriff: 18.11.2012. 89 Wolfzettel, Friedrich (1986): Ce désir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts des 19. Jahrhundert. Tübingen: Max Niemeyer, 8. 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 274 vielmehr eine doppelte Alterität inhärent. Denn Navarrete ist schon vor Antritt seiner Reise ein Heimatloser, der sich als Fremder in der Fremde bewegt. [L]e poète devient l’étrange étranger qui va aller vers l’autre tenter de décrypter ses mythes, ses croyances, sa religion, ses êtres et égalemente se fondre dans une population sensualisé, intellectualisé, la voir dans tous ses aspects (A.III 319, Hervorhebung AG) Die Stationen von Navarretes Marokko-Reise seien hier kurz geschildert: Sie beginnt am Fuße des Atlas-Gebirges („Canto al pie de los Atlas“, LVS 11-12) und durchläuft von dort aus verschiedene, oft touristisch bekannte Stationen. Darunter befindet sich auch der 1918 vom französischen Maler Jacques Majorelle erschaffene Garten Jardin Majorelle. In dessen Zentrum erbaute dieser ein kobaltblaues Ateliergebäude, das von 1980 bis 2008 von Yves Saint-Laurent bewohnt wurde („Conversión añil de Majorelle“, LVS 14-15). Im Osten von Marrakesch bereist Navarrete die dort angesiedelten Gärten von La Menara mit ihren Olivenhainen („Encuentro galante en La Menara“, LVS 27-28). Die prächtige Farbenvielfalt dieser Gärten kontrastiert der Dichter durch die sandige Trockenheit des Oued Tensift, einem im Sommer ausgetrockneten Flussbett des im Hohen Atlas entspringenden Flusses, der die Ebene Haouz durchfließt („Rapsodia del oued seco“, LVS 22). Von dort aus erklimmt Navarrete das Gebirge und genießt das höchstgelegene Gebiet des Atlas namens Oukaimeden, „el techo de gres de los Atlas“ mit seinem Panorama-Blick über das Land („Oukaimeden“, LVS 25, V.1). Der unendlichen Weite stellt er die räumliche Geschlossenheit und Geborgenheit bei seinem Hammambesuch gegenüber („Hammam“, LVS 24). Auch der an der Westküste Marokkos gelegenen Hafenstadt Essaouira, ehemals Mogador und wichtiger Stützpunkt des Sklavenhandels, widmet er ein Gedicht („Magia de los hierros“, LVS 23). Besonders fasziniert ist er jedoch von der Stadt Marrakesch, die im Mittelpunkt seiner Reise(-Anthologie) steht. Dort durchläuft er die Kasbah, den Basar von Smarine und den Platz Jemaa el-Fna („El detentor de la memoria“, LVS 29-30 und „El gran Halka“, 20-21). Am Rande des Platzes besucht er schließlich das Restaurant Chez Chezgrouni, das Stammlokal des 1999 verstorbenen, amerikanischen Schriftstellers Paul Bowles, der Marokko seit 1947 zu seiner „Wahlheimat“ gemacht hatte („Paul Bowles en In Salah“, LVS 31-32). 90 Anhand des Gedichts „El gran Halka“ (GH) kann exemplarisch veranschaulicht werden, wie Marrakeschs zentraler Marktplatz zu einem Ort verdichtet wird, an dem verschiedene Räume und Zeiten sowie Texte und 90 http: / / www.spiegel.de/ kultur/ literatur/ marokko-us-autor-paul-bowles-gestorbena-52894.html. Zugriff: 15.02.2013 6.5 Entgrenzung 275 Kontexte transkulturell zusammenwirken. Wie bereits am Beispiel von Navarretes Havanna-Gedichten herausgearbeitet, herrscht auch hier ein dialogisches Grundprinzip vor (vgl. 6.2.3 „Havanna: Das verlorene Paradies“): Auf der Ebene der Pragmatik spricht das lyrische Ich den Stadtraum als personalisiertes Gegenüber an. Nur nimmt hier nicht die Stadt als Ganzes eine personifizierte Gestalt an, sondern ein Ort in der Stadt: nämlich der 2001 in die UNESCO-Liste der „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ aufgenommene, bunte Kulturraum des Jemaa el-Fna-Platzes. Auf dessen weiter Fläche tummeln sich Gaukler, Schlangenbeschwörer, Akrobaten, Hellseher, Musiker, Tänzer sowie Händler aller Couleur und Touristen aus der ganzen Welt. 91 Berühmt ist der Platz auch für seine in der marokkanischen Kulturtradition verhafteten öffentlichen Erzähler, genannt „halaïqi“, die ihr Auditorium interaktiv am erzählerischen Geschehen beteiligen. 92 Auf diese Zuhörerschaft, die „halqa“, referiert der Titel des Gedichts. 93 Angesichts seines „mündlichen und immateriellen“ Kulturerbes ist der Marktplatz Marrakeschs zu einem literarischen Topos avanciert, der von vielen zeitgenössischen Literaten thematisiert worden ist, darunter Elias Canetti, Bodo Kirchhoff, Tahar Ben Jelloun und nicht zuletzt Juan Goytisolo, dem Navarrete sein Gedicht widmet. 94 Der spanische Schriftsteller Goytisolo ging von 1956-57 in der Zeit der Franco-Diktatur ins Pariser Exil und lebt heute in Marrakesch direkt in der Nähe des Marktplatzes. Er hat sich maßgeblich dafür engagiert, dass der Platz in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wurde. Daher lautet Navarretes Widmung: „a Juan Goytisolo, salvador de la dulce albórbola de Jemaa el-Fná“ (LVS 20). Der „albórbola“, ein Arabismus der spanischen Sprache, ist mit „fröhliches Stimmengewirr“ zu übersetzen. Dieser Begriff übt eine große Faszination auf Navarrete aus. Damit reiht er sich empathisch in die Liste derjenigen ein, die sich dieses literarischen Topos’ bedienen, um die kulturelle Diversität und das humanitäre Potential Jemaa el-Fnas zu feiern. Feierlich sind daher auch die Worte, die Navarrete für diesen Ort in seinem Gedicht auswählt: 91 Es sind verschiedene Schreibweisen geläufig, darunter „Jamaa el-Fna“ oder auch „Djemaa el-Fna“. In Touristenführern wird der Platz häufig als „Platz der Gaukler“ bezeichnet. Vgl. Sobik, Helge: „Unterwegs in Marrakesch: Märchen vom Platz der Geköpften.“ In: Spiegel vom 09.01.2013: http: / / www.spiegel.de/ reise/ fernweh/ ein-spaziergang-durch-marrakesch-gassengeschichten-gauklerplatz-a-875565.html. Zugriff: 15.01.2013. 92 Vgl. Mayer, Linda (2001): Positionen zur französischsprachigen Literatur des Maghreb. Berlin: dissertation.de, 194. 93 Die eigentlich korrekte Schreibweise aus der arabischen Umschrift lautet „halqa“. 94 Vgl. Elias Canettis Reisebericht Die Stimmen von Marrakesch (1968), Tahar Ben Jellouns Romane L’enfant de sable (1985) und La nuit sacrée (1987), Bodo Kirchhoffs Parlando (2001), und Juan Goytisolos Makbara (1980). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 276 El gran Halka 01 Teñida de rosa, apenas lista para las abluciones, 02 eres la novia de todos los hombres solitarios 03 y repartes amor -o los vendes- 04 a quien quedó abandonado 05 en una de tus tardes nebulosas 06 cuando la Kutubia, tu centinela ausente, 07 apenas puede amenazarte, 08 o cuando la voz del almocrí se apaga 09 ante el festín sagrado de los gnaouas, 10 ante el profano don de tus gitanas. 11 De rojo bermejo te me pones, 12 como las guerreras que ostentan la alheña, 13 si te contemplo, borrosa y agitada, 14 esconder de tu algazara las miradas 15 de tu ejido de cuerpos voluptuosos 16 bailando al compás de la humareda, 17 al amparo del miedo y de las dudas 18 que dejan tras las puertas de sus casas 19 para entregarse a ti, la fiel hermana, 20 para mirarse en ti como en sus lunas. In den ersten zwei Strophen, bestehend aus jeweils zehn Versen, fällt die weibliche Personifizierung Jemaa el-Fnas auf. Der Platz ist die heimliche Freundin und Geliebte, „la novia“ (V.2), der einsamen Männer. Für die Frauen ist er die treue Schwester, „la fiel hermana“ (V.19), die sich ihm hingeben, wenn sie aus ihren abgeschlossenen Häusern heraustreten. In Bezug auf die Liebesmotive verleiht Navarrete der Öffentlichkeit des Stadtraums einen intimen und privaten Charakter, denn dort findet Liebe statt - sie wird verteilt oder eben auch verkauft (V.3). Die Betonung des Weiblichen überwiegt auch im Hinblick auf die Figuren, die in den ersten beiden Strophen evoziert werden: Zigeunerinnen (V.10), mit Henna bemalte Kriegerinnen (V.12) und die Tänzerinnen mit ihren „cuerpos voluptuosos“ (V.15). In das Weiblich-Intime mischen sich Phantasien des Erotischen. Hierzu passt die Tageszeit: Es herrscht eine Abendstimmung. Das Rot der den Platz umgebenden Stadtmauern färbt sich zunächst rosa ein, „teñida de rosa“ (V.1), um dann von der untergehenden Sonne in scharlachrotes Licht getaucht zu werden (V.11). Zu der Stunde, in der sich die Kutubia- Moschee leert und der Ruf des Muezzins verklungen ist, beginnt auf dem Platz das Fest der Zigeuner und der Gnaoua-Musiker, der in Marokko angesiedelten Nachfahren westafrikanischer Sklaven (V.6-10). Die Synästhesie aus Farben und Klängen erzeugt eine mystische Atmosphäre, in die sich der aufgeregte Lärm und die hektische Betriebsamkeit mengen, die das 6.5 Entgrenzung 277 lyrische Ich auf dem Platz beobachtet (V.13-14). Jemaa el-Fna wird so zu einem Schauplatz entfesselter Energien. Das lyrische Ich verlautbart seinem Gegenüber: Bei dir können sich die Menschen von ihren Ängsten und Zweifeln befreien (V.17). Gleichzeitig beherbergt der Platz verborgene Phantasien und versteckte Ängste, also die Geheimnisse der Menschen, was in der dritten Strophe zum Ausdruck gebracht wird: 21 Hay quien te ha visto azul hipnotizado 22 yo verde de ilusión que se desgrana 23 del relicario donde guardas los secretos 24 de la mujer descalza, del viejo enfermo, 25 del niño que encontró la monedilla 26 para llevar un frasco de hamamelis 27 como un hallazco de tu entraña 28 que alivia el rostro sombrío de la espera 29 como esperan por ti los que se ausentan 30 de tu ritual de olores y quimeras. Mit der religiösen Allusion auf den Reliquienschrein wird Jemaa el-Fna hier nicht nur zu einem geheimnisvoll-mystischen, sondern - einer Pilgerstätte gleich - zu einem nahezu heiligen Ort stilisiert. Dieser Platz verspricht jedem, auch Armen und Kranken, eine Linderung ihrer Schmerzen - der barfüßigen Frau, dem erkrankten Greis und dem mittellosen Kind, das sich mit einer gefundenen Münze eine Flasche erfrischende Hamamelis-Salbe kaufen kann (V.24-25). Darüber hinaus wird das Spiel mit den Farben und Klängen noch weiter getrieben und synästhetisch durch die Sinneseindrücke der Gerüche, „ritual de olores“ erweitert (V.30). Mit „azul hipnotizado“ (V.21) wird farbsymbolisch auf Tiefe und Unergründlichkeit angespielt, während die Farbe Grün, „verde de ilusión“ (V. 22), die Hoffnung symbolisiert. Der Platz erweist sich damit als Hoffnungsträger, auf den auch diejenigen noch ihre Erwartung richten, die ihm fern bleiben, „como esperan por ti los que se ausentan“ (V.29). Er verwirklicht für den Dichter die Utopie, dass die Menschen in all ihrer Diversität mit ihren sozialen, religiösen, ethnischen und kulturellen Unterschieden auf einem Platz in der Welt zusammenleben können. Indem Navarrete die dynamische Lebendigkeit an diesem Ort poetisch zu erfassen sucht, verdichtet er gleichzeitig den Platz Jemaa el-Fna selbst zu einem lebendigen Organismus mit Eingeweiden (V.27) und schließlich auch einer Seele, wie es die letzte Strophe offenbart: 31 Mas nadie podrá verte nunca negra 32 porque tu alma es una recompensa 33 al que a tus pies se rinde sin reservas, 34 y hasta la viuda del mago de las letras 35 oyó de ti al juglar de lengua extraña 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 278 36 contar su nombre y el espectro de Averroes, 37 como encontré en tu seno, ¡oh dulce plaza! , 38 el ungüento oloroso de mi infancia, 39 el recuerdo apotecario de la China 40 en su última morada de La Habana. In dieser Strophe wird das Schmerzen lindernde und heilende Potential des Jemaa el-Fna noch einmal betont: Wer sich der Seele dieses Platzes hingibt, wird ent-schädigt, d.h. buchstäblich seiner „Schäden“ entledigt - „tu alma es una recompensa“ (V.32). Dies wird einmal mehr durch die Farbsemantik unterstützt. In Schwarz würde dieser Ort niemandem je erscheinen, denn seine Farbenvielfalt siegt über die Dunkelheit (V.31). Als Ort der Ent-Schädigungen ist der Platz in gleichem Maße auch ein Ort der Ent-Deckungen. Neben der Farbenvielfalt ent-deckt Navarrete - wie schon angesprochen - vor allem die vorherrschende Stimmen- und Sprachenvielfalt des Platzes. Dies unterstreicht er durch einen intertextuellen Verweis auf Jorge Luis Borges, „el mago de las letras“ (V.34). Borges hatte Marrakesch zum Ende seines Lebens, als er bereits erblindet war, zweimal besucht. Ganz auf sein Gehör zurückgeworfen war er fasziniert von der Polyphonie des Jemaa al Fna-Platzes. 95 In GH erinnert sich Navarrete an die Worte von dessen Frau Maria Kodama, die Borges’ Werk seit seinem Tod öffentlich repräsentiert. Sie selbst erinnert sich gehört zu haben, dass auf dem Platz ein Geschichtenerzähler auf Arabisch Borges’ Namen aussprach und den Geist Averroes’ hervorrief (V.34-36). 96 Damit wird nicht nur ein Bezug auf das Leben des spanisch-arabischen Arztes und Philosophen Averroes hergestellt, der zu Beginn des 12. Jahrhunderts im spanischen Córdoba geboren wurde und 1198 in Marrakesch verstarb. Zugleich referiert sein Name auch auf Borges’ Kurzgeschichte von 1949, „La busca de Averroes“, in der sich der Gelehrte Averroes bei der Übersetzung der Poetik von Aristoteles ins Arabische mit dem Hindernis konfrontiert sieht, nicht zu wissen, was die Worte „Tragödie“ und „Komödie“ bezeichnen, da in seinem Kulturkreis Theateraufführungen nicht existieren. 97 Die Allusion 95 Vgl. Larech, Oumana Aouad (1999): „Sur les traces de Borges“. In: Horizons Maghrebins - Le droit à la mémoire 41, 5. 96 Mit dieser Lesart stimmt Olga Connor überein. Vgl. Connor, Olga (2009): „Marruecos es la tierra de las Lumbres veladas del sur“. In: El Nuevo Herald vom 2. Juni 2009. Keine Seitenangabe. 97 „[A Averroes], dos palabras dudosas lo habían detenido en el principio de la Poética. Esas palabras eran tragedia y comedia. [...] [N]adie, en el ámbito del Islam, barruntaba lo que querían decir. Vanamente había fatigado las páginas de Alejandro de Afrodisia, vanamente había compulsado las versiones del nestoriano Hunáin ibn-Ishaq y de Abu-Bashar Mata. Esas dos palabras arcanas pululaban en el texto de la Poética; imposible eludirlas.“ Borges, Jorge Luis (1995): „La busca de Averroes“. In: Ders.: El Aleph. Madrid: Alianza, 106. 6.5 Entgrenzung 279 auf Borges’ Text in Navarretes Gedicht verdeutlicht, dass der Marktplatz Marrakeschs einen vielstimmig relationalen Ort permanenter Querungen und Über-Setzungen menschlicher Geschichte(n) darstellt. Als Heterotopie beherbergt er die Erzählungen von Menschen unterschiedlichster sprachlicher und kultureller Herkunft und bringt so verschiedene Räume und Zeiten an einem Ort zusammen. Inmitten dieses Sammelsuriums von Geschichten macht auch der Dichter einen Fund, der ihn zu seiner eigenen Geschichte zurückführt: Bei einem Händler entdeckt er ein „ungüento oloroso“, nämlich den aus China in alle Welt und bis nach Havanna ins Barrio Chino exportierten ‚Tigerbalsam’, der ihn an seine Kindheit auf Kuba erinnert, „el recuerdo apotecario de la China / en su última morada en La Habana“ (V.39-40). Die Reise nach Marokko hat ihn also zu einem Fundstück geführt, das in ihm eine verborgene Erinnerung wachruft. Im Zusammenhang mit dem Titel der Anthologie bedeutet dies: Erst das Reisen in die Fremde bringt das Eigene wieder hervor und lässt das vom Vergessen Verhüllte wie den Schein schwachen Lichts, Lumbres veladas del sur, aufleuchten. 98 Im Prozess des Erinnerns taucht Kuba in Marokko auf. So wird Marrakeschs Jemaa el-Fna für den Dichter zum Raum eines Havanna-Erlebnisses. Im Sinne Erlls veranschaulicht dieser mnemonische Moment das „Wanderphänomen“ transkulturellen Erinnerns, das „across and beyond temporal and local contexts“ angestoßen wird (2011: 11). Das Aufscheinen seiner verlorenen Kindheit gewährt dem Dichter auf dem Marktplatz Marrakeschs die Erfahrung eines resonanten Weltverhältnisses. Dies besteht nicht nur darin, dass seine eigene Geschichte zum Vorschein kommt, sondern vor allem darin, dass sich an diesem Ort in der Welt ein Raum kultureller Entgrenzung auftut. Denn er öffnet sich den Erzählungen aus aller Menschen Länder. Hierauf bezieht sich auch der Titel des Gedichts, „El gran Halka“, der auf eine Welten umspannende Zuhörerschaft verweist, die über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg an diesem Ort zusammenkommt, um ihre Geschichten auszutauschen und einander zuzuhören. Einerseits erfährt Navarrete als Reisender die „arbórbola“ des Platzes, auf dem Stimmen und Gesänge polyphon zusammenklingen. Die Dialogizität von Stimmen- und Sprachenvielfalt wird andererseits als dichterisches Grundprinzip in GH erfahrbar. Denn Navarrete knüpft darin ein Netz afrikanischer, arabischer, spanischer, argentinischer und karibischer Momente, die sich an einem Ort in Marokko queren und 98 Roy-Camilles Überlegung hierzu lauten: „[C’est] ce regard de cubain qui va retrouver des choses peut-être de son moi profond, des choses sans doute de son île, de son enfance, d’une création aussi de monde qui est tenu, maintenu quelque part sous clé, sous le voile dont on nous montre des aspects riants, mais qui est maintenu dans une lueur, une sorte de petite bougie vacillante qu’il s’agit pour l’auteur de renflammer“ (A.III 319f). 