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Platons Hippias Minor

2014
978-3-8233-7849-5
Gunter Narr Verlag 
Jan-Markus Pinjuh

Der Hippias Minor, der hier neu übersetzt und umfassend kommentiert vorliegt, gehört zu den weniger bekannten Dialogen Platons. In der Forschung wurden vielfach die Authentizität und die Qualität dieses Dialoges in Frage gestellt. Sokrates tritt hier scheinbar als Sophist auf und vertritt die Thesen, dass der Lügner und der Wahrhaftige identisch und der freiwillige Übeltäter besser sei als der unfreiwillige. Das war der Grund dafür, dass entweder die Autorschaft Platons in Abrede gestellt oder der Dialog als "Kinderspiel" ohne tiefere Bedeutung abgetan wurde. Dass aber der Hippias Minor Platon zuzuschreiben ist und sich mit philosophischen Fragen beschäftigt, die für das Verständnis des frühplatonischen Denkens von großer Wichtigkeit sind, soll hier gezeigt werden. Der Kommentar besteht aus zwei großen Teilen, der Einleitung und dem eigentlichen Kommentarteil. Die Einleitung hat zum einen die Aufgabe, typisch philologische Fragen zur Überlieferungslage, Authentizität und zur Datierung vorab zu klären, und zum anderen die Funktion, die platonischen Paradoxa synchron in die philosophische Diskussion der Zeit und diachron innerhalb von Platons Werk zu situieren. Diese philosophiegeschichtliche Einordnung soll die Interpretation im Kommentarteil entlasten und ihr erlauben, sich auf die systematische Durchdringung des Gedankenganges zu konzentrieren.

CLASSICA MONACENSIA Platons Hippias Minor Übersetzung und Kommentar von Jan-Markus Pinjuh Platons Hippias Minor CLASSICA MONACENSIA Münchener Studien zur Klassischen Philologie Herausgegeben von Martin Hose und Claudia Wiener Band 48 · 2014 Platons Hippias Minor Übersetzung und Kommentar von Jan-Markus Pinjuh Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Die vorliegende Arbeit wurde 2011 von der Hochschule für Philosophie München, Philosophische Fakultät S.J., als Dissertation angenommen. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0941-4274 ISBN 978-3-8233-6849-6 5 Vorwort Der Hippias Minor gehört zu den weniger bekannten Dialogen Platons. In der Forschung wurden vielfach die Authentizität und die Qualität dieses Dialoges negiert. Ein scheinbar als Sophist auftretender Sokrates, der die Thesen vertritt, dass der Lügner und der Wahrhaftige identisch und der freiwillige Übeltäter besser sei als der unfreiwillige, war der Grund entweder die Autorschaft Platons in Abrede zu stellen oder den Dialog als „Kinderspiel“ ohne tiefere Bedeutung abzutun. Dass der Hippias Minor zu Recht Platon zuzuschreiben ist und sich mit philosophischen Fragen beschäftigt, die für das Verständnis des frühplatonischen Denkens von großer Wichtigkeit sind, möchten dieser Kommentar und die in ihm vertretene Interpretation zeigen. Der Kommentar besteht aus zwei großen Teilen, der Einleitung und dem eigentlichen Kommentarteil. Die Einleitung hat zum einen die Aufgabe, typisch philologische Fragen zur Überlieferungslage, Authentizität und zur Datierung vorab zu klären, und zum anderen die Funktion, die platonischen Paradoxa synchron in die philosophische Diskussion der Zeit und diachron innerhalb von Platons Werk zu situieren. Diese philosophiegeschichtliche Einordnung soll die Interpretation im Kommentarteil entlasten und ihr erlauben, sich auf die systematische Durchdringung des Gedankenganges zu konzentrieren. Der Kommentarteil gliedert sich für jeden Textabschnitt in drei Teile. Der Teil A dient der Inhaltszusammenfassung, im Teil B erfolgt die Interpretation des Textabschnittes und im Teil C finden sich Anmerkungen zu bestimmten Textstellen, in denen textkritische Probleme, Übersetzungsfragen erläutert und Erklärungen zum historischen oder kulturellen Kontext des Hippias Minor gegeben werden. Ein Kommentar hat die Aufgabe, eine eigenständige Interpretation vorzulegen, und beschränkt sich nicht wie ein Forschungsbericht darauf, verschiedene Positionen darzustellen und zu beurteilen. Dennoch kann auch ein Kommentar nicht umhin, in die kritische Diskussion mit der bisherigen Forschung einzutreten. Ich begebe mich daher bewusst stellenweise in die Nähe eines Forschungsberichts, wenn ich bisweilen ausführlich die Positionen der Sekundärliteratur referiere und diskutiere. Dabei ist es mein Anliegen, durch Systematisierung meiner Vorgänger nicht nur Forschungsgeschichte zu betreiben, sondern Argumente zu analysieren, mit denen man sich auseinandersetzen muss, will man den Gedankengang dieses Dialoges verstehen. Mein Hauptanliegen ist es immer, Platon so stark wie möglich zu machen und - ausgehend von der forensischen Unschuldsvermutung - die vorgebrachte Kritik kritisch beleuchten. 6 Die Übersetzungen sind, soweit nicht anders angemerkt, meine eigenen. Übersetzungen stehen immer im Spagat, ausgangssprachlich so genau wie möglich und zielsprachlich so frei wie nötig zu sein. Ich habe bei diesem Spagat mehr ausgangssprachenorientiert übersetzt und bin dabei nahe am griechischen Originaltext geblieben, um dem weniger gräzistisch versierten Leser zu ermöglichen, die Übersetzung gut nachzuvollziehen. Dabei habe ich in Kauf genommen, auf den eleganteren Ausdruck im Deutschen zu verzichten, wenn dieser nur zum Preis einer Paraphrase möglich wäre. Die Übersetzung basiert auf der kritischen Textausgabe von Bruno Vancamp, die die zur Zeit neueste Edition des Dialoges bietet (Oxford hüllt sich in Schweigen und nicht einmal Vancamp konnte eruieren, wann und von wem mit einer Revision der Burnet-Ausgabe für den Hippias Minor zu rechnen ist). Bruno Vancamp verdanke ich nicht nur aus seinem wertvollen Aufsatz, sondern auch aus persönlicher Korrespondenz wichtige Hinweise zu textkritischen Problemen. Ihm sei ferner auch für die Druckgenehmigung des seiner Hippias-Ausgabe entnommenen Handschriften-Stemmas gedankt. Bei den Abbreviationen klassischer Autoren und ihrer Werke folge ich dem Greek-English Lexicon von Liddel-Scott-Jones. Die Stellenangaben beziehen sich, wenn kein anderer Dialog angegeben ist, stets auf den Hippias Minor. Ebenso ist, wenn vom Hippias (hier ist das kursive Druckbild zu beachten; im Unterschied zum Dialog steht der Name des Sophisten immer nicht kursiv) die Rede ist, immer der Hippias Minor gemeint. Wenn kein anderer Autor vor einer Werkangabe steht, handelt es sich immer um ein Werk Platons. Der vorliegende Kommentar wurde 2011 von der Hochschule für Philosophie München, Philosophische Fakultät S.J., als Dissertation angenommen. Michael Bordt hat diese Arbeit mit kritischen Diskussionen hilfreich begleitet. An dieser Stelle sei auch der Hanns-Seidel-Stiftung für die ideelle und finanzielle Unterstützung Dank gesagt. Mein Dank gilt ferner Herrn Peter Isépy und Herrn Benedikt Aigner für die Durchsicht meiner Übersetzung, Herrn Johannes Grössl für die Unterstützung bei logischen Fragen, Herrn Jan Philipp Gerhartz für die Korrektur des gesamten Manuskriptes sowie Frau Karima Hakkar für stilistische Ratschläge. München, im Juni 2013 Jan-Markus Pinjuh 7 Inhaltsübersicht I - Übersetzung ..........................................................................9 II - Einleitung ...........................................................................25 1. Die Überlieferungslage .............................................................................29 2. Die Authentizitätsfrage ............................................................................36 3 Die Datierungsfrage ...................................................................................41 4. Das Lügner-Paradoxon.............................................................................51 5. Das Übeltäter-Paradoxon .........................................................................60 6. Die Unfreiwilligkeit des Fehlens .............................................................68 7. Prologomena zu einer Interpretation des Hippias Minor .....................79 III - Kommentar.......................................................................81 1. Die Ausgangsfrage (363a1-365c8) ...........................................................87 2. Das Lügner-Paradoxon (365c9-368a11) ................................................124 3. Anwendung auf die Ausgangsfrage (368a12-370e4)..........................166 4. Das Übeltäterparadoxon und die Schlussaporie (370e5-373c5) ........179 5. Die induktive Argumentation (373c6-375d6) ......................................201 6. Die deduktive Argumentation (375d7-376c6) .....................................213 7. Epilog: Schlussinterpretation.................................................................231 Bibliographie .........................................................................247 1. Primärliteratur .........................................................................................247 2. Sekundärliteratur ....................................................................................248 3. Hilfsmittel.................................................................................................253 Register ...................................................................................255 1. Stellenverzeichnis....................................................................................255 2. Personenverzeichnis ...............................................................................261 3. Sachverzeichnis .......................................................................................262 Die Feingliederungen der Einleitung und des Kommentars finden sich jeweils zu Beginn der einzelnen Teile. I - Übersetzung 10 Eudikos: Was aber schweigst du denn, Sokrates, nach dem langen Vortrag von Hippias, und beteiligst dich gar nicht am Lob der Rede oder widerlegst auch nicht, wenn etwas dir nicht schön gesagt worden zu sein scheint? Zumal auch wir allein zurückgelassen worden sind, die wir doch größtes Interesse haben dürften, an einer philosophischen Erörterung teilzunehmen. Sokrates: In der Tat, Eudikos, gibt es wirklich Einiges, was ich wohl ganz gern von Hippias erfahren möchte, in Bezug auf das, was er jetzt eben über Homer sprach. Denn ich hörte auch von deinem Vater Apemantos, dass die Ilias ein schöneres Gedicht von Homer sei als die Odyssee, und zwar um soviel aber schöner, um wie viel Achilles besser als Odysseus sei. Auf jeden der beiden aber sei - wie er sagte - eines der Epen gedichtet worden, und zwar eines auf Odysseus und eines auf Achilles. Darüber also möchte ich gern, wenn Hippias bereit ist, mehr erfahren, wen er seiner Meinung nach von den beiden Männern für den besseren hält, da er uns allerlei sowohl über die anderen Dichter als auch über Homer dargelegt hat. Eudikos: Aber sicherlich wird Hippias nicht die Antwort versagen, wenn du ihn etwas fragst. Nicht wahr, Hippias, wenn Sokrates dich etwas fragt, wirst du doch antworten? Oder wie wirst du handeln? Hippias: Dann dürfte ich doch wohl sonderbar handeln, mein lieber Eudikos, wenn ich jetzt der Frage von Sokrates auswiche, während ich sonst immer nach Olympia zur Festversammlung der Griechen anlässlich der Olympischen Spiele von meiner Heimatstadt Elis zum Heiligtum hinaufgehe und mich bereit erkläre, sowohl jedem nach Wunsch eine von mir vorbereitete Prunkrede zu halten als auch jedem Beliebigen jede Frage zu beantworten. Sokrates: Du befindest dich in einer wirklich glücklichen Lage, Hippias, wenn du bei jeder Festfeier in Olympia so voll Zuversicht auf die Weisheit deiner Seele zum Heiligtum kommst. Ich würde mich wundern, wenn einer der Körperathleten so furchtlos und voll Vertrauen in seinen Körper dorthin geht zum Wettkampf, wie du deiner Aussage nach auf deinen Verstand vertraust. Hippias: Aus gutem Grund befinde ich mich in dieser Lage, Sokrates. Denn seitdem ich begonnen habe, in Olympia zu kämpfen, bin ich niemals auf jemanden gestoßen, der mir in etwas überlegen gewesen wäre. Sokrates: Schön gesagt, Hippias, und zugleich Ausdruck dafür, dass dein Ruhm sowohl ein Denkmal der Weisheit für deine Heimatstadt Elis als auch deine Eltern ist. Aber was sagst du uns über Achilles und Odysseus? Ist deiner Meinung nach einer der Bessere und inwiefern? Denn zu der Zeit, da wir im Haus zahlreich versammelt waren und du deine Prunkrede hieltest, bin ich bei dem von dir Gesagten nicht mitgekom- 363a c b d 364a b 11 men und ich hatte Bedenken nachzufragen, da viele Leute da waren und ich dich nicht belästigen wollte mit einer Frage zu deiner Prunkrede. Nun aber, da wir weniger sind und Eudikos hier mich antreibt, dich zu fragen, sage und lege uns deutlich dar, was du über die beiden Männer meinst. Welchen Unterschied pflegtest du zwischen ihnen zu machen? Hippias: Ich will dir auch, Sokrates, klarer als eben darstellen, was ich über diese und andere meine. Ich behaupte, Homer habe Achilles als den besten Mann unter denen, die nach Troja gekommen waren, dargestellt, Nestor aber als den weisesten Nestor und Odysseus als den vielgewandtesten. Sokrates: Oje, Hippias! Könntest du mir dahingehend den Gefallen tun, mich nicht auszulachen, wenn ich kaum das Gesagte verstehe und häufig nachfrage? Versuche doch, mir willig und gern zu antworten. Hippias: Das wäre wohl eine Schande, Sokrates, wenn ich eben andere darin unterwiese und es dabei für angemessen hielte, Geld dafür zu verlangen, aber selbst auf deine Nachfrage keine Nachsicht haben und nicht gern antworten sollte. Sokrates: Das sagst du sehr schön. Als du behauptet hast, dass Achilles als der Beste dargestellt worden sei, glaubte ich nämlich zu verstehen, was du sagtest, auch in Bezug auf Nestor, dass er der Weiseste sei. Dann aber sagtest du von Odysseus, dass der Dichter ihn am vielgewandtesten dargestellt habe, - dies, um dir die Wahrheit zu sagen, verstehe ich überhaupt nicht, was du damit meinst. Und sage mir, ob ich vielleicht mehr verstehe: Ist Achilles bei Homer nicht als vielgewandt dargestellt? Hippias: Keineswegs, Sokrates, sondern als sehr aufrichtig und wahrhaftig, denn im neunten Buch der Ilias, den „Bitten“, in dem er sie im Gespräch auf einander treffen lässt, sagt Achilles bei ihm zu Odysseus: Zeusentsprossener Laertessohn, listenreicher Odysseus, es ziemt sich also, die Rede gerad herauszusagen, wie ich es denke und wie ich glaube, dass es vollendet wird, denn verhasst ist mir jener wie die Tore des Hades, der anderes birgt im Sinn und anderes spricht. Aber ich will sagen, wie es tatsächlich geschehen wird. In diesen Versen zeigt er den Charakter von jedem der beiden Männer deutlich, und zwar dass Achilles wahrhaftig und aufrichtig, Odysseus aber vielgewandt und lügnerisch ist. Deshalb lässt er Achilles zu Odysseus diese Verse sagen. Sokrates: Nun glaube ich, Hippias, zu verstehen, was du meinst: Du nennst, wie es zumindest scheint, den Vielgewandten lügnerisch. 364c d e 365a b 12 Hippias: Allerdings, Sokrates. Denn als solchen hat Homer Odysseus an vielen Stellen sowohl in der Ilias als auch in der Odyssee dargestellt. Sokrates: Allem Anschein nach war für Homer der eine Mann wahrhaftig, der andere lügnerisch, nicht aber ein und dieselbe Person. Hippias: Wie sollte es denn nicht so sein, Sokrates. Sokrates: So bist du selbst auch dieser Meinung, Hippias? Hippias: Ganz und gar. Es dürfte wohl schlimm sein, wenn dem nicht so wäre. Sokrates: Homer wollen wir nun allerdings beiseite lassen, da es auch unmöglich ist, ihn zu befragen, was er sich einst beim Dichten dieser Verse dachte. Da du dich offenbar der Sache annimmst und überzeugt bist, mit dem, was du sagst, Homers Meinung wiederzugeben, antworte gemeinsam für Homer und dich selbst. Hippias: Einverstanden. Frage also kurzum, was du willst. Sokrates: Meinst du, dass die Lügner unfähig sind etwas zu tun, wie die Kranken, oder fähig sind, etwas zu tun. Hippias: Durch und durch fähig, sowohl zu sehr vielem anderen als auch die Leute zu täuschen. Sokrates: Die Fähigen sind also, wie es scheint, nach deiner Antwort auch die Verschlagenen. Oder nicht? Hippias: Ja. Sokrates: Sind sie vielgewandt und betrügerisch aus Dummheit und Unklugheit oder aus List und einer gewissen Klugheit? Hippias: Im höchsten Maß aus List und Klugheit. Sokrates: Sie sind allem Anschein nach folglich klug. Hippias: Ja, beim Zeus, ganz und gar. Sokrates: Wissen sie als Kluge nicht, was sie tun, oder wissen sie es? Hippias: Sie wissen es ganz genau, deswegen handeln sie auch schlecht. Sokrates: Sind sie, da sie wissen, was sie wissen, unverständig oder weise? Hippias: Weise also, eben im Betrügen. Sokrates: Halt einmal! Wir wollen uns erinnern, was du eigentlich sagen willst. Du behauptest, dass die Lügner fähig, klug, verständig und weise sind, worin sie gerade lügen. Hippias: Genau das meine ich. Sokrates: Die Wahrhaftigen und Lügner sind verschieden und ganz gegensätzlich? Hippias: Das sage ich. Sokrates: Also gut. Einige von den Fähigen und Weisen sind, wie es scheint, nach deiner Aussage Lügner. Hippias: So ist es. Sokrates: Wenn du sagst, dass die Lügner eben darin fähig und weise sind, meinst du dann, dass sie fähig sind zu lügen, wenn sie wollen, oder dass sie unfähig in demjenigen sind, worin sie lügen? c 365d e 366a b 13 Hippias: Natürlich sind sie fähig. Sokrates: Damit es also auf den Punkt gebracht ist: Die Lügner sind weise und fähig zu lügen. Hippias: Ja. Sokrates: Ein Mensch also, der unfähig zu lügen und unverständig ist, dürfte kein Lügner sein. Hippias: So ist es. Sokrates: Fähig nun ist also jener, der dann tut, was er will, wann er es will. Ich meine damit nicht einen, der durch Krankheit oder dergleichen beeinträchtigt ist, sondern so wie du fähig bist, meinen Namen zu schreiben, wann du willst, meine ich es. Oder nennst du nicht den, bei dem es sich so verhält, fähig? Hippias: Doch. Sokrates: Sage mir also, mein lieber Hippias, du bist doch erfahren im Rechnen und in der Rechenkunst? Hippias: Sehr sogar, Sokrates. Sokrates: Wenn dich also jemand fragen sollte, wie viel drei mal sieben hundert ist, so düftest du, wenn du wolltest, am schnellsten und besten von allen die Wahrheit darüber sagen? Hippias: Allerdings. Sokrates: Etwa weil du hierin am fähigsten und am weisesten bist? Hippias: Ja. Sokrates: Bist du also nur am weisesten und am fähigsten, oder auch am besten auf dem Gebiet, auf dem du eben am fähigsten und am weisesten bist, nämlich der Rechenkunst? Hippias: Auch der Beste offenbar, Sokrates. Sokrates: Du dürftest demnach am fähigsten darin sein, die Wahrheit zu sagen, nicht wahr? Hippias: Das denke ich doch schon. Sokrates: Was ist aber mit den Lügnern auf demselben Gebiet? Und antworte mir offen und frei wie vorher, Hippias: Wenn dich jemand fragte, wie viel drei mal siebenhundert ist, dürftest du nicht wohl am sichersten lügen und immer darüber das Falsche sagen, sofern du nur lügen und niemals die Wahrheit antworten willst? Oder dürfte der im Rechnen Ungelehrte fähiger als du sein - auch wenn du willst - zu lügen? Oder könnte nicht der Ungelehrte oft zufällig, obwohl er lügen will, unfreiwillig die Wahrheit sagen, wegen seines Unwissens, während du als der Weise, wenn du wirklich lügen wolltest, immer gleich gut lügen würdest? Hippias: Ja, es verhält sich so, wie du sagst. Sokrates: Ist der Lügner also nur ein Lügner auf anderen Gebieten, nicht aber bei den Zahlen oder dürfte er nicht beim Zählen lügen? Hippias: Ja, beim Zeus, auch bei den Zahlen. 366c d 367a e 14 Sokrates: Wollen wir also behaupten, lieber Hippias, dass es auch beim Rechnen und Zählen einen lügnerischen Menschen gibt? Hippias: Ja. Sokrates: Wer also dürfte dieser sein? Muss er nicht, wie du eben zugabst, wenn er wirklich ein Lügner sein soll, zu lügen fähig sein? Denn wer unfähig ist zu lügen, wenn du dich erinnerst, könnte deiner Behauptung nach niemals ein Lügner sein. Hippias: Ich erinnere mich und so wurde es dargelegt. Sokrates: Offenbar warst du also eben am fähigsten beim Rechnen zu lügen? Hippias: Ja, es wurde allerdings auch dies gesagt. Sokrates: Du bist also auch am fähigsten beim Rechnen die Wahrheit zu sagen? Hippias: In der Tat. Sokrates: Also ist derselbe am fähigsten beim Rechnen zu lügen oder die Wahrheit zu sagen. Dieser aber ist auf dem Gebiet der „Gute“, der Rechner. Hippias: Ja. Sokrates: Wer also anders als der Gute, mein lieber Hippias, wird im Rechnen der Lügner sein? Denn derselbe ist auch der Fähige. Dieser aber ist auch der Wahrhaftige. Hippias: So scheint es. Sokrates: Du siehst also, dass der Lügner und der Wahrhaftige in diesen Dingen identisch sind, und der Wahrhaftige um nichts besser ist als der Lügner? Denn es ist doch wohl derselbe und sie stehen nicht im scharfen Gegensatz, wie du vorhin meintest. Hippias: Es scheint auf diesem Gebiet jedenfalls nicht. Sokrates: Willst du, dass wir es auch anderweitig prüfen? Hippias: Wenn du willst. Sokrates: Bist du nicht auch in der Geometrie erfahren? Hippias: Das bin ich. Sokrates: Wie nun? Verhält es sich nicht auch in der Geometrie so? Derselbe ist doch am fähigsten zu lügen und die Wahrheit zu sagen über geometrische Figuren, nämlich der Geometer? Hippias: Ja. Sokrates: Ist also auf diesem Gebiet ein anderer gut als dieser? Hippias: Kein anderer. Sokrates: Also ist doch der gute und weise Geometer zu beidem am fähigsten? Und wenn irgendein anderer über geometrische Figuren lügen würde, dann ist dies doch wohl der Gute? Denn dieser wäre fähig, der Schlechte aber ist unfähig zu lügen. Deshalb dürfte er auch nicht ein 367b c d e 15 Lügner werden, weil er nach unserer Übereinkunft nicht fähig ist zu lügen. Hippias: So ist es. Sokrates: Nun wollen wir auch noch den dritten, den Astronomen überprüfen von dessen Kunst du aber noch mehr zu verstehen glaubst als von den vorherigen. Oder nicht, lieber Hippias? Hippias: Ja. Sokrates: Verhält es sich nicht auch in der Astronomie genauso? Hippias: Wahrscheinlich schon, Sokrates. Sokrates: Also wird auch in der Astronomie, wenn jemand lügt, der gute Astronom der Lügner sein, der fähig ist zu lügen. Aber nicht der Unfähige allerdings, denn der ist ja unwissend. Hippias: So scheint es. Sokrates: Also wird auch in der Astronomie derselbe der Wahrhaftige und der Lügner sein. Hippias: Allem Anschein nach. Sokrates: Komm also, lieber Hippias, überprüfe auf diese Weise nun alle anderen Wissensgebiete, ob es sich irgendwo anders verhält oder so. Du bist gewiss in den meisten Künsten der Weiseste unter den Menschen, wie ich dich selbst einmal rühmen hörte, als du deine umfangreiche und bewundernswerte Weisheit auf der Agora bei den Wechslertischen darlegtest. Du sagtest, du wärst einmal nach Olympia gekommen und alles, was du am Leib hattest, sei dein Werk gewesen. Zuerst der Ring, den du anhattest, - damit machtest du den Anfang - wäre dein Werk gewesen, dass du weißt, Steine zu schneiden, und ein anderer Siegelring wäre dein Werk, und sowohl Badekratzer als auch Ölflasche habest du selbst hergestellt. Dann sagtest du, die Schuhe, die du anhättest, hättest du selbst geschustert, und sowohl Mantel als auch Untergewand hättest du gewoben. Und am ungewöhnlichsten erschien allen und als Beispiel größter Weisheit, als du sagtest, dass der Gürtel des Untergewandes, den du anhattest, aussehe wie die persischen der Vornehmen, deiner aber selbst geflochten sei. Außerdem sollst du auch Gedichte mitgebracht, Epen, Tragödien, Dithyramben und viele in Prosa abgefasste Vorträge zu vielfältigen Themen mitgebracht haben. Und eben als ein Fachmann in diesen Künsten seiest du - die ich eben erwähnte - aufgetreten, der sich von den anderen abhebt, und zwar in Rhythmus, Harmonie und Sprachrichtigkeit und zudem noch in ganz vielen anderen Gebieten, wie ich mich zu erinnern glaube. Dabei habe ich deine Gedächtniskunst ganz vergessen, wie es scheint, eine Kunst, in der du am meisten zu glänzen meinst. Doch ich denke noch ganz viel anderes vergessen zu haben. Aber wie gesagt im Hinblick auf deine eigenen Künste - und die sind schon hinreichend genug - und auf die der anderen sage mir doch, ob du ausgehend von dem, worüber wir über- 368a e c d b 16 eingekommen sind, irgendetwas findest, wo der Wahrhaftige und der Lügner verschieden und nicht identisch sind? Prüfe dies nun mit jeder Art von Weisheit oder Schlauheit, oder wie du es zu nennen beliebst. Aber du wirst es nicht finden, mein Freund, denn das gibt es nicht - sonst sage es mir! Hippias: Das kann ich freilich im Moment so nicht, Sokrates. Sokrates: Das wirst du aber auch nicht können, wie ich meine. Wenn ich Recht habe, erinnere dich, was sich aus unserer Rede ergibt, Hippias. Hippias: Ich entsinne mich nicht ganz, was du meinst, Sokrates. Sokrates: Nun wendest du vielleicht jetzt deine Gedächtniskunst nicht an, denn es ist klar, dass du sie nicht nötig zu haben meinst - aber ich werde deinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge helfen. Du weißt, dass du Achilles als wahrhaftig, Odysseus als lügnerisch und verschlagen bezeichnet hast? Hippias: Ja. Sokrates: Nun hast du doch bemerkt, dass offensichtlich der Wahrhaftige und der Falsche identisch sind, so dass wenn Odysseus lügnerisch war, er ein Wahrhaftiger wird, und wenn auch Achilles wahrhaftig war, er lügnerisch sein wird, und die beiden Männer nicht unterschiedlich und auch nicht gegensätzlich sind, sondern gleich? Hippias: Mein lieber Sokrates, immer strickst du dir bestimmte Argumente zusammen und nimmst auf, was von der Rede am unstimmigsten ist, hältst dich daran fest, wobei du Kleinigkeiten angreifst, und streitest nicht gegen die ganze Sache, um die es in der Rede geht. Denn auch jetzt, wenn du willst, kann ich dir in einer stimmigen Rede mit vielen Beweisen darlegen, dass Homer Achilles besser als Odysseus dichterisch dargestellt habe und nicht als Lügner, Odysseus aber als arglistig und in vielen Dingen lügnerisch und schlechter als Achilles. Wenn du willst, antworte dann mit einer Gegenrede, dass der andere besser ist. So werden auch die Anwesenden erkennen, wer von beiden besser spricht. Sokrates: Mein lieber Hippias, ich widerspreche dir auch nicht, dass du nicht weiser wärest als ich. Doch ich bin gewohnt, immer wenn jemand etwas sagt, aufzupassen, besonders dann, wenn mir der Sprecher weise zu sein scheint. Und da ich verstehen will, was er sagt, frage ich nach und untersuche genau und vergleiche das Gesagte, damit ich es verstehe. Wenn mir der Sprecher unbedeutend vorkommt, frage ich weder weiter nach noch interessiert es mich, was er sagt. Daran kannst du auch diejenigen erkennen, die ich für weise halte. Denn du wirst mich erpicht darauf finden, zu sehen, was von einem solchen gesagt wurde und bei ihm nachzuforschen, damit ich etwas lerne und so meinen Nutzen daraus ziehe. Denn auch jetzt habe ich mir Gedanken gemacht, als du sagtest, dass in den Epen, die du eben anführtest, Achilles zu Odys- 369a b c d e 17 seus wie zu einem Prahler spräche. Denn es scheint mir fraglich zu sein, ob du Recht hast: Odysseus, der Verschlagene, lügt dabei offensichtlich nirgends, Achilles erscheint aber als eine Art Verschlagener nach deinem Verständnis; wenigstens lügt er. Denn nachdem er diese Verse gesprochen hatte, die du eben vorhin schon anführtest - Denn verhasst ist mir jener wie des Hades Pforten, wer anderes verbirgt in Gedanken, anderes aber äußert. sagt er kurz darauf, dass er sich wohl weder von Odysseus und Agamemnon überzeugen ließe noch überhaupt in Troja bliebe, sondern Morgen opfere ich Zeus, sagt er, und allen Göttern, gut beladen werde ich dann die Schiffe ins Meer ziehen, und dann wirst du sehen, wenn du willst und dieses dich kümmert, morgen werden fahren über den Hellespont, den fischreichen, meine Schiffe und in ihnen die rastlos rudernden Mannen. Wenn eine gute Fahrt der edle Erderschütterer gewährt, dürft’ am dritten Tag ich ins fruchtbare Phtia zurückkehren. Und noch vorher hatte er im Streit mit Agamemnon gesagt - Nun aber geh ich gen Phtia, denn fürwahr viel besser ist es auf gekrümmten Schiffen heimzukehren, und so wirst du dir nicht, weil du mich entehrtest weiter noch Reichtümer und Schätze anhäufen. Dies sprach er mal in Gegenwart des ganzen Heeres, mal aber auch zu seinen Gefährten, und er traf dabei offensichtlich weder Vorbereitungen noch legte er Hand an, um die Schiffe zur Abfahrt nach Hause zu Wasser zu lassen, sondern erwies sich vielmehr ganz als Verächter der wahren Rede. Ich habe dich deshalb, mein lieber Hippias, auch von Anfang an gefragt, weil ich mir im Unklaren war, wer von diesen beiden Männern durch den Dichter als besser dargestellt worden ist, und da ich dachte, dass beide sehr gut seien und es ununterscheidbar wäre, wer von den beiden im Hinblick auf Lüge und Wahrheit und die sonstige Tugend besser sei. Denn auch darin sind die beiden sehr ähnlich. Hippias: Du prüfst indes nicht richtig, Sokrates. Denn was Achilles lügt, scheint er nicht aus böser Absicht zu lügen, sondern unfreiwillig, da er durch die unglückliche Lage des Heeres sich gezwungen sah zu bleiben und Hilfe zu leisten. Was aber Odysseus lügt, geschieht freiwillig und aus böser Absicht. Sokrates: Du führst mich in die Irre, liebster Hippias, und ahmst selbst damit den Odysseus nach. 370a b c d e 18 Hippias: Keineswegs, Sokrates. Was meinst du denn und worauf beziehst du dich? Sokrates: Darauf, dass du meinst, Achilles lüge nicht aus böser Absicht, der neben seiner Prahlerei so heuchlerisch und hinterlistig war, wie ihn Homer dargestellt hat, so dass er viel geschickter als Odysseus erscheint, leicht seine Flunkerei zu verdecken, so dass er es wagen konnte, sich selbst in Gegenwart von diesem zu widersprechen, ohne dass es Odysseus auffiel. Jedenfalls scheint nichts darauf hinzudeuten, dass Odysseus mit ihm spricht, weil er dessen Lüge bemerkt hat. Hippias: Welche Stelle meinst du damit, Sokrates? Sokrates: Weißt du nicht, dass er vorher zu Odysseus sagte, er werde mit Tagesanbruch abreisen, dem Aias aber nicht sagt, dass er abreisen werde, sondern über andere Dinge redete? Hippias: Wo denn? Sokrates: An dieser Stelle sagt er: Nicht werde ich vorher des blutigen Kampfes gedenken, bevor des erprobten Priamos’ Sohn allerdings, der göttliche Hektor, die Zelte und Schiffe der Myrmidonen erreicht hat, mordend die Argeier, und die Schiffe mit Feuer verbrennt. Um mein Zelt aber und das schwarze Schiff, glaube ich, wird sich auch der anstürmende Hektor fernhalten. Du also, mein lieber Hippias, glaubst, dass der Sohn der Thetis und der Zögling des hochweisen Cheiron so vergesslich sei, dass er, der kurz vorher die Prahler mit den äußersten Schmähungen bedacht hatte und zu Odysseus sagte, er werde abreisen, dem Aias aber zu bleiben, dies nicht absichtlich tat und Odysseus für einen alten Trottel hielt, da er sich ihm im Finten legen und Lügen überlegen glaubte? Hippias: Ich bin nicht deiner Meinung, Sokrates, sondern er spricht, weil er seine Meinung geändert, aus Arglosigkeit zu Aias anders als er zu Odysseus redet. Odysseus aber, wenn er die Wahrheit spricht, spricht er sie immer freiwillig, und wenn er lügt ebenso. Sokrates: Folglich ist, wie es scheint, Odysseus besser als Achilles. Hippias: Keinesfalls, Sokrates. Sokrates: Was also? Waren eben offensichtlich nicht die besser, die freiwillig lügen, als die, die es unabsichtlich tun? Hippias: Und wie könnten auch, Sokrates, die besser sein, die vorsätzlich Unrecht, vorsätzlich betrügen und Böses tun als die, die es unvorsätzlich tun? Gegen diese scheint doch große Nachsicht zu bestehen, wenn jemand nicht wissentlich Unrecht tut oder lügt oder sonst etwas Böses tut. Auch die Gesetze sind doch wohl viel härter gegen die, die vorsätzlich Böses tun und lügen, als gegen die, die es unvorsätzlich tun. 371a b c d e 372a 19 Sokrates: Du siehst, Hippias, dass ich die Wahrheit sage, wenn ich behaupte, dass ich beharrlich beim Befragen der Weisen bin? Das scheint meine einzig gute Eigenschaft zu sein, neben den vielen ganz schlechten. Denn in den Dingen selbst irre ich mich und weiß nicht, wie sie sich verhalten. Denn dies scheint mir ein hinlänglicher Beweis dafür zu sein, dass ich, wenn ich mit euch wegen eurer Weisheit Hochgeschätzten verkehre, denen alle Griechen Weisheit bezeugen, erscheine als einer, der nichts weiß. Denn es gibt nichts, um es einmal so zu sagen, in dem ich mit euch übereinstimme. Doch was ist nun aber ein besserer Beweis für Unwissenheit als wenn jemand mit den weisen Männern nicht übereinstimmt? Dieses eine Wunderbare habe ich als Gut, das mich schützt: Ich schäme mich nämlich nicht, dazuzulernen, sondern ich erkundige mich und frage, bin dem Antwortenden sehr dankbar und habe mich niemals jemandem undankbar erwiesen. Denn niemals habe ich in Abrede gestellt, wenn ich etwas gelernt habe, und mich als Erfinder des Gelernten ausgegeben, sondern ich pries vielmehr den, der mich belehrt hat, als weise, wenn ich kundtue, was ich von ihm gelernt habe. Und ich stimme auch jetzt in dem, was du sagst, mit dir nicht überein, sondern bin entschieden anderer Meinung. Auch weiß ich dies sehr wohl, dass das meinetwegen geschieht, da ich nun einmal so bin, wie ich eben bin, um nicht härter mit mir ins Gericht zu gehen. Mir scheint nämlich, lieber Hippias, das ganze Gegenteil von dem, was du sagst, der Fall: Diejenigen, die den Menschen Schaden zufügen, Unrecht tun, lügen und betrügen, und sich verfehlen, wenn sie es freiwillig tun, aber nicht unfreiwillig, besser sind als diejenigen, die so was unfreiwillig tun. Manchmal freilich scheint mir das Gegenteil davon richtig und ich schwanke darin, offenbar aufgrund meines Nichtwissens. Eben jetzt aber im gegenwärtigen Augenblick ist es wie ein Anfall über mich gekommen und es scheinen mir diejenigen, die freiwillig in irgendetwas fehlen, besser zu sein als diejenigen, die es unfreiwillig tun. Die Schuld für meine gegenwärtige Krankheit schiebe ich auf unsere bisherige Argumentation, so dass ich jetzt im Moment diejenigen, die jedes einzelne von diesen Dingen unfreiwillig tun, für schlechter halte als diejenigen, die sie freiwillig tun. Du aber tue mir also den Gefallen und weigere dich nicht, meine Seele zu heilen. Du tust mir sicherlich eine viel größere Wohltat, wenn du meine Seele von Unwissenheit befreist als meinen Leib von einer Krankheit. Wenn du eine lange Rede halten willst, sage ich dir voraus, dass du mich wohl nicht heilen wirst - denn ich könnte dir nicht folgen - wenn du mir aber antworten willst, wie schon eben, wirst du mir von großem Nutzen sein und ich glaube, dass du selbst dabei keinen Schaden erleiden wirst. Zu Recht könnte ich auch dich heranziehen, Sohn des Apemantos. Denn du hast ihn zur Unterredung e c 373a 372b d 20 mit mir veranlasst, und jetzt, wenn Hippias mir nicht mehr antworten will, bitte du ihn doch für mich. Eudikos: Aber ich glaube, mein lieber Sokrates, Hippias wird unserer Bitte gar nicht bedürfen. Denn so lauteten nicht seine Vorankündigungen, sondern dass er keines Menschen Frage ausweichen wolle. Oder nicht, Hippias? War es nicht das, was du sagtest? Hippias: Schon. Aber Sokrates, mein lieber Eudikos, stiftet bei der Argumentation immer Verwirrung und es scheint, als täte er das böswillig. Sokrates: Mein bester Hippias, das tue ich doch aber nicht freiwillig, - denn dann wäre ich ja deiner Argumentation zufolge weise und mächtig - sondern unfreiwillig, so dass du Nachsicht mit mir haben musst. Denn du sagst ja, dass man andererseits Nachsicht haben muss mit dem, der unfreiwillig Böses tut. Eudikos: Geh davon keineswegs ab, Hippias, und beantworte sowohl um unserer Willen als auch wegen deiner Vorankündigungen das, was Sokrates dich fragt. Hippias: Ich werde auf deine Bitte hin antworten. Frage also, was du willst. Sokrates: Und ich möchte sehr gern, Hippias, das eben jetzt Gesagte genauer prüfen, wer denn nun besser ist, diejenigen, die sich freiwillig verfehlen, oder diejenigen, die es unfreiwillig tun. Ich glaube nun, auf diese Weise am richtigsten zur Überprüfung zu kommen. Doch antworte mir: Nennst du irgendeinen Läufer gut? Hippias: Schon. Sokrates: Und einen schlecht? Hippias: Ja. Sokrates: Ein guter Läufer ist doch der, der gut läuft, ein schlechter Läufer, der schlecht läuft? Hippias: Ja. Sokrates: Ist nicht ein langsamer Läufer ein schlechter Läufer und ein schneller Läufer ein guter Läufer? Hippias: Ja. Sokrates: Also ist beim Wagenrennen und beim Wettlauf Schnelligkeit gut, Langsamkeit schlecht? Hippias: Warum sollte es denn anders sein? Sokrates: Wer ist also ein besserer Läufer, der, der freiwillig langsam läuft, oder der, der es unfreiwillig tut. Hippias: Der es freiwillig tut. Sokrates: Ist das Laufen nicht folglich ein Tun? Hippias: Es ist ein Tun. Sokrates: Wenn es ein Tun ist, ist es dann nicht auch ein Vollbringen? 373b c d 21 Hippias: Ja. Sokrates: Wer also schlecht läuft, vollbringt der beim Laufen ein schlechtes und schändliches Werk? Hippias: Ein schlechtes. Wie denn nicht? Sokrates: Schlecht läuft aber, der langsam läuft? Hippias: Ja. Sokrates: Vollbringt folglich nicht der gute Läufer freiwillig dieses schlechte und schändliche Werk, der schlechte Läufer aber unfreiwillig? Hippias: So scheint es wenigstens. Sokrates: Ist also beim Wettrennen der schlimmer, der unfreiwillig Schlechtes tut, oder der, der es freiwillig tut? Hippias: Beim Wettrennen schon. Sokrates: Was ist beim Ringkampf? Welcher Ringer ist besser, derjenige, der freiwillig fällt, oder derjenige, der unfreiwillig fällt? Hippias: Der es freiwillig tut, wie es scheint. Sokrates: Ist beim Ringen schlimmer und schändlicher das Fallen oder das Niederwerfen? Hippias: Das Fallen. Sokrates: Auch beim Ringen ist also der, der freiwillig das Schlechte und Schändliche vollbringt, ein besserer Ringer als der, der es unfreiwillig tut. Hippias: So scheint es. Sokrates: Was ist aber bei jeder anderen körperlichen Betätigung? Vermag nicht der körperlich Bessere beides zu vollbringen, das Starke und das Schwache, sowohl das Schändliche als auch das Schöne, so dass, wenn er körperlich Schlimmes vollbringt, der körperlich Bessere es freiwillig, der körperlich schlechtere unfreiwillig tut? Hippias: So scheint es sich auch in Bezug auf die Körperkraft zu verhalten. Sokrates: Wie ist es mit der guten Körperhaltung, Hippias? Sind nicht beim besseren Körper die hässlichen und schlechten Körperhaltungen freiwillig, beim schlechteren unfreiwillig? Oder wie scheint es dir? Hippias: So scheint es mir. Sokrates: Also ist auch die freiwillig schlechte Körperhaltung der Tugend, die unfreiwillig schlechte der Schlechtigkeit des Körpers zuzuschreiben. Hippias: Es scheint so. Sokrates: Was sagst du über die Stimme? Welche nennst du besser, diejenige, die freiwillig, oder diejenige, die unfreiwillig den Ton verfehlt? Hippias: Die ihn freiwillig verfehlt. Sokrates: Die schlechtere aber, die es unfreiwillig tut? Hippias: Ja. Sokrates: Möchtest du lieber das Gute besitzen oder das Schlechte? Hippias: Das Gute. 373e 374a b c 22 Sokrates: Möchtest du lieber Füße haben, die freiwillig oder unfreiwillig hinken? Hippias: Die freiwillig hinken. Sokrates: Ist nicht das Hinken der Füße eine Mangelhaftigkeit und ein Makel? Hippias: Ja. Sokrates: Was weiter? Ist nicht die Kurzsichtigkeit eine Mangelhaftigkeit der Augen? Hippias: Ja. Sokrates: Welche Augen möchtest du haben und mit welchen leben? Mit solchen, mit denen man freiwillig kurzsichtig ist und schlecht sieht oder unfreiwillig? Hippias: Mit solchen, mit denen man es freiwillig tut. Sokrates: Von deinem Besitz also hältst du das für besser, was freiwillig schlechtes wirkt als das, was es unfreiwillig tut? Hippias: Wenigstens in diesem Bereich. Sokrates: Hat nicht also alles wie Ohren, Nase, Mund und alle anderen Sinnsorgane ein und dieselbe Bestimmung, dass sie, wenn sie unfreiwillig schlecht arbeiten nicht besitzenswert, weil mangelhaft sind, wenn sie aber freiwillig so arbeiten, besitzenswert, weil sie gut sind. Hippias: So scheint es mir jedenfalls. Sokrates: Und weiter. Mit welchen Werkzeugen ist der Umgang besser, mit denen man freiwillig Schlechtes bewerkstelligt oder mit denen man das unfreiwillig tut? Welches Steuerruder ist besser, das, mit dem man freiwillig oder das, mit dem man unfreiwillig schlecht steuert? Hippias: Das, mit dem man es freiwillig tut. Sokrates: Gilt nicht dasselbe auch für Bogen, Lyra, Flöte und all die anderen Instrumente? Hippias: Das ist wahr. Sokrates: Und weiter. Ist es besser, die Seele eines Pferdes zu besitzen, mit der man freiwillig schlecht reiten kann oder mit der man unfreiwillig schlecht reitet? Hippias: Mit der Seele, mit der man es freiwillig tut. Sokrates: Es ist also besser. Hippias: Ja. Sokrates: Mit der besseren Seele eines Pferdes dürfte er die schlechten Werke dieses Pferdes freiwillig, mit der des schlechten unfreiwillig vollbringen? Hippias: In der Tat. Sokrates: Und ist es nicht auch so beim Hund und all den anderen Tieren? Hippias: Ja. 374d e 375a 23 Sokrates: Und weiter nun. Ist es besser für den Menschen, die Seele des Bogenschützen zu haben, die freiwillig das Ziel verfehlt oder die es unfreiwillig verfehlt. Hippias: Die es freiwillig tut. Sokrates: Ist also diese nicht auch besser, was das Bogenschießen anbelangt? Hippias: Ja. Sokrates: Also ist auch eine Seele, die unfreiwillig das Ziel verfehlt, schlechter als eine, die es freiwillig tut? Hippias: Beim Bogenschießen schon. Sokrates: Was ist aber mit der Heilkunst? Ist nicht diejenige, die freiwillig in Bezug auf die Körper Schlechtes vollbringt, die heilkundigere? Hippias: Ja. Sokrates: Ist sie also in dieser Kunst die bessere? Hippias: Sie ist besser. Sokrates: Und weiter. Welche Seele ist besser beim Zither- oder beim Flötenspiel oder in all den anderen Künsten und Wissensgebieten, ist es nicht diejenige, die freiwillig das Schlechte und Schändliche vollbringt und Fehler macht, die schlechtere tut es aber unfreiwillig? Hippias: So scheint es. Sokrates: Aber was nun den Besitz von Sklaven betrifft, so wollen wir doch lieber die Seelen von denen haben, die freiwillig Fehler machen und Schlechtes tun als die, die es unfreiwillig tun, weil jene besser sind in dieser Beziehung. Hippias: Ja. Sokrates: Und weiter. Was unsere Seele anbelangt, möchten wir nicht eine möglichst gute haben? Hippias: Ja. Sokrates: Wird sie dann nicht besser sein, wenn sie freiwillig Schlechtes tut und Fehler begeht, als wenn sie das unfreiwillig täte? Hippias: Das wäre doch wohl unerhört, Sokrates, wenn diejenigen, die vorsätzlich Unrecht tun, besser wären als die, die es unvorsätzlich tun. Sokrates: Aber so scheint es zumindest nach unserer Erörterung. Hippias: Mir aber keineswegs. Sokrates: Ich glaubte aber, Hippias, du wärest auch zu dieser Ansicht gekommen. Antworte aber weiter: Ist die Gerechtigkeit nicht irgendeine Fähigkeit oder ein Wissen oder beides? Oder muss nicht die Gerechtigkeit notwendig eines von diesen sein? Hippias: Ja. Sokrates: Wenn aber die Gerechtigkeit eine Fähigkeit der Seele ist, dann ist doch die fähigere Seele die gerechtere? Denn eine solche, mein Bester, erschien uns als die bessere. Hippias: Es hatte allerdings den Anschein. 375b c d e 24 Sokrates: Angenommen sie wäre ein Wissen; wäre nicht die weisere Seele die gerechtere, die unwissendere aber die ungerechtere? Hippias: Ja. Sokrates: Angenommen sie wäre beides; wäre nicht die Seele, die beides hat, Wissen und Fähigkeit, die gerechtere, die unwissendere und unfähigere die ungerechtere? Muss es sich nicht notwendigerweise so verhalten? Hippias: Allem Anschein nach. Sokrates: War nicht offensichtlich diese fähigere und weisere besser und mehr befähigt, beides zu machen, sowohl das Schöne als auch das Schändliche bei allen Tätigkeiten? Hippias: Ja. Sokrates: Wenn sie aber das Schändliche vollbringt, vollbringt sie dies freiwillig aufgrund ihrer Fähigkeit und Kunst. Dies scheint Merkmal der Gerechtigkeit zu sein, entweder beide zusammen und eines von beiden. Hippias: So scheint es. Sokrates: Und das Unrechttun ist Schlechtes tun, nicht Unrecht tun aber Schönes tun. Hippias: Ja. Sokrates: Wird also nicht die fähigere und bessere Seele, für den Fall, dass sie Unrecht tun sollte, freiwillig Unrecht tun, die schlechte aber unfreiwillig? Hippias: So scheint es. Sokrates: Ist nicht ein guter Mann der, der eine gute Seele hat, ein schlechter aber, der eine schlechte hat? Hippias: Ja. Sokrates: Ist es also nicht die Eigenschaft eines guten Mannes, freiwillig Unrecht zu tun, des schlechten aber unfreiwillig, wenn wirklich der Gute eine gute Seele hat. Hippias: Das ist ganz der Fall. Sokrates: Der also freiwillig sich verfehlt, Schändliches und Unrechtes tut, Hippias, wenn es überhaupt einen solchen geben sollte, dürfte es kein anderer sein als der Gute. Hippias: Dies kann ich dir unmöglich zugestehen, Sokrates. Sokrates: Und ich mir auch nicht, Hippias. Aber es scheint uns notwendigerweise wenigstens jetzt aus unserer Argumentation zu folgen. Wie ich freilich schon vorhin sagte, schwanke ich selbst in dieser Sache hin und her und keineswegs scheint mir dasselbe. Es ist auch kein Wunder, dass ich oder ein anderer Laie schwankt; wenn auch ihr Weisen schwanken werdet, ist das besonders schlimm auch für uns, wenn wir nicht einmal zu euch kommen können, um Ruhe von unserem Schwanken zu finden. 376a b c II - Einleitung 26 Gliederung des Einleitungsteils 1. Die Überlieferungslage ......................................................28 1.1 Die handschriftliche Überlieferung...................................... 28 1.1.1 Die erste Familie (W- und T- Gruppe) ........................... 28 1.1.2 Die zweite Familie (F-Gruppe) ....................................... 30 1.1.3 Die Gruppe der Exzerpt-Manuskripte............................ 31 1.2 Die ersten Ausgaben der Renaissance ................................. 32 1.3 Das Stemma der Handschriften (nach Vancamp).............. 33 2. Die Authentizitätsfrage ......................................................35 2.1 Antike Zeugnisse .................................................................... 35 2.2 Die Diskussion in der Neuzeit .............................................. 36 3 Die Datierungsfrage.............................................................40 3.1 Die fiktive Chronologie.......................................................... 40 3.2 Die absolute Chronologie ...................................................... 41 3.3 Die relative Chronologie........................................................ 42 3.3.1 Ergebnisse der sprachstatisch-stylometrischen Methode .............................................................................. 42 3.3.2 Prolegomena zu einem philosophiegenetischen Chronologiemodell .............................................................. 43 3.3.3 Ein philosophiegenetisches Chronologiemodell des Hippias Minor .................................................................... 45 4. Das Lügner-Paradoxon .......................................................50 4.1 Die Identität des Wahren und der Lüge in den Dissoi logoi......................................................................... 50 4.2 Das Denken in Gegensätzen bei Platon ............................... 53 4.3 Paradoxa bei Platon ................................................................ 55 5. Das Übeltäter-Paradoxon ...................................................59 27 5.1 Die Argumentation im Kontext ............................................ 59 5.2 Die Argumentation von Mem. 4.2. und Hippias Minor im Vergleich ..................................................................... 62 5.3 Die Abhängigkeit der Memorabilien 4.2 vom Hippias Minor und dem historischen Sokrates .......................... 64 6. Die Unfreiwilligkeit des Fehlens .....................................67 6.1 Platons Philosophem: Niemand fehlt freiwillig ................. 67 6.1.1 Fehlen als kognitiver Defekt............................................ 67 6.1.2 Fehlen als physiologischer Defekt (Timaios)................... 69 6.1.3 Fehlen infolge fehlender Affektkontrolle (Nomoi) ........... 71 6.2 Aristotelische Kritik................................................................ 73 7. Prolegomena zu einer Interpretation des Hippias Minor .....................................................................................78 28 1. Die Überlieferungslage 1.1 Die handschriftliche Überlieferung Die 32 Handschriften, die den Text des Hippias Minor ganz oder teilweise tradieren, zerfallen in vier Gruppen: die Gruppe von W, die Gruppe von T, die Gruppe von F und die Gruppe der Exzerpt-Manuskripte. 1 Diese vier Gruppen werden in zwei Familien eingeteilt: 1.1.1 Die erste Familie (W- und T- Gruppe) Die erste Familie gliedert sich in die W- und die T-Gruppe; die W-Gruppe enthält vier Manuskripte: (1) Vindobonensis Suppl. gr. 7 (membranaceus; saec. XI; fol. 438 v - 445 r ; W). Die Unabhängigkeit dieser prachtvollen Handschrift aus dem dritten Viertel des 11. Jahrhunderts, die einst dem berühmten Florentiner Humanisten D ONATO M ARIO A CCIAIUOLI (1428-1478) gehörte, wurde von J OSEF K RÁL für die Tetralogien nachgewiesen. 2 (2) Der Lobcovicianus sive Raudnitiensis VI F a.1 (membranaceus; saec. XI ut. vid 3 .; fol. 379 v -386 v ; binis columbis; L) muss als Deszendent des Vindobonensis Suppl. gr. 7 gelten, da er alle Auslassungen von W teilt, aber darüber hinaus eigene Fehler aufweist. (3) Der Vaticanus gr. 1029(a) (membranaceus, saec. XIV ut. vid. 4 ; fol. 476 v - 482 v ; binis columnis ; R) ist zweifellos ein Apographon des Lobcovicianus, da er all dessen Auslassungen aufweist. 1 Das vorliegende Kapitel referiert im wesentlichen B RUNO V ANCAMPS textgeschichtliche Untersuchung (Hippias maior. Hippias minor. Platon. Textkritisch hrsg. von B RUNO V ANCAMP , Stuttgart 1996) zu den Hippias-Dialogen. V ANCAMP kommt das Verdienst zu, als Erster die Textgeschichte der Hippias-Dialoge anhand aller uns erhaltenen Textzeugen rekonstruiert zu haben. Diese bildet dann die Basis für die nach J OHN B URNETS editio Oxoniensis neueste kritische Textausgabe. 2 Vgl. K R Á L , J OSEF , Über den Platoncodex der Wiener-Hofbibliothek suppl. Phil. Gr. 7, in: Wiener Studien 14 (1892), 161-208. 3 Die Datierung dieser Handschrift ist strittig. V ANCAMP (ibid. S. 13) folgt in der Datierung L IDIA P ERRIA (Note codicologiche e paleografiche, in: Rivista di Studi Bizantini e Neoellenici 23/ 24 [1985/ 86], 82-89) gegen D. J. M URPHY (The Plato Manuscripts W and Lobcovicianus, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 33/ 1 [1992], 99-104), der die Entstehungszeit im 14. Jahrhundert ansiedelt. 4 Die Datierung ist unsicher. Vgl. V ANCAMP (S. 13 Anm. 8.) mit L. P ERRIA (Note paleografiche, S. 85 Anm. 63) gegen C HRISTIAN B ROCKMANN (Die handschriftliche Überlieferung von Platons Symposion, Wiesbaden 1992, 238), der das Manuskript ins 11. Jahrhundert datiert. 29 (4) Von R hängt wiederum der Vaticanus gr. 228 ab (chartaceus; saec. XIV; fol. 271 r -277 v ; I). Die zweite (T-) Gruppe der ersten Familie ist (mit 17 Handschriften) besonders zahlreich vertreten und hängt von einem berühmten Manuskript der byzantinischen Renaissance ab: (5) Der Codex Venetus Marcianus gr. Append. Class. IV 1 (coll. 542) (membranaceus ; saec. X ; fol. 189 v -192 v ; binis columnis; T), der der T-Gruppe den Namen gibt, wurde wahrscheinlich vom Mönch Ephraim, dem Kopisten des Marcianus gr. 201 (954 n. Chr.), geschrieben; es steht außer Zweifel, dass T ein unabhängiger Textzeuge ist. 5 (6) Parisianus Coislinianus gr. 155 (chartaceus; saec. XIV in.; fol. 295 v -299 r ; ). (7) Florentinus Laurentianus gr. 85.6 (membranaceus; saec. XII ; fol. 221 r - 224 r , Flor). 6 (8) Parisianus gr. 1808 (chartaceus; saec. XII ex. - XIII in. ; fol. 326 v -330 v ; Par). (9) Der Codex Florentinus Laurentianus gr. 59.1 (chartaceus; saec. XIV ; fol. 324 v -329 r ; a) enthält das gesamte Corpus platonicum. (10) Florentinus Laurentianus gr. 85.9 (membranaceum; saec. XV; fol. 197 v - 200 r ; c). 7 (11) Parisinus gr. 1809 (membranaceus; saec. XIV ; fol. 284 r -288 r ; C) stammt aus dem Athoskloster Vatopedi. Die Abhängigkeit vom Parisinus 1808 wurde von L. A. P OST 8 erwiesen. (12) Malatestianus Caesenas D. XXVIII 4 (chartaceus; saec. XIV; fol. 284 r - 287 v ; M). M bietet die Sonderlesungen des Parisinus 1809, lässt aber an einigen Textstellen erkennen, dass das Korrektivexemplar aus der Familie von W stammt oder in der Vorlage von Gruppe R I zu suchen ist. 9 (13) Vaticanus Barberianus gr. 270 (membranaceus; saec. XV; fol. 255 r -259 v ; y) steht in Deszendenz des Parisinus 1809, da er die Trennfehler von C wiederholt. 10 5 V ANCAMP (ibid. S. 14 Anm. 4) beruft sich dabei auf M ARTIN S CHANZ , der dies in seinem Buch (Über den Platocodex der Markusbibliothek in Venedig Append. Class. 4 Nr. 1, Leipzig 1877) nachgewiesen hat. 6 Zum entscheidenden Beweis für die Abhängigkeit von der T-Gruppe s. V ANCAMP (Hippias minor, 17). 7 Zur Abhängigkeit von a s. V ANCAMP , S. 21. 8 Idem, , S. 57f. Vgl. V ANCAMP , der auf weitere Fehler aufmerksam macht (ibid. S. 22). 9 Vgl. V ANCAMP , der zu bedenken gibt, dass die genaue Quelle der Kontamination nicht feststellbar ist (ibid. S. 23). 10 Vgl. V ANCAMP S. 23. 30 (14) Ein weiterer, wichtiger Abkömmling des Parisinus 1809 ist der Scorialensis gr. y. I 13 (chartaceus; saec. XIII in.; fol. 243 r -246 r ; Scor). Aus diesem stammen über eine verlorene Zwischenstufe (= ) drei Handschriften ab: (15) der Parisinus gr. 1812 (chartaceus; saec. XIV; fol. 235 v -240 v ; J), (16) der Parisinus gr. 1811 (chartaceus; saec. XIV; fol. 219 v -224 v ; H) sowie, (17) der Dunelmensis C. IV.2 (membranaceus et chartaceus ; saec. XV ; fol. 54 v -63 v ; Dur). 11 (18) Der Vaticanus gr. 1030 (chartaceus; saec. XV; fol. 54 v -63 v ; Vat) erweist sich als Abschrift des Parisinus 1811, da er alle Auslassungen und Hinzufügungen von H teilt und gegenüber letzteren weitere Fehler aufweist. 