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 280 sich so zu einem Resonanzraum verdichten, der Jemaa el-Fna zu einem Ort des transkulturellen Polylogs werden lässt. Darüber hinaus macht sich Navarrete diesen Platz zu einem persönlichen Gegenüber. Jemaa el-Fna bringt spiegelbildlich sein eigenes transkulturelles Selbstverständnis - im Anderen beobachtet - zum Vorschein. Denn nur an einem solchen Ort grenzenloser Diversität kann er, der heimatlose „l’étrange étranger“ - Entfremdeter seines Herkunftsorts Kuba, Fremder in Paris und als Reisender auch Fremder in Marokko - vorübergehend ein Gefühl der Beheimatung erfahren. Doch trotz der Semantisierung des Platzes als Pilgerstätte kann seine Entdeckung nicht das Ziel des Dichters, sondern nur eine Station der Durchreise darstellen. Für Navarrete bleibt Jemaa el-Fna somit ein Ort der Passage, weil er nur im permanenten Unterwegs-Sein ein Refugium findet, eine kurze Haltestelle, an der er die Utopie eines gelungenen Zusammenlebens aller menschlichen Unterschiede momenthaft verwirklicht sieht. Dass das Weltkulturerbe Jemaa el-Fnas mit seiner symbolträchtigen Existenz als Ort der Hoffnung und des Friedens stets auch der Bedrohung ausgesetzt ist, zeigt ein Bombenanschlag islamistischer Terroristen am 28. April 2011, bei dem 18 Menschen unterschiedlicher Herkunft ums Leben kamen. Am 9. Mai 2011 hinterlässt Navarrete von Paris aus einen zweisprachigen Kommentar wütender Enttäuschung über diesen Anschlag auf seinem Blog. 99 Denn heftiger kann doch wohl der Glaube an diese Utopie gelingenden Zusammenlebens fremder Menschen und Kulturen kaum erschüttert werden. 99 9 Mai 2011: Una vieja técnica / Marruecos: „1- El pueblo pide democracia y medidas liberales. (Le peuple demande la démocratie et de mesures démocratiques). 2- El Rey finge que cederá. (Le Roi feint de ceder). 3- Una amenaza terrorista sacude el corazón turístico del país en Marraquech. (Une attaque terroriste ébranle le cœur turistique du pays à Marrakech). 4- El Rey decide que no es el momento de ceder y hacer cambios. (Le Roi decide que ce n’est pas le moment de ceder et faire de changements). Algo que ya lo hemos visto los que vivimos constantemente bajo „la amenaza imperialista“ y los „autoatentados“. (Quelque chose de déjà vu par ceux qui avons vecu sous „la menace impérialiste“ et les „autoagressions“). De todas formas el Rey es extremadamente rico y él le da casi lo mismo que vengan o no los turistas. A él lo que le interesa es mantener a toda costa el absolutismo. (De toutes façons le Roi est extrêmement riche et pour lui c’est pareil que les touristes arrivent ou pas. Lui, tout ce qu’il veut c’est maintenir la monarchie absolue). Yo lo sospeché enseguida que me enteré del atentado. (Je l’ai su aussitôt j’ai appris l’attentat).“ Vgl. http: / / cubalpairo.blogspot.de/ 2011/ 05/ una-vieja-tecnica-marruecos.html. Zugriff: 02.12.2012. 6.6 Zwischenfazit: Verortungsproblematik 281 6.6 Zwischenfazit: Verortungsproblematik In Lira Campoamors Gedichten erweist sich zunächst die „Raumenge“ auf der Insel Kuba als das Un-Heimische. Sie ist auf die politische und ökonomische Lage des período especial zurückzuführen. Anhand der Semantisierung von Innenräumen lässt sich aufzeigen, wie Andersdenkende der Enge auf der Insel zu entkommen versuchen. Sie schaffen sich poetische Freiräume, in denen politische Diskurse bewusst ausgegrenzt werden. An Stelle der bedrückenden Erfahrung der Raumenge innerhalb Kubas tritt außerhalb der Insel im Exil ein ebenso bedrückender Raumverlust auf. Dieser ist wiederum an das zeitliche Phänomen schwindender Erinnerungsfähigkeit geknüpft, die die lebendigen Bilder der Heimat verblassen lässt. Campoamors „Poema 6“ führt dem Leser in unleserlich gewordenen Bildern die Unmöglichkeit einer „vuelta a la patria“ vor Augen. Der unbehauste Zwischenraum der Ausgrenzung tritt als Kluft zwischen dem Hier und dem Dort in Erscheinung. Diese Kluft entspricht dem Bindestrich in Ettes Denkfigur der Insel-Welt, die sich für die Untersuchung des Phänomens der Eingrenzung als erkenntnisträchtig erweist. Damit wird die Gefangenschaft zwischen Insel und Welt exemplarisch versinnbildlicht, die die Kubaner im Exil in einem isolierten Zwischenraum festhält. In Navarretes Gedicht „Islas“ äußert sich das Phänomen der Insel-Welt in der Fraktionierung von Räumen. Symbolhaft erscheinen die Städte Havanna und Paris als disparate Lebenswelten und Erfahrungsräume, die nicht zusammenführbar sind und zwischen denen das Textsubjekt in einem nahezu enträumlichten Leerraum eines ‚Weder-noch’ eingesperrt ist. Anhand von Gilda Alfonsos semiotischer Lyrik hingegen kristallisiert sich eine globale Ausweitung der Insel-Welt heraus. In der Verschränkung der syntagmatischen, semantischen und graphischen Ebenen veranschaulichen ihre Gedichte „Duda“ und „Poética Política“, wie sehr die Bezogenheit auf das verlorene Insel-Zentrum die in der Welt verstreuten Kubaner in einem einsamen Dazwischen gefangen hält. Dass die Insel ihre Bewohner nicht nur von der Welt, sondern auch in der Welt isoliert, wird an der Gegenüberstellung von Zoé Valdés’ Romanen La nada cotidiana und Café Nostalgia besonders deutlich. Ersterer ist auf Kuba situiert und thematisiert die lebensräumliche Enge der Insel-Welt, die zentrifugale Fluchtfantasien nach einem (Zusammen)Leben-Können außerhalb des Inselgefängnisses hervorbringt. Im zweiten Roman hingegen stechen in umgekehrter Richtung zentripetale Rückkehrträume hervor. Darin wird eine ausgeprägte Nostalgie nach dem verlorenen Inselparadies offenbar, die das Leben der Kubaner außerhalb der Insel bestimmt. Anhand der Phänomene von Ausgrenzung und Eingrenzung wurden die Zwischenräume des Exils als Orte des insel-weltlichen ‚Weder-Noch’ herausgearbeitet. Diese inbetweenness lässt sich nicht als dynamische, viel- 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 282 schichtig-hybride Third Spaces des kulturellen ‚Sowohl-als-auch’ im Sinne Bhabhas verstehen (2004: 313). Vielmehr ist sie von einer isolierten Geschlossenheit geprägt, die eine Öffnung hin zu neuen Welten verhindert. Die Verortung im geschlossenen Zwischenraum des Exils schließt jedoch Bewegungen nicht aus, wie insbesondere Trianas Lyrik zeigt, in der Subjektpositionierungen nur im unsicheren Zwischenraum des Stabilitätsverlustes und im unbehausten Dazwischen der Bewegung erfolgen können. Im Zwischenraum des Exils sind paralysierte Bewegungslosigkeit und ruheloses In-Bewegung-Sein auf widersprüchliche Weise ineinander verschränkt. Die explizite Positionierung in einer heimatlosen Unbehaustheit wurde am Beispiel von Navarretes Paris-Gedicht „Pigalle II“ analysiert. In der Figur des kubanischen Flaneurs in Paris spiegelt sich die Ortlosigkeit des Exils wider, die sich jeder Sesshaftigkeit widersetzt. Damit stellt das Leben in dieser Stadt lediglich einen Ort des Transits dar. Zugleich drückt sich im distanzierten Blickwinkel des Flaneurs eine abgrenzende Haltung dem mythosbehafteten Paris gegenüber aus. Die in Dekadenz verfallene, alternde Stadt hat dem Dichter nichts mehr zu bieten. Mit der Personifikation von Paris als alternde Hure ‚dezentriert’ Navarrete aus seinem peripheren Blickwinkel den Mythos von Paris als Ort der Verführung. Gleichzeitig schwanken Navarretes parodistische Poetisierungen von Paris zwischen einem Aneignungspotential und einem Abgrenzungsbedürfnis, d.h. Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit sprechen gleichermaßen daraus hervor. Kontrastiv zur distanznehmenden Abgrenzung des Flaneurs bei Navarrete wird in Bezug auf Nivaria Tejeras „Champ de Mars“ ein regelrechtes Anti-Flanieren festgestellt, das zugleich einen Entgrenzungsprozess markiert, denn das lyrische Ich geht vollkommen in der urbanen Herbstlandschaft von Paris auf. Hierbei wird die stabile Position des außenstehenden Beobachtens aufgehoben. In den Vordergrund tritt stattdessen ein Perspektivverlust und damit einhergehend eine radikale Orientierungslosigkeit, die von einem Umsturz räumlicher Ordnung und dem Absturz des Subjekts im Raum begleitet ist. Vor allem im Hinblick auf die Konstitutionsisotopie des Herbstes manifestieren sich in Tejeras Textstadt Paris transtextuelle und transkulturelle Aneignungen, mittels derer sie Paris im Herbst zu einem lichtlosen Ödland verdichtet und so mit der verirrten Ortlosigkeit des Exils besetzt. Weder Navarretes noch Tejeras poetische Stadtaneignungen zeugen von einer idealisierten oder mythisch überhöhten ‚Paris-Lektüre’. Der licht- und glanzvolle Moderne-Mythos von Paris, der bis ins 20. Jahrhundert hinein auch von lateinamerikanischen AutorInnen genährt wurde, wird von den kubanischen DichterInnen eher dekonstruiert. Den Mythos Havanna hingegen kultivieren beide AutorInnen. Besonders ersichtlich wird dies bei 6.6 Zwischenfazit: Verortungsproblematik 283 Navarrete, der Havanna in vielen seiner Gedichte zum menschlichen Gegenüber und persönlichen Dialogpartner macht. Diese formale Auffälligkeit signalisiert eine starke Identifikation des Dichters mit ‚seiner’ Stadt. Bei der Semantisierung Havannas tritt jedoch zugleich das Spannungsverhältnis zwischen dem dystopischen Jetzt-Zustand einer ruinierten Stadt, die sich nach fünfzig Jahren Revolution in einem verheerenden, nachkriegsartigen Zustand befindet, und dem nostalgischen Evozieren ihres einstigen Glanzes und Zukunftspotentials, das nurmehr in „erzwungener Bewegungslosigkeit“ erstarrt ist (Ette 2005: 169). Dieser Diskurs eines „eingefrorenen“ und selbstentfremdeten Havanna, der im Abschnitt zur Ausgrenzung untersucht wurde, findet sich auch in Nivaria Tejeras „La Habana un día“ im Hinblick auf die Entgrenzung wieder. Doch im Unterschied zum nostalgisch rückwärtsgewandten Blick auf das verlorene Havanna entwirft sie eine prospektive Vision für die Stadt und inszeniert auch auf der graphischen Textebene eine räumliche Öffnung, die auf die Utopie einer die Welt umschlingenden und an die Welt sich anschließenden Inselwelt verweist. Doch erst die tabula rasa, der totale Untergang der Stadt im Meer eröffnet den Imaginationsraum, in dem Havanna - das verräumlichte Sinnbild der kubanischen Nation - neu gedacht und erbaut werden kann. Damit symbolisiert Kubas Hauptstadt einen ideellen und imaginären Fluchtpunkt für die Beheimatung einer zerrissenen und unvereinten Nation, die sich erst von ihrem eingesperrten Insel-Welt-Zustand und ihrer dystopischen Entfremdung befreien muss, um sich als utopisch entterritorialisierte und weltumspannende Inselwelt selbst zu verwirklichen. Ein (trans)nationales Zusammenleben in Freiheit projiziert sich so weiter in die Zukunft. Den Untergang der Insel als Symbol einer ruinierten Nation greift auch Navarrete in „Hundimiento de la isla“ auf. Mittels der Ekphrasis überschreibt der kubanische Autor Théodore Géricaults Gemälde Le radeau de la Meduse mit dem Schiffbruch der kubanischen Revolution. Nicht nur das Museum des Louvre stellt damit eine Heterotopie im Sinne Foucaults dar. Navarretes Essay selbst weist ein heterotopisches Potential auf: Anhand seiner transkulturellen und zugleich fraktalen Schreibweise lässt sich aufzeigen, wie sich die Insel durch multirelationale Begegnungen in der Welt vervielfältigt. Das treibende Floß wird darüber hinaus zum Sinnbild für eine nicht an einem Ort fixierbare, sondern in steter transterritorialer Bewegung sich befindende Kubanität. Navarretes Gedicht „El gran Halka“ offenbart darüber hinaus, dass sich Beheimatung jenseits von nationaler Zugehörigkeit konstituieren kann, nämlich gerade im „transkulturellen Durcheinander“ (Ette 2005) einander sich kreuzender und sich gegenseitig durchdringender Kulturen. Für den Dichter ist Marrakeschs zentraler Marktplatz Jemaa-el-Fna ein Ort, an dem sich die Utopie verwirklicht, dass Menschen in all ihrer sozialen, eth- 6. Zwischen Heimatverlust und Weltengewinn 284 nischen und kulturellen Diversität und Geschichte friedlich zusammenleben können. Der Platz verdichtet sich so zu einem polyphonen Resonanzraum. Hierbei inszeniert der Dichter wieder einen Stadtraum als persönliches Gegenüber. Denn im Du des Anderen findet er das Eigene wieder: sein verlorenes und im Stadtkern Marrakeschs momenthaft wiedergewonnenes Havanna. Die Verortungsproblematik bringt zwei Bewegungsrichtungen hervor, die die kubanische Gegenwartsliteratur in Paris charakterisieren: Einerseits herrscht eine Rückwärtsgewandtheit vor, mit der sich die AutorInnen an der Insel als Heimat festklammern und am verlorenen ‚Ursprung’ orientieren. Andererseits lässt sich eine Vorwärtsgewandtheit beobachten, die sich der Welt öffnet und alternative Lebensräume auslotet. Beide Bewegungsrichtungen zeigen jedoch gleichermaßen, dass sich die kubanische Literatur in Paris sowohl durch ihre Grenzziehungen als auch ihre Entgrenzungen jedem dauerhaften Aufenthaltsort entzieht und als Literatur in Bewegung im Unterwegs-Sein beheimatet ist. 7. Schlusswort Die Text- und Kontextanalysen dieser Arbeit haben vor dem Hintergrund des Spannungsfelds von Exil, Diaspora und Transkulturalität vor allem eins gezeigt: Die kubanische Gegenwartsliteratur in Paris stellt den Begriff der Nation in Frage und hält gleichzeitig daran fest. Ist sie nun als diasporische Nationalliteratur, transkulturierte (Welt)Literatur oder im besten Fall transkulturelle Exilliteratur zu klassifizieren? Die Antwort lautet: sowohl als auch. Denn anhand von Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozessen kristallisiert sich am Beispiel dieser Literatur sowohl das Exil als Rückwärtsbezogenheit als auch die Transkulturalität als Vorwärtsgewandtheit heraus. Im Hinblick auf ihre Eigenschaft als Diaspora-Literatur muss jedoch festgestellt werden: Die Insel ist aus ihr nicht wegzudenken, sei es als antagonistisches Gegenüber, als der für immer verlorene Ursprung, als nostalgischer Rückzugsort, als fehlendes Puzzlestück, das sich fraktal in der Welt vervielfältigt, oder als prospektiver Imaginationsraum, in dem sie wieder neu erschaffen wird. Stellt man sich Kuba auf der Weltkarte vor, so de la Nuez, dann ist es darauf überall. Und genau deswegen ist es nirgendwo (vgl. 1998: 29). Durch ihr destierro und desplazamiento oszilliert auch die kubanische Literatur in Paris zwischen diesem „Überall und Nirgendwo“. Ist sie eine Insel-Welt ohne Zuhause oder als Insel in der Welt zu Hause? Diese Frage steht im Zusammenhang mit den polylogischen Beziehungsqualitäten, die am Beispiel dieser Literatur mit Hilfe der Begriffe Ausgrenzung, Eingrenzung, Abgrenzung und Entgrenzung ausgelotet wurden. Im Spannungsfeld von Exil und Transkulturalität tritt hierbei vor allem die Widersprüchlichkeit einer isolierten Kontaktlosigkeit einerseits und eines multirelationalen Austausches andererseits zutage. Dieses paradoxe Phänomen offenbart sich in Bezug auf Selbstverlust und Selbstdopplung (Kap.4), und der damit zusammenhängenden Ich- Konstitution und Autopoiesis. Hier spielt zunächst die Frage nach Identität und Alterität eine Rolle. Die in den lyrischen Texten vermittelten Selbst- und Fremderfahrungen im Exil verdeutlicht das Phänomen eines alteritären Selbstverständnisses: Ausgrenzung bedeutet, dass die Abwesenheit in jede Anwesenheit eingeschrieben ist, oder aber das Eigene in das Fremde der Selbstentfremdung. Der Begriff der Eingrenzung hat darüber hinaus gezeigt, dass ExilantInnen einer doppelten Nichtzugehörigkeit ausgesetzt sind, denn sie sind aus ihrer Herkunftskultur ausgeschlossen und im Aufnahmeland isoliert. Autopoietisch werden in der Lyrik Gina Pellóns und Nivaria Tejeras Dimensionen des Selbstverlustes, der Ich-Fragmentierung und nicht zuletzt der Selbstvernichtung erzeugt. Im Gegenzug dazu zeigen 7. Schlusswort 286 Eyda Machíns Texte Möglichkeiten der Wiedergewinnung des Selbst auf. Außerdem bringen sie eine Ich-Pluralisierung zum Ausdruck, die sich als entgrenzte Weltenzugehörigkeit äußert, ein „Soy mucho más“, das das konfliktiv Alteritäre im Eigenen umarmt. Schon hier deutet sich an, was im Spannungsfeld Zwischen Sprachverlust und Wortergreifung (Kap.5) offenkundig wird: Die Konstitution eines intra-, inter- und transkulturellen Selbstverständnisses ist wesentlich mit der Frage nach Resonanz verbunden. Wie sehr das resonante Weltverhältnis im Exil gestört ist, zeigt Nivaria Tejeras Roman Huir de la espiral, der sich als verzweifelt in die Welt hineinrufender Textkörper versucht hörbar zu machen, dessen vielfach gebrochene Stimmen und Ausrufe jedoch immer an den Mauern der Isolation abprallen. Auch Miguel Sales’ in politischer Haft verfasste poesía testimonio ist als Resonanzphänomen zu betrachten. Darin erzeugt und bezeugt die dichterische Stimme eine Gegen- Erinnerung, um sich durchzusetzen und dem Vergessen zu widersetzen. Kulturelle und kollektive Gedächntisbildung geschieht darüber hinaus im „poetischen convivir“ mit Lezama Lima, dessen Texte und Denken eine resonante Wirkung auf die AutorInnen in Paris ausüben. Schließlich ist nicht nur das literarische Wortergreifen selbst, sondern auch die literarische Sprachwahl im Spannungsfeld von Exil und Transkulturalität an die Suche nach Resonanzbeziehungen gebunden. Das manifestiert sich in den Überlegungen zur Mehrsprachigkeit der AutorInnen, den transversalen und transkulturellen Übersetzungskontexten ihrer Werke und deren nationalliterarischer Zuordnung. Hierbei treten vor allem Bindestrich-Phänomene auf, was das Beispiel von Eduardo Manet bestens illustriert: der französischsprachige Autor kubanischer Herkunft vertritt zugleich ein ‚frankophones Kuba’ wie auch eine ‚kubanische Frankophonie’. Die Suche nach Resonanz bezieht sich also nicht nur auf Stimme, Sprachigkeit und Sprachlichkeit. Sie lässt sich überdies als textästhetisches, intertextuelles, erinnerungskontextuelles, übersetzungsspezifisches und rezeptionssoziologisches Phänomen begreifen. Was die Dialektik von Heimatverlust und Weltengewinn (Kap.6) betrifft, so spielen auch hier Resonanzbeziehungen eine Rolle. In der Lyrik José Trianas erscheint der bewohnbare, die poetische Imagination beherbergende Resonanzraum gefährdet. Dies verweist auf eine Unbehaustheit und bedrohte Erinnerungsfähigkeit im Exil. In diesem Zusammenhang zeigt Lira Campoamors Dichtung, dass Poesie nicht nur Erlebensraum, sondern immer auch Gedächtnisraum ist. Wenn die dichterische Poiesis diesen nicht mehr füllen kann, wenn also Heimat in ihm kraft der Sprache nicht mehr verlebendigt werden kann, dann breitet sich das Un-Heimische darin aus. Heimat ist also nicht nur ein Substanz-, sondern auch ein Resonanzphänomen. Nur die Imagination kann sie rekonstruieren und wieder zum Klingen bringen. 7. Schlusswort 287 Die Frage, wo die kubanische Gegenwartsliteratur in Paris beheimatet ist, lässt sich in zweierlei Hinsicht beantworten: Einerseits lässt sie sich in einem Zwischenraum der Eingrenzung verorten, einem unbehausten „Weder hier noch dort“. Die separierten Textinseln in den Gedichten Gilda Alfonsos zeigen, dass die Insel ihre Bewohner nicht nur von der Welt, sondern auch in der Welt in einsamer Gefangenschaft isoliert. Anhand von Zoé Valdés’ Romanen lässt sich dieses Zwischenraum-Phänomen noch näher beleuchten. Gleichzeitig „tägliches Nichts“ und „nostalgisches Alles“ ist das Insel(er)leben innerhalb wie außerhalb Kubas von einer Janusköpfigkeit zwischen Freiraum verwehrendem Fluch und freiheitsverheißendem Versprechen gekennzeichnet. Weder Insel noch Exil sind bewohnbar. Der Stillstand der Gefangenschaft zwischen dem Hier und dem Dort geht paradoxerweise mit einer Dynamisierung einher. Die Stadtgedichte William Navarretes zeigen auf exemplarische Weise auf, dass ein Zuhause im Unterwegs-Sein gefunden werden kann. Dies betrifft auch den Wohnsitz Paris, den er nicht als neue Heimat feiert, sondern in abgrenzender Distanznahme als Ort des Transits erfährt. In der literarischen Semantisierung von Paris kommt die Widersprüchlichkeit von Exil und Transkulturalität besonders zum Ausdruck: Bei Triana sind die Straßen der Stadt vom Trauma der Ausgrenzung unterlagert. Tejeras Paris besitzt einen alptraumhaften Charakter, allerdings im Hinblick auf die Eingrenzung: Exilpoetisch erschafft die Dichterin die Stadt als Ort wüstenhafter Leere, in dem das von den anderen isolierte Subjekt - dem Untergang ausgeliefert - verloren umherirrt. Die transkulturellen Parisaneignungen als Phänomen der Entgrenzung sind also nicht ohne die Grenzsetzungen des Exils zu begreifen, die das kubanische Leben und Schreiben in Paris bestimmen. Andererseits ist die kubanische Literatur in Paris umgekehrt ein Phänomen des ‚Darüber-Hinaus’, wenn man sie dialektisch von ihren Grenz- (aus)setzungen her betrachtet. Denn als Medium des Erlebenswissen und Überlebenswissen speichert sie die Erfahrungen von Verlust und Wiedergewinnung, die Bewegungslosigkeit auf der Insel und die beschleunigten Fluchtbewegungen aus ihr heraus, die wirkliche Heimat und die imaginierte, die regionale Rückbezogenheit und die kosmopolitische Weltoffenheit, die Identität als das Eigene im Anderen und das Andere im Eigenen und schließlich das Überall-Sein im Nirgendwo-Sein. Sie lässt sich also nicht nur zwischen Exil und Transkulturalität oder im Sowohl-als-auch von Exil und Transkulturalität verorten, sondern auch im Darüber-Hinaus. Die in den Textanalysen herausgearbeiteten Erinnerungsversionen und Zukunftsvisionen lassen schließlich einen Ausblick auf das Kuba im 21. Jahrhundert zu. Trotz der sich öffnenden Grenzen erscheint die Insel im kubanischen Selbstverständnis weiterhin als Segen und Fluch zugleich. Das Scheitern einer seit über fünfzig Jahren anhaltenden ‚Revolution’ hat 7. Schlusswort 288 die Vorstellung des revolutionären Schicksals nicht aus der kubanischen Vorstellungswelt vertrieben. Die Visionen des Ruins, des Schiffbruchs und der apokalyptischen Überschwemmung verweisen auf eine Umwälzung und entwerfen nicht zuletzt eine tabula rasa, von der aus sich die Insel neu erfinden kann und muss. Kubas Literatur- und Geschichtsschreibung folgen auch im 21. Jahrhundert dem Prinzip des lezamianischen potens: Möglichkeiten, Vorstellungen und Visionen eines gelungenen Zusammenlebens projizieren sich immer schon, immer noch und immer wieder auf die Zukunft. Der Archipel kubanischer Literatur in Paris veranschaulicht, dass dieser Prozesscharakter des Kubanischen nicht ohne transversale Beziehungsqualitäten, transkulturelle Durchdringungen und eine transnationale Dissemination zu begreifen ist. 8. Bibliographie Primärliteratur Alonso, Odette (2011): Antología de la poesía cubana del exilio. Valencia: Aduana Vieja. Ávila, Regina / Navarrete, William (Hg.) 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Wichtige Charakteristiken der Transkription erläutert die folgende Legende: [...] Auslassungen [Wort] Einfügungen ( ) Bibliographische Angaben bei Textbezügen (( )) para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse (nach GAT), angegeben in der jeweiligen Interviewsprache Kursiv anderssprachige Einschübe, Titel von literarischen Werken “ ” Direktzitate aus literarischen Texten = schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Sprecherbeiträge (nach GAT) A.I Eyda Machín 2007 Paris, 31.05.2007 AG: Andrea Gremels EM: Eyda Machín AG: Tú tienes la nacionalidad francesa pero naciste en Cuba. EM: Nací en Cuba. En el año 76 me fui para los Estados Unidos como refugiada. Un año más tarde, en el 77, me fui para Venezuela donde tenía a mi hermano. AG: Y más tarde conseguiste la nacionalidad francesa. EM: La tengo desde el año 92. O sea que yo, desde que tenía 13 años en Cuba, empecé a estudiar francés. Y desde que empecé a estudiar el francés ya yo me sentía, desde ese momento, francesa. Nunca me sentí americana, nunca me sentí española, mis abuelos eran españoles. […] En Venezuela tuve […] la nacionalidad venezolana porque mi hermano ya era venezolano desde que llegó a Venezuela. [Me quedé] diez años desde el 67 hasta el 78. Cuando yo me vine para Francia en el año 78, vine como venezolana, con pasaporte venezolano. Y yo vine por un año. Anhang A: Autoreninterviews 308 AG: Entonces, saliste de Cuba temprano. EM: Sí. Salí de veinte de Cuba, de 21 de los Estados Unidos. […] En el año 78 vine a Francia por un año para hacer una maestría en lingüística y empecé haciendo el doctorado en literatura. Cambios que la vida decidió por mí porque yo no lo había pensado así. Yo era profesora de francés, de literatura francesa, de traducción, de lingüística y de fonética en la universidad de Zulia [en Venezuela]. […] Pero el profesor que me dirigía el doctorado me dijo: El doctorado usted no le puede hacer en un año. Y usted ha avanzado tanto en este tiempo que pienso que es necesário que se quede más tiempo. [O]btuve la tesis doctoral en el año 82 sobre la mujer en la escritura. […] En ese momento, la universidad de Zulia donde yo era profesora me dijo: Ya usted tiene demasiados diplomas, demasiados estudios, demasiado tiempo fuera. Tiene que regresar o renunciar a su puesto en la universidad. […] [S]i usted no quiere regresar […] tiene que renunciar y pagar el año de beca que le dimos. Entonces, le pregunté: ¿Cuál es el precio de mi libertad? Hágame el cálculo. Me dijeron cuanto me habían dado en ese año de beca y dije: Yo lo pago. […] Yo compré de nuevo mi libertad. […] Oficialmente no podía trabajar porque tenía un estatus de estudiante. […] Entonces, hice más de 500 traducciones para los becarios venezolanos que llegaron a París con ese programa Marical de Ayacucho. Y fue apenas en el año 89 que yo pude tener mi residencia por diez años. […] Entonces, yo creé la asociación Livres et Lieux con este colega que está ciego [Christian Roy-Camille] desde el año 94. […] Desde el año 90 existe la asociación. AG: Volvemos al pasado. Cuando tú estabas todavía en Cuba y estudiabas el francés, ¿qué idea tenías de Francia? ¿Era un gran sueño de viajar un día a este país? EM: Mi profesora de francés en La Habana era una francesa casada con un cubano. Tenía 65 años cuando nos conocimos. Era una mujer muy culta. No sólo daba clases de francés. Me hablaba de literatura, me hablaba de poesía, me hablaba de París. […] Yo empecé a leer Colette, George Sand, Alexandre Dumas. Yo entré en el mundo de la literatura francesa. […] Y para mí, Francia, más que un espacio, era mi relación con estos escritores del siglo 19, sobre todo el siglo 19 es que más me gusta. En el año 73 vine por primera vez a París como turista. Cuando vi París comprendí que era mi casa. Comprendí que era aquí que yo quería vivir. Pero para mí en ese momento, no era nada que era realizable. Era un sueño. Y prisioneros que estábamos todos en Cuba yo no podía nunca imaginar que algún día yo iba a salir de Cuba -porque las fronteras estaban cerradas- que yo iba vivir en los Estados Unidos, en Venezuela. Todos estos fueron acci- Anhang A: Autoreninterviews 309 dentes. En mi cabeza siempre estuve muy claro donde yo quería ir, que era a Francia. […] Yo tengo la impresión [de] que es como si yo caminara hacia mi destino. Es como si yo avanzara en el tiempo y en el espacio para encontrarme a las personas que las tengo que encontrar, en el momento en que me las tengo que encontrar para ellas y para mí. Siempre hay un intercambio como en el amor. Es un dar y un recibir y un recibir y un dar. AG: Volvemos al tema de París. Cuando empezaste tu vida en París, ¿no te sentiste extranjera? EM: Cuando llegué a París, llegué a casa. Y cuando llegué a París, llegué a un lugar donde ya yo hablaba la lengua como si fuera de aquí. [Y]o nunca me he sentido extranjera en ningún lugar. Quizás en la China, no me sentí muy en casa, pero en África del Sur, me sentí muy en casa con los Zulú, en la India me sentí en casa. Yo diría que en el único lugar donde yo me sentía extranjera fue en Cuba después del 59. […] AG: Pero existe este cliché de los franceses que son muy arrogantes. EM: Yo nunca me he sentido rechazada, al contrario. Todo el mundo me pregunta siempre: Tiene un acento tan lindo, tan musical, pero no parece al español. Yo digo: ¡Es del mundo! […] Y París sobre todo es una ciudad cosmopolita. [E]n el metro, tú oyes hablar en chino, en japonés, en árabe, en hindú, en español, en francés, en inglés, en todas las lenguas. […] Entonces, tampoco se puede hablar de París como de un conjunto. Te vas al [arrondissement] 16 y es una cosa. Te vas al 20, es otra cosa. […] Yo voy a decir algo más que lo digo siempre. Yo creo que París no es un sitio, no es un lugar. Es un estado de ánimo. Sinceramente, mi patria es la felicidad. Yo soy un ser feliz donde quiera que esté, atravesando los momentos que atraviese, los buenos los saboreo sin moderación y los malos, los saboreo también porque me permiten apreciar mejor los buenos. […] AG: Entonces, fuiste recibida muy bien de la ciudad. EM: Siempre he sido recibido bien. Fui bien recibida en Miami. En Miami yo encontré un problema. Yo he tenido siempre horror de los ghettos. Yo siempre he tenido una mente abierta, desde pequeña, quizás por todas estas influencias extranjeras que yo tuve en mi vida. Yo tengo horror de estar encerrada dentro de un núcleo donde sólo haya gente de una nacionalidad, o de una creencia religiosa, o de una mentalidad, o una cierta forma de ver el mundo. Yo siempre he vivido en el mundo, y el mundo siempre ha vivido en mi, en su multiplicidad, en su gran variedad. Y cuando yo llegué a Miami, yo encontré que aquella comunidad de cubanos, que yo conocía en el año 66, vivía en huit-clos, a puerta cerrada. Aquí solamente funciona Anhang A: Autoreninterviews 310 lo que es cubano. Yo dije: ¡No, no, no! Yo quiero tener amigos americanos, italianos, chilenos, romanos. Y cuando viví en Venezuela, yo tenía amigos de todas las nacionalidades. Y he tenido muy pocos amigos cubanos. No busco a la gente porque tenga una nacionalidad o la otra, o una creencia religiosa o la otra, o una edad o la otra, o un color de piel o la otra. Yo me acerco a la gente o la gente se acerca a mi o se establece la comunicación porque hay algo, una onda vibratoria que nos une. […] Yo creo que yo entro en contacto con el corazón de la gente, con la sensibilidad de la gente. AG: Ahora, hablamos de la poesía. ¿Hay poetas franceses que te gustan especialmente? EM: Hasta la edad de once años, mis poetas eran todos españoles o latinoamericanos. Mi madrina me enseñaba poemas cubanos. AG: ¿Por ejemplo? EM: José Martí. Yo me sabía de José Martí Los dos príncipes, me sabía La niña de Guatemala. Los españoles Rafael Alberti, Antonio Machado, Manuel Machado, Rafael de León, Federico García Lorca. A partir de las once, mis poetas fueron ingleses. Y fue a la edad de treze o quatorze años en que empecé a descubrir la poesía y la literatura francesa. Yo tengo un recuerdo que es muy claro. El primer libro que leí en francés fue Colette. […] Y me pareció algo tan extraordinario, aquel lenguaje, aquella forma perfecta casi como de esculpir las palabras. Me recuerdo cuando yo vine por primera vez a París de turista en el año 73, yo me sentí un poco desilusionada cuando oía a los franceses hablar. […] Escuchaba a los jóvenes ouAIS, ouAIS en vez de decirte oui. En vez de decirte Boulevard de Saint Michel, le Boule Miche. […] [M]e dejó completamente trastornada porque esto no es el francés que yo estudié. […] Los poetas franceses [que me gustan] son Paul Valéry, Paul Verlaine, Alfred Musset, bien sûr. Rimbaud, bien sûr, Baudelaire. De todos los siglos de poesía francesa, yo soy una rescatada del siglo 19. Tanto en música, en literatura, en pintura. Chopin, George Sand, los pintores franceses que más me gustan son los impresionistas. […] Me enamoré de George Sand. A ella la conozco que a veces me digo: ¿Es ella o soy yo? He habido con ella una identificación que quizás no he habido con ninguna otra escritora. […] Tanto en literatura francesa, como en literatura inglesa, como en literatura latinoamericana, yo me quedé fija en el siglo 19. AG: ¿Y tu propia poesía: ¿La escribes siempre en español o también en francés? EM: Hasta ahora, la poesía siempre la he escrito en español. He escrito dos o tres poemas en francés del primier je porque quería que los destinatarios o los inspiradores, los musas recibieran el poema en Anhang A: Autoreninterviews 311 francés porque no hablaban el español. Algunos poemas, inclusive hay uno en este libro allí [La antología Soy mucho más, (2004)] que fue escrito inicialmente en francés y después lo tuve que traducirlo para que apareciera publicado en español. No sé si mis próximos poemas serán en francés. AG: Tus poemas tienen un sonido completamente diferente en francés. Entonces, te sientes como otra Eyda cuando hablas o escribes en francés? EM: Cuando hablo, en cualquier lengua que hablo soy yo. Al escribir directamente en francés sigo siendo yo. Donde hay una diferencia, es en la traducción. La música de la lengua francesa no es la misma de música que la lengua española. […] Siendo yo que traduje los poemas al francés, yo siento que no es lo mismo. Es otro poema. Es otra música. Es otra lengua. Tuve una experiencia muy interesante en Polonia, ahora hace dos semanas. Yo leí en la Maison de Bretagne, leí los poemas en francés y mi traductora polaca leyó la traducción del español al polaco. Y al final leí un poema en español. Y muchas de las personas me dijeron al final: Los poemas en francés, usted los leyó. Los poemas en español, usted les vivió. AG: Me dijiste que empezaste a escribir poemas a los doce años. Y ahora, estando en París, ¿aumentó tu necesidad de escribir poesía? EM: Siento que no se escribe en la felicidad. Siento que no se escribe cuando uno está lleno. La mayoría de mis poemas han sido poemas de rebeldía, de dolor, de ausencia, de vacío. Muy pocos de esos poemas son reflejos de instantes felices. AG: Yo escribo sobre Ínsulas al pairo. Dentro de este poemario hay poemas del estilo político y otros que tratan el tema del exilio. ¿Los tuyos tienen que ver con el exilio? EM: El problema es mi percepción del exilio. Cuando yo dejé Cuba, yo dejé Cuba con todo detrás. Un apartamento, una casa, mis objetos personales. Cuando dejas Cuba, no puedes sacar absolutamente nada. Salí con un pasaporte, con un sello nulo y con lo que llevaba conmigo. Me sentí muy feliz y muy satisfecha de poder salir así. Yo considero que mi salida de Cuba, ese 7 de abril de 1966, fue para mi un segundo nacimiento. Y yo me acuerdo que en el avión ibamos cien personas, era por los Vuelos por la libertad. Y la mayoría de las personas que estaba en el avión lloraba, lamentándose de lo que habían perdido. Y yo les dije: No entiendo nada. Vamos hacia la libertad. Vamos a una nueva vida. ¡Hay que dejar atrás! Yo entiendo que si dejas familiares en la isla, si dejas familiares presos. Yo entiendo que sientas la nostalgia o el dolor por los que quedan atrás. Yo dejaba gente también de mi familia detrás. Pero cuando yo salí de Cuba yo cerré el talón. Se acabó la ópera y vamos a escribir nue- Anhang A: Autoreninterviews 312 vas óperas. Llevé en mí de Cuba lo que Cuba había dejado en mi como huella. Considero yo, en mi caso particular, que mi exilio ha sido una riqueza porque yo perdí una patria y gané el mundo. Por eso, yo no hablo nunca de exilio, yo hablo de amor. Creo que es el único tema que me interesa. AG: Tu poesía está tan llena de energía. Hay una fuerza en tus poemas hacia la luz. ¿De donde viene esta energía? EM: Yo siempre digo: Yo no soy responsable de esto que soy. Yo soy el producto del encuentro de dos seres que se amaron. Fueron los primeros que en darme como herencia esa energía vital, esa capacidad de maravilla porque aun en los momentos más terribles de mi vida -y yo he conocido muchos- siempre hay una esperanza, hay una luz, hay una energía. William [Navarrete] me decía hace poco tempo: Yo no sé como clasificarte. Creo que eres inclasificable. […] El sólo hecho de estar vivo es un regalo. Es algo extraordinario. Esta relación de mí con la vida no ha sido solamente después de las pruebas duras. Yo siempre he sido así. Cuando yo salí de Cuba, en cierta forma, yo dije: Gracias Fidel por darme la oportunidad de poder vivir una multiplicidad de vidas, el poder estar en el mundo. Yo no le tengo miedo a la muerte. AG: ¿Y tampoco vives en el pasado? EM: No. Ahora, en mi novela [Passerelles (2008)], el pasado ha salido. Pero para alegrar aún más el presente. Para darle un tributo a esos momentos que he podido vivir, que son de una gran intensidad. [...] [E]s la primera novela que escribí en el año 2008 donde -hospitalizada durante nueve meses en una clínica en París, incapacitada de caminar y de moverme- logré escapar de los cuatro paredes de mi prisión hospitalaria gracias a los recuerdos. AG: Háblame de tu viaje a Cuba en el año 97. EM: Durante muchos años cuando yo tenía mi pasaporte venezolano, intenté varias veces ir a Cuba. Averiguaba varias veces con el consulado que tenía que hacer. Me dijeron que tenía que ir con un pasaporte cubano. Yo nunca he querido tener un pasaporte cubano. [Finalmente] podía viajar, pero con una visa especial. Tenía que pedirle la autorización de las autoridades cubanas para que revisaran toda mi historia y me dejaran entrar. En ese primero encuentro, mi única intención era ir a ver a mi madrina, […] que yo no veía desde el año 66. Estamos en el año 97. […] En esa semana pude constatar la destrucción de ese país. Yo no llegué a casa. No reencontré mi país, el país de mi infancia. Aquella ciudad que se desmembraba. Todos los edificios a punto de caerse, las calles sin luz, la gente sin agua, sin electricidad, sin ilusiones y sin esperanza, sin Anhang A: Autoreninterviews 313 futuro. La gente […] por cerca del Malecón, mirando el mar así como mirando a ver hacia donde hay un futuro. Para mi fue terrible. Mi madrina estaba tan desmembrada y tan acabada y destruida como La Habana. Mi madrina me pregunta: Como encuentras a La Habana? Yo digo: Eso ya no es La Habana. Eso es la sombra de lo que fue. Es como si hubiera habido una implosión, una guerra nuclear donde todo estuviera destruido. - Y como me encuentras a mi? Yo digo: Igualita que a La Habana. Con la única diferencia que tú tienes todavía tu alma. La Habana perdió hasta el alma. Fue algo muy fuerte. Yo no quise tomar fotos de esta ciudad en ruinas, de esa ciudad muerta. A.II William Navarrete 2007 Paris, 30.05.2007 AG: Andrea Gremels WN: William Navarrete AG: Me gustaría saber primero, ¿qué imagen tenías de París cuando estabas en Cuba todavía? Tenías una idea de París en el tiempo en que estudiaste historia del arte? WN: En mi casa había un mapa gigante de París. Era de mi abuelo. ese mapa era el trazado de París en plantas y alzadas a partir de las obras que hizo el barón de Haussmann. Entonces, se veía todo el centro de París, se había los edificios y las calles, todo el trazado completo de la ciudad, un mapa gigante [que] tenía como tres metros o más. Y de niño yo jugaba con mis primos a decir un nombre de una calle o un pasaje o un edificio o algo así, y teníamos que buscarlo hasta que lo encontráramos. […] [M]e aprendí visualmente el mapa de París antes de venir a París. Yo conocía perfectamente la distribución de las calles, los edificios, los barrios, los monumentos, todo. […] Además, yo había estudiado en Cuba Historia del arte en la Universidad de La Habana. De modo que ya conocía toda la historia de la pintura francesa, la escultura, la arquitectura, y me era un mundo completamente familiar, y no tuve ningún tipo de problema. Yo imaginaba París tal y como yo lo vi cuando llegué. Para mí, no fue una sorpresa. AG. En general, ¿qué relación se tiene en Cuba con Francia? WN: [L]a relación con Francia estuvo muy presente en la cultura cubana entre el 1860 y el 1940. En todo este período hubo mucho afrancesamiento. Todos los intelectuales cubanos venían a estudiar a París. Los médicos venían a estudiar en las facultades de Montpellier. Anhang A: Autoreninterviews 314 Cuando la Universidad de La Habana cerraba por problemas políticos, como en la época de Machado en los años 30, todos los estudiantes de la Universidad de La Habana vinieron a estudiar en París. […] Cuando habían las guerras de independencia en el siglo 19, el exilio cubano de París era muy importante. […] Siempre ha habido muchos cubanos en Francia. La primera vanguardia cubana de pintura como Víctor Manuel, Carlos Enríquez, la generación de los años 20, todos estos pintores vivieron cinco, seis, diez años en París. […] O sea, la relación con Francia siempre ha sido mucho más directa que con España hasta el año 40, 42 en que Cuba empezó a americanizarse. Hay un período en la historia de Cuba, fue el primer gobierno de Batista en el año 40 que abre el país completamente al capital norteamericano. Entonces, la imagen de Cuba, el imagen de La Habana como ciudad empieza a americanizarse. Pero antes de la americanización de Cuba que duró 20 años, entre 40 y 58, el modelo para el mundo de la cultura cubana era Francia. […] Ya el punto de contacto es mucho más reducido. AG: Ésta es una pregunta muy directa - ¿cuáles fueron las razones para irte de Cuba y por qué te fuiste a Europa y no, por ejemplo, a Miami? WN: Muy simple. Cuando uno se va de Cuba, uno no escoge el lugar a donde uno se va. Lo mismo puedes irte para Guatemala que para Chile que para China. Todo depende de la posibilidad que se te presente. Y a mí, Dios quiso que tuviera la posibilidad de venir a París porque mi madre vivió en los Estados Unidos, en Miami, y a través de mi madre, conocí a un francés, que me hizo toda la gestión burocrática para venir a Francia, para salir de Cuba a través de Francia. La idea mía era venir a Francia e irme a los Estados Unidos después como hacen todos los cubanos. Pero cuando llegué aquí me gustó tanto que me quedé. […] AG: ¿Y como te recibió París? WN: Yo me sentí muy bien. Los primeros dos años que estuve en París yo tenía muchas cosas que ver, estaba muy ocupado= AG: =descubriendo la ciudad= WN: =Exacto. Yo me compré la guía azul, Le guide bleu que era la guía más completa de París que había […] y me pasé dos años viajando y visitando museos, barrios, calles. O sea, fueron dos años completamente entregado a visitar. [C]uando uno viene de un país como Cuba que es un desastre en todas las circunstancias, para mí, esto era un paraíso. […] Porque nosotros veníamos de un país destruido donde no había ni transporte público, ni comida, donde lo que tenías era el Comité de la Defensa de la Revolución vigilándote cualquier movimiento. […] Y toda la tragedia cubana en general, aquel Anhang A: Autoreninterviews 315 país lleno de gente que acababa de perder todo tipo de espíritu cívico. Cuando llegué aquí me pareció que los franceses eran dioses. AG: ¿Verdad? WN: ¡Claro! Pero claro ((Ríe)), ¡por favor! Porque era el contrario de vivir en Cuba. Para mí, Cuba era un infierno. Yo siempre tuve muy claro que yo estaba en un país que no era mi país. Y el día que no me conviniera estar en el país que no es mi país, el que tiene que irse del país soy yo, y no el dueño del país. Eso siempre lo tenía muy claro. Así que nunca tuve ningún problema con los franceses. […] Lo que sucedió fue una cosa muy curiosa. A medida que yo fui conociendo Francia, viviendo en la cultura francesa, yo aprendí a conocer a Cuba. Yo la he conocido desde aquí. Porque yo en Cuba no quería ni oír música cubana. AG: Entonces, aquí en París, nunca te sentiste extranjero? WN: [L]o que pasa es, que París es una ciudad que está llena de extranjeros. Y aquí, todo el mundo es finalmente extranjero. Quien no es árabe, es ruso o es polaco o, la madre es alemana […], otros vinieron de Turquía, otros de África Negra, de América Latina, americanos. Aquí hay tanta gente de tantos lugares del mundo que tú no te puedes sentir extranjero en la ciudad. [L]os franceses se sentirán extranjeros en París. Los franceses del campo cuando vienen a París, se sienten como si estuvieran en otro país. Los otros no, nosotros estamos acostumbrados a esa mezcla de gente, de culturas, de diferentes nacionalidades. Así, que yo nunca me iba a sentir extranjero aquí. AG: Ahora, con respecto a la poesía, ¿cuáles son los poetas franceses que más te gustan? WN: Rimbaud, número uno. Baudelaire, número dos. Verlaine, número tres. AG: Y Mallarmé? WN: Y Mallarmé, número cuatro. Evidentemente los mejores. No hay ninguna duda. Me gusta mucho José María de Herédia en los sonetos. José María de Heredia que es cubano. Me gustan algunos poetas poco conocidos de la Belle Époque como Pierre Louys, por ejemplo, Henri de Regnier. Me gustan los clásicos del siglo 19, Lamartine, por ejemplo. Contemporáneos, creo que ninguno. Actuales de la lengua francesa, no creo que haya alguno que me guste, escritores sí, pero poetas no. AG: ¿Y los de Cuba? WN: Mis poetas de Cuba preferidos son Dulce María Loynaz, Lezama Lima, Gastón Baquero, Ángel Gaztelu, Eugenio Florit. Hay una poeta cubana que murió en el exilio en Miami que es muy poco conocida Anhang A: Autoreninterviews 316 pero que es fabulosa, Pura del Prado. Y Nivaria Tejera, también me gusta mucho. AG: ¿Por qué escogiste el título Ínsulas al pairo para la antología? WN: Porque es un título muy clásico. AG: Al pairo significa que estás parado en algún lugar. WN: ¿Cómo te lo voy a explicar? Durante cuatro siglos la comunicación de Cuba con el resto del mundo o con Europa era a través de la navegación, a través de los barcos. En la época en que no existía la tracción del vapor, ni la tracción mecánica, los barcos dependían del aire, del viento para poder avanzar. Cuando los barcos salían de Europa hacia Cuba o de Cuba hacia Europa, si había buen aire, buen viento - avanzaban. Pero si les agarraba a mitad de camino un tiempo de calma, que es lo que se llama en cubano calma chicha, o sea que nada se mueve, ni una hoja, los barcos se quedaron parados en el medio del océano hasta que volviera a haber viento. Eso, quedarse en el medio del océano, uno, dos, tres, cuatro, cinco, seis días hasta que volviera haber viento, eso se llama en español estar al pairo: estar parado en el medio de algo sin poder moverse. […] Yo lo he llamado Ínsulas al pairo porque cada uno de estos poetas es como una isla, una isla que flota, una entidad que flota. Y estamos al pairo porque estamos esperando a que pase algo, algún viento favorable que nos dé un empujoncito más, y que nos permita avanzar un poquito más, a ver si un día Cuba se democratiza, y podemos finalmente regresar a Cuba como seres normales. Por eso lo llamé Ínsulas al pairo porque en cierta forma somos barcos que hemos salido de Cuba, flotando, en diferentes momentos, estamos todos parados esperando algo, en el medio de algo y a veces hay un vientecito y parece que va a pasar algo, entonces se avanza y después nos volvemos a parar y no pasa más nada. Es un poco por eso que somos ínsulas al pairo. AG: ¿Empezaste a escribir poemas en Cuba? WN: De adolescente, pero nunca me gustaron y los botaba y los rompía, los eliminaba. AG: ¿Verdad? WN: Sí. Incluso, por ejemplo, este que publiqué ahora, Edad de miedo al frío (2005), ya no me gusta. AG: ¿Pero crees que estar en el exilio lejos de Cuba, te ha dado alguna energía [para escribir]? WN: Sí. Eso me forzó a escribir. Primero, llegué a París muy joven. Estando en París empecé a escribir por necesidad porque primero tenía que contar las cosas que habían pasado en Cuba, de modo que eso me incitó con la escritura. Luego, por selección natural, empecé a frecuentar a los cubanos que tenían que ver con el mundo que me Anhang A: Autoreninterviews 317 interesaba a mí que era la cultura, la pintura, la escultura, el cine, el teatro, la literatura. Al conocer a cubanos de este medio terminé escribiendo cosas para ellos y ellos cosas para mí. O sea, que ya forzosamente esto te obliga a escribir y te desarrollas un poco en términos del periodismo, de comisários, de [curador de] exposiciones para una exposición de pintura. En el fondo yo si pienso que lo que más me ha obligado a escribir es vivir fuera de Cuba. Si quizás me hubiera quedado dentro de Cuba, hubiera escrito menos o no hubiera escrito nada. AG: Entonces, la distancia es algo que= WN: =Hay una necesidad de contar, además de existir. Porque, ya tú no tienes país, o sea, tú no existes dentro de tu país. Entonces, tú tienes que intentar existir para el resto del mundo. Los que están en Cuba, existen para Cuba. No existen fuera de Cuba muchas veces. O sea, no tienen reconocimiento, muchos no pueden publicar fuera de Cuba, etc. Nosotros no existimos en Cuba, porque nosotros no podemos entrar en Cuba. Entonces, tenemos que existir en algún lugar. Y una forma de decir, yo soy cubano, yo sigo siendo cubano, es escribiendo fuera de Cuba, publicando fuera de Cuba y estando en todas las partes [en las] que sea necesario fuera de Cuba. Eso es lo que me ha pasado. AG: ¿Dirías que tu poesía es típicamente cubana? WN: No creo. Bueno, yo creo que sí, la musicalidad sí. Yo no escribo sin música, sin un sentido musical de las palabras. […] A mí, no me gusta la rima. Yo no utilizo la rima, solamente en los sonetos porque es obligado. Pero en la poesía libre de verso libre, de rima libre: si las palabras no encajan, no encajan. Y eso es una cosa que te la da el oído. Eso es puramente musical y yo pienso que los cubanos, tenemos un oído muy musical. […] AG: Tengo una última pregunta. ¿Qué piensas de la transculturalidad, un concepto de origen cubano? WN: Yo pienso que es muy beneficioso. Porque finalmente cada cual coge lo mejor de cada cultura. Me parece que es formidable. De todas formas, ya Cuba es por sí un país transculturado. Cuba es un país que está influido y formado ya por los negros, por los moros, por los españoles, y los españoles ya estaban influenciado por los árabes. Cuba es un país de múltiples influencias culturales. Los pueblos transculturados no pueden permitirse una segunda guerra mundial. Anhang A: Autoreninterviews 318 A.III Präsentation Lumbres Veladas del Sur 2009 Präsentation der Anthologie Lumbres Veladas del Sur (2008) von William Navarrete Paris, Maison d’Amérique Latine 26.02.2009 CR: Christian Roy-Camille EM: Eyda Machín WN: William Navarrete EM: Voilà, alors on aurait pu rester là pendant toute la nuit seulement avec José Triana mais nous