12 (19) Vaticanus gr. 226 (membranaceus; saec XIV in. ut vid 13 .; fol. 169 v -177 v ; ). Dieses Manuskript, das aus dem Besitz des Humanisten C RISTOFORO G ARATONE stammt, bietet mit dem Vaticanus gr. 225 eine breite Auswahl platonischer Werke. (20) Vaticanus Urbinas gr. 32 (membranaceus; saec. XV; fol.57 r -66 v ; Urb). Dieses Manuskript, das wohl dem Humanisten L EONARDO B RUNI gehörte, muss eindeutig als Abschrift von Vaticanus 226 angesehen werden, da Urb alle Auslassungen und Hinzufügungen von teilt. 14 (21) Der Romanus Angelicus gr. 107 (olim C.1.4) (chartaceus; saec. XIV in; fol. 325 r -330 r ; Ang) erweist sich als Abkömmling von Parisnus 1808. 15 1.1.2 Die zweite Familie (F-Gruppe) Die zweite Familie, die aus der F-Gruppe besteht, enthält sieben Handschriften: (22) Der älteste Textzeuge der zweiten Familie ist der Vindobonensis Suppl. gr. 39 (bombycinus; saec. XIII ex. - XIV in.; fol.59 v -65 r ; F). Obwohl er nur einen Teil des platonischen Corpus (Tetr. VI, 3-IX, 1) tradiert, liegt seine besondere Bedeutung in der Tatsache, dass er auf eine eigene, von der ersten Familie verschiedene Transliteration zurückzuführen ist. F enthält zahlreiche Majuskelkorruptelen, die, wie von J OHN B URNET 16 dargelegt, auf eine Unizialhandschrift zurückgehen. Ob nun diese Deszendenz mittelbar oder unmittelbar besteht, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. V AN- CAMP vertritt die Ansicht, dass es zwischen F und dieser Uniziale mindes- 11 Vgl. V ANCAMP S. 25. 12 Vgl. V ANCAMP , 28. 13 Die Datierung der Handschrift ist umstritten. V ANCAMP (S. 29) folgt hier C HRISTIAN B ROCKMANN (S. 86) gegen G IOVANNI M ERCATI und P IO F RANCHI DE C AVALIERI (iidem, Codices Vaticani Greaci, Bd. 1 , Codices 1-329, Rom 1923, 295), die die Entstehungszeit im 12. Jahrhundert vermuten. 14 Vgl. V ANCAMP , Hippias minor, S. 30. 15 V ANCAMP , Hippias minor, S. 30. 16 B URNET , J OHN , A Neglected Ms. of Plato, in: Classical Review 16 (1902), 98-101. Idem, Vindobonensis F and The Text of Plato, in: Classical Review 17 (1903), 12-14. 31 tens eine Minuskelhandschrift gegeben hat, da F einige Fehler aufweist, die sich am besten als Minuskelverlesungen erklären lassen. 17 Vom Vindobonensis stammen drei Handschriften ab: (23) Der Florentinus Laurentianus gr. 85.7 (membranaceus; saec. XV; fol. 57 v -62 v ; binis columnis; x) 18 , (24) der Romanus Angelicus gr. 101, (olim C 1.7) (membranaceus; saec. XVI in.; fol. 148 v -153 r ; v) (25) und der Ambrosianus E 113 Sup (= 316) (chartaceus; ann 1482; fol. 71 r - 78 v ; Amb). (26) Venetus Marcianus gr. 189 (coll. 704) (chartaceus; saec. XV; fol. 255 r - 259 v ; binis columnis; S). (27) Der Venetus Marcianus gr. 186 (coll. 601) (chartaceus; saec. XV; fol. 252 r -256 r ; U) ist eine Abschrift des Marcianus 189. (28) Der Venetus Marcianus gr. 184 (coll. 326) (membranaceus; saec. XV ; fol. 250 r -253 r ; E) ist wohl eine Abschrift der Arbeitsexemplare Bessarions, dem Besitzer von U, und hängt also vom Marcianus 186 ab. 1.1.3 Die Gruppe der Exzerpt-Manuskripte Die letzte Handschriftengruppe besteht aus den Exzerptmanuskripten. Sie enthält vier Handschriften, die kurze Auszüge aus dem Hippias Minor überliefern. Diese Exzerpte sind aber meistens zu kurz, als dass man ihre Vorlage ausmachen könnte: (29) Der Neapolitanus gr. II. C. 32 (= 91) (chartaceus; saec. XV; fol. 213 v - 214 r ; Neap) enthält die Passage 370d5-6. 19 (30) Der Vossianus gr. Q. 54 (chartaceus; saec. XV; fol. 445 r ; Q) enthält nur einen Satz aus dem Hippias Minor 284a1 sowie den Titel des Dialoges; die Vorlage bleibt völlig unbestimmt. (31) Der Londinensis Royal 16 C. XXV (chartaceus; saec. XVex.-XVin.; fol. 58 r ; Lond) enthält nur zwei kurze Passagen aus dem Hippias Minor 372b7c3 und 372e7-373a2. Der erstgenannte Auszug weicht dabei im Wortlauf völlig in der Überlieferung ab, weshalb hier V ANCAMP eine absichtliche Kürzung vermutet. 20 (32) Der Matritensis gr. 4573 (olim N 36) (chartaceus; saec. XVex; fol. 153 v ; Mat) überliefert die gleichen Exzerpte wie der Londinensis, weshalb Lond. die Vorlage des Matritensis gewesen sein könnte. 21 17 Vgl. V ANCAMP , 32. 18 V ANCAMP räumt ein, dass es zwischen F und x eine Zwischenstufe gegeben haben könnte (ibid. S. 34). 19 V ANCAMP vermutet, dass Neap. über P auf T zurückgeht (Hippias minor, S. 47). 20 V ANCAMP , S. 48. 21 Ibid. S. 48. 32 1.2 Die ersten Ausgaben der Renaissance Nach den Handschriften spielen auch die frühen Drucke des Hippias Minor als wichtige Überlieferungsträger (mitunter auch heute verschollener Handschriften) für die Textkritik eine wichtige Rolle. (1) Im Jahr 1513 erschien die von M ARKOS M USUROS besorgte editio princeps des griechischen Textes der platonischen Werke. 22 Dabei konnte Musuros Textzeugen aus beiden Handschriftenfamilien heranziehen. Die nach dem bekannten Drucker als Aldina (=Ald) bezeichnete Ausgabe folgt einerseits einem Abkömmling des Parisinus 1808 23 , andererseits hat Musuros wohl eine Bessarion-Handschrift, den Marcianus 186, herangezogen. (2) Doch schon vor der Aldina-Edition hatte M ARSILIO F ICINO das platonische Œuvre ins Lateinische übersetzt. Die griechische Vorlage der von Ficinos Übersetzung - deren editio princeps 1484 in Florenz erschien - lässt sich nur ungenau bestimmen. M ARTIN S CHIERL hat dafür mindestens vier Florentiner Codices (Laur. 59.1, 85.6, 85.7, und 85.9) ausgemacht. 24 Für den Hippias Minor hat wohl Ficino einen Abkömmling des Parisinus 1808 benutzt, wobei seine Vorlage allerdings aus der ersten Handschriftenfamilie zu stammen scheint. 25 (3) Die erste Basler Ausgabe (=Bas 1 ) 26 hängt durchaus von der Aldina ab und ist bis auf die Korrektur einiger Druckfehler in textkritischer Hinsicht von geringem Wert. (4) Die zweite Basler Ausgabe (=Bas 2 ) 27 stellt eine Revision durch den Humanisten A RNOLDUS A RLENIUS dar, die zwar von den ersten beiden griechischen Ausgaben abhängt, aber auch neue Lesarten anführt; leider sind die vetustissima exemplaria, aus denen er geschöpft hat, für die Hippias-Dialoge nicht näher zu bestimmen. 28 (5) Die Ecologae in Dialogos Platonis omnes 29 (1561) des J ANUS C ORNARIUS bieten zwei interessante Konjekturen für den Hippias Minor. 30 22 Ominia Platonis Opera, Venetiis in aedibus Aldi et Andrea soceri, mense Septembri 1513. 23 V ANCAMP vermutet, dass es sich dabei entweder um den Parisinus 1811 oder um dessen Apographon, den Vaticanus 1030, handeln muss (ibid. S. 49). 24 Schanz, Martin, Platonismus und Textüberlieferung, in: D IETER H ARLFINGER (Hg.), Philophronēma FS für Martin Sicherl zum 75. Geburtstag, Paderborn u.a. 1990, 553-555. 25 Vgl. V ANCAMP , 51. V ANCAMP zeigt weiter, dass eine stemmatische Einordnung aufgrund von Übersetzungseigenheiten Ficinos nicht möglich ist. 26 Platonis omnia Opera […], Basileae apud Ioan. Valderum, 1534. 27 Platonis omnia Opera, es vetustissimorum exemplarium collatione multo nunc quam antea emendatiora […] Basileae apud Henrichum Petri, 1556. 28 Vgl. V ANCAMP , 52. 29 Iani Cornarii Eclogae in Dialogos Platonis omnes nunc primum separatim editae cura Ioh. Frider. Fischeri [...], Leipzig 1771, S. 87-89. 33 (6) Die große dreibändige Ausgabe des H ENRICUS S TEPHANUS (=Steph) 31 basiert, wie Stephanus selbst betont 32 , auf der Aldina sowie den beiden Basler Editionen. Vancamp macht darauf aufmerksam, dass nicht alle abweichenden Lesarten für den Hippias Minor, die von Stephanus angeführt werden, aus der zweiten Basiliensis stammen können, so dass angenommen werden muss, dass Stephanus hier Handschriften verglichen hat. 33 1.3 Das Stemma der Handschriften (nach Vancamp) V ANCAMP stellt nun die Abhängigkeitsverhältnisse der Handschriften (und frühen Drucke) stemmatisch folgendermaßen dar 34 : Von einem (erschlossenen, nicht überlieferten) Archtypen stammen die beiden (ebenfalls hypothetischen) Hauptdeszendenten und . Von Letztem stammt über eine (angenommene, nicht mehr exitierende) Zwischenstufe die jüngste der drei Gruppen F. Die beiden anderen Gruppen T und und W deszendieren dagegen direkt von b. Während vom jüngeren W in gerader Linie drei Deszendeten abhängig sind, gliedert sich die ältere T-Gruppe in eine Haupt- und zwei Nebenlinien. Dabei bildet der Codex Par die Hauptlinie, von der sich weitere fünf Nebenlinien ableiten. Direkt in gerader Linie von Par stammt Scor ab, aus dem über eine (verlorene) Zwischenstufe schließlich die ersten Renaissance-Druckausgaben schöpfen. Aufgrund dieser hier noch nochmals in Kürze zusammengefassten Abhängigkeitsverhältnisse lässt sich für textkritsche Überlegungen die Faustregel aufstellen, dass T vor W (und W vor F) immer der Vorzug zu geben ist, wenn nicht gravierende Gründe eine Lesart der jüngeren Gruppe sinnvoll erscheinen lassen. 30 Vgl. V ANCAMP , S. 53. 31 Platonis Opera quae extant omnia. Ex nova Ion. Serrani interpretatione, Paris 1578. 32 Vgl. Bd. 3, Annotationen, S. 66. 33 V ANCAMP , S. 54f. 34 Ibid. S. 57. 34 35 2. Die Authentizitätsfrage 2.1 Antike Zeugnisse Das wichtigste Zeugnis aus der Antike ist das Testimonium des Aristoteles. Im fünften Buch seiner Metaphysik (1025a6-29) behandelt Aristoteles das Falsche und setzt sich kritisch mit der paradoxen Identitätsthese des Wahren und Falschen auseinander, wobei er als Quelle den Hippias angibt. 35 Auch das zweite Paradoxon, dass der vorsätzlich Schlechte besser sei als der unvorsätzlich Schlechte, und dessen Beweis durch Induktion am Beispiel des freiwillig Hinkenden wird von Aristoteles angegriffen. Die eindeutige Inhaltszusammenfassung hat niemals Zweifel aufkommen lassen, dass mit dem von Aristoteles genannten Hippias der uns unter dem Titel Hippias Minor tradierte Dialog gemeint ist. Als Autor dieses Hippias nennen die antiken Aristoteleskommentatoren Alexander von Aphrodisias 36 (2. bis 3.Jahrhundert n. Chr.) und Asklepiades von Trallies 37 (6. Jahrhundert n. Chr) Platon. Auch die antiken Platoniker führen den Hippias Minor in Platons Werkliste. Diogenes Laertios (3.56-61) berichtet vom frühkaiserzeitlichen Platoneditor Thrasyllos, dass dieser die Werke Platons nach Art der tragischen Tetralogien herausgegeben habe. 38 Die 56 für echt gehaltenen Dialoge werden in neun Tetralogien eingeteilt 39 , wobei das vierte Drama jeder Tetralogie nach den Regeln der klassischen Tragödie ein Satyrspiel gewesen sei. 40 An der Spitze der siebten Tetralogie stehen die beiden Hippias (Maior und Minor), die von ihrem Genus als anatreptisch (widerlegend) 35 (1025a6). 36 (In Aristotelis Metaphysicos 1025a17, CAG I, 436, 25ff). 37 [...] [...] (In Metaph. Comm., CAG VI, 2, 353, 33f.) 38 Thrasyllos behauptet, dass diese Einteilung auf Platon selbst zurückgeht ( ). Tatsächlich ist diese Einteilung wohl mit dem Mittelplatonismus aufgekommen und ein oder zwei Generationen älter als Thrasyllos. Vgl. Der Platonismus in der Antike, hg. von. M ATTHIAS B ALTES , Bd. 2 Stuttgart-Bad Cannstatt, 338f. (Nach dieser Ausgabe werden auch die vorliegenden Zeugnisse des antiken Platonismus zitiert). 39 Dieser Einteilung folgen die Platonausgaben bis heute. 40 B ALTES hält diese Bemerkung für entbehrliche Gelehrsamkeit, da niemals der vierte Dialog einer platonischen Tetralogie den Charakter eines Satyrspiels habe (vgl. Der Platonismus in der Antike, 339). 36 klassifiziert werden. 41 Der zeitgenössische Platoniker Albinos verfasste eine Einleitung (Eisagogē 3) zu den platonischen Schriften, in der er unter den Platon zugerechneten Dialogen auch die beiden Hippias anführt. 42 Auch in weiteren spätantiken und byzantinischen Zeugnissen wird Platon als Autor des Hippias Minor genannt. 43 Diese kontinuierliche, gut belegte Tradition, die den Hippias Minor als platonisch ansieht, muss als starkes Indiz für die Authentizität des Dialoges gewertet werden. 2.2 Die Diskussion in der Neuzeit Während die Antike also die Authentizität des Hippias Minor allgemein anerkannte, wurde die Urheberschaft Platons in der kritischen Philologie des 19. Jahrhunderts kontrovers diskutiert. F RIEDRICH D ANIEL S CHLEIERMA- CHER (1805), der Nestor der Platon-Forschung Anfang des 19. Jahrhunderts, sieht in diesem Dialog den „ersten Versuch jenen Gedanken von der Natur der Tugend auf die bekannte indirekte Weise auszuführen, die aber nicht gelungen erschein“ 44 und will den Plan dazu Platon, die Ausführung aber einem Schüler zuschreiben. Auch F RIEDRICH A ST (1816) athetierte den Hippias Minor als pseudo-platonisch mit der Begründung, dass der platonischsokratische Gedanke, niemand tue freiwillig Unrecht, hier in sein Gegenteil verkehrt und in ungeschickter Weise dem Sokrates in den Mund gelegt 41 - ’ ’ - Zu dieser Tetralogie werden auch der Ion als peirastikos (prüfend) und der Menexenos als ēthikos (ethisch) gezählt. 42 Beim Hippias hat der Herausgeber das I und II in eckige Klammern gesetzt, so dass es streng genommen eine Konjektur darstellt und wir eigentlich auch nicht wissen, ob Albinos tatsächlich die beiden Hippias meint. Der Text ist allerdings stark verdorben, - so fehlen die in ihrer Echtheit zu antiken Zeit unbestrittenen Dialoge Theaitet, Phaidros und Kritias - und da Albinos’ Aufzählung der platonischen Dialoge (zwar ohne tetralogische Einteilung, aber mit Zuordnung jedes Dialoges zu einem philosophischen Thema) mit der des Diogenes Laertios fast identisch ist, spricht doch viel dafür, dass auch die beiden Hippias-Dialoge gemeint sind. 43 So beim Redner und Philosoph Themistios: […] (Or. 29, 345c-d) und die byzantinische Suda: ’ (II, 512, 24, n° 133 Adler). Weitere Testimonien, die den Hippias Minor ohne Autorenangabe nennen, sind: Catalogus operum Oxyrynchites (PSILaur inv. 19662 v) und Olympiodoros (In Alc. I, 3, 7-8). Eine Aufzählung aller Testimonien, die einen oder beide Hippias-Dialoge betreffen, gibt Vankamp (Hippias minor, 64f.). 44 S CHLEIERMACHER , Plato.Übersetzung. Erster Theil. Zweiter Band, Berlin, 1805, 294 37 sei. 45 Dagegen verteidigen J OSEPH S OCHER 46 (1820) und G OTTFRED S TALL- BAUM 47 (1821-25) die Authentizität des Dialoges. Socher sieht im Hinblick auf Form und Stil Übereinstimmungen mit dem Protagoras 48 , während Stallbaum den Hippias Minor für ein stilistisch noch nicht ausgereiftes Jugendwerk Platons hält, „quo tempore et Socraticae rationi adhuc unice deditus, nec eam scribendi facultatem elegantiamque consequtus […]“ 49 K ARL F RIEDRICH H ERMANN (1839) spricht sich ebenfalls für die Authentizität des Dialoges aus und kritisiert methodisch das von Schleiermacher aufgestellte Echtheitskriterium als „von Aussen herein getragen und aus jener vorgefassten Ansicht von der methodischen Verknüpfung der platonischen Schriften abgeleitet […]“ 50 V ICTOR C OUSIN lässt die Authentizitätsfrage offen, betont aber den hohen Indizienwert des Testimonium Aristotelis und der Erwähnung im Kommentar des Alexander Aphrodisias, da Aristoteles nur authentische Dialoge zitiere. 51 A UGUST W ILHELM W INCKELMANN hält den Hippias für pseudoplatonisch und vermutet Antisthenes als Verfasser. 52 E DUARD Z ELLER (1839) gehört anfänglich auch zu den Authentizitätskritikern und führt als neues Argument in der Debatte die Dublette in Xenophons Memorabilien (4.2.19f.) an, die den Gedankengang des Paradoxons, dass derjenige besser sei, der absichtlich fehle, gehaltvoller in der dialogischen Entwicklung darzustellen verstünde. 53 Später revidiert Z ELLER (1851) in seiner Rezension zu Steinharts Platon-Übersetzung seine Position und erklärt unter der Voraussetzung, dass es sich beim Hippias Minor um ein Jugendwerk Platons handele, die Authentizität für möglich und unter Berufung auf das Testimonium Aristotelis sogar als sehr wahrscheinlich. 54 K ARL 45 Vgl. A ST , F RIEDRICH , Platons Lehren und Schriften, Leipzig 1816, 464. 46 S OCHER , J OSEPH , Über Platons Schriften, München 1820, 149f. 47 S TALLBAUM , G OTTFRED , Platonis Dialogos selectos recensuit et commentariis instruxit, Gotha/ Erfut 1832, 235. 48 Vgl. S OCHER , Über Platons Schriften, 145. 49 S TALLBAUM , Platonis Dialogos, 235. 50 H ERMANN , K ARL F RIEDRICH , Geschichte der platonischen Philosophie, Heidelberg 1839, Bd.1 S. 432. Dabei ist es H ERMANN zufolge die Schwierigkeit, den Hippias als Vorläufer oder Nachtrag zum Protagoras ins Verhältnis zu setzen, die S CHLEIERMACHER zur Athetese brachte (Ibid. 433). 51 C OUSIN , V ICTOR , Oeuvres de Platon, Bd. 4, Paris 1827, 293. 52 G EORG B AITER stellt W INCKELMANNS These in der Vorrede an den Leser seiner Platon-Editon (Platonis opera omnia, ed. G EORG B AITER / K ASPAR O RELLI / A UGUST W IL- HELM W INCKELMANN , Tübingen 1839) vor, da es W INCKELMANN wegen privater Inanspruchnahme nicht möglich war, diese Hypothese mit Argumenten zu stützen. Der Wunsch B AIERS nach ruhigeren Zeiten für W INCKELMANN scheint nicht in Erfüllung gegangen zu sein. Er hat wohl auch später dazu nicht mehr publiziert und D ÜMMLER macht sie in seiner Antisthenes-Arbeit (Antisthenica, Halle 1882, 38) obsolet. 53 Z ELLER , E DUARD , Platonische Studien, Tübingen 1839, 156. 54 Z ELLER , E DUARD , in: Zeitschrift für Altertumswissenschaft 9 H. 3 (1851), 256. 38 S TEINHART (1850) argumentiert gegen diejenigen, die die nichtnamentliche Nennung des Dialogtitels als Indiz für dessen Unechtheit interpretieren, dass es sehr unwahrscheinlich wäre, wenn „eines solchen Stümpers Machwerk von Aristoteles ohne alle Andeutung des Verfassers seiner ungewissen Herkunft erwähnt und später mit Platon’s Namen geschmückt auf die Nachwelt gekommen wäre.“ 55 C ARL S CHAARSCHMIDT (1866) ist trotz der vorangegangenen Diskussion, in der das Testimonium Aristotelis gegen Angriffe stark gemacht wurde, einer der letzten Vertreter der These, dass die fehlende Namensnennung und die seiner Meinung unpassend scharfe Auseinandersetzung des Platon-Schülers Aristoteles mit den Paradoxa des Hippias gegen die Urheberschaft Platons sprechen. 56 Dennoch ist nach Brandis und Zeller opinio communis der Platon-Forschung, dass der Hippias Minor aufgrund des Testimonium Aristotelis mit gutem Grund als platonisch erachtet werden muss. Dieser Ansicht folgen auch G EORGE G ROTE 57 , F OUILLÉE 58 und M AURICE C ROISET 59 . O TTO A PELT führt später den forensischen Begriff der Unschuldsvermutung in die Authentizitätsfrage ein und verlangt von den Gegnern durchschlagende Argumente, um eine Athetese zu rechtfertigen. 60 Gibt es solche neuen Argumente? Ein wichtiger Neuansatz ist die Einbeziehung von Sprachstatistik und Stylometrie, die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommen sind und die die Frage der Authentizität und Datierung platonischer Dialoge mit inhaltlich unabhängigen und positivistisch-objektiven Kriterien zu klären versuchen. Die neueste und elaborierteste stylometrische Studie von G ERARD L EDGER zeigt, dass der Hippias Minor sprachlich näher zum xenophontischen Oeconomicus als zu anderen platonischen Schriften steht. 61 Also doch ein neues und starkes Argument 55 S TEINHART , K ARL , Platons sämtliche Werke, Erster Band, Leipzig 1850, 107. Ein sehr gutes Argument gegen die These, dass die fehlende Namensnennung bei Aristoteles im Zusammenhang mit dem Hippias Minor ein Indiz für dessen Unechtheit sei, stammt von S OCHER , der darauf hinweist, dass das Zeugnis für den Lysis bei Aristoteles weder Name noch Inhalt des Dialoges angebe und dennoch nicht die Urheberschaft Platons in Zweifel gezogen werde. In der Tat ist die Nichtnennung des Autors bei einem Werk nur sinnvoll, wenn kein Zweifel über dessen Urheber besteht. Wenn also Aristoteles den Namen nicht nennt, dann muss der Autor damals allgemein bekannt gewesen sein und es wäre sehr seltsam für den Fall, dass es nicht Platon war, warum dieser damals so bekannte Namen nicht sonst im Zusammenhang mit diesem Dialog auf uns gekommen wäre. 56 S CHAARSCHMIDT , C ARL , Die Sammlung der platonischen Schriften zur Scheidung der echten von den unechten untersucht, Bonn 1866, 382ff. 57 G ROTE , G EORGE , Plato and the other companions of Socrates, Anm. g S. 388. 58 F OUILLEE , Platonis Hippias minor, 9. 59 C ROISET , M AURICE , Platon oevres complètes, 21. 60 A PELT , Einleitung zur Übersetzung, 14f. 61 Vgl. L EDGER , G ERARD , Re-counting Plato. A computer analysis of Plato’s style, Oxford 1989, 158. 39 für die Athetese dieses Dialoges? Ledger warnt vor einem voreiligen Schluss und relativiert die Gültigkeit seiner Methode: „I confess to a certain reluctance to athetize this work, because the methods I am using do not appear to work well with dialogues which are at the extremes of a stylistic range, but only with those which can be shown to be typical. The fact that the work is fairly unusual has been demonstrated, but it is not so unusual as to stand out from all the others as being unquestionably false.” 62 Die Authentizität des Hippias Minor ist also durchaus möglich, wenn es sich um ein Werk aus der Frühphase Platons handelt. Ledger zählt den Hippias unter dem Echtheitsvorbehalt zu den frühen Werken Platons und datiert ihn um 399 v. Chr. Gibt es Hinweise, die eine so frühe Datierung rechtfertigen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns mit der Datierung des Dialoges beschäftigen. 62 L EDGER , Re-countig Plato, 160. 40 3. Die Datierungsfrage Wenn wir uns mit der Datierung platonischer Dialoge beschäftigen, müssen wir drei Fragen unterscheiden: Erstens die Frage nach der fiktiven Chronologie, d.h. die Frage, wann der Dialog spielt. Zweitens die Frage nach der absoluten Chronologie, d.h. die Frage, wann Platon diesen Dialog geschrieben hat. Drittens die Frage nach der relativen Chronologie, d.h. die auf das platonische Œvre bezogene Frage, vor und nach welchem anderen Dialog Platon den Hippias Minor verfasst hat. 3.1 Die fiktive Chronologie Die Frage nach dem fiktiven Datum des Dialoges lässt sich nur sehr unsicher beantworten. Es finden sich im Hippias selbst keinerlei Anspielungen auf historische Ereignisse, die (sowohl einen terminus ante quem non der absoluten als auch) das Datum einer fiktiven Chronologie abgeben könnten. Der wichtigste (und umstrittenste) Ansatzpunkt ist der Hippias Maior, in dem Hippias - vorausgesetzt die Ankündigung bezieht auf den Hippias Minor - einen Vortrag über Homer für zwei Tage später ansetzt (286b5f.). Laurence Lambert greift diesen Ansatz auf und rekonstruiert weiter die fiktive Chronologie anhand des Hippias Maior. 63 Dort wird auf Gorgias‘ Gesandtschaftsreise nach Athen angespielt (282b4ff.), die auf das Jahr 427 v. Chr. datiert ist. 64 Hippias’ Besuch muss also nach 427 stattgefunden haben. Da Hippias auch im diplomatischen Dienst seiner Vaterstadt tätig war und Elis im Peleponesischen Krieg zu den Gegnern Athens gehörte, dürfte eine Gesandtschaft (Hp. Ma. 281a3-4) nur zu Zeiten des Nikeasfriedens (421-412 v. Chr.) möglich gewesen sein. Lampert hält als fiktives Datum den Spätfrühling des Jahres 420 v. Chr. für am plausibelsten. Dafür spricht nach seiner Argumentation, dass die agonistische Stimmung sowie die Erwähnung von Hippias’ Olympia-Auftritten (363c6-364a9) in ein Olympiajahr passen würde und im August und September dieses Jahres eine Olympiade stattfand. 65 Wichtiger aber noch als die Übereinstimmung mit der Olympiade ist nach Lampert die diplomatische Konferenz zwischen 63 Vgl. L AMPERT , Plato’s Lesser Hippias, 232-236. 64 Vgl. Thuc. 3.86; Diodor 12.53.1, der Gorgias als Führer der Delegation nennt. 65 Bei dieser Olympiade hatten die Eleer als Ausrichter der Spiele die Spartaner von der Teilnahme ausgeschlossen, da diese sich weigerten, eine Konventionalstrafe für die Verletzung des olympischen Friedens zu bezahlen. Die Spartaner hatten die Festung Phyrkos der Eleer angegriffen und Hopliten nach Lepreon geschickt. Vgl. Tuc. 5. 49.50. 41 Athen und Elis, die in diesem Zeitraum des Spätfrühlings 420 tagte und zu der wahrscheinlich Hippias delegiert worden war. Einberufen hatte dieses Treffen der junge und politisch ehrgeizige Alkibiades, der gegen den Frieden mit Sparta agierte. Sein Ziel war es, ein gegen Sparta gerichtetes Bündnis mit Argos, Elis und Mantineia zu schmieden und den Friedensvertrag mit Sparta zu kündigen. Dabei ging Alkibiades skrupellos vor und intrigierte mit perfiden Mitteln gegen die in Athen befindliche spartanische Gesandtschaft, die er durch geschickte Täuschung als unglaubwürdig vor der Athener Öffentlichkeit diskreditierte. 66 Vor dem Hintergrund dieser politischen Ereignisse des Spätfrühling des Jahres 420 v. Chr. ist nach Lampert auch der Hippias Minor zu lesen. Die Frage nach der polytropia und der Bewertung des Odysseus wäre demnach ein philosophischer Reflex auf die Frage nach der polytropia in der Politik und der Bewertung des Alkibiades. Lassen wir einmal diese Interpretation beiseite, so stellt sich die Frage, wie Lamperts Versuch einer Rekonstruktion des fiktiven Dialogdatums zu bewerten ist. Lamperts Ansatz ist mit großen Schwierigkeiten verbunden: (1) Die Echtheit des Hippias Maior ist sehr zweifelhaft, so dass Indizien aus diesem Dialog nur geringe Beweiskraft zukommt. (2) Lampert setzt weiter voraus, dass (a) der Hippias Maior vor dem Hippias Minor entstanden ist und (b) der dort angekündigte Vortrag sich auf den im Hippias Minor bezieht, was beides ebenfalls sehr fraglich ist. 67 Für Lampert lässt sich sagen, dass die Koinzidenz der elischen Gesandtschaft (mit möglicherweise Hippias) in Athen und der Olympischen Spiele im Jahre 420 v. Chr der Hypothese (unabhängig von ihren Voraussetzungen) eine gewisse Plausibilität verleiht. 3.2 Die absolute Chronologie Es ist als opinio communis der Forschung zu sehen, dass der Hippias Minor zu den Frühschriften Platons gehört. Einige sehen in ihm sogar das philosophische Erstlingswerk Platons. 68 Als terminus post quem non für die Abfassung des Dialoges wird vielfach 399 v. Chr. angenommen, das Jahr also, 66 Vgl. Tuc. 5.43-48; zu Alkibiades’ Vorgehen besonders 5.45.1-4. Das Bündnis kam zwar zustande, doch wurde damit nicht der Friedensvertrag mit Sparta gekündigt. 67 Ledger hält zwar den Hippas Maior auch für authentisch (und sogar mit größerer Wahrscheinlichkeit als der Hippias Minor), doch setzt er den Hippias Maior (für den Fall der Echtheit des Hippias Minor) später an. 68 So S USEMIHL (1855), H ERRMANN (1839) U EBERWEG (1861), P FEIDERER unter Vorbehalt (1888), R ITTER (1910), O LESCHA (1910), C ROISET (1921). 42 in dem Sokrates zum Tode verurteilt wurde. 69 Dabei wird argumentiert, dass nach der Verurteilung des Sokrates als Jugendverderber ein Dialog, in dem dieser die These vertritt, dass derjenige besser sei, der sich vorsätzlich verfehle, nicht opportun gewesen sei. Dagegen plädieren aber auch einige Forscher für eine spätere Datierung. 70 Hermann Gauss vertritt die These, der Dialog sei während Platons Aufenthalt in Megara entstanden, wohin er nach Sokrates’ Tod gegangen sei. Da Platon nach einer biographischen Notiz des Diogenes Laertios am Korinthischen Krieg teilgenommen habe, ergebe sich für die Abfassungszeit des Dialogs 399 ante quem non und 394/ 94 v. Chr. post quem non. 71 Doch sind Versuche einer Datierung, die auf einer unsicheren Rekonstruktion der Platon-Biographie fußen, fraglich. Es finden sich im Hippias (wie schon erwähnt) keine Anspielungen auf historische Ereignisse, die einer objektiven Datierung das Fundament geben könnten. Literarische Anspielungen auf bekannte zeitgenössische Autoren helfen uns auch nicht weiter. 72 Aber gibt es andere Untersuchungsansätze, die uns bei der zeitlichen Einordnung des Dialoges weiterhelfen? 3.3 Die relative Chronologie 3.3.1 Ergebnisse der sprachstatisch-stylometrischen Methode Auch die sprachstatistisch-stylometrische Methode hat bisher wenig sichere Ergebnisse gebracht. Als in der Forschung allgemein anerkanntes Ergebnis gilt die Einteilung der platonischen Dialoge in drei Gruppen (Frühdialoge, mittlere Dialoge und Spätdialoge), wobei die Grenze zwischen den ersten beiden Gruppen fließend ist und die Reihenfolge innerhalb dieser beiden Gruppen umstritten bleibt. 69 So S USEMIH l (1855), H ERRMANN (1839), S OCHER (1820), T ENNERMANN (1792), G ROTE (1865), U EBERWEG (1861), G OMPERZ (1902), W OLFF (1957) W UNDT (1945), S CHMALEN- BACH (1946), L EDGER (1989). Für eine Vordatierung treten I MMISCH (403. v. Chr. [1899]) und W OLFF (vor 405 v. Chr.) ein. 70 So U EBERWEG -P RAECHTER (1925) mit 386 v. Chr. und W ICHMANN (1966) mit 388 v. Chr. als terminus post quem non. 71 G AUSS , H ERMANN , Philosophischer Handkommentar zu den Dialogen Platos. Erster Teil, zweite Hälfte Die Frühdialoge, Bern, 198. 72 Auch wenn wir Anspielungen auf Antisthenes und die Abhänigkeit der Memorabilien sicher wüssten, so würde das auch keinen großen Beitrag für die Datierung leisten. Die Entstehungszeit des Antisthenes-Fragments und der Memorabilien ist ebenso fraglich wie die des Hippias. Beide - die Memorabilien wurden wohl mindestens 30 Jahre nach Sokrates’ Tod veröffentlicht - gäben auch keinen brauchbaren Terminus post quem non. 43 Die neuesten sprachstatistischen und stylometrischen Studien haben die Frage nach der Datierung und relativen Chronologie des Hippias Minor zwar nicht endgültig klären können, doch tendieren sie eher zu einer Frühdatierung. 73 So kam die schon im vorigen Kapitel zitierte Untersuchung von Ledger für den Hippias (unter dem Echthaltsvorbehalt) zum Jahr 399 v. Chr. als Entstehungszeit des Dialoges und rechnet ihn zu den frühen Schriften. Damit wäre der Hippias nach dem Lysis (400 v. Chr.) und dem Euthyphron (auch 399. v. Chr.) entstanden und würde in die Phase der Neunziger Jahre des vierten Jahrhunderts fallen, in der auch der Ion, Hippias Maior und Alcibiades I (alle 395 v. Chr.) sowie der Kriton (390 v. Chr.) verfasst wurden. 74 Ledgers Methode ist aber gerade - wie er selbst eingeräumt hat - für diese frühe Phase mit einem großen Unsicherheitsfaktor verbunden. Wir sollten uns nach weiteren Argumenten sehen, die diese (auch sonst in der Forschungsgeschichte geäußerte) Hypothese stützen. Da sich im Hippias keine Vor- oder Rückverweise auf andere Dialoge Platons finden, müssen wir wieder auf inhaltliche Kriterien bei der Beantwortung der Frage nach der relativen Chronologie zurückgreifen. Dabei kann es weder darum gehen, auf die unsichere Biographie Platons Bezug zu nehmen noch gar die psychische Entwicklung als Ausgangspunkt zu nehmen, sondern wir müssen - so gut es geht - den Hippias in die Entwicklung einer philosophischen Sachdiskussion situieren. Dazu werden wir uns im nächsten Kapitel mit der Stellung des Hippias Minor im platonischen Werk und seine Beziehung zu anderen Dialogen beschäftigen 3.3.2 Prolegomena zu einem philosophiegenetischen Chronologiemodell „Ausgangspunkt der philosophischen Entwicklung Platons ist seine Begegnung mit Sokrates und dessen Art, philosophische Fragen aufzuwerfen und Probleme zu diskutieren.“ 75 Von Sokrates heißt es, er habe als Erster die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt 76 , indem er sie dazu anwandte, Probleme zu reflektieren, die ihren Sitz im Leben der Menschen hatten: Wie soll ich als Bürger leben? Wie ist eine Polis gut zu regieren und 73 Einen nützlichen Forschungsbericht zu dieser Methode bietet L EONARD B RANDWOOD (Stylometrie and Chronology, in: The Cambridge Companion to Plato, hg. v. R ICHARD K RAUT , Cambridge 1992, 90-120). 74 Vgl. G ERHARD L EDGER , Re-counting Plato. A Computer Anaylsis of Plato’s Style, Oxford 1989, 218. 75 B ORDT , M ICHAEL , Platon. Lysis. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1998, 99. Die Prologomena referieren hier im Wesentlichen Bordt (ibid. S. 99-102), ohne das desweiteren kenntlich gemacht wird. 76 „Socrates autem primus philosophiam devocavit a caelo et in urbibus conlocavit et in domus etiam introduxit et coegit de vita et rebusque bonis et malis quaerere“ (Cicero, Tusc. V, 4, 10). 44 wie soll sich das Individuum im Konfliktfall zwischen der Loyalität gegenüber der Gemeinschaft und privaten Bindungen entscheiden? Wie soll man seine Kinder am besten zu guten Menschen und Bürgern erziehen? Diese vorphilosophischen Fragen führen zu zwei fundamentalen Fragen, die Platon in den frühen Dialogen diskutiert: Wie unterscheidet sich der Fachmann, der die Kompetenz hat, moralische Fragen zu beantworten, von dem Nichtexperten oder dem vorgeblichen Fachmann? Diese Frage ist vom Hintergrund der platonischen Auseinandersetzung mit den Sophisten zu verstehen, die diesen Kompetenzanspruch für sich erhoben. Die zweite Frage ist die nach der Definition eines moralischen Prädikats. Platon ist davon überzeugt, dass ein Konsens in der Beurteilung einer Handlung (bezüglich deren Gerechtigkeit) sich nur erreichen lasse, wenn wir zuvor definieren, was gerecht ist und also vorliegen muss, wenn wir die vorliegende Handlung mit diesem Prädikat beschreiben wollen. Diese beiden Fragen führen Platon zur zentralen Fragen nach dem, was das Gute ist. Wenn wir wissen, was das Gute ist, können wir auch den Experten vom vorgeblichen Fachmann unterscheiden: Der Experte in moralischen Fragen zeichnet sich gegenüber dem vorgeblichen Fachmann darin aus, dass jener über das Wissen um das Gute verfügt. Auch die Frage nach der Definition eines moralischen Prädikates lässt sich nur hinreichend klären, wenn wir wissen, was das Gute ist. So endet die Bestimmung der Besonnenheit im Charmides aporetisch, da zwar erkannt wird, dass das Besonnene gut ist, aber unklar bleibt, was das Gute ist. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Definition moralischer Prädikate steht auch Platons Ideenlehre. Den Ideen kommt eine doppelte Erklärungsfunktion zu: Sie erklären zum einen, was das ist, das verschiedene Handlung entweder besonnen, gerecht oder tapfer macht, und geben zum anderen Antwort auf die Definitionsfrage. Mit den Ideen führt Platon abstrakte Entitäten als Erklärungsmodell ein, ohne dabei eine metaphysische Theorie aufzustellen; solange die Ideen nicht infrage gestellt werden, gibt es keinen Grund, über epistemische und metaphysische Folgen nachzudenken. Erst im nächsten Schritt werden die erkenntnistheoretischen, metaphysischen und anthropologischen Konsequenzen dieser Theorie betrachtet: Welche Art von Existenz kommt Ideen zu? Wie können sie erkannt werden? Was bedeutet die Annahme solcher Entitäten für das Verständnis des Menschen und der Frage nach einem Leben nach dem Tod? Es wird allgemein angenommen, dass der Menon zu Beginn dieser Diskussion steht. Er beschäftigt sich einerseits mit den Fragen der klassischen Definitionsdialoge (Was ist Tugend? Ist Tugend lehrbar? Woraus muss eine gute Definition bestehen? ), gibt aber andererseits auch mit seiner Anamnesislehre Antwort auf die Frage nach der Identifizierungsmöglichkeit und -weise abstrakter Entitäten. Die Frage nach dem metaphysichen Status der Ideen wird auch in den späteren Dialogen Phaidon, Symposion und Politeia weiter vertieft. 45 3.3.3 Ein philosophiegenetisches Chronologiemodell des Hippias Minor Anhand dieser kurz skizzierten hypothetischen Darstellung der philosophischen Entwicklung Platons lässt sich eine Antwort auf die Frage nach der relativen Chronologie versuchen. Zunächst wird deutlich, dass im Hippias Minor keine epistemologischen oder metaphysischen Theorien diskutiert werden. Es geht zwar um den pseudēs und alethēs und somit um Wahrheit und Lüge, aber der Begriff der Wahrheit wird überhaupt nicht reflektiert, sondern im normalsprachlichen-logischen Verständnis vorausgesetzt: Eine Aussage P ist genau dann wahr, wenn sie den Tatsachen entspricht - oder um ein arithmetisches Beispiel aus dem Dialog aufzugreifen: Die Aussage 3 x 700 = 2100 ist wahr, wenn das Ergebnis dieser Multiplikation tatsächlich 2100 ergibt. Dieses normalsprachliche weitestgehend metaphysik-freie Wahrheitsverständnis findet sich beim frühen Platon. 77 Die pseudeis werden zwar als im hohen Maße wissend ( , 365e11) bezeichnet, doch wird der metaphysische und epistemische Status dieses Wissens nicht näher reflektiert. Aus dem Kontext wird aber ersichtlich, dass es sich bei diesem Wissen um das Expertenwissen der frühplatonischen Dialoge handelt, das es seinem Besitzer ermöglicht, sich kompetent auf seinem Fachgebiet zu äußern. Ein sehr wichtiger Vergleichspunkt für die chronologische Einordnung des Hippias Minor ist der Menon. Zum einen, da er als Übergangsdialog gilt, der die Frühphase abschließt, indem er die Kriterien einer gelungenen Definition auf methodisch hohem Niveau erörtert und mit den Ideen ein neues epistemisches Modell einführt. Zum anderen werden im Menon Definitionen, die auch im Hippias Minor auftauchen, untersucht. Im Menon wird die Frage „Was ist Tugend“ (71a7f.) behandelt und die Definitionen der Tugend als Fähigkeit oder als Wissen näher erörtert. Der Hippias Minor hat zwar nicht die Frage nach der oder einer Tugend als zentrales Thema, 77 Gegen Szaif, der den logischen Wahrheitsbegriff beim späten Platon verortet. Szaifs umfangreiche Studie, die wir später kurz referieren, krankt an dem Manko, dass er hauptsächlich nur mittlere und späte Dialoge herangezogen hat. So ist die These, Platon vertrete einen ontologisch-epistemisch Wahrheitsbegriff in den mittleren und einen logischen in den späteren, für einen frühen Dialog wenig aussagekräftig. Dem Einwand, den Hippias Minor aufgrund seines logischen Wahrheitsbegriffes in die spätere Werkphase Platons zu verorten, kann mit dem Verweis auf die fehlende Aussagekraft zu den frühen Dialogen begegnet werden. Zudem ist, wie noch darzustellen ist, der logische Wahrheitsbegriff der späteren Dialoge keine Revision, sondern eine Entfaltung des ontologisch-epistemischen Wahrheitsbegriffes und setzt diesen sogar voraus. Der logische Wahrheitsbegriff der späten Dialoge ist somit vom logischen Wahrheitsbegriff der Frühphase, der sich rein am normalsprachlichen Verständnis orientiert, verschieden. 46 doch wird auch dort die Tugend der Gerechtigkeit als dynamis, epistēmē oder die Kombination von beidem definiert (375d8ff.). Diese Definition wird dort ungeprüft akzeptiert und zur weiteren Argumentation herangezogen. Der Menon erörtert diese Definitionsvorschläge genauer. Bei seinem ersten Definitionsversuch schlägt Menon vor, dass die Tugend die Fähigkeit 78 sei, über Menschen zu herrschen ( ’ , 73c11). Sokrates kritisiert, dass diese Definition zum einen die Forderung nach Verallgemeinerbarkeit verletze, da die Tugend nicht für alle gleich sei (73d2ff.); zum anderen sei der Terminus der Fähigkeit ambivalent und tauge daher nicht als Definiens der Tugend (73d6ff.). 79 Im Unterschied zum Hippias Minor wird also im Menon die ethische Neutralität von dynamis klar herausgearbeitet und auf missverständliche Formulierungen, die eine funktionale Bewertung der dynamis ausdrücken (gut zu x), vermieden. Menon greift in seinem zweiten Definitionsversuch die sokratische Kritik der Ambivalenz auf, indem er Tugend als ein Streben nach dem Guten und die Fähigkeit, sich dieses zu verschaffen, bestimmt ( , 77b3f.). Nachdem Sokrates das Streben nach dem Guten als Ziel jeglichen Handelns aufgezeigt hat, widmet er sich dem zweiten Teil der Definition. Die Definition der Tugend als Fähigkeit, das Gute zu bewirken, führt zwangsläufig zur Frage, was das Gute ist. Der Rückgriff auf ceteris-paribus-Güter erweist sich dabei nicht als hilfreich, denn ihr Wert hängt von der Weise des Erwerbs ab und unterliegt somit ebenfalls der Beschreibung durch Einzeltugenden wie Gerechtigkeit oder Besonnenheit (78d1-79a2). Die Einzeltugenden sind Teil der Tugend und erklären daher auch nicht, was die Tugend ist, sondern nur dass jede Handlung, die mit ihnen einhergeht, tugendhaft ist (79b3-c9). Im Menon zeigt Platon, dass der Versuch einer Materialdefinition der Tugend als dynamis zum Scheitern verurteilt ist, so lange nicht geklärt wurde, was das Gute ist. Der Hippias Minor weist nur eine Formaldefinition der Gerechtigkeit als dynamis hin, wobei Gerechtigkeit materiell unbestimmt bleibt. 80 Eine Bestimmung der Gerechtigkeit führt zwangsläufig zur Frage nach dem Guten und dem Verhältnis der Einzeltugenden zueinander. Es erscheint unplausibel, dass Platon, nachdem er die Problematik einer Materialdefinition der (oder einer) Tugend durch eine dynamis untersucht hat, nochmals eine Tugend (wenn auch nur formal) unter Zuhilfenahme einer dynamis bestimmen würde. 78 Platon verwendet nicht durchgehend den Terminus dynamis, sondern variiert mit der semantisch gleichbedeutenden Phrase hoios te eimi. 79 Auch wenn die Fähigkeit zu herrschen mit Gerechtigkeit einhergeht, so ist sie dennoch keine Definition für die Tugend, da Gerechtigkeit nur ein Teil der Tugend ist. 80 Die Formaldefinition könnte lauten: Wer die dynamis der Gerechtigkeit hat, vermag gerecht (Werk) gegenüber Menschen (Gegenstandsbereich) zu handeln. 47 Auch der Versuch, eine oder die Tugend als epistēmē zu definieren, wird in späteren Dialogen durchgeführt und verworfen. Schon im Charmides scheitert der Vorschlag, Besonnenheit als Wissen seiner selbst zu bestimmen. Die Besonnenheit - so der Dialogpartner Kritias - ist daher ein Wissen, was man weiß und was nicht und die Fähigkeit (dynatos) 81 , andere zu beurteilen im Hinblick auf das, was sie tatsächlich oder vermeintlich wissen (167a1-4). Sokrates führt unter Annahme der Existenz eines solchen Wissens Kritias die paradoxen Konsequenzen vor Augen. Eine solche Erkenntnis hätte die Erkenntnis ihrer selbst sowie der anderen Erkenntnisse zum Gegenstand. Erkenntnis, so Sokrates weiter, ist immer eine Erkenntnis von etwas und steht immer in Relation zum Erkenntnisgegenstand. Ebenso sind auch Größen immer in Bezug auf etwas und somit relational aussagbar. Auf eine Größenrelation wie das Doppelte angewandt, müsste es etwas geben, das das Doppelte von den übrigen Doppelten und von sich selbst ist; das hieße, dass es zugleich auch die Hälfte von sich und den übrigen Doppelten ist, da es das Doppelte nur in Bezug auf die Hälfte geben kann. Eine solche Annahme erscheint paradox, aber Sokrates sieht damit die Definition noch nicht ad absurdum geführt, sondern will sie noch weiter im Hinblick auf den epistemischen Wert eines solchen Wissens untersuchen (169a6-b3). Sokrates problematisiert weiter, dass solch ein Wissen nichts über seinen Gegenstand aussagen kann. Die Gegenstände der einzelnen epistēmai erkennen wir durch die jeweilige Wissenschaft (wie z. B. das Gesunde durch die Heilkunst) und nicht durch die Besonnenheit. Durch die Besonnenheit wissen wir nicht, was wir wissen und was nicht, sondern dass wir wissen oder nicht (170d1-3). Dieses Wissen stellt sich für Sokrates als letztlich nutzlos heraus, da wir uns die Inhalte der jeweiligen Wissenschaft nur durch diese selbst zu verschaffen vermögen (wie die Gesundheit durch die Heilkunde) und für den Nutzen aus ihnen die Erkenntnis des Guten und Bösen primär ist, die sich aber von der Besonnenheit unterscheidet (174b7-d6). Der Charmides zeigt, dass eine Definition einer Tugend als epistēmē zum Scheitern verurteilt ist, solange unklar bleibt, was das Gute und Böse ist. Im Menon hält Platon sich auch nicht mehr mit der Problematik einer inhaltlichen Kritik der Tugenddefinition als epistēmē auf, sondern führt eine praktische reductio ad absurdum dieser Vorstellung vor. Sokrates wendet sich dabei von der Frage nach der Wesensdefinition ( ) zur Frage nach der Qualität ( ). Wenn die Tugend ein Wissen ist, so seine Hypothese, ist sie lehrbar (87b6f.). Auf der Suche nach potentiellen Lehrern der Tugend zeigt sich, 81 Bemerkenswert ist auch hier der Koinzidenz von Wissen und Fähigkeit. Man könnte sowohl sagen, die Fähigkeit folgt aus dem Wissen als auch Wissen und Fähigkeit bestimmen beide die Tugend der Besonnenheit, wie auch im Hippias Minor die Gerechtigkeit in der dritten Möglichkeit als Verbindung von dynamis und epistēmē definiert wird. 48 dass veritable Kandidaten wie angesehene Athener Politiker trotz (unterstellten) Bemühens erfolglos waren, die Tugend ihren Kindern zu vermitteln (92c2-e10). Zudem ist auch die Uneinigkeit in der Frage nach Lehrbarkeit der Tugend unter Sophisten und Dichtern ein weiteres Indiz für deren Unvermittelbarkeit (95b6-96a3). Sokrates kommt also zum Schluss, es gebe keine Lehrer für die Tugend und folglich sei die Tugend auch nicht lehrbar (96c1-10). Im Menon lässt Platon Sokrates mit dem Gedanken spielen, das Konzept einer Tugenddefinition durch epistēmē aufzugeben. 82 Für das richtige Handeln ist nicht mehr epistēmē notwendig, sondern eine richtige oder wahrscheinliche Meinung (doxa orthēs oder alēthēs) reicht aus. Erkenntnistheoretisch unterscheiden sich Wissen und Meinung darin, dass die Meinung nicht immer richtig ist. Das hat seine ontologische Ursache darin, dass nach der Anamnesislehre die Inhalte der Meinung flüchtig sind und erst durch das Aufweisen des Grundes gebunden werden ( , 98a3f.); diesen Vorgang nennt man dann die Erinnerung und als Erinnerung werden sie schließlich epistēmai und somit bleibend (97e2-98a8). Der Menon erweist als Übergangsdialog par excellence, in dem Platon die Probleme der frühen Phase differenziert diskutiert und mittels eines neu entwickelten metaphysischen Instrumentariums zu lösen versucht. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Platon grundlos den im Charmides und Menon verworfenen Versuch einer Tugenddefinition durch epistēmē in einem später verfassten Hippias Minor wieder aufgenommen haben sollte. Stattdessen ist die Vermutung viel wahrscheinlicher, Platon habe den Hippias Minor noch vor dem Menon und auch vor dem Charmides geschrieben. 83 82 Dabei handelt es sich aber nicht um eine ernste Kurskorrektur, denn in der Politeia wird der Gedanke wieder aufgegriffen, dass die Weisen aus epistēmē handeln. 83 Dieses Ergebnis bestätigt sich selbst unter der Annahme von der Authentizität des Hippias Maior. Die Ausgangsfrage des Dialoges ist die Definition des Schönen. In seinem zweiten Definitionsvorschlag bestimmt Sokrates das Schöne als das Brauchbare (295c3). Brauchbar wird als relationaler Ausdruck bestimmt, der angibt, wofür etwas brauchbar ist (295d8-e2). Die Fähigkeit, etwas zu verrichten, ist somit brauchbar, wozu sie fähig ist (295e7ff.). Daraus folgert Sokrates, dass die dynamis schön und die adynamis schändlich ist (295e11). Hippias pflichtet dieser Definition begeistert bei und fügt hinzu, dass auch im öffentlichen Leben der Besitz einer dynamis schön, deren Nichtbesitz aber schändlich sei (295e12-296a3). Diese Einschätzung, die den Besitz einer dynamis grundsätzlich positiv bewertet, stimmt mit der des Hippias Minor überein. Sokrates macht im Unterschied zum Hippias Minor einen entscheidenden Einwand und kritisiert die von ihm aufgestellte Definition mit dem Hinweis auf die Ambivalenz der dynamis. Denn auch die Fehlenden und unfreiwillig Schlechtes Verrichtenden und Tuenden ( , 296b6f.) handeln schlecht aufgrund ihrer Fähigkeit. Hippias erkennt das Problem und korrigiert hier selbst den Fehler: Das Schöne ist nicht alles Brauchbare oder jede Fähigkeit, sondern nur das zum Guten Brauchbare und nur die Fähigkeit zum Guten (296d4f.). Obwohl diese Definition auch verworfen wird, bleibt doch als wichtiger Erkenntnisgewinn, dass der Besitz einer Fähigkeit ambivalent ist und erst die Beziehung zum Guten über den Wert einer dynamis entscheidet. In diesem Punkt wird die Tugendde- 49 Fassen wir das Ergebnis dieses Kapitels zusammen: Der im Hippias Minor enthaltene Versuch eine Tugend - hier speziell die Gerechtigkeit - durch dynamis und/ oder epistēmē zu definieren, wird in den Dialogen Charmides und Menon als gescheitert verworfen. Wenn wir weiter davon ausgehen, dass Platon nicht erneut widerlegte Defintionen aufgreift - es sei denn, es sprächen sehr gute Gründe dafür, die hier allerdings nicht ersichtlich sind - dann muss der Hippias Minor chronologisch noch vor den beiden genannten Dialogen anzusiedeln sein. Eine genaue Datierung oder die Klärung der Frage, ob der Hippias Minor am Anfang des platonischen Werkes steht, lässt sich auf diese Weise allerdings nicht erreichen. finition (der Gerechtigkeit) durch dynamis wie im Hippias Minor problematisiert. Der Hippias Maior würde unter der Voraussetzung seiner Authentizität wie der Hippias Minor in die Reihe der frühen platonischen Dialoge vor dem Charmides und dem Menon gehören, in der dynamis als Definiens eines ethischen bzw. ästhetischen Wertes untersucht wird. 50 4. Das Lügner-Paradoxon Der Dialog Hippias Minor besteht aus zwei Argumentationssträngen, die jeweils in einem Paradoxon enden. Der erste Argumentationsstrang endet mit dem Paradoxon, dass der Lügner und der Wahrhaftige identisch sind. Um dieses Paradoxon richtig verstehen und somit auch den Dialog angemessen interpretieren zu können, müssen wir drei Fragen im Vorfeld klären: (1) Wie ist dieses Paradoxon in der philosophischen Debatte der damaligen Zeit situiert? (2) Welche Linien führen bei Platon zum Paradoxon? (3) Wo finden sich bei Platon ähnliche Paradoxa und wie löst er sie? 4.1 Die Identität des Wahren und der Lüge in den Dissoi logoi Für die Situierung des Paradoxons in der philosophischen Debatte dieser Zeit sind die Dissoi logoi eine wichtige Quelle. 84 Dieser kurze Traktat, der als Anhang zu den Schriften des kaiserzeitlichen Skeptikers Sextus Empiricus überliefert wurde und zwischen 404 und 390 v. Chr. entstanden ist 85 , versucht ohne besondere philosophische Originalität an verschiedenen aus aktuellen philosophischen Diskussionen hervorgegangenen Thesen beispielhaft zu zeigen, wie man für und wider eine Sache argumentieren kann. In neun Kapiteln werden systematisch pro- und kontra- Argumente für die Identität scheinbarer Gegensätze gegenübergestellt. Das vierte Kapitel behandelt die unserem Paradoxon ähnliche Frage nach der Identität oder Nichtidentität der Wahrheit und der Lüge. Zuerst werden der Identitätslogos (Die wahre Rede und die falsche sind dasselbe) und der Differenzlogos (Die wahre Rede und die falsche Rede sind verschieden) vorgestellt (1) 86 . Der Autor bekennt sich zum Identitätslogos und führt zwei Begründungen an: (a) Die Aussagen werden mit den gleichen Worten ausgedrückt ( , 2) (b) Dieselbe Aussage ist wahr, wenn sie sich so zugetragen hat, wie die Aussage schildert, und falsch, wenn sie sich nicht so zugetragen hat ( 84 Im Folgenden wird zitiert nach (der im deutschen Sprachraum neuesten Ausgabe der) Dissoi logoi. Zweierlei Ansichten. Ein sophistischer Traktat. Text-Übersetzung- Kommentar. Hrsg. von A LEXANDER B ECKER und P ETER S CHOLZ , Berlin 2004. 85 Zur Bestimmung des terminus ante quem und des terminus post quem unter Anführung der Forschungsliteratur s. Dissoi logoi, 16. 86 Die Zählung folgt der Zeilenzählung im vierten Kapitel in der Textausgabe von B ECKER und S CHOLZ . 51 , 2). Die Behauptung (a) lässt zwei Interpretationsmöglichkeiten zu: (i) Zwei Aussagen sind genau dann identisch, wenn sie aus synonymen Wörten zusammengesetzt sind. (ii) Zwei Aussagen sind genau dann identisch, wenn sie aus gleich lautenden Wörten zusammengesetzt sind. Becker und Scholz plädieren in ihrem Kommentar für die zweite Möglichkeit, da (i) einen von der Referenz (d.h. der Wahrheit oder Falschheit einer Aussage) unabhängigen Bedeutungsbegriff voraussetzt, der für die Philosophie des vierten und fünften Jahrhunderts nicht nachweisbar ist. 87 Das lexikalisch-phonetische Kriterium ist nicht das einzige, in (3) und (4) werden die Umstände als Bedingungen genannt, unter denen die Äußerungen gemacht werden. Der Satz (5) formuliert diese Abhängigkeit zusammenfassend: „Dieselbe Aussage ist wahr, wenn die Wahrheit bei ihr ist und falsch, wenn die Falschheit bei ihr ist ( ).“ 88 Mit der Relativierung des Identitätslogos auf die Umstände der Äußerung wird zugleich der Weg geebnet, auf dem Identitäts- und Differenzlogos vereinbart werden können. Denn der Identitätslogos trifft nur zu, insofern von der Relativierung von den Umständen einer Äußerung abgesehen wird. Aussagen der Form „p ist wahr relativ auf die Äußerungssituation x“ sind absolut wahr, was aber gerade die Unterscheidung der Eigenschaften „wahr“ und „falsch“ voraussetzt. 89 Der Autor konstruiert daraus ein Dilemma (6), in das die Vertreter einer absolut verstandenen Identitätsthese geraten: (i) Jeder Satz ist sowohl wahr als auch falsch. (ii) Wenn Satz (i) falsch ist, dann sind wahre und falsche Sätze nicht identisch. (iii) Wenn Satz (i) wahr ist, ist er zugleich falsch. Daraus ergibt sich weiter das Paradoxon, „wenn man weiß, daß eine bestimmte Person wahrhaftig ist, dann wäre sie auch lügnerisch ( 87 Vgl. Dissoi logoi, 96. Für das lexikalisch-phonetische Identitätskriterium verweisen Becker und Scholz weiter auf das in (4) herangezogene Beispiel: Verschiedene Personen machen die lexikalisch-phonetisch gleiche Äußerung aber nur einer unter ihnen sagt etwas Wahres, weil er ein Myste ist. 88 Becker und Scholz sehen in dieser Bemerkung einen Zusammenhang mit Platon, da hier von einer nominalisierten Eigenschaft gesprochen wird, die „bei“ den Dingen sein soll. Gleichzeitig räumen sie ein, dass nicht eindeutig entscheidbar sei, ob diese Formulierung aus dem sokratisch-platonischen Umfeld stamme oder philosophisches Allgemeingut gewesen sei, aus dem auch Sokrates und Platon geschöpft hätten. Zudem bietet sich noch eine dritte philosophisch schlichtere Lesart an, nach der in einer Aussage stets der durch sie beschriebene Sachverhalt enthalten sei. Dafür spricht das Beispiel in (5), in dem das Wort ,Mensch’ je nach Qualität des Referenten (Kind, Mann, Greis) verschiedene Bedeutungen annimmt und somit selbst seine Qualität ändert. Allerdings ist diese Lesart nicht auf falsche Sätze (und um die geht es ja) nicht anwendbar, da falsche Sätze auf keinen Sachverhalt referieren. Vgl. Dissoi logoi, 97. 89 Vgl. Dissoi logoi, 97. 52 , 6). 90 Das Resultat ist also die Identitätsthese von Lügner und Wahrhaftigem, wie sie der Hippias Minor vertritt. 