devons aussi partager cet autre auteur qui va nous offrir Christian Roy-Camille: c’est William Navarrete: Les lueurs voilées du sud. CR: Bonsoir. Je suis très honoré d’être avec vous ce soir […]. Les poètes sont toujours jeunes. Et, en tout cas, celui-ci peut-être sur sa carte d’identité, c’est-à-dire, celui que je dois entre guillemets défendre maintenant -[…] celui se défend tellement bien tout seul- cet homme, William Navarrete, dont nous parlerons. Je présenterai maintenant j’espère ((rires)), son seconde recueil poétique qui s’intitule Lumbres veladas del Sur, Lumières, Lueurs, excusez-moi, voilées du sud, composé en 2008, après un premier recueil qui s’intitulait Edad de miedo al frío, Age de peur au froid. Et, j’aime toujours dans une sorte de clarté, c’est-à-dire que j’espère m’interroger sur les titres des recueils poétiques: Lueurs voilées du sud. Tout d’abord, il faut vous dire que ce poème provient d’un poète cubain, vivant à Paris actuellement, qui est à côté de nous, mais que ses textes, ses poèmes, dont il est question dans ce recueil, parle du Maroc. C’est très étonnant, très bouleversant aussi, cette rencontre de l’autre, car la poésie est bien sûr un chemin ensemble dans un monde qui est à la fois terrestre mais qui est aussi suprasensoriel et universel et intemporel. Et ce livre nous en donne quelques clés. Et ce qu’il y a d’extraordinaire au début, c’est de penser que ces quinze poèmes, qui constituent le recueil, vont à la rencontre d’un pays au départ ignoré, mais dont le poète avec sa lutte va tenter de saisir les sens. C’est-à-dire, aller vers l’autre avec sa différence, sa ressemblance, car ne sommes-nous partout identiques quelque part? Et une chose est aussi splendide: c’est l’arabité et l’hispanité, qui évidemment se tiennent puisqu’on imagine très bien et on le sait des sources sûres que de très nombreux mots espagnols proviennent de l’arabe. Quand vous dites: le Guadalquivir qui coule à Seville ça nous vient de Wadi-al-Quebir qui veut dire le grand fleuve. Quand Anhang A: Autoreninterviews 319 vous dites: Gilbraltar, ça vient de Djebel al-Tarik, Tarik qui fut le premier à quitter cette région du Maroc pour se rendre donc en Espagne. Et donc, ces lueurs voilées du sud sont le voyage réel et poétique d’un homme au Maroc. Donc, un voyage quasi initiatique, on parle d’un roman de formation, d’un roman d’éducation, mais là il s’agit de poésie de formation et d’éducation, parce-qu’au contact de l’autre on apprend forcément toujours quelque chose. Mais qu’ici, il est non seulement question de rencontrer l’autre, mais de rencontrer le sens même de l’art de l’autre. Et là vient l’intelligence prodigieuse de ce recueil. […] Il n’est pas question ici de flatter l’auteur. Ce n’est pas d’une part mon style, je mets la poésie suffisamment haute pour ne pas la descendre au sens vrai du terme. Mais là il y a une intelligence de moyen artistique de la culture islamique, persane, également aussi parfois, mahométane comme on l’appelait au 17 ème et au 18 ème siècle. Alors, les lueurs voilées du sud. Les lueurs ne sont pas des lumières vives. Pourtant nous sommes dans le sud, ça pourrait presque être étrange de se dire: mais comment, pourquoi n’est-elle pas éclatante? Les lueurs, ce sont des lueurs de l’aube, ce sont des régions vagues, à peine perceptibles. Et aussitôt après, l’auteur nous plaque l’adjectif voilé. Les lueurs sont elles-mêmes voilées. Double sens ici de nos voiles: on ne voit pas à travers un voile. On nous voit à travers un voile. Et bien évidemment, le voile dont il est question est aussi un voile vu religieusement, pourquoi pas? Mais également, vu ici comme une opacité pour aller découvrir l’autre. Alors, il va falloir mettre procheté de la lumière sur ce recueil qui n’est que lueur et dévoiler ce qui est voilé. Voilà le sens de la poésie. Et le poète seul a le pouvoir orphique de le faire. Et ainsi, la rencontre avec ce pays peut avoir lieu. Arrive ce poète, qui au cours de chacun de ces poèmes a une aventure poétique avec ce pays, le Maroc touristique, ressassé, rabâché […] des connaissances, des lieux communs. Et bien, il va devenir ici un lieu méconnu, voire inconnu à notre regard. Le voile va être levé dans cette nouvelle rencontre, très extraordinaire, très étrange. Et le poète devient l’étrange étranger qui va aller vers l’autre tenter de décrypter ses mythes, ses croyances, sa religion, ses êtres et également se fondre dans une population sensualisée, intellectualisée, la voir dans tous ses aspects. Il y a dans ce recueil une sorte de grâce qui paraît dans chacun des poèmes où il y a surtout cette fraternité universelle. Et c’est surtout ce que je trouve splendide, d’imaginer ce regard de cubain qui va retrouver des choses peut-être de son moi profond, des choses sans doute de son île, de son enfance, d’une création aussi de monde qui est tenu, maintenu quelque part sous clé, sous le voile dont on nous montre Anhang A: Autoreninterviews 320 des aspects riants, mais qui est maintenu dans une lueur, une sorte de petite bougie vacillante qu’il s’agit pour l’auteur de renflammer. Et le feu des Dieux est le feu que réclame le poète. Ainsi nous allons partir ensemble en quête des lieux typiques du pays. Quand je dis typiques, c’est à dire des lieux existants réellement au Maroc comme par exemple Marrakech, dont il est beaucoup question dans ce recueil. Comme Essaouira, l’ancien Mogador, extrêmement touristique, on va y faire de la balnéothérapie, on va se faire lifter là-bas. Mais Mogador est un port d’esclaves et le poète seul entend encore les chaînes des esclaves de Mogador. Et pour lui, c’est une ville mortifère, une ville morte qu’il y voit à travers les bobs, les bus des touristes ((en référence à Magia de los hierros, p.23)). Donc, un Maroc réinventé par la poésie. Mais, ce qu’il y a aussi de formidable dans cette œuvre, c’est que ce regard aussi est illuminé par la beauté des lieux et que tout ne veut aller que vers une fraternité et surtout une élévation dans le sens baudelairien du terme. C’est-à-dire, que le poème doit élever l’âme. Et celui que se retrouve en présence d’un peuple qui a été formaté de telle ou telle manière qui est lui-même un agglomérat de différentes religions qui cohabitent tant bien que mal. Et bien, le poète se retrouve lui-même dans ce peuple et il va tenter de le comprendre. Comprendre, ça veut dire prendre avec soi. Et il n’entend que le bruit assourdissant qu’il y a toujours au Maroc, cette sorte de vacarme, de brouah. Et bien, il faut aller au fond de ce brouah pour comprendre le silence bouleversant de chaque être qui y passe. La poésie seule aussi a le pouvoir recréer ces espaces d’une solitude infinie, parfois d’une tristesse tellement lucide, face à ce qui peut sembler un bon carnaval joyeux pour touristes. Alors, le premier poème que nous allons lire et étudier ensemble que je présenterai chaque fois s’intitule Chant au pied des Atlas. Chant, la poésie est chant, nous l’avons dit. Au pied des Atlas en n’étant pas. Les Atlas sont ces cimes enneigées, sublimes. Et Atlas est un géant de la mythologie grecque. Alors, du bas en haut, n’y a-t-il pas également dans ce seul titre élévation? Le poète souhaite au cours de toutes ces rencontres de ce choc culturel, émotionnel, physique, intellectuel. Il souhaite comprendre ce qu’il y a autour de lui. Et il le ressent intimement une fraternité, une douceur, une sorte d’enfance retrouvée. Il y a la source cristalline de la reconnaissance de l’autre, des jeux d’enfants. Et il est beaucoup question dans ce texte, dans ce poème, de dogmes. Les dogmes très durs, nous le savons. Dans l’Islam tout ce qu’on vit peut être très dur dans le Christianisme ou très dur aussi dans le Judaïsme ou dans d’autres religions. Mais ce que souhaite le poète, ce serait une sorte d’état primordial qui ferait Anhang A: Autoreninterviews 321 fondre la neige - vous voyez le sens - je dis partir de la neige de l’Atlas qui va faire fondre et éclater un regard de poète qui voudrait faire fondre également les différences de chacun avec une humilité, une grâce, une volupté aussi, il faut se laisser prendre à l’autre. Il faut qu’on est à l’autre. Il faut - prenant le mot au beau sens du terme et non pas ici au sens sexuel du terme - il faut faire l’amour à l’autre. Il faut donner l’amour à l’autre. L’amour ici n’entend que fraternité et extase, d’un monde nouveau, retrouvé exclusivement par la poétique. Je vous propose donc d’écouter ici Chant au pied des Atlas, tout d’abord en version originale par William Navarrete et en version française par Eyda Machín. WN: Merci Christian. Après Christian je pense que ma voix ça va sembler celui d’un vendeur de pommes de terres. Je veux remercier tous ici présents et avant de lire le poème, qui annonçait Christian, Canto al pie de los Atlas je voulais dire des choses importantes. Le premier c’est que j’ai choisi comme recueil le tableau d’une artiste saoudienne et cubaine qui est ici, c’est Latifa Al Sowayel et c’était dans sa collection de La vie en or le tableau qui m’a plu au-delà des autres, par-dessus des autres. […] Et aussi je voulais remercier une personne qui était témoin vivant de ce voyage au Maroc qu’on a fait ensemble, c’est mon ami de longue date. Ça mène à nos études communes à la Sorbonne, Mar Arroyo, qui était le responsable, en vrai, de ce recueil parce que c’était elle qui a eu l’idée de faire ce voyage ensemble au sud de Maroc. Le premier poème c’est comme Christian vous a dit Canto al pie de los Atlas et ce livre [Lumbres veladas del Sur] j’ai voulu commencé par un extrait, c’étaient quelques vers d’un poème […] d’un écrivain marocain qui s’appelle Mohammed Sebbagh, dans son livre Arbres de coquillages dont j’ai traduit depuis le français parce que ce sont des poèmes marocains d’expression française. Et ça commence avec quelques vers de son livre: “Un pintor marroquí, adepto de la escuela impresionista, buscaba la idea que le permitiese dibujar el rostro del Marruecos contemporáneo. No encontró nada mejor que pintar el rostro de una hermosa mujer enterrada viva.” Anhang A: Autoreninterviews 322 A.IV Autorengespräch 2009 Universität Frankfurt, Institut für Romanische Sprachen und Literaturen Autorengespräch im Rahmen des Seminars Poesie & Exil unter der Leitung von Andrea Gremels, WiSe 2009/ 10 07.11.2009 AG: Andrea Gremels EM: Eyda Machín WN: William Navarrete Studierende: A1: Daniel V. A2: Hannah E. A3: Julia V. A4: Annette G. A5: Anna M. A6: Sarah F. A1: ((Dirigiéndose a EM con respecto al poema Soy mucho más, IP 75)) ¿Éste es un poema que has hecho para una persona que ha tenido en tu vida alguna importancia? EM: Para una cierta categoría de hombre. ((Risas)). Pienso que hay todo tipo de ser humano. Esta mujer que escribe este poema que no necesariamente soy yo, es una mujer simplemente, que le dice a ese hombre: sí, es cierto. Yo soy este cuerpo, yo soy esta boca, yo soy estos ojos, yo soy todo. Tómame en mi unidad. Toma mi yo físico y mi yo espiritual en una totalidad. Pero no fue por -o contra- un individuo particular. AG: Así lo interpretamos también la semana pasada. ((Refiriéndose a Soy mucho más)) Es superar el cuerpo= EM: =Sí, o sea, soy todo esto. En ningún momento digo: no soy este cuerpo, no soy esta boca. Sí, yo soy, asumo. Asumo mi cuerpo, asumo mi sexualidad. Pero, no tome solamente eso, tómame en mi totalidad. A2: ¿Qué significa la cadencia? ((Se refiere al último verso del poema que dice “Soy la cadencia”)) EM: Es música. Es armonía, es vibración, es belleza. AG: Para abstraer un poquito este poema Soy mucho más que es un poema sobre una lucha del cuerpo de una mujer contra el cuerpo de un hombre. ¿Dirías también que se lo puede abstraer [del nivel de los cuerpos] y decir: hay dos fuerzas que están en lucha en este poema? [...] Anhang A: Autoreninterviews 323 EM: No. Yo no diría que es malo y es bueno. Yo lo que digo es: somos seres totales. No es posible tomar a alguien solamente por sus aspectos. Ya sea porque es intelectualmente extraordinario y se olvida su parte física. Pienso que en la medida en que somos seres totales, debemos tomar al otro que está frente a nosotros en su totalidad de ser humano. [...] Pero es una cuestión de lucha de contrarios en cierta forma, sí. A2: Man hat Gänsehaut bekommen, als sie das Gedicht gelesen hat. A3: ((Traduce)) Leyendo el poema se le puso la carne de gallina. EM: ¿De verdad? ((Ríe.)) A1: Bueno, una pregunta al señor Navarrete. En el poema “Soneto a una matrona” (IP 135) se está refiriendo a la ciudad de París. Veo un poco de crítica de vida en París, porque París es la ciudad [en] que vives. ¿Tienes una explicación? WN: No es una crítica. En realidad yo siempre he pensado que el soneto es una estructura que se hace desde el punto de vista en que siempre se hizo en el Siglo de Oro español. Cuando yo pienso en los sonetos de Quevedo, por ejemplo, tienen un lado humorístico. Para mí, un soneto [tiene] una estructura musical, perfectamente matemática, se cuentan las sílabas, la cuenta no puede fallar: ni la pronunciación, ni la rima, ni la métrica, ni la cadencia. Es una perfecta forma poética para burlarse de algo o de ironizar sobre algo. En este caso, lo hice sobre París. Porque probablemente estaba yo de mala leche contra París. ((EM se ríe)). Pero no significa que no me guste París. Me encanta y me importa. Toda ciudad tiene siempre su por y su contra. No existe la ciudad perfecta, ni hay individuo perfecto que se adecue a la ciudad. Y lo hice irónicamente burlándome un poco del espíritu parisino, que es muy snob. Siempre creen que son el centro del mundo. Y al final, he terminado el soneto diciendo: bueno, tanta cosa, pero “todo lo que saca es made in USA.” ((último verso)). Casi todo lo que París produce en los últimos cuarenta años de nuevo es una imitación del modelo cultural americano. A1: ¿Pero no es una crítica al modelo americano? WN: No, yo no critico ningún tipo de modelo, como no me parece que sea interesante criticar modelos. Simplemente era pensando en que los franceses viven siempre del pasado. Es cierto que es un pasado muy largo porque Francia durante muchos siglos fue prácticamente el centro espiritual del mundo, pero en los últimos cincuenta años después de la guerra, Francia es un país que ha decaído, puntualmente hablando. Ofrece poco. Es casi como un refrito ((Risa AG)) de lo que ha sacado. Entonces, volvemos a ver lo mismo, volvemos a escuchar las mismas piezas de teatro, volvemos a ver a Proust cocinado, recocinado, se vuelve a cocinar. Y vuelven de nuevo las mis- Anhang A: Autoreninterviews 324 mas historias de las operetas, de las óperas, los teatros de los grandes bulevares. Hay como un refrito, hay como un cansancio, una fatiga, una especie de falta de integración en el pueblo francés. Creo que es por un conflicto que han tenido de no saber incorporar a las culturas extranjeras que le llegan - al inmigrante. […] AG: Respecto a lo del refrito: yo quería explicar a los estudiantes que significaba freír un huevo ((Refiriéndose al v.12 del poema)) ¿No podrías hacer el sonido con la boca? […] WN: Yo se lo expliqué a Andrea, estábamos en el Louvre, [que] es una cosa muy cubana y es de mala educación. Freír un huevo es hacer ((chasquea)). En francés dicen: merde. En español [cubano] es: vete a freír un huevo. Pero no lo decimos, lo hacemos con la boca. Esos son las cosas totalmente culturales: yo me acuerdo que un día yo estaba en un supermercado en París, haciendo una cola en una caja y la cajera era una africana negra. Y yo estaba agobiado en aquella cola porque no avanzaba. Había una señora como siempre que se enredó porque el cheque no le funcionó y la tarjeta tampoco y el producto a retirar entonces fue el yogur para que costara menos [todo], para que le alcanzara [el dinero]. Era un agobio total. Y yo detesto los supermercados y las colas porque en Cuba las hay. Cuando me llegó el turno le digo a la cajera africana ((chasquea)). Es como diciendo a la francesa: Je n’en peux plus. Después [lo] puedes decir si alguien te molesta. Lo haces así. Es con la boca. Eso se llama freír un huevo. Y ella entendió [porque en África hacen lo mismo]. EM: Yo no podía hacer ese sonido tampoco. WN: Porque tú no eres cubana como yo. ((Risas)) Tú eres internacional. AG: Pero, ¿cómo se entiende “freír un huevo” en este contexto del poema? WN: Eso se entiende diciendo que peu importe, que poco importa. EM: Bueno, si quieren pueden utilizar este nuevo sistema y implantar en Fráncfort una nueva forma de decir= WN: =no creo que funciona. No. A4: [Con respecto a] Ciudad (IP 133), ¿se refiere también a París? WN: No. Ahí es La Habana. A4: ¡Ja! [Sí] WN: Porque es una ciudad destruida. O sea, es una ciudad en ruinas, una ciudad en polvo, una ciudad que ha caído en una especie de marasmo, solamente comparable con Venecia. Pero Venecia, [ha caído] por condiciones naturales y La Habana por condiciones biológicas y humanas, ¿no? La Habana es una ciudad hermosa, de hecho le decían el París del Caribe, probablemente la ciudad más bella de América Latina. Y hoy día es una ciudad que fácilmente es comparable con [...] la peor ciudad de Haití. Es una ciudad que se ha Anhang A: Autoreninterviews 325 derrumbado, que se ha caído. ¿Ustedes han visto las imágenes de una ciudad después de una guerra? Por ejemplo, después de la segunda guerra mundial, todo el mundo ha visto ciudades demolidas. Bueno, La Habana está más o menos cerca de una especie de guerra o cataclismo sin que haya habido guerra, que es lo peor. Yo hice este poema pensando en La Habana que es mi ciudad a la que no he regresado. […] Pero, la comparación al final de “hembra maltratada” (v.18) no es que sea machista. Es que La Habana es un nombre femenino. El Cairo es masculino y La Habana es femenina. No hay una connotación de ningún tipo sexual ni de posición mía con respecto a sexos. Es simplemente por la concordancia del nombre. […] AG: En cuanto a Ciudad, ¿quién es “la colegiala azul” (v.5)? WN: La colegiala azul es la chica joven, adolescente. La que tiene entre 13 y 17 años, que está llena de ilusiones con respecto a la vida y que generalmente la ves en un país cualquiera vestida en uniforme. Sobre todo en América Latina= EM: =eran azules= WN: =que todavía usan los uniformes para ir a los colegios, a las escuelas. Entonces, uno ve a esas muchachas, todas maravillosamente frescas, en general de buenas familias, como se dice en América Latina, con sus uniformes azules perfectos, con el pelo perfecto [...] como en una película de Hollywood. Entonces, eso es una colegiala azul. Yo pensaba en La Habana como en la ciudad que fue una ciudad fresca, una ciudad joven, una ciudad llena de expectativas, de bellezas, una ciudad eminentemente rica. Era una ciudad de mucho comercio, de hecho el puerto de todas las Américas. A4: Hay también una palabra en alemán que es un poco parecida que es blauäugig - de ojos azules. AG: Sí. Sí. Blauäugig quiere decir “de ojos azules” y describe a una persona que todavía es ingenua, que no sabe lo que hace. ((Afirmaciones de WN)) A5: También hemos visto la pintura de Gustavo Acosta, [un cuadro] que se llama Contando nueve olas. ¿Es cierto que este cuadro también te ha inspirado para escribir el poema? WN: No. Gustavo Acosta es un pintor cubano que vive en Miami. Es un amigo mío personal. Yo le dediqué el poema porque durante mucho tiempo él ha estado pintando La Habana. Incluso tiene varias series de grandes cuadros porque él pinta en gran formato que [el tema] es La Habana. Él lo hace con unos colores terrosos, un poco particulares, que da al mismo tiempo la idea de una ciudad que ha ido perdiendo brillo. Entonces yo, cuando escribí ese poema, pensé en Anhang A: Autoreninterviews 326 él, pensé en su pintura. No es que me inspiré pensando en su pintura. Pero me di cuenta que entre lo que yo estaba escribiendo y las cosas que él pintaba había una relación. EM: Es interesante que el hecho de haber leído el poema los hizo ir a ellos a buscar a Gustavo Acosta. WN: Sí. Es un gran pintor. AG: Hablamos sobre el título Flujo y reflujo de Eyda Machín (IP 73) y decimos que en alemán se diría Ebbe und Flut y que Ebbe, flujo, tiene una connotación un poquito negativa porque significa la ausencia de agua. [...] Siempre significa una ausencia, una falta, ¿no? [...] EM: Estos poemas fueron traducidos al alemán en Erlangen por un equipo de traductoras: Soy mucho más. A1: ¿Se podría traducir las palabras flujo y reflujo con marea alta y marea baja o son dos cosas diferentes? EM: No es marea baja. Es el vaivén. El movimiento oscilatorio. WN: Es el ir y venir. EM: Es el ir y venir. Es el movimiento acompasado de flujo y reflujo. Porque si hay marea alta, hay un tiempo de marea alta y después HAY otro tiempo de marea baja, ¡pero aquí no! Aquí está una constante que va y que viene. A1: Por eso. Así sería la traducción al alemán con Ebbe und Flut una traducción que no es [exacta]. AG: Que da una otra= EM: =otro sentido. [...] Soy mucho más [la antología], les advierto, fue una cosa nada fácil. Fue una tarea de dos años, con cinco traductoras, estudiantes del instituto de estudios romanísticos en Erlangen que trabajaron con el profesor Spiller y conmigo a la distancia, tratando de interpretar todos los poemas, [de] traducir poemas con una carga erótica tan fuerte como en estos poemas. Ellos me decían: No sabemos si los vamos a poder traducir al alemán. ((Risas)) [...] A veces me decían: no sabemos ni siquiera si existen las palabras. ((Risas)) Y al final de ese trabajo fabuloso de dos años, nació ese libro. Fue una linda experiencia humana realmente y como los poemas iban a ser publicados en alemán y en español, yo quise también traducirlos al francés porque el francés es la lengua de mi vida diaria. Mi lengua materna es el español. Después estudié el inglés y el francés en Cuba, antes de salir de Cuba. [...] Ya hace 31 años que vivo en París. Mi lengua cotidiana es el francés. Dije: No puedo publicar un poemario en español y alemán en que el francés no esté presente. No es posible. Entonces, nació el bebé con tres cabezas. Anhang A: Autoreninterviews 327 AG: En cuanto a la traducción, William, ¿tú dirías que se podría traducir el humor cubano como [se muestra] en Soneto a una matrona al francés, por ejemplo? WN: No, yo pienso que no. EM: Ahí creo que es muy difícil. WN: Traducir un soneto es muy difícil. Para traducir un soneto hace falta saber hacer un soneto. El traductor tiene que saber hacerlo. EM: Claro= WN: =porque el momento de llevarlo a otra lengua hay que hacerlo de nuevo. EM: Sí, es una reescritura. WN: Tienes que tomar la imagen, quedarte con las imágenes y cambiar las palabras, porque si no, no puedes hacerlo. Si quieres que tenga rima. AG: Sí. WN: Pero si no tiene rima, no vale la pena traducirlo, porque el soneto es rima. Es un juego. El soneto es algo muy lúdico y casi […] uno lo hace por la rima más que por el contenido. El contenido es una imagen breve, extendida, en cuatro estrofas para dar gracia y risa e infundir humor [...] pero es un pretexto. La idea es una y es muy simple. Lo interesante es, y lo difícil, importar las palabras que caigan, que encajen perfectamente en ese molde. Por eso, [para] traducirlo, tienes que saber hacerlo. AG: [Para] traducir poesía en general, ¿no? WN: Sobre todo, las de rima. EM: Pero más que nada, el soneto. WN: El soneto y casi todas las formas clásicas de rima son difíciles. EM: [P]ienso que la condición fundamental para poder traducir poesía es ser poeta. No es suficiente ser traductor. No es suficiente conocer las dos lenguas. Hay que ser poeta. […] WN: El mejor tipo de traducción que uno hace es la que uno hace por placer. Cuando se trata de un encargo, de une commande, ya uno se siente, yo particularmente, me siento menos motivado. […] Pero uno traduce por placer a algún autor que a uno le gusta. Es cuando mejor te queda la traducción. AG: Quizás ahora, como no nos va a alcanzar el tiempo, ¿hay preguntas generales? A1: Sí. ((Risas)) Bueno, quiero [citar] una canción que es de Cuba también, de pronto la conocen, se llama Cuando salí de Cuba. Mi pregunta es: ¿Qué significado tiene Cuba hoy para ustedes? ¿Qué significa Cuba? ¿Es una patria o es un país víctima de una dictadura, no más? ¿Se identifican con el [país] o no? WN: Das unas únicas dos opciones. ((Risas)) Anhang A: Autoreninterviews 328 EM: Es mi patria y es un país víctima de una dictadura horrible desde hace 50 años, es cierto. Pero Cuba es mucho más= A1: =mucho más. EM: =Es mucho más. Como [en] el poema. Pero yo dejo quizá a William hablar. Tú eres el especialista de Cuba. WN: No. No soy ningún especialista. Para mí, Cuba es el lugar en que nací= EM: =Sí=. WN: =en una cultura que conozco perfectamente por todos [los] códigos y accidentes históricos también. Yo creo que es un accidente político, histórico. Un país de una gran importancia desde el punto de vista cultural como puente de Europa y América Latina. Ya sea en la música, en el deporte, en literatura, en el cine, en la pintura, etc. Incluso en las ideologías también porque la revolución -entre comillas- cubana ha sido un fenómeno durante muchos años. Se extendió a todo el tercer mundo: África, América Latina y el Medio Oriente. Pienso que es un accidente largo de 50 años como otros países han tenido accidentes largos, menos largos y equivocaciones no muy largas pero sí muy destructoras. Creo que a los accidentes no se les mide por el tiempo sino por la capacidad de destrucción. Sobre todo, [es] sobre la capacidad de un pueblo para renacer después de un cataclismo político de este tipo. Esto está por ver. No sé hasta qué punto el pueblo cubano tenga capacidad de renacer como el Ave fénix de sus cenizas. Es un período de la historia de la cual me tocó ser parte, no lo niego. No siento un dolor particularmente profundo por esto que sucedió porque de la misma forma que me sucedió a mí, le hubiera podido suceder a alguien en otro momento. Es tonto creer que estas cosas le pasan a uno. No, estas cosas pasan y uno tuvo la mala suerte o la casualidad de nacer en el momento en que están pasando. Las cosas no pasan contra uno. EM: Claro. WN: Tampoco lo veo como algo muy patético [...]. Es lamentable, evidentemente. Se podría evitar este tipo de régimen. EM: Yo no lo encuentro patético para mí en particular, pero lo encuentro patético para tres generaciones= WN: =Ah, obviamente= EM: =tres generaciones de cubanos que han sido reducidos a ser desposeídos de toda ilusión, de toda esperanza, de toda ambición sana, humana, sin un futuro, con un pasado completamente distorsionado por el sistema y con un presente donde lo único que hay que hacer es tratar de sobrevivir. Tratar de sobrevivir en la mentira, en la doble moral, en el doble discurso. Tienes que traicionar al padre o a la ma- Anhang A: Autoreninterviews 329 dre o al hermano para poder sobrevivir en aquellas circunstancias, es terrible. WN: ((Dirigiéndose a los estudiantes)) Ustedes son jóvenes y no lo vivieron. Pero Alemania del Este y la Republica Federal de Alemania tenían la misma situación. O sea, dos pueblos divididos, un pueblo con una sola lengua, de una sola cultura, dividido. Cuba es más o menos igual: hay un pueblo cubano que vive en la isla, está atrapado en estas circunstancias y luego hay prácticamente dos millones de exiliados o de emigrantes porque no todo el mundo es exiliado. Pero la gente […] se ha ido de Cuba. Pero este pueblo está dividido también. Unos viven al frente, en la Florida, en Miami, en el sur de los Estados Unidos y otros están atrapados en la isla. EM: Están en los Estados Unidos al norte, y otros en Francia, otros en España. WN: Sí, menos. Pero todo eso está en la Florida. Nosotros, los cuatro gatos en París, no sé, poco importa[mos]. EM: ¡Gata! AG: Eyda, ¿no nos puedes contar un poco sobre tu último viaje a La Habana? EM: Yo salí de Cuba en el año 1966 […] pensé que nunca más volvería a Cuba. […] Pregunté al consulado cubano si podía ir a Cuba con mi pasaporte francés. Al principio me dijeron que no. Hasta que un buen día, en el año 1996, me dijeron que sí, que podría ir a Cuba con mi pasaporte francés. Y fui en el año 97, después de 31 años. Yo les puedo asegurar que esta ciudad que yo vi cuando regresé 31 años después era una ciudad, que tuve la sensación que había sucedido un cataclismo, como decía William Navarrete, que toda la isla había sido tragada, la ciudad tragada. No me imaginé. Y en mi libro Pasarelas que escribí en francés y ahora la traduje al español, aparecen muchos momentos de re-encuentro. Primero con esa isla de mi infancia que ya no es la isla de mi infancia. A mí, me costó mucho trabajo reconocer lugares que había visto en mi infancia. Y sé que tú ((dirigiéndose a AG)) conoces Cuba. Tú conoces la Cuba de ahora. Tú no has conocido nunca [la Cuba que yo conocí]. No tienes el punto de comparación. Pero me imagino que tú también verás una ciudad destruida. [...] Antes de ir yo a Cuba, me decían muchos amigos franceses: Me da la impresión [que la Habana es] como una mujer de ochenta y pico de años, llena de arrugas, con el pelo blanco, todo encogida. Pero uno imagina, detrás de las arrugas y de este cuerpo todo encogido que debe haber sido una mujer muy preciosa. Digo: efectivamente. Así era Cuba. La Habana era una ciudad realmente muy hermosa, muy bella. Anhang A: Autoreninterviews 330 AG: Pero también esta imagen de Cuba es algo que se vende bien, ¿no? En las guías turísticas siempre hablan del charme morbide de La Habana. EM: El encanto mórbido. AG: Sí. WN: Bueno, es que a uno le gusta cuando viaja= EM: =ver algo distinto. WN: La gente normal cuando van a un sitio de turismo no es para ver lo mismo que ven todos los días donde tú vives. Tú vas a= EM: =¡à tête dépaysé! = WN: =A tête dépaysé. A ver algo diferente de lo que tu ves [a diario]. EM: A cambiar de país. Los europeos buscando sol, buscando playas paradisíacas en las cuales los cubanos no pueden entrar. WN: No, ahora sí. [...] AG: Quizá hay preguntas también sobre Francia. [...] A2: ¿Como han vivido ustedes? WN: =para tener permiso de trabajo y tal? No tuve ningún problema. Yo llegué a Francia en el año 1990. AG: ¿No era en el 92? WN: 90. En el 90. […] Llegué a Francia al final del año 90 y me inscribí en la Universidad La Sorbona donde estudié tres años. Y entretanto me hice ciudadano francés. No tuve ningún tipo de dificultad. EM: El caso mío es un caso completamente distinto. Cuando yo llegué en Francia en el año 78, yo vine con un pasaporte venezolano. […] Yo tuve todos los años una carte de séjour como estudiante. Y apenas en el año 89, once años después de haber llegado a Francia por primera vez, pude tener la residencia. Cuando tuve la residencia ya si pude empezar a trabajar en Francia […] Y en el año 92 tuve la nacionalidad francesa. Pero fácil, ¡no! WN: Es que depende de cada persona como todo. Depende de la suerte que tengas. […] A1: En los Estados Unidos es diferente. WN: Es diferente. Cuando tú eres cubano, inmediatamente tienes la Green Card. EM: O sea, cuando yo llegué en los Estados Unidos, al día siguiente de llegar a los Estados Unidos yo trabajaba, tenía seguridad social. Llegué con un pasaporte con un sello nulo dado por las autoridades cubanas y entré a Estados Unidos con un papel que se llamaba: parolee, bajo palabra. Y como refugiada yo tuve todas las ventajas de la vida de ciudadana. WN: El caso de los cubanos en los Estados Unidos es excepcional. Es lo contrario de lo que les pasa en otros lugares del mundo. O sea, en Estados Unidos, todos latinoamericanos, incluso los europeos se Anhang A: Autoreninterviews 331 quieren casar con los cubanos. ((Risas)). Si tú eres cubano y llegas a los Estados Unidos eres inmediatamente residente y al año siguiente puedes ser ciudadano. Es un caso excepcional en el mundo. Entonces, casarse con un cubano en los Estados Unidos es muy bueno. EM: Creo que en eso me estás dando una idea porque allí se casan bien conmigo. ((Risas)) WN: Si te quedas allí, atraes a muchos pretendientes. EM: En realidad, tengo mucha familia en Venezuela y mucha familia en Estados Unidos. Cada vez que llego allá, me dicen: ¿Por qué no te quedas? ¡Pide refugio! ¡Pide asilo! Yo digo: Como ya voy a pedir asilo si yo soy francesa y yo llevo treinta años en Francia feliz y contenta. -¡No, no, no, pídelo! ¡Quédate aquí! WN: A mí también me dicen lo mismo. Tengo toda mi familia en Miami y cuando veo a mis amigos a menudo me dicen: ¿Ya viniste para quedarte? con cara de alegría. Yo les digo: pero, ¿quedarme aquí en este infierno? Ni muerto. No voy a cambiar París por Miami, que es un campo, con playitas y con hoteles, no, no, no. ((Risas)) A6: Depende también del nivel social que uno como inmigrante consiga un permiso. EM: ¿En cuánto a Estados Unidos o en cuánto a Francia? A6: No sé, en cualquier país. EM: En Estados Unidos, para los cubanos es muy especial. Todos los cubanos, sean de abajo, de la clase media. Si eres cubano y llegas a Estados Unidos- A1: Es un decreto= WN: =Es un decreto de la Guerra Fría. [...] AG: París tiene varias caras, varias facetas [para ustedes], ¿no? ¿Ustedes se creen privilegiados, como escritores también, por poder vivir en París? WN: Para mí, sí. EM: Sí, sí, para mí también. Indudablemente que yo creo que es la única ciudad en el mundo que yo he escogido de forma adulta para vivir es París. Nunca he vivido en una otra ciudad de Francia que no sea París. Pero yo digo siempre que uno no escoge donde nace. Me siento feliz de haber nacido en Cuba, de tener padres cubanos y abuelos cubanos, y estos que venían de las islas Canarias. Los Estados Unidos para mí no fueron una elección, una selección, fue la libertad, fue mucho. Venezuela fue el país adonde me dirigí porque tenía un hermano mayor que estaba instalado allá desde hace años. […] Pero el único lugar donde yo quería ir, donde yo quería estar, donde yo quería vivir, era París. WN: Yo también lo escogí. Anhang A: Autoreninterviews 332 EM: París fue para mí la pasarela hacia el mundo. Desde París, Alemania entró en mi vida, Portugal entró en mi vida, Polonia entró en mi vida, Italia, Grecia, Holanda. Tengo amigos por todas partes. Quizá porque forma parte de mí. El hecho de haber perdido mi patria, siempre lo he dicho así. Es terrible perder su patria, pero al perder a Cuba, yo gané el mundo. A6: Así se abrieron caminos. EM: Todos los caminos estaban abiertos antes [de] mí. Yo me pongo a pensar que hubiera sido de mi vida si yo me hubiera tenido que quedar en Cuba. Si yo no hubiera podido haber un hermano o padres que me sacaron de Cuba. Yo sería reducida a la mínima presión o fusilada ya. Porque ya me hubiera levantado en armas. AG: ((Se dirige a WN)) ¿Y tú? WN: Yo escogí París. Yo sí he vivido [cuando era] pequeño varios años en Roma. Cuando regresé a Cuba, para mí, Cuba era una playa adonde mi familia me llevaba de vuelta. Teníamos una casa frente al mar. Le dije a mi madre en el avión cuando veníamos de vuelta a Cuba: no me gusta el olor, ni la gente. En esta época hablaba más italiano que español. Y llegué a Cuba con nueve años y viví en Cuba hasta los veinte. Fueron once años en realidad. Soy, debería ser, muy poco cubano, sin embargo soy= EM: =Eres más cubano que las palmas= WN: =¡super-cubano! ((Se ríe)) EM: La palma real es el árbol típico de Cuba. […] WN: Cuando me fui de Cuba, yo quería vivir en París. Era la ciudad donde quería vivir. Ciertamente, me parece interesante que yo haya podido vivir tanto tiempo en París. Pero ya es suficiente. Unos veinte años, no hace falta tanto. Ya lo conozco. Me encantaría irme a vivir en otro lugar para cambiar un poco. […] Yo no sé de donde yo soy ya. A Cuba no puedo regresar. Tampoco París. Viajo. Es para mí, mi lugar. Mi lugar no existe. Quitar el país es dejarlo todo. Cuando uno sale de Cuba, uno lo deja todo. Pierde todo: la casa y todo. No puedes sacar más que una maleta. EM: ¡Yo no saqué ni siquiera una maleta! WN: Que vienen a casa, te hacen un inventario. Te cuentan los vasos, las gafas: si tienes tres, no puedes llevarte más que uno. Así se sale de Cuba. [...] Tenía veinte años y les dije: que se queden con todo. Y hasta más: Dígame que quieren y yo se lo compro en la calle, en el mercado y se lo traigo. ¿Quieren algo más? Si no les alcanza todo lo que tengo yo, me avisan qué más quieren, y yo se los busco. Me dejaron ir. Claro, les dejamos todo. Ya toda mi familia vivía fuera de Cuba, en Estados Unidos. Ciertamente, llegar a París fue una maravilla, una gran experiencia, [es] una ciudad fabulosa. Hay todos los Anhang A: Autoreninterviews 333 museos, la historia, la arquitectura, la armonía de la ciudad. Y viajar muchísimo a través de toda Europa y África. Fue una gran experiencia. [...] A pesar de todo salí ganando. Eso [la antología Ínsulas al pairo] no la hubiera hecho si Cuba no hubiera sido un país con un régimen totalitario. Si Cuba hubiera sido un país democrático, yo hubiera venido a París quizá por un año y habría regresado a Cuba. [...] EM: Sí. Hay que estar consciente de que antes de la revolución= WN: =se vivía muy bien= EM: =los cubanos no emigraban de Cuba. WN: Nosotros recibíamos durante un siglo alemanes EM: =españoles= WN: =franceses= EM: =¡chinos! WN: [...] Toda esta gente la recibíamos en Cuba, las incorporábamos a Cuba. Hay una expresión en Cuba que se llama: aplatanado. Cuando el extranjero se siente como en casa. Pensando en el plátano, que es la banana. Ya te sientes en ese país como si fuera el tuyo. El extranjero ha venido, se ha aplatanado en Cuba y producían, vivían, fundaban familia, tenían negocios, se enriquecían en Cuba. [...] EM: Es cierto, si esta desgracia no hubiera sucedido yo tampoco hubiera salido de Cuba. Yo no hubiera emigrado. Yo hubiera hecho mi carrera, mis estudios, sería quizá profesora en una universidad. No sé, cualquier cosa. Pero a mí no se me hubiera ocurrido nunca irme de Cuba. Me tuve que ir. Él [WN] dice que se salió con una maleta. ¡Qué suerte! Tuve que dejarlo todo sellado y salí con lo que [...] tenía puesto en mí. Llevé el pasaporte [...] con este sello nulo y el número de teléfono notado de mi tío en Miami. Eso fue todo. Y el día que salí en ese avión, la gente lloraba. Yo les dije, tenía veinte años: ¿Por qué lloran? ¿Pero no se dan cuenta? Vamos todos hacía la libertad ¡Somos libres! El día [en] que se cayó el muro en el 89, lloré todas las lágrimas de mi vida, porque para mí fue un esperar que Cuba pueda renacer también de sus cenizas, como la Alemania Federal pudo unirse a la República Democrática [Alemana] o viceversa. ¡Qué caigan todas las fronteras! […] Anhang A: Autoreninterviews 334 A.V Miguel Sales 2011 Paris, 19.11.2011 AG: Andrea Gremels MS: Miguel Sales AG: ¿Qué significa para ti el título de tu poemario, Desencuentros? MS: Es lo contrario de encuentros. Falta de coincidencia entre personas, sucesos, cosas. El título original del poemario era Donde cruje mi eternidad, pero el editor creyó que era muy largo y pomposo, y me sugirió que buscara otro. Tenía razón. AG: ¿Dirás que escribir en la cárcel te ayudó de alguna manera a sobrevivir? ¿Cómo guardaste los poemas o bien, los llevaste afuera? MS: Sí, la escritura es un buen ejercicio mental. Aunque la mayoría de lo escrito se perdió o terminó en los archivos de la policía política. Se salvaron pocas páginas, sacadas clandestinamente en papel cebolla. AG: En Cuba: Mémoires d’un naufrage (2009) cuentas tus intentos aventurosos y audaces de huir de la isla. ¿Cómo los percibes desde tu punto de vista hoy día y cómo te parece tu curso de vida en el contexto de las huidas? MS: Fueron actos de fría locura. Pero creo que hoy volvería a hacer lo mismo. Cuando un país cae bajo un régimen así, lo único sensato es volverse loco y tratar de poner 10.000 kilómetros de distancia entre uno y ese gobierno. Los alemanes saben algo de eso. AG: Según Machover, los exilados cubanos “ont préféré se taire, de peur de voir ressurgir leur propre passé”. ¿Estás de acuerdo con este argumento? MS: Ha habido de todo. Unos han callado. Otros han contado. Pocos han escuchado. Casi nadie entiende lo que realmente pasa porque estamos muy ocupados en asegurar la supervivencia cotidiana. Es normal. La vida se hace de cara al futuro. Hay que pasar página, no se puede vivir mirando siempre al pasado. Aunque tampoco conviene olvidarlo totalmente. AG: ¿Qué significó para ti el encuentro con Raúl Rivero? En la entrevista revivían tus recuerdos? MS: Fue muy emocionante. Raúl es un gran poeta y simboliza la penúltima fractura entre el régimen y la sociedad en Cuba. Aunque no coincidimos en la cárcel -cuando a él lo condenaron yo estaba ya exiliado en Europa- tenemos vivencias análogas y coincidimos en asuntos fundamentales. Anhang A: Autoreninterviews 335 AG: ¿Piensas que en Europa, precisamente en Francia, se tiene todavía una visión romántica de la revolución en Cuba la que se mantiene hasta hoy por el turismo a la isla? MS: No, el castrismo ya murió su muerte. Casi todo el mundo lo sabe. Hay un folclor hecho de imágenes de Guevara, canciones de los trovadores/ funcionarios y nostalgia del igualitarismo rencoroso de los años 60. Pero poco más. Y hay, por supuesto, el antiyanquismo que es la más profunda razón de ser del régimen. Como se dice en francés, es su fonds de commerce. AG: ¿Sabes todavía en cuál momento escribiste A Fidel Castro o te recuerdas de la fecha? MS: En 1976 o 1977, no recuerdo exactamente. En la prisión de La Cabaña. AG: En cuanto al poema A Fidel Castro, ¿cómo te relacionas a los epígrafes citados? Y las palabras de José Martí: “Nosotros somos espuela, látigo, realidad, vigía, consuelo”. ¿Son una alusión irónica al régimen cubano que se refiere muchas veces a esta cita para propagar la revolución? MS: No, no hay ironía en el exergo. Yo era muy loco y muy ingenuo en esa época. Creía realmente que la resistencia de una minoría -presos plantados, disidentes, exiliados- terminaría por concienciar a la mayoría de la población y desataría un proceso de cambios políticos. Ocurrió en Polonia y en la RDA, pero no en Cuba. Simplemente, me equivoqué de país y de época que no es poco. AG: ¿Qué relación tienes con la poesía comprometida del poeta español Gabriel Celaya, concretamente con el poema citado, La poesía es un arma cargada de futuro? MS: Celaya me gustaba mucho entonces. No he vuelto a leerlo desde esa época. Sospecho que ahora lo encontraría un poco simplista. Pero es culpa mía, no de Celaya. AG: Un detalle de la tercera/ cuarta éstrofa: Allí hablas de “los duros cromos / de la tarde que en sombra lentamente convierte / el perfil de los pinos.” ¿La palabra cromos se refiere a las rejas como sinónimo? ¿O está relacionado al “color” (del griego “chroma”)? MS: Son los contrastes del color. La luz del trópico es aplastante. En La Cabaña, desde algunas galeras se veían los fosos y, más allá, los árboles del recinto. Como una postal turística. Un detalle: podíamos oír los fusilamientos aunque no los veíamos. Ocurrían a unos metros de las ventanas que daban al foso, en el patio 1. AG: ¿Cuáles son los poetas cubanos con los que más te identificas? MS: Ninguno. Cuando era adolescente leí con fervor a todos los antologados, de Heredia y Martí a Baquero y Lezama. Pero no me decían gran cosa. Tenían talento y, algunos, oficio. Sin duda es una defi- Anhang A: Autoreninterviews 336 ciencia mía, no de los poetas cubanos. Quizá el que más me impresionó es un poeta casi desconocido: Miguel Ángel Loredo, cura franciscano y compañero de prisión, que en estos días se está muriendo en un hospital del noroeste de la Florida. Ha publicado poco -dos libros, creo- pero es deslumbrante. […] Mi formación poética es básicamente española: Góngora, San Juan de la Cruz, Calderón, Machado, los poetas del 27, los de la posguerra. Los poemarios de Pedro Salinas, Luis Cernuda y Vicente Aleixandre fueron lecturas importantes en mi adolescencia. AG: ¿Tienes un proyecto actual, es decir, publicarás un poemario o ensayos en breve? MS: Sigo escribiendo. Novelas, cuentos, ensayos. Publicar es otro cantar. Hay que dejar mucho material inédito para que los estudiosos del futuro puedan ganarse la vida. AG: ¿Cuánto tiempo y dónde exactamente estuviste en la cárcel? MS: Durante la primera condena, estuve en 11 cárceles, en algunas de ellas por poco tiempo. Del verano de 1968 a marzo de 1969 estuve casi todo el tiempo en Jaruco 2, un campamento que estaba al este de La Habana, en el batey del antiguo ingenio Averhoff junto al pueblo de Aguacate. Supongo que ese campo de trabajo forzado ya no existe. En marzo del 69 me fugué y pasé varios meses escondido en La Habana, tratando de huir de la isla. Me capturaron de nuevo en septiembre y me llevaron a La Cabaña donde estuve hasta principios del 70. Luego me pasearon [entre comillas] por varias cárceles hasta que a mediados de ese año 1970, me trasladaron a la cárcel de Santa Clara, Las Villas. Ahí permanecí varios meses desnudo por negarme a vestir el uniforme azul, historia que ya te conté. Luego me llevaron a los pabellones de castigo del campamento de Manacas donde estuve incomunicado en una celda tapiada durante varios meses, no recuerdo si fueron cuatro o cinco. De ahí me sacaron a finales de 1971 y me trasladaron al Castillo del Príncipe en La Habana donde conocí a Boitel y a Tony Cuesta y del Príncipe me llevaron a Guanajay donde cumplí la primera condena en 1972. En total, el presidio donde más tiempo pasé fue en Santa Clara/ Manacas, donde estuve, entre una y otra, año y medio. En Guanajay sólo estuve unos pocos meses. Te ahorro el cuento de las cárceles donde apenas me tuvieron unas pocas semanas. Esa técnica de los traslados frecuentes se usaba para evitar que los presos pudieran organizar actividades de estudio o asambleas políticas, y como método de castigo a los más rebeldes. Anhang A: Autoreninterviews 337 A.VI José Triana 2012 Paris, 17.04.2012 AG: Andrea Gremels JT: José Triana AG: Yo como lectora quiero expresar mi gusto de poder leer su poesía, porque la poesía me ayuda siempre en la vida. Se le hace la vida más fácil. Vi en su Poesía completa (en 2 tomos, 2011) que usted realmente ha escrito mucha poesía. Entonces, me gustaría saber si la poesía tiene un significado especial para usted. JT: Bueno, yo escribo poesía desde muy pequeño. Esto ha sido una pasión de todos los años, de todos los años iniciales de mi vida, es decir a partir de los diez o doce años empecé a escribir poesía. Se han roto muchos textos, se ha destruido mucho. Porque para mi, la poesía tiene una señal de vida. Pero no es señal de vida banal, sino es ir hacia lo más recóndito de la persona. Es decir que yo, durante toda mi vida, la única obsesión que he tenido es manifestar lo más profundo de mi ser, de lo que yo soy. O de lo que yo entreveo y me entrega la poesía. Hay allí una relación muy fuerte entre lo que uno escribe y lo que uno es. AG: Sí. Esta dimensión existencial, ¿no? Esta dimensión fundamental, yo la noté especialmente en estos momentos de incertidumbre que se transmite en sus poemas. Estos momentos de la duda: ¿Voy o no voy? ¿Estoy o no estoy? Éstas son preguntas que aparecen a menudo en sus poemas. JT: Sí, sí. Es muy frequente, la pregunta de quién soy, qué soy, por qué estoy aquí, hacia dónde voy. Son elementos fundamentales, algo ligado a mi vida […]. No sé si lo estoy repitiendo pero es un problema obsesivo en mi poesía, en lo que vivo. Es lo que podemos llamar la configuración del ser. AG: ¿Esto tiene que ver también con la configuración del ser a través de la palabra? JT: Exacto. Exacto. AG: Sí. En este sentido yo me di cuenta que el sueño también es importante. JT: Porque el sueño está ligado a la palabra. El sueño es= AG: =lo más profundo, ¿no? JT: Sí. Lo insondable. AG: Considera usted el sueño como una= JT: =fuente= AG: =fuente= Anhang A: Autorneinterviews 338 JT: =de creatividad. Muchas cosas que aparecen en mis poemas son cosas soñadas. Son cosas que aparecen en el sueño, que me lo han hablado en el sueño que me lo han puesto en el sueño. Por eso, yo digo que la poesía está en la forma más recóndita de nuestro ser. AG: Consideraría usted el sueño como una dimensión más real que la realidad? JT: Sí. Exactamente. Se ve que usted ha leído mi poesía. Muchas gracias. AG: Gracias a usted. Relacionado a lo soñado, frecuentemente aparece el espejo que tiene la dimensión de reconocerse a si mismo. JT: Exactamente. Uno sale del sueño y llega al espejo. Llega al espejo, va a través de uno y uno se lanza en el sueño. Hay una especie de juego permanente entre una cosa y otra, entre diferentes estar del ser. AG: Para Jorge Luis Borges el espejo tiene algo tremendo porque en él se multiplica el ser. JT: Pero yo lo miro más bien en lugar de sentir horror frente a eso, como una forma mágica de nuestro ser. Es decir, frecuentar el espejo, es frecuentarse uno a las partes las que están relacionadas entre el sueño y el espejo. Hay una cosa de insondable, de algo que uno quisiera manifestar, que uno quisiera prolongar. Por ejemplo hay imágenes. Yo no sé si usted recuerda la Dama de Shanghai. Al final de la Dama de Shanghai, Orson Wells crea unas imágenes maravillosas sobre su relación con Rita Hayworth. Entonces, están a través de un espejo, es un espejo que se va multiplicando, va dando las posibilidades tanto del ser de él como de ella. La ligazón que existe entre el espejo y el ser humano. AG: Entonces, para usted el espejo es realmente una posibilidad= JT: =una nueva posibilidad del ser. AG: Me gustó mucho [leer] su poema Vueltas al espejo (Triana Poesía II: 97). Esta imagen que uno está en frente del espejo y da vueltas, viéndose y no viéndose, haciendo este movimiento. Con la espalda al espejo uno no tiene la posibilidad de reconocerse en el espejo o de ver más lejos. JT: Es perfecto. La observación es muy bien. AG: Otra cosa con respecto al espejo: ¿Que dice en relación a lo fragmentado? ¿El espejo refleja un fragmento también? JT: Sí, naturalmente, porque dese cuenta que realmente lo que le ponía del imagen de Orson Wells para hacerse lo más gráfico. Porque se trata de la relación de él con ella que se multiplica, se diversifica. Pero el problema fundamental con uno es que uno vive frente a esa multiplicación permanente todos los días. Vive fragmentos de uno mismo y tiene que ver mucho también con los recuerdos, con el pasado, con el pasado inmediato, con el pasado del pasado del pasado, Anhang A: Autoreninterviews 339 es decir, las diferentes sucesiones del pasado. La juventud, la adolescencia, la niñez en un juego permanente, en una especie de balanceo. AG: ¿Diría usted que la memoria no es muy confiable? JT: ¡No es confiable! Es aterradora en cierto sentido porque te da imágenes, que algunas veces no son verdaderas de ti. Te da imágenes que tú te las inventas. Hay mucha invención con el espejo y con el sueño también. Uno vive permanentemente en ese desajuste de ser y de no ser, de estar y no estar. Al mismo tiempo, dando, siendo y fragmentándose y aniquilándose. Hay una parte de aniquilación que existe también dentro de este juego permanente. AG: Yo soy docente de la universidad de Fráncfort, trabajo como profesora. En el semestre pasado hice un seminario sobre la poesía cubana desde el siglo 19 hasta el siglo 21. Para ese curso, escogí su poema Soñé que aparece en la Antología de la poesía cubana del exilio (2011), editada por Odette Alonso. Hablamos sobre su poema en el seminario. Y ellos notaron que hay una conexión entre el tema de la memoria y de la existencia con el símbolo de la casa. Discutimos también sobre la angustia que transmite el poema. Hay una angustia fundamental que se expresa a través de las imágenes desgarradoras. JT: Sí, estoy de acuerdo. Yo veo que usted, más que ha venido a saber… Usted viene a confirmar lo que sabe. Usted sabe de que estoy hablando. Usted ha tocado estos misterios y quiere una confirmación. Yo le digo que sí, es cierto. Usted sabe. AG: Es muy interesante porque la casa puede figurar también como memoria, es el símbolo de la memoria. Los recuerdos habitan la casa. JT: Los secretos, lo que no se dice, lo que se va develar y no se devela, como una especie de barreras que van apareciendo cuando uno va a exponerse. Barreras que uno crea, barreras extrañas a uno mismo. AG: Por ejemplo en el poema Soñé, cuando se desvanece la casa, cuando se destruye la casa, eso habla simbólicamente sobre la aniquilación - la que usted también mencionó- de la memoria, de las cosas que se pierden. Saber quien soy= JT: =supone saber quien no soy= AG: =O supone que yo sé lo que viví. Porque mi historia construye mi ser. JT: Pero dese cuenta que hay una cosa muy interesante. Cuando uno vive, vive solamente una parte. La parte que uno vive lo que uno atrapa como memoria de uno, siempre es una parte engañosa porque detrás habían otras cosas. Por ejemplo: Yo puedo estar enamorado de una persona. Estar enamorado de esta persona y manifestárselo y ver la respuesta que tiene supone que tanto en ella como en mí, hay honduras inexplicables que no se demanifiestan y que están, que conservan y que posiblemente -si hay un acercamiento Anhang A: Autorneinterviews 340 profundo- se ligan los sueños de uno con los sueños de otro. Se hace una especie de imbricación profunda de posibilidades del ser. Y del ser algunas veces que es en sí mismo como un abismo para uno. Uno vive una vida abismática. AG: Siempre, ¿no? JT: Sí. AG: Diría usted que la palabra poética puede salvar a uno del abismo, salvarse a través de la creación poética? JT: Natural. Pero también esta misma palabra está tocando el abismo y se recupera allí. Tú las recuperas. Es muy incitante lo que me plantea. AG: Para usted, la poesía además es algo muy personal. Yo vi que la poesía completa contiene retratos de familia y de sus amigos. ¡Todos aparecen aquí en el segundo tomo! ((Se refiere a la antología Dorada fronda y feria de acrósticos de 2010 (Triana Poesía II: 243-341) que contiene unos 90 poemas, cada uno para un amigo de Triana)) ¿Puede decir algo al respecto? JT: Yo creo que tanto el retrato de familia como el libro último que publiqué, son las invenciones que yo me he hecho de mi familia y de mis amigos. En ellos he manifestado algunos secretos muy profundos de mí mismo que no sabía que estaban y que me desconciertan. AG: Esto es interesante. Entonces, es la dedicación al otro también una manifestación de= JT: =de uno. AG: Sería interesante saber algo sobre la relación entre lo imaginado y lo real. JT: ¿Realmente conocemos lo que es real? Allí está una pregunta que para mí es fundamental. Sabemos que estamos rodeados de objetos. [Apunta a una flor artificial en la sala] Esa flor nos puede llamar la atención en un determinado momento. Las flores secas de esas. Esas flores secas tienen una vida a ellas en sí misma. Lo que yo retomo de ella es quizás la forma, la arquitectura, lo externo. Pero yo no puedo conocer lo que hay detrás de esa flor. Esa flor al mismo tiempo está impregnada de mí. Me impregna y yo la impregno a ella. Siempre hay una especie de vaivén entre los objetos y lo que somos. Y somos múltiples como son múltiples los objetos que nos habitan aquí en este momento en la sala. Mire, allí todos los libros, también están los discos, los casetes. Todos son vidas de uno personales. […] AG: Usted es del Oriente [de Cuba], de Camagüey,¿no? JT: Nací en la provincia de Camagüey, en un pueblito muy pequeño que se llama Hatuey. De allí pasamos cuando yo tendría unos ocho años a la provincia de Oriente en la ciudad de Bayamo. Y allí de los ocho a los veinitrés años porque de allí me fui a Nueva York y de Anhang A: Autoreninterviews 341 Nueva York me fui a España. Me pasé hasta los veintiocho años cinco años en España y regresé a Cuba= AG: =relacionado al teatro, ¿no? JT: Allí fue donde estuve la experiencia teatral que me gustaba de siempre. Pero la familia no le interesaba, no quería que yo me metiera en el teatro. Consideraba que era algo de lo cual ellos no estaban de acuerdo, una actividad que les parecía inútil. Y yo demostré que era muy útil, ((sonríe)) que el teatro es útil y necesario, como la poesía. AG: Algo que a mí me hace muy curiosa: Estudiando la literatura cubana, la poesía cubana, se lee mucho sobre la época de los años cincuenta, sesenta en Cuba, Lezama Lima= JT: =Ese es el gran maestro= AG: =Sí, la revista Orígenes. Usted es un testigo de aquel tiempo. Usted fue regularmente invitado a la casa de Lezama. Conoció a Virgilio Piñera. JT: A todos. AG: ¿A Gastón Baquero también? JT: También. AG: Para uno es muy fascinante. Entonces, ¿me podría contar algunas anécdotas? JT: Mi relación con Virgilio se debe única y exclusivamente a que Virgilio fue a la provincia de Oriente, a Santiago de Cuba a dar unas charlas. Y él era amigo de un escritor que era amigo mío. Entonces, ese amigo me presentó a Virgilio Piñera. Y desde allí, se estableció una relación en el año 53, yo tenía 22 años. Me fui a España y mantuve siempre un vínculo con Virgilio. En España se montó una obra de Virgilio en la cual yo fui el promotor directo de lo que se montara y actué en la obra, haciendo un pequeño papel. Entonces regresé a Cuba. Yo había publicado ya en la revista Ciclón en el 54. Desde el año 59 hasta su muerte era muy amigo de él. Era un hombre muy extraño. AG: Existe una foto que adoro. Es un retrato de Virgilio Piñera con José Lezama Lima. Virgilio Piñera está así flaquito y Lezama Lima así grande. Se ve los dos mirando en la cámara. Me parece muy característica porque se decía de Virgilio Piñera que era muy venenoso. JT: Era una faceta de él que a él le gustaba cultivar. Pero en realidad era un hombre muy tierno, increíble ((pausa)). Bueno, te puedo decir: Con la muerte de Lezama para mí murió una parte de mi juventud. Con la muerte de Virgilio decidí salir de Cuba. En el 78. Yo dije: No, no me quedo ya. Eran dos gentes a las cuales yo estaba muy vinculado. Y que me parecía que para mí no tenía ningún otro atractivo ya. Anhang A: Autorneinterviews 342 AG. Los dos eran ya silenciados en esa época. JT: Sí, totalmente aplastados. AG. Para usted debe haber sido difícil. JT: Para mí, también. Yo fui aplastado también. AG: Es algo increíble. JT: Sí, por La Noche de los asesinos. Eso es una obra que no he debido haber escrito. Yo no he debido haber escrito las obras que yo escribí. En principio. Se recibió mal La Noche de los asesinos se recibió mal La muerte del Ñeque, se recibió mal el Mayor General hablara de teogonía. Las únicas personas que hicieron críticas positivas eran dos personas, Calvert Casey y el otro se llama Abelardo Estorino. Esas dos personas fueron fundamentales de mi vida porque ellos se ocuparon precisamente de las cosas que yo hacía. En el fondo combatía La Noche de los asesinos. Fue premio Casa de las Américas porque la gente quiso, los extranjeros quisieron la obra. Si no, sencillamente la obra no hubiera tenido ninguna repercusión. AG: ¿Qué fue lo que se pasó en los años 69, 70? JT: ¡Liquidación! Liquidación del pensamiento cubano, de la gente que pensaba algo. No creo que éramos grandes pensadores, nada sencillamente, éramos creadores, gente que les gustaba el país, gente que adoraba manifestar y exponer la vida cubana tal como la estábamos viviendo. No creo que estábamos nada excepcional. AG: Además, usted fue miembro de= JT: =Yo formé parte de la creación de la Unión de Escritores [y Artistas de Cuba, UNEAC]. Y fui miembro del jurado que le dio el premio a Antón Arrufat. AG: Y después no querían otorgarle el premio. JT: No, no. No es asunto de que ellos no otorgaron los premios. Atentaban contra la vida de uno personal. Era un atentado personal contra la vida. Gracias a Dios, el tiempo, dicen que va curando, va limando las asperezas. Hoy día, las cosas marchan diferente. Ahora ((pausa)). No estoy de acuerdo con un gobierno tiránico. Soy un hombre a que le gusta la democracia, que cree en la democracia= AG: =y la libertad= JT: =y la libertad. Con todas las posibles monstruosidades que algunas veces se hace con la libertad o se hace con la democracia […]. Pero las prefiero a los gobiernos tiránicos. AG: Volviendo a las tertulias en la casa de Lezama. JT: ¡Ah, no! Eso es una maravilla. Eran reuniones donde presidía la inteligencia. Allí, se pasaban revistas. Recuerdo las conversaciones sobre los novelistas […]. Aquello era divertido, se discutía, se hablaba, se comentaba, volvíamos otra vez a iniciar el diálogo que se había perdido porque habían otras anécdcotas que se mezclaban. Anhang A: Autoreninterviews 343 Habían cosas que no tenían ningún sentido pero que se mezclaban. Esas conversaciones que tenían cierto rigor y gracia. Lezama era un hombre muy gracioso y Virgilio Piñera fue un hombre de un gran sentido de humor. AG: Esto se ve realmente en su poesía también. JT: Tenía un gran sentido por lo sarcástico. Yo viví, te digo honestamente, momentos extraordinarios. El casa de Lezama era un templo. AG: Esto es un buen momento para hablar sobre su poema que escribió en el año de la muerte de Lezama. ¿Cuando escribió exactamente Coloquio de sombras (Triana Poesía II: 19-24)? JT: Exactamente el mismo día de su muerte. Él estaba de cuerpo presente y yo estaba escribiendo el poema. Porque si no lo hubiera hecho, me hubiera suicidado. Si el poema tiene valor es por eso. No hay nada más. AG: La estructura tiene un efecto muy fuerte por las repeticiones. Algunas estrofas comienzan con “Cuando un poeta abandona su cuerpo”. Después es “Uno quisiera ser”, lo que da una visión a lo que fue y al futuro, y se refiere a este “templo”, esta figura proa que era Lezama Lima. Y la última estrofa dice que “no estamos solos”. ((Silencio)) Perdone que estoy tocando este tema que debe ser difícil. JT: Para mí lo es. Porque son gente que uno ha querido enteramente, que forman parte de nuestra existencia, que eran llamadas telefónicas diarias, que eran al mismo tiempo ir a comer en algún restaurante juntos o ir a comer en mi casa o en la casa de ellos. Virgilio no, porque vivía sólo. Era un hombre solitario. Pero venía mucho a mi casa y iba mucho a la casa de Antón Arrufat y se establecía una especie de verdadero vínculo vital, de cosas esenciales. Yo me emociono porque en realidad es algo que me pertenece. AG: En Coloquio de Sombras aparece como espacio la casa, otra vez como símbolo fundamental. El poeta abandona no solamente su cuerpo pero su casa también. Aquí estamos de nuevo con el tema de la memoria. Una parte de la memoria cubana se muere con la muerte de Lezama Lima. JT: Ésto es. Y Virgilio que también era un creador extraordinario. Era un hombre que adoraba rivalizar con los jóvenes. Eso le encanta. Yo escribí La Noche de los asesinos y más adelante él lo cogió y hacía una obra con dos personajes. Yo lo hice con tres y él lo hice con dos. Era una verdadera compañía. No tengo palabras con que describirla. Tanto Lezama como Virgilio. Son dos personas que estaban integrados profundamente a mi vida. AG: ¿Me puede decir algo más sobre Coloquio de sombras? JT: ((Lee la primera estrofa del poema)). Estábamos en el velorio de Lezama y yo estaba construyendo el poema y entonces me venían Anhang A: Autorneinterviews 344 recuerdos, me venían asociaciones que hacía con lo que estaba viviendo y salen en la escritura. ((Lee la última estrofa)). AG: ¿La poesía de Lezama y su teoría acerca de la imagen, influenció su propia escritura? JT: Yo no sé. Porque yo miro la poesía de Lezama aparte de la mía. AG: Pero en este poema= JT: =en este poema, sí. Con este poema estaba haciendo una especie de reelaboración de su poesía para crearle un poema. Allí, sí. AG: Se nota en las imágenes. JT: Es reelaborando la poesía de él para transmitirle una imagen y darle una imagen, regalarle una imagen a Lezama. Hay cosas que están muy cercas por ejemplo cuando se habla de “las finas porcelanas japonesas”, del “guerrero jacundo y el dragón”. Esta poesía está impregnada del perfume nostálgico. AG: En el sentido gastronómico, siempre había una riqueza en la casa de Lezama. JT: ¡Ah, sí! Y allí hay partes de nuestras conversaciones. “Ahora nos queda sólo su nostalgia / de viajes coloquiales por Florencia.” El hablaba de Florencia como si fuera su casa, el color de las calles, el color de las paredes. Por eso pongo: “bajo el sol terracota y exultante, / y adivina la lírica presencia / del David que se mueve, o del divino / frailuco los angelotes con alas […]”. Estos son conversaciones, son recreaciones de la vida nuestra. AG: Me quedan dos preguntas. Una con respecto a su poesía más reciente y otra con respecto a un poema muy temprano del primer tomo. La primera: en cuanto a su vida en París: ¿El hecho de vivir en París ha influenciado su poesía o ha cambiado lago en su escritura poética? JT: Si usted ve: esto es una sala cubana. No es una sala francesa. AG: Sí. Es una isla cubana. JT: Entonces, estar en París puede ser que se haya transformado algo pero yo sigo alimentando la isla dentro de mí y de lo que a mí me rodea. Yo no sé en que parte puede haberme transformado. Posiblemente, los cambios de lugares hagan una transformación de uno, ¿no? AG: Por ejemplo, hay poemas cuyos títulos indican algo: Faubourg Saint Denis. JT: Ése es el primer lugar donde fui a vivir. […] AG: En cuanto a la lengua: Hay una antología que parece ser traducida al español ((Se refiere a la antología Poemas de la niña buena (2006). En la tapa dice “Traducción de Alexandra Carrasco” (Triana Poesía II: 215))). JT: Olvidé de borrar eso. Está traducido al francés. Anhang A: Autoreninterviews 345 AG: Entonces, ¿sigue escribiendo en español? JT: Éste es el original. Se hizo una traducción al francés. Sigo siempre con el español. Yo no me puedo atrever de escribir en otra lengua. El español es la lengua que me acunó, la lengua de mi madre. Es una forma espiritual. AG: Cambiar la lengua, especialmente en la poesía, es un desafío. JT: No, no, no, nunca me atrevería. AG: Casi llegamos al fin. La última pregunta: ¿Por qué escogió París para vivir? JT: Porque mi esposa pasó trece años en Cuba y me pareció que si saliéremos de Cuba, yo no me iba a vivir en los Estados Unidos, donde está mi familia, sino que vendríamos a Francia porque para ella sería una manifestación de mi= ((Exclama su esposa Chantal Triana desde otra sala)): =¡Mentira! JT: ¿Tú dices que es mentira, Chantal? ((Risas)) AG: Muchísimas gracias por la entrevista. Auf der Weltkarte verstreut formiert sich die kubanische Literatur heute jenseits von territorial fest umrissenen Grenzen in unterschiedlichsten Situationen des Kulturkontakts. Dieser Entgrenzung muss jedoch entgegengehalten werden, dass Kuba bis ins 21. Jahrhundert eine Bastion bleibt, die Schriftsteller ausgrenzt und nach wie vor in ein politisch motiviertes Exil zwingt. Im Spannungsfeld zwischen Exil und Transkulturalität nimmt Andrea Gremels die kubanische Gegenwartsliteratur in Paris in den Blick und untersucht deren kulturelles Selbstverständnis zwischen Grenzziehungs- und Entgrenzungsprozessen. Frankfurter Studien zur Iberoromania und Frankophonie