91 Diese These erscheint aber als so abwegig, dass (i) fallengelassen wird und (7) wieder für einen Differenzlogos spricht, der als Wahrheitskriterium Tatbestand und Aussage hat. Die Sätze (8) und (9) lassen sich als weiteres Argument für den Differenzlogos verstehen. Dabei wird auf die forensische Praxis rekurriert, die ebenfalls vom Differenzlogos ausgehen muss. 92 Dem tut auch die prinzipielle Fallibilität der Gerichte keinen Abbruch (8), dennoch erkennen sie an, dass es eine Wahrheit gibt (9). Die Dissoi logoi sind ein starker Beleg, dass im fraglichen Entstehungszeitraum des platonischen Dialoges die Identitätsthese des Wahren und des Lügners Gegenstand lebhafter philosophischer Debatten war. Einen interessanten Brückenschlag zum Hippias Minor macht Max Pohlenz, der in der Verfasserfrage der Dissoi logoi für Hippias von Elis plädiert. 93 Dabei führt er folgende Gemeinsamkeiten des Autors der Dissoi logoi mit Hippias als Argumente an: (1) Der Autor der Dissoi logoi interessiert sich für die Betonung der Silben (5,11), wie es auch von Hippias berichtet wird. 94 (2) Der Autor der Dissoi logoi propagiert wie Hippias ein polymathes Bildungskonzept. Dabei legt er besonderen Wert auf die Kenntnis der Naturwissenschaften (8,1). 95 (3) Der Autor der Dissoi logoi zeigt eine besondere Hochschätzung für die Gedächtniskunst ( , 9,1), die als Erfindung des Hippias betrachtet wurde. 96 Diesen Punkt hält Pohlenz für das stärkste Indiz, da es ihm unwahrscheinlich erscheint, dass der selbstbewusste Sophist die Erfindung eines Konkurrenten preisen würde: „Näher liegt es doch gewiß, an 90 Darin liegt die eigentliche Crux für den Autor und nicht wie Becker und Scholz annehmen, dass im Fall (iii) eine Tautologie vorläge. 91 Auch die Formulierung ist ähnlich: (369b3f.). Während aber im Hippias für „lügnerisch“ und „wahrhaftig“ die substantivierten Adjektive stehen, greifen die Dissoi logoi beim „Lügner“ auf das Nomen zurück; beim „Wahrhaftigen“ gibt es keine Ersatzmöglichkeit durch ein Nomen und das Wort ist ein von Aristoteles geprägter Neologismus. 92 Der Rekurs auf die juristische Praxis kommt auch im Hippias Minor vor, wenn Hippias der sokratischen These, dass die vorsätzlichen Übeltäter besser seien als die unvorsätzlichen, das Vorgehen des Gesetzgebers entgegenhält, der eben jene härter bestraft (372a4f.). Diese Argumentation darf nicht als schwaches ad-hominem- Argument abgetan werden, sondern es ist zu berücksichtigen, dass das vorphilosophische Verständnis von Vorsätzlichkeit und Unvorsätzlichkeit (wie auch von Lüge und Wahrheit) stark von der juristischen Praxis bestimmt wurde, die ein praktisches Interesse an der Klärung dieser Begrifflichkeiten hatte. 93 P OHLENZ , M AX , Aus Platos Werdezeit, 76f. 94 Vgl. Hi. Mi. 368d. 95 Vgl. Prt 337d. 96 Vgl. Xen. Mem. 4, 62; Hi. Mi. 368d6f.; Hi Ma. 285e9f. 53 einen Schüler des Hippias zu denken oder - an Hippias selber.“ Dieses Argument hat Herwig Blum mit dem Hinweis kritisiert, dass die von Pohlenz herangezogenen Stellen Hippias nicht eindeutig die Erfindung der Mnemotechnik zusprechen, stattdessen aber viele Quellen Simonides als Erfinder anführen. 97 Dennoch stimmt Blum mit Pohlenz überein, dass die Dissoi logoi in vielen Punkten auf Hippias zurückgehen. 98 Wenn wir auch von der schwächeren Hypothese ausgehen, so erscheint es doch sehr plausibel, „daß Platon im kleinen Hippias an ein Problem anknüpft, das im Kreis des Hippias behandelt wurde.“ 99 Wenn wir weiter davon ausgehen, dass der antisthenische Hippias die Odysseus-Interpretation des historischen Hippias korrekt wiedergibt, so ergibt sich für die Genese dieses Dialogs folgende Vermutung: Platon greift zwei verschiedene Diskussionspunkte des historischen Hippias (die Frage der Identität oder Nichtidentität des Wahren und Falschen sowie die der Odysseus-Deutung) auf und verbindet sie geschickt in einem Dialog. 4.2 Das Denken in Gegensätzen bei Platon Die Zusammengehörigkeit von Gegensätzen wird von Platon an verschiedenen Stellen thematisiert. Dabei lässt sich zwischen einer ontischen und einer epistemischen Zusammengehörigkeit unterscheiden. Die ontische Zusammengehörigkeit besagt, dass Gegensätze nicht unabhängig voneinander existieren können. So sagt Sokrates im Phaidon, dass Lust ( ) und Schmerz ( ) zwar nicht zur selben Zeit zusammen existieren könnten, doch auch dass sie aufeinander verwiesen seien (60b3-7). Als explizite Aesop-Imitation erzählt Sokrates eine Fabel nach der (der) Gott die beiden Kriegsgegner, die er nicht aussöhnen konnte, an den Enden zusammengeknüpft habe, so dass man das eine nicht ohne das andere haben könne (60c1-5). Der mythologischen Darstellung des Zusammenhangs folgt eine philosophische Erklärung im Philebos (31b4-32b8), wonach Lust und Unlust zur Gattung des Gemischten gehören; kommt es im Lebendigen zu einer Auflösung der Harmonie, wird auch zugleich dessen Natur aufgelöst und Schmerz entsteht; wird die Harmonie und somit auch die Natur wieder- 97 B LUM , H ERWIG , Die antike Mnemotechnik (Spudasmata. Studien zur Klassischen Philologie und ihren Grenzgebieten. Hg. von Hildebrecht Hommel und Ernst Zinn, Band XV) Hildesheim u.a. 1969, 48f. 98 B LUM , Die antike Mnemotechnik, 49. C. Trieber kommt in seiner ausführlichen Untersuchung zu den Dissoi logoi, die noch weitere Argumente anführt, zu dem ausgewogenen Urteil: „Nach allen diesen Erwägungen spricht somit nur eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass Hippias der Verfasser der ist“ (Idem, Die , in: Hermes 27 (1892), 210-248, bes. 236-245, hier 244. 99 P OHLENZ , Aus Platos Werdezeit, 76. 54 hergestellt, so ist das mit Lust verbunden. Während also die ontische Zusammengehörigkeit Existenzbedingungen beschreibt, macht die epistemische Zusammengehörigkeit Aussagen über Erkenntnisbedingungen. Platon postuliert in den Nomoi als Erkenntnisprinzip „[…]überhaupt ein Gegensätzliches ohne seinen Gegensatz zu begreifen ist nicht möglich“ ( , 816d9-e1). Dieses Erkenntnisprinzip durchzieht die Dialoge und hat seinen Ursprung wohl bei Anaximander. Denn im Phaidon referiert Sokrates den ionischen Naturphilosophen, der davon ausgeht, dass der nous Ursache aller Dinge ist und diese bestens geordnet hat. Aus diesem ontischen Prinzip folgt das epistemische Prinzip, dass die Erkenntnis des Besten primär und dieselbe wie die des Schlechtesten sei (97c1-d5). So sagt Sokrates im Ion, dass derjenige, der den Kompetenten in einem Fach auch den Inkompetenten auf diesem Gebiet erkenne (531d11-532a1). Aus dem Wissen um eine Sache und ihr Gegenteil ergibt sich weiter die Fähigkeit zu beiden, worin der Kern des Paradoxons liegt. Dieser Gedanke ist vielleicht sogar genuin sokratisch. 100 Im Kriton, der als Frühwerk noch viel vom historischen Sokrates preisgibt, entgegnet Sokrates auf Kritons Mahnung vor der Macht der öffentlichen Meinung, dass es schön wäre, wenn die Menge das größte Übel zufügen könnte, da sie dann auch das größte Gut hervorbringen vermöchte ( ’ ’ , 44d6ff.). Dies gilt auch für ethisch indifferente Handlungen oder Fertigkeiten. Aristodemos berichtet am Ende des Symposions, Sokrates habe behauptet, dass derselbe Komödien und Tragödien zu dichten verstehe und hinsichtlich der technē sei der Tragödiendichter auch Komödiendichter ( , 223d3ff.). 101 100 Vgl. T RAGLIA , A NTONIO , Platone Ippia Minore, XIV, der die Kriton-Passage als Beleg wertet, dass Platon im Hippias stark vom historischen Sokrates abhängig ist. 101 Dass aber von dieser Fähigkeit nicht Gebrauch gemacht wird, führt Platon in der schon zitierten Nomoi-Passage zur Komödie aus: „beides zu betreiben ist ebenfalls nicht möglich, wenn jemand auch nur ein klein wenig an der Tugend teilhaben will. Sondern gerade deshalb muß man ja beides kennenlernen, um niemals aus Unkenntnis etwas Lächerliches zu sagen, wo es nicht gehört“ (VII 816e2-6). Diese Stelle kann geradezu als paradigmatisch angesehen werden: Dort wird erstens Fähigkeit ( ) deutlich von Handlung ( ) unterschieden. Zweitens wird erklärt, warum dieselbe Person die gegensätzlichen dynameis haben muss ( ), da sie sonst aus Unkenntnis ( ) versehentlich falsch handeln könnte. 55 4.3 Paradoxa bei Platon „Platon hat an diesem Schluß Freude gehabt“, so kommentiert Wilamowitz unter Anführung von Passagen aus dem Phaidros (262a) und der Politeia (334a) das Lügner-Paradoxon im Hippias Minor. 102 Im Phaidros sieht Sokrates die Kenntnis der Wahrheit als Grundbedingung für die Rhetorik. Damit widersetzt er sich der These des Phaidros, der Redner müsse nicht die Wahrheit kennen, sondern nur was die Hörer für plausibel halten (260a2-5). Sokrates führt als Einwand ein hypothetisches Konstrukt an, was passieren kann, wenn alleiniger Orientierungsmaßstab die Plausibilität ist. 103 Denn wenn Redner und Hörer beide nicht wissen, was für den Staat nützlich ist, und der Rhetor nur auf das zurückgreift, was beiden (unabhängig von der Wahrheit) plausibel erscheint, dann kann es passieren, dass ein schädlicher Beschluss gefasst (vgl. 260c6-d2) wird. Mit Sicherheit vermeiden lässt sich das nur, wenn also nicht der Anschein, sondern die Wahrheit dessen, was nützlich ist, als Richtschnur fungiert. Der Redner muss also über seinen Gegenstand Bescheid wissen, will er nicht versehentlich sich und andere täuschen. Diese Forderung wird dadurch noch verschärft, indem Sokrates die Irreführung als Ziel der Rhetorik bestimmt. 104 Irreführung ( , 261e7) 105 ist aber nur da möglich, wo 102 W ILLAMOWITZ , Platon, Anm. 1 S.137. 103 Vgl. H EITSCH , E RNST , Platon. Phaidros. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1993, 127. 104 „ […] jedes Ding jedem, dem es möglich ist, allem möglichen ähnlich darzustellen, und was ein anderer verbirgt, ans Licht zu bringen ( ’ , 261e3ff.). Dass Sokrates hier die Irreführung als Ziel bestimmt, ist merkwürdig - dieses unsokratische Verhalten hat im Fall des Hippias Minor viele dessen Echtheit anzweifeln lassen - und erklärungsbedürftig. H EITSCH stellt vier Erklärungsmöglichkeiten vor: (1) bedeutet nicht Irreführung, sondern Rechtleitung. (2) Platon will den intelligenten Leser zum Nachdenken provozieren. (3) Es ist ein ad hominem-Argument in der Diskussion mit der konventionellen Rhetorik, dass sie selbst vom Hintergrund ihres Ziels der Täuschung trotzdem Interesse an der Wahrheit haben muss. (4) Platon hat nicht aufgepasst und sich von seiner abschätzigen Meinung über die Rhetorik, die er seit dem Gorgias vertritt, leiten lassen. Nach Diskussion der einzelnen Möglichkeiten optiert H EITSCH für (4), wobei er einräumt: „Zweifel daran, daß Platon so etwas passieren konnte, scheinen nahezuliegen[…] (H EITSCH , E RNST , Dient die Rhetorik nur der Täuschung, in: ders. Wege zu Platon. Beiträge zum Verständnis seines Argumentierens, Göttingen 1992, 117-126, bes. 124ff.). H EITSCH hat m. E. die Möglichkeiten (2) und (3) nicht genug gewürdigt. 105 Weitere Formen dieser Wurzel finden sich in und (262a5f.), (262b2), (262b6). Dieses Schlüsselwort wird 56 Ähnlichkeit besteht (261e7-262a1). Der Vorgang der Irreführung geschieht also da am besten und unbemerkt, wenn man in kleinen unscheinbaren Schritten 106 ( , 262a2) zum Gegenteil (der Wahrheit) gelangt. Wer also täuschen und nicht getäuscht werden will, muss die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der Dinge genau kennen, um sie für sich in den Dienst der Rhetorik zu stellen (262a5-b9). Das Paradoxon im Hippias Minor und die Passage im Phaidros haben gemeinsam, dass die Voraussetzung der Täuschung (bzw. Lüge) Wissen (um die Wahrheit) ist. Diese Voraussetzung mag trivial erscheinen, hat aber im Phaidros ihre Bedeutung in der Auseinandersetzung mit der sophistischen Plausibilitätslehre, die von der Wahrheitsfrage völlig dispensiert. Im Unterschied zum Phaidros behauptet Sokrates im Hippias Minor nicht nur, dass derjenige, der lügt, auch die Wahrheit kennt, sondern vielmehr wird aus dieser Voraussetzung der paradoxale Schluss gezogen, dass der Lügner und der Wahrhaftige identisch sind. Größere Gemeinsamkeiten mit dem Hippias Minor weist dagegen das Paradoxon in der Politeia auf, in dem der Gerechte ein Betrüger ist. Im ersten Buch der Politeia diskutieren Sokrates und Polemarchos die Frage nach der Gerechtigkeit. Ausgehend von einem Simonides-Zitat definiert Polemarchos die Gerechtigkeit als das „einem jedem Schuldige zu leisten“ ( , 331e4f.). Auf die Frage des Sokrates, ob dies auch für Feinde gelte, erklärt Polemarchos, dass mit dem Schuldigen das Gebührende ( , 332c2) gemeint sei. Da aber den Freunden Gutes und den Feinden Böses gebührt, kommt Polemarchos durch Einsetzung in die Formel des Simonides zu einer erweiterten Definition der Gerechtigkeit: Freunden Gutes zu tun und Feinden Böses ist Gerechtigkeit ( , 332d7f.). Sokrates untersucht nun, worin der Nutzen der Gerechtigkeit für die Freunde bestehen könnte. Was ist also die Tätigkeit und der Bereich, in dem das Gerechte nützlich ist? Polemarchos erster Versuch einer Bereichsbestimmung, dass die Gerechtigkeit im Krieg nützlich ist (332e5), wird von Sokrates mit der Folgerung aus dem Arzt-Beispiel auch von Hippias gebraucht, wenn er die als […] (365d9) definiert. 106 Die Beobachtung, dass der Redner unter Ausnutzung der Ähnlichkeit in möglichst kleinen Schritten sein Argumentationsziel erreichen kann, wird bei Platon auch anderweitig (wenn auch in negativer Hinsicht) zur Sprache gebracht. So wird Sokrates im Hinblick auf sein Vorgehen getadelt: „O Sokrates, hiergegen wäre kein Mensch imstande dir etwas einzuwenden. Allein dieses begegnet jedes Mal denen, welche hören, was du jetzt sagst: sie glauben aus Unerfahrenheit im Fragen und Antworten bei jeder Frage um ein wenigiges abwärts geführt zu werden, so daß, wenn alles dieses Wenige zusammengekommen ist, am Ende des Gespräches ein großer Irrtum zu Vorschein kommt und etwas dem ersten ganz Entgegengesetztes“ (487a9-b6). 57 widerlegt, dass die Gerechtigkeit dann im Frieden unnütz sei (333a1), da auch der Arzt für den Gesunden keinen Nutzen biete. Polemarchos schlägt in einem neuen Versuch Verhandlungen ( , 333a13) als Bereichsbestimmung der Gerechtigkeit vor. Da Polemarchos nach Rückfrage von Sokrates unter Verhandlungen Gemeinschaften versteht, stellt sich die Frage, für welche Gemeinschaften und auf welche Weise die Gerechtigkeit nützlich sein soll. Sokrates und Polemarchos kommen überein, dass es nur für die gemeinschaftliche Geldverwahrung gilt, denn für eine Investition bräuchte es die Fachkenntnisse eines Experten auf dem jeweiligen Gebiet. Sokrates kommt dadurch zu der Folgerung, dass Gerechtigkeit für jedes Ding, wenn es genutzt wird, unnütz, wenn es nicht genutzt wird, aber nützlich ist (333d11f.). Damit es nicht bei dieser paradoxalen Folgerung bleibt, nach der die Gerechtigkeit, die allgemein als wichtig angesehen wird, unnütz ist, interveniert Sokrates mit einer neuen Bereichsbestimmung für die Gerechtigkeit. Er greift dabei auf das Beispiel eines Ringkämpfers zurück, bei dem der Geschickteste Schläge abzuwehren auch derjenige ist, Schläge auszuteilen (333e3f.). Sokrates überträgt dieses Beispiel auf den Wächter, so dass der fähige Wächter auch ein fähiger Dieb ist ( , 334a5). Für den Gerechten folgt daraus eine positive Bereichsbestimmung, nach der er nicht nur fähig ist, Geld zu verwahren (und somit nichts aktiv zur Geldvermehrung beizutragen versteht), sondern auch ebenso fähig ist, Geld zu stehlen (und somit Geld zu „erwerben“ versteht) ( , 334a7). Der Gerechte ist also ein kleptēs und die Gerechtigkeit eine kleptikē zum Nutzen der Freunde und zum Nachteil der Feinde (334a10-b5). Polemarchos lehnt diese Schlussfolgerung ab, räumt aber gleichzeitig ein, keine Gegenargumente vorbringen zu können (334b6f.). 107 Da er aber weiterhin darauf besteht, dass die Gerechtigkeit den Freunden nutze und den Feinden schade (334b7f.), wendet sich Sokrates der Bestimmung der Ausdrücke „Freund“ und „Feind“ sowie „schädigen“ zu. Die Folge des Schädigens ist, dass der Geschädigte schlechter ( , 335b6) wird, d.h. geschädigte Menschen werden schlechter im Hinblick auf die Tugend (335c2). Da es aber ein Widerspruch in sich wäre, wenn die Gerechtigkeit jemanden ungerechter machen würde, kann das Wesen der Gerechtigkeit nicht im Schädigen der Feinde bestehen, sondern eher im Gegenteil darin, die Feinde zu bessern (334c14-d8). 107 W ILAMOWITZ bemerkt zu dieser Stelle: „Aber dann entsetzt sich der Unterredner über diese Folgerung, so daß er seine Behauptung aufgibt, die zu ihr geführt hat. Das macht den Gegensatz der Stimmung im Hippias sehr deutlich“ (W ILAMOWITZ , Platon, 137 Anm. 1). Sokrates gibt aber seine Behauptung nicht auf, da der Diskussionspartner sein Missfallen ausdrückt, sondern er wird später durch eine neue Wesensbestimmung der Gerechtigkeit das Paradoxon auflösen. 58 Wie im Hippias Minor alethēs und pseudēs im Hinblick auf verschiedene technai untersucht werden, so wird in der Politeia der diakios mit einer technē (der Geldverwaltung) in Beziehung gesetzt. Wie im Hippias Minor so ist auch in der Politeia auf dem Gebiet der technē die dynamis ausschlaggebend, die ambivalent einsetzbar ist. Im Unterschied zum Hippias kommt es im Paradoxon der Politeia zu keiner Identifikation von dikaios und kleptēs; wohl ist der dikaios ein kleptēs, der Umkehrschluss wird nicht gezogen. 108 Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass dikaios und kleptēs relational (und nicht absolut wie im Hippias) gebraucht werden: Der diakaios ist ein kleptēs gegenüber den Feinden. Der Hauptunterschied liegt aber in der Auflösung des Paradoxons, die die Politeia im Gegensatz zum Hippias Minor bietet. Wenn nämlich der Gerechte niemanden schädigt, dann wird auch das Paradoxon, das der Gerechte ein Betrüger zum Nachteil der Feinde ist, hinfällig. Die Politeia kann (und muss vielleicht sogar) die Lösung des Paradoxons bieten, da dieses im Zusammenhang der Gerechtigkeitsdebatte steht. Der Hippias Minor könnte also innerhalb einer größeren Debatte situiert werden, die auch in der Politeia geführt wird. 108 Aber auch hier müsste eine Identität hinsichtlich der dynamis vorliegen. Denn wie der diakaios weiß, wie er das Geld vor Nachstellungen schützen muss, so weiß auch der Urheber dieser Nachstellungen, der kleptēs, wie er diesen vorbeugen kann. 59 5. Das Übeltäter-Paradoxon Das zweite Paradoxon im Hippias Minor, das aus dem Lügner-Paradoxon abgeleitet wird, besagt, dass derjenige besser ist, der absichtlich Unrecht tut, als der, der es unabsichtlich tut. Für dieses Paradoxon findet sich eine interessante Parallele in Xenophons Memorabilien (4.2.19f.), deren Vergleich mit dem platonischen Hippias für das Verständnis des Dialogs sehr aufschlussreich ist. 5.1 Die Argumentation im Kontext Im vierten Buch seiner apologetisch ausgerichteten Memorabilien legt Xenophon dar, wie sich der Umgang mit Sokrates für die Betreffenden als nützlich erweist. 109 Das zweite Kapitel dieses Buches erweist sich dabei geradezu als Bekehrungsbericht, der die Hinwendung des Euthydemos zur Philosophie und zum Schülerkreis des Sokrates erzählt. Euthydemos wird als junger Mann mit großen politischen Avancen (4.2.1; 3) geschildert, der auf Unterweisung verzichten zu können glaubt, um so mehr als Selfmademan zu erscheinen (4.2.4). Er verlässt sich stattdessen auf seine umfangreiche Bibliothek, deretwegen er sich seinen Altergenossen im Wissen überlegen zu sein glaubt (4.2.1), und vermeidet besonders das Gespräch mit Sokrates (4.2.3). Sokrates, der die Auffassung vertritt, dass die Staatskunst nur von einem guten Lehrer erlernt werden kann (4.2.2; 6f.), möchte Euthydemos von seiner falschen Meinung abbringen (4.2.4) und versucht mit diesem in den Dialog zu treten. Nach anfänglich schwieriger Kontaktaufnahme gelingt es Sokrates, Euthydemos in ein Gespräch über die Tugend zu verwickeln. Deren Voraussetzung ist die dikaiosynē. Als Euthydemus bejaht, dass er über diese verfüge und zumindest nicht weniger gerecht sei als andere, beginnt Sokrates die Bestimmung der Gerechtigkeit einzuleiten (4.2.12). Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit werden von Sokrates mit Zustimmung von Euthydemos als technai verstanden, die sich jeweils durch ihr spezifisches Werk auszeichnen. Wer also über Gerechtigkeit (diakaiosynē) und Ungerechtigkeit (adikia) Bescheid wissen will, muss ihre Werke kennen. Sokrates schlägt vor, eine zweispaltige Liste aufzustellen, in der von Euthydemos die von Sokrates genannten Werke verzeichnet werden 109 Die Memorabilien zerfallen in einen apologetischen Teil (Kap. 1 und 2 des I. Buches), der Sokrates gegenüber seinen Verleumdern in Schutz nimmt, und einen apomnemoneumatischen Teil, der Sokrates’ philosophisches Wirken als Bereicherung für die Betreffenden darstellt. Zum Aufbau vgl. E RBSE , H ARTMUT , Die Architektonik im Aufbau von Xenophons Memorabilien, in: Hermes 89 (1961), 257-287. 60 sollen (4.2.13). Bei diesem Versuch einer Extensionsbestimmung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit will Euthydemos das Lügen ( ), Betrügen ( ), Stehlen ( ) und Versklaven ( ) unter die Werke der adikia verbucht wissen. Auf den Einwand von Sokrates, dass diese Handlungen, von einem Feldherrn gegen Feinde verübt, gerecht seien (4.2.15), wird die erste Differenzierung gemacht. Danach kommt es auf das Objekt der Handlung an und es muss zwischen Freund und Feind unterschieden werden (4.2.16). Damit plädiert Sokrates für die Relativität von Werten im Rahmen einer Freund-Feind- Ethik. 110 In einer weiteren Differenzierung wendet sich Sokrates dem Subjekt der Handlung und dessen Intention zu. Die konstruierten Fälle, in der die Lüge des Feldherrn zur Stärkung der Truppenmoral, der Betrug durch Medikamentenbeimischung ins Essen bei einem kranken Kind und das Stehlen des Schwertes bei einem depressiven Freund nicht ungerecht sind 111 , lassen Euthydemos das erste Homologoumenon revidieren (4. 2.17). Nicht das Objekt einer Handlung ist entscheidend für deren Beurteilung, sondern die ihr zugrunde liegende Intention. Sokrates untersucht weiter die Bedeutung der Intention für die Beurteilung einer Handlung und kommt dabei zu Vorsätzlichkeit und Unvorsätzlichkeit einer Handlung. In diesem Zusammenhang stellt er die Frage, wer von denen, die ihre Freunde zum Nachteil betrügen, ungerechter handle, der es vorsätzlich oder der unvorsätzlich tue ( […] , 4.2.19). Euthydemos hat zwar seine anfängliche Selbstsicherheit verloren ( , 4.2.19), urteilt aber, dass ungerechter der handle, der es vorsätzlich tue. Sokrates argumentiert dagegen folgendermaßen: 1. Es gibt eine Lehre ( g ) und ein Wissen ( g g ) vom Gerechten wie von der Orthographie. 2. Schreibkundiger ( ) ist derjenige, der vorsätzlich falsch schreibt als der, der es unabsichtlich tut. 110 Vgl. die Gerechtigkeitsdefinition von Resp. I 332a9f., nach der es gerecht sei, jedem das Seine zu geben, weshalb man den Freunden Gutes und den Feinden Böses schulde. Sokrates wird später zu einer Korrektur dieser Auffassung beitragen und zeigen, dass Gerechtigkeit niemandem schadet (vgl. Resp. I. 335c12-e7). 111 Vgl. Dissoi logoi 3, 3-5. Dort argumentiert der Verfasser für die Identität des Gerechten und Ungerechten, indem er Beispiele bringt, in denen es gerecht ist zu lügen, zu stehlen und zu versklaven: So sei es gerecht, die Eltern zu belügen, wenn sie das nötige Heilmittel verweigerten und es ihnen heimlich ins Essen zu mischen, einem depressiven Angehörigen Schwert oder Strick zu entwenden und Feinde zu versklaven. Die Beispiele sind fast gleich, ohne dass man irgendeine Beziehung zwischen beiden Schriften annehmen müsste. Es ist zu vermuten, dass diese fingierten Fälle als Paradebeispiele für die Relativität von als absolut betrachteten moralischen Normen herangezogen wurden. 61 3. Um das Gerechte besser Bescheid weiß derjenige, der vorsätzlich Unrecht tut, als der, der es unvorsätzlich tut. 4. Gerechter ( ) ist derjenige, der um das Gerechte weiß als der, der es nicht weiß. 5. Also ist derjenige gerechter, der vorsätzlich Unrecht tut, als der es unvorsätzlich tut. Die Prämisse (1) resultiert aus dem technē-Verständnis der Gerechtigkeit (vgl. 4.2.13), da es auch für jede technē eine Lehre und ein Wissen gibt. Die Prämisse (2) räumt Euthydemos unter Rekurs auf die dynamis ein, da der Schreibkundigere richtig schreiben könnte, wenn er wollte ( , 4.2.20). Der Satz (3) ist eine Anwendung von Prämisse (2). Der Satz (4) ergibt sich aus dem epistēmē- Verständnis von Gerechtigkeit, so dass aus (3) und (4) die Konklusion (5) folgt. Euthydemos kann den Schluss nachvollziehen, ist sich aber nicht sicher, ob er das Gesagte richtig verstanden hat ( ’ , 4.2.20). Sokrates gibt ein neues Beispiel, wie ohne Wissen eine beabsichtigte Handlung nicht stattfindet: Wer die Wahrheit über einen Gegenstand sagen will und dazu widersprüchliche Aussagen macht, weiß nichts über diesen Gegenstand und kommt so seiner Absicht nicht nach (4.2.20). Dieses Nichtwissen, die fehlende sophia und die damit einhergehende amathia, die sich aber nicht auf die gewöhnlichen technai beziehen (4.2.22) 112 , machen die Menschen zu Sklavenseelen (4.2.21). Euthydemos ist an diesem Punkt zu einer großen Aporie gelangt. Er sieht ein, dass seine bisherige Art, Wissen zu erlangen ( ), ihm nicht hilft, auf die essentiellen Fragen zu antworten ( ), aber er weiß keine Weise zu besserem Wissen zu gelangen (4.2.23). Euthydemos räumt seine Unwissenheit auch auf diesem Gebiet ein und verlässt Sokrates voller Selbstverachtung ( ) und im Glauben, eine Sklavenseele zu sein ( ; 4.2.39). Am Ende des Gespräches gelangt Euthydemos zur Einsicht, dass nur der philosophische Umgang mit Sokrates ihn zu einem tüchtigen Menschen machen könne ( , 4.2.40). 112 Vgl. Hp.Mi. wo der amathēs dem sophos und dynatos in einem Bereich entgegengesetzt wird. So hat Hippias als sophos im Rechnen die dynamis, immer wenn er will zu lügen, während der amathēs auf diesem Gebiet über jene Fähigkeit nicht verfügt, da er potentiell immer dem Irrtum unterworfen ist (vgl. 366e6-367a4). 62 5.2 Die Argumentation von Mem. 4.2. und Hippias Minor im Vergleich Zuerst fällt die Verschiedenheit der Dialogpartner Hippias und Euthydemos auf. 113 Während Euthydemos noch ein junger Mann ist, der wegen seiner Jugend keinen Zutritt zur Volksversammlung hat (4.2.1), steht mit Hippias ein bekannter Sophist und erfolgreicher Diplomat auf dem Höhepunkt seines Wirkens mit Sokrates im Gespräch. Sowohl Hippias als auch Euthydemos zeichnen sich durch einen agonistischen Impetus aus. Im Unterschied zu Euthydemos, der bis jetzt nur große Pläne hat, hat Hippias sich auf verschiedenen Gebieten ausgezeichnet. 114 Beide haben ein großes Interesse an den Dichtern und besonders an Homer. Doch während sich dieses Interesse bei Euthydemos auf die Sammlung von Büchern und die Absicht aus ihnen zu lernen beschränkt, tritt Hippias als Lehrer und ausgewiesener Homer-Kenner auf. 115 Diesem Unterschied der Dialogpartner trägt auch die unterschiedliche Intention der Gespräche und das ihnen zugrunde liegende genus litterarium Rechnung. Die Memorabilien 4.2 sind ein Bekehrungsbericht, die die Erkenntnis der eigenen Unwissenheit eines jungen Mannes und seinen Weg zur Philosophie schildern. Aus diesem Grund ist es auch Sokrates, der mit Euthydemos in ein Gespräch treten und ihn seines Scheinwissens überführen will. Das Übeltäterparadoxon gehört dabei zu einer Reihe von Fragen aus dem Themenkomplex Gerechtigkeit, mit denen Euthydemos von Sokrates konfrontiert wird und die ihn Stück für Stück seine Unwissenheit einsehen lassen. Im Hippias begegnet Sokrates dem Homer-Experten Hippias nach einem Vortrag und stellt ihm literaturästhetische Fragen zu Ilias und Odyssee, in deren Verlauf sich auch das Übeltäterparadoxon ergibt, das organisch aus dem Lügner-Paradoxon entwickelt wird. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass Sokrates von vornherein Hippias seiner Unwissenheit überführen will, sondern man muss eher annehmen, dass Sokrates Hippias’ Wissensanspruch ernst nimmt und ihn daher einer Prüfung unterzieht. Es gibt drei Gemeinsamkeiten in der Argumentation des Übeltäter- Paradoxon zwischen den Memorabilien und dem Hippias: (1) Das epistēmē- Verständnis von Gerechtigkeit. In den Memorabilien wird gleich zu Beginn der Argumentation eine epistēmē vom Gerechten postuliert 116 , während im Hippias das Verständnis von Gerechtigkeit als epistēmē erst bei der Überprü- 113 J OHN P HILLIPS stellt vor allem diesen Unterschied bei den Personen in seinem Aufsatz Xenophon’s Memorabilia 4.2 (Hermes 117 [1993], 367-37) heraus. 114 Vgl. Hp.Min. 364a7ff; Mem. 4.2.1. 115 Vgl. Mem.4.2.1; 10; Hp. Mi. 363a7. 116 Vgl. Mem. 4.2.20. 63 fung der These expliziert wird. 117 (2) Das dynatos-Verständnis vom Gerechten. Dies ist Folge aus dem Zusammenhang von epistēmē und dynamis. Im Hippias wird dynamis und sophia als Voraussetzung für den Lügner (und somit auch für den Übeltäter) bestimmt. 118 In den Memorabilien erkennt Euthydemos richtig, dass der bessere Orthograph derjenige ist, der falsch schreibt, wenn er will, da er die dynamis (und auch die epistēmē) hat richtig zu schreiben. 119 (3) Die Identifikation von dynatos und hekōn. Nur der dynatos handelt hekōn, da er über die nötige epistēmē verfügt. Der amathēs könnte akōn bei der Lüge die Wahrheit sagen, da ihm die dynamis abgeht. 120 Der vorsätzliche Falschschreiber ist der bessere Orthograph, da er die dynamis hat richtig zu schreiben, wenn er will. Aus diesem Zusammenhängen folgt in beiden Passagen, dass der Gerechte vorsätzlich Unrecht tut. Während im Hippias dieses Paradoxon fraglich bleibt und der Dialog in der Aporie endet, findet sich in den Memorabilien keinerlei Einschränkung dieser ungeheuerlichen These. Eine Erklärung dafür und gleichzeitig die Lösung der Frage, ob es den Gerechten, der vorsätzlich unrecht tut, gibt, findet sich in Memorabilien 3.9.5: „Er [sc. Sokrates] meinte auch, die Gerechtigkeit und alle sonstige Tugend sei Wissen (Weisheit); denn das Gerechte und alles, was an Handlungen aus der Tugend, sei schön und gut. So könnten weder die, welche dies wüssten, anstattdessen etwas anderem den Vorrang geben, noch könnten die, welche dies nicht wüßten, entsprechend handeln, sondern wenn sie es auch versuchten, so gingen sie dabei fehl.“ 121 In dieser höchst aufschlussreichen Passage vertritt Sokrates die Lehre, dass niemand wissentlich ungerecht handeln könne, da dem Guten und Schönen, das mit der gerechten Handlung einhergeht, eine solche Attrakti- 117 Vgl. Hp. Mi. 375d8-376a5. Dabei wird im Hippias offen gelassen, ob die dikaiosynē genau eine epistēmē oder dynamis oder beides ist. Der Zusammenhang von dynamis und epistēmē (niemand kann dynatos sein ohne auch sophos zu sein) kommt aber in der ganzen Diskussion deutlich heraus. Phillips ist also im Unrecht, wenn er behauptet, dass im Gegensatz zu den Memorabilien Sokrates im Hippias die Gerechtigkeit niemals mit den anderen technai auf eine Stufe stelle (Xenophon’s Memorabilia 4.2, 370). Das Übeltäterparadoxon wird im Hippias Minor induktiv mit Beispielen aus den technai und epistemai bewiesen (375c1ff.). Die Gerechtigkeit wird anschließend zwar nur als epistēmē und/ oder dynamis expliziert, da technai als praktische epistemai verstanden und somit nicht extra aufgeführt zu werden brauchen. 118 Vgl. Hp. Mi. 366d6-9. 119 Vgl. Mem. 4.2.20. 120 Vgl. Hp. Mi. 367a1-4. 121 Zit. nach Xenophon. Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von P ETER J AERISCH , mit Literaturhinweisen von R EINER N ICKEL , Düsseldorf/ Zürich 2003. 64 vität inhärent ist, dass diese der Wille auch nicht ablehnen kann. Diese hier gebotene Lösung wird uns noch für den Hippias Minor weiter beschäftigen. Besteht eine literarische Abhängigkeit zwischen den beiden Stellen und wenn ja, in welcher Form? Gibt uns diese Argumentation darüber hinaus einen Einblick in die Lehre des historischen Sokrates? 5.3 Die Abhängigkeit der Memorabilien 4.2 vom Hippias Minor und dem historischen Sokrates Wenn wir die Abhängigkeitsfrage untersuchen wollen, müssen wir zuvor einen Blick auf die Datierung der Memorabilien werfen. 122 Eine genaue Datierung ist sehr schwierig und unsicher, doch tendiert die Forschung, die Abfassungszeit mindestens dreißig Jahre nach Sokrates’ Tod anzusetzen. 123 Wenn zwar auch die genaue (auch von uns vorgeschlagene) Datierung des Hippias Minor unsicher bleibt, so ist doch mit großer Wahrscheinlichkeit eine so späte Entstehung auszuschließen und dem Hippias die Priorität zuzubilligen, so dass eine Abhängigkeit - wenn sie denn besteht 124 - nur der xenophontischen Schrift vom platonischen Dialog und nicht umgekehrt gegeben sein kann. 125 Für eine Abhängigkeit der Memorabilien-Perikope 4.2.19ff. von Platon argumentiert H EINRICH M AIER unter Verweis auf Allusionen an einzelnen Wendungen. 126 Maier kommt dabei zu dem Ergebnis: 122 Wir übergehen die Theorie der Schichtenchronologie, die die Memorabilien als eine Ansammlung (von sukzessive veröffentlichten) Einzelschriften betrachtet. Nach T HEODOR M ARSCHALL , einem Vertreter dieser Theorie, ist das 4. Buch der Memorabilien, das seiner Meinung nach am meisten feste Geschlossenheit in Form und Inhalt zeigt, noch vor dem Großteil des Werkes geschrieben worden. 123 So H EINRICH M AIER (Sokrates, S. 71 Anm. 2), der E DUARD S CHWARTZ folgt (Charakterköpfe aus der antiken Literatur. Erste Reihe. Fünf Vorträge, 4. Aufl. Berlin 1912, 51). T HEODOR M ARSCHALL (Untersuchung zur Chronologie der Werke Xenophons, München 1928, 51) nennt als genauere Eingrenzung 365 als terminus ante quem non und 354 als terminus post quem non der Gesamtedition. 124 O LAF G IGON hält eine direkte Beziehung zwischen Platon und Xenophon für so gut wie ausgeschlossen. 125 Für eine Abhängigkeit Platons von Xenophon sprechen (ohne Angabe von Argumenten) S TEINHART (S. 99), S TALLBAUM (S. 233) und K RAUS (S. 56). V ICTOR C OUSIN dagegen vertritt die Priorität des Hippias, wobei er von der Prämisse ausgeht, dass ein Künstler wie Platon niemals imitiert (S. 290). 126 Vgl. M AIER , Sokrates, S.55 Anm. 1. So heißt es im Hippias (375d8f.): während in den Memorabilien (4.2.20) steht: [...] Euthydemos ratifiziert das Übeltäterparadoxon mit den Worten: ’ (4.2.20), und Hip- 65 „der Autor der Gespächsammlung [sic! ] macht in dem Zusammenhang, wo er von der spezifisch elenktischen Kunst des Meisters eine Probe geben will, von demjenigen platonischen Dialog, der diese Seite der sokratischen Tätigkeit in ganz besonders anschaulicher Weise schildert, weitgehend Gebrauch. Er überarbeitet und variiert seine Vorlage, ohne aber dadurch den Eindruck, daß seine eigene Arbeit ein Auszug aus der letzteren ist, zu verwischen.“ 127 Wenn Maiers Formulierung vielleicht auch zu apodiktisch ist und die Beweiskraft dieser Anspielungen überbewertet, so bedeuten diese doch ein starkes Argument für die Abhängigkeit der xenophontischen Memorabilien (und speziell dieser Stelle) von Platon. 128 Die Frage, inwieweit Platon und Xenophon bei aller literarischen Überarbeitung an dieser Stelle originär sokratisches Gedankengut tradieren, erweist sich schwieriger zu untersuchen als das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Platon und Xenophon. Denn im Gegensatz zu diesen beiden Autoren hat Sokrates nichts Schriftliches hinterlassen und die Rekonstruktion seiner Lehre aus den Werken seiner Schüler stellt uns vor große her- pias benutzt folgende Worte zur Ablehnung der These: , , (376b10). Auch die Phrase von Mem. 4.2.21 ( ), die Sokrates’ Argument einleitet, dass man ohne Wissen nicht die wahre Antwort geben kann, gleicht fast der von Hippias Minor 366e1 (T ), in der Sokrates’ am Rechenexempel erläutert, dass nur der, der die Wahrheit kennt, lügen kann. Als weiteres signifikantes Beispiel dieser Allusionstechnik sei die Einleitung der Hippias-Episode in den Memorabilien 4.4.5 genannt: […], die auf den Beginn des Hippias Maior anspielt: […] (281a1f.). Dass es sich dabei um eine reine literarische Anspielung ohne jede weitere Funktion handelt, wird daraus ersichtlich, dass bei Platon Hippias’ lange Abwesenheit durch seine Beanspruchung im diplomatischen Dienst seiner Vaterstadt erklärt wird, während bei Xenophon diese Einleitung in der Luft hängt. Vgl. T REU , M AX , Xenophon, in: Paulys Realencyklopädie der classischen Altertumswissenschaft (neu bearbeitet und hg. von K ONRAT Z IEGLER ), Bd. IX A, 2, 1569-1982, 1831. Diese Allusion kann auch als Indiz für die Echtheit des Hippias Maior gewertet werden, denn es erscheint unwahrscheinlich, dass Xenophon in diesem Fall auf das Werk eines unbekannten Epigonen angespielt haben sollte. 127 M AIER , Sokrates, 55f. 128 P HILLIPS verweigert eine Stellungnahme zu den etwaigen Abhängigkeitsverhältnissen (Idem, Memorabilien 4.2, 142). Diese Übervorsicht (sowie der damit einhergehende Rückzug auf ein „non liquet“) ist m. E. unangemessen und verkennt die unterschiedliche Plausibilität möglicher Abhängigkeitsverhältnisse. Wenn auch ein schlagender Beweis nicht erbracht werden kann, so kann doch eine These (Abhängigkeit Platons von Xenophon) als sehr unplausibel und eine These (Abhängigkeit Xenophons von Platon) gegenüber einer dritten (gar keine Beziehung zwischen den beiden) als plausibel gelten. 66 meneutische und methodische Probleme. Es würde den Rahmen dieses Kapitels bei Weitem sprengen, auf die Problematik der quaestio Socratica näher einzugehen. Dennoch soll mit gebotener Vorsicht Stellung zur Diskussion in der Sekundärliteratur genommen werden. Maier hält „es gar nicht für unmöglich, daß der historische Sokrates selbst mit diesem Paradoxon operiert hat.“ 129 Traglia ist sogar der Auffassung, dass Xenophon dieses Paradoxon nicht aufgegriffen hätte, wenn es nicht zum historischen Sokrates gepasst hätte. 130 Traglias These ist sehr stark formuliert, impliziert sie Kongruenz mit dem historischen Sokrates als Aufnahmekriterium für die philosophischen Thesen in die Memorabilien. Dennoch sollte man davon ausgehen, dass die Sokratiker Xenophon und (der frühe) Platon einen harten Kern sokratischer Lehrer korrekt tradieren. Dazu zählt mit großer Wahrscheinlichkeit der so genannte sokratische Intellektualismus, der eine starke Dependenz von Wissen und Handeln postuliert. Es ist daher durchaus plausibel anzunehmen, dass Platon sich im frühen Dialog Hippias Minor mit der Lehre seines Lehrers Sokrates auseinandersetzt. 129 M AIER , Sokrates, 54. M AIER zeigt sich sonst sehr zurückhaltend bei solchen Aussagen und attestiert den Memorabilien eine geringe Verwertbarkeit für die Rekonstruktion des historischen Sokrates, da diese zu sehr von Antisthenes und Platon abhängig seien und Xenophon überdies Sokrates falsch verstanden habe (Ibid. 76). 130 „Ma è presumibile che allo storico atenniese non sarebbe forse venuto in mente d’inserire nella sua opera il passo relativo a quel problema, se a lui, discepolo di Socrate al pari di Platone, non fosse risultato che esso era stato posto e tratto dal Maestro e da lui forse non interamente risolto, almeno per quanto si referisce alle sue consequenze ultime, come vedremo meglio appreso e come traspare anche da quel senso d’incertezza e d’insoddisfazione lasciato nell’ animo di Socrate dalla discussione de problema e messo bene in evidenza tanto nel dialogo platonico quanto nella narrazione senefontea (T RAGLIA , Ippia minore, XI). 67 6. Die Unfreiwilligkeit des Fehlens Das Übeltäterparadoxon führt uns zu der Frage, ob es überhaupt bei Platon den freiwillig Fehlenden geben kann. Die Beantwortung dieser Frage ist zentral für das Verständnis dieses Dialoges und der platonischen Philosophie. Um hierauf eine Antwort geben zu können, müssen wir klären, welche Position sich im platonischen Oeuvre findet. Zum besseren Verständnis der platonischen Position und ihrer Bewertung in der damaligen philosophischen Debatte wollen wir auch einen Blick auf Aristoteles werfen. 6.1 Platons Philosophem: Niemand fehlt freiwillig 6.1.1 Fehlen als kognitiver Defekt Im Menon bietet der gleichnamige Protagonist eine zweite Tugenddefinition, wonach die aretē eine dynamis sei, nach dem Guten zu streben und es sich zu verschaffen (77b2-9). Sokrates kritisiert die dem Konzept implizite These, dass nicht alle nach dem Guten streben. Menon expliziert auf Sokrates’ Nachfrage, dass einige (a) unwissend und (b) andere wissend das Böse begehren (77c1-8). Sokrates greift (b) auf und untersucht, wie es bei denen ist, die wissentlich das Böse begehren. Davon glauben einige (i), dass das Böse nützlich sei, (ii) andere, dass es schade (77c9-d6). Im Fall (i) liegt ein Irrtum vor, das Böse wird für das vermeintlich Gute gehalten und erstrebt (77d7-e5). Dahinter steckt die implizite These, dass nur das Gute nütze und das Böse immer (langfristig) schade. Im Fall (ii) ergebe sich die Konsequenz, dass diejenigen, die von der Schädlichkeit des Bösen wüssten, ihren eigenen Schaden einkalkulieren (77a6-9). Sokrates argumentiert, dass die Geschädigten elend und die Elenden unglücklich seien und es niemanden gebe, der unglücklich sein will (78a1-7). 131 Daraus zieht er den Schluss, dass niemand das Böse will und absichtlich anstrebt (78a8-b2). Wer Böses tut, verfehlt also das oberste Ziel, das glücklich Leben.Vom Konzept des glücklichen Lebens aus argumentiert Platon auch im Protagoras. Sokrates sieht dort die Lust (hēdy), die auf Erkenntnis beruht, als Ziel allen Handelns. Das Angenehme (hēdy) wird mit dem Guten, das Unangenehme (aniaron) mit dem Übel (kakon) identifiziert (358a6). Alle auf das angenehme Leben gerichteten Handlungen sind schön und nützlich (358b5ff.). Es liegt nicht in der Natur des Menschen, das Übel zu wählen. 131 Dieser Schritt ist eigentlich redundant. Sobald einmal die Schädlichkeit des Bösen für dessen Urheber zugegeben wurde, ist es in einer intellektualistischen Position unsinnig anzunehmen, jemand tue im Wissen um seinen Nachteil Böses. 68 Geschieht es doch, so liegt Unwissenheit (amathia) vor, die in einem Zuschwach-sein-gegen-sich-selbst ( , 358c2) besteht. Im Gorgias diskutieren Polos und Sokrates über die dynamis der Redner. Sokrates leugnet die Macht der Tyrannen oder Rhetoren im Staat und stellt stattdessen die These auf, dass diese (a) nicht tun, was sie wollen, sondern (b) was ihnen das Beste zu sein scheint. 132 Dabei beruft sich Sokrates auf das Homologoumenon, nach dem viel Vermögen (mega dynasthai) ein Gut für dessen Besitzer sei (466e6ff.). Wenn jemand ohne Einsicht (nous) tut, was ihm das Beste zu sein scheint, ist das ein Übel ( … , 467a5f.). Solange also nicht bewiesen ist, dass Rhetoren oder Tyrannen über Einsicht verfügen, ist ihnen auch keine dynamis zuzubilligen. Es folgt weiter, dass das Übel, das sie tun 133 , nicht gewollt und somit unfreiwillig ist. Aber wollen diese Politiker die von ihnen in Auftrag gegebenen Morde und Konfiskationen nicht? Sokrates insistiert in (a), dass sie nicht tun, was sie wollen. Dazu argumentiert er weiter, dass die Menschen umgekehrt auch nicht immer wollen, was sie tun. Sokrates macht eine Mittel-Zweck-Unterscheidung 134 : Wenn X um Y willen getan, ist nicht X intendiert, sondern Y; X ist das Mittel zum Zweck Y. Wir nehmen Medizin um zu gesund zu werden oder machen Handelsreisen um reich zu werden. Bei all diesen Handlungen wollen wir nicht die Handlung selbst, sondern ihren Zweck (467c5-d10). Sokrates kommt zu einer weiteren Differenzierung: Demnach gibt es nicht nur Güter (agatha) oder Übel (kaka), sondern auch Mitteldinge (467e1ff.). Mitteldinge sind an sich weder gut noch schlecht, werden aber bisweilen als Mittel zur Erreichung von Gütern oder Übeln eingesetzt (467e9f.). Dabei werden immer Güter intendiert, deretwegen die Mitteldinge getan werden (468a6ff.). Wenn wir also Mitteldinge tun, wollen wir nicht die Handlung selbst, sondern ihren Zweck. Auch im Fall der von Tyrannen begangenen Morde und Konfiskationen werden diese Handlungen an sich nicht gewollt, sondern die durch sie erwarteten Güter (488c3-6). Diese tun zwar, was ihnen gut erscheint, in Wirklichkeit aber schlecht ist (468d1-5). Folglich tun sie nicht, was sie wollen, da sie das Ziel ihrer Handlung verfehlen (468d7ff.). Um das Ziel einer Handlung zu erreichen, ist nicht der Wille hinreichend, wie Sokrates am Beispiel von Unrecht leiden und Unrecht tun erläutert. Es genügt nicht allein der Wille, nicht Unrecht zu erleiden oder zu tun, sondern es bedarf 132 (466e1f.). 133 Wenn eine Handlung ohne Einsicht ein Übel ist, dann tut derjenige, der ohne Einsicht handelt, ein Übel. Daher ist die Identifizierung von „x begeht eine Handlung, die ein Übel ist“ mit „x handelt übel/ schlecht“ gerechtfertigt. 134 Kantianisch gesprochen unterscheidet er zwischen hypothetischen (X wird um Y willen getan) und kategorischen (X wird um X willen getan) Handlungen. 69 einer dynamis und technē, um doch nicht wider Willen Unrecht zu erleiden oder tun (509d1-510a5). Diese Stelle weist Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zu einem wichtigen Argument im Hippias auf. Im Hippias wird Gerechtigkeit als dynamis oder technē oder einer Kombination von beidem definiert. Beide Passagen teilen den Ansatz, dass nur Wissen und/ oder Fähigkeit die Garantie geben können, dass eine intendierte Handlung immer so ausgeführt wird wie gewollt. 135 Im Unterschied zum Hippias, der sich nur auf das Vorhandensein von dynamis und technē beschränkt, wird im Gorgias auch das voluntative Element angesprochen. Es stellt sich vor diesem Hintergrund die entscheidende Frage, ob derjenige, der über Willen, dynamis und technē verfügt, nicht Unrecht zu tun, Unrecht tun kann. Dazu ist festzustellen, dass vom Willen nur im Zusammenhang vom wahrhaft und nicht vom scheinbar 136 Guten gesprochen wird. Wenn nun die Erkenntnis und das Vermögen, ein Gut zu erwerben, vorhanden sind, liegt gleichzeitig auch der Wille zu dessen Realisierung vor, da auch schon dessen Verzicht unverständlich wäre. Völlig widersinnig wäre die Vorstellung ein Übel zu wollen, das sowohl dem Willensbegriff als auch der darin enthaltenen anthropologischen Konstante menschlichen Strebens widerspräche. Der Gorgias gibt Antwort, warum niemand das Übel wollen kann, und löst mit seinem auf den Gütererwerb ausgerichteten Willensbegriff die Aporie des Hippias. Diese ist entstanden, da der Begriff hekousios nur an den Begriff der dynamis gekoppelt ist, die ambivalent einsetzbar ist und keine Wertbindung hat. Der Gorgias steht in der Gruppe der Dialoge, die vom Ansatz einer eudaimonistischen und intellektualistischen Ethik und Handlungslehre das Böse als Verfehlen des guten Lebens aufgrund von Unwissenheit interpretieren. Dieser intellektualistische Ansatz wird im Timaios durch eine pathologisch-physiologische Erklärung des Fehlens ergänzt. 6.1.2 Fehlen als physiologischer Defekt (Timaios) Timaios lässt im gleichnamigen Dialog seinen Erklärungen für die Körperkrankheiten eine Darstellung der Genese der Seelenkrankheiten folgen. 135 Der hier zugrunde liegende Willensbegriff weist Ähnlichkeit mit dem aristotelischen auf. Aristoteles unterscheidet Wollen vom Wünschen dadurch, dass dem Wollen die Möglichkeit zur Realisierung gegeben sein muss (Ich kann zwar wünschen, dass der FC Bayern gewinnt, aber ich kann es nicht wollen, da die Realisierung nicht an mir liegt.). Auch bei Platon wird der Willensbegriff mit Machtmitteln zu dessen Erfüllung verküpft. 136 Man beachte den Unterschied zwischen „scheinbar“ und „anscheinend“: Wenn sich eine Sache „scheinbar“ so verhält, sieht es nur dem Schein nach so aus, ist in Wirklichkeit aber anders; dagegen bedeutet „anscheinend“, dass es sich vermutlich oder wahrscheinlich so verhält. 70 Dabei unterscheidet er zwei Arten von Unvernunft (anoia): Die mania 137 und die Unwissenheit (amathia). Jeder Affekt (pathos), der eine dieser Formen von Unvernunft hervorruft, wird als Krankheit bezeichnet (86b1-5). Als schwerste Seelenkrankheiten werden übermäßige Lust- und Schmerzgefühle diagnostiziert, die zur Raserei führen und den Kranken vom Vernunftgebrauch abhalten (86b5-c3). Die Ursache hierfür ist ein Überfluss des am Mark entstehenden Samens und eine über das Maß fruchtbare Natur (86c4-8). Obwohl hier eine Krankheit vorliegt, wird der Betroffene wegen seiner Unbeherrschtheit für vorsätzlich schlecht gehalten ( , 86d2), doch die Ursache der Schlechtigkeit liegt nicht im Betroffenen, sondern in der schlechten körperlichen Disposition und in der falschen Erziehung ( 86e1f.). Timaios bietet als Erklärung für weitere Seelenkrankheiten, dass die Säfte der (sauren, salzigen, bitteren und galligen) Schleime, die im Körper herumirren und nicht nach draußen gelangen, sondern sich der Seele beimischen, je nach Ort in der Seele Verdrießlichkeit (dyskolia) und Missmut (dysthymia), Verwegenheit (tharsytētos) und Feigheit (deilia), sowie Vergesslichkeit (lēthēs) und Begriffs-stutzigkeit (dysmathia) hervorrufen (87a4-7). Obwohl hier Timaios eine physiologische Theorie des Schlechten vertritt, ist für ihn damit kein Determinismus verbunden. Timaios sieht die physiologischen Ursachen als Dispositionen an, die zum Ausbruch kommen, wenn dazu schlechte Verfassungen von staatlicher und eine schlechte Erziehung von privater Seite treten. 138 Die Schuld macht Timaios mehr bei den Erzeugern und Erziehern als bei deren Produkt aus. Dennoch sieht er auch eine Pflicht bei dem Betroffenen, sich zu bemühen ( , 87b6f.) durch Erziehung, Beschäftigung und Lernen der Schlechtigkeit zu entrinnen und ihr Gegenteil zu erwerben suchen ( ’ , 87b7ff.). Was sieht nun bei Platon die praktische Handhabung dieser Theorie in Staat und Gesetzgebung aus? Eine Antwort geben uns die Nomoi. 139 137 F RANCIS M ACDONALD C ORNFORD betont in seinem Timaios-Kommentar (Plato’s Cosmology, London 1937, 346), dass es sich hierbei um „frantic passionate excitement, not pathological insanity“ handele. Wir lassen daher den Terminus unübersetzt, da die langläufige deutsche Übersetzung „Wahnsinn“ falsche Assoziationen weckt. 138 A LBRECHT D IHLE sieht hier eine Korrektur zu Politeia, nach der alle Fehlbarkeit nur der Materie zugeschrieben werden muss. Der Timaios dagegen differenziert, dass es in Natur und Menschenleben ungeordnete Bewegung gebe, die ihren Ursprung nur außerhalb der Materie haben kann: „So erklären sich die Fehler im kosmischen Geschehen aus dem Vorhandensein einer zweiten, inferioren Welt, Übel in der Menschenwelt aus den niederen Seelenkräften und nicht unmittelbar aus dem Körper“ (Idem, Vorstellung vom Willen in der Antike, 50f.). 139 An dieser Stelle soll keine Aussage über das Verhältnis der relativen Chronologie von Timaios und Nomoi gemacht werden. 71 6.1.3 Fehlen infolge fehlender Affektkontrolle (Nomoi) Die Frage nach der Bewertung vorsätzlicher und unvorsätzlicher Vergehen findet Eingang in die platonische Strafrechtslehre des neunten Buches der Nomoi. In diesem strafrechtsdogmatischen Diskurs steht die zentrale These, dass die Schlechten unfreiwillig schlecht sind ( , 860d1). Das hat zur Folge, dass der Ungerechte wohl schlecht, der Schlechte aber unfreiwillig so ist ( , 860d5). Daraus lässt sich weiter ableiten, dass derjenige, der Unrecht tut, es unfreiwillig tut ( , 860d7f.). Damit wird die landläufige Unterscheidung zwischen vorsätzlichem und unvorsätzlichem Unrecht aufgegeben. Der Athener greift einen möglichen pragmatischen Einwand seiner Dialogpartner auf, indem er nach den Konsequenzen für die Strafzumessung fragt (860e8-12). Dabei stehen zwei Optionen zur Auswahl: Entweder müssen die zwei Arten von Ungerechtigkeit einer genaueren Prüfung unterzogen oder die These muss fallengelassen werden. Der Athener entscheidet sich für die erste Option, da er von der Richtigkeit seiner These fest überzeugt ist. Als Lösung wird eine Unterscheidung zwischen Schädigung ( ) und Ungerechtigkeit ( ) vorgebracht (861e1-862c10). Unvorsätzliche Schädigung ist kein Unrecht, wie auch eine unrechtmäßige Wohltat dagegen als Unrecht angesehen werden muss. Unterscheidungskriterium ist weder Schaden noch Nutzen, sondern nur der psychische Zustand, aus dem eine Tat geschieht ( , 862b3f.). 140 Daraus ergeben sich folgende strafrechtliche Konsequenzen: Bei Schädigung ist für Wiedergutmachung im Rahmen eines Täter-Opfer- Ausgleichs zu sorgen, während bei Ungerechtigkeit die Therapie des Täters Ziel sein muss. Die Heilung des Ungerechten verfolgt als doppeltes Ziel neben der Schadenswiedergutmachung vor allem die Rückfälligkeitsprophylaxe (862d1-4). Als Täter-Therapie sieht der Athener neben mündlicher Belehrung (logoi) auch Lust und Schmerz in Form positiver Sanktionen wie die Vergabe von Ehren und Geschenken oder negativer Sanktionen wie Ehrenentzug und Geldstrafen vor (862d4-e1). Erweist sich der Ungerechte als Unverbesserlich, so ist er im Eigeninteresse (wegen seines verfehlten Lebens) und im Staatsinteresse (zum Schutz der Allgemeinheit und 140 T EVOR J. S AUNDERS bemerkt dazu: „The distinction […] is between the psychological state and the criminal act, not the result of the act. The criminal act [...] may be voluntary or involuntary, in the sense that is open to me [...] I have choice and freedom of action, no one forcibly quides my hand. The state of mind [...] is involuntary. I choice to commit a crime because of in my soul [...] the choice is determined by the domination of involuntary injustice in the soul - envy, fear etc” (Idem, The Socratic Paradoxes in Plato’s Laws. A commentary on 859c-864b, in: Hermes 96 (1968), 421-434, S. 424). 72 als abschreckendes Beispiel) zu töten (862e1-863a2). Der Athener arbeitet auf Bitte seines Dialogpartners Kleinias den Unterschied zwischen Schädigung und Ungerechtigkeit genauer heraus, indem er die drei Ursache von Verfehlungen 141 (harmatēma) vorstellt: (1) Zorn (thymos), dessen Charakteristikum Gewalt und Irrationalität sind (863b2-4), (2) Lust (hedonē), die sich (a) einerseits vom Zorn unterscheidet, da sie unter dem Anschein von Vernunft überredet, (b) andererseits aber dem Zorn ähnelt, da ihre Überredung dennoch auf Gewalt beruht (863b6-9) 142 und (3) Unwissenheit (agnoia). Bei letzterer wird zwischen der einfachen (a) Unwissenheit, die Ur- Ursache leichter Vergehen ist (863c1-4), und (b) doppelter Unwissenheit, die mit falschem Wissensdünkel einhergeht (863c4-6), unterschieden. Bei der doppelten Unwissenheit werden weiter die Begleitumstände berücksichtigt, ob sie mit Gewalt auftritt und Ursache großer und roher Verfehlungen ist (863c6f.) oder aus Schwäche wie bei Kindern und Greisen erfolgt, was mit größter Nachsicht zu ahnden ist (863d1). Die Unwissenheit unterscheidet sich von Lust und Zorn dadurch, dass sie im Gegensatz zu diesen unbeherrschbar ist 143 ; sie ähnelt diesen, als auch sie oft dem eigentlichen Willen des Menschen zuwiderläuft (863e2f.). 144 Nicht die Wirkungen einer Handlung sind Kriterium, ob Ungerechtigkeit vorliegt oder nicht, sondern deren Ursache. Das führt dann zum Phänomen, dass der Ungerechte, auch wenn er wohltätig wirkt, ungerecht ist wie der Gerechte gerecht bleibt, auch wenn er Schaden stiftet. Der Gerechte unterscheidet sich vom Ungerechten, dass er in seiner Seele über eine auf das Beste ausgerichtete Meinung ( , 864a1) verfügt. 145 141 Nach S AUNDERS besteht der Unterschied zwischen harmatēma und adikēmata darin, dass Verfehlungen falsche Handlungen im Allgemeinen und Unrechttaten falsche Handlungen speziell aus schlechten Motiven sind. 142 Wir folgen S AUNDERS , der dem Textbefund entsprechend liest und so eine Gegenüberstellung von Gemeinsamkeit und Verschiedenheit zum thymos ausgedrückt sieht. E NGLAND konjiziert (fälschlicherweise) , da er einen absoluten Gegensatz zum thymos sieht. 143 S AUNDERS kommentiert treffend: „A man in a state of frequently - and invariably if the is - believes he has nothing to resist. I may of course know I am ignorant about something and strive to attain knowledge, but that would hardly be called ‘struggling against inorance’ - at anay rate not the same sense as struggling against anger and pleasure; one cannot ignorance ‘in check’ “ (Idem, The Socratic Paradoxes, 427 Anm. 1). 144 145 Diese doxa ist wie jede doxa auch prinzipiell fallibel, doch liegt im Falle dieses Irrtums ( , 864a4) keine Unwissenheit vor. Der Unterschied zwischen (einem solchen) Irrtum und Unwissenheit besteht darin, dass bei Irrtum die Anwendung der in der staatlichen Erziehung gelernten moralischen Maximen im (kompli- 73 Welche Konsequenz ergibt sich für die sokratischen Thesen „Niemand fehlt freiwillig“ und „Wissen ist Tugend“? Saunders stellt dazu fest: „I take that this second paradox has in fact been abandoned, partly because of the defence of the first - abandoned in the sense that knowledge no longer has any automatic power over the emotions [...]” 146 Platon vollzieht in seinen Spätwerken Timaios und Nomoi eine Entwicklung weg vom Intellektualismus der frühen Phase hin zu einem Realismus, der Affekte als begrenzt beherrschbare Triebkräfte oder Dispositionen (Timaios) begreift und Unwissenheit (agnoia) sogar als unbeherrschbar auffasst. Dennoch wäre es falsch, von einer Wende zu einem deterministischen Menschenbild zu sprechen. 147 Sowohl im Timaios als auch in den Nomoi wird Erziehung als Antidot gegen die Affekte und Unvernunft vorgeschlagen. Mag sich auch das Verständnis vom Wissen und dessen Erwerb in den Spätdialogen modifiziert haben, Platons Ursprungthese bleibt doch bestehen: Niemand fehlt freiwillig. 6.2 Aristotelische Kritik Aristoteles setzt sich mit dem sokratischen Satz 148 an zwei Stellen in verschiedenen Kontexten seiner Nikomachischen Ethik auseinander. Im siebten zierten) Einzelfall nicht funktioniert, während bei Unwissenheit dieses ethische Wissen fehlt oder sogar bewusst negiert wird (vgl. Legg. 689a5-c3). 146 S AUNDERS , The Socratic Paradoxes, 433. 147 Zu pessimistisch ist S AUNDERS ’ Fazit: „ […] Plato’s doctrine is disasteful to us: it seems to deny individual responsibility and to treat a man as the mere plaything of opposing forces [...]” (The Socratic Paradoxes, 434.). 148 Die These von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns geht auf Sokrates zurück. Deshalb wird von Aristoteles bei Namensnennung in der Kritik Sokrates angeführt, auch wenn ihr wohl wichtigster Propagator Platon war. Eine Kritik dieser sokratischen These stellt daher immer auch eine Auseinandersetzung mit Platon dar, auch wenn im Einzelnen das platonische Philosophem viel differenzierter als das sokratische ist. Dennoch ist der Kern der Philosopheme identisch: Niemand fehlt freiwillig. Aristoteles paraphrasiert diesen Inhalt in zwei Formen: 1. ’ 2 ’ (VII, 3, 1145b25f.). In der ersten Form geht es nicht explizit um das Handeln, sondern um eine Eigenschaft (die niemand freiwillig haben will), auch wenn diese Eigenschaft (nach griechischer Vorstellung) durch Handeln erworben wird. In der zweiten Form ist von einem Handeln gegen das Beste die Rede, wobei der Terminus willentlich hier nicht einheitlich (mit ) geführt, sondern durch ein Synonym ersetzt wird. Im Unterschied zu der sokratischen Formulierung steht bei Aristoteles weniger das Unrechttun im Blickpunkt als die daraus resultierende Selbstschädigung des Täters. Dennoch sind auch bei Sokrates Unrechttun und 74 Kapitel des dritten Buches untersucht Aristoteles Fragen der Zurechnung. Im Anschluss an die geleistete Vorarbeit kann Aristoteles feststellen, dass die auf die Mittel zum Zweck gerichteten Handlungen frei gewählt und somit willentlich sind ( , 1113b5). In diesen Handlungen bestehen ferner die Tugendakte. Aristoteles folgert weiter, dass, wenn die tugendhafte Handlung in unserer Macht steht, auch deren Unterlassung uns zuzurechnen ist. Die sokratische These, dass niemand willentlich schlecht ist ( ’ ) 149 , wird differenziert: Zwar ist niemand unwillentlich glücklich, doch die Schlechtigkeit ist willentlich ( , 1113b16f.), da der Mensch Urheber (archē) seiner Handlungen ist. Aristoteles sanktioniert damit die Gesetzgebung, der es um Tugendförderung und Verbrechensprävention geht (1113b21- 30). Ähnlich wie Hippias führt Aristoteles die Gesetzgebung als common sense Argument für die Willentlichkeit und Zurechenbarkeit unserer Handlungen an. Niemand verbietet oder fordert zu Dingen auf, die nicht in unserer Macht (eph’ hēmin) stehen, so wie es bei körperlichen Bedürfnissen und Empfindungen der Fall ist (1113b26-29). Während Aristoteles die Frage, ob jemand willentlich Schlechtes tun kann, im Rahmen seiner Untersuchung der Zurechenbarkeit beantwortet, widmet er sich der Frage, warum jemand schlecht handelt, in seinen Ausführungen über die Unenthaltsamkeit im siebten Buch. Der sokratischen Lehre hält Aristoteles in diesem Zusammenhang entgegen, dass sie den offensichtlichen Tatsachen (phainomena) widerspreche, man stattdessen das Augenmerk auf die Affekte richten müsse und, wenn wirklich unwissentlich gefehlt würde, die Frage stellen, in welcher Art die Unwissenheit be- Selbstschädigung untrennbar miteinander verbunden. Die aristotelischen Modifikatio-nen in der Formulierung tangieren den Kern der sokratischen These nicht. 149 , das sich vom Verb herleitet und mit dem Nomen und den Derivaten verwandt ist, heißt in seiner ursprünglichen Bedeutung „mit Mühe beladen, unglücklich“ (so bei Hesiod fr. 138). Für in dieser Bedeutung, wohl um es von im moralischen Sinn zu unterscheiden, hat sich im Attischen die andere Akzentuierung als Proparaxytonon (mit Betonung auf der drittletzten Silbe ) eingebürgert. Als moralischer Begriff bedeutet „sittlich verwerflich“ sowie „willentlich und wissent-lich schlecht“. In dieser Bedeutung tritt in Gegensatz zu (Smp 183d) und wird auch synonym zu gebraucht (Pl. Leg XII 950b), ferner ist es synonym zu (Isoc. 8,120; EN IV 3, 1122a6). sind für Aristoteles die Schaden anrichten aus böser Absicht im Gegensatz zu denen, die es aus und tun, während der nicht sondern nur ist (EN V 10, 1135b24; VIII 11, 1152 a16. 20-24). Zur Wortgeschichte s. das von G ÜNTHER H ARDER verfasste Lemma im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (Bd. VI, 546-566, bes. 547f.). Vgl. L OENING , Zurechnungslehre bei Aristoteles, 255. 75 stünde (VII, 3,1145b27ff.). Aristoteles stellt auch einen differenzierteren sokratischen Standpunkt vor, wonach zwar nichts stärker als das Wissen (epistēmē) sei, der Meinung 150 (doxa) aber zuwidergehandelt werden könnte (VII, 3,1145b32-35). Für Aristoteles gibt der unterschiedliche Erkenntnisstatus keinerlei Ausschlag, denn manche vertrauen so fest auf das, was sie meinen, wie andere auf das, was sie wissen (VII, 1146b29f.). Aristoteles untersucht die Quellen des Irrtums genauer. Dazu unterscheidet er zwei Arten, wie Besitz und Anwendung von Wissen verknüpft sein können: Im einen Fall besitzt jemand das Wissen und wendet es nicht an, im anderen Fall besitzt er das Wissen und wendet es auch an. Der zweite Fall erweist sich problematisch (deinon) und erfordert eine Untersuchung, wo bei der Anwendung von Wissen Irrtumsmöglichkeiten bestehen. Aristoteles geht von der Annahme aus, dass unsere ethischen Überlegungen die Form von Syllogismen haben. In der Standardform besteht ein praktischer Syllogismus aus zwei Teilen, einer generellen Prämisse (P1) oder dem Obersatz und einer partikulären Prämisse (P2) oder dem Untersatz, aus denen beiden eine Folgerung (C) gezogen wird. Es könnte also jemand Wissen besitzen und anwenden, aber dennoch gegen sein Wissen handeln, indem er nur die generelle Prämisse (P1) aktualisiert, nicht aber die partikuläre (P2). Die Fortsetzung des Syllogismus, die erst zur richtigen Handlung führe würde, ist somit unterbrochen. Aristoteles kommt im Kontext dieser Unterscheidung auch auf den Zusammenhang von hexis und Unenthaltsamkeit zu sprechen. So wie im Zustand des Schlafes, der Raserei oder der Trunkenheit eine hexis zwar vorhanden, aber nicht aktualisiert ist, ist bei den Affekten ein Wissen zeitweilig unzugänglich oder in Vergessenheit geraten. Daran ändert auch nichts der Umstand, dass die Unbeherrschten in ihrem Zustand manchmal Reden halten, denn es ist davon auszugehen, dass sie wie Schauspieler Sätze sprechen, die sie nicht verstehen (VII, 1147a10-24). Aristoteles bietet eine zweite „naturwissenschaftliche“ Erklärung (physikōs), die im Gegensatz zur ersten logisch-sprachlichen nicht auf Begriffsdifferenzierung beruht (1147a24-b9). 151 Der aristotelische Ansatzpunkt geht davon aus, dass die partikuläre Prämis-se, die handlungsleitend ( ) ist, auf sinnliche Wahrnehmung (aisthēsis) rekurriert. Im Falle leidenschaftlicher Erregung ist diese Prämisse beim Unenthaltsamen nicht aktualisiert. 152 Da nun der Angriff der Leidenschaft an der partikulären Prämisse erfolgt und diese auf sinnlicher Wahrnehmung basierend keinen wissenschaftlichen Status (epistēmonikon) besitzt, 150 Später spricht Aristoteles sogar von wahrem Wissen (1146b24). 151 Dabei handelt es sich genau genommen um eine wissenschaftstheoretische Unterscheidung. Aristoteles spricht hier vielleicht von „natürlich“, da es um die Natur der Sache geht. 152 Wobei er sie durchaus als Satz präsent haben kann, den er dann zitiert, ohne ihn zu verstehen. 76 ist das sokratische Philosophem richtig, dass niemand wider besseres Wissen (epistēme) fehlt. 153 Die aristotelische Kritik differenziert zwar das platonische Philosophem, verwirft es aber nicht. Das wird besonders im dritten Kapitel des siebten Buches deutlich. Aristoteles unterzieht den Ansatz des Affektangriffs einer Differenzierung. Als irrtumsanfällig erweisen sich für ihn die partikulären Prämissen, die auf Empirie beruhen, während die allgemeinen Prämissen nicht dem Angriff der Affekte unterliegen. 154 Mit der Anerkennung der Affekte als Ursache für Verfehlungen weist das aristotelische Konzept Ähnlichkeiten zu Platons Darstellung in den Nomoi auf. Traglia 153 […] ’ (1147b14-17). 154 Es ist bezeichnend, dass Aristoteles nicht diesen Fall in Betracht zieht. So wäre es doch nahe liegend, um ein aristotelisches Beispiel aufzugreifen, dass der Naschhafte den Obersatz Süßes ist zu meiden, da es schädlich ist ablehnt und in Frage stellt, und weniger die Information, dass es sich bei x um Süßes handelt. Aber Aristoteles identifiziert den Unenthaltsamen nicht mit dem charakterlich Schlechten, der sich in einem permanenten Zustand der Unwissenheit und des Irrtums über das Gute und die allgemeinen Bestimmungen befindet (1110b28-1111a2). Das aristotelische System bewirkt bisweilen mit seinen vielen Differenzierungen das Gegenteil der angestrebten Klarheit. So unterscheidet Aristoteles weiterer zwischen Handlungen aus Unwissenheit (di agnoian) und solchen, die unwissend (agnōn) getan werden (1110b24-27). Dass eine Handlung als unvorsätzlich (akousion) bezeichnet wird, ist Unwissenheit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Für Aristoteles müssen nach einer unvorsätzlich Handlungen auch Reue und Schmerz folgen; fehlen diese Gefühle nach einer aus Unwissenheit begangenen Tat, ist diese zwar nicht vorsätzlich (ouk hekousion), aber auch nicht unvorsätzlich (akousion). Wurde eine Handlung unwissend begangen, wie das bei einem durch Rausch oder Affekt temporär getrübten Erkenntnisvermögen der Fall ist, so ist sie nicht unvorsätzlich (akousion) geschehen und muss ebenfalls wohl als nicht vorsätzlich (ouk hekousion) betrachtet werden. Das würde bei den hier erwähnten Affekten der Fall sein. Man beachte auch die Punkte, in denen Unwissenheit vorkommen kann: (a) wer handelt, (b) was tut er (was ist der Gegenstandsbereich der Handlung), (c) womit wirkt er (d.h. mit welchem Werkzeug), (d) weshalb und (e) wie (mit welcher Intensität) (1113a3-21). Es stellt sich die Frage, ob die falsch aktualisierte Partikular-Prämisse unter einen dieser Punkte subsumierbar ist. Dagegen ließe sich einwenden, dass diese Punkte nur bei Handlungen zutreffen, die aus Unwissenheit begangen werden, während die oben beschriebene Affekthandlung unwissend ausgeführt wird. Aber nicht nur formal, auch inhaltlich lässt sich der Irrtum bei der Aktualisierung einer Partikulärprämisse schwer mit einem der genannten Kriterien harmonisieren. Der Irrtum bei einer Partikularprämisse ist ein Fehlurteil der Form „Unter was ist x zu subsumieren? “ Die genannten Kriterien betreffen aber nicht einen Irrtum über einen Sachverhalt, sondern über einen Handlungsumstand. Auch der unter (b) angeführte Gegenstandsbereich der Handlung ist davon verschieden, wie die Beispiele illustrieren (Aristoteles nennt als Beispiele die Wurfmaschine, die bei der Demonstration losgeht, oder Aischylos, der geheime Lehren der Eleusischen Mysterien in einigen seiner Stücke verriet). 77 hat daraufhin die These vertreten, die zitierte Nomoi-Passage (860d-e) sei eine Replik auf die aristotelische Kritik. 155 Hier ist nicht der Ort, dieser spekulativen These über die Posteriorität der Nomoi gegenüber der aristotelischen Kritik weiter nachzugehen 156 , doch es kann als gesichert gelten: Dass der sokratische Satz über das unfreiwillige Fehlen kontrovers diskutiert wurde, belegt die von Aristoteles angesprochene Differenzierung der These, nach der zwar nicht dem Wissen (epistēmē), aber der Meinung (doxa) zuwidergehandelt werden könne. 157 Eine solche mit Abschwächung der These verbundene Differenzierung lässt sich als Resultat einer Kritik und der Reaktion auf eine heftige Debatte verstehen. Als wichtiges Ergebnis können wir festhalten: Die von Sokrates aufgebrachte und von Platon ausführlich begründete These vom unvorsätzlichen Fehlen wird auch von Aristoteles akzeptiert und ist fester Bestandteil der griechischen Philosophie geworden. 155 Vgl. T AGLIA , Ippia minore, XXI. 156 Dieser These ist eine gewisse Plausibilität nicht abzusprechen. Es ist auffallend, dass die Argumentation in den Nomoi viel elaborierter ist und Punkte aufgreift, die die aristotelische Kritik vorbringt (z. B. das common-sense-Gegenargument, dass Gesetzgebung die Zurechenbarkeit und somit Freiwilligkeit von Handlungen voraussetzt), während umgekehrt (wie bei der Posteriorität der Nikomachischen Ethik gegenüber den Nomoi zu erwarten wäre) sich keine aristotelische Auseinandersetzung mit Thesen der Nomoi findet. Dennoch darf dies nicht als ein starkes Indiz bewertet werden, da Entstehung und Überlieferung der Nikomachischen Ethik auch andere Erklärungsmöglichkeiten bieten. 157 Es steht nicht fest, auf wen Aristoteles dabei abzielt. Man könnte hier auch an die platonische Position der Nomoi denken, da Platon den Gerechten über eine auf das Beste gerichtete doxa (und nicht epistēmē) verfügen lässt. Allerdings besteht kein Anlass, immunisierungstaktische Gründe auszumachen. Der späte Platon der Nomoi hat überhaupt epistemisch viel geringere Ansprüche als Aristoteles, der für die allgemeinen Obersätze sicheres Wissen postuliert. 78 7. Prologomena zu einer Interpretation des Hippias Minor Wir haben das Lügner- und Übeltäterparadoxon im Kontext des platonischen Oevres und der zeitgenössischen philosophischen Auseinandersetzungen behandelt. Wir haben dargestellt, wie die Paradoxa im Dialog logisch und kunstvoll auseinander entwickelt werden. Bevor wir nun zur Kommentierung der einzelnen Abschnitte übergehen, gilt es, das Argumentationsziel des Dialogs zu betrachten, um über der Analyse der Einzelheiten den roten Faden nicht zu verlieren und mit Hilfe der Intention des Dialoges die Feinheiten besser zu verstehen. An dieser Stelle soll nun eine Interpretation des Hippias Minor vorangestellt werden, soweit dies möglich ist, ohne den Ergebnissen der Einzelanalysen vorzugreifen. Am Ende der Untersuchung steht eine Schlussbetrachtung, die Deutung dieses Dialoges unter Einbeziehung der in den Detailbetrachtungen gewonnenen Erkenntnisse zusammenfasst. Das philosophiegenetische Modell zur Chronologie des Hippias Minor hat den Dialog in die frühe Phase des Definitionsversuchs einer (oder der) Tugend durch dynamis oder epistēmē verortet. Platon untersucht im Hippias Minor die Möglichkeit, inwieweit dynamis und/ oder epistēmē für die Definition einer Tugend tragfähig sind. Zu Beginn unseres Dialoges steht die Frage nach einem Werturteil über die beiden homerischen Epen. Als Bewertungskriterien werden von Hippias die Epitheta der homerischen Helden vorgebracht. Dabei wird Achill als aristos (gut), Odysseus dagegen polytropos (verschlagen) bezeichnet; polytropos wird mit pseudēs (lügnerisch) identifiziert, während Achill als alēthēs (wahrhaftig) gilt. Hippias kommt von einer ethischen Superiorität Achills gegenüber Odysseus zu einer ästhetischen der Ilias gegenüber der Odyssee. In der nun folgenden Argumentation des Lügnerparadoxons identifiziert Sokrates den alēthēs mit dem pseudēs, da beiden dieselbe dynamis (und/ oder epistēmē) gemeinsam ist. Wie der Wahrhaftige die Wahrheit aufgrund von Fähigkeit (oder Wissen) sagt, so spricht die Unwahrheit der Lügnerische ebenso aufgrund der Fähigkeit (oder des Wissens). Die dynamis (und/ oder epistēmē) erweist sich als ambivalent, da sie auch immer die Möglichkeit des gegenteiligen Effekts bietet, statt der Tugend die Untugend und im konkreten Fall statt der Wahrheit die Lüge hervorzubringen. 158 158 Zum anderen erweist sich die Wahrheit selbst als ambivalent und nicht in jedem Fall als absolutes Gut, da sie bisweilen auch schädlich ist. Um dies zu erkennen und entsprechend zu handeln, reicht die Fähigkeit (und das damit verbundene Wissen), die 79 Hippias‘ Einwürfe, Achill lüge nur unfreiwillig und überhaupt würden unfreiwillige Übeltäter vor Gericht besser beurteilt als freiwillige, lassen Sokrates das Übeltäterparadoxon entwickeln. Wie nun auf dem Gebiet einer epistēmē oder technē derjenige, der freiwillig fehlt, besser ist als, der unfreiwillig Fehlende, so ist auch der vorsätzliche Übeltäter besser als der unvorsätzliche. Doch Sokrates geht noch einen Schritt weiter und kommt bei der deduktiven Argumentation, in der er die Gerechtigkeit als epistēmē oder dynamis oder als Kombination aus beidem definiert, zu dem Schluss, dass derjenige, der freiwillig Unrecht tut, eben der gute Mann ist. Ohne auf die Problematik des Schlusses und die Frage, ob es einen solchen guten Mann, der freiwillig Unrecht tut, überhaupt gibt, an dieser Stelle schon einzugehen, so wird doch deutlich, dass Platon mit der Untersuchung von dynamis und/ oder epistēmē fortfährt und diese sogar als Definienten einer Tugend nutzt. Die Vermutung liegt also nahe, dass Sokrates von Beginn an nicht an der Klärung einer literarisch-ästhetischen Fragestellung gelegen ist. Wie im griechischen Drama Verwicklungen zum Schluss aufgelöst und frühere Ereignisse am Ende ihre Erklärung finden, so ist auch die Schlussargumentation im Hippias Minor als der Höhepunkt zu betrachten, auf den alles hinausläuft und von dem aus das Argumentationsziel des Dialogs zu betrachten ist. Wahrheit zu sagen, nicht aus um wahrhaftig zu sein, sondern es ist hier auch das Wissen vom Guten erforderlich. Doch diese Problematik wird nicht aus den Paradoxa des Dialoges ersichtlich. Überhaupt werden im Hippias Minor die mit der dynamis- Definition einer Tugend verknüpfte Problematik mehr angerissen als wirklich durchdrungen. Das geschieht erst in späteren Dialogen. III - K O M M E N T A R 82 Inhaltsverzeichnis des Kommentarteils 1. Die Ausgangsfrage (363a1-365c8)............................................... 87 A - Inhaltsangabe ....................................................................................87 B - Interpretation .....................................................................................87 1. Schauplatz und Personen ..........................................................87 1.1 Schauplatz ........................................................................87 1.2 Personen ...........................................................................89 2. Das Vorgespräch (363a1-364d6) ...............................................95 2.1 Homer als Erzieher der Griechen und Platons Kritik ........................................................................95 2.2 Sokrates‘ Frage nach dem Besten der homerischen Helden ......................................................................98 2.3 Hippias‘ Antwort ...........................................................101 3. Vielgewandtheit und Verlogenheit (364d7-365c8)...............104 3.1 Die epitheta der homerischen Helden .............................104 3.2 Die Bedeutung von polytropos .......................................110 C - Anmerkungen .................................................................................119 363a2: Prunkrede ..........................................................................119 363a5: philosophischer Beschäftigung .......................................121 364a8: seitdem ich in Olympia kämpfe......................................122 2. Das Lügner-Paradoxon (365c9-368a11).................................... 124 A - Inhaltsangabe ...................................................................................124 B - Interpretation....................................................................................124 1. Wahrhaftigkeit und Lüge (365c9-366e5)................................124 1.1 Der sokratische Methodenwechsel ..................................124 1.2 Die Eigenschaften des Wahrhaftigen und des Lügners ..................................................................126 2. Die Identität des Lügners und des Wahrhaftigen (366e6- 368a11) .............................................................................134 2.1 Die Bedeutung der Beispielbereiche für die Argumentation.......................................................134 2.2 Exkurs zu Platons Wahrheitsbegriff ...............................136 83 2.3 Der Gedankengang der Argumentation .........................140 3. Die Frage nach dem Fehlschluss - Eine kritische Überprüfung der Kritik .................................................142 3.1 Die Kritik an Platon .......................................................142 3.1.1 Fehlschluss aufgrund von Äquivokation (Aristoteles-Oskar Kraus-J.J. Mulhern)...........................142 3.1.2 Fehlschluss aufgrund formaler Fehler ...........................146 3.1.3 Falscher Schluss aufgrund falscher Prämissen .............148 3.2 Die Besprechung der Einwände ......................................149 3.3 Das Resümee...................................................................152 C - Anmerkungen ..................................................................................153 366c7: Rechnen und Rechenkunst ..............................................153 366c9: wie viel dreimal siebenhundert ist .................................153 367d5: Bist du nicht auch in der Geometrie erfahren? ............155 367e8ff: den Astronomen überprüfen, von dessen Kunst du aber mehr zu verstehen glaubst als von den vorherigen..................................................157 368b4: auf dem Markt an den Wechseltischen .........................157 3. Anwendung auf die Ausgangsfrage (368a12-370e4)............. 158 A - Inhaltsangabe ..................................................................................158 B - Interpretation ...................................................................................158 1. Sokrates’ Portrait von Hippias (368a12-369a6) .....................158 2. Die Übertragung des Resultats auf Achilles und Odysseus (369a7-370e4) ..................................................................161 2.1 Hippias‘ Methodenkritik .................................................162 2.2 Sokrates‘ Rückkehr zur Homer-Exegese .........................166 2.3 Das Odysseus-Bild in der damaligen Homer- Exegese und bei Platon...........................................168 3. Schluss und Schlüssigkeit der Argumentation.....................173 C - Anmerkungen .................................................................................175 368b6ff.: Zuerst der Ring […] wäre deine Arbeit und noch ein anderes Siegel .........................................175 368c2: Badekratzer und Ölfläschchen ........................................175 84 368c8ff: Epen, Tragödien, Dithyramben sowie viele unausgearbeitete und manche ausgearbeitete Vorträge ..........................................................................................176 368d4: Rhythmus, Harmonie und Sprachrichtigkeit ...............176 368d6: deine Gedächtniskunst […] in der du glaubst am meisten zu glänzen ....................................177 370c6: denn viel besser ist es ........................................................177 4. Das Übeltäterparadoxon und die Schlussaporie (370e5-373c5) ............................................................................... 179 A - Inhaltsangabe ..................................................................................179 B - Interpretation ...................................................................................179 1. Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit der Lüge bei Achill und Odysseus (370e5-372a5).............................179 1.1 Hippias‘ Argument: Achills Lügen sind unfreiwillig.............................................................179 1.2 Sokrates‘ Schluss: Odysseus ist besser als Achill ...........185 2. Sokrates’ Aporie und die neuerliche Untersuchung (372a6- 373c5) ...............................................................................188 3. Ergebnisprüfung .......................................................................193 C - Anmerkungen .................................................................................196 371b8: des blutigen Kampfes gedenken.......................................196 371c2: Myrmidonen ......................................................................196 371c3: und verbrennt die Schiffe ..................................................196 371c4: Um mein Zelt aber .............................................................197 371d1: Sohn der Thetis und der Zögling des hochweisen Cheiron ......................................................197 371e1: sondern er spricht aus Arglosigkeit .................................197 372a4f: Auch die Gesetze sind freilich viel härter gegen die, die freiwillig Böses tun und lügen ............198 373a6: Zu Recht kann ich auch dich heranziehen.......................199 5. Die induktive Argumentation (373c6-375d6)......................... 201 A - Inhaltsangabe ..................................................................................201 B - Interpretation ...................................................................................201 1. Induktiver Beweis (373c6-375d6)............................................201 85 1.1 Argumente aus dem Bereich der Körperfähigkeiten und -funktionen ...................................202 1.2 Argumente aus dem Bereich von Werkzeugen ...............205 1.3 Argumente aus dem Bereich der handelnden Subjekte ..................................................................206 2. Die Schlüssigkeit der induktiven Argumentation ...............209 2.1 Einwände gegen die Schlüssigkeit ..................................209 (I) Äquivokation.....................................................................209 (II) Unerlaubte Unterschlagung einer einschränkenden Bedingung ............................................209 (III) Die Konfusion von Handlung und Zustand (Aristoteles) .....................................................................209 (IV) Unzutreffende Analogie (Backs/ Horneffer) ....................210 2.2 Besprechung der Einwände ............................................211 6. Die deduktive Argumentation (375d7-376c6) ........................ 213 A - Inhaltsangabe ..................................................................................213 B - Interpretation ...................................................................................213 1. Deduktiver Beweis (375d7-376c6) ..........................................213 2. Schluss und Schlüssigkeit der deduktiven Argumentation 220 2.1 Formale Kritik.................................................................220 (I) Fehlende Explizierung des quantitativen Charakters von Gerechtigkeit in (1) .............................................................220 (II) Fehlender Bikonditional-Zusammenhang in (8) .................221 (III) Äquivokation des dynamis-Terms (Kraus) ........................221 2.2 Inhaltliche Kritik.............................................................221 (IV) Tugend ist keine dynamis (Aristoteles) .............................221 (V) Tugend ist keine epistēmē theoretikē (Aristoteles) ..............222 (VI) Verschiedene Wirkungen trotz gleicher dynamis (Zembaty) ............................................................................................222 (VII) Tun-Verrichten-Unterschied (Jantzen)............................222 (VIII) Problem der Zweiseitigkeit (Jantzen)..............................223 2.3 Auseinandersetzung mit der formalen Kritik .................223 86 2.4 Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Kritik ............225 2.5 Resümee ..........................................................................229 C - Anmerkungen .................................................................................230 375d5: Aber so scheinen sie .........................................................230 7. Epilog: Schlussinterpretation ................................................... 231 1. Die eiper-Klausel oder die Frage: Kann jemand freiwillig fehlen? .....................................................................231 1.1 Es ist unklar, ob der freiwillig Fehlende existiert...............231 1.2 Niemand fehlt freiwillig ........................................................232 1.3 Es gibt den freiwillig Fehlenden ...........................................233 1.4 Philologische Antwort auf eine philosophische Frage ......235 2. Die Intention des Dialoges ...............................................................237 2.1 Die Positionen in der Forschung ..........................................231 (I) Die Reductio ad absurdum sokratischer Lehren (Horneffer/ Hirschberger/ Gauss/ Traglia) ...........................237 (II) Indirekter Beweis platonisch-sokratischer-Lehren.............238 (III) Problematisierung der sophistischen Bildung .................239 (IV) Persiflage eines Sophisten (Wilamowitz/ Eckert/ Apelt) ...239 (V) Logisch-ethisches Übungsstück (Grote/ Hoffmann/ Kraus/ Hoerber/ Sprague/ Jantzen) .................................................240 (VI) Widerlegung falscher Konsequenzen aus dem Intellektualismus-Paradigma (Kutschera) .........................240 (VII) Darlegung des platonischen Freiheitsbegriff (Ovink/ Müller) ............................................................ 240 2.2 Forschungskritik anhand der eigenen Ergebnisse ...........241 2.3 Zusammenfassung ...............................................................243 87 1. Die Ausgangsfrage (363a1-365c8) A - Inhaltsangabe Nach einem Homer-Vortrag des Sophisten Hippias fragt Eudikos den schweigsamen Sokrates, warum er nicht zu dem Gesagten wie die anderen Zuhörer Stellung nehme. Sokrates sagt, dass auch er einige Fragen habe und knüpft an eine auch von Eudikos’ Vater vorgetragene These an, nach der die Ilias um so viel schöner sei als die Odyssee als Achill besser sei als Odysseus. Von dieser These angeregt, möchte Sokrates den Homer- Experten Hippias fragen, welchen von den beiden Helden er für den besten halte. Auf Zuspruch von Eudikos erklärt sich Hippias für selbsverständlich bereit, Sokrates Rede und Antwort zu stehen, wobei er seine Erfahrung und Begabung als Prunkredner betont. Hippias behauptet nun, Homer habe Achill als Besten (aristos), Nestor als Weisesten (sophotatos) und Odysseus als Vielgewandtesten (polytropos) dargestellt. Sokrates erklärt, dass er die Charakterisierung von Achill und Nestor verstanden habe, aber nicht wisse, was vielgewandt bedeute und ob nicht auch Achill vielgewandt sei. Mit einem Odysseezitat versucht Hippias seine Aussage zu verdeutlichen und führt aus, dass Achill wahrhaftig und einfach, Odysseus aber vielgewandt und lügnerisch sei. Sokrates resümiert, dass nach Hippias Ansicht vielgewandt also lügnerisch bedeute und der Lügner und der Wahrhaftige nicht identisch seien. B - Interpretation 1. Schauplatz und Personen 1.1 Der Schauplatz Der Hippias Minor bietet (anders als andere Dialoge) keine ausführliche Schilderung der Gesprächsszene. Nur spärlich lassen sich Hinweise auf den Schauplatz des Dialoges entdecken. Die wichtigste textimmanente Stelle findet sich hier in 364b5, wo Sokrates sagt, dass er während der Rede endon - was unsere Übersetzung mit „drinnen“ wiedergibt - wegen des großen Publikums nicht mit Fragen habe stören wollen; der Vortrag fand 88 also in einem geschlossenen Raum statt 159 , das Gespräch erfolgte anschließend draußen 160 . Damit ist allerdings immer noch nicht geklärt, wo sich der Vortrag ereignet und somit auch später der Dialog spielt. Folgt man einigen Forschern, die die Vortragsankündigung des Hippias im Hippias Maior (286b5f.) auf die Rede im Hippias Minor beziehen 161 , so ist der Vortrag des Hippias in der Schule des Pheidostratos 162 und der Dialog anschließend davor gehalten worden. 163 Gegen diese Vermutung lassen sich zwei gravierende Einwände erheben: Zum einen gilt dieAutorschaft Platons am Hippias Maior als sehr unwahrscheinlich, so dass dieser Ankündigung, sollte sie sich auf den Hippias Minor beziehen, wenig Beweiskraft zukommt. 164 Zum anderen passt auch die Vortragsankündigung im Hippias Maior nicht auf die Thematik der Rede im Hippias Minor, kündigt doch Hippias an, er wolle über die Ratschläge des Nestor an Neoptolemos, durch welche Übungen ein junger Mann Ruhm erlange, sprechen (286a7-b2). 165 Die Rede, die dem Hippias Minor vorausging, thematisierte dagegen die Frage, welches der beiden Epen Ilias oder Odyssee schöner sei (363a5-b2). 166 Wenn 159 Zu im Zusammenhang mit Vorträgen oder Gesprächen von Sophisten vgl. Prt. 311a1; a8; a10; 317c7; Plt. 328b8; Smp. 176e8; 213c6; Grg. 447c7; 455c6. 160 Vgl. H ÖSLE , V ITTORIO , Der philosophische Dialog, S. 214 Anm. 10. 161 Vgl. W. C. K. G UTHRIE , A History of Greek Philosophy, Cambridge 1975, Bd. 4 S. 191 Anm. 3. 162 Die Lage dieses Gebäudes ist heute nicht mehr genau zu klären. 163 Z. B. J OHN P HILLIPS , A study of Plato’s Hippias Minor, 4. 164 So erklärt Phillips wenig überzeugend: „Though this may suggest that the Hippias Maior is not by Plato, it can and may be understood to be an allusion to the scene preceding the beginning of our dialogue; but whether this weight in determining which dialogue was written first, or whether the Hippias Maior is authentic, is something that lies ouside the scope of this inquiry” (ibid. 4). 165 R UDOLF H IRZEL vermutet unter Berufung auf Philostrat (vit. Soph. 15), dass es sich dabei um einen Dialog gehandelt haben könnte. Möglicherweise beschränkte sich das Dialogische darauf, dass Neoptolemus die Frage stellte […], und Nestor diese Frage in einer längeren Rede beantwortete“ (Idem, Der Dialog. Ein literaturgeschichtlicher Versuch, Bd. 1, Leipzig 1895, 59). 166 […] Zur Themenverschiedenheit der Vortragsankündigung und der von Hippias gehaltenen Epideixis s. M ARION S ORETH , Der platonische Dialog Hippias Maior (Zetemata 6, 1953), 12 Anm. 1. H ELLMUT F LASHAR hält dieses Argument für falsch, „denn der Inhalt des Hipp. Mi. ist keineswegs mit der zu Beginn des Dialoges erwähnten identisch, sondern wird von dieser ausdrücklich abgesetzt” (Idem, Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, Berlin 1958, 36 Anm. 1). Dagegen spricht das (363a7f.), das nicht absetzt, sondern anknüpft. Die von Flashar aufgestellte Behauptung, Hippias habe zu Beginn des Hippias Minor die Epideixis gehalten, zu der Ion nicht gekommen sei, - wobei Inhalt der Epideixis für einen solch kompositionellen Anschluss sekundäre Bedeutung 89 auch die Räumlichkeiten, in denen der Vortrag stattfand, unbekannt bleiben, so dürfte es sich aufgrund des wohl größeren Zuhörerkreises ( , 364b7) um ein öffentliches Gebäude (und nicht wie vielfach auch um ein Privathaus) gehandelt haben. 167 1.2 Die Personen Wichtiger als der Schauplatz sind in einem Dialog die auftretenden Gesprächsteilnehmer. Hauptgesprächspartner des Sokrates und Namensgeber des Dialoges ist der Sophist Hippias aus Elis. Außerplatonische Zeugnisse zum Leben und Wirken des seiner Zeit berühmten Sophisten sind nur spät und spärlich vorhanden. 168 Das byzantinische Lexikon Suda nennt Diopeithes als Vater und Hegesidamos als Lehrer. 169 Otto Apelt 170 vermutet hinter Hegesidamos einen Lesefehler in der Majuskelschrift und vertritt als richtige Lesart den Namen Hippodamos. Hippodamos war in der Perikleischen Zeit ein berühmter Architekt mit polyhistorischen Ambitionen. Er gilt als Erfinder des regelmäßigen Städtebaus, der auf einem gleichmäßigen Muster von sich rechtwinklig schneidenden und parallelen Straßen basiert 171 . Als Architekt war er in Athen vor allem für den Ausbau des Hafens Piraeus und der Agora verantwortlich. Hippodamos war nach Aristoteles der erste, der, ohne selbst aktiv in der Politik zu sein, einen Entwurf des besten Staates machte. 172 Darüber hinaus war er auch naturwissen- habe - entbehrt jeder Textgrundlage (Ibid.). - S TEINHART sieht in dieser Diskrepanz sogar ein Indiz für die Echtheit des Hippias Minor, die er allerdings von der Authentizität des Hippias Maior abhängig macht, wenn er argumentiert, „gerade hier würde ein Fälscher gewiß nach der wörtlichen Übereinstimmung gestrebt und sein Werk lieber an eine Rede Nestor’s, als an eine ganz andere, dort gar nicht verheißene angeknüpft haben“ (Idem, Platon’s sämmtliche Werke, 107). 167 Gegen J ÖRG J ANTZEN , der hier wie in anderen Dialogen (vgl. Prt., Grg., Euthd.) das (Privat-)Haus eines vornehmen Atheners annimmt (Idem, Hippias minor. Kommentar, 29). 168 Inwieweit die platonischen Berichte die späteren beeinflusst haben, kann hier nicht berücksichtigt werden und müsste Gegenstand einer eigenen quellenkritischen Untersuchung sein. 169 , , , , , . (A DLER , A DA , Suidae Lexicon, 5. Bde., Leipzig 1928-38, Iota 543). Apuleius aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert bezeichnet ihn von unbekannter Herkunft (genus ignoratur; Florides IX, 15). 170 Idem, Beiträge zur Geschichte der griechischen Philosophie, Leipzig 1891 [ND Aalen 1975], S. 382 Anm. 1 171 Arist. Pol. VII 11, 1330b24ff. 172 Arist. Pol. II 8, 1267b30. 90 schaftlich interessiert. 173 Mit seinen verfassungsrechtlichen und physikalischen Interessen könnte Hippodamos seinen Schüler Hippias beeinflusst haben. Auch sein extravaganter und affekthascherischer Lebens- und Kleidungsstil mag Hippias als Vorbild gedient haben. Sowenig es gesicherte Informationen zu Herkunft und Bildungsweg des Sophisten gibt, haben wir verlässliche Lebensdaten für Hippias. Im (pseudoplatonischen) Hippias Maior sagt Hippias, er sei viel jünger als Protagoras. 174 Wenn man damit einen Altersunterschied von mindestens 10 bis 20 Jahren annimmt und das Geburtsjahr von Protagoras um 490 v. Chr. ansetzt 175 , könnte Hippias zwischen 480 und 470 v. Chr. geboren sein. 176 Dazu passt, dass er nach antiker Überlieferung gleichaltrig mit Sokrates war. 177 Für das Todesjahr würde, wenn die Bemerkung in der Apologie (19e1-4) Hippias zur Zeit des Prozesses gegen Sokrates noch als lebend voraussetzt, das Jahr 399 v. Chr. Terminus ante quem non sein. 178 Sein Leben verbrachte Hippias trotz etlicher Auslandsreisen in seiner Heimatstadt Elis. 179 Er hatte dort mit seiner Frau Platane drei Söhne. 180 173 Arist. Pol. II 8, 1276b28. 174 (282e2). 175 Zum Geburtsjahr des Protagoras vgl. M ANUWALD , B ERND , Protagoras. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1999, 96. 176 M ARIO U NTERSTEINER setzt das Geburtsjahr um 443 v. Chr. an (Idem, The Sophists.Translated form Italian by Kathleen Freeman, Oxford 1954, 272). Dagegen spricht unsere fiktive Chronologie des Hippias Minor, die das Dialoggeschehen auf das Jahr 420 v. Chr. datiert. Hippias wäre dann nach Untersteiner etwas über 20 Jahre. Das passt aber nicht zu dem Bild eines arrivierten Sophisten und einflssreichen Diplomaten, das wir sonst von Hippias haben. Völlig unmöglich wird diese Annahme, wenn wir die fiktive Chronologie des Protagoras zu Hilfe nehmen, die den Dialog Ende der dreißiger Jahre des 5. Jahrhunderts ansiedelt (vgl. M ANUWALD , Protagoras, 82): Hippias wäre in diesem Fall sogar noch ein Knabe von unter 15 Jahren und sollte dann in einer Runde erlauchter Sophisten als Experte für Astronomie auftreten dürfen. Auch wenn prinzipiell die fiktive Chronologie eines Dialoges nicht das historische Alter einer Person berücksichtigen muss, so erscheint doch U NTERSTEINERS Datierung sehr problematisch. 177 So in der schon zitierten Stelle bei Apuleius. 178 Tertullian berichtet in einer Invektive gegen die heidnischen Philosophen, „Hippias dum civitati insidias disponit occiditur“ (Apol. 46, 11f.). Dahinter dürfte eine Verwechslung mit dem Tyrannen Hippias stehen. Die Manuskripte bieten hier auch verschiedene Lesarten. U NTERSTEINER glaubt der Überlieferung Tertullians und sieht darin einen Hinweis auf den Aufstand der Demokraten gegen die Oligarchen im Jahr 346 v. Chr (The Sophists, 273). Auch wenn wir Untersteiners sehr späte Datierung für das Geburtsjahr um 443 v. Chr. annehem, dürfte Hippias mit einem Alter von fast hundert Jahren für einen Putsch recht alt gewesen sein. Die Hypothese einer Namensverwechslung ist daher wahrscheinlicher. 179 Unverständlich ist, dass U NTERSTEINER unter Berufung auf Philostrat (V. Soph. 1, 11, 6) Sizilien für sein späteres Domizil hält und einen Einfluss des Hippias auf die Gesetzgebung Dionysios des Jüngeren mutmaßt (The Sophists, 272). In der erwähnten 91 Als gesichert gelten die Angaben zum Wirken des Sophisten. Hippias verfügte über gute mathematisch-naturwissenschaftliche Kenntnisse. Er war bewandert in Arithmetik und Geometrie 181 und kannte sich in Astronomie und Physik 182 aus. Hippias war auch auf dem Gebiet antiquarischer Gelehrsamkeit tätig. Da ein breites Interesse an der Genealogie von Göttern und Heroen bestand, erforschte er deren archeologai. 183 Er erstellte ein Verzeichnis der Olympioniken 184 , das den ersten Versuch einer wissenschaftlichen Grundlage der griechischen Chronologie darstellt. Der Titel eines Buches über Ethnōn onomasíai ( , B2) weist auf eine ethnographischetymologische Untersuchung hin. Hippias leistete ebenfalls auf philologisch-literaturwissenschaftlichem Gebiet Pionierarbeit. Er beobachtete, dass das Wort „tyrannos“ nicht vor der Zeit des Dichters Archilochos in der griechischen Sprache gebräuchlich war. 185 Hippias fertigte eine thematische Sammlung von Parallelexzerpten der alten Dichter (Orpheus, Musaios, Homer und Hesiod) an 186 , der wahrscheinlich auch eine Zusammenstellung aus den Passagen der ältesten Philosophen folgte. 187 Als Sprachwissenschaftler untersuchte er die Regeln der Metrik und Prosodie und war dabei innovativ. 188 Seine Haupttätigkeit Philostrat-Passage heißt es aber nur, dass Hippias auf einer hochbezahlten Vortragsreise nach Inykos auf Sizilien kam. 180 Platane hat laut Plutarch (Vit. X or. 4, p. 838a; 839b [= DK 86 A3]) als Witwe den hochbetagten Isokrates geheiratet. Hippias jüngster Sohn Aphareus wurde dieser Quelle zufolge von Isokrates adoptiert und ist als Redner und Tragödiendichter in Erscheinung getreten. 181 Vgl. Philostratos, Vit. Soph., I, 11, 1ff. (zit. nach DK 86 A 2, 2). Hp. Mai. 285c7. 182 Vgl. Philostratos, Vit. Soph., I, 11, 1ff. (zit. nach DK 86 A 2, 2). Hp. Mai. 285c1; Prt. 315c5f.. 183 Vgl. Hp. Mai. 285d6-e2. 184 (DK 86 B 3). 185 Vgl. DK 86 B 9. 186 Vgl. DK 86 B 6. 187 Vgl. DK 86 B 7. B RUNO S NELL bezeichnet ihn deshalb auch als ersten Literatur- und Philosophiehistoriker (Idem, Die Nachrichten über die Lehren des Thales und die Anfänge der griechischen Philosophie- und Literaturgeschichte, in: Philologus 96 (1944), 170ff.). R UDOLF P FEIFFER hält es dagegen für unzutreffend, in diesen Sammlungen, die den praktischen Erfordernissen seiner Redner- und Vortragstätigkeit dienten, den Beginn der Literatur- und Philosophiegeschichte auszumachen (Idem, Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Hamburg 1970, 75). 188 (Hp. Mai. 285c9-d2). Vgl. Philostrat. Vit. Spoh.1,11,1 (DK 86 A 2,1). Dabei ging er von einfachen Lauten aus, kam dann über Silben und ihre Quantitäten zu einer Abfolge von langen und kurzen Silben, die zu Rhythmen und schließlich zu Tonarten führten. War vor Hippias und anderen Sophisten die dichterische Sprache das Gebiet der Musiker, so hatte sich im Gefolge der Philologie die Metrik von der Rhythmik getrennt. 92 war - wie es die platonische Überlieferung nahe legt - die Interpretation der Dichter. 189 Hippias wirkte nicht nur als Interpret, sondern war selbst literarisch und künstlerisch tätig. Er soll Epen, Tragödien und Dithyramben verfasst haben 190 ; unter seinem Namen ist eine Elegie auf den Untergang des messenischen Knabenchors überliefert. 191 Hippias hat sich (theoretisch) mit Malerei und Bildhauerei beschäftigt. 192 Des Weiteren zeichnete ihn auch technischpraktisches Geschick aus. 193 Neben seiner Tätigkeit als Sophist und Polyhistor war Hippias auch diplomatisch tätig. Er diente seiner Heimatstadt Elis lange Zeit als Gesandter in Staatsangelegenheiten 194 , in deren Mission er sich eine gute Reputation erwarb und Ehrenbürger in verschiedenen Städten wurde. 195 Der platonische Dialogpartner Hippias ist eine leicht ironisierte und bisweilen auch karikierte Darstellung des historischen Hippias. 196 Im Protagoras gehört Hippias zu den im Hause des Kallias versammelten Sophisten. Mit dem Homerzitat „Jenen zunächst erblickte ich“ wird der Homerkenner Hippias eingeführt 197 , der gleichsam über naturwissenschaftliche Fragen auf einem Thron ( , 315c1) zu Gericht sitzt und (schiedsrichterliche) Entscheidungen ( , 315c7) fällt. 198 Als es zwischen Protagoras und Sokrates in der Frage des methodischen Vorgehens zu einer Gesprächskri- R UDOLF P FEIFFER betont den innovativen Charakter von Hippias auf diesem Gebiet (Geschichte der klassischen Philologie, 77). 189 In den beiden platonischen Dialogen, in denen Hippias auftritt, äußert sich Hippias zur Interpretation von Dichtern; im Hippias Minor ist ein Homervortrag das Thema, im Protagoras möchte er einen Vortrag über Simonides halten (34a6-b2), wird aber von Alkibiades aufgrund vorheriger Vereinbarungen daran gehindert. Im (vielleicht pseudoplatonischen) Hippias Maior wird eine Rede zum homerischen Sagenkreis angekündigt (286a7-b2). 190 g g ( ) (Hp. Mi. 368c8-d1). 191 Vgl. Paus. V, 25,4 (=DK 86 B 1). 192 (Philostrat, Vit. Soph. 1, 11, 2ff. = DK 86 A 2,2). 193 , wie die Suida berichtet (DK 86 A 1). 194 Vgl. Philostratos, Vit. Soph. 1, 11, 5 (= DK 86 A 2); Hp. Mai. 281a3-b1. 195 (Philostatos, Vit. Soph., 1, 11, 5= DK 86 A 2,5). 196 Das eingangs erwähnte Problem der Quellenscheidung muss hier außer Acht gelassen werden. 197 ’ (Od. 11, 601). Dieses Odysseezitat, das im Zusammenhang der Unterweltreise im Buch Nekyia steht, lässt nach M ANUWALD (Platon. Protagoras, 133) den Sophisten im Vergleich zum lebendigen Philosophen Sokrates als Schattengestalt erscheinen. 198 Sowohl der Thron als Sitz von Autoritäten (vgl. LSJ 807) als auch das forensische Verb (vgl. LSJ 399) veranschaulichen den iudikalen Charakter der Szene. 93 se kommt, tritt Hippias vermittelnd auf und schlägt einen Kompromiss vor (337e2-338b2). Dabei versucht er unter Anspielung auf die Nomos-Physis- Debatte 199 eine natürliche Gelehrtengemeinschaft 200 der größten Denker Griechenlands zu beschwören (337c7-e2). Er ist es auch, der zusammen mit Prodikos Sokrates zu der für den Dialog wichtigen Simonides-Interpretation ermuntert (342a4f.). Im Anschluss an diese Auslegung, die Hippias lobt, bietet er einen schon vorbereiten Vortrag an (347a6-b2), den er ohne falsche Bescheidenheit als gut gelungen anpreist. Er wird aber von dem Gesprächspartner Alkibiades unter Hinweis auf getroffene Vereinbarungen ausgebremst (348b2ff.). Der (wohl pseudoplatonische) Hippias Maior zeichnet (wie der Hippias Minor) ein stark ironisiertes und karikiertes Charakterbild des Sophisten. Hippias wird dort als Polyhistor, der auf dem Gebiet der Astronomie (285c1f.), Geometrie (285c4), Arithmetik (285c7), Metrik und Rhythmik (285c9-d2), Archäologie (285d6-e2) und der Gedächtniskunst bewandert ist, dargestellt. Sein Wissen weiß er gut und teuer zu verkaufen (281b6f.). So rühmt er sich, auf Sizilien trotz Anwesenheit seines älteren und berühmteren Konkurrenten Protagoras mehr als 150 Minen 201 und in der Kleinstadt Inykon 202 mehr als 20 Minen mit seinen Vorträgen verdient zu haben (282e1-8). Er sieht sich sogar als Sophist und Vertreter der modernen Methode den Sieben Weisen überlegen, die philosophische Forschung und politische Betätigung noch nicht verbinden konnten (281c8-282a3). Aus Furcht vor der Missgunst der Leute und dem Zorn der Verstorbenen verhehlt Hippias seine Geringschätzung und lobt stattdessen seine Vorläufer (282a4-8). Hippias erscheint hier als ein bis zur Lächerlichkeit eitler und selbstsicherer Sophist, dessen Polymathie zur Klärung der philosophischen Frage nach dem Wesen des Schönen nichts beizutragen vermag. 199 Hippias vertritt an dieser Stelle die Position, dass die natürliche Verwandtschaft unter Gleichen Vorrang vor dem (teilweise oktroyierten) Nomos habe. 200 Der Topos der res publica litterarum dient wohl in der rhetorisch durchstilisierten Rede (vgl. dazu M ANUWALD , Protagoras, 295) zur captatio benevolentiae. Allerdings vermuten hier einige Interpreten (so E CKHART S CHÜTRUMPF , Kosmopolitismus oder Panhellenismus, in Hermes [100] 1972, 5-29, S.7ff) die Imitation einer Rede mit panhellenischer Zielrichtung, die Hippias in Olympia gehalten haben könnte. 201 Die Umrechnung in heutige Währung ist problematisch. Zur Illustration der Kaufkraft kann dieser Athener „Warenkorb“ dienen: Ein Sklave kostete etwa drei Minen, ein typisches Segelschiff ungefähr 60 Minen und ab 180 Minen bekam man ein staatliches Bürgerhaus. Das Jahreseinkommen eines Athener Bogenschützens lag im Vergleich bei knapp zwei Minen. 202 Altes Städtchen auf Sizilien, dessen genaue Lokalisierung nicht möglich ist. 94 Eudikos, der dritte Gesprächsteilnehmer im Hippias Minor, ist wie sein nur namentlich erwähnter Vater Apemantos ansonsten unbekannt. 203 Möglicherweise handelt es sich dabei um den gleichnamigen Politiker, der im Jahr 409 v. Chr. einen Antrag vor der Volksversammlung stellte. 204 Als Staatsmann könnte er mit dem Gesandten Hippias z. B. als Proxenos 205 von Elis diplomatische Beziehungen gepflegt haben. Vielleicht ist ihm daher auch die Rolle eines Vermittlers auf den Leib geschrieben worden. Im Hippias Maior kündigt Hippias den schon erwähnten Vortrag auf Bitten des Eudikos an (286b6f.). Im Hippias Minor ist es Eudikos, der das Gespräch zwischen Sokrates und Hippias vermittelt. 206 Als es zur Gesprächskrise kommt, ist es wieder Eudikos, der auf Sokrates’ Bitte vermittelnd für eine Fortführung des Dialogs eintritt. 207 Eudikos erweist sich als guter Diplomat und wahrt Neutralität; eine Entwicklung vom Sophistenschüler zum Skeptiker gegenüber dem Sophismus, wie sie Phillips behauptet 208 , lässt sich darüber hinaus anhand der vermittelnden Interventionen und der sonst kurzen Wortbeiträge nicht ausmachen. 203 Vgl. G UIDO C ALOGERO , Intruduzione all’ Ippia Minore, 284; W ILAMOWITZ , Platon, 136 Amn. 2. 204 Vgl. Inscriptiones Graecae I 59. 205 Für das Recht des Fremden war zunächst der Gastfreund (xenos) verantwortlich. Wer aber keinen privaten Gastfreund hatte, konnte sich an den dortigen Proxenos seiner Heimatstadt, der an Stelle (und daher wohl pro xenou) eines Gastfreundes Aufnahme, Schutz und Hilfe (in Rechtsfragen) gewährte und die Interessen dieser Stadt in seiner Heimatstadt vertrat, wenden. Diese Stellung, die heute mit der eines Honorarkonsuls zu vergleichen ist, galt als prestigeträchtig und wurde häufig einflussreichen Männern angetragen. 206 Vgl. 363a1; c3. K ARL F RIEDRICH H ERMANN sieht sogar eine doppelte Funktion: „[Eudikos] ist hier sehr geschickt gebraucht, um einerseits den Schein der Provocation zum Streite von Sokrates abzulenken, andererseits Hippias festzuhalten, indem er ihn durch seine Gutmüthigkeit bei der Ehre angreift […]“ Hermann wertet diesen dramatischen Kunstgriff überdies als Argument für die Authentizität des Dialoges: „als ich schon in der Anwendung des dritten Mitunterredners Eudikos an sich eine dramatische Feinheit erblicke, worauf ein Fälscher schwerlich gefallen seyn dürfte“ (Idem, Geschichte und System der platonischen Philosophie, 433; 433 Anm. 254). 207 Vgl. 373a6; a10-b2; b6-9. 208 „We have there, here at the openening, a picture of a a typical student of a Sophist, who shares this particular Sophist’s claims about his own knowledge are in fact substantially correct. The dialogue will destroy this view of this Sophist a knowledgeable, and any confidence that can be derived from this view” (P HILLIPS , A study of Plato’s Hippias Minor, 49). Es ist überhaupt fraglich, ob Eudikos zum Schülerkreis des Sophisten gehörte. So die Hypothese von M AURICE C ROISET (Platon. Œuvres complètes, 25). Vorsichtiger drückt sich L AMPERT aus: „a young man, presumably, of the sort Hippias aims to win with his teaching on nobility” (Idem, Sokrates’ Defence of polytropic Odysseus, 236). 95 2. Das Vorgespräch (363a1-364d6) Am Anfang des Dialogs steht ein schweigsamer Sokrates. 209 Schweigsamkeit ist ein vieldeutiges Verhalten in der griechischen Tradition. Eudikos spricht Sokrates auf sein Schweigen an und fordert ihn zu einem positiven oder kritischen Kommentar zum eben gehörten Vortrag. Die empathische Anrede „Du aber“ (363a1) am Satzanfang, die für den griechischen Interrogativsatz redundant und in der deutschen Übersetzung schlecht nachzuahmen ist, betont das für den Sprecher ungewöhnliche Verhalten eines schweigenden Sokrates. 210 Mit dem Hinweis auf den kleinen (nur aus ihnen bestehenden) Zirkel an der Erörterung philosophischer Fragen 211 Interessierter versucht Eudikos Sokrates durch eine captatio benvolentiae zu einem Gespräch mit Hippias einzuladen (363a4f.). Die emphatische Einleitung der Antwort mit kai men (363a6) hebt das von Sokrates bekundete Interesse an Nachfragen zu Hippias’ Homer Vortrag hervor (363a6f). Wenn wir die von Sokrates eingebrachten Fragen zur Homer-Hermeneutik verstehen und richtig einordnen wollen, müssen wir zuerst die Bedeutung Homers in damaligen Griechenland im Allgemeinen und die Einschätzung Platons im Besonderen klären. 2.1 Homer als Erzieher der Griechen und Platons Kritik Zunächst galten seit frühester Zeit die weisen Dichter als die Lehrer und Erzieher Griechenlands und hatten diesen Status auch noch lange dann inne, nachdem die Philosophen und Sophisten begonnen hatten, diesen 209 Schweigsamkeit ist ein vieldeutiges Verhalten in der griechischen Tradition. In der Tragödie ist es die Reaktion auf eine Situation, in der Reden unmöglich oder ineffektiv ist. Schweigen kann aber auch Ausdruck von Verachtung sein (z. B. Od. 11, 563f.). Sokrates interpretiert Schweigen oft als Zustimmung (so im Fall seines Anklägers Meletos, Apol. 27c10) und fordert seine ruhigen Dialogpartner zur kritischen Stellungnahme auf (wie z. B. Grg. 506b6f.). Zur Interpretation des Schweigens in der griechischen Tradition und bei Platon s. B LONDELL , R UBY , The elenctic Socrates at work: Hippias Minor, in: Idem, The Play of Character in Plato’s Dialogues, Cambridge 2002, 113-164, 123. Wenn Sokrates hier selbst schweigt, so ist das nicht als Zustimmung aufzufassen, wie die von Sokrates gestellten Fragen zeigen werden, sondern ein Kunstgriff Platons, der auf diese Weise den dritten Dialogpartner Eudikos als Vermittler einführen kann. Diese Deutung wird durch den Umstand gestützt, dass sich die Rolle des Eudikos nur auf die des Vermittlers beschränkt und er darüber hinaus keinerlei Sachbeiträge einbringt. 210 Vgl. L AMPERT , Socrates’ Defence of polytropic Odysseus, 236. Das Schweigen des Sokrates steht, so Lampert weiter, im Kontrast zu dargebotenen Eloquenz des Hippias (ibid.). 211 Zur Formulierung vgl. Theait. 172c9-d1; 173c7f. 96 Anspruch in Frage zu stellen. 212 Als der weiseste unter ihnen wurde nach einem Diktum Heraklits der Rhapsode Homer angesehen. 213 Diese Einschätzung bestätigt auch ein Wort des Xenophanes, nach dem von Anfang an alle bei Homer gelernt haben. 214 Nach Herodot haben Homer und Hesiod die Gottesvorstellung der Griechen geprägt, indem sie ihnen Beinamen und spezielle Wirkungsbereiche zuwiesen und ihr Aussehen beschrieben haben. 215 Doch auch im praktischen Bereich bot Homer Belehrung. So ließ der Vater des Nikeratos, eines Gesprächsteilnehmers des xenophontischen Symposions, seinen Sohn die beiden Epen Homers auswendig lernen, damit aus ihm ein ordentlicher Mensch würde. 216 In den Memorabilien Xenophons erläutert Sokrates einem Mann, der zum Strategen gewählt worden war, die Bedeutung seines Amtes an der Gestalt des Agamemnon, den Homer als Hirten der Völker sowie als guten und starken Kämpfer bezeichnet hat. 217 Hier ersetzt das Zitat den weiteren kritischen Diskurs. Die Autorität Homers, der schon durch seine Verwendung im Schulunterricht eine große Breitenwirkung erzielte, kann zu dieser Zeit nicht unterschätzt werden. Gleichzeitig beginnt aber auch eine philologisch-philosophisch kritische Auseinandersetzung mit dem geistigen Vater Griechenlands. Besonders Platon setzt sich kritisch mit dem Wissen der Dichter und der Funktion der Dichtung auseinander. Im zweiten Buch der Politeia spricht Platon über die Erziehung der Wächter. Die den Kindern erzählten Geschichten ( ) sind entweder wahr oder falsch (376e12); die falschen Geschichten, die , enthalten aber dennoch einen Funken Wahr-heit ( , 377a5). Es ist vonseiten des Gesetzgebers zu verhindern, dass die Kinder sich mit den Mythen falsche Meinungen aneignen 212 Vgl. zu dieser Entwicklung D ALFEN , J OACHIM , Polis und Poiesis. Die Auseinandersetzung mit der Dichtung bei Platon und seinen Zeitgenossen, München 1974. 213 (DK 22 B 56). Dieses Diktum ist um so mehr bemerkenswert, als Heraklit sonst heftige Homer-Schelte übt (Dennoch ist dieser Komparativ wieder einschränkend, da er Heraklit nur im Hinblick auf die Gruppe der Griechen größere Weisheit zubilligt, aber nicht positiv sagt, dass dieser nach philosophischen Maßstab weise ist). Diese Einschätzung wird auch im Ion thematisiert, wenn es dort heißt: (530b9f.). 214 ’ (DK 21 B 10). 215 (Hist. 2, 53,2.). 216 (Xenophon, Smp. 3,5). 217 Xenophon, Mem. 3,2. 97 (377b5ff.). Als falsche Meinungen gelten vor allem unzutreffende Vorstellungen von Göttern, nach denen diese schlecht handeln. 218 Platon lehnt dabei Fiktionalität nicht per se ab, sondern kritisiert ethisch anstößige Erzählungen ( , 377d9). So sollen die problematischen Theogonie-Passagen den jungen Leuten am besten verschwiegen werden (378a3f.), wenn es aber nötig wäre, sie zu erzählen, dann nur wenigen auf verschlüsselte Weise ( ’ 378a5). Auch die homerischen Theomachien 219 haben keinen Platz im platonischen Idealstaat (378d5f.), wenn sie möglicherweise auch einen verborgenen Sinn enthalten ( ’ 378d6f.). Platon vermeidet mit diesem Konzessivsatz eine Stellungnahme zur Allegoresedebatte 220 und verwirft präventiv Homer in der Jugenderziehung mit Rücksicht auf die fehlende Urteilskraft von jungen Leuten (378d6f.). 221 Platon stellt nicht die Weisheit der Dichter oder ihre teilweise richtigen Einsichten infrage. Er bestreitet aber, dass sich über (rational begründetes) Wissen ( ) verfügen, sondern billigt ihnen göttlich inspirierte richtige Meinung ( ) zu. 222 Im Ion legt Sokrates dem gleichnamigen Rhapsoden dar, dass dessen Kunst auf göttlicher Inspiration beruhe und 218 Als Beispiel führt Platon Hesiods Mythen von Uranos und Kronos an (377e8-37a2). In der Theogonie erzählt Hesiod, dass Uranos, der erste Göttervater, aus Angst vor Entmachtung seine Kinder in der Erde gefangen hielt, bis ihn sein Sohn Kronos mit Hilfe seiner Mutter Gaia entmannte (Vv 154-181). Kronos wiederum wütete auch gegen seine Kinder und verschlang sie. Nur Zeus wurde von seiner Mutter Rhea gerettet, er befreit die Geschwister und errang selbst die Weltherrschaft (Vv 453-506). 219 Vgl. Il. 20, 1-74; 21, 385-513. 220 Zur Wortbedeutung s. W ALDE , C HRISTINE , Allegorese, in: Der Neue Pauly (1996) Bd. 1, Sp. 518, zur Wortgeschichte s. N. J. R ICHARDSON , Homeric Professors in the Age of the Sophists, in: Proceedings of the Cambridge Society 201 (1975), 65-81, 66f. Der Beginn der Homer-Allegorese steht im engen Zusammenhang mit dem Aufkommen der philosophischen Dichterkritik der Vorsokratiker, die das anthropomorphe Götterbild der Ilias kritisierten. Ein Zeitgenosse des Xenophanes ist Theagenes von Rhegion, der sich der Allegorie als Mittel zur Verteidigung Homers bediente. So sieht er die paarweise Gegenüberstellung der Götter in Ilias 20. 67 als Antagonismus der natürlichen Elemente (trocken und feucht, warm und kalt, leicht und schwer) und identifiziert die Gottheiten mit menschlichen Fähigkeiten: Athene mit Ares mit Aphrodite mit und Hermes mit (DK 8.2). Pherekydes von Syros fasst in den wenigen von ihm überlieferten Testimonien die Gottheiten als kosmische Kräfte auf: als Feuer, als Erde und als Zeit (DK 7 A 8; 9). Metrodor von Lampsakos, ein Schüler des Anaxagoras, dehnte die physikalische Erklärung der Götter auch auf die Heroen aus: So steht Agamemnon für den Äther, Achill für die Sonne und sein Gegenspieler Hektor für den Mond (DK 61.4). 221 Tate bemerkt zu Recht: „The existence of ,undersenses’ in the myths he neither afirms nor denies […]“ (Plato and allegorical Interpretation, S. 154). 222 Men. 99c3f. 98 somit kein auf intelligiblen Prinzipien fundiertes Wissen sei (533dff.). Damit haben die Dichter ihre Autorität im philosophischen Diskurs eingebüßt. Gleichwohl können sie Vehikel transphilosophischer Einsichten sein. 223 Ein weiteres Problem stellt für den Philosophen die Ambivalenz dichterischer Interpretation dar, die ein und dieselbe Passage unterschiedlich und sogar gegensätzlich auslegbar macht. Im Charmides (161a2) zitiert Sokrates den Homervers „Scham steht dem darbenden Manne nicht gut an“ 224 (Übersetzung des Verf.) um zu beweisen, dass Besonnenheit nicht Schamgefühl ist, da Besonnenheit nur gut, Schamgefühl ( ) aber ambivalent ist. In dem zeitlich nicht weit auseinander liegenden Dialog Laches (201b1ff.) führt Sokrates denselben Homervers an um darzulegen, dass man sich nicht schämen dürfe, alles daran zu setzen, um durch Erziehung besser zu werden; in diesem Fall ist Scham rein negativ konnotiert. Ein weiteres Beispiel ist das Pindarzitat „Das Gesetz, der Sterblichen König und Unsterblichen“ 225 (fr. 169 Snell). Im Gorgias (484b4f.) stützt sich Kallikles auf dieses Pindarwort, um seine These vom Recht des Stärkeren zu stützen. Der Starke schüttelt die Gesetze und Bindungen, die zum Schutze des Schwachen eingerichtet wurde, kraft des natürlichen Rechts ab. Bei Pindar findet er bestätigt, dass der Nomos „führt von Natur herbei rechtfertigend das Gewaltsame mit übermächtiger Hand“ 226 , wie es im Gedicht weiter heißt. Im Protagoras spielt der Sophist Hippias auf diese Stelle an (337d1ff.) und appelliert an die intellektuelle Gleichheit der Gesprächsteilnehmer, die in der Physis und nicht im Nomos gründet; ein Zerwürfnis unter Gleichen wäre somit naturwidrig. Die fehlende Reflexion, die falsche Moral oder Ambivalenz der Dichtung lassen Platon die Heranziehung von Dichtern als Autoritäten in philosophischen Fragen untauglich erscheinen.Vor diesem Hintergrund müssen wir die nun folgende Debatte über Homer-Exegese mit gebotener Vorsicht beurteilen. 2.2 Sokrates’ Frage nach dem Besten der homerischen Helden Sokrates ergreift die Gelegenheit und möchte den Spezialisten für Homer- Hermeneutik zu einem Thema befragen, über das er schon Apemantos 227 , 223 So wird Sokrates im Traum mit einem Ilias-Zitat (9,363) sein baldiger Tod prophezeit (Cri. 44b2). 224 ’ (Od. 17,347). 225 / 226 So die Textüberlieferung im Grg. Eine andere Lesart bietet das Schol. Pind. Nem. IX 35; vgl. Legg. 714e 227 Ob es sich dabei auch um einen Vortrag gehandelt hatte und Apemantos ebenfalls Homer-Spezialist war, bleibt offen. Es ist für die Dialogkonstellation förderlich, dass die Thesen, die Sokrates im Folgenden referiert, vom (abwesenden) Vater des dritten 99 den Vater des Eudikos, gehört hatte. Der Satzbeginn mit kai gar (363b1) legt nahe, dass auch Hippias’ Vortrag über diese Thematik gehandelt hat. 228 Sokrates stellt die von Apemantos aufgestellten Thesen vor, über die er die Meinung des Experten Hippias erfahren möchte: (1) Auf jeden der beiden homerischen Helden wurde ein Epos geschrieben: auf Achill die Ilias und auf Odysseus die Odyssee (363b4f.). 229 (2) Die Ilias ist schöner (kallion) als die Odyssee (363b2f.) und zwar in dem Maße (3) wie Achill besser (ameinon) ist als Odysseus (363b3f.). Die These (1) ist eine Grundannahme. Die These (2) enthält ein Urteil, dessen Kriterium These (3) angibt. Wenn wir also das Urteil verstehen wollen, müssen wir die Bedeutung der Begriffe kallion und ameinon sowie ihren Zusammenhang, wenn ameinon ein Beurteilungs-kriterium von kallion sein soll, klären. Der Begriff kallion ist der Komparativ zu kalos, das allgemein mit „schön“ übersetzt wird. Was heißt aber „schön“ oder anders gefragt, wie wird kalos prädiziert? Es lassen sich drei Prädikationsweisen unterscheiden: (a) funktional: In seiner Grundbedeutung heißt kalos „gesund, geeignet, tauglich, brauchbar“. 230 So werden (für einen bestimmten Zweck) geeignete Dialogteilnehmers Eudikos stammen. Hippias tritt dann als Verteidiger der Thesen von Eudikos’ Vater auf, die auch die seinen sind. Es nimmt nicht Wunder, dass Eudikos, der deshalb an der Untersuchung dieser Thesen interessiert ist, sich in der Gesprächskrise als Vermittler anbietet. 228 Das spricht sachlich wie syntaktisch gegen die These, dass der im Hp. Mai. angekündigte Vortrag (286a7-b2) vorausgegangen sei. Auf der anderen Seite lässt sich die Bemerkung, (363c1ff.), Hippias habe viel Verschiedenes über Homer und andere Dichter dargelegt, auch so interpretieren, dass er sich nicht nur streng auf ein Thema beschränkt hat. 229 Die These (1) ist in der antiken Homer-Hermeneutik mit Interesse diskutiert worden. Porphyrios untersucht und gibt als Erklärung, dass in der Ilias (sch. bT ad Il. I 1b, 31f; 34f. [zit. nach Scholia Graeca in Homeri Iliadem (Scholia vetera), rec. H ARTMUT E RBSE , voll. I-V, Berlin 1979-77]. Libanios bemerkt in seiner Apologia Sokratis auch, dass die Odyssee als Enkomion auf Odysseus interpretiert werden kann, dass aber im Unterschied (Decl. I, 123 [zit. nach Libanii opera, rec. R ICHARD F OERSTER , vol. V, Leipzig 1909]). Wenn auch die angeführten Autoren aus späteren Jahrhunderten stammen, so lässt sich dennoch vermuten, dass diese Debatte auch zu Platons Zeiten geführt wurde. Apemantos scheint im Hinblick auf These (1) eine Minderheitenposition zu vertreten. 230 Vgl. G RUNDMANN , W ALTER , , in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1938 (ND Stuttgart 1957), Bd. 3, 539-553. 100 Orte als kalos bezeichnet 231 und mit Ergänzung von chrono ( ) ist der rechte Zeitpunkt gemeint. 232 Die kala hiera sind Opfer, denen nichts fehlt und die deshalb Glück verheißen, so dass die übertragene Bedeutung auch „glückhaft“ ist. 233 (b) ästhetisch: Wenn eine Sache oder Person sich als „gesund, geeignet, tauglich, brauchbar“ erweist, gefällt sie auch nach griechischer Vorstellung der sinnlichen Wahrnehmung. 234 (c) ethisch: Wird kalos von der inneren Haltung eines Menschen ausgesagt, so bedeutet es „anständig“, wobei hier nicht unbedingt eine sittlichmoralische Beurteilung gemeint ist. 235 Was „anständig“ bedeutet, bestimmt der gesellschaftliche Verhaltenskodex - vergleichbar mit den Gepflogenheiten eines englischen Gentlemans oder hanseatischen Patriziers (wie in den Buddenbrooks von Thomas Mann). Der feststehende Ausdruck kalon esti hat dementsprechend obligatorischen Charakter 236 . Diese drei für uns getrennten Bedeutungen schwingen in dem einen Begriff kalon mit. 237 Der Positiv zum Komparativ ameinon ist agathos. Mit agathos wird die Bedeutsamkeit oder Trefflichkeit einer Sache oder Person in funktionaler oder ethischer Hinsicht zum Ausdruck gebracht. 238 Bei Homer sind die agathoi diejenigen, die durch ihre Herkunft, Bildung und Besitz hervorragen. Von Personen prädiziert kann agathos auch die Tüchtigkeit in der jeweiligen Tätigkeit bedeuten. 239 Eine bedeutende Rolle im griechischen Denken spielt die Verbindung kalos kai agatos, von der das Substantiv kalokagathia abgeleiteitet ist. Diese Verbindung ist seit dem fünften Jahrhundert nachweisbar und diente als Bezeichnung für die vornehme Klasse der Bürger, 240 die sich durch eine hohe Bildung und ehrenhafte Charakterhaltung auszeichnete. 241 Der politische Führungsanspruch ging also mit einem charakterlichbildungsmäßigen einher. Diese politisch-soziologische Bedeutung ist bei Xenophon noch eindeutig vorhanden 242 , doch lässt sich bei ihm bereits ein Bedeutungswandel zum Geistig-Ethischen erkennen, der den Begriff 231 Vgl. Hom. Od. 6, 263; Xenoph. Hist. Graec. 6, 2,9. 232 Vgl. Soph. El. 384. 233 Vgl. Xenoph. An. 1, 8, 15; Aesch. Sept. contra Theb. 379. 234 Vgl. Hom. Od. 17, 307; Pind. Olymp. 10, 104; Xenoph. Mem. 2, 6, 30. 235 Vgl. Soph. El. 393; Pind. Isthm. 3 (4), 60 (43). 236 Vgl. Soph. Phil. 1304; Soph. Ant. 72. 237 Vgl. G RUNDMANN , , 540. 238 Vgl. G RUNDMANN , , in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1938 (ND Stuttgart 1957), Bd. 1, 10-18, 10. 239 Vgl. Xenoph. Oec. 6,13. 240 Vgl. Tuc. 8, 48, 6. 241 Vgl. Aristoph. Eq. 227; Ra 727. 242 Vgl. Hist. Graec. 2. 3. 15. In der Kyropädie wird der Ausdruck auch auf die vornehmen Perser bezogen (4. 3. 23). 101 schließlich zum griechischen Lebensideal macht. So erkennt im Oekonomikos Sokrates im Landmann Ischomachos, der sich als tüchtiger Landwirt, guter Familienvater und Bürger auszeichnet, einen kalos kai agathos. 243 Kalokagathia, deren Wesen Sokrates in der Gerechtigkeit sieht 244 , ist eine Frage der paideia geworden und der xenophontische Sokrates tritt als deren Lehrer auf. 245 Auch für Platon hat die kalokagathia ihren Inhalt in der dikaiosynē. Als Sokrates nach der Glückseligkeit des Perserkönigs befragt wird, macht er sie von der paideia und der dikaiosynē abhängig; nur in der kalokagathia liegt daher die Glückseligkeit. 246 Für unsere Thesen ergibt sich für das Verhältnis von kalos und agathos: Charakterliche und künstlerische Kriterien sind bei der Bewertung von Ilias und Odyssee im Hinblick auf die Frage (2), welches Epos kalion sei, im griechischen Denken nicht zu trennen. Es geht sowohl um die Harmonie von Sprache und Erzählung als auch um die charakterliche Vortrefflichkeit der Protagonisten. Durch das Korrelativum hosos wird kalion von ameinon abhängig. Wenn agathos absolut von einer Person prädiziert wird ohne eine bestimmte Rücksicht, in der die Vortrefflichkeit bestehen soll, so ist normalsprachlich die ethische Tüchtigkeit dieser Person gemeint. Da die These (2) von der These (3) abhängig ist, steht auch in These (2) der ethische Fokus im Vordergrund. 2.3 Hippias‘ Antwort Nach Darlegung des sokratischen Fragenkomplexes tritt Eudikos wieder als Vermittler auf und bittet Hippias für Sokrates um Antwort. 247 Die Bitte ist rhetorisch stilisiert: Einer Aussage, die die allgemeine Bereitwilligkeit Hippias’ zur Antwort feststellt und verpflichtend wirkt, folgt die Erkundigung, ob er im Fall des fragenden Sokrates antworten (und so der Verpflichtung nachkommen) wolle (363c3ff). Ebenso kunstvoll wie insistierend werden dabei die Schlüsselwörter „fragen“ ( ; 363c4) und „antworten“ ( ; , 363c4f.) chiastisch hervorgehoben, die auf Hippias suggestiv wirken sollen. 243 Xen. Oec. 6. 12ff. 244 Xen. Smp. 3.4. 245 Vgl. Xen. Mem 1. 2. 17; ., 1. 16; 246 Vgl. Grg. 470e6f; e9ff: 247 Die Formulierung (363c3) findet sich oft als Gesprächseinleitung. Vgl. Ion 530d4: - wo ein anderer Homer-Experte von Sokrates zum Gespräch gebeten wird. Häufig findet sich eine Verbindung mit (einer Form von) oder ; vgl. Prt 330c2; R. I 338a2f; Men. 71d7. 102 Hippias erklärt sich mit betonter Selbstverständlichkeit ( 363c6) bereit, Sokrates Rede und Antwort zu stehen. Seine Erklärung als eine Art von argumentum a maiore ad minus, er werde doch Sokrates’ Frage nicht ausweichen, wenn er schon in Olympia jederman - vorbereitet oder unvorbereitet - antworte, zeigt mehr Eigenlob als Höflichkeit (363c6d4). Sokrates begegnet dieser gekonnten Selbstdarstellung mit Ironie und preist Hippias glücklich ( […] , 364a1) für die Zuversicht wegen der Weisheit seiner Seele ( , 364a2f.). 248 Er verstärkt die Ironie noch, wenn er das Selbstvertrauen der Athleten in ihre Leistungen geringer ansetzt als das des Hippias (364a3-6) und ihn als Kämpfer des Geistes ( , 364a6) im Vergleich mit den Athleten des Körpers ( , 364a4) für überlegen hält. Dieser agonale Vergleich entspricht ganz dem Selbstverständnis von Hippias, so dass er die Ironie nicht bemerkt und sogar seine Überlegenheit auf allen Gebieten ( , 364a9) hyperbolisch als Begründung anführt. Man könnte hier an eine Herausforderung zum agōn logōn denken 249 , dessen allgemeine Charakteristiken Walter Johannes Froleyks 250 in seiner Dissertation herausgearbeitet hat. Agonistisch sind für Froleyks unter Berufung auf Aristoteles 251 alle Reden, in denen die Klärung eines kontroversen Sachverhalts angestrebt wird. Am Anfang steht meist ein proagōn, der die Entstehung des Streits oft durch provozierende Äußerungen eines Kontrahenten erklärt; diesem Part würde das Vorgespräch (363a1-364d6) entsprechen. Dazu würde Hippias’ Prahlerei mit seiner ungeschlagenen Überlegenheit passen, die als Herausforderung an Sokrates verstanden werden kann. Der Hauptteil könnte als Gerichtsagon gesehen werden, in dem die Überlegenheit des „Angeklagten“ Hippias vom „Ankläger“ Sokrates desavouiert wird. Eine solche Interpretation würde den agonalen Charakter dieser Szene deutlich überbewerten und ein Deutungsmuster anlegen, das dem Dialog nicht gerecht wird. Denn es ist nicht Hippias, der von sich aus zum Agon herausfordert, sondern Sokrates ironisiert das Eigenlob von Hippias (364a1-6) und provoziert so Hippias’ Überlegenheitsdenken (364a7ff.). Zudem ist die von Hippias präferierte epideixis weniger als agonales Genus geeignet als die von Sokra- 248 Zu überschwänglicher Lobpreisung als Form von Ironie vgl. Ion 530b3-c6; Euthd. 273c1-9; Prt. 328d8-e2; und 368b2ff. W ERNER B ODER macht darauf aufmerksam, dass Hippias nichts von dieser Hoffnung gesagt habe, Sokrates sie aber als selbstverständlich voraussetze. Durch das Lob wird dann der Mangel sichtbar. „Wenn sich aber Lob als Tadel erweist, so ist das Ironie“ (Idem, Die sokratische Ironie in den platonischen Frühdialogen, Amsterdam 1973, 87). 249 Vgl. J ANTZEN , Platon. Hippias minor, 39 Anm. 31. 250 Idem, Der in der antiken Literatur, (Diss.) Bonn 1973. 251 Vgl. Rhet. 3. 12. 103 tes durchgesetzte dialektische Untersuchung. Auch fehlt der eigentliche Sieger im Agon; wenn Hippias zwar seine Überlegenheit im Gespräch nicht verteidigen kann, so ist doch Sokrates weit davon entfernt sich als Sieger zu fühlen - was auch ein unsokratisches Verhalten wäre -, sondern betont sein Schwanken auf dem Gebiet (376b11-c6). Die agonalen Anklänge sind Teil der sokratischen Ironie wie auch das im Stile eines Epinikions vorgetragene Lob von Sokrates, das Hippias‘ Heimatstadt 252 und Eltern preist (364b1ff.). Sokrates wendet sich nun direkt mit seiner Frage an Hippias, die er (im Vergleich zu 363b7) konkretisiert: Er möchte also wissen, welchen der beiden Helden Odysseus oder Achill Hippias für besser ( ), und zwar worin ( ) für besser, halte (364b3ff.). 253 Unterscheidungskriterien sind für Hippias die von Homer vorgegebenen Epitheta: Demnach ist Achill der Beste ( , 364c6), Nestor der Weiseste ( , 364c7) und Odysseus der Vielgewandteste ( , 364c7f.). Die Nennung Nestors ist überraschend, da er in der von Sokrates gestellten Frage nicht vorkommt. 254 Hippias scheint die Fragestellung nicht beachtet zu haben, die - wie Phillips richtig bemerkt hat - ausdrücklich im Dual ( , 364c2) formuliert ist und so den Vergleich zweier Männer betont. Parallel dazu geht Hippias nicht auf die Vergleichsfrage ein und nennt keine Unterscheidungskriterien bei der Prädikation von besser, sondern antwortet mit drei Superlativen. 255 Die Sekundärliteratur hat die Schwächen von Hippias’ Antwort ausreichend dargelegt, aber versäumt, Hippias stark zu machen. Das principium caritatis sollte nicht nur für Sokrates gelten, sondern auch den sokratischen Gegnern zugute kommen und ihnen 252 Vgl. Bakchylides 2, 6-10; 6, 15f.; 10, 17f.; Pind. Olymp. 4, 8-12; 5, 5-1-8; Nem. 3,67-70; 5, 4- 8; Isthm. 1, 10-12. 253 Das kai ist an dieser Stelle nicht kopulativ, sondern explikativ (im Sinn von und zwar) zu verstehen. 254 J ANTZEN macht die Wertschätzung Nestors bei Hippias als Grund aus (ibid.). F RIED- LÄNDER sieht in der nicht weiter verfolgten Erwähnung Nestors einen Hinweis auf den wissenden Gerechten (ibid. 126). L AMPERT vermutet, dass die vorherige Rede sich auf Nestor bezogen habe: „it seems likely that for Hippias who has just given on Nestor, wiset counts as best. Because Socrates’ restricted question had not asked him about the best simply, Hippias finds it necessary to make his position clear by adding Nestor” (ibid. S. 240 Anm. 19). 255 R OSAMOND K ENT S PRAGUE sieht hier eine ignoratio elenchis aus drei Gründen: „since Hippias (a) has given Homer’s opinion, not his own, (b) has not said, exept by implication, which man he or Homer considers better, and (c) has confused the issue by mentioning Nestor as well” (Idem, Plato’s Use of Fallacy. A Study of the Euthydemus and Some Other Dialogues, London 1962. 65-79, 66). J ANTZEN kritisiert zwei Punkte bei Hippias’ Antwort: „Sie unterscheidet die Helden nicht anhand eines Kriteriums, sondern stellt einfach Beschreibungen nebeneinander und übersieht vor allem die gegenüber gut und weise andere logische Qualität von vielgewandt“ (ibid. 41). 104 nicht von vornherein schwache (und somit leicht widerlegbare) Positionen zuschreiben. Es ließe sich für Hippias argumentieren: (a) Das von Sokrates eingeforderte Unterscheidungskriterium ist der von Homer gegebene Charakter ( , 365b3). 256 (b) Der Superlativ aristos gibt auch eine eindeutige Antwort auf die Frage, wer besser sei. (c) Der Rekurs auf Charaktereigenschaften ist nicht ungeschickt, da diese einer ethischen Bewertung zugänglich sind. Die ethische Bewertung aber kann nach den von Sokrates referierten Thesen (2) und (3) als Kriterium für eine ästhetische Bewertung dienen. Die Reaktion von Sokrates (364c9-d2) muss nicht unbedingt spöttisch interpretiert werden 257 , sondern als Wunsch nach einer näheren Untersuchung. Hippias antwortet höflich auf die Bitte - wieder mit einem argumentum a maiore ad minus -, wobei der Hinweis auf die bezahlte Tätigkeit wieder der Selbstdarstellung dient. 3. Vielgewandtheit und Verlogenheit (364d7-365c8) 3.1 Die epitheta der homerischen Helden Sokrates rekapituliert zur Ergebnissicherung die Thesen von Hippias, dass Achill der Beste (a) und Nestor der Weiseste (b) sei (364d7-e1); diese Thesen glaubt Sokrates verstehen zu können ( , 364d8f.). 258 Wenn wir die Plausibilität dieser Thesen für den damaligen Leser nachvollziehen und somit auch die Intention dieses Dialoges besser verstehen wollen, müssen wir klären: (1) Welche Hinweise geben die homerischen Epen, die diese Bewertungen dem damaligen Hörer als gerechtfertigt erscheinen lassen? (2) Inwieweit entsprechen diesen Thesen sogar Standards der damaligen Homer-Hermeneutik? (3) Welche Einschätzungen finden sich in anderen Dialogen Platons? (1a) Wichtige Hinweisträger für die Bewertung von Figuren im homerischen Epos sind deren epitheta ornantia, die eine Kurzcharakteristik durch den Dichter geben und wegen ihrer häufigen Wiederholung dem Leser (respektive Hörer) im Gedächtnis blieben. Aristos gehört zu den epitheta 256 Wie J ANTZEN impliciter zugibt (ibid. 41). 257 Vgl. J ANTZEN , Platon. Hippias minor, 41. 258 Es muss deutlich unterschieden werden bei Sokrates zwischen verstehen und einverstanden sein. Wenn Sokrates eine These versteht, heißt das nicht, dass er ihr zustimmt. Sokrates verzichtet vielmehr darauf, diese These im Rahmen eines Elenchos weiterzuverfolgen. 105 ornantia 259 von Achill und steht mit dem Genitiv Achaiōn 260 als Bereichskasus, der die Gruppe angibt, innerhalb derer diese Vorzüglichkeit gilt. Das Epitheton tritt auf, wenn die große Beutung Achills betont werden soll. So beklagt Achill die Schmach, die ihm von Agamemnon zugefügt wurde, unter Berufung auf seine Stellung als ariston Achaiōn (Il. 1. 244; 412) und Patroklos spornt Achills Myrmidonen zur Tapferkeit mit diesem Hinweis auf ihren Anführer an (Il. 16. 274). Als Synonym zu aristos fungiert phertatos oder pheristos, das sich vom Verb phero ableitet und eigentlich „am meisten bringend, am tragfähigsten“ und damit „am stärksten“ bedeutet; damit wird die Qualität von Achills aretē deutlich, die primär im militärischen Milieu anzusiedeln ist. Eine wichtige Bezugsstelle in diesem Zusammenhang, die auch zugleich für einen Vergleich von Achill und Odysseus erhellend ist, steht im 19. Gesang der Ilias: Odysseus redet hier Achill als „Stärksten der Achaier“ ( ’ , V. 216) an und gibt zu, dass Achill stärker als er sei ( , V. 217). Im Griechischen ist kreitōn (im ionischen Dialekt kreissōn) zugleich unregelmäßiger Komparativ zu agathos und bedeutet daher auch „besser sein“. Diese Überlegenheit zielt auf die physische Kraft, wie im selben Vers durch „weit im Kampfe mit der Lanze mir überlegen“ ( , V. 217f.) deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Odysseus bezeichnet sich dagegen Achill an Einsicht aufgrund von Alter und Erfahrung überlegen ( / , V. 218f.). Der Textbefund der Ilias lässt den damaligen Hörer die Prädikation von aristos bei Achill durchaus plausibel erscheinen, obwohl dieses Epitheton nicht exklusiv für Achill reserviert ist. (2a) Einen Einblick in die damalige Homer-Exegese geben uns antike Kommentare, die zwar meistens nicht erhalten, aber häufig als Scholien 261 überliefert worden sind. 262 Antike Kommentatoren waren bemüht, Achills 259 James H. Dee führt insgesamt 114 verschiedene Epitheta an (Epitheta hominum apud Homerum. The Epithetic phrases fort he Homeric Heroes, collegit disposuit edidit J AMES H. D EE , Hildesheim u.a. 2000, 128-147). Dabei tritt aristos mit etwa einem halben Dutzend Belegstellen auch nicht besonders häufig auf - dazu im Vergleich dīos mit 56 Textstellen oder prodōkēs mit 22 Stellen. 260 n Il. 16.271 findet sich zur Abwechslung auch 261 Unter Scholien versteht man kurze und erläuternde Notizen in einer antiken Handschrift. Je nach Stellung im Text werden sie als Marginalscholien (am Rand) oder als Interlinearscholien (zwischen den Zeilen) bezeichnet. 262 F ABIO M AXIMO G IULIANO (L’Odisseo di Platone. Uno ZHTHMA omerico nell’ Ippia Minore, in: Poesia Greca [Richerche di Filologia Classica IV] ed. G RAZIANO A RRIGHETTI , Pisa 1995, 9-57) kommt der Verdienst zu, in seiner bahnbrechenden Studie den Einfluss der zeitgenössischen Homer-Hermeneutik auf den Hippias Minor untersucht zu haben und Fragestellungen, die bisweilen als abstrus abgetan wurden, im Kontext der damaligen Debatte verständlich zu machen. Wenn diese Arbeit Scholien zur Erforschung der antiken Homer-Hermeneutik heranzieht, dann tut sie das häufig in Rück- 106 Position als aristos und Textstellen, in denen dieses Epitheton andere schmückte, zu harmonisieren. 263 Das erste Beispiel bietet die Ilias, in der Ajas der Telemonier als Bester ( ’ , 2.768) bezeichnet wird, da Achill, der sonst als Bester gilt, wegen seines Zürnens abwesend ist ( ’ , 769). 264 Wenn Achill selbst von Agamemnon als aristos Achaiōn (Il. 1.91) spricht, muss das als hyperbolischer Ausdruck verstanden werden (sch. ad Il. I 90). Diomedes wird an zwei Stellen aristos genannt. In fünften Buch der Ilias (V. 103) nennt ihn so ein Gegner im Kampf, der ihn getroffen hatte. Das Scholion führt drei Erklärungsmöglichkeiten an: (i) An Stelle des Besten oder (ii) der Beste im Hinblick auf die eudaimonia oder (iii) zur eigenen Selbsterhöhung wird auch die Bedeutung des getroffenen Gegners amplifiziert. 265 Etwas später (V. 414) tröstet Dione die von Diomedes verwundete Aphrodite, wobei sie von Diomedes als aristos spricht. Der Scholiast gibt auch hier drei Interpretationen: (i) Es sei ironisch im Hinblick auf die hochmütige Aphrodite gemeint, (ii) als Ausdruck der Klage oder (iii) zum Trost der Aphrodite, dass es der aristos war, der sie verwundet hat. 266 Auch der tote Patroklos wird von Menalaos als Bester der Achaier ( , Il. 17. 689) dargestellt. Eustathius stellt dem die Aussage Achills über Patroklos den Besten der Myrmidonen (Il. 18.10) entgegen und kommt zu dem Urteil, dass beide nicht die Wahrheit sagen, aber die Lüge des Menelaos ganz griff auf Giuliano, ohne jeweils auf die Anführung dieses Scholions bei Guiliano zu verweisen. Darüber hinaus untersuchen wir Scholien, die von Guiliano nicht angeführt wurden, ohne dies ebenfalls ausdrücklich zu bemerken. 263 Diese Harmonisierungstendenzen sind ein indirekter Beleg, dass Achill traditionell als aristos der Achaier verstanden wurde. 264 Auf Basis dieser Textstelle athetiert Zenodot (325-260 v. Chr.) die Ilias-Verse 579-580, in denen Agamemnon als bezeichnet wird. Der augusteische Philologe Aristonikos bietet als Erklärung: (sch. A ad Il. II 579-50, 75f.). 265 ( ’ ) . “ “ (sch. bT ad Il. V 103) 266 (sch. bT ad Il. V 414). Eine ähnliche Erklärung wie (iii) findet sich bei dem byzantinischen Homer-Kommentator Eustathius: (Commentarii ad Homeri Iliadem Pertinentes, ed. M ARCHINUS VAN DER V ALK , Bde. 1-4, Leiden 1971-1987, Bd. II, 566,17). 107 besonders schamlos sei. 267 Guiliano macht darauf aufmerksam, dass die hier aufgeworfene Frage der im Hippias Minor ähnlich sei. 268 Die antiken Scholiasten und Kommentatoren bestätigen die Bewertung Achills als aristos und geben dabei einen Einblick in die Probleme der damalige Homer- Hermeneutik, die die Fragestellung des Sokrates als durchaus plausibel erscheinen lassen. 269 (3a) Von der antiken Bewertung Achills kommen wir zu Platons Einschätzung dieses homerischen Helden. Die Bewertung Achills ist bei Platon sehr ambivalent. Im dritten Buch der Politeia kritisiert Platon scharf die Darstellung des homerischen Helden: Die Klage des Heroen um seinen getöteten Freund wird nämlich (in der von Homer geschilderten Weise 270 ) als unwürdig verteilt (387e9-388b3). Als völlig unpassend erscheint die Achill angedichtete Habgier (390e4-391c5) 271 , der fehlende Respekt vor den Göttern (391a3-b5) 272 und die Inhumanität (391b5-7) 273 , die sich für den Sohn des höchst verständigen Peleus ( , 391c2) und den Zögling des höchst weisen Cheiron ( , 391c3) nicht geziemen. Platon lehnt die homerischen Charakterzüge wie Niedertracht und Habsucht ( , 391c5) sowie Übermut gegen Götter und Menschen ( , 391c6) 267 „ “ ’ (1123.10ff.). 268 G UILIANO , L’Odisseo di Platone , 34. 269 Methodisch ließe sich einwenden, dass die herangezogenen Scholien und Kommentare aus (teilweise viel) späterer Zeit stammen und somit möglicherweise zum Homer-Diskurs zu Platons Zeiten überhaupt gar nicht aussagekräftig sind. Dieser ansatzweise berechtigten Kritik lässt sich entgegenhalten, dass das angeführt Material zeigt, dass derartige Debatten überhaupt geführt wurden und eine solche für den Hippias Minor anzunehmen nicht unplausibel ist. Ein eher zeitgenössisches Zeugnis findet sich bei Aristoteles, der in der Topik die These, dass, was dem Guten näher, auch besser und wünschenswerter sei, anhand des Beispiels untersucht: „Einige sagen, daß Ajax besser sei als Odysseus, weil er dem Achilleus ähnlicher sei“ (III, 2, 117b). Dieses Beispiel zeigt, dass die Frage nach der Bewertung von Figuren des homerischen Epos diskutiert und Achill die höchste Einschätzung zugebilligt wurde. 270 Vgl. Il. 24.10f. und 23.23-43. 271 So nimmt Achill von Agamemnon Geschenke (Il.19. 278ff.) und fordert Lösegeld für die Leiche Hektors (Il. 24, 502, 555f. u. 594). 272 Hier wird die Drohrede gegen Apollon (Il. 22. 15, 20) angeführt, der Kampf mit dem Flussgott Skamander (Il. 21. 130ff.; 212-226) und die Stiftung des Haares, das Achill schon dem Sperchaios geweiht hatte, als Totengabe an Patroklos (Il.23.151). 273 So die Schleifung des toten Hektor vor dem Grabmal des Patroklos (Il. 24.14-18) und die Schlachtung der Gefangenen auf dessen Scheiterhaufen (23.175-82). 108 vehement ab 274 , will aber ein purgiertes positives Achill-Bild gelten lassen. Positiv erscheint Achill im Symposion, wo er in der Rede des Phaidros als Beispiel für durch den Eros motiviertes tugendhaftes Handeln dargestellt wird (179e2-180a3). 275 Diotima deutet Achills Tat, Patroklos in den Tod nachzufolgen, als vom Streben nach der Unsterblichkeit der Tugend veranlasst (208d4-9), da je besser Menschen sind, desto mehr lieben sie das Unsterbliche ( , 208d9-e1). Die Ansicht, Achill sei ariston 276 , dürfte auch von Platon geteilt worden sein, wenn auch unter der Voraussetzung eines purgierten und richtig verstandenen Homer. Wir kommen nun von Achill zu Nestor. (1b) Während aristos als Epitheton ornans für Achill in der Ilias hinreichend bezeugt ist, findet sich kein Beleg für sophotatos (oder im Positiv sophos) als Attribut zu Nestor. 277 Dennoch trägt die Figur Nestors Züge, die ihn als einen sophos im klassischen Sprachgebrauch ausweisen, d.h. als einen Menschen mit außergewöhnlichem Können und Wissen. 278 Nestor tritt vor allem als kluger und gefragter Ratgeber in Erscheinung. Ihn zeichnet große Altersweisheit aus, die aus langer Lebenserfahrung schöpft und über ein praktisches Wissen verfügt, das er für Ratschläge fruchtbar macht. So sagt Agamemnon zu Nestor: 274 Platon antizipiert hier die harsche Kritik, die in neuerer Zeit an der Figur Achills geübt wurde. Vgl. C HRISTA W OLF s Roman Kassandra, in dem Achill wegen seiner Mordgier mit dem Epitheton „das Vieh“ bezeichnet wird; ähnlich M ARION Z IMMER B RADLEY s Erzählung Die Feuer von Troja. 275 Achill weiß, dass ein Eingreifen in den Kampf den frühen Tod, eine Rückkehr in die Heimat ein langes Leben mit sich brächte. Phaidros interpretiert Achills rächende Rückkehr in den Kampf als Verlangen, dem geliebten Patroklos nachzusterben (vgl. Il. 9.410-16; 18.95). 276 Aristos wird bei Platon immer (als Superlativ) relational prädiziert und steht in Bezug auf eine Gruppe, in der sich der Betreffende auszeichnet. Im Ion erhebt der gleichnamige Rhapsode den vermeintlichen Anspruch, (541b3) und […] (541b5) zu sein. In der Politeia wird die Frage untersucht, inwieweit aristos und eudaimonestatos sowie kakistos und athliotatos gleich sind (VIII 544a7ff.). Von den Divinitäten wird sowohl Eros (Smp. 197c2f.) als auch der Demiurg (Tim. 29a5) als aristos bezeichnet. Nach den Nomoi (V. 729d4) ist der bei weitem aristos, der sich in den Dienst der heimischen Gesetze stellt. 277 Vgl. D EE , Epitheta hominum, 294-300. Das Adjektiv sophos ist überhaupt nicht in der Ilias belegt (Vgl. E BELING , H., Lexicon Homericum, Leipzig 1880, 286). als Substantiv tritt in Il. 15.412 auf, wo von den Fertigkeiten der Schiffzimmerleute die Rede ist. Der Scholiast bemerkt zum homerischen Sprachgebrauch: (sch. T ad. Il. V. 412, 92f.). 278 Vgl. W ILCKENS , U LRICH , , in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 7, 465-475. 109 „Wahrlich, im Rate besiegst du, Greis, die Söhne Achaias“ (Il. 2.370; vgl. 11.627). Oder der auktoriale Erzähler charakterisiert ihn als „der schon früher immer am besten geraten“ (Il. 7.325), da er „mit weisem Bedacht“ berät ( , V. 326); diese Wendung findet sogar als Formelvers im Zusammenhang mit Nestor Verwendung. 279 (2b) Wir kommen nun von der Charakterisierung Nestors in der Ilias zur Beurteilung dieses Heroen in der antiken Kommentartradition. Nestor wird schon in klassischer Zeit als phronimōtatos ( ) apostrophiert. 280 Dabei war die Debatte um die Stellung als sophotatos unter den homerischen Helden, - Nestor oder Odysseus - nicht abgeschlossen. So heißt es in einem Scholion zum formelhaften Halbvers „Odysseus, dem Zeus zu vergleichen durch Einsicht“ ( , 2.169; 407), dass Odysseus sowohl die Fähigkeit des logos als auch der Praxis habe, während Nestor nur ersteren besitze. 281 Ein anderer Kommentator bemerkt zu diesem Vers, dass Nestor und Odysseus beide gleichermaßen den Titel sophotatos verdienen. 282 Vom Hintergrund der damaligen Debatte wird vielleicht auch die Nennung Nestors (364c7f.) nachvollziehbar, da Hippias durch eine strikte Absetzung Nestors von Achill den Anschein vermeiden möchte, dass Odysseus in irgendeiner Weise mit sophia in Verbindung gebracht wird. Giuliano hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Bewertung von Hippias, nach der Nestor der sophotatos sei, implizit durch eine Neubewertung des Odysseus durch Sokrates im Verlauf des Dialoges überwunden wird und damit wieder der älteren Meinung der Scholien ( vgl. sch. ad Il. II 169a; 407) folgt. 283 (3b) Von der antiken Bewertung Nestors kommen wir nun zur platonischen Einschätzung. Eine Beurteilung der Sicht Nestors bei Platon lässt sich nur sehr schwer vornehmen, zu selten und unsignifikant sind die Belegstellen. 284 Sophotatos wird (als Superlativ) bei Personen nur relational prädi- 279 Vgl. Il. 9.95; 280 Vgl. Isoc. Panath. 72: Dion Chrysosthomos orat. 56 (de regno): . Die Bezeichnung sapiens findet sich bei Cicero: et ima in aetatibus Ulixem et Nestorem accepimus et fuisse et habitos esse sapientis (Tusc. 5.7). 281 (sch. ad Il. II 169a). 282 (sch. bT ad Il. II 407). 283 G UILIANO , L’Odisseo di Platone, 35. Guilianos Urteil, was die Prioritätenfrage hinsichtlich der Bewertung von Nestor und Odysseus angeht, mag problematisch sein, dennoch ist sein Hinweis wichtig, dass Platon mit seiner Odysseus-Interpretation einer bestimmten Richtung der Homer-Hermeneutik folgt. 284 Im Ion nennt der gleichnamige Rhapsode Nestor als Experten für die Wagenrennen, um seine allseitige Fachkompetenz aufgrund seiner Homer-Kenntnisse zu rechtferti- 110 ziert und gibt eine Gruppe oder Tätigkeit an, in der die betreffende Person durch diese Eigenschaft hervorragt. So bezeichnet Kritias in seinem Bericht über Ur-Athen Solon den sophotatos der Sieben Weisen (Tim. 20d9f.) und in den Nomoi nennt der Athener Homer den „Weisesten unserer Dichter“ (VI. 776e6). Wenn Sokrates am Anfang des Protogoras diesen Sophisten als sophostatos unter seinen Zeitgenossen hervorhebt, so ist hier die Einschränkung „Wenn dir so scheint“ ( , 309d1) entscheidend. Zwar formuliert Sokrates im Euthydemos den Bildungsauftrag, dass jeder möglichst sophotatos werde (282a6), dennoch wird betont, dass der sophotatos ist, der die Begrenztheit menschlicher Weisheit einsieht (Apg. 23b1; Hp. Ma. 289b4). Wenn sich auch expressis verbis keine Beurteilung Nestors bei Platon finden lässt, so darf man durchaus vermuten, dass das von Nestor gezeichnete Ilias-Bild als klugen und umsichtigen Ratgeber Platon nicht ablehnend gegenüber einer Einschätzung Nestors als sophos gemacht hat. Wir kommen zum Fazit: Die Thesen, Achill sei der aristos (a) und Nestor der sophotatos (b), mussten dem antiken Leser vor dem Hintergrund der damaligen Homer-Hermeutik durchaus plausibel erscheinen. Auch eine positive Einschätzung Achills und die (zwar nicht bezeugte, aber vermutete) doch eher positive Bewertung Nestors im platonischen Opus lassen eine Ironie des Sokrates an dieser Stelle oder gar als Intention des Dialoges schlechthin unmöglich erscheinen. 3.2 Die Bedeutung von polytropos Nach Feststellung der Homologoumena (364c7-e1) erkundigt sich Sokrates nach der fraglichen Formulierung „vielgewandt“ (polytropos), von der er vorgibt, sie nicht zu verstehen (364e1-4). Um die Bedeutung des unklaren Wortes durch einen Anwendungsversuch zu klären, fragt Sokrates weiter, ob Achill von Homer als polytropos dargestellt wird (364e4ff.). Hippias verneint die Frage und stellt dem die Aussage gegenüber, Achill sei „höchst aufrichtig und wahrhaftig“ (haploustatos kai alēthestatos, 364e7). Als Beleg für diese Behauptung führt Hippias Ilias-Verse (9. 308ff.; 312ff.) an, in denen Achill zu der Bittgesandtschaft aus Phönix, Ajas und Odysseus, die ihn zum Wiedereintritt in den Kampf für die schwer bedrängten Griechen zu gewinnen versuchen, spricht. In der zitierten Stelle äußert Achill Abscheu gegen den, der anders spricht als er denkt (312f.). Die Apostrophe am Anfang „Edler Laertide, erfindungsreicher Odysseus“ (308) insinuiert, gen; da aber jede Kunst eine spezifische Kompetenz erfordert, wird hier Nestor nicht als der All-Weise anerkannt (537a5-b5). Die im (vielleicht pseudoplatonischen) Hippias Maior angekündigte Rede des Hippias über Nestors Erziehungsratschläge (286a7b4) bestätigt zwar Hippias’ Nestor-Interpretation, sagt aber nichts über die Platons aus. Ebenso ist der Vergleich des Alkibiades von Nestor und Perikles im Symposion (221c8) wenig erhellend zu Platons Einschätzung von Nestor. 111 dass damit tatsächlich der Angeredete gemeint ist. Achill nimmt dagegen für sich die Übereinstimmung von Gesinnung und Handeln in Anspruch (310; 314). Die Passage ist geschickt gewählt und stellt die beiden gegensätzlichen Charaktere gut gegenüber. Ein moderner Leser könnte hier den Einwand erheben, die Selbstcharakterisierung einer epischen Figur sei von der des epischen Erzählers zu unterscheiden; dabei laute aber die Frage, wie Homer als epischer Erzähler die Figur bewerte. Diese Unterscheidung moderner Literaturanalyse war der antiken Hermeneutik fremd: „It is typical of the looseness of ancient habits of quotation that these words are assigned to Homer, though they are spoken of one of his characters.” 285 Auffällig und für die Argumentation wichtig ist aber die Auslassung von Vers 311: „Daß ihr mir nicht vorjammert, von hier und dort mich belagernd.“ Diese Anrede an eine zweite Person Plural spricht stark dagegen, dass Achill nur Odysseus gemeint haben könnte. Als Erklärung für diese Auslassung bieten sich vier Möglichkeiten an: (1) Der Vers fehlt in dem Ilias-Manusskript, das Platon zur Verfügung stand. (2) Platon hat diesen Vers unabsichtlich ausgelassen. (3) Platon hat ihn absichtlich ausgelassen. (3a) Aus Ironie gegen den Gedächtniskünstler und Homer- Kenner Hippias. (3b) Hippias lässt ihn aus argumentationstaktischen Gründen unzitiert. (4) Die Kopisten des Hippias Minor haben ihn ausgelassen. Jules Labarbe argumentiert mit gutem Grund gegen (4), da Hippias gezwungen gewesen wäre, wenn der Vers ursprünglich zum Text gehört hätte, den Plural zu erklären, um weiterhin die Passage als Beleg für die Charaktereigenschaften von Achill und Odysseus heranziehen zu können. 286 Auch (3a) will Labarbe ausschließen, da Hippias erst in 369a als Mnemotechniker in Erscheinung tritt. 287 Dieses Argument ist schwach, da Hippias sich schon zu Beginn als großer Homer-Kenner in Szene gesetzt hat und ein solcher Fauxpas dieses nach außen getragene Selbstbild ironisieren würde. Dennoch sollte man sich davor hüten, Hippias von vornhe- 285 F ORD , A NDREW , The Inland Ship: Problems in the Performance and Reception of Homeric Epics, in: Written voices, spoken signs, Tadition, Performance and the Epic Text, ed. E GBERT J. B AKKER / A HUVIA K AHANE , Cambridge Mass. 1997, 83-109, 91. 286 L ABARBE , J ULES , L’Homerè de Platon, Liège 1949, 51. 287 Ibid. 51f. 112 rein als sogar in seinem Fach inkompetent und prahlerisch aufzufassen. 288 Für (3b) optiert Stallbaum, der auf antike Zitiergepflogenheiten verweist, wonach Verse ausgelassen werden, die dem eigenen Beweisziel abträglich sind. 289 Labarbe hält dagegen, dass diese Auslassung nicht unbemerkt vom Dialogpartner hätte erfolgen können. Dieses Gegenargument lässt sich damit entkräftigen, dass Sokrates im Folgenden (365c9-d2) bewusst auf die weitere Homer-Exegese verzichtet und auch kein Interesse hätte, diesen Zitatfehler weiter zu verfolgen. Die Hypothese (1) hat nach Labarbe „sérieuses chances d’être correcte“. 290 Labarbe vermutet, dass Platon ein (durch Kopierfehler wegen der Ähnlichkeit der Initialen) korrupter Text 291 vorgelegen hat. Dieser Hypothese muss aber entgegengehalten werden, dass antike Zitate weniger Abschriften aus einer Quelle als vielmehr Gedächtniszitate waren. Gerade diese doch markante Ilias-Szene mit ihrer vehementen Verurteilung von Heuchelei könnte fast schon sprichwörtlich gewesen sein. Ein Gedächtniszitat wäre aber auch anfällig für unbeabsichtigte Auslassungen, wie Hypothese (2) in Betracht zieht. Dennoch erscheint (3b) aus argumentationstaktischen Gründen am wahrscheinlichsten, da dieser Vers nicht nur dem von Hippias intendierten Beweisziel nicht dienlich, sondern sogar abträglich ist. Aber auch ein non liquet ist aus philologischen Gründen zu vertreten. 292 288 J AMES H ADEN warnt zu Recht: „but there is no need to see Hippias here as a fool or a braggart; he has much knowledge on a vast of topics, and he would hardly have come again and again to the Olympic festivals as he says he’s done, if he made a fool of himself in the public’s eyes” (Idem, On the Hippias mnor, 146). 289 „Sed eum sophista pro consilio suo recte potuit omittere nec raro apud philosophum ii versus negliguntur qui minus ad rem, de qua agitur, pertinere videntur“ (S TALLBAUM , IV, 2, 284.) 290 L ABARBE , 52, verweist auf G EORGE M ELVILLE B OLLING : „Plato’s text seems to me superior, and I see no reason why we should depart from it. The verb is not found elsewhere in the poems”(Idem, The external evidence for interpolation in Homer, Oxford 1925, 120). Im Gegensatz zu B OLLING nimmt L ABARBE aber keine Interpolation bei Homer an. 291 310: … 311: … 312: EX … „En abordant 311 le copiste, trompé par , crut que c’était le vers même qu’il venait de transcrire et passa à 312 ” , wie L ABARBE vermutet (L’Homère de Platon, S. 53 Anm. 1). Der Versanfang von 311 ist philologisch ungesichert. Die Lesart , die Platon hat, wird nur im Ilias-Codex P überliefert; moderne Ausgaben folgen der Konjektur des Alexandriners Aristarch und bieten an. 292 J OHN P HILLIPS vermeidet eine Festlegung und kommt zu dem Schluss: „In any case, with or without the quoted line, the passage is too ambiguous to support the claims 113 Hippias kommt nun zum Ergebnis seiner Homer-Exegese: (1) Die zitierten Versen charakterisieren jeden der beiden Männer (365b3f.) und zwar so, dass (2) Achill wahrhaftig und aufrichtig ( , 365b4), (3) Odysseus vielgewandt und lügnerisch ( , 365b5) ist. Die Aussage (1) stellt hier die Grundannahme dar und gibt mit ihrem Rekurs auf den Charakter ( ) eine Antwort auf die Frage nach dem Bewertungskriterium (364b3ff.). Dass sie aber nicht vom Autor, sondern von einer epischen Figur stammt, ist einerseits Hippias bewusst (365b5f.) und andererseits typisch für die antike Hermeneutik. Erinnern wir uns noch einmal an die Ausgangsthesen: Die Ilias ist kallion als die Odyssee (363b2f.) und zwar in dem Maße wie Achill ameinon ist als Odysseus (363b3f.). Weiter ist zu vermuten, dass die Aussage (3) pejorativ gemeint ist und der dort beschriebene Charakter schlechter als der von (2) angesehen wird. Achill wäre demnach ameinon als Odysseus und die Ilias kallion als die Odyssee. Hippias hätte damit ein starkes Argument für die Ausgangsthese. Wenn wir verstehen wollen, inwieweit diese Rekonstruktion Hippias’ Argumentation getroffen haben könnte und wie sie und die weitere Diskussion im damaligen Denken zu verorten ist, müssen wir drei Fragen klären: (1) Wie wurde Odysseus in der damaligen Literaturund der Homer- Exegese bewertet? (2) Ein wichtiger Schlüssel für diese Frage liegt in der Bedeutungsklärung von polytropos. Wie wurde polytropos genau verstanden? (3) Inwieweit boten die Charakterisierungen „wahrhaftig und aufrichtig“ Bewertungsmaßstäbe? (1) Die homerischen Epen zeichnen kein einheitliches, sondern ein bisweilen sogar widersprüchliches Bild von Odysseus. So hat Odysseus die Fähigkeit, unter dem Anschein der Wahrheit zu lügen: „Vielerlei log er zusammen und manches war ähnlich der Wahrheit“ (Od. 19.203). 293 Dennoch wird Odysseus nicht als lügnerischer Mensch gesehen: „Sehn wir dich an, dann vergleicht dich wohl keiner mit Dieben und falschen Betrügern“ (Od. 11.363f.). 294 Das Scholion zu diesem Vers bemerkt, dass diese Aussage auf Odysseus hexis zu beziehen sei. 295 Als unvergleichlicher Lüg- that Hippias makes for it“(Idem, Plato’s use of Homer in Hippias Minor, in: Favorinus 1 (1987), 21-30, 23). 293 294 ’ ΐΐ ’ [...]. 295 Vgl. Scholia graeca in Homeri Odysseam (ed. W ILHELM D IRNDORF Oxford 1855) 9.363. 114 ner und Betrüger erscheint Odysseus in einer Rede der Athene im 13. Buch der Odyssee. In dieser Passage, die sich sehr gut für Hippias als Beleg seiner These geboten hätte, sagt die Göttin zu ihrem Schützling: „Der wäre Meister des Vorteils ( ), Meister im Hehlen ( ) und wäre/ Selbst er ein Gott, der dich überböte in sämtlichen Schlichen! Hinterhältiger, ewiger Planer, du schwelgst ja im Truge! Wolltest gar in der eigenen Heimat das Täuschen nicht lassen,/ nicht deine Sucht nach Schwindelberichten. Du liebst sie ja freilich/ seit deinem ersten Schritt“ (13. 291-95).“ 296 Während der Ausdruck „Meister des Vorteils“ noch neutral ist, bietet die andere Bezeichnung „Meister im Hehlen“ 297 eine eindeutig pejorative Einschätzung. Dennoch haben diese problematischen Fähigkeiten eine positive Wirkung: „denn du bist im Raten und Reden weitaus der Beste von sämtlichen Menschen“ (13.297f.). 298 Etliche Epitheta beschreiben Odysseus in dieser Weise als listig und gerissen. Polymētis ( ) gehört (mit 86 Belegstellen) zu den häufigsten. Der Wortbildung und Bedeutung nach ähnlich ist poikilomētis ( ). 299 Das Epitheton polymachēnos ( ) verweist auf die Vielfältigkeit der Hilfsmittel, derer sich der so Gekennzeichnete bedienen kann. 300 Bei polyphrōn ( ) schwingt auch eine Vielfältigkeit und damit Wechselhaftigkeit der Gesinnungen mit. (2) Das wohl in seiner Etymologie und Wortbedeutung unklarste und sowohl in der antiken Homer-Exegese als auch bis in die neuzeitliche Philologie kontrovers diskutierte Epitheton ist das am Anfang der Odyssee stehende polytropos ( ). 301 „Das Wort bereitete damals schon Schwierigkeiten“, wie Wilamowitz zu Recht feststellt. 302 Daher bietet der normalsprachliche Gebrauch in nachhomerischer Zeit auch keine Hilfe für 296 ’ ’ ’ ’ 297 Im Griechischen drückt eine Schlauheit zum Nachteil anderer aus. Vgl. Legg. VI 781a. 298 299 Vgl. Il. 11.482; Od. 3.163; 7.168; 13.293; 22.202, 281. 300 Vgl. Il. 2.173; 4.358; 8.93; 9.308, 624; 10. 144; 23.723; Od: 1.205; 24.192; 203; 10.401, 480, 504; 11. 60, 405, 473, 617; 13. 375; 14. 486; 16. 167; 20. 164; 24. 524. 301 Od. 1,1 und 10.330. 302 W ILAMOWITZ , Platon, 136. 115 die Erfassung der ursprünglichen Wortbedeutung. 303 Zu platonischer Zeit hatte polytropos eine durchaus negative Konnotation. 304 Sehr aufschlussreich für die damalige Debatte in der gelehrten Homer- Hermeneutik und für die Argumentation des vorliegenden Dialogs ist ein Fragment des Sokratikers Antisthenes. 305 Dieses wurde als Scholion des Porphyrios überliefert und ist wohl ein Exzerpt aus einer vermutlich in Dialog-Form 306 abgefassten Abhandlung des Antisthenes. Patzer vermutet, dass in diesem Dialog zwei Unterredner die Bedeutung des Wortes polytropos diskutieren. 307 Der eine Dialogpartner, der die These vom lügnerischen Odysseus vertritt, ist nach Patzer mit hoher Wahrscheinlichkeit Hippias. 308 In den Zeilen 2-15 will Hippias beweisen, dass Homer Odysseus nicht lobe, sondern vielmehr tadele, wenn er ihn polytropos nennt. Hippias beginnt zuerst mit einem indirekten Beweis: Homer habe nicht Achill oder Ajas als polytropos bezeichnet, sondern als „aufrichtig und edel“ ( , Z. 7). „Aufrichtig und edel“ werden hier als kontradiktorisches Gegenteil zu polytropos aufgefasst. Auch der als sophos bezeichnete Nestor wird als das kontradiktorische Gegenteil dessen, was unter polytropos zu verstehen ist, dargestellt: Er wird nicht als listig ( ) oder schwankend in seiner Sinnesart ( ) charakterisiert, sondern er verkehre viel- 303 So schreibt T HEOPHANES K AKRIDIS : „Es kann also eine andere Bedeutung in der späteren Sprache gehabt haben, als bei Homer […] Diese Bedeutung ist die ursprüngliche, die etymologische des Wortes; die Bedeutung ist die jüngere metaphorische. Denn ein Mann, der vielgewandert, vielgereist ist, der muß auch […] verschlagen sein“(Die Bedeutung von polytropos in der Odyssee, in: Glotta 11 [1921] 288-291). Dieser Sicht hat sich die moderne Philologie angeschlossen. 304 So im Sinne von Verschlagenheit vgl. Hdt. 2.123 ; Thuc. 3.83. Im Politikos dient diese Verschlagenheit schwächeren Tieren zur Kompensation ihres Kräftemangels: (291b2). Später kann das Wort auch wertneutral eine Vielfalt ausdrücken. Vgl. LSJ 1445. 305 Die maßgeblich Fragmentsammlung ist die von F ERNANDA D ECLEVA C AIZZI , Antisthenis fragmenta, Mailand 1966 (dort frg. 51). Wir zitieren aber im Original oder in eigener Übersetzung den Text nach der Ausgabe von A NDREAS P ATZER (Antisthenes der Sokratiker. Das literarische Werk und die Philosophie, dargestellt am Katalog der Schriften [Teilabdruck der Diss.] Heidelberg 1970, 169f.), da diese Edition eine bequeme Zeilenzählung bietet und Patzer philologisch vorsichtiger mit Texteingriffen ist. 306 „In der Tat hat der Text auch noch viele Spuren mündlich-dialogischer Redeweise bewahrt. Hierher gehören die kolloquialen Wunsch- und Beteuerungsformeln (Z. 7) und (Z. 21) sowie die nicht minder kolloquiale Frageformel (Z. 17), der ein durch (Z. 17) eingeleiteter Fragesatz folgt, der ebenfalls noch die Lebhaftigkeit mündlicher Rede spüren läßt“ (P ATZER , Antisthenes der Sokratiker, 172). 307 Ibid. 172. 308 Ibid. 175. 116 mehr mit Agamemnon und den anderen Gefährten aufrichtig ( ) und, wenn er könne, verhehle er seinen guten Rat auch nicht ( ). Dem indirekten Beweis fügt Hippias auch einen direkten Beweis unter Berufung auf ein Homer-Zitat an: Verhasst sei ihm jener wie der Tod, „der anderes denkt und anderes spricht“ (Il. 9, 313). Die Übereinstimmung des Antisthenes-Fragments mit dem platonischen Hippias ist frappierend, eine literarische Abhängigkeit zwischen beiden Texten gilt als unbestritten. Problematisch ist dagegen die seit dem 19. Jahrhundert diskutierte Prioritätenfrage. Friedrich Dümmler vertrat die These, dass der Hippias Minor gegen Antisthenes gerichtet sei und dessen Homer-Hermeneutik parodiere. 309 Horneffer 310 und Wilamowitz 311 waren der Auffassung, dass Antisthenes vielmehr von Platon abhänge und dessen Dialog als Korrektur der negativen Odysseus-Interpretation im Hippias Minor konzipiert sei. Die moderne Forschung folgt wieder Dümmlers Prioritätspostulat, wenn auch Dümmlers Verständnis von der platonischen Odysseus-Interpretation eine starke Differenzierung erfahren hat. 312 Patzer sieht die Nennung Nestors im platonischen Hippias als Beleg für dessen Posteriorität. Für Antisthenes dient Nestor als ein Beispiel homerischen Heldentums. 313 Bei Platon wirkt die Nennung Nestors überraschend, um nicht zu sagen überflüssig für die Beantwortung von Sokrates’ Frage. „Platon dürfte die Ausführungen aufgegriffen haben, um seinen Dialog einzuleiten, unbekümmert darum, daß die Erwähnung jetzt die argumentative Bedeutung verlieren müßte“ 314 , wie Patzer treffend analysiert. Patzers Prioritätsthese weist gegenüber der anderen Theorie einen höheren Erklärungswert auf, da sie auch eine Erklärung für die Erwähnung Nestors bie- 309 D ÜMMLER , F RIEDRICH , Antisthenica (Diss.) Bonn 1882; wieder abgedruckt in Kleine Schriften I Leipzig 1901, 10-78; Das Verhältnis von Hippias Minor und Antisthenes wird dort Seite 31-36 (=38-42) untersucht. 310 „Daß Antisthenes nach unserem Dialog geschrieben hat, scheint mir die Anführung derselben Homerverse, überhaupt die ausführliche Vergleichung des Odysseus mit den anderen Helden bei Antisthenes zu beweisen […] Antisthenes scheint mir den Odysseus Platon gegenüber verteidigt zu haben: daher die genaue Vergleichung des Odysseus mit den anderen Helden und dieses auffällige Zitat“ (H ORNEFFER , E RNST , Platon gegen Sokrates. Interpretationen, Leipzig, 1904, 27). 311 W ILAMOWITZ , Platon, S. 136 Anm. 3. In dieselbe Richtung argumentiert auch M AX P OHLENZ , der das Fehlen der antisthenischen polytropos-Erklärung bei Platon als Beweis für dessen Abhängigkeit von Antisthenes wertet (P OHLENZ , M AX , Aus Platos Werdezeit, 59). 312 Wir werden uns damit im Zusammenhang mit der sokratischen Odysseus-Interpretation näher beschäftigen. 313 P ATZER sieht die Beweisführung in steigender Richtung angelegt, so dass Nestor ausführlicher als Aias und Achill besprochen wird. (Antisthenes der Sokratiker, 173). 314 Antisthenes der Sokratiker, 176. Unschlüssig ist die Argumentation von W ILAMOWITZ , der die Heranziehung des weisen Nestor als Indiz deutet, „daß er [Antisthenes] den Platon vor Augen hat“ (Platon, S. 136 Anm. 3). 117 tet. Es ist in der Tat weniger wahrscheinlich, dass ein totes Motiv vom Gegner expliziert wird, als dass es bloße Anspielung ist und so seine argumentative Relevanz eingebüßt hat. Zur Allusion an Antisthenes passt auch, dass Platon auf die für Antisthenes wichtige Anführung von Ajas verzichtet, der für Hippias’ Argumentation nicht nur überflüssig, sondern störend wäre. 315 Sprachlich signifikant ist, dass bei Antisthenes Positivformen stehen ( , Z. 4; , Z. 6; , Z. 7), während Platon Superlative ( , 364c7; , 364c7; , 364c7f. , 364e7f.) benutzt. Die Superlative drücken auch eine gewisse Hyperbolik aus und bewirken damit eine Ironisierung des platonischen im Vergleich zum antisthenischen Hippias. Besonders bemerkenswert ist auch das von beiden gebrauchte Ilias-Zitat. Während der antisthenische Hippias Vers 312 paraphrasiert und nur Vers 313 wörtlich zitiert, führt der platonische Hippias die Verse 308-313 wörtlich an, weshalb auch dabei die Auslassung von Vers 311 so auffallend ist. Das Zitat ist für das vom antisthenischen Hippias intendierte Beweisziel (die Abscheu Achill vor Unaufrichtigkeit) gut gewählt, erweist sich aber eher als ungeeignet für die Absicht des platonischen Hippias, eine negative Charakterisierung von Odysseus durch Achill zu belegen. Auch hier zeigt sich die Hypothese, Platon habe das Zitat zur Anspielung an Antisthenes übernommen und seinem Hippias trotz eines anderen Beweisziels in den Mund gelegt, als von größerem heuristischen Wert. 316 Platon kann hiermit schon einen Hinweis geben auf „die Fragwürdigkeit der Methode, aus einzelnen Versen geschlossene Charakterbilder [zu] rekonstruieren“ 317 , die bereits in der Antisthenes-Hippias Auseinandersetzung zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Odysseus-Deutung geführt hatte. Die Annahme einer Abhängigkeit Platons vom Antisthenes-Fragment erweitert das externe und interne Verständnis unseres Dialoges. Das externe Verständnis kann den Hippias Minor besser in die damalige Debatte der Homer-Hermeneutik einordnen. Platon scheint mit seiner Schrift an dem literaturwissenschaftlichen Disput zwischen Antisthenes und Hippias teilgenommen zu haben. Da die Argumentationsweise und das Beweisziel des antisthenischen und platonischen Hippias gleich sind, gibt es gute Gründe anzunehmen, dass dies auch der Lehre des historischen Hippias entspricht. 315 Hippias bezeichnet Achill mit den Superlativen (364e7f.) als Paradigma eines derartigen Menschen, während bei Antisthenes im Positiv steht. Antisthenes hat auch nicht die Grundannahme, dass auf jeden der beiden Helden Achill und Odysseus ein Epos geschrieben wurde. 316 H ORNEFFERS angeführte Argumentation für die Posteriorität des Antisthenes als Korrektiv für die platonische Odysseus-Deutung befriedigt in diesem Punkt überhaupt nicht. 317 D ALFEN , Polis und Poiesis, 70. 118 Das interne Verständnis kann besser die Argumentation des Dialoges nachvollziehen, denn das Antisthenes-Fragment gibt uns einen Schlüssel an die Hand, wie ein solcher Odysseus bewertet wurde. Antisthenes erhebt gegenüber Hippias den Einwand, dass nach dieser Interpretation von polytropos Odysseus ponērós (Z. 17) sei. Das polyseme ponērós bedeutet hier „sittlich verwerflich“ sowie „willentlich und wissentlich schlecht“. 318 So sind für Aristoteles ponēroi auch adikoi, das sie Schaden aus böser Absicht anrichten im Gegensatz zu denen, die es aus Zorn oder Leidenschaft tun. 319 (3) Eine Gleichsetzung von polytropos mit ponērós ist also auch für den platonischen Hippias anzunehmen. Die negative Charaktereigenschaft ponērós wäre für Hippias ein Bewertungskriterium, dass ihn rechtfertigen würde, Achill als ameinon zu bezeichnen und somit die Ilias für kallion als die Odyssee zu halten. 320 Auch das andere Odysseus von Hippias zugewiesene Attribut pseudēs (365b5) steht für eine negative Charakterisierung. Meint pseudos ursprünglich zwar jede Art von falscher Aussage oder (verbaler oder nonverbaler) Darstellung 321 ohne Rücksicht auf die Ursache der Unrichtigkeit (Irrtum oder Lüge), so wurde doch auch in der Ilias die falsche Beschuldigung des Gegners im Wettkampf, um ihm auf diese Weise den Siegespreis zu entreißen, verurteilt. Mit Hesiod setzt sich eine moralische Verwerfung der Lüge immer mehr durch. Unberechtigte und willkürliche Schädigung durch Lüge ist nach Hesiods Auffassung adikē. Damit ist aber keinesfalls eine absolute Pflicht zur Wahrhaftigkeit gemeint, wie sie von Kant gefordert wird. Solch ein moralischer Rigorismus wird sich auch bei Platon nicht finden lassen. Sokrates rekapituliert zur Sicherung der Diskussionsgrundlage Hippias’ Implikation von polytropos: Der Vielgewandte ist der Lügnerische ( , 365b8). Lügnerisch ist hier also eine Charaktereigenschaft, die man sich durch häufiges Lügen erworben hat und die somit zur Neigung geworden ist. 322 Hippias bestätigt Sokrates’ Rekapitulation und betont dabei, dass diese Interpretation durch die homerischen Epen gedeckt sei (365c1ff.). Sokrates stellt die als Frage formulierte These, dass 318 Zur Bedeutung von s. das Lemma von G ÜNTHER H ARDEN in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 6 S. 546-566. 319 Vgl. EN V 10, 1135b24; VIII 11, 1152a16.20-24. 320 Vgl. 363b2ff. 321 „Im homerischen Epos braucht nicht unbedingt an die Sphäre des Wortes gebunden zu sein, auch Gesten, Zeichen können als angesehen werden“ (L UTHER , W ILHELM , Wahrheit und Lüge im ältesten Griechentum, Leipzig 1935, 81). 322 J ANTZENS Interpretation (Hippias minor, 43) von als „unfähig“ und Vielgewandtheit als „Untüchtigkeit“ ( ) ist hier verfehlt, denn an keiner Stelle wurde im Text bisher auf Fähigkeit oder Können rekurriert. 119 der Lügner und der Wahrhaftige bei Homer nicht identisch seien, die von Hippias akzeptiert wird (365c4ff.). An dieser Stelle sind ein paar Bemerkungen zur Übersetzung der Schlüsseltermini pseudēs (Lügner) und alēthes (Wahrhaftige) angebracht. Beide Begriffe sind Adjektive, werden aber bei Platon auch substantivisch benutzt. 323 In unserer Übersetzung haben wir pseudēs als Substantiv mit „Lügner“ und in adjektivischem Gebrauch als das Adjektiv-Derivat „lügnerisch“ wiedergegeben. 324 Das Wort „Lügner“ ist (wie das griechische pseudēs) doppeldeutig zu verstehen. Es bezeichnet zum einen den Akteur einer Handlung (den Lügner) und zum anderen auch eine Charktereigenschaft, die besonders beim Adjektiv „lügnerisch“ anklingt. Dem Deutschen fehlt (wie dem Griechischen) ein echtes Pendant zum Substantiv „Lügner“, das den Sprecher einer wahren Aussage meint. Das substantivierte Adjektiv „der Wahrhaftige“ kann neben dem Inhaber einer Cheraktereigenschaft auch eine handelnde Person bezeichnen und zwar diejenige, die die Wahrheit redet. 325 Der Übersetzer ist sich dieser Uneindeutuigkeit der Termini wohl bewusst und hat auf den Versuch verzichtet, durch Wortneuschöpfungen und Definitionen Abhilfe zu schaffen, da solche Neologismen der Normalsprache zuwiderlaufen. Die Übersetzung bewahrt also die Doppeldeutigkeit des Griechischen und verzichtet auf jedwede interpretierende Übersetzung in diesem Fall. Die Aufgabe des Kommentars ist es schließlich, die genaue Wortbedeutung in der Argumentation auf Univokität zu überprüfen. Sokrates geht nun einen Schritt weiter und leitet das Ende der bisherigen Homer-Interpretation ein, indem er Hippias nach seiner Ansicht zur These befragt (365b7). Hippias erklärt sich daraufhin auch persönlich (und nicht nur als Homer-Interpret) von der Gültigkeit dieser These überzeugt (365b8). C - Anmerkungen 363a2: Prunkrede Das griechische Wort epideixis ( ) weist auf eine Schaustellung, genauer eine „Vorführung von Erzeugnissen einer Kunstfertigkeit entweder zur Prüfung der Brauchbarkeit vor dem Abnehmer oder vor größerem 323 Das Substantiv ist bei Platon noch ungebräuchlich und erst später belegt. 324 Schleiermachers Übersetzung „falsch“ bzw. „der Falsche“ ist ungünstig, da so die Stammverwandtschaft zum Verb (wie bei Lügner und lügen) nicht berücksichtigt wird. 325 Vgl. G RIMM , Deutsches Wörterbuch, Bd. 13 Sp. 813. 120 Publikum ohne praktischen Zweck.“ 326 Das beinhaltet jede Art fragloser Rede, „die nicht untersucht, erörtert und argumentiert, sondern etwas im voraus Feststehendes und Unstrittiges darstellt.“ 327 Bei der Prunkrede stellt der Redner mit dem Gegenstand der Rede vor allem sein rhetorisches Können zur Schau. Die klassische Rhetorik unterschied drei Redegattungen, das genos dikanikon, die Gerichtsre-de ( ), symbuleution, die Beratungsrede ( ) und epideiktikon, die Prunkrede ( ). Während die ersten beiden Gattungen strittige Themen behandeln, hat es die Epideixis mit dem Lob oder Tadel von einem nach allgemeiner Meinung gut oder schlecht Eingeschätztem zu tun. Prunkrede ist indes als Oberbegriff zu verstehen, der nach Anlass in eine Vielzahl epideiktischer Gattungen zerfällt: Panegyricus (Festrede), Enkomion (Lobrede), Epinikion (Siegeslob), Epitaphios (Leichenrede) u.a. Das älteste Zeugnis einer Epideixis ist das Enkomion auf Helena 328 des Gorgias von Leontinoi (ca 480-380 v. Chr.), der mit rhetorischer Raffinesse einer umstrittenen Person der griechischen Sage Lob zollt. Dass es dabei nicht darum geht, die eigene Überzeugung zu vertreten, gibt Gorgias offen zu, wenn das Lob der Helena als ein Spiel deklariert. 329 Isokrates (436-338 v. Chr.) wendet sich aus puristischen Gründen gegen die Vermischung von Enkomion und Apologie, er verlangt aber dem Redner neben Virtuosität auch Verantwortung für die von ihm vertretene Sache ab. Dennoch bleibt er bei der Praxis, die er auch als Lehrsatz aufstellt, dass bei der Zuschreibung von guten oder schlechten Eigenschaften in der Lob- oder Tadelrede durchaus übertrieben werden solle. 330 Für Platon ist die Prunkrede geradezu Inbegriff sophistischer Rhetorik. Im (pseudoplatonischen? ) Menexenos spottet Sokrates über das Eigenlob im Enkomion: „Wenn einer aber von denen seine Kunst geltend zu machen hat, die er zugleich rühmt, da ist es nichts Großes, wenn man gut zu reden scheint“ (235d6ff.). Sogar der Schlechteste „müsste, wenn er Athener unter Athenern lobte, Beifall finden“ (236a5f.). Verurteilung erfahren die Verlogenheit („gelobt wird ebenfalls, wer auch nichts taugt“ 234c4) und der Schematismus („Jeder von diesen hat ja seine Reden immer schon fertig“ 235d1f.) der Prunkrede. Im Symposion stellt Platon Sokrates in scharfer 326 S CHMID , W., Epideixis, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Alterthumswissenschaften, hg. von G EORG W ISSOWA , Stuttgart 1907, Bd. VI, 1, 53-56, 53. 327 M ATUSCHEK , S TEFAN , Epideiktische Beredsamkeit, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G ERT U EDING , Tübingen 1994, Bd. 2, 1258-1267, 1258. 328 Gorgias, Frgm. 11, in: VS 2, 288-94. 329 (294, § 21). 330 Vgl. Isokrates, oratio XI (Busiris) § 4. 121 Absetzung von der Sophistik als einen der Wahrheit verpflichteten Lobredner dar. 331 363a5: philosophischer Beschäftigung Im griechischen Text steht hier en philosophia diatribēs ( ). Der Philosophiebegriff bei Platon war und ist Gegenstand vieler Studien, die in Kürze zusammenzufassen Aufgabe und Umfang dieser Kommentarnote sprengen würde. Ein kurzer Blick auf den Sprachgebrauch lässt verschiedene Facetten erkennen: Philosophie ist in erster Linie Wissenschaft, deren Ziel Erkenntnis ist (Euthd. 288d8). In der Politeia ist sie Metawissenschaft in einem System von Wissenschaften und Voraussetzung für die Bekleidung öffentlicher Ämter (V 473d3; VIII 543a5). Für Platon wie für die von ihm postulierten Philosophen-Herrscher liefert Philosophie nicht nur das epistemische Rüstzeug, um die Welt zu verstehen, sondern ist gleichzeitig eine Form adäquat in der Welt zu leben (Ep. VII 347e7; Tht. 174b1; Grg. 484c5; 500c7). Der Schlüsselbegriff philosophia bleibt daher unübersetzt. Das Wort diatribē (als deriviertes Nomen vom Verb diatribo) bezeichnet den Zeitvertreib oder Aufenthalt mit einer Sache, Tätigkeit 332 oder an einem Ort. 333 Im Zusammenhang mit en philosophia findet sich eine Form von diatribo in der Politeia im Zusammenhang mit den Philosophen- Herrschern. 334 Das diatribein en philosophia zeichnet das Leben eines Freien aus (Tht. 172c4f.), doch beschäftigt sich der Typ des demokratischen Menschen nur temporär mit Philosophie (Rep. VIII 561d2). Der Ausdruck diatribē ist hier auch vom literarischen terminus technicus zu unterscheiden, der eine bestimmte Form der (philosophischen) Abhandlung bezeichnet, in der durch Schaffung eines imaginären Gesprächspartners und den Austausch von Fragen und Antworten eine lebendige Dialogatmosphäre simuliert wird. 335 Wenn Eudikos diese Formulierung aufbringt, wird er an eine philosophische Vertiefung des eben gehörten Vortags im kleinen Kreis Interessier- 331 Ironisch kritisiert Sokrates die sophistische Epideixis und stellt ihr sein Konzept entgegen: „Ich dachte nämlich in meiner Einfalt, man müsse die Wahrheit sagen in jedem Stück von dem zu Preisenden […] Das war aber, wie es scheint, gar nicht die rechte Weise, etwas zu loben, sondern darin besteht sie, daß man der Sache nur so Vieles und Schönes beilege wie möglich, möge es sich nun so verhalten oder nicht“ (198d2ff.; 198d8-e2). 332 Vgl. Ly. 204a1; a3; R. V 472b2; 475d5; VII 519c2; VIII 561a7; X 604c9; Euthd. 305a6; Smp. 305a6. 333 Vgl. Ep. VII338a1; Prt. 311a5; Euthd. 271c4 334 R. VII 540b2. 335 Vgl. S. K. S TOWERS , Diatribe, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, 627-633. 122 ter denken. Dabei handelt es sich wohl auch um eine captatio benevolentiae, die zur Stiftung dieser Diskussionsrunde beitragen soll. 364a8: seitdem ich in Olympia kämpfe Die griechische Kultur war von Anfang an in allen Lebensbereichen eine Wettbewerbsgesellschaft. Überall galt das homerische Adelsethos „immer der Beste zu sein und sich auszuzeich-nen vor allen“ (Il. 6.208). Die verschiendartigen Wettkämpfe boten oft dazu Gelegenheit. Man unterschied klassisch drei Typen von Agonen: Die gymnischen Agone, in denen die Kämpfer nackt (gymnos) auftraten, umfassten alle Wettbewerbe, bei denen körperliche Tüchtigkeit zur Schau gestellt wird. Bei den hippischen Agonen ging es um Schnelligkeit und Schulung der Pferde und die Geschicklichkeit der Lenker in den Wagenrennen. Die musischen Agone waren Wettkämpfe auf dem Gebiet der Musik, Poesie und Orchestrik. Dazu gehörte ein breites Spektrum an Darbietungen von alter und neuer Dichtung, Vorträgen, Instrumental- und Vokalmusik sowie darstellendem Tanz. Nach der Art des Siegespreises wurde zwischen Wert- und Kranzagonen unterschieden. Die Sieger in Wertagonen wurden mit wertvollen Gegenständen (athlōn) oder Geldsummen (thema) prämiert, während bei Kranzagonen der Siegeskranz aus dem heiligen Hain des Festgottes der Preis war. Der bekannteste Kranzagon waren die alle vier Jahre ausgetragenen Olympischen Spiele. Das Wettkampfprogramm in Olympia bestand aus gymnischen Disziplinen im Stadion (Stadion-Lauf, Diaulos 336 , Dolichos 337 , Waffenlauf, Faustkampf, Pankration und Penthalon) und hippischen im Hippodrom (Zwei- und Viergespannrennen). Musische Wettkämpfe haben in Olympia nicht stattgefunden. Es gibt zwar ein Fragment aus der Olympischen Rede des Lysias, in dem es heißt, Herakles habe das Fest auch als „eine Schaustellung des Geistes (gnōmēs epideixis) begründet. 338 Aber wie Ausgrabungen gezeigt haben, gab es weder ein Odeon noch ein Theater; auch spricht die antike Quellenlage dagegen. 339 Ludwig Drees deutet das 336 Ein Lauf über zwei Stadien, wobei die Läufer am Bahnende umkehrten. 337 Ein Dauerlauf über 7, 12 oder sogar 24 Stadien. 338 Lysis, Olympiakos 2. 339 So klagt Isokrates als Vertreter des Geistes in seinem Panegyrikos: „Schon oft hat mich bei denen, die unsere Festversammlungen eingeführt und die sportlichen Wettkämpfe begründet haben, dieses erstaunt: Sie meinten, unsere körperlichen Vorzüge verdienten so große Auszeichnungen, während sie all denen, die sich mit Eigeninitiative für das Gemeinwohl eingesetzt und ihre geistigen Fähigkeiten auch zum Nutzen für andere ausgebildet haben, keinerlei Anerkennung zukommen ließen. Um diese hätten sie sich aber bevorzugt kümmern müssen, denn wenn Athleten ihre Kräfte verdoppeln, dann hat kein anderer einen Gewinn, wenn aber nur ein einziger Mensch 123 Lysias-Zitat dahingehend, „daß Olympia als Forum die geeignete Stätte für geistige, literarische, künstlerische und wissenschaftliche Darbietung war […] Die olympische Festversammlung bot Gelehrten, Dichtern und Künstlern eine einzigartige Möglichkeit, ihre Werke bekanntzumachen.“ 340 Eine solche Möglichkeit wird auch der auf sein Renomee bedachte Hippias gern und oft genutzt haben. vernünftige Gedanken hat, so dürfen alle, die seine Gedanken mit ihm teilen wollen, einen Nutzen davon haben“ (Panegyrikos 1-2 [nach der Übersetzung von Christine Ley-Hutton]). Aus späterer Zeit s. Flavius Philostatos (Philostratos, Apollonius von Tyana VI 10). 340 D REES , L UDWIG , Olympia. Götter, Künstler und Athleten, Stuttgart u.a. 1967, 73. 124 2. Das Lügner-Paradoxon (365c9-368a11) A - Inhaltsangabe Sokrates verlässt die Homer-Philologie und geht zur Philosophie über, indem er Hippias auffordert, für den Dichter zu antworten. Der philosophische Diskurs beginnt mit einer Begriffsklärung. Hippias definiert im Gespräch mit Sokrates die Lügner (pseudeis) als verständig und fähig (dynatoi) zu lügen. Umgekehrt kann ein zum Lügen unverständiger und unfähiger Mensch kein Lügner (pseudēs) sein. Fähig (dynatos) ist demnach der, der tut, was er will, wann immer er es will. Sokrates kommt nun auf die Fähigkeiten des Hippias zu sprechen, zu denen besonders auch die Arithmetik gehört. Anhand einer Beispielaufgabe aus der Arithmetik verdeutlich Sokrates seinen Gedanken: Hippias kann aufgrund seiner Verständigkeit und Fähigkeit auf diesem Gebiet lügen oder die Wahrheit sagen, wann immer er will. Der Unverständige und Unfähige dagegen könnte unwillentlich das richtige oder falsche Ergebnis sagen und so seiner Intention (zu lügen oder die Wahrheit zu sagen) zuwiderhandeln. Es ist also der Fähigste und Verständigste, auf diesem Gebiet die Wahrheit zu sagen, identisch mit dem Fähigsten und Verständigsten zu lügen. Was für die Arithmetik gilt, wird auch für die Bereiche der Geometrie und der Astronomie gezeigt. B - Interpretation 1. Wahrhaftigkeit und Lüge (365c9-366e5) 1.1 Der sokratische Methodenwechsel Sokrates begründet den Methodenwechsel, der weg von der Homer- Interpretation hin zum Elenchus führt: Es sei unmöglich, Homer über seine Gedanken beim Dichten dieser Verse zu befragen ( , 365d1). An Stelle des einem Elenchus nicht zur Verfügung stehenden Homer soll Hippias antworten, da er für sich in Anspruch nimmt, Homer authentisch auszulegen ( , 365d2f.). Dieses Vorgehen ist für Sokrates nicht ungewöhnlich 341 und steht im Zusammenhang mit einer kritischen Beurteilung von schriftlich fixierten Texten. Deren prinzipielle Problematik wird im 341 Vgl. G UILIANO , L’Odisseo di Platone, 19. 125 Phaidros eingehend thematisiert. Im sokratischen Theut-Mythos (274c5- 275b3) preist der Erfinder der Schrift Theut vor dem ägyptischen König Thamus seine Erfindung, dass diese die Ägypter weiser machen und ihre Gedächtnisleistung verbessern würde. Thamus entgegnet, dass durch diese Erfindung nicht das Gedächtnis ( ), sondern lediglich die Erinnerung ( ) verbessert würde. Der König kritisiert weiter, dass die Schrift nicht Weisheit, sondern nur deren Anschein ( ) vermitteln würde (275a6-b3). Im Gespräch mit Phaidros verdeutlicht Sokrates seine prinzipiellen Bedenken gegenüber schriftlich fixierter Philosophie. Diese steht nicht für Rückfragen zur Verfügung und ist, da sie Verständigen wie auch Unverständigen potentiell den Zugang ermöglicht, für Fehlinterpretationen offen (275d4-e6). Der geschriebenen Lehre wird eine lebende und beseelte entgegengesetzt, die die schriftliche Fixierung lediglich als Gedächtnisstütze nutzt (276d2ff.). Eine ähnliche Problematik sieht Sokrates auch bei der Dichter- Interpretation. Im Protagoras vergleicht Sokrates die Heranziehung von Dichtung in der Argumentation mit dem Mieten von Schalmeienspielerinnen für die Symposien ungebildeter Leute, während intelligente Menschen selbst genug Gesprächsstoff hätten (347c3-d7). Dichtung und Dichter (der Vergangenheit) haben zudem den methodischen Mangel, dass sie sich nicht direkt befragen lassen und so einer beliebigen Deutung Tür und Tor geöffnet sind (347e3ff.). 342 Damit muss aber von Platon nicht jeglicher Interpretation eine Absage erteilt worden sein. Was Bernd Manuwald sehr gut zu der Protagorasstelle herausgearbeitet hat, gilt auch für unsere Hippias-Passage: „Vielmehr geht es um den prinzipiellen Unterschied zwischen dialogischer Wahrheitssuche am Gegenstand selbst […] und der Interpretation eines Textes. Dieser Unterschied liegt nicht nur im Fehlen eines Dialogpartners im strikten Sinn bei der Textinterpretation, sondern in ihrer existentiellen Geringwertigkeit, insofern nicht unmittelbar die Sache selbst, sondern die Meinung eines anderen zur Debatte steht.“ 343 342 Dahinter steckt das prinzipielle Problem von Schriftlichkeit, das in der schon erwähnten Phaidros-Passage aufgeworfen (275c1-e6) und schließlich von Platon im Hinblick auf seine eigenen Schriften im berühmten siebten Brief (341c1-342a6) thematisiert wird. 343 M ANUWALD , B ERND , Protagoras. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1999, 355. P ETER S TEMMER wendet sich gegen die verbreitete Auffassung, „daß der Elenchos immer intendiere, der Person des Antwortenden nachzuweisen, daß sie etwas für wahr hält, was tatsächlich nicht wahr ist […] Vlastos hat diese Interpretation erneuert und verdeutlicht. Auch er hält das Gebot „say what you believe“ für eine Regel des Elenchos und zwar für die Regel, die den Elenchos von der Eristik unterscheidet. Die 126 Dabei ist es durchaus möglich, dass im Elenchos der Dialogpartner eine These vertritt, von der er nicht weiß, ob er sie für wahr oder falsch halten soll. Der Elenchos dient dann als Experiment, als dialektischer Prüfstein quasi, mit dem er seine These testet. 344 Die These und nicht die Person des Antwortenden steht auf dem Prüfstand. 345 Nur in dem für den Elenchos nicht definitiven Fall, dass der Antwortende die These, die er einführt, selbst für wahr hält, ist die Prüfung der These auch die persönliche Prüfung des Antwortenden. So stehen auch in diesem Fall in erster Linie Hippias’ Thesen und dann sekundär und mittelbar die Person des Sophisten auf dem Prüfstand. 1.2 Die Eigenschaften des Wahrhaftigen und des Lügners Sokrates beginnt die Prüfung mit den pseudeis und untersucht deren Eigenschaften. Seine disjunktive Doppelfrage stellt zwei Möglichkeiten in den Raum: Sind die pseudeis adynatoi oder dynatoi (365d6f.)? Wenn wir die Frage des Sokrates und die Antwort von Hippias ver-stehen wollen, müssen wir die für diese Diskussion zentralen Termini dynatos bzw. adynatos klären. Was bedeutet das Eigenschaftswort dynatos in der Normalsprache? Was heißt es, wenn von einer Person das Verb dynamai prädiziert wird? Wie wird das Substantiv dynamis benutzt? Wenn wir den normalsprachlichen Gebrauch von dynatos und dessen Derivaten kennen, müssen wir die philosophische Verwendung bei Platon untersuchen, um dann die Bedeutung für diese Passage besser verstehen zu können. Das Nomen dynamis drückt in seiner Kernbedeutung ein Vermögen oder eine Kraft aus und findet ursprünglich im physischen Sinne bei Homer Verwendung. 346 Dieses physische Vermögen hat in der Geschichtsschreibung häufig die Bedeutung von politischer und militärischer Macht. 347 Im Rahmen einer Extensionserweiterung bezeichnet dieses Vermögen persönliche Talente und Fertigkeiten; so wird bei Aristoteles mit dynamis logōn sowohl die Kraft der Rede als auch die Beredsamkeit selbst benannt. 348 Als ökonomisches Vermögen bezeichnet es den Wert einer Sache, wie den Eristik sei nämlich gerade dadurch charkterisiert, daß die Spieler Dinge behaupten, die sie selbst nicht für wahr halten“ (Idem, Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, (Habil.) Berlin 1990, 102). 344 Vgl. S TEMMER , Platons Dialektik, 103. 345 So hat M ANUWALD Unrecht, wenn er in der zitierten Stelle weiter ausführt: „Ziel des sokratischen Gesprächs ist die Prüfung des Sachverhalts an sich (was ist wahr), wobei gleichzeitig auch die diskutierenden Personen auf den Prüfstand kommen […] Beides ist untrennbar verbunden“ (ibid. 102). 346 Vgl. Od. 2.62; 3. 205; 20. 237. Il. 8. 294; 13. 786.87; 23. 891. 347 Vgl. Thuc. 7. 21; Hdt. 5.100. 348 Arist. Rhet. 1.1. 127 Geldwert (im Deutschen sprechen wir auch von Kaufkraft). 349 Im semantischen Bereich drückt dynamis die Bedeutung eines Wortes oder eines Begriffs aus. 350 Erstmals als fachsprachlich festgelegter Terminus begegnet dynamis in der griechischen Medizin, in der es für die einem Stoff innewohnende Wirkkraft steht. 351 Das Adjektiv dynatos bezeichnet ein physisches oder mentales Vermögen und wird häufig relational prädiziert. 352 Wenn dynatos mit Infinitiv steht, ist damit die Fähigkeit, die im Infini-tiv ausgedrückte Handlung auszuführen, gemeint. 353 Im absoluten Gebrauch bezeichnet dynatos als substantiviertes Adjektiv (meist im Plural) Personen mit Einfluss und Ansehen. 354 Das Verb dynamai wird auch oft relational prädiziert und steht dann mit Infinitiv 355 (für die Fähigkeit eine bestimmte Handlung auszuführen) oder mit (Objekts-)Akkusativ 356 . Dabei hat es vielfach die Bedeutung des Modalverbs können. Häufig ist der Infinitiv aus dem Zusammenhang zu ergänzen 357 oder es liegt ein absoluter Wortgebrauch 358 vor. Analog zum Nomen dynamis kann es auch gelten oder bedeuten heißen. 359 Im Rahmen einer ontologischen Untersuchung im Sophistes wird das Sein als dynamis bestimmt ( , 247e3f.). Dabei werden prinzipiell zwei Formen von dynamis unterschieden: eine aktive als Fähigkeit etwas zu bewirken und eine passive als die etwas zu erleiden ( ’ ’ , 247e1). Die einzelnen dynameis werden (a) durch ihr Objekt ( ’ , Resp. V 477d1) und (b) durch ihr Wirken ( , 477d1f.) differenziert. 360 349 Vgl. Thuc. 6.46. 350 Vgl. Lys. 10.7. 351 „Für Gesundheit und Krankheit entscheidend sind […] das Salzige, das Bittere, das Scharfe und das Herbe und eine Fülle von anderen Bestandteilen im Menschen. Alle Bestandteile haben jeweils eine bestimmte ,Wirkkraft’ an sich, auf deren Stärke ihre Wirksamkeit beruht. Nicht der Stoff selbst wirkt, sondern die ihm eigene Dynamis“ (G. P LAMBÖCK , Dynamis, in: Hist. Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 302f.). 352 Dies geschieht meist mit dem Dativ, der (entsprechend dem lateinischen Ablativus limatationis) die Hinsicht ausdrückt, in der diese Stärke besteht. Vgl. Xen. Mem 2.1.19: 353 Vgl. Hdt 1.97. 354 Vgl. Hdt. 1.53; Thuc. 2.65. 355 Z. B. Il. 1. 526; 19.163. 356 Z. B. Od. 4.237; 14.445: . Ähnlich wie im Deutschen: Er kann alles. Dabei ist der Infinitiv eines Verbum faciendi zu ergänzen. 357 Z. B. Il. 1.393: [sc. ]. 358 Vgl. Od. 5.25; 4. 612.827; 16.208. 359 Z. B. beim Geld Xen. An.1.5.6 oder bei Wörtern Thuc. 6.36. 360 J. C. G OSLING hat zu Recht auf eine kriteriologische Unklarheit hingewiesen: „If two descriptions of differ both in the objects attributed and in what is done, 128 Die vorliegende Form von dynatoi (365d7) fungiert (als substantiviertes Adjektiv) als Nominalphrase in Verbindung mit dem Infinitiv ti poiein (365d7) als Verbalphrase. In dieser Konstruktion hat dynatos die Bedeutung „fähig sein, können“, wobei der Infinitiv den Bereich der Fähigkeit erläutert („fähig zu etwas sein“). Der Infinitiv poiein ist mit dem Indefinitpronomen ti als unbestimmtes affiziertes Objekt erweitert. 361 Im konkreten Fall muss diese Formulierung mit „fähig sein etwas zu tun, etwas tun können“ übersetzt werden. Nach welchen Kriterien ist jemand für Platon fähig, eine wie immer geartete Handlung zu begehen? Eine Antwort auf diese Frage und somit den Schlüssel für die Interpretation dieses Begriffs gibt uns Sokrates in 366b12c5 an die Hand: Fähig also ist jener, der tut, was er will, wann er es will. Das Tun hängt beim Fähigen also nur vom Willen ab, während beim Unfähigen hier äußere Einschränkungen wie Krankheit (365d7; 366c1f.) eintreten. 362 Sokrates illustriert den Gedanken am Bespiel eines Alphabeten: then we have two It is not clear whether we can infer as a general rule that difference is one only constitutes of a difference of ” (Idem, and , in: Phronesis 13 (1968), 119-130, 119). 361 J ANTZEN bemerkt dazu: „Der Ausdruck ist leitmotivisch ab 363c; etwas tun ( , 365d7, s. a. 373d7, Charm. 162e8): Der Zusatz eines direkten Objekts (vgl. u. a. Krat. 389a) gibt den Sinn von machen (hervorbringen, Soph. 219b) und nimmt dem Wort die Zweideutigkeit, die im Euthydem durch die Gleichsetzung mit ausgedrückt wird (274b-c) […] Zur Unterscheidung / bzw. (vgl. Arist. NE 1140a1) s. 373d“ (Kommentar, 46 Anm.1). Es wird dabei nicht klar, welcher Unterschied zwischen etwas tun ( ) und machen, hervorbringen besteht, wenn beide ein Objekt haben. Auch ist der Hinweis auf Aristoteles wenig hilfreich, denn dieser unterscheidet (ohne genaue Kriterien anzuführen) zwischen und ( , 1140a5f.), und geht nicht auf ein. Die Synonymik der griechischen Sprache von J. H. H EINRICH S CHMIDT (Leipzig 1876 Bd. 1) ist aufschlussreicher: „Der allgemeinste Ausdruck für alle menschlichen Verrichtungen ist im Deutschen tun […] Soll in derselben Allgemeinheit mehr die Tätigkeit hervorgehoben werden, so haben wir das Verbum handeln; dagegen wird der Erfolg, das Erreichte, das Ziel bei machen in den Vordergrund gestellt“ (ibid. 397). Im Attischen entspricht dem deutschen handeln, während unserem machen entspricht (398). Schmidt differenziert genauer: „ bezeichnet die einem bestimmten Ziele zugewandte Tätigkeit, die wirklich Neues hervorbringende Tätigkeit“ (ibid. 407). Der griechische Sprachgebrauch legt die Vermutung nahe, dass es sich bei der Verbalphrase dynatos ti poiein um ein Erfolgsverb handelt. 362 Diese Einschränkung ist sehr wichtig. Wir würden normalsprachlich sagen, dass jemand zwar die Schreib-fähigkeit hat, aber aus Krankheitsgründen oder wegen äuße- 129 (A) Der Alphabet ist fähig (seinen Namen) zu schreiben. (B) Der Alphabet kann (seinen Namen) schreiben, wann immer er will. Der Satz (A) ist äquivalent mit dem Satz (B). Die Formulierung fähig ist also gleichwertig mit dem Modalverb können. 363 Das Modalverb können wird in Zusammenhang mit Absicht gebraucht. 364 Gleichzeitig wird damit schon der Weg geebnet für den Begriff einer freien Handlung. Wenn jemand tun kann, was er will, ist er frei zu tun, was er will. 365 Die sokratische Formulierung fähig etwas zu tun ist neutral gewählt und fungiert als Variable einer näher zu bestimmenden Handlung. Hippias ersetzt diesen Platzhalter, in dem er erklärt, dass die pseudeis zu vielerlei fähig seien und insbesondere zum Betrügen ( , 365d8f.). Sokrates resümiert mit Zustimmung von Hippias, dass (in Anschluss an 365b8) die dynatoi auch polytropoi seien (365e1ff.). Die nächste Frage zielt auf die Ursachen von Vielgewandtheit und Betrügerei (365e4). Sokrates legt Hippias zwei gegensätzliche Ursachenpaare zu Prüfung vor: In Disjunktion werden Dummheit und Unklugheit ( , 365e4f.) sowie List und Klugheit ( , 365e5) gegenübergestellt. Das spärlich belegte 366 Nomen ēliotēs (Dummheit) wird im Theaitet im Zusammenhang mit Unvernunft genannt. 367 Dumm im normalsprachlichen rer Umstände (z. B. Fesselung) nicht schreiben kann. Für Sokrates wäre diese Person laut Definition aber schreibunfähig. 363 J ANTZEN (Hippias minor. Kommentar, 58) kommentiert: „Die Bedeutung von fähig verschiebt sich zur sokratischen Auffassung der technischen Fähigkeit. 366b2-3 hat wollen keinen intentionalen Sinn; gemeint ist die Fähigkeit, soweit sie tatsächlich ausgeübt und beherrscht wird […] Umgekehrt bedeutet die Verbindung des Wollens - gleich ob z. B. durch Krankheit oder Unwissenheit - Unfähigkeit (366bc5-c4).“ 364 Im Gorgias (467b2-468e6) untersucht Sokrates den Ausdruck . Dabei führt er (in Kantscher Terminologie gesprochen) einen hypothetischen Wollens-Begriff ein. X will Y um Z zu erreichen. Der Kranke will das Medikament nehmen, um gesund zu werden. Die Intention seiner Medikamenteinnahme ist also nicht diese selbst, sondern die Gesundheit. Anders ausgedrückt: Intentionales Wollen hat immer ein Gut zum Ziel, das oft durch ein Zwischending erwirkt wird. 365 Der Begriff der Handlungsfreiheit korrespondiert mit dem politischen Freiheitsbegriff. Im Verfassungsdiskurs der Politeia sagt Platon, dass in der Demokratie jedem freistünde zu tun, was er will ( , VIII 557b6). Diese Freiheit ist als Folge von Dekadenz und fehlender Erziehung negativ. Überhaupt haftet der Formulierung tun können, was man will in der politischen Diskussion die Vorstellung von Willkürlichkeit an. So ist die persische Monarchie, in der der Großkönig tun kann, was ihm beliebt (Hdt. 3, 80, 3), für die Griechen Inbegriff der Despotie. 366 Vgl. LSJ 768. 367 (176e5-177a3). In der Politeia wird in einer Umkehrung der Werte die Scham von den demokratischen Menschen als Dummheit bezeichnet (III 560d3). 130 Wortgebrauch und auch bei Platon ist, wer unvernünftig denkt oder handelt. Die aphrosynē (Unklugheit) ist schon nach Wortbildung (mit alphaprivativum) eine Negation der sophrosynē. Auch bei Platon bildet (wie etymologisch) die aphrosynē den Gegensatz zur sophrosynē (Prt. 332e5). Es lässt sich auch bei Platon ein Zusammenhang von aphrosynē und Nützlichkeit feststellen. So heißt es im Menon (88d7f.), dass aphrosynē der Seele schade. Das Gegenteil, in diesem Fall ist es phronēsis, sei dagegen für die Seele nützlich. Panourgia (List) hat in der griechischen Normalsprache häufig die Konnotation von Arglist. 368 Nach den Nomoi (747b6-d1) können mathematische Kenntnisse durch den Missbrauch von geldgierigen Seelen panourgia begünstigen (wie bei den ebenso für ihre Geschäftstüchtigkeit wie Unehrlichkeit bekannten Phöniziern) anstatt sophia zu bewirken. Phronesis ist - wie schon festgestellt - der Gegensatz zum aphrosynē. In der schon erwähnten Menon-Passage geht es um die sokratische These, dass Tugend nützlich ist (87cff.). Tugend kann aber nur dann nützlich sein, wenn sie von Klugheit begleitet ist. Phronesis ist deshalb Tugend oder zumindest ein Teil von ihr. Diese Schlussfolgerung ist äquivalent mit der berühmten sokratischen Formulierung, dass Wissen Tugend ist. 369 Die These, dass Tugend in einem Zusammenhang mit Phronesis steht, durchzieht das platonische Œuvre. 370 Aber Phronesis erscheint bisweilen auch selbst auf der Liste der kanonisch gewordenen Kardinaltugenden. 371 Die platonischen Textstellen legen nahe, dass es sich bei phronesis um ein praktisches Wissen handelt, das eine Kenntnis vom Guten und Schlechten beinhaltet. Dieses Verständnis entspricht auch dem normalsprachlichen Wortgebrauch. 372 Der vorliegende Fall weist phronesis, die zusammen mit panourgia genannt wird, als prakti- 368 Lysias stellt es in den Zusammenhang von übler Gesinnung ( , 22.16). Negativ auch bei den Tragikern (vgl. Aesch. Th. 603; Soph. Ph. 927). 369 B ERNHARD R ENSCH bemerkt hierzu: „Aber wenn dieser Schritt überhaupt berechtigt ist, dann nur unter der Bedingung, daß ,Wissen’ eher in einem allgemeinen und unbestimmten Sinne verwendet ist als im genauen von technischem oder quasitechnischem Wissen“ (Idem, Phronesis, in: Hist. Wörterbuch der Phil., Bd. 7, 933-937, 933). 370 Z. B. Phaidon 69a9-c.2 371 Z. B. R. IV 433b7-c2. R ENSCH verteidigt Platon gegen den Vorwurf der Inkonsistenz: „Wenn es in allen Tugenden ein gemeinsames intellektuelles Moment gibt und insofern keine andere Tugend ohne Ph. ist, gibt es keinen Grund, warum dieses Element nicht auch als eine eigene, unabhängige Tugend dargestellt werden sollte“ (ibid. 933.). 372 „’Ph. besitzen’ kann in solchen Zusammenhängen einfach bedeuten: ’zu vernünftigen Überlegungen fähig sein’ gleichgültig zum Guten oder Schlechten“ (R ENSCH ibid. 934). 131 sches Wissen vom Schlechten aus. 373 Besonders bemerkenswert erscheint hier das Indefinitipronomen tis (eine gewisse), das den Anschein erweckt, als wollte Platon unter diesen Umständen (mit Bezug auf das Schlechte) nur einschränkend von phronesis sprechen. Die disjunktive Doppelfrage nach der Ursache von Vielgewandtheit und Betrügerei beantwortet Hippias mit dem Verweis auf den ersten Teil der Disjunktion, der Dummheit und Unklugheit als Grund angibt (365e6). Diese Antwort ergibt sich aus dem dynamis-Begriff. Wenn nun die pseudeis fähig sind, andere Menschen zu betrügen, müssen sie es aus Klugheit und List tun. Denn täten sie es aus Dummheit und Unklugheit, so läge ein Wissensdefizit vor, das es aber unmöglicht macht - wie bei der Einschränkung der Kranken (365d7) - von dynatoi zu sprechen. Der dynatos-Begriff impliziert ja auch, dass der einzige kontrafaktische Grund für ein anderes Handeln nur in einem anderen Willen liegen dürfte. Dagegen wäre die kontrafaktische Möglichkeit anders zu handeln beim Unklugen, nicht nur vom Willen, sondern auch vom Wissen, das er haben müsste, abhängig. Sokrates schließt mit Hippias’ Zustimmung von der Ursache, dass die polytropoi aus Klugheit so handeln, auf die Eigenschaft, dass die polytropoi auch klug sind (365e7f.). Sokrates legt Hippias die nächste disjunktive Doppelfrage vor: „Wissen sie als Kluge nicht, was sie tun, oder wissen sie es? (365e9f.)“ Es fällt schon sprachlich auf, dass nach den Nomina und substantivierten Adjektiven 374 , die Eigenschaften bezeichnen, nun ein finites Verb als Prädikat, das eine Tätigkeit angibt, der Gegenstand der Frage ist. Damit wird die Tätigkeit der Klugen in den Blick genommen: Wissen ( ). Das Verb Wissen ( ) wird im Griechischen (wie auch im Deutschen) relational konstruiert, d. h. mit Angabe eines Bereichs, auf den sich das Wissen bezieht. 375 Der Gegenstandsbereich des Wissens ist in diesem Fall der Relativsatz was sie tun ( , 365e9), so dass das Wissensobjekt eine Tätigkeit ist. Um den Sinn dieser Aussage besser zu verstehen, müssen wir an dieser Stelle uns einen Überblick über die verschiedenen Formen des Wissens bei Platon verschaffen. Die Thematik des Wissens lässt sich bei Platon in dreifacher Hinsicht untersuchen: (1) die Beziehung zwischen dem Wissenden und dem Wis- 373 Aristoteles wird zwischen phronesis und panourgia scharf trennen. Sowohl der phronimos als auch der panourgos verfügen über die Geschicklichkeit (dynamis deinotēta), das von ihnen intendierte Ziel zu erreichen. Der Unterschied liegt nur im Ziel, das beim phronimos gut, beim panourgos schlecht ist (vgl. NE VI1144a24-28). 374 Das substantivierte Adjektiv dynatos, das relational prädiziert einen Infinitiv nach sich zieht, lässt sich zwar als Verbalphrase auffassen, stellt aber kein echtes finites Verb als Prädikat dar. 375 Das geschieht meistens mit einem Infinitiv oder einem Akkusativobjekt.Vgl. LSJ 659. 132 sen, (2) propositionales und nicht-propositionales Wissen als Grundformen des Wissens und (3) der Wissensgegenstand (und Inhalt). (1) Die erste Unterscheidung ist zwischen einem dispositionalen Wissen im Sinne einer epistemischen Fähigkeit und einem entsprechenden epistemischen Zustand, in dem sich der Wissende befindet. 376 (2) Diese Unterscheidung findet sich auch im propositionalen und nicht-propositionalen Wissen wieder. Wer über propositionales Wissen verfügt, weiß, dass etwas Bestimmtes der Fall ist oder nicht der Fall ist. 377 Propositionales Wissen wird in Sätzen ausgedrückt und stets nur im Zusammenhang eines dispositionalen Wissens thematisiert. 378 Während propositionales Wissen ein „Wissen was“ (knowing that) ist und daher versucht, über die betreffende Auffassung Rechenschaft zu geben, handelt es sich bei nicht-propositionalem Wissen um ein „Wissen wie“ (knowing how), das Verfahrensweisen angibt. So gehört die Kochkunst, die Handlungsanweisungen zur Essenszubereitung lehrt, ausschließlich zum Bereich nichtpropositionalen Wissens. 379 Dagegen wird die Heilkunst im Gegensatz zur Kochkunst auch zum propositionalen Wissen (und nicht nur zur Erfahrung empeiria) gezählt, da sie ebenso die physis ihres Gegenstandes erforscht und Gründe für ihr Tun sucht (Grg. 501a1ff.). Die Heilkunst erläutert auch eine weitere Unterscheidung: (3) Platon unterscheidet Gegenstand und Inhalt einer epistēmē. So ist im Charmides (165e6-d3ff.) der Gegenstand der Heilkunst das Gesunde und ihr Inhalt die Gesundheit oder Gegenstand der Baukunst ist die Herstellung von Häusern, und ihr Inhalt, das Ergebnis des Bauens ( ), die Wohnungen. 380 Verschiedene Gegenstände erfordern unterschiedliche Formen von Wissen. Die von Sokrates gestellte Frage hat eine andere Form als die „Was ist X? “-Fragen. Als disjunktive Doppelfrage lässt sie sich auf „Gilt A oder B“ zurückführen. Dabei steht A für die Aussage: „Die Klugen wissen nicht, was sie tun“, und B für: „Die Klugen wissen, was sie tun.“ Da die Aussage A die Negation von Aussage B ist, beschäftigen wir uns hier nur mit B. 376 Vgl. H ARDY , J ÖRG , Wissen, in: Hist. Wörterbuch der Philosophie, Bd 12. , 855-868, 856. 377 Vgl. W IELAND , W OLFGANG , Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982, 224f. 378 Vgl. Chrm. 165c3-e2. 379 Man könnte auch diesem Erfahrungswissen zugute halten, dass es prinzipiell satzfähig und somit propositional ist. Doch steht für Platon bei propositionalem Wissen die Reflexion über den Wissensgegenstand im Fokus, während das Erfahrungswissen sich mit der praktischen Umsetzung beschäftigt. 380 Zur Unterscheidung von Gegenstand und Inhalt des Wissens vgl. W IELAND ibid. 224f. 133 Der Erkenntnisbereich liegt in der Handlung. Dabei ergeben sich drei Möglichkeiten des Verstehens: (1) Der Erkenntnisgegenstand ist der Handlungsgegenstand: Die Klugen wissen also, welche Handlung sie ausführen. (2) Der Erkenntnisgegenstand ist der Handlungsinhalt: Die Klugen kennen das Ergebnis der Handlung. (3) Der Erkenntnisgegenstand ist der Handlungsgrund: Die Klugen können Rechenschaft für ihr Tun abgegeben. 381 Für die Klärung, wie diese Frage zu verstehen ist, ist Hippias’ Verständnis ausschlaggebend. Denn Hippias befindet sich mit Sokrates im Dialog und eine ignoratio enlenchi, so ist anzunehmen, würde von Sokrates korrigiert werden. Hippias optiert für B und gibt als Begründung, dass gerade darin ihr übles Tun liege (365e11f.). Die phronimoi sind - wie bereits festgestellt - die pseudeis. Die Tätigkeit der pseudeis ist die Lüge und als phronimoi kennen sie ihren Handlungsgegenstand (1). Sie wissen nämlich, dass ihre Aussage eine unwahre Tatsachenbehauptung ist, und indem sie das wissen, lügen sie. Daher kommt Hippias auch zu dem Werturteil, das diese Handlung schlecht ist ( , 365e11). Dieses Werturteil impliziert die später von Hippias auch explizierte These, dass die wissentliche Lüge freiwillig und somit schlecht ist. 382 Sokrates geht an dieser Stelle nicht auf die implizierte These ein und beanstandet auch Hippias’ Verständnis der Frage nicht, sondern legt ihm die nächste disjunktive Doppelfrage vor: Sind sie, da sie wissen, was sie wissen, unverständig (amatheis) oder weise (sophoi, 365d13f.)? Wieder geht es um zwei gegensätzliche Eigenschaften, unter denen Hippias wählen muss. Amathēs bezeichnet bei Herodot ursprünglich den Unverständigen, der den Wert oder die Bedeutung einer Sache nicht erfasst. 383 Bei Platon steht amathēs im Gegensatz zum sophos. So wird im Laches (194d2) die These aufgestellt, dass man agathos darin sei, worin man auch sophos sei und kakos, worin (ti) man amathēs sei. Im Symposion (204a2ff.) wird von den amatheis gesagt, dass sie nicht Philosophie betrieben und auch nicht danach strebten, sophoi zu werden. Amathēs wird als Gegensatz zu sophos häufig relational prädiziert und gibt den Bereich an, in dem eine Person unverständig ist. Die sophoi haben auf ihrem jeweiligen Gebiet epistēmē (vgl. Tht. 145d11-e6). Da nun Hippias zugestanden hat, dass die phronimoi epistamenoi 381 Dabei sollen Grund und Ergebnis verschieden sein, damit (3) nicht eine Dublette von (2) ist. Hier kommen also Werturteile ins Spiel. 382 H ARALD S EUBERT sieht die Unterscheidung zwischen vorsätzlichen und unvorsätzlichen Handlungen, wie sie in den Nomoi expliziert wird, schon hier Grund gelegt (Idem, Polis und Nomos. Untersuchungen zu Platons Rechtslehre,Berlin 2005, 603). 383 So hält Kroisos Solon für einen amathēs, weil er das Glück der Gegenwart nicht gelten ließ und immer nur auf das Ende hinwies (1, 33). 134 sind, räumt er folgerichtig auch ein, dass sie sophoi auf demselben Gebiet sind, auf dem sie über epistēmē verfügen: im Betrügen (366a1). 384 Sokrates beginnt zur Ergebnissicherung die bisherigen Homologoumena zu wiederholen: (1) Die pseudeis sind (a) dynatoi, (b) phronimoi, (c) epistanemoi und (d) sophoi (366a2-5). (2) Die pseudeis und die alētheis sind nicht identisch (366a6ff.). (3) Die pseudeis sind dynatoi und sophoi im Lügen (366a9-b8). Sokrates zieht mit Hippias’ Zustimmung aus (3) den Umkehrschluss, dass ein adynatos und amathēs auch kein pseudēs ist (366b9ff.). Am Ende des Abschnitts erläutert Sokrates die schon besprochenen Grundlagen seines dynatos-Konzepts (368b12-c5). Es ist auffällig, dass Platon diese wichtigen Grundlagen nicht der Diskussion des dynatos-Begriffs, wie man in einer Abhandlung erwarten sollte, voranstellt. Dieser Umstand ist dem Genus des Dialogs geschuldet: Sokrates zeigt sich als fairer Gesprächspartner. Hippias bekommt am Ende des Abschnitts die Ergebnisse und Voraussetzungen der bisherigen Diskussion klar vor Augen gestellt. Er hat somit die Gelegenheit, bevor die Diskussion weitergeht, nochmals Einspruch zu erheben und eine weitere Klärung der Homologoumena oder Prämissen zu verlangen. Wenn Hippias keinen Einspruch erhebt und sich für einverstanden erklärt, muss er später auch bereit sein, die Konsequenzen aus dem bisher Gesagten zu ziehen. 2. Die Identität des Lügners und des Wahrhaftigen (366e6- 368a11) 2.1 Die Bedeutung der Beispielbereiche für die Argumentation Nachdem die Eigenschaften des Lügners und des Wahrhaftigen ausführlich erläutert und die dabei erzielten Ergebnisse (sowie deren Prämissen) wiederholt wurden, geht Sokrates zur Argumentation über, deren Beweisziel die Identität des Wahrhaftigen und Lügners ist. Sokrates greift bei seiner Argumentation auf die drei Beispielbereiche Arithmetik 385 (366c6- 367d4), Geometrie (367d5-e7) und Astronomie (367e8-368a11) zurück. Wenn wir die Argumentation verstehen und diesen Teil des Dialogs richtig interpretieren wollen, müssen wir die Fragen klären, welche Bedeutung 384 Vgl. 365d9. 385 Wir verwenden Arithmetik hier im umgangssprachlichen Verständnis als den Teil der Mathematik, der die vier Grundrechenarten (Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division mit natürlichen Zahlen) umfasst. Im Anmerkungsteil wird dann auf den Unterschied zwischen den hier benutzten Begriffen logismos und logistikē sowie der ebenfalls bei Platon vorkommenden arithmetikē eingegangen. 135 diese wissenschaftlichen Beispielbereiche für die Argumentation haben, oder anders gefragt: Warum wählt Sokrates diese Wissenschaften zur Begründung seiner These? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Status dieser als Paradigmen angeführten Wissenschaften in der platonischen Wissenschaftskonzeption sowie deren Beziehung zu dem Dialogpartner untersuchen. Als ancillae philosphiae finden insbesondere Arithmetik und Geometrie in verschiedenen Dialogen Verwendung. Im Euthydemos (290b7-c9) werden Arithmetik, Geometrie und Astronomie mit der Jagd verglichen, da sie ihre Objekte ebenfalls nicht schaffen, sondern vorfinden. Zugleich wird dabei die Forderung aufgestellt, dass sie ihre „Jagdbeute“ der Dialektik zur Verfügung stellen, die davon Gebrauch machen kann. Im Menon (82b3-85b7) macht Platon mathematische Methoden für die philosophische Argumentation fruchtbar. Sokrates will die These beweisen, dass Lernen Anamnesis ist. Dazu wird einem in Geometrie unerfahrenen Sklaven die Aufgabe gestellt, eine Konstruktion zur Flächenverdoppelung eines vorgegebenen Quadrates zu finden. Sokrates stellt dann Hypothesen auf, die dem Sklaven zuerst einleuchtend erscheinen, dann aber verworfen werden müssen, bis endlich die richtige Lösung gefunden wird. Geometrische Aufgaben dieser Art haben den methodischen Vorteil, dass sie eine eindeutige Lösung haben und ohne spezifische Vorkenntnisse durch geschickte Fragestellung und illustrierende Zeichnungen auch von Unerfahrenen bewältigt werden können. Im Kontext eines Definitionsversuchs der Rhetorik wird im Gorgias (450d4-451c9) die Frage nach deren Gegenstand gestellt. Im Gegensatz zur Rhetorik sind Geometrie, Arithmetik und Astronomie durch einen bestimmten Gegenstandsbereich ( ) gekennzeichnet: Im Fall Arithmetik sind das die Zahlen und für die Astronomie die Bewegung der Gestirne. Eine ausführliche wissenschaftstheoretische Reflexion von Arithmetik, Geometrie und Astronomie sowie deren Beziehung zur Philosophie findet sich in der Politeia. Im Kontext des Liniengleichnisses werden die Methode und der daraus resultierende Gewissheitsgrad dieser Wissenschaften untersucht. Dabei zeigt sich, dass Arithmetik und Geometrie von Hypothesen ( , 510c6) ausgehen, über die sie sich keine Rechenschaft geben, da sie diese für evident ( , 510c8) halten; so kommen sie auch zu Ergebnissen, die aus den Ausgangsvoraussetzungen folgen ( , 510d1f.). Als weiteres methodisches Problem wird der Rückgriff auf die sichtbaren Bilder zur Erkenntnis der unsichtbaren thematisiert (510d4- 511b2). Obwohl Arithmetik und Geometrie aufgrund ihrer Methode und ihrer Erkenntnisgegenstände nicht den höchsten Rang einneh-men, so spielen sie dennoch eine wichtige Rolle im Bildungsprogramm der Politeia. Daher sollen sich die Philosophen in ihrer Ausbildung nicht nur mit ange- 136 wandter Arithmetik und Geometrie wegen ihrer Relevanz für das Kriegswesen befassen, sondern vor allem weil die Beschäftigung mit theoretischer Arithmetik (525c1-6) und Geometrie (526e1-527c11) zu einer Abkehr vom Werden zum Sein beiträgt. Arithmetik und Geometrie stellen eine Art Propädeutikum für die Dialektik und die Beschäftigung mit den Ideen dar. Eine ähnliche Rolle kommt auch der Astronomie zu, die an dritter Stelle im Ausbildungscurriculum des Philosophen steht, und die sich mit dem Besten und Vollkommensten des Sichtbaren beschäftigt und so vernunftbildend auf die Seele wirkt. Arithmetik, Geometrie und Astronomie dienen im Hippias Minor zur Exemplifizierung der These, dass nur wer die Wahrheit kennt, lügen kann. Wir haben bisher den Terminus „Wahrheit“ im normalsprachlichen Verständnis als Satzwahrheit vorausgesetzt. An dieser Stelle wollen wir, bevor wir uns dem Gedankengang der Argumentation zuwenden, einen Exkurs zum platonischen Wahrheitsbegriff einlegen und die Fragen klären: Was versteht Platon unter Wahrheit? Gibt es überhaupt einen einheitlichen Begriff der Wahrheit im platonischen Œuvre? 2.2 Exkurs zu Platons Wahrheitsbegriff Bevor wir Platons Wahrheitsbegriff terminologisch untersuchen, müssen wir uns das normalsprachlich-vorphilosophische Verständnis von Wahrheit im Griechischen vor Augen halten. In der Forschungsdebatte um das vorphilosophische Verständnis von Wahrheit in der frühgriechischen Sprache hat die Frage nach der Etymologie von - ionisch - eine zentrale Rolle gespielt. Homer gebraucht - seltener das substantivierte Adjektiv 386 - ausschließlich als Objekt zu Verben des Sagens. 387 Der Rückgang auf die Wurzel / und das privativum als Präfix 388 deuten auf ein intersubjektives Nichtverhehlen hin, bei dem „[…] jemand über etwas, was er weiß, so Auskunft gibt, daß über die berichtete Sache für den anderen nichts verborgen bleibt.“ 389 Doch beschränkt 386 Vgl. Il. XXIII, 361; XXIV, 407; Od. VII, 297; XVI, 226; XVII, 108.122. 387 Vgl. Il VI, 382; Od. III, 254; XIV, 125; XVI, 61; XVIII, 342. 388 Vgl. B OISACQ , É MILE , Dictionnaire étymologique de la langue grecque, Heidelberg/ Paris 1916, Bd. 1, S. 43. F RISK , H JALMAR , Griechisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 2 1973, Bd. 2, S. 71; H OFMANN , J.B., Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, München 1949, S. 12; P RELLWITZ , W ALTHER , Etymologisches Wörterbuch der griechischen Sprache, Göttingen 1892, S. 14. 389 S ZAIF , J AN , Wahrheit I (Antike), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. R ITTER u.a., Bd. 12, Sp. 47-54, 47. Vgl. B OEDER , H ERIBERT , Der frühgriech. Wortgebrauch von Logos und Aletheia, in: Archiv für Begriffsgeschichte 4 (1959), S. 82-112; vgl. den Art. „Unverborgenheit“ im Hist. Wb. Philos. 11, Sp. 331-334. Dagegen sieht M ARTIN H EIDEGGER die Unverborgenheit nicht im Sprach-, sondern im Erkenntnisakt selbst: „Die […] bedeutet die ,Sachen selbst’, das, was sich zeigt, das Seiende im 137 sich das frühgriechische Wahrheitsverständnis nicht allein auf die intersubjektive Bedeutung von , die häufig auftretenden Synonyme , , haben ungefähr dieselben semantischen Funktionen wie später im klassischen Attisch , das die semantischen Funktionen von usw. übernommen hat. 390 In klassischer Zeit ist die Etymologie für die Bedeutung von nicht mehr maßgeblich, wenn auch Autoren gelegentlich noch darauf anspielen. 391 Am Wortgebrauch der klassischen Sprache ist auffällig, dass, wenn es um die Wahrheit von Aussagen geht, stets als grammatisches Objekt zu einem verbum dicendi ( ) fungiert. In dieser Wendung und ebenso bei Verben des Erkennens kann durch (Seiendes) substituiert werden, womit ein veritativer Gebrauch von vorliegt 392 ; der adjektivische Gebrauch bei Substantiven wie oder ist zunächst selten. Dieser Sprachgbrauch bereitet einem Vorverständnis den Weg, wonach Wahrheit nicht primär als Eigenschaft von Aussagesätzen verstanden wird (logischer Wahrheitsbegriff), sondern jeweils mit dem ausgesagten oder erkannten (gewussten) Aspekt der vorge- Wie seiner Entdecktheit“ (Idem, Sein und Zeit, Halle 1927, 212-230, S. 219). Dieser Gedanke findet sich schon fast 80 Jahre früher bei J OHANN C LASSEN : „Es ist wohl sehr bezeichnend […], dass sie [die griechische Sprache] das gebräuchlichste Wort für […] die Wahrheit, nicht aus dem Sein und Wesen der Dinge, sondern von ihrem Verhältnis zu unserer Auffassung entlehnt hat. Wahr ist den Griechen das Unverhüllte […] und Wahrheit, kommt den Dingen und Worten zu, in so fern sie sich unserer Einsicht nicht entziehen“ (Idem, Über eine hervorstechende Eigenthümlichkeit des griechischen Sprachgebrauchs, Lübeck 1854, wiederabgedruckt in: Beobachtungen über den homerischen Sprachgebrauch, Frankfurt am Main 1867, 189-223, 197). 390 Vgl. K RISCHER , T ILMAN , und , in: Philologus 109 (1965), 161- 174. K RISCHER differenziert den Sprachgebrauch von und dahingehend, dass eine Auskunft durch Augenschein und eigenes Erleben verbürgt; dabei ist die Grenze zwischen dem, was man erlebt hat, und dem, was man aus zweiter Hand weiß, oft fließend. Wenn negiert wird, bedeutet das so viel wie eine Lügengeschichte erzählen, die einen Bericht über Selbsterlebtes fingiert. , wahrscheinlich etymologisch zu gehörig, bezeichnet nach K RISCHER das Echte im Gegensatz zum Unechten, d.h. dem, das etwas anderes zu sein vorgibt als es ist und damit einer Probe nicht standhält. Als möglichen Grund für die Verdrängung von zugunsten mutmaßt K RISCHER , dass die klare Differenzierung der epischen Sprache verloren gegangen und in einer Wende vom Konkreten zum Abstrakten p in abstrakter Bedeutung übrig geblieben sei. Anders F RISK , der hierfür den Grund in der „größeren Expressivität und Konkretion“ bei der negativen Wortbildung von sieht (ibid. S. 17). 391 Z. B. Menander Frg. 502, hg. von A. K ÖRTE und A. T HIERFELDER 2 ( 2 1999); vgl. H EITSCH ; E RNST , Die nicht-philos. , in: Hermes 90 (1962), 24-33. 392 Vgl. S ZAIF , J AN , Platons Begriff der Wahrheit, Freiburg/ München 3 1998, 42-48. 138 geben Wirklichkeit identifiziert wird (ontologisch-epistemischer Wahrheitsbegriff). Die logisch attributive Verwendung von hingegen versucht zu klären „ob etwas in Wahrheit P ist (und nicht nur P zu sein scheint) oder in ausgezeichneter, mustergültiger Weise P ist.“ 393 Jan Szaif unterscheidet in seiner Studie zum platonischen Wahrheitsbegriff zwischen der ontologisch-epistemischen 394 Wahrheitskonzeption und der logischen. Dabei ist nach Szaif von der ontologisch-epistemischen Wahrheitskonzeption zu sprechen, „weil Wahrheit darin erstens auf Gegenstände bezogen mit dem Begriff spezifischer Seinsauszeichnungen verbunden wird, welche zweitens der Ermöglichungsgrund der spezifischen Erkennbarkeit dieser Gegenstände sein sollen, wodurch sie das Wahre im charakteristischen Doppelsinn des Erkennbaren und des Seinswahren sind.“ 395 Für den logischen Wahrheitsbegriff dagegen sind nicht unterschiedliche epistemische Stufen und damit korrelierende ontologische Differenzen konstituierend, sondern der Gegensatz von „wahr“ und „falsch“ bei Aussagen bestimmend. 396 Nach Szaif gehören diese unterschiedlichen Perspektiven auf die Rede vom Wahren und der Wahrheit in unterschiedliche Text- und Problemzusammenhänge bei Platon und lassen sich gewissermaßen unterschiedlichen Werkphasen zuordnen: So fällt die ontologisch-epistemische Wahrheitskonzeption in die Zeit der mittleren Dialoge, und der logische Wahrheitsbegriff ist dagegen Thema des späten Platons. 397 Aus Szaifs Postulat von zwei unterschiedlichen Wahrheitskonzeptionen in zwei verschiedenen Werkphasen folgt eine dreifache Fragestellung: (a) Wird der ontologisch-epistemische Wahrheitsbegriff beim späten Platon irrelevant oder (b) verändert sich der ontologisch-epistemische Wahrheitsbegriff unter dem Einfluss des logischen oder (c) gibt es den Versuch einer systematischen Vermittlung unter Zurückbeziehung der beiden Grundaspekte? Szaif konstatiert (a) weiterhin eine Relevanz des ontologischepistemischen Wahrheitsbegriffs auch beim späten Platon und verweist auf einen Passus im Timaios (51b-52a), „wo impliziert wird, daß der Gegenstandsbereich der von doxatischer Kognition zu unterscheidenden ein höheres 393 S ZAIF , J AN , Wahrheit I (Antike), S. 48. 394 In seinem Lexikonartikel gebraucht S ZAIF abweichend den Terminus „ontologischgnoseologisch“ (Wahrheit I [Antike], Sp. 50). 395 S ZAIF , Platons Begriff der Wahrheit, 15. 396 Vgl. S ZAIF , Wahrheit I (Antike), Sp. 50. 397 Vgl. S ZAIF , Platons Begriff der Wahrheit, 15f. 139 Maß an zukommt und dies mit den ontologischen Auszeichnungen dieses Bereichs verbunden wird.“ 398 Szaif bemerkt zur zweiten Frage (b), „daß durch die Explikation der Aussagenfalschheit im Sophistes deutlich geworden ist, daß Wahrheiten in unseren Urteilen und damit auch Erkenntnis jeweils -Beziehungen voraussetzt, und daß also erst durch solche Beziehungen auch so etwas wie erkennbare Wahrheit konstatiert wird.“ 399 Damit kommt er in diesem Punkt zum Fazit, dass die Explikationen im Spätwerk „keinen Bruch mit der Konzeption des mittleren Werkes [bedeuten], sondern können als eine Entfaltung dessen, was dort bereits angelegt war, betrachtet werden.“ 400 Was die dritte Frage (c) angeht, so „ist zunächst einmal herauszustellen, daß der Versuch einer solchen systematischen Vermittlung der beiden genannten Wahrheitskonzeptionen von Platon jedenfalls nicht ausgeführt wird.“ 401 Eine Vermittlung der beiden Wahrheitskonzeptionen scheitert nach Szaif schon daran, weil der ontologisch-epistemische Wahrheitsbegriff im Spätwerk eine viel zu marginale Rolle spielt. 402 Nach Szaif ist daher das Fazit zu ziehen, „daß man eigentlich nicht von dem Platonischen Wahrheitsbegriff sprechen, sondern eben mindestens zwei leitende Perspektiven unterscheiden sollte, die je für sich zu würdigen sind.“ 403 Welche Konsequenzen ergeben sich nun für die Platon-Interpretation? Nach Szaifs weiterer Analyse ist der Begriff der Urteilswahrheit als elementar anzusehen und muss daher in einer jeden Theorie, die überhaupt Wahrheitsansprüche stellt, vorausgesetzt werden. Dies wird dadurch deutlich, dass ihm der übliche Sprachgebrauch von bei Platon entspricht und dass er auch in der Ontologie des Erkennbaren im mittleren Werk in verschiedener Hinsicht, obgleich unthematisch bleibend, angenommen wird. 404 Im Hippias Minor geht es um den logischen Wahrheitsbegriff, da die pseudeis-Problematik behandelt wird, von der Lüge kann aber nur im Hinblick auf die willentlich falsche Affirmation bzw. Negation von wahren oder falschen Aussagesätzen gesprochen werden. In der Argumentation dieses Abschnitts wird eine Aufgabe aus der angewandten Arithmetik - eine Multiplikation - als Beispiel einer wahrheitsfähigen Aussage gebracht; bezeichnend dafür ist, dass die beiden anderen Beispiele Geometrie und Astronomie nicht mehr durch eine Aufgabe illustriert werden, sondern in ihrer Funktion von Hippias analog aufgefasst werden. Dazu trägt auch 398 S ZAIF , ibid., 522. 399 S ZAIF , ibid, 524. 400 S ZAIF , ibid, 526. 401 S ZAIF , ibid, 527. 402 S ZAIF , ibid, 528. 403 S ZAIF , ibid, 530. 404 S ZAIF , Platons Begriff der Wahrheit, 531. 140 nicht unwesentlich der Umstand bei, dass Hippias als ausgewiesener Experte auf diesen Gebieten gilt 405 , so dass hier stark ad hominem argumentiert wird. Sokrates geht dabei, um das Bild des Euthydemos zu gebrauchen, wie ein Jäger vor, der die „Jagdbeute“ aus Arithmetik, Geometrie und Astronomie der Dialektik als „Koch“ zur Weiterverarbeitung übergibt. Wie genau argumentiert wird und welche Implikationen die einzelnen Schritte aufweisen, soll im Folgenden nachgezeichnet werden. 2.3 Der Gedankengang der Argumentation Das erste Beispiel bezieht sich auf das Gebiet der Rechenkunst und des Rechnens (366c6-367d4), das wir der Einfachheit halber weiterhin Arithmetik nennen. Hippias wird von Sokrates als Experte ( , 366c6) auf diesem Gebiet bezeichnet, dessen Expertentum sich eben darin begründet, dass er auf die Frage nach dem Ergebnis von dreimal siebenhundert schnell die wahre Antwort geben könnte (366c6-d2). Das (adverbiale) Attribut „schnell“ ( ) ist für die Argumentation überflüssig, da es nur auf die Fähigkeit zur wahren Antwort ankommt, und entspringt vielleicht der Vorstellung, dass der Experte nicht nur sehr gut, sondern auch schnell seine Kunst ausübt. 406 Im nächsten Schritt wird Hippias als der sophōtatos, dynatōtatos und aristos auf diesem Gebiet bezeichnet (366d3-d12). Die Attribute sophōtatos und aristos erinnern (wenn wir die Form superlativisch und nicht elativisch auffassen) an die epitheta ornantia von Nestor und Achill im vorigen Abschnitt. Es scheint eine bewusste Anspielung vorzuliegen, da für die Argumentation die Positivformen der Attribute ausreichend gewesen wären. Der Superlativ ließe sich aus einem imaginierten Vergleich mit anderen verstehen, denen gegenüber sich Hippias in dieser Weise in der Arithmetik auszeichnet. Er ist sophōtatos, da er über das meiste Wissen auf dem Gebiet verfügt, er ist dynatōtatos, da sein Können nur durch seinen Willen Einschränkung findet ( , 366c10), und er ist aristos, da er sich (im imaginären Vergleich) auf dem Gebiet der Arithmetik auszeichnet. Im dritten Schritt überträgt Sokrates das Gesagte auf den Typus der falschen Antworten (366e1-367a5). Dabei führt er als Argument einen Vergleich von Hippias mit einem Unverständigen an. Hippias kann lügen, wann immer er will, da er als Experte in Arithmetik das richtige Ergebnis der Beispielaufgabe kennt und dieses dann immer meiden würde, wenn er 405 Vgl. (C-)Anmerkungen, in denen auf Hippias‘ Bedeutung für die Geometrie eingegangen wird. 406 Vgl. Charm. 158e7-160d4, wo Sokrates die Identifizierung der Besonnenheit mit Bedächtigkeit zurückweist. Denn sowohl in geistigen als auch in körperlichen Handlungen erweisen sich diejenigen als besser, die dieses Tun ebenso gut, aber schneller verrichten. Schnelligkeit ist also bei gleicher Qualität ein Indikator für größeres Können. 141 lügen wollte. Der Unverständige könnte, da er das richtige Ergebnis nicht weiß, unabsichtlich ( , 367a2) die Wahrheit sagen. Lügen wird hier (im Unterschied zu unserem Sprachgebrauch) als Erfolgsverb verstanden, die alleinige Intention zu einer willentlichen Falschaussage erlaubt nicht von lügen zu sprechen. 407 Der nächste Schritt bringt die für die Argumentation unwesentliche Ausweitung auf das Zählen (367a6-b2), das wohl als weitere Exemplifizierung dient. Sokrates kommt nun zum beabsichtigten Schluss der Argumentation: (1) Dazu bringt er Hippias das vorhin schon erreichte Homologoumenon, dass der Lügner fähig ist zu lügen 408 , in Erinnerung (367b3-c3). (2) Dann fasst er das eben erzielte Ergebnis zusammen: Hippias ist auf dem Gebiet der Arithmetik der Fähigste zu lügen oder die Wahrheit zu sagen (367b8-10). (3) Daraus zieht Sokrates die Schlussfolgerung, dass der dynatos und agathos in Arithmetik derjenige ist, der sowohl lügen als auch die Wahrheit sagen kann (367c4-11). Also sind (a) der Wahrhaftige und der Lügner identisch ( , 367c12) und (b) aufgrund der Identität ist der Wahrhaftige nicht besser als der Lügner ( , 367c13). 409 Damit scheinen Hippias’ Thesen widerlegt. 410 Hippias stimmt zu, wenn auch mit Vorbehalt, dass das auf diesem Gebiet ( , 367d2) gelte. Sokrates greift diesen Vorbehalt auf und bietet weitere Beispiele zur Überprüfung an (367d3f.). Als nächstes führt er die Geometrie an, in der Hippias ebenfalls Fachmann ist (367d5-e7). Auch hier sind der Wahrhaftige und der Lügner identisch (367d7ff.) und auch hier ist er derjenige, der auf dem Gebiet der Geometrie agathos und sophos ist (367e2-7). Das letzte Beispiel kommt aus dem Gebiet der Astronomie, auf dem Hippias mehr als auf den anderen beiden eine Expertenrolle beansprucht ( , 367e9-368a1). Doch 407 In diesem Kontext fungiert das Modalverb „können“ deutlich als Erfolgsverb, da die Prädikation vom Ergebnis der Handlung, in diesem Fall des Rechnens, abhängt. 408 Vgl. 366a9-b8. 409 O SKAR K RAUS wirft die Frage auf, warum Sokrates auf die Künste rekurriert, da doch von jedem Gegenstand gilt, dass wer über ihn die Wahrheit sagen kann auch die Unwahrheit zu sagen versteht. Die Antwort findet Kraus in dem Bestreben, Odysseus als „Guten“ darzustellen, wobei „gut“ im Sinn von „tüchtig“ und „kundig“ zu verstehen ist. Diese Prädikate werden aber nicht von Personen ausgesagt, die die Wahrheit eines einzigen Gegenstandes wissen, sondern sich auf einem Fachgebiet auskennen. Daher mussten nach Kraus die homerischen Helden von Sokrates wie Fachleute behandelt werden, da „ je ,besser’ einer in einer Kunst oder Kunde ist, desto ,besser’ vermag er über ihre Gegenstände sowohl das Wahre als auch das Falsche zu sagen […]“ (K RAUS , O SKAR , Hippias minor. Versuch einer Erklärung, Prag 1913, 16). Gegen Kraus spricht, dass überhaupt nicht klar wird, auf welchem Gebiet sich Achill und Odysseus als Fachleute auszeichnen sollen. 410 Vgl. 366a6ff. 142 auch hier wird der bisherige Gedankengang nur auf ein weiteres Fachgebiet von Hippias angewandt, ohne eine für die Argumentation wesentliche Modifikation oder Innovation zu erfahren. Diese kummulative Anwendung von Beispielen scheint der Rhetorik geschuldet zu sein und die Auswahl der Exempel ad personam vorgenommen, so dass Sokrates sich seinem rednerisch versierten Dialogpartner als durchaus ebenbürtig erweist. Wir sind bisher der Argumentation gefolgt und haben deren Struktur nachgezeichnet, ohne dabei die logische Schlüssigkeit zu betrachten. Im nächsten Kapitel wollen wir uns der Frage nach der Gültigkeit des Schlusses zuwenden. Dazu sollen die Einwände dargestellt und besprochen werden. 3. Die Frage nach dem Fehlschluss - Eine kritische Überprüfung der Kritik Es soll hier zwischen einem Fehlschluss aus logisch-formalen Gründen und einem aus inhaltlichen Gründen falschen Schluss unterschieden werden. Während dem falschen Schluss falsche Prämissen zugrunde liegen, kann der Fehlschluss verschiedene Ursachen haben. Zu den häufigsten Ursachen eines Fehlschlusses gehören die Äquivokation und der unzulässige Umkehrschluss. So lässt sich auch die Kritik an der Argumentation in drei Hauptlinien einteilen: (I) Der Vorwurf der Äquivokation oder der Ambiguität von Termen, (II) des falschen Umkehrschlusses oder der falschen Negation und (III) falscher Prämissen. Wir wollen nun 1. die Kritik im Einzelnen darstellen, 2. die einzelnen Einwände näher untersuchen und 3. ein Resümee aus den dabei erworbenen Erkenntnissen ziehen. 3.1 Die Kritik an Platon 3.1.1 Fehlschluss aufgrund von Äquivokation (Aristoteles-Oskar Kraus-J.J. Mulhern 411 ) (I) Aristoteles Schon in der Antike wurde Kritik an der Argumentation geäußert und Platon ein Paralogismus unterstellt. Aristoteles kommt in seinem bekannten Hippias Minor-Testimonium auf die Problematik der Argumentation bei 411 M ULHERN , J.J. , and in Plato’s Hippias Minor, in: Phoenix 22 (1968),283-288. 143 einer Untersuchung des Falschen 412 (Met. V 29, 1024b17-1025a13) zu sprechen. 413 Nach Aristoteles wird falsch prädiziert (1) von Sachverhalten (1024b17-24), die entweder (a) nicht existieren (1024b17-20), da sie niemals bestehen können oder zurzeit nicht instantiiert sind, oder (b) zwar existieren (1024b21-24), aber den falschen Anschein hinsichtlicht des Wesens (z. B. Traum) oder der Beschaffenheit ihrer Existenz (z. B. Schattenriss) vermitteln, (2) von Aussagen (1024b24-1025a1), die sich (a) auf Nichtseiendes beziehen oder (b) auf Seiendes, wovon sie aber nicht gelten (z. B. die Kreisdefinition wird auf das Dreieck angewandt) und (3) von Personen (1025a1-13), die entweder (a) zu solchen Aussagen geneigt ( , 1025a2) sind und sie absichtlich tätigen ( , 1025a3) aus der Liebe zum Falschen 414 , oder (b) andere zu solchen Aussagen (unabsichtlich) verleiten. 415 Aristoteles’ Konzept des Falschen (3a) folgt den Ausführungen über den Prahler in der Nikomachischen Ethik (V 13, 1127b14ff.). Der Prahler wird nicht wegen seiner Fähigkeit, sondern wegen seines Vorsatzes so bezeichnet ( ’ ’ , 1127b14). Es ist also die hexis (1127b15), die den Prahler ausmacht. In diesem Punkt liegt auch die Kritik von Aristoteles an der sokratischen Argumentation begründet: Der pseudēs ist also nicht der zum Lügen Fähige ( , 1025a6), sondern der die Neigung und die Absicht dazu hat. 416 412 An dieser Stelle wird deutlich, dass die Übersetzung „lügnerisch“ bzw. „Lügner“ für pseudēs nicht erschöpfend ist, da so die Bedeutung von „falsch“ als Antonym von (dem auf Aussagen bezogenen) „wahr“ verloren geht. 413 Oskar Kraus vertritt die These, „daß Aristoteles die Erklärung des Dialoges und hiermit die Auflösung der täuschenden Redewendung als Schulgut von Plato übernommen hat“ (Idem, Hippias Minor, Anm. 1 S. 11). Diese These beruht auf den Prämissen: (1) Es liegt ein absichtlich von Platon gezogener Fehlschluss vor, der (2) auf der Konfusion von dynamis und hexis-Termen beruht. (3) Da Platon weder im Hippias Minor noch an anderer Stelle einen Hinweis auf die Auflösung gibt, handelt es sich also um esoterisches Schulgut. 414 Es ist fraglich, inwieweit die Liebe zum Falschen Selbstzweck sein kann. Dies nimmt Aristoteles auch nicht von der Prahlerei an, die aus dem Streben nach Ehre und Ansehen oder finanziellen Vorteilen resultiert (NE V 13, 1127b12f.). Die dahinter stehende Motivation ist im Fall der Prahlerei auch für die Bewertung entscheidend. Es ist daher sehr verwunderlich, dass Aristoteles beim Falschen auf eine weitere Differenzierung verzichtet. 415 Aristoteles versteht unter (3b) eine analoge Verwendung, wie das Beispiel der falschen Vorstellung deutlich macht. Diese wird wegen ihrer Wirkung als falsch bezeichnet. Dabei stellt sich die Frage, ob die phantasia nicht unter (1b) zu subsumieren ist. 416 Im Gegensatz zur Nikomachischen Ethik spricht Aristoteles in diesem Zusammenhang nicht von hexis, sondern eucherēs. Der Unterschied scheint der zwischen Neigung und Haltung zu sein. Beides sind Charaktereigenschaften, doch haftet der Neigung stets das Willkürliche an, während die Haltung durch Übung erworben wird. Alexander von Aphrodisias kritisiert in seinem Aristoteles-Kommentar zu dieser Stelle auch die Prädikation von phronimos beim pseudēs: „Aber so wird der pseudēs 144 Wie Aristoteles sehen Kraus und Mulhern hier einen Fehlschluss aufgrund einer Konfusion von Termini, die Charaktereigenschaften oder Fähigkeiten bezeichnen, vorliegen. 417 Hat Aristoteles doch eher modellhaft analytische Sprachkritik getrieben, da eine detaillierte Untersuchung der einzelnen Argumentationsschritte in der philosophischen Auseinandersetzung unbekannt war, so liefern Kraus und Mulhern eine Feinanalyse und Kritik der platonischen Argumentation. (II) Oskar Kraus Oskar Kraus macht in seiner Sprachanalyse der Schlüsseltermini alethēs und pseudēs auf die Polysemie dieser Begriffe aufmerksam. Im Rückgriff auf Platon und Aristoteles unterscheidet Kraus vier Bedeutungen von pseudēs: 418 (1) der Truggeneigte, der dazu neigt, wissentlich die Unwahrheit zu sagen; 419 (2) der Trugmächtige, der die Fähigkeit hat, wenn er will, andere zu täuschen; (3) der Trugbewanderte, der sowohl truggeneigt als auch trugmächtig ist; 420 (4) eine Person in der Mitte zwischen Truggeneigtem (1) und Trugmächtigem (2), die die Macht hat, nicht zu täuschen, sondern wissentlich die Unwahrheit zu sagen, ohne dabei solch eine Neigung zu nicht bezeichnet, sondern wer dazu geneigt ist sowohl leichtfertig ohne Überlegung als auch aus Freude daran, der ist nicht der phronismos; und wer die anderen vorsätzlich zum Irrtum verleitet, der ist auch zu Recht verdorben“ ( ’ ’ [eig. Übersetzung; griech. Text zitiert nach Alexandri Aphrodisiensis in Aristoteles Metaphysica Commentaria, ed. M ICHAEL H AYDUCK , Bd. 1, 437, 3-7]. 417 Der aristotelischen Kritik folgt auch der jüngste Hippias-Minor-Kommentar von F RANCESCO F RONTERROTTA (Platon. Hippias majeur. Hippias mineur. Présentations et traductions par J EAN -F RANÇOIS P RADEAU et F RANCESCO F RONTERROTTA O . O. 2005, Anm. 19 S. 199). 418 K RAUS , Hippias minor, 9f. 419 Man sieht, wie schwierig Kraus eine adäquate Übersetzung im Deutschen erscheint: So gibt er als weitere Vorschläge „Trugliebender“ und schließlich „Lügner“ an. Für „Trugmächtiger“ schlägt er alternativ „Trugvermögender“ vor und der „Trugbewanderte“ wird auch als „Verschlagener“ bezeichnet. Dieses Ringen um eine alle Nuancen umfassende Übersetzung geht zu Lasten der terminologischen Präzision, die für jede Bedeutung einen Begriff bräuchte. 420 Diese Differenzierung erscheint auf den ersten Blick unverständlich, da Trugmächtigkeit die Voraussetzung für Truggeneigtheit darstellt. Für K RAUS gehört zur Trugmächtigkeit neben dem Wissen „außerdem aber eine gewisse Überzeugungskraft zu sprechen m.e.w Rhetorik; dennoch braucht der Überredungskünstler nicht ein Truggeneigter zu sein, d.h. einer, der sich an der Lüge als solcher freut […]“ (Idem, Hippias minor, 14). 145 haben. 421 Als genaues Gegenteil müsste alethēs analog folgende Bedeutungen haben: (i) der Wahrheitsliebende, der dazu neigt die Wahrheit zu sagen; (ii) der Lehrmächtige, der die Fähigkeit hat, andere die Wahrheit zu lehren; (iii) eine Person, die sowohl wahrheitsliebend als auch lehrmächtig ist; (iv) der Wahrspruchmächtige, der, wenn er will, die Wahrheit sagen kann. Von diesen vier Bedeutungen von alethēs finden sich im Dialog nur (i) und (iv). Odysseus wird zunächst als (3) trugbewandert (truggeneigt und trugmächtig) dargestellt. Im Verlauf der Untersuchung lenkt Sokrates den Sophisten von der Truggeneigtheit ab und behandelt bloß die Trugmächtigkeit. 422 Ein Mensch, der unter den Begriff des Wahrspruchmächtigen fällt, hat auch die Fähigkeit, die Unwahrheit zu sagen (4). 423 Die scheinbare Äquivalenz von Achill und Odysseus beruht also auf einer Äquivokation: Achill ist zwar notwendigerweise als Wahrspruchmächtiger auch fähig die Unwahrheit zu sagen (4), aber er ist nicht trugbewandert (3) wie Odysseus. Kraus bietet nicht mehr als Aristoteles. Auch das von ihm entwickelte differenzierte Instrumentarium wird nicht vollständig zur Anwendung gebracht. So fehlt die an dieser Stelle erwartete genaue Analyse, wo sich welche Bedeutung von pseudēs (bzw. alethēs) findet. Diese von Aristoteles angeregte vollständige Feinanalyse der Termini am Text liefert Mulhern. (III) J.J. Mulhern (1) Der Terminus polytropos (364c4-7) wird laut Mulhern von Hippias zuerst im Sinne einer dynamis verstanden. Doch in dieser Bedeutung schließen aristos und polytropos einander nicht aus. „In order to determine whether Achilles or Odysseus is better, he must distinguish one from another, he must characterise them from qualities which they do not possess in common.” 424 (2) In einer weiteren Distinktion wird Odysseus als polytropos und pseudēs (365b4-5) bestimmt. Damit diese Charakterisierung auch ihren Zweck erfüllt und ein Unterscheidungskriterium gibt, darf pseudēs nicht rein synonym verstanden werden. (3) Sokrates und Hippias kommen weiter überein, dass „die pseudeis dynatoi und polytropoi sind (365e1-2). Mulhern merkt dazu an: „This circular procedure might have been legitimate had been merely pleonastic in 365b4-5; but it was not. Thus the equivocation perpetuates the equivocation on 421 Auch diese Unterscheidung erscheint zunächst problematisch. K RAUS sieht hier genau den Typen, der zwar (als bewusste Negation der Wahrheit) die Unwahrheit sagen kann, dem aber sowohl die Überzeugungskünste des Trugmächtigen als auch die Freude an der Lüge des Truggeneigten fehlen. 422 K RAUS , Hippias minor, 10. 423 In diesem Punkt ist die sokratische These vollkommen korrekt, wie K RAUS hervorhebt (Hippias minor, 16). 424 M ULHERN , and , 284. 146 .“ 425 Wenn schließlich die pseudeis als „weise und fähig zu lügen” definiert werden (366b4-5), wird pseudēs nach Mulhern zu einem reinen dynamis-Adjektiv. Mulhern kommt daher zu dem Ergebnis: „The credibility of the paradox […] depends throughout upon the failure to dissociate -concepts from tro0povconcepts [...] it is true that the same man is able to be both false and true, in cases where in the prerequisite for either tro0pov is acquaintance with some department of knowledge; yet it is false that the same must both lie regularly and tell the truth, even though acquaintace with some department of knowledge enable him to do either with success.” 426 Gewissermaßen eine Variante der aristotelischen und mulhernschen Kritik bietet Rosamond Kent Sprague 427 , die auch auf die uneindeutige Konnotation des dynamis-Begriffs zielt. (IV) Rosamond Kent Sprague (1) Sprague sieht eine Ambiguität des dynamis-Begriffs schon bei seiner Einführung. Während bei Sokrates dynamis neutral und ohne Spezifikation erscheine (365d9f.), habe er bei Hippias eine ethisch negative Konnotation als Fähigkeit zum Schlechten. 428 (2) Der Begriff agathos erfahre überdies einen Bedeutungswandel von einem funktionalen zu einem ethischen Verständnis (366d7). 429 (3) Der entscheidende Schritt ist nach Sprague Sokrates’ Versuch, „to ease the progress from power to tell the falsehood to power to tell the truth [...] he has previously associated power only with the false, so if true is really the opposite of false, the true should be powerless, not the powerfull.” 430 3.1.2 Fehlschluss aufgrund formaler Fehler Einen formalen Fehler infolge eines falschen Umkehrschlusses oder einer fehlerhaften Negation machen Hoffmann, Max Pohlenz 431 und Jörg Jantzen für das Paradoxon verantwortlich. 425 M ULHERN , and , 285. 426 M ULHERN , and , 286. 427 S PRAGUE , R OSAMONT K ENT , Plato’s use of fallacy. A Study of the Euthydemos and some other Dialogues, London 1962, 65-79. bes. 68-70. 428 Vgl. S PRAGUE , Plato’s use of fallacy 67. 429 Vgl. S PRAGUE , Plato’s use of fallacy, 68. 430 S PRAGUE , Plato’s use of fallcy, 68. 431 P OHLENZ , M AX , Aus Platos Werdezeit. Philologische Untersuchungen, Berlin 1913, 57-72, bes. 61. 147 (V) Hoffmann Hoffmann sieht den Fehlschluss dadurch entstanden, „daß das Urteil der Möglichkeit, der Wissende könne sowohl lügen als auch die Wahrheit sagen, als Urteil der Wirklichkeit genommen und dann umgekehrt worden ist, das Prädikat zum Subjekt gemacht: der Lügner und der Wahrhafte ist der derselbe, nämlich der Wissende.“ 432 (VI) Max Pohlenz Pohlenz macht einen unzulässigen Umkehrschluss als Ursache für den Paralogismus aus. Sokrates habe den Satz „Die Falschen sind fähig zu lügen“ durch das Urteil „Die Falschen sind weise und fähig zu lügen“ (366b6f.) ersetzt und sei dann zum falschen Umkehrschluss gelangt, dass die, die fähig sind, falsch zu sein, die Falschen sind. Dass so ein Umkehrschluss unzulässig ist, habe Platon im Protagoras deutlich gemacht. Dort wendet Protagoras gegen-über Sokrates ein, dass er zwar zugestanden habe, dass die Tapferen dreist seien, er aber nicht den Umkehrschluss eingeräumt habe (350c8ff.). Denn die Dreistigkeit entsteht auch aus technē, thymos oder Manie, die Tapferkeit aber nur aus der physis und der Wohlgenährtheit ( ) der Seele (351a7-b3). 433 Demnach wäre dann jeder, der falsch ist, fähig zu lügen, aber nicht jeder, der fähig zu lügen ist, wäre falsch. 434 (VII) Jantzen Das ganze Paradoxon beruht nach Jantzen auf einer fehlerhaften Negation von fähig: Sokrates leitet demnach aus (a) fähig, etwas zu tun (=fähig die Wahrheit zu sagen, ) den Gegensatz (b) fähig, zu lügen (=etwas nicht zu tun) ab. Der Gegensatz von (a) ist aber nicht (b), sondern (c) nicht fähig, etwas zu tun (= die Wahrheit zu sagen) und zu (b) nicht fähig zu lügen. 435 432 H OFFMANN , Zeitschrift für das Gymnasialwesen 1904, 282. K RAUS rekonstruiert folgende Argumentation: (1) Das Möglichkeitsurteil: „Der Wissende kann sowohl lügen als auch die Wahrheit sagen.“ (2) Das Wirklichkeitsurteil zu (1): „Der Wissende lügt sowohl, als sagt er die Wahrheit.“ (3) Die Existentialform von (2): „Ein Wissender, der nicht sowohl lügen kann, als auch die Wahrheit sagen, existiert nicht“ (Ein A Non-B existiert nicht). (4) Das angeblich umgekehrte Urteil der Wirklichkeit: „Der sowohl lügt als auch die Wahrheit sagt, ist der Wissende.“ (5) Die Existentialform zu (4) lautet dann: „Einer, der sowohl lügt als auch die Wahrheit sagt und ein Nichtwissender ist, existiert nicht“ (Ein B Non-A existiert nicht). Diese Umkehrung von (3) zu (5) ist aber unzulässig. Vgl. K RAUS , Hippias minor, 13 Anm. 2. 433 P OHLENZ sieht Hippias damit im Vergleich zu Protagoras in ein sehr negatives Licht gestellt, da dieser im Gegensatz zu Hippias selbst den Fehlschluss aufdecken kann. (Ibid. 62). 434 Den Unterschied könnte dann die Charakterdisposition ausmachen. 435 J ANTZEN , Hippias minor, Kommentar, 51f. 148 3.1.3 Falscher Schluss aufgrund falscher Pämissen B. J.J. Ovink 436 sowie Richard Berndt 437 und Hermann Backs 438 setzen in ihrer Kritik beim Begriff der Lüge an, dessen Gebrauch sie in unterschiedlicher Hinsicht beanstanden und somit die Prämisse in Frage stellen. (VIII) B.J.J.Ovink Ovink geht von der platonischen Lehre aus, dass „wer etwas gelernt hat, ein solcher ist, wozu jeden diese Erkenntnis macht“ (Grg. 460b6f.). Nach Ovink beschränkt sich Platon auf den (idealen) Inhalt eines Begriffs und abstrahiert von allen Eigenschaften und Funktionen, die dieser Person in der Wirklichkeit auch zukommen: „Wenn Platon feststellt, wie ein bestimmter Arzt handelt, dann meint er, wie dieser in einem bestimmten Fall handelt […] nur insofern er heilkundig ist.“ 439 Wenn nun der Arithmetiker im Beispiel von Sokrates auf die Multiplikationsaufgabe eine falsche Antwort gäbe, „dann täte er das nicht als Mathematiker, sondern soweit er neben den mathematischen Zwecken sich noch andere setzt.“ 440 Für Ovink ist der Begriff des pseudein im Bereich des theoretischen Denkens, zu dem die aufgezählten Disziplinen als technai gehören, nicht anwendbar und bleibt dem ethisch-praktischen Bereich vorbehalten. (IX) Richard Berndt/ Hermann Backs Richard Berndt und Hermann Backs vertreten die These, dass die Prämisse, die Lüge beruhe auf einer dynamis, falsch sei und folglich auch das daraus gewonnene Resultat. Berndt macht darauf aufmerksam, dass Sokrates zu dieser Frage selbst nicht Stellung nimmt, sondern sich viermal die Meinung des Hippias bestätigen lässt und viermal auf die Möglichkeit hinweist, dass diese Prämisse falsch sein könnte. 441 Backs kommt wie Berndt zu dem Ergebnis, dass die Prämisse falsch sei, durch Rückschluss aus der für ihn absurden Folgerung. Für Backs liegt hier ein indirekter Beweis für die sokratische These, nach der alle Tugend Wissen sei, vor, da 436 O VINK , ERNHARD J.H., Philosophische Erklärung der platonischen Dialoge Meno und Hippias Minor, Amsterdam 1931. 437 B ERNDT , R ICHARD , Innerer Zusammenhang der Dialoge Hippias Minor, Laches, Charmides und Lysis, Königsberg 1908. 438 B ACKS , H ERMANN , Zur Erklärung der Dialoge Hippias Minor und Hippias Major, Burg 1891. 439 O VINK , Philosophische Erklärung, 157. 440 O VINK Philosophische Erklärung, 163. Ähnlich J ANTZEN : „Denn die Differenzierung der Fähigkeit von ihrer richtigen Ausübung scheint unsinnig zu sein. Rechnen können heißt nichts anderes als richtig rechnen zu können.“ (Hippias minor. Kommentar, 63). 441 B ERNDT , Innerer Zusammenhang, 7. 149 wenn die Lüge nicht auf Fähigkeit und Wissen beruhen könne, sie auf Unfähigkeit und Unwissen beruhen müsse. 442 3.2 Besprechung der Einwände Wir beschäftigen uns an dieser Stelle nur mit der Frage, ob ein Fehlschluss vorliegt, und klammern aus methodischen Gründen den falschen Schluss erst einmal aus, da eine Bewertung der Prämissen (und ihrer Kompatibilität mit der platonischen Philosophie) eine vorzeitige Festlegung bei der Interpretation des Dialoges mit sich bringen könnte. Aus diesem Grunde folgen wir dem Verlauf der Argumentation und den Spielregeln des Elenchos. In der Sekundärliteratur wird verschiedentlich versucht, Sokrates gegen den Vorwurf des Paralogismus in Schutz zu nehmen. So wendet sich Roslyn Weiss 443 gegen Mulherns (III) Vorwurf eines Paralogismus aufgrund von Äquivokation. Im Gegensatz zu Mulhern sieht Weiss nicht den Unterschied zwischen tropos- und dynamis-Konzepten für konstitutiv, sondern zwei verschiedene dynamis-Konzepte, von denen das eine wertneutral (für Sokrates) und das andere negativ (Hippias) besetzt ist. 444 Der Argumentationsaufbau sieht nach Weiss folgendermaßen aus: A1. Polytropos= pseudēs (365b8). A2. Der pseudēs und der alethēs sind verschieden (365c3-4; 366a5-6). A3. Der pseudēs ist am fähigsten die Unwahrheit zu sagen (366b4-5). A4. Der alethēs ist am fähigsten die Wahrheit zu sagen (367c6). A5. In jeder technē ist der, der am fähigsten ist, die Wahrheit zu sagen, der Weiseste und Fähigste auf dem Gebiet (366d6-369a2). A6. In jeder technē ist der, der am fähigsten ist, die Unwahrheit zu sagen, der Weiseste und Fähigste auf dem Gebiet (366e4-6). A7. In jeder technē ist der, der am fähigsten ist, die Wahrheit zu sagen, auch derjenige, der am fähigsten ist die Unwahrheit zu sagen (368e4-369a2). A8. Derjenige, der am fähigsten ist, die Wahrheit zu sagen, ist mit dem identisch, der am fähigsten ist, die Unwahrheit zu sagen (368e4-369a2). A9. Der alethēs und der pseudēs sind identisch (369b3-4). Die Argumentation enthält nach Weiss nur dynamis-Termini, es liegt kein äquivoker Wortgebrauch vor und der Schluss ist somit gültig. 445 Wenn man auch den pseudēs- und alethēs-Termini eine dynamis-Bedeutung wie Weiss unterstellt, löst sich auch das Paradoxon auf. Denn dann hieße A9: 442 B ACKS , Zur Erklärung, 6. 443 W EISS , R OSLYN , as in the Hippias Minor, in: Classical Quarterley 31 (1981), 287-304. 444 W EISS , as , 292. 445 W EISS , , as 293. 150 Derjenige, der die Fähigkeit hat, die Wahrheit zu sagen, ist identisch mit demjenigen, der die Fähigkeit hat, die Unwahrheit zu sagen. Jane Zembaty 446 versucht ebenfalls die Gültigkeit des Schlusses zu retten, erhebt aber gegen Weiss’ Darstellung Einspruch. Erstens führt Zembaty an, dass polytropos anfänglich von Hippias nicht als dynamis-Terminus verstanden worden sei, denn ansonsten wäre seine Unterscheidung zwischen Achill und Odysseus hinfällig gewesen. Zweitens gebraucht Hippias den Terminus pseudēs im Zusammenhang eines Homer-Zitats, das ein Verhalten (und nicht eine Fähigkeit) tadelt. 447 Dass die Argumentation nicht zu einem Fehlschluss kommt, verdankt sie Sokrates’ rettendem Eingriff - Zembaty spricht von „therapeutic purpose“ - in 366a2-4, da an dieser Stelle pseudēs als dynamis-Terminus verwendet wird. Während Hippias in A2 pseudēs und alethēs noch als tropos-Terme versteht, wird in (366a5-6) ein A2’ entgegengesetzt, das diese Termini als dynameis gebraucht. Es ergibt sich nach Zembaty als Korrektur zu Weiss folgende Argumentationsaufbau: A1. Polytropos h = pseudēs h (365b8). 448 A2. Der pseudēs h und der alethēs h sind verschieden (365c3-4). A3. Der pseudēs d ist am fähigsten die Unwahrheit zu sagen (366b4-5). A2’ Der pseudēs d und der alethēs d sind verschieden (366a5-6). 449 A4. Der alethēs d ist am fähigsten, die Wahrheit zu sagen (367c6). A5. In jeder technē ist der, der am fähigsten ist, die Wahrheit zu sagen, der Weiseste und Fähigste auf dem Gebiet (366d6-369a2). A6. In jeder technē ist der, der am fähigsten ist, die Unwahrheit zu sagen, der Weiseste und Fähigste auf dem Gebiet (366e4-6). A7. In jeder technē ist der, der am fähigsten ist, die Wahrheit zu sagen, auch derjenige, der am fähigsten ist die Unwahrheit zu sagen (368e4-369a2). A8. Derjenige, der am fähigsten ist, die Wahrheit zu sagen, ist mit dem identisch, der am fähigsten ist, die Unwahrheit zu sagen (368e4-369a2). A9. Der alethēs d und der pseudēs d sind identisch (369b3-4). Zembaty kommt daher zu dem Ergebnis: „Since A2 is the contradictory of A2’, the fact that A2 is not does not invalidate the argument.“ 450 Damit ergibt sich nach Zembaty folgendes Paradoxon: „Since the man who is best able to lie is not necessarily the man who typically lies, there is no reci- 446 Z EMBATY , J ANE , Socrates’ Perplexity in Plato’s Hippias Minor, in: Essays in Ancient Greek Philosophy, J OHN P. A NTON / A NTHONY P REUS (Hg.), 1989, Bd.3, 51-69. 447 „It seems reasonable to assume, then, that in describing Odysseus as pseudēs, Hippias understands the term as denoting typical behavior and, implicitly perhaps, the abilities or skills for such behavior” (Z EMBATY , Socrates’ Perpelxity, 54). 448 Die tiefgestellten Indices d oder h geben an, ob der Begriff als dynamis- oder hexis- Terminus fungiert. 449 Hier erfolgt nach Z EMBATY der rettende Eingriff durch Sokrates, der die Gültigkeit des Schlusses gewährleistet. 450 Z EMBATY , Socrates’ Perplexity, 55. 151 procity between the power specified by the dynamis sense and the typical performance specified by the usual tropos sense.” 451 Hier könnte der Einwand erfolgen, Zembaty rette den Schluss auf Kosten der Argumentation, da nun die Bewertungsgrundlage für den Vergleich der homerischen Helden und somit auch für die homerischen Epen entfalle und damit die Ausgangsfrage, welches Werk Ilias oder Odyssee besser sei, aus den Augen verloren wird. Für Zembaty ließe sich der Gegeneinwand erheben, dass es erst einmal um die Frage nach der Gültigkeit des Schlusses und dann um die Argumentationsstrategie geht. Es ist durchaus möglich, dass ein Schluss gültig ist, aber argumentationsstrategisch sich als unnütz erweist. Phillips ist ausführlich auf die Kritik Spragues (IV) eingegangen. Er wendet zu Recht ein, dass an keiner Stelle direkt oder indirekt dynamis nur denen, die fähig sind zu lügen, zugesprochen wird. Im Gegenteil impliziert der Begriff der Kompetenz auf einem Gebiet auch die Möglichkeit, diese nach Wahl auch in entgegengesetzter Richtung anzuwenden: „True ability must mean that you command what you choose to do and to commit.“ 452 Auch wird von Phillips richtig bemerkt, dass in 367c kein Bedeutungswechsel von „gut“ im funktionalen zum ethischen Sinn vollzogen wird, sondern Sokrates von „gut“ mit einem Präpositionalausdruck ( , 367c5) als Ausdruck für den Bereich, in dem „gut“ gilt, spricht. 453 Gegen die von Hoffmann (V) behauptete fehlerhafte Vertauschung und Umkehrung von Möglichkeitsurteil und Wirklichkeitsurteil hat Kraus zu Recht eingewandt, dass es hierbei nicht um Möglichkeit im Gegensatz zu Wirklichkeit geht, sondern um Fähigkeit im Gegensatz zu Un-Fähigkeit. 454 Was die Verwerfung des Umkehrschlusses von (365b7-366b7) zu (366b7-366c4) durch Pohlenz (VI) angeht, so hat Phillips richtig kritisiert, dass es sich dabei um keinen Umkehrschluss handelt, sondern um einen 451 Z EMBATY , Socrates’ Perplexity, 56. 452 Vgl. P HILLIPS , Hippias Minor, 93. 453 Vgl. P HILLIPS , Hippias Minor, 93. 454 Vgl. K RAUS , Hippias minor, 13. Die Behauptung, dass eine Vertauschung von Möglichkeits- und Wirklichkeitsurteil vorliege, beruht auf der Doppeldeutigkeit des Modalverbs können im Deutschen, das sowohl eine Möglichkeit als auch eine Fähigkeit ausdrückt. Wenn wir können im Möglichkeitsurteil durch das Adverb möglicherweise und in der Prädikation einer Fähigkeit durch ist fähig ersetzten, wird der Unterschied deutlich: (1) „Der Wissende sagt möglicherweise die Wahrheit“ und (2) „Der Wissende ist fähig die Wahrheit zu sagen“. Der Satz (2) ist ein Wirklichkeitsurteil. Außerdem lässt sich der Satz „Der Wissende kann sowohl lügen als auch die Wahrheit sagen“ überhaupt nicht als Möglichkeitsurteil auffassen, wie die Umformung zeigt: „Der Wissende lügt möglicherweise und sagt möglicherweise die Wahrheit“ erweist sich als contradictio in re, da beide kontradiktorischen Möglichkeiten durch Kopulation verbunden immer zu einem Widerspruch führen. Dagegen weist das Wirklichkeitsurteil in Bezug auf Fähigkeiten keinen Widerspruch auf: Der Wissende hat die Fähigkeit zu lügen und die Fähigkeit die Wahrheit zu sagen. 152 notwendigen Teil der Definition des pseudēs von der Fähigkeit zur Wahl. Die Untersuchung der von Sokrates angeführten Beispiele dient der Verdeutlichung der Definition - wie Phillips zu Recht gegen Pohlenz einwendet - und rechtfertigt den Umkehrschluss, dass in den genannten technai nur die Fähigen falsch sein können. 455 Jantzens Vorwurf (VII), der Fehlschluss sei Folge einer falschen Negation, trifft nicht, da der Satz (b) fähig, zu lügen nicht als Negation des Satzes (a) fähig etwas zu tun eingeführt wird. In 365d7 werden die pseudeis als dynatoi ti poien charakterisiert, wobei der Infinitiv als Variable eines Fähigkeitsbereiches dient. Hippias ersetzt diese Variable durch eine positive Bestimmung des Fähigkeitsbereiches, den er im Betrügen gegeben sieht ( , 365d9). Aus dieser positiven Bestimmung des Hippias wird dann die Fähigkeit zu lügen abgeleitet ( , 366b2f.), ebenfalls positiv, von einer Negation ist hier überhaupt nicht die Rede. Natürlich kann lügen als Negation (= nicht die Wahrheit sagen) verstanden werden, doch tangiert das als innersemantische Negationsmöglichkeit nicht die Gültigkeit des Schlusses als würde die falsche Negation eines Satzes vorliegen. 456 3.3 Resümee Das principium caritatis verlangt, dass wir Platon so stark wie möglich machen und deshalb gute Gründe anführen, die einen Fehlschluss beweisen und dann versuchen zu erklären (immer unter der Annahme, es sei Absicht), warum Sokrates diesen begeht. Die Versuche, Sokrates hier einen Paralogismus nachzuweisen, sind bisher gescheitert und ließen sich widerlegen. Außerdem ist auffällig, dass der Text keine versteckten Hinweise auf einen Fehlschluss gibt. Sokrates gibt sich sogar entgegen seiner sonst eher vorsichtigen Haltung sehr sicher, dass Hippias die Argumentation nicht durch ein Gegenbeispiel widerlegen wird (369a1; 4). Auch bietet die Annahme, Sokrates wolle Hippias gezielt desavouieren und auf diese Weise die Kunst der Sophisten durch die Unfähigkeit eines ihrer Hauptvertreter als untauglich erweisen, einen schwachen Platon, der mehr parodiert und polemisiert als philosophisiert. Wenn wir den Schluss als gültig betrachten, ergeben sich folgenden Fragen, die weiter zu verfolgen sind: Wie wird 455 Vgl. P HILLIPS , Hippias Minor, 92. 456 J ANTZENS Unterstellung eines doppelten Willensbegriffs ist auch unzutreffend. Die Fähigkeit darf nur vom Wollen abhängig sein, oder anders gesagt: Die betreffende Fähigkeit wird immer richtig ausgeübt, wenn die Absicht besteht, diese auszuüben. Richtig rechnen können, heißt genau dann immer richtig zu rechnen, wenn man richtig rechnen will. Wer zwar willentlich, aber zufällig das richtige Ergebnis angibt, kann trotzdem nicht richtig rechnen, obwohl Absicht und richtiges Resultat zusammenkommen, da er eben nicht immer, wenn er will, das richtige Ergebnis finden wird. 153 dieses Argument weitergeführt? Wohin führt die weitere Argumentation und was ist deren Intention? C - Anmerkungen 366c7: Rechnen und Rechenkunst Rechnen übersetzt im Folgenden logismos, während die Rechenkunst für logistikē im griechischen Text steht. Logismos meint in seiner Grundbedeutung jede vernünftige Überlegung 457 , wie auch im Deutschen „rechnen“ in seiner außermathematischen Bedeutung „gute Gründe für etwas haben“ meint. 458 Logistikē bezeichnet, wie das Suffix -tikē andeutet, die Kunst des logismos, wie auch arithmetikē die Kunst des arithmos ausdrückt. 459 366c9: wie viel dreimal siebenhundert ist Es ist sofort einsichtig, dass diese Beispielaufgabe zur Illustration von Hippias’ Rechenkünsten dient. Aber wie schwer erschien tatsächlich dem antiken Leser die Lösung dieser (für uns heute simplen) Aufgabe vom Hintergrund des griechischen Zahlensystems und den damit verbundenen Multiplikationsmethoden? Die Griechen hatten drei verschiedene Arten, Buchstaben als Zahlen zu verwenden. Das älteste, das akrophone Prinzip 457 Vgl. R. I 439b1; 440b1; VI 496d5; VII 524b4; VIII 546b2; X 603d4. 458 So in der Redewendung wie „mit etwas rechnen“. 459 Es findet sich vielfach die Differenzierung, dass Platon mit logistikē die praktische Rechenkunst meine, während die arithmetikē als Ausdruck für die Zahlentheorie stehe: „Bei ihnen ist keineswegs die Rechenkunst, sondern es ist die Zahlenwissenschaft, deren Gegenstand die Einteilung der Zahlen nach ihren besonderen Eigenschaften … [ist]. Diese letztere [praktische Wissenschaft] führt bei ihnen den Namen , vielleicht auch “ (N ESSELMANN , G EORG H EINRICH , Die Algebra der Griechen, Berlin 1842, 40). Diese Unterscheidung ist allerdings umstritten. Walter Burkert argumentiert dagegen: „Platon fordert Mathematik als reine Theorie sowohl für die wie für , es gibt also ebenso wohl eine praktische Arithmetik als auch eine theoretische Logistik (Phil. 56ef.) Der Unterschied von Arithmetik’ und "Logistik’ entspricht dem umgangssprachlichen von ,Zählen’ und ,Rechnen’ […]“ (B URKERT , W ALTER , Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962, S. 423 Anm. 137.). Nach Burkert wurde diese Unterscheidung erst von den Neuplatonikern (Geminos und Proklos) getroffen und in Platon hineingetragen. Der Streit kann hier nicht geklärt werden. 154 setzte bei den Anfangsbuchstaben der Zahlen an. 460 Das Thesis-Prinzip ordnete den Zahlenwert der jeweiligen Stellung zu (von =1 bis =24), während das Milesische-Prinzip dekadisch abgestufte Zahlenwerte hatte. 461 Da sich das älteste System nur auf 24 Zahlen beschränkte, fanden nur die beiden letzteren in der Mathematik Verwendung. Für die Lösung dieser Kopfrechenaufgabe war die Kenntnis des kleinen Einmaleins notwendig, denn aus diesem lassen sich die größeren Multiplikationen ableiten. 462 Aus 3·7=21 konnten so die Multiplikationen 3·70=210 und 3·700=2100 usw. abgeleitet werden. 463 Zur Erleichterung für schwierigere Rechenoperationen standen auch Multiplikationstabellen zur Verfügung. Aus dem antiken Multiplikationssystem wird also klar, warum der Gedächtniskünstler Hippias auch ein Rechenkünstler war und solch eine Aufgabe sehr schnell richtig lösen konnte. 464 460 Dabei war (von pente) = 5, (von deka) = 10, Η (von hekaton) = 100, Χ (von chilioi) = 1000 und Μ (von myrioi) = 10 000; die 1 wurde durch einen senkrechten Strich dargestellt. 461 Dabei bildeten bis die Ziffern 1-9, 10-90 wurden durch bis Koppa ( ϟ ) einem Sonderzeichen aus dem Semitischen ausgedrückt und 100- 900 wurden mit bis Sampi ( ϡ ), ebenfalls einem semitischen Sonderzeichen, dargestellt. 462 Vgl. V OGEL , K URT , Beiträge zur griechischen Logistik. Erster Teil (Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften. Mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung), München 1936. So vergleicht Aristoteles die Prinzipien des Disputierens mit dem kleinen Einmaleins: „Denn wie es in der Geometrie von Vorteil ist, in den Elementen beschlagen zu sein, und wie in der Arithmetik die Vertrautheit mit einer Multiplikation der Grundzahlen viel für die Multiplikation der anderen Zahlen austrägt, so ist es auch bei Disputationen nützlich, wenn man die Prinzipien gegenwärtig hat und die Vordersätze auswendig kann“ (Topik VIII, 13, 163b). 463 Man muss dabei beachten, dass die griechischen Zahlensysteme keine Null hatten. Die Null ist eine wesentliche Erleichterung, da bei der Multiplikation mit 10 immer eine Null angehängt wird. In unserem System ist es leicht ersichtlich, dass wenn 3·7=21 die Multiplikation mit 70 durch Heranhängen einer Null 210 ergibt. Im milesischen System sähe die Aufgabe so aus: und Die Beziehung zwischen (210) als das Zehnfache von (21) wird nicht so deutlich wie in unserem indisch-arabischen System, in dem 210 sich durch die Null als das Zehnfache von 21 ausweist. 464 Schriftlich wurde von links nach rechts gerechnet. Die Multiplikation 265·265 wäre in folgender Reihenfolge geschrieben worden: (200·200+200·60+200·5) + (60·200+60·60+60·5)+(5·200+5·60+ 5·5). 155 367d5: Bist du nicht auch in der Geometrie erfahren? Hippias’ Name ist in der Geometrie mit einer zur Winkeldreiteilung 465 und Quadratur des Kreises 466 benutzten Kurve verbunden, die wegen ihrer letzten Anwendung „Quadratrix“ genannt wurde. Die Dreiteilung eines beliebigen Winkels lässt sich mithilfe der Quadratrix folgendermaßen konstruieren 467 : Die Strecke a rotiert um A um 90° (Viertelkreis). Die Strecke b bewegt sich von oben nach unten, so dass sie im Endzustand mit a’ zusammenfällt. Die Strecken a und b bewegen sich mit konstanter Geschwindigkeit. Das Verhältnis des Abstandes von b’ nach b und des Winkels zwischen a’ und a bleibt konstant. a und b schneiden sich in F. 465 Als Hauptgewährsmann dient hier Proklos (Procli Diadochi in primum Euclidisn elem. Libr. Comm. E D . F RIEDLEIN , Leipzig 1873, 273, 7; 356,11). Einen forschungsgeschichtlichen Überblick zur Urheberfrage der Quadratix bietet F UNAIOLI (RE Bd. 16, 2 Sp. 1707-1711). 466 Es gilt als unwahrscheinlich, dass sie schon von Hippias zur Quadratur des Kreises benutzt wurde. Diese Anwendung fand die Quadratrix wohl erst bei Deinostratos und Nikomedes. 467 Johannes Grössl sei für seine fachliche Hilfe bei der Darstellung der Konstruktion herzlich gedankt. 156 Die Bahn von F lässt sich konstruieren. Die Orthogonale zu a’ durch P ist 1/ 3 des Abstandes von a’ und b (bzw. von a’ und F). Der Schnittpunkt von F-Bahn und Parallele zu a’ durch P ergibt Q. Der Winkel SAQ ist 1/ 3 vom Winkel SAF. 157 H EINRICH S UTER bemerkt in seiner Geschichte der Mathematischen Wissenschaften (Erster Teil, Zürich [2. Aufl.] 1873, 32): „Es ist nicht zu verkennen, dass diese Lösung des Hippias die einfachste und die der Natur der Aufgabe am nächsten stehende ist und dass sie wegen dieser Eigenschaften selbst über die scharfsinnigsten Lösungen, die das Alterthum von diesem Probleme gegeben hat, zu stellen ist. Vom Hippias ist uns nur diese einzige Leistung bekannt.“ 367e8ff: den Astronomen überprüfen, von dessen Kunst du aber mehr zu verstehen glaubst als von den vorherigen Hippias wird an verschiedenen Stellen als Fachmann auf dem Gebiet der Astronomie beschrieben. 468 Im Protagoras sitzt Hippias auf einem Thron und beantwortet wie eine Schiedsinstanz astronomische Fragen (315c5ff.). Wenn zwar diese Szene im Protagoras unverkennbar parodistische Züge trägt, so ist sie doch ein weiteres Indiz dafür, dass Hippias besonders auf dem Gebiet der Astronomie und Naturphilosophie Kompetenzanspruch erhob. Antike Quellen vermerken (im Gegensatz zur Geometrie) aber keine spezielle Leistung (wie eine Entdeckung oder Erfindung) auf diesem Gebiet. 368b4: auf dem Markt an den Wechseltischen Hippias päsentiert sich hier einer breiten Öffentlichkeit, wie auch dort der bevorzugte Ort von Sokrates ist (vgl. Apol. 17c8). 468 Vgl. Philostratos, Vit. Soph., I, 11, 1ff. (zit. nach DK 86 A 2,2). Eine ähnliche Formulierung findet sich Hippias Maior: „was du am besten verstehst, von den Sternen und dem, was am Himmel vorgeht ( , 285b8-c1). 158 3. Anwendung auf die Ausgangsfrage (368a12- 370e4) A - Inhaltsangabe Nur wer (über das nötige Wissen verfügt und) die Wahrheit kennt, kann lügen. Sokrates fordert Hippias auf, dieses Ergebnis an all seinen intellektuellen und technischen Kenntnissen zu überprüfen. Hippias weiß diesem Homologoumenon nichts entgegenzusetzen und versteht auch nicht, worauf Sokrates damit hinaus will. Sokrates erinnert Hippias an dessen Ausgangsthese, dass Achill wahrhaftig, Odysseus dagegen lügnerisch und vielgewandt sei. Wenn nun der Wahrhaftige und der Lügner identisch sind, folgt daraus, dass auch kein Unterschied zwischen Achill und Odysseus besteht. Hippias ist mit diesem Ergebnis überhaupt nicht einverstanden und übt heftige Kritik an der sokratischen Methode, indem er Sokrates der Wortdrechslerei beschuldigt. Sokrates rechtfertigt seine Methode mit dem Hinweis, dass er so das Gesagte besser verstehe, und führt zur Stützung des aus dem Elenchos gewonnenen Ergebnisses ein Argument aus der Homer-Exegese an: Achill habe sowohl an der von Hippias zitierten Stelle als auch schon vorher seine baldige Abreise angekündigt, aber keinerlei Anstalten gemacht, diese Ankündigung in die Tat umzusetzen. In der Dichtung erschienen daher Achill in Bezug auf Wahrhaftigkeit und Lüge gleich. B - Interpretation 1. Sokrates’ Portrait von Hippias (368a12-369a6) Sokrates hält an dieser Stelle mit der Argumentation (und der zu erwartenden Übertragung des Resultats auf die Eingangsfrage) inne und fordert Hippias auf, das eben erreichte Ergebnis in allen epistēmai zu überprüfen ( , 368a12-b1), über die er verfügt. Das nun folgende Portrait, das Sokrates von Hippias zeichnet und das Ähnlichkeiten mit einer antiken Lobrede aufweist, dient als Aufzählung weiterer technai, die ebenfalls für eine Überprüfung herangezogen werden könnten. 469 469 Der Unterschied zwischen epistēme und technē wird im Deutschen oft mit dem zwischen „Wissenschaft“ und „Kunst“ wiedergegeben. Inwiefern „Kunst“ noch eine 159 Sokrates knüpft in der Einleitung seines Portraits an das agonale Selbstverständnis des Sophisten, in den meisten Künsten der weiseste zu sein, an ( , 368b2f.). 470 Die Darstellung der technai beginnt mit den handwerklichen (368b5-c7) und führt zu den intellektuellen (368c7-d5ff.). Hippias’ handwerkliche technai werden unter Anspielung auf seinen Autarkie-Anspruch ( , 368b6) genannt. 471 Sie erstrecken sich vom Kunsthandwerk (wie der Steinscheidekunst 368c1f.) bis zur Herstellung von Gegenständen des Alltagsgebrauchs (phraseologisch durch Badekratzer und Ölfläschchen 368c2 ausgedrückt). 472 Dazu zählt auch die Kleidung von den Schuhen (368c3) über den Mantel und das Unterkleid (368c4f.) bis zum Gürtel nach exquisiter persischer Mode (368c6f.), der sowohl Hippias’ höchste Kunstfertigkeit ( , 368c5) als auch sein Prestigestreben hervorhebt. Die intellektuellen technai umfassen sowohl praktische als auch theoretische Tätigkeiten. Die praktischen intellektuellen technai liegen in der literarischen Produktion von Gedichten, Tragödien, Dithyramben und Vorträgen (368c7-d2), während sich die theoretischen auf das Gebiet von brauchbare Übersetzung für eine Vielzahl so unterschiedlicher Disziplinen ist, bleibt dahingestellt (Wir sprechen zwar noch von der ärztlichen Kunst, aber nicht mehr von der Schneiderkunst, sondern vom Schneiderhandwerk). Der Hauptunterschied geht aber dahin, dass epistēme theoretisch ausgerichtet ist, während technē auf praktisches Handeln zielt. 470 Vgl. 364a8f. C AROLINA A RAÚJO (O poder do falso no Híppias Menor de Plat-o, in: Kléos Nr. 9/ 10 [2005/ 6], 145-162, 160) sieht in dem emphatischen Lob der hippiaschen Weisheit eine ironische Widerlegung von dessen gerechten Charakter, da gemäß dem Homologoumenons der Wissende und der Lügner identisch sind. Diese Ironie mag durchaus mitklingen, ist aber nicht Hauptintention. 471 M ICHAEL E RLER sieht die von Hippias beanspruchte Autarkie im Kontext der unter Sophisten strittigen Frage nach der „Überwissenschaft“: „Hippias beansprucht sich in allen Einzelwissenschaften auszukennen und somit autark sein zu können. Dagegen polemisiert Protagoras. Protagoras selbst propagiert die (vgl. Prot. 320C-322D), die allgemein ist, insofern alle Menschen sein erreichen können. Allerdings sind Sophisten und Lehrer notwendig. Die allgemeinste ,Überwissenschaft’ vertritt wohl Gorgias (Gorg. 449DE), für den das Wissen der Worte universell ist“ (Idem, Aporien bei Platon, S. 198 Anm. 130). 472 Die Beispielreihe findet sich in genau umgekehrter Reihenfolge im Charmides ( ( , 161e7f.). In dieser Passage geht es um die Frage, ob Besonnenheit „das Seine tun“ ist. Sokrates argumentiert, dass eine Stadt, in der Arbeitsteilung verboten ist und jeder die genannten Gebrauchgegenstände für sich herstellen müsste, schlecht verwaltet wäre. Da aber „gut verwalten“ gleichbedeutend ist mit „besonnen verwalten“, besteht Besonnenheit nicht im „das Seine Tun“. Diese Stelle kann als deutliche Absage gegen jede Autarkievorstellung und mit der Beispielreihe als Kritik an deren Propagandisten Hippias verstanden werden. 160 Harmonie, Rhythmus und Sprachrichtigkeit (368d2ff.) beziehen. Es stellt sich die Frage, warum das letztgenannte Gebiet entgegen unserer Unterscheidung nicht unter die epistēmai fällt, sondern zu den technai gehört. Eine mögliche Antwort könnte sein, dass diese theoretischen technai den praktischen zugeordnet sind und die Aufgabe von „Hilfsdisziplinen“ erfüllen - so ist das Wissen von Harmonie, Rhythmus und Sprachrichtigkeit (im Gegensatz von Arithmetik, Astronomie und Geometrie) nicht Selbstzweck, sondern dient der praktischen Anwendung in Dichtung und Prosa. In diese Einordnung passt auch die Gedächtniskunst, die als Hippias’ Paradestück gilt (368d6f.), und die, obwohl nicht im eigentlichen Sinn produktiv, als Grundlage vieler technai und epistēmai dient. Sokrates’ Portrait von Hippias weist Ähnlichkeiten zum genus demonstrativum auf, insofern es die Vorzüge einer Person hervorhebt. Im Unterschied zur Lobrede, die die zugebilligten Fertigkeiten und Fähigkeiten und das daraus resultierende Bild als öffentliche Meinung darzustellen bemüht ist und auch nur so ihre Wirkung entfalten kann, betont Sokrates, dass er das Selbstbild des Sophisten referiert, was durch die Anführung von verba dicendi in der zweiten Person Singular und indirekter Rede deutlich wird. 473 Diese Vorgehensweise vermittelt eine deutliche Distanz zum Gesagten und lässt daher den Verdacht der Ironisierung oder Parodie einer Lobrede nicht aufkommen, da Ironie und Parodie auf einer Pseudoaffirmation beruhen und ihre Aussagen deshalb nicht offen einschränken. Der Skopus des Exkurses liegt in einer Aufzählung von technai, die zu einer weiteren Überprüfung der These von der Identität des Wahrhaftigen und Lügners herangezogen werden können. Diese Überprüfung unterbleibt aber und hätte sich auch als prinzipiell schwierig erwiesen, da technai im Gegensatz zu epistēmai nicht zum Bereich von wahrheitsfähigen Propositionen, sondern von poietischen Handlungen gehören. 474 Handlungen fallen aber nicht unter die Kategorie „wahr“ und „falsch“, sondern werden mit „gut“ oder „schlecht“ je nach Verwirklichung der Handlungsintention beschrieben. So übt man das Schuhmacherhandwerk gut aus, wenn man das Ziel verwirklicht und gute (im Sinn von funktionsfähigen und vielleicht auch modisch schicken) Schuhe herstellt. Diese Erzeugnisse sind genau dann gut, wenn sie die Anforderungen (Funktionsfähigkeit und vielleicht auch Ästhetik) erfüllen und so das Handlungsziel verwirklichen. Die These von der Identität des Wahrhaftigen und Lügners setzt aber den 473 Als verbum dicendi fungiert (368b5; c3; 6; ). Sokrates benutzt aber auch Umschreibungen, in denen er auf das von Hippias Gehörte ( , 368b3) und die Erinnerung daran ( , 368d5f.) rekurriert. 474 Dies gilt nicht von den theoretischen technai Harmonie, Rhythmus und Sprachrichtigkeit, die hier problemlos als epistēmai behandelt werden können. 161 Bereich von wahrheitsfähigen Propositionen voraus, da nur dort die Lüge möglich ist. Wenn nun die technai zur Überprüfung dieser These dienlich sein sollen, muss auch auf in ihnen enthaltene wahrheitsfähige Propositionen rekurriert werden können. Wir können uns das so vorstellen, dass wir auf die Metaebene gehen und Aussagen über die Handlungen machen. So ist zum Beispiel die Aussage „Dies ist ein gutes Paar Schuhe“ (mit der Form x ist P) wahrheitsfähig, da sie nur dann wahr ist, wenn die Kriterien für die Anforderungen dieses Erzeugnisses erfüllt sind. Wer diese kennt, und das ist der Experte, kann in seiner Beurteilung lügen oder die Wahrheit sagen. 475 Sokrates fordert Hippias also auf, das Homologoumenon an den genannten technai und weiteren, die ihm einfallen würden, zu überprüfen (368e1-369a1). Dabei zeigt sich Sokrates entgegen seiner gewöhnlichen Skepsis, die die Vorläufigkeit und Unsicherheit von Thesen betont, sehr zuversichtlich, dass Hippias diese These nicht widerlegen kann (369a2). Hippias räumt dann auch ein, dass er dieser These momentan nichts entgegenzusetzen habe ( ’ , 369a3). 476 Er sieht auch nicht die Schlussfolgerung, die sich aus dieser These für ihre Diskussion über Achill und Odysseus ergibt (369a4ff.). 2. Die Übertragung des Resultats auf Achilles und Odysseus (369a7-370e4) Sokrates erinnert Hippias an seine Eingangsthese, dass Achill alēthēs, während Odysseus pseudēs und polytropos sei (369a9-b1). 477 Es entbehrt wohl nicht einer Portion Ironie, wenn Sokrates den Mnemotechniker auffordert, von seiner Gedächtniskunst Gebrauch zu machen (369a7f.) und Hippias’ 475 Das zweite Paradoxon, dass derjenige, der freiwillig fehlt, besser ist als derjenige, der es unfreiwillig tut, drängt sich schon hier auf; aber noch wurden die Handlungseigenschaften „freiwillig“ oder „unfreiwillig“ nicht eingeführt. Dies geschieht erst später durch Hippias, der ein neues Kriterium für die Bewertung von Handlungen braucht. Die Entwicklung des zweiten Paradoxons aus dem ersten erscheint somit organisch und zeichnet sich hier schon ab. 476 E RLER hält dies für eine typische Diskussionsstrategie von Sokrates’ Gegnern: „Mit dieser Feststellung erweckt er den Eindruck, als ob er etwas in der Hinterhalt behalte, womit er Sokrates’ These widerlegen könne. […] Einen solchen Eindruck möchten die Gesprächspartner des Sokrates oft hervorrufen. Es zeigt sich dann allerdings immer und es wird sich auch hier ergeben, daß sie in Wirklichkeit nichts in der Hinterhand haben“ (Idem, Der Sinn in den Aporien in Platons Dialogen, 125). 477 Vgl. 365b4f. Sokrates zitiert diese These allerdings nicht wortwörtlich, denn er unterlässt es für Achill das Attribut haplous anzugeben. Ob hier auch „Gedächtnisschwäche“ vorliegt oder ob es Sokrates als unnötig erachtet, weil (im Gegensatz zu polytropos) alēthēs unumstritten war und daher das explikative Attribut redundant ist, kann nicht entschieden werden. 162 fehlende Schlussfähigkeit darauf zurückführt, dass er den Einsatz seines Gedächtnisses für unzulässig hält. Dennoch könnte auch ein ernst gemeinter Hintergrund vorliegen, da der im Elenchus unerfahrene Hippias bisher nur (für sich und Homer) auf Sokrates geantwortet hat und nicht die Gepflogenheit dieser Methode kennt, aus dem bisher Gesagten eine Konklusion zu ziehen. 478 Wenn nun, wie eben gezeigt, der alēthēs und der pseudēs identisch sind, dann sind auch Achill und Odysseus im Hinblick auf diese Eigenschaften nicht verschieden oder konträr, sondern gleich 479 (369b3-7). 2.1 Hippias‘ Methodenkritik Hippias beschäftigt sich in seiner Antwort nicht direkt mit der sokratischen Schlussfolgerung, sondern kritisiert die sokratische Methode, die zu diesem Schluss geführt hat (369b8-c8). In einer emphatischen Apostrophe, die durch das (im Griechischen redundante) Personalpronomen der zweiten Person Singular Du betont wird, hält er Sokrates vor, dieser drehe sich immer solche Argumente zusammen ( , 369b8f.) und greife den schwierigsten Punkt eines Argumentes heraus ( , 369b9). Anstatt gegen die ganze Sache zu argumentieren, greife er punktuell nur bei Einzelheiten an ( , , 369c1f.). Dieser für ihn unzureichenden Methode stellt Hippias das Angebot entgegen, auf die von ihm ursprünglich präferierte Epideixis zurückzugreifen (369c2f.), mit deren Hilfe er dann seine Ausgangsthesen darlegen könne: Dass Homer den apseudeis Achill besser als Odysseus dar- 478 Vgl. den die bisherige Aufgabe im Elenchus für Hippias: „Antworte gemeinschaftlich für Homer und dich selbst“ ( , 365d3). 479 S CHLEIERMACHER übersetzt durchweg homoios mit „ähnlich“ („daß die Männer nicht verschieden sind oder entgegengesetzt, sondern ähnlich“). Das ist zwar semantisch korrekt, passt aber überhaupt nicht in die Argumentation, da sie eben nicht nur als ähnlich, sondern als gleich hinsichtlich dieser Eigenschaften erwiesen haben. Ähnlichkeit würde eine graduelle Abstufung in Bezug auf die dynamis bedeuten, aber davon war im Identitätsschluss, der hier seine Anwendung findet, nicht die Rede. Das Problem ist, dass im Griechischen zwei (oder sogar drei) Wörter für gleich existieren, die Schleiermacher in der Übersetzung unterscheiden möchte: Homoios bezeichnet eine Relation, die eigentlich eine Ähnlichkeit ausdrückt und nur in seltenen Fällen eine völlige Gleichheit bedeutet. Wenn zwei Dinge homoioi sind, dann bedeutet das, dass sie qualitativ von der gleichen Art sind; damit ist eine quantitative Gleichheit prinzipiell nicht ausgeschlossen. Diese wird im Griechischen mit ison bezeichnet. Paraplēsios drückt dagegen die Ähnlichkeit (in der Abgrenzung von der Gleichheit) aus: so im Hinblick auf das Alter, um auszudrücken, dass zwei fast, aber eben doch nicht gleichaltrig sind (R. I 329a3) oder auf die Bedeutungnuancen eines Wortes bei etymologischer Ähnlichkeit (Crt. 393a4; 414a3; 437b8). Zur Begrifflichkeit von gleich bei Platon s. B ORDT , M ICHAEL , Platon. Lysis. Übersetzung und Kommentar, Göttingen 1998, 169. 163 stelle, Odysseus aber listig und viel lügend und daher schlechter als Achill (369c4ff.). Wenn Sokrates wolle, könne er dann ebenfalls dem seine Rede entgegenstellen und die Anwesenden würden leichter sehen, wer von beiden besser spräche (369c6-9). Phillips kommentiert diese Stelle mit einer scharfen Kritik an Hippias: „This is the first time Hippias runs into serious difficulty in the dialogue; and instead of examining and criticizing the course of the argument, or considerung whether his initial assumptions need modification, or bringing evidence to refute Sokrates’ claim, he at once attacks his method. Hippias cannot hide that his interest is in personal victory.”480 Es absolut zutreffend, dass wir an dieser Stelle eine Klärung der sokratischen Schlussfolgerung durch Hippias erwarten würden. Auch ist deutlich, dass der von Hippias favorisierte Methodenwechsel einem agonalen Interesse entspringt, das die anwesenden Zuhörer als Wettkampfrichter dieses Disputs sieht (vgl. 369c6-9). Dennoch trägt diese Deutung dem philosophischen Potential der Methodenkritik nicht voll Rechnung. Die Kritik an der sokratischen Methode durch Sokrates’ Gegner gehört fest zum Repertoire des platonischen Dialogs. Im Menon beklagt sich Sokrates’ gleichnamiger Gesprächspartner, dass der ratlose Sokrates auch bei seinen Dialogpartnern Ratlosigkeit stifte (80a2f.). Sokrates erscheine wie ein Zauberer ( , 80b7), der ihn gleichsam verzaubert ( , 80a3) oder bespricht ( , 80a3). 481 Dabei wirke Sokrates wie ein Zitterrochen, der jeden, der ihm nahe kommt, erstarren lässt und ihn so beim Antworten hindert (80a6-b2). Dieser metaphorisch-verklausulierten Methodenkritik steht eine direkte und teilweise aggressive im Gorgias gegenüber. Dort wird Sokrates von Polos angegriffen, er habe Gorgias aus Freunde an Widersprüchlichkeiten durch Fragen in diese Inkonsistenz hineinmanövriert. 482 Kallikles kritisiert sogar, Sokrates benehme sich mit seiner Argumentationsweise flegelhaft und gleiche so einem Handwerker ( , 482c3). 483 Die sokratische Methode wird als 480 P HILLIPS , Hippias Minor, 83. 481 Alle drei Wörter, die Menon wählt ( ) haben die negative Konnotation des Täuschens und beinhalten den Vorwurf, Sokrates bediene sich unlauterer Mittel. Zu s. Euthd. 288b7f.; Phd. 81b3; R. II 381e8; III, 412e7,413b1,c4; Soph.234c5. 482 “ ’ ” 461b8-c2. 483 Das Verb leitet sich von ab und bezeichnet ein flegelhaftes Verhalten wie das Halbwüchsiger. 164 Jagd auf Worte 484 dargestellt ( , , 489b7-c1), die sich mit Nichtigkeiten und wertlosen Dingen befasst ( , 497b7). Doch Abweichungen in Kleinigkeiten addieren sich laut Politeia am Ende eines Gesprächs zum Gegenteil dessen, was anfangs gesagt wurde ( , VI 487b5f.). Dieser bisweilen eher hilflosen Kritik an der sokratischen Methode stellt der Hippias Maior eine philosophisch fundierte Auseinandersetzung auf der Basis eines nach unserem Begriff holistischen Wahrheitskonzepts entgegen. Der Sophist Hippias kritisiert dort, - ähnlich wie im Hippias Minor - dass Sokrates und seine Anhänger ( , 301b3f.) nicht das Ganze betrachten ( , 301b2f.), sondern in ihrer Argumentation analytisch vorgehen ( , 301b4). Dieser analytischen Methode entgehe aber die Hauptsache und das Wesen der Dinge ( , 301b5ff.). In dieser im Hippias Maior formulierten Kritik finden sich aus moderner Perspektive zwei fundamental verschiedene Philosophieansätze, die bis auch heute zwei große gegensätzliche Strömungen ausmachen: Eine hermeneutische Philosophie, die philosophische Fragen im Zusammenhang zu verstehen versucht, und die analytische Philosophie, die Probleme durch Atomisierung lösen will. Von dieser Warte aus bekommt auch die hippiassche Kritik im Hippias Minor eine differenziertere Bewertung. Entgegen Platons Darstellung, die Hippias nicht mit Vorbedacht zum Vordenker der Hermeneutik aufbaut, ließen sich die Einwände von Hippias durchaus als prinzipielle Methodenkritik akzeptieren. In dieser Weise darf die von Hippias vorgeschlagene Epideixis auch nicht nur auf eine agonale Darstellung rhetorischer Fähigkeiten reduziert werden, sondern auch als die von Hippias adäquat empfundene Methode zur Interpretation homerischer Helden. In der Tat ist es durchaus plausibel, dass hermeneutischliteraturästhetische Fragen wie die Beurteilung homerischer Helden und die damit begründete Bewertung homerischer Epen besser in einer Interpretation, die das Ganze im Blick hat, erörtert werden als durch die analytische Methode mit ihrer Untersuchung von Einzelsätzen und Termini. Sokrates ist vor diesem Hintergrund seinem Dialogpartner Rechenschaft schuldig, warum er weiter für dialektische Methode optiert. 485 484 Zur Jagdmetaphorik vgl. Euthd. 295d2, wo Sokrates Euthydemos vorhält, er jage und umstelle ihn mit Worten. 485 Ähnlich ist U NTERSTEINERS positive Bewertung von Hippias’ Methodenkritik. Jener sieht hier einen Zusammenstoß von physis und eidos und kommt daher zur Feststel- 165 Eine Antwort auf die Kritik und eine Rechtfertigung seiner Methode gibt Sokrates im Folgenden (369d1-e2). Sokrates betont, er wolle nicht in Abrede stellen, dass Hippias weiser sei als er (369d1). 486 Diese Aussage mit ihrem Rekurs auf Hippias’ Überlegenheitsanspruch 487 braucht nicht ironisch aufgefasst zu werden, sondern kann auch vor dem Hintergrund der Methodenkritik durchaus als Konzession verstanden werden, dass Sokrates nicht den Anspruch erhebt, über die bessere Methode an sich zu verfügen, sondern dass das dies die bessere Methode für ihn sei. 488 Sokrates erklärt das mit dem Wunsch, von seinen Gesprächspartnern zu lernen ( , 369d4; , d5f; ’ , 369e2.). Seine Lernmethodik, die zugleich auch die Methode der Dialektik ist, beschreibt er mit dem Trikolon „frage ich nach und untersuche genau und vergleiche das Gesagte“ ( , 369d4f.). Inwieweit dieses Trikolon als Hendiadyoin oder als differenzierte Systematik der dialektischen Methode aufgefasst werden muss, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Es lässt sich aber durchaus vermuten, dass die drei Verben für drei Schritte stehen: (a) diapythanomai als Phase des Fragens und der Thesenformulierung, 489 (b) epanaskopo als Untersuchung der Thesen und Termini 490 und (c) symbibazo als Vergleich und Folgerung. 491 Sokrates sieht sein Fragen als Ausdruck der Wertschätzung des Befragten, wenn er dessen Wahrheitsanspruch ernst nimmt und einer kritischen Überprüfung unterzieht (369d6ff.). 492 Wenn wir Sokrates also ernst nehmen und es lung: „his ethic leads to the study of the whole man, non of opposite qualities“ (The Sophists, 288). 486 Die Apostrophe von Sokrates nimmt den emphatischen Charakter von der des Hippias (369b8) auf, indem Sokrates ebenfalls das redundante Personalpronomen der ersten Person Singular setzt, um zu betonen, dass er Hippias’ Anspruch nicht bestreite. 487 Vgl. 363d1-4; 364a7ff. 488 Damit redet Sokrates einer Methoden-Beliebigkeit keineswegs das Wort. Im Protagoras kritisiert er die Redner, die, wenn sie über das Gesagte gefragt werden, mit weitschweifigen Reden antworten (329a4-b2), aber wenn sie über das Gesagte hinaus weiter denken sollen, wie Bücher weder zu antworten noch selbst zu fragen verstehen ( , 329a3f.). 489 Vgl. LSJ: „search out by questioning“ (409). 490 Vgl. LSJ: „consider yet again“ (608). 491 Vgl. LSJ: „put together, compare, examine“ (1675). 492 L AMBERT (Socrates’ Defense of Polytropic, 244) sieht hier einen verklausulierten Hinweis, dass Sokrates Hippias eben nicht für weise halte, da er anfänglich zu Hippias’ Rede schweigt und erst durch Eudikos’ Vermittlung mit Hippias ins Gespräch kommt (vgl. 363a1f.). Es stellt sich die Frage, ob nicht dieser innerdialogischen Allusion zuviel Bedetung beigemessen wird, zumal das Schweigen sich durch die Figur des Eudikos erklären lässt, der als Vermittler in Erscheinung tritt und daher einen Anknüpfungspunkt braucht. Außerdem würde es dem sokratischen Forschen 166 spricht nichts dafür, dass hier Ironie im Spiel sein könnte, dann akzeptiert er Hippias’ Wissensanspruch und verlangt mit der dialektischen Untersuchung dessen Einlösung; ob Hippias das gelingt, ist eine andere Frage. Damit erübrigt sich eine Deutung, die von vornherein einen ironischen Sokrates annimmt, dessen Hauptintention darin besteht, einen eitlen Sophisten zu desavouieren und der verdienten Lächerlichkeit preiszugeben. Der Sokrates des Hippias Minor zeigt deutlich Züge des frühen platonischen Sokrates, dessen philosophischer Eros in der Prüfung seiner Dialogpartner besteht. 2.2 Sokrates’ Rückkehr zur Homer-Exegese Da also Kritik und Infragestellung der Thesen durch Sokrates Ausdruck seiner intellektuellen Ernstnahme und Wertschätzung sind, kann Sokrates auf sehr geschickte und höfliche Weise seine Gegenthesen 493 zu Hippias’ Homerexegese formulieren: (1) Odysseus, der als polytropos bezeichnet wird, erscheint nirgends als Lügner (369e5-370a1). (2) Achill tritt dagegen als Lügner in Erscheinung und verhält sich wie ein polytropos nach dem Hippiaschen Wortverständnis (370a1ff.). Nach Formulierung dieser Thesen nimmt Sokrates einen Methodenwechsel vor und kehrt zur Homerexegese am Text zurück. 494 Dabei verzichtet er aus aus argumentationsökonomischen Gründen auf eine Untersuchung des negativen All-Satzes von These (1), sondern beschränkt sich auf einen positiven Nachweis von These (2), indem er zwei Ilias-Passagen anführt, die Achill als Lügner zeigen sollen. schlecht anstehen, einer solcher Persönlichkeit mit einem so großen Wissenanspruch wie Hippias von vornherein alle Wahrheitsfähigkeit abzusprechen und deshalb von der genauen Prüfung auszuschließen. 493 Vgl. 365b4ff. Diese Thesen sind im strengen Sinn aber keine Antithesen. Denn im Gegensatz zu Hippias, der Charaktereigenschaften mit Adjektiven positiv prädiziert hat, negiert oder affirmiert Sokrates hier Handlungen von Personen. So ist die These (von Hippias), „Odysseus ist lügnerisch (im Sinne von charakterlich verlogen)“deutlich von der These (von Sokrates), „Odysseus hat niemals gelogen“ zu unterscheiden. 365a1-b2 zitiert Hippias jene Passage aus dem neunten Buch der Ilias (308-313 unter Auslassung von Vers 311), die ihm als Beweis für die Verlogenheit des Odysseus dient. Sokrates nimmt zwar dieses Zitat auf, - einmal als Paraphrase (369e2ff.) und einmal als direktes Zitat der entscheidenden Verse 312f. (370a4f.) - doch geht er nicht auf diese tendenziöse (und für Hippias in der Argumentation wichtige) Auslassung ein. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass Sokrates überhaupt nicht weiter auf die These (1) eingeht, sondern den positiven Beweis von These (2) ins Zentrum seiner Bemühungen rückt. 494 J ANTZEN sieht in dem Methodenwechsel eine reductio ad absurdum der von Hippias wieder eingeforderten Homerexegese, die Hippias die hermeneutische Ambivalenz dichterischer Aussagen und somit ihre Wertlosigkeit für die philosophische Debatte vor Augen verdeutlichen soll (vgl. J ANTZEN , Hippias minor, 65). 167 Die erste Passage entstammt dem neunten Buch der Ilias (Vv.357-363) aus derselben Rede Achills, aus der schon Hippias vorher zitiert hatte, mehr als 40 Verse später: Dort kündigt Achill der aus Odysseus, Nestor und Phönix bestehenden Bittgesandtschaft, die im Auftrage Agamemnons Achill zum Kampf für die schwer in Bedrängnis geratenen Griechen bewegen soll, an, dass er morgen nach dem Opfer für die Götter in See stechen und seine Heimat Phthia bei glücklicher Fahrt in drei Tagen erreichen werde (370bc3). 495 Die zweite Passage findet sich im ersten Buch der Ilias (Vv.169ff.), in dem ein Streit zwischen Agamemnon und Achill entflammt, nachdem dieser ihm sein Ehrengeschenk genommen hat. Achill kündigt daraufhin wütend an, dass er nicht weiter auf Seiten den Griechen kämpfen, sondern sich gleich auf den Weg in seine Heimat Phthia aufmachen wolle (370c6-d1). Sokrates sieht in der Diskrepanz zwischen den Ankündigungen und den Taten Achills, der seiner Meinung nach keine Anstalten zeigt, jene in die Tat umzusetzen, dass Achill sich wenig darum kümmert, ob er die Wahrheit sagt oder nicht (370d2-5). An dieser Stelle könnte der Einwand kommen, dass Achill nicht gelogen habe und mit diesen Aussagen überhaupt nicht habe lügen können. Wenn nämlich lügen eine bewusst wahrheitswidrige Aussage ist, dann kann die Aussage über ein zukünftiges Ereignis (zum Besipiel: Morgen werde ich nach Hause fahren) keine Lüge sein, da diese Aussage zum Zeitpunkt ihrer Tätigung noch unbestimmt ist und somit über keinen Wahrheitswert verfügt, den man bewusst wahrheitswidrig negieren oder behaupten könnte. Diesem Einwand kann entgegengehalten werden, dass nach normalsprachlichem Verständnis derjenige, der bei der Ankündigung nicht die Absicht hat, sein Versprechen in die Tat umsetzen, als Lügner bezeichnet wird, während der, der bei seiner Äußerung die Absicht hat, seine Ankündigung zu verwirklichen (auch wenn das später aus irgendwelchen Gründen nicht zustande kommt), wahrhaftig genannt wird. Solch ein Verständnis dürfen wir sowohl bei Sokrates als auch bei Hippias unterstellen. 496 Sokrates zieht als Fazit seiner Exegese, dass die Frage, wen von den beiden Helden Homer als besser dargestellt habe, unentscheidbar sei 497 , da beide im Hinblick auf Wahrhaf- 495 Diese Replik wirkt trefflich gekontert und weist Sokrates als guten Homer-Kenner aus, wenn er Hippias darauf aufmerksam macht, dass nicht weit von seinem Zitat ( , 370b1) diese Verse zu finden sind. Daher kommt wohl auch dieses Zitat an erster Stelle und nicht (chronologisch der Abfolge im Epos) das aus dem ersten Buch der Ilias. 496 Hippias erkennt dieses Verständnis durch seine Rechtfertigung für Achills Verhalten indirekt an (370e5-9). 497 Diese Unterscheidung braucht Hippias aber als Kriterium für die Bewertung der beiden homerischen Epen, da seiner These nach die Ilias in dem Maße kallion ist als die Odyssee (363b2f.) wie Achill ameinon ist als Odysseus (363b3f.). 168 tigkeit und Lüge sowie jeder anderen Tugend ( , 370e2f.) einander fast gleich seien ( , 370e4) 498 . Wenn wir die Bedeutung dieses exegetischen Exkurses für die philosophische Argumentation richtig verstehen wollen, müssen wir drei Fragen klären: (1) Gibt es Anhaltspunkte für eine solche Bewertung von Odysseus in der damaligen Homer-Exegese? (2) Welches Odysseus-Bild findet sich sonst bei Platon? (3) Inwieweit entspricht die von Sokrates vorgelegte Text- Interpretation den hermeneutischen Standards der damaligen Zeit? 2.3 Das Odysseus-Bild in der damaligen Homer-Exegese und bei Platon (1) Wie wir bereits gesehen haben, zeichnen die homerischen Epen und die zeitgenössische literarische Rezeption der Dramen ein ambivalentes, bisweilen widersprüchliches Bild von Odysseus. Die starke These, Odysseus habe niemals gelogen, lässt sich leicht durch ein Gegenbeispiel falsifizieren 499 und stand so wohl nie ernsthaft zur Debatte. 500 Strittig war dagegen die Frage, inwieweit Odysseus als verlogen und somit charakterlich verwerflich anzusehen ist. 501 Ein positives Odysseus-Bild findet sich in dem schon erwähnten Antisthenes-Fragment. Als Widerlegung von Hippias will Antisthenes beweisen, dass Homer Odysseus nicht als „schlecht“ (ponēros), sondern als „weise“ (sophos) darstelle, wenn er ihn polytropos nenne (Z. 17-20). Dazu beginnt Antisthenes mit einer semantischen Differenzierung des Begriffs „Art“ tropos in eine ethische Bedeutung als Charakter ( , Z. 21) und eine rhetorische als Wortgebrauch ( , Z. 22). Demnach bezeichne man, fährt Antisthenes sprachanalytisch fort, eine Person als „gutartig“ (eutropos), wenn sie einen zum Guten gearteten 498 Sokrates verwendet bewusst nicht das doppeldeutige homoios, das sowohl „gleich“ als auch „ähnlich“ heißt, sondern paraplēsios, das die Ähnlichkeit betont. Das Wort findet häufig Verwendung bei etymologischen Ähnlichkeiten im Kratylos (393a4f.; 414a3; 437b8), wird aber immer benutzt, um nicht genaue Gleichheit (z. B. an Jahren, R. I 329a3) zu bezeichnen. 499 Vgl. z.B. Od. 19.203. 500 P HILLIPS sieht in 369e2ff. Hippias’ Schwäche sogar auf seinem eigenen Spezialgebiet der Homerexegese deutlich zu Tage treten. Hippias habe nicht die zwei Ilias- Passagen präsent gehabt, die Sokrates zitiert und er habe auch nicht Sokrates’ These, dass Odysseus nirgends als Lügner auftritt, widerlegen können: „In the area of Homeric exegesis, as in the dialectical parts of the dialogue, Hippias is completely helpless […] he cannot prove or demonstrate anything“ (Idem, Hippias minor, 100). Gegen P HILLIPS lässt sich einwenden, dass Hippias wohl aus argumentationsstrategischen Gründen auf die Falsifikation der nach dem Textbefund widersprüchlichen These zu Odysseus verzichtet und bei Sokrates’ unkonventioneller Homer-Exegese ansetzt, bei der er ein leichtes Spiel zu haben glaubt. 501 Dagegen spräche z.B. Od. 11, 363f. 169 Charakter habe; die Arten der Rede seien ihre jeweilige Bildungen ( , Z. 24). 502 Antisthenes expliziert den rhetorischen Aspekt des Begriffes tropos weiter: (a) Wenn die Weisen fähig sind ein Gespräch zu führen, verstünden sie es auch, denselben Gedanken auf vielerlei Art und Weise auszudrücken ( , Z. 30f.). (b) Wenn die Weisen gut im Umgang mit Menschen sind, dann habe Homer Odysseus polytropos genannt, da er - weise wie er ist - es verstanden habe, mit Menschen auf vielfältige Art und Weise zu verkehren ( , Z. 35f.). 503 Patzer hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Weisheit in (a) mit dialektischem Ausdrucksvermögen und in (b) mit psychologischem Einfühlungsvermögen identifiziert wird, so dass einmal mehr die objektiv-technische und das andere Mal mehr die subjektiv-psychagogische Seite des rhetorischen tropos betont wird. 504 Es ist wichtig hervorzuheben, dass in beiden Fällen der tropos (weg vom ēthos) als dynamis interpretiert wird. Die nun folgenden erläuternden Exempel sind wohl Zusätze von Porphyrios, der dieses Antisthenes-Fragment überliefert. 505 Zum Schluss versucht Antisthenes eine Harmonisierung von polytropia und monotropia: Die Vielgewandtheit der Rede und der verschiedenartige Gebrauch der Rede erscheine gegenüber verschiedenartigen Zuhörern als Eingewandtheit (monotropia), denn jeder bekomme das genau für ihn Passende (Z. 49-53); umgekehrt gelte, dass das Eingestaltige (monoeidēs), da es für die verschiedenen Zuhörer unpassend sei, die Rede vielgewandt mache, so dass sie verworfen wird, weil sie für diese unangemessen sei (Z. 53-57). Das Antisthenes-Fragment weist zwei Ähnlichkeiten mit dem Hippias Minor auf: Zum einen sprechen sich beide 502 Neben dem ethischen und rhetorischen Wortgebrauch findet sich noch ein weiterer phonetisch-musikalischer am Beispiel eines Odyssee-Zitates für die stimmliche Modulation der Nachtigall, die in ihren Gesang „vielfach wendend“ erschallen lässt (Od. 19. 521). Diese Unterscheidung spielt im späteren Gedankengang keine Rolle mehr. P ATZER hält daher die Herkunft dieses Einschubs für zweifelhaft und vielleicht porphyrianisch, lässt aber auch die Möglichkeit zu, dass es sich dabei um eine Anspielung von Antisthenes handeln könnte, mit der er auf seine musikalische Schrift Peri musikēs (VIII 1) verwiesen hat (P ATZER , Antisthenes der Sokratiker, 178). 503 Dieses Argument hat als Voraussetzung, dass Odysseus auch als sopohos gilt. Dieses Prädikat kann, wie wir in Scholien und in der antiken Rezeption gesehen haben, auch für Odysseus als gut gesichert gelten. 504 „Folgerichtig ist der erste Beweisgang allgemein gehalten, während der zweite die konkrete Anwendung auf Odysseus bringt, mit der das eigentliche Beweisziel erreicht ist“ (P ATZER , Antisthenes der Sokratiker, 179). 505 So die historische Reminiszenz an Pythagoras, der, aufgefordert Reden auf Kinder zu verfassen, spezifische Kinderreden konzipierte und entsprechend auch Reden für Frauen, Herrscher und Epheben (Z. 37-40). Dann die Erwähnung der Medizin, die bei sachgemäßem Vorgehen das Vielgewandte beobachtete wegen der verschiedenartigen Verfassungen der Patienten (Z. 45-47). Zur Herkunftsfrage der Beispiele vgl. P ATZER , Antisthenes der Sokratiker, 180. 170 für eine neue positivere Bewertung von Odysseus aus, zum anderen kommt es dabei in beiden Texten zu einer Neuinterpretation eines ēthos- Terms in einen dynamis-Term. Während dies im Antisthenes-Fragment durch eine Analyse des semantischen Bedeutungsspektrums von tropos geschieht, ist es im Hippias die logische Analyse von pseudēs als dynamis, die notwendig auch die Fähigkeit des Kontradiktums inkludiert. 506 Platon erweist sich als sehr geschickt im Aufgreifen und Kombinieren literaturästhetisch-philosophischer Debatten, indem er die Neubewertung der Figur des Odysseus durch Neuinterpretation eines ēthos-Terms in einen dynamis- Term, die Antisthenes seinem vermutlichen Dialogpartner Hippias vorexerziert, mit dem Lügner-Paradoxon aus den (vermutlich im Umfeld von Hippias entstandenen) Dissoi logoi in diesem Dialog verknüpft. Wenn wir all die Allusionen richtig verstehen und einordnen wollen, müssen wir auch klären, welches Odysseus-Bild sich sonst in Platons Dialogen findet. (2) In seinem Schlusswort an die Richter in der Apologie erwägt Sokrates Gründe, die den Tod zum großen Gut machen. Dabei nennt er die Vorstellung, im Jenseits die berühmten Heroen und Helden, zu denen er auch Odysseus zählt (41c1), seiner philosophischen Prüfung zu unterziehen. 507 Im Phaidon und in den Nomoi wird Odysseus im Zusammenhang mit seiner Klugheit und Erfindungsgabe genannt. So wird im Phaidros (261b8f.) Odysseus zusammen mit Nestor als Erfinder der Rhetorik bezeichnet 508 , während in den Nomoi (IV 706d3-e7) im Rahmen einer Diskussion über die Gefahren einer Seemacht Odysseus mit seiner Warnung an Agamemnon (Il. 14.96-102) als kluger Ratgeber zitiert wird. Im Phaidon und in der Poli- 506 Ein weiterer wichtiger Unterschied ist die unterschiedliche Bewertung der jeweiligen dynamis. Während tropos als rhetorische dynamis eindeutig positiv besetzt ist und als Eigenschaft des sophos verstanden wird, ist pseudēs als logische dynamis, die sich aus der wechselseitigen Beziehung zu alēthēs ergibt, wertneutral. 507 C ALDERINI sieht als argumentum ex silentio eine Präferenz von Odysseus gegenüber Achill, der hier zu den für Sokrates interessanten Gesprächskandidaten gezählt wird (C ALDERINI , A RISTIDE , Intorno ad Ulisse e ad Achille in Platone, in: Rendiconti dell’ Istituto Lombardo di Scienze e Lettere (Classe di Lettere e Scienze Morali e Storiche) 1906, 1003-1010, 1008). Interessant ist dabei auch die Gruppierung der Namen: So nennt Sokrates zuerst Minos, Rhadamathys, Aiakos und Triptolemos (41a3f.) als Gerechte, die Dichter Orpheus, Musaios, Hesiod und Homer (41a6f.), Palamedes und Aias des Telemons Sohn (41b2f.), die wie Sokrates Opfer ungerechter Urteile wurden, sowie Agamemnon, Odysseus und Sisyphos. Die letzte Personengruppe lässt sich nicht so leicht in ein Schema einordnen. Sind es vielleicht Helden, denen ein hartes Schicksal zuteil wird? Aber Sisyphos gilt als Frevler, der sein hartes Los in der Unterwelt selbst verursacht hat. Auffällig ist, dass Sokrates und Odysseus nicht durch die Konjunktion „und“, sondern „oder“ verbunden sind, was vielleicht eine Abgrenzung zum anrüchigen Sisyphos ausdrücken soll. 508 Diese Stelle ist doch eher ironisch zu verstehen, wie aus der Bemerkung, dass Odysseus und Nestor ihre Anweisungen für die Rhetorik in Mußestunden im Feldlager vor Troja ausgearbeitet hätten. 171 teia wird Odysseus als Beispiel einer guten, d.h. reflektierten Lebensführung erwähnt. So wird im Phaidon (94d6-9) bei der Frage, ob die Seele eine Stimmung sei, zur Widerlegung dieser These ein Zitat aus der Odyssee angeführt (20.17f.), in dem Odysseus seine Seele zum Ausharren auffordert. Im Lebenswahl-Mythos zum Schluss der Politeia (X 620c3-d3) zeigt sich Odysseus, der durch Los als Letzter zur Wahl kommt und so nur aus übrig gebliebenen Lebensmöglichkeiten auswählen kann, mit der Lebenswahl eines von allen Staatsgeschäften entfernten Menschen sehr zufrieden, da er durch seine Erlebnisse von allem Ehrgeiz kuriert ist. Wenn auch diese fiktive Lebenswahl postmortal ist, so zeigt doch Odysseus wieder sein Reflexionsvermögen, das einem Achill abgeht. Diese reflektierte Lebensführung ist der Grund dafür, dass Odysseus auch im Kreis der Sokratiker als positives Beispiel dargestellt wird. In den Memorabilien (1.3.7) lobt der xenophontische Sokrates, dass Odysseus sich aufgrund seiner Enthaltsamkeit ( ) nicht den Ausschweifungen beim Gastmahl der Kirke hingegeben habe und deshalb nicht in ein Schwein verwandelt worden sei. Auch der Sokrates der Memorabilien (4.6.15) sieht - ähnlich wie der antisthenische - Odysseus als das Urbild des perfekten Redners, da er seine Argumentationen mit für alle Menschen einleuchtenden Gründen geführt habe. 509 Die antisthenischen und xenophontischen Darstellungen lassen es plausibel erscheinen, dass dieses positive Odysseus-Bild tatsächlich beim historischen Sokrates seinen Ursprung hat und Platon hier seinem Lehrer gefolgt ist. 510 Dafür spricht des auch, dass dieses positive Odysseus-Bild über die verschiedenen Philosophenschulen allgemein Verbreitung gefunden hat. 511 509 Die einzige negative Episode, die Sokrates über Odysseus anführt, erzählt er als Beleg für die Gefährlichkeit (Mem. 4.2.33) der Weisheit, da Palamedes deretwegen von Odysseus beneidet, verleumdet und zu Unrecht getötet wurde. Dieser Bericht wird interessanterweise durch ein legetai eingeschränkt, so als ob dies vom Berichtenden selbst angezweifelt würde. 510 C ALDERINI sieht dies als Bestätigung für die These, dass der Hippias Minor zu den Frühschriften zählt, da Platon hier sich besonders nah an Sokrates orientiert (Idem, Ulisse ed Achille in Platone, 1010). Er fragt vorsichtig weiter: „Non potrebbe anzi per avventura essere questa una prova, sia pure indiretta, ma di qualche valore, per appoggiare l’autenticità del dialogo platonico? ” 511 Ein sehr positives Odysseus-Bild findet sich bei Cicero. In De officiis 1, 31, 113 plädiert Cicero dafür, dass es jedem am besten anstehe, seine Eigenart zu bewahren und nicht anderen nachzueifern. In diesem Zusammenhang führt er Odysseus als Beispiel des Dulders an, der sich leutselig und liebenswürdig zeigte und in seiner Heimat sogar Beschimpfungen von Sklaven und Mägden ertrug, während ein Ajax nach dem ihm beigelegten Wesen lieber den Tod als das hätte erleiden wollen. Beide Verhaltensoptionen erscheinen nach dem jeweiligen Charakter als gleich angebracht (Interessant ist hier auch der Vergleich zweier homerischer Helden und die Bewertung aufgrund von Charaktereigenschaften, was wieder einmal zeigt, dass das eine in der Antike übliche Praxis war). Im selben Buch (3, 26, 97) nimmt Cicero Odysseus gegen 172 (3) Damit steht nur noch die Frage aus, inwieweit die sokratische Homer-Exegese Fragestellungen der damaligen Debatte aufweist oder aus dem Rahmen der zeitgenössischen Interpretation fällt. Der Scholien-Befund zu den von Sokrates herangezogenen Homer-Passagen ist durchweg negativ. Es wurde in den sonst so dissonanzkritischen und harmonierungsbestrebten Scholien bei Achill kein Widerspruch zwischen Wort und Tat gesehen, zwischen der zweimal angekündigten Abfahrt nach Phthia und seinem weiteren Verbleiben an der trojanischen Küste. Das Scholion T (ad Il.9.357) sieht in der Zeitangabe „morgen“ eine Dramatisierung zu (Il. 9) Vers 240, in dem Odysseus Achill berichtet, dass Hektor sehnlichst den nächsten Tag erwarte, um seinen Plan zu verwirklichen und die Schiffe der schwer in Bedrängnis geratenen Griechen anzuzünden. Mit der Ankündigung seiner morgigen Abreise vereitle Achill alle Hoffnung der Griechen auf Rettung, die sein Eingreifen in das Kampfgeschehen mit sich brächte. 512 In Vers 359, der Odysseus angekündigt, er könne den abfahrenden Schiffen hinterher schauen, wenn er wolle, sieht der Scholiast Spott, dass dieses Hinterherschauen bald vom Feind verunmöglicht würde. 513 Aus dem Befund der Scholien lässt sich ex silentio argumentieren, dass dieses von Sokrates aufgeworfene Problem in der damaligen Homer-Exegese nicht diskutiert und demnach auch nicht als solches gesehen wurde. Dafür spricht auch, dass Hippias diese Auslegung für schlichtweg unseriös hält und sofort eine Erklärung für Achills Verhalten gibt (370e5-9). Wir dürfen daher den Vorwurf der Verschlagenheit bei den Dramatikern in Schutz, - in einer verloren Sophokles-Tragödie wird berichtet, er habe Wahnsinn simuliert, um sich dem Trojanischen Krieg zu entziehen - indem er darauf verweist, dass diese Episode vom besten Gewährsmann Homer nicht tradiert wird. In den Tusculanen (2, 21, 48; 50) dient Odysseus, der sapientissimus Graeciae genannt wird, als Beispiel der Herrschaft der Vernunft über die Affekte, wenn der verwundete Odysseus seinen Schmerz bezähmt. In De finibus (5, 18, 49) bedient sich Cicero sogar der Allegorese 511 und deutet den Sirenen-Gesang als Verlockung des Wissens, das den Helden von seiner Heimreise abzubringen droht. Ein großes Odysseus-Lob zollt auch Horaz in seinen Episteln (I, 2, 17-26). Dort sieht er in Odysseus ein exemplar von virtus und sapientia, der sich praktisch bei der Eroberung Trojas bewährte, auf seinen Fahrten viele Länder und Sitten erforschte und sich nicht von den Widrigkeiten des Schicksal besiegen lässt, sondern für seine Heimkehr und die seiner Gefährten sorgte. Auch hier wird die Kirke- Epidsode als die Gefahr eines triebhaften Lebens allegorisiert, dem der selbstberrschte Odysseus im Gegensatz zu seinen Genossen nicht verfiel. Ähnlich das Odysseus- Bild beim Stoiker Seneca, der zusammenfassend über Odysseus und Herkules erklärt: „Hos enim Stoici nostri sapientes pronuntiaverunt, invictos laborisbus et contemptores voluptatis et victores omnium terrorum“ (De constantia sapientis 2,2). 512 „ “ 513 (sch T ad Il. 9. 359). 173 mit guten Gründen Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieses Arguments hegen. Bisher haben wir die Frage nach der Zulässigkeit der von Sokrates vorgenommenen Übertragung und des daraus resultierenden Schlusses ausgeklammert. Im folgenden Kapitel wollen wir die formale Gültigkeit dieser Argumentation und ihre Valenz für den Diskurs überprüfen. 3. Schluss und Schlüssigkeit der Argumentation In der ersten Argumentation (369d7-b7) wird das Resultat der vorherigen Untersuchung auf den konkreten Fall übertragen: (I) Der pseudēs und der alethēs sind (in Bezug auf die dynamis) gleich. (II) Achill (a) ist ein alethēs und Odysseus (b) ist ein pseudēs. (III) Also sind Achill und Odysseus (in Bezug auf die dynamis) gleich. Die Gültigkeit dieser Übertragung hängt davon ab, inwieweit der vorherige Schluss gültig ist und die Univokation der relevanten Termini gewährleistet ist. Wenn dies der Fall ist, muss der Schluss als formal korrekt angesehen werden. Gleichheitsaussagen sind immer mit Relationalität verbunden, d.h. mit der Frage gleich in Bezug auf was? Wenn wir zunächst die dynamis annehmen 514 , ist der Schluss formal gültig. Es stellt sich dann die Frage, welche Bedeutung dieser Schluss für das Beweisziel des Dialoges hat. Die Ausgangsthese war, dass die Ilias ästhetisch höherwertig (ameinōn) als die Odyssee sei. Als Entscheidungskriterium fungierten dabei die als tropos-Terme pseudēs und alēthēs verstandenen Epitheta der Protagonisten der beiden Epen, wonach der pseudēs besser (ameinōn) sei als der alēthēs. Wenn nun Sokrates die Gleichheit von Odysseus und Achill unter dem Aspekt der dynamis auf die Ausgangsthese übertrüge, dann bliebe damit immer noch die Ausgangsfrage unbeantwortet, da damit nichts über den tropos ausgesagt wird. Der Schluss dieser Argumentation hätte demnach keine Relevanz für die Ausgangsfrage. Was Sokrates bliebe, wäre eine Neubestimmung des Entscheidungskriteriums, das Personen nicht mehr unter dem Maßstab von Tugend, sondern von dynamis bewertet. 515 514 In 369b5ff. findet sich bei keine Präposition mit Relationalausdruck (wie ). Wir nehmen aber, ausgehend vom principium caritatis, an, dass dynamis als Relation gemeint ist. 515 Das wird uns noch in 375d8ff. näher beschäftigen, wo Sokrates die Tugend der dikaiosynē in ihrem Verhältnis zu dynamis und epistēmē zu bestimmen versucht. 174 In der zweiten Argumentation (369e5-370e4) wird eine weitere Kategorie eingeführt: die der Handlung. 516 Sokrates stellt (1) die These auf, dass (a) Odysseus nirgends als Lügner erscheint, (b) Achill dagegen schon, (2) führt einen „Schriftbeweis“ mit Homer für (1b) an, (3) und zieht den Schluss, dass Achill und Odysseus im Hinblick auf Lüge und Wahrhaftigkeit und jeder anderen Tugend ( , 370e2f.) fast gleich seien ( , 370e4). Die hier nachgezeichnete Argumentation erweist sich aus zwei Gründen als sehr problematisch: (A) Wenn wir auch diesen Zusammenhang von Handlung und Charakter unterstellen, bleibt fraglich, warum Achill und Odysseus im Hinblick auf Tugend fast gleich sind ( , 370e4), wenn Odysseus niemals als Lügner erscheint. Müsste er nicht somit dem (vom Charakter) lügnerischen Achill überlegen sein? Eine mögliche Erklärung wäre, dass Sokrates zwischen einem Gelegenheitslügner, der doch eher wahrhaftig ist und nur manchmal zur Lüge greift, und einem Gewohnheitslügner, der oft und gern lügt, unterscheidet. (B) Die wohl wichtigste Wendung findet sich zum Schluss, wenn Sokrates sagt, dass es schwer zu entscheiden sei, wer von beiden besser ( ) sei im Hinblick auf Wahrhaftigkeit und Lüge und jeder anderen Tugend ( , 370e2f). An dieser Stelle sagt Sokrates also ausdrücklich, dass (i) ameinōn als Charakterbewertung aufzufassen ist und (ii) pseudos und alētheia zu den aretai (und nicht zu den dynameis) gehören. 517 Wenn dies rückwirkend gilt und auf alle pseudēs- und alēthēs - Aussagen zu beziehen ist, wird der Schluss, der nur unter der Voraussetzung, dass es sich um dynamis-Terme handelt, gilt, ungültig. Wenn es aber keine Rückwirkung gibt und dieser Gebrauch als tropos-Terme nur an dieser Stelle vorgesehen ist, so ist der Schluss zwar gerettet, aber der Nexus der Argumentation unverständlich. Es gibt aber keinen Hinweis auf solch eine Rückwirkung und es sieht vielmehr so aus, als ob Sokrates das erste Ver- 516 Der Schluss von den Handlungen auf die Haltung war gang und gäbe und stellt für den Griechen kein Problem dar, da Handlungen als Folge eines Charakters verstanden wurden. 517 Diese überraschende Kehrtwende fand in der Forschung fast überhaupt nicht Beachtung. Nur G IULIANO bemerkt dazu: „fa riferimento alla sfera della mendacia e della sincerità e alle altre componenti dell’ argomento, quest’ ultimo che non è stato invero mai affrontato. Quel nel vago (370e3-4) sembra apppostamente riecheggiare il precedente ” (Idem, L’O DISSEO IN P LATONE , 22). 175 ständnis dieser Terme zugunsten des zweiten fallengelassen hat. Damit liegt formallogisch kein Fehlschluss vor, wenn auch das Ergebnis der Argumentation irrelevant für die Klärung der Ausgangsfrage ist. Warum Platon seine Figur des Hippias diese Problematik nicht erkennen und warum er überhaupt Sokrates so argumentieren machen lässt, können wir nur richtig interpretieren, wenn wir dem Verlauf des Dialoges weiter folgen. C - Anmerkungen 368b6ff.: Zuerst der Ring […] wäre deine Arbeit […] und noch ein anderes Siegel Der Ring war damals Mode bei besonders Wohlhabenden und solchen, die gern auffallen wollten. Es wurde allerdings nur der Ring und nicht das Siegel getragen. 518 In der Steinschneidekunst bezeichnet man geschnittene Steine mit Bild oder Inschrift in vertiefter (bei Siegelsteinen negativer) Reliefarbeit als Gemmen und in erhabener Reliefarbeit ausgeführte als Kameo. Als Material diente häufig Chalcedon, Jaspis oder Karneol. 519 368c2: Badekratzer und Ölfläschchen Phraseologische Verbindung für Gegenstände des Alltagsgebrauches. Vgl. Aristophanes Frg. 139 und 207; Plutarch 2.59 und 2.461e. Diese Redewendung fand auch Eingang in die lateinische Sprache; vgl. Cicero, De finibus, 4.12.30. 520 518 Vgl. O. R OSSBACH , Gemmen, in: Paulys Real-Enzyklopädie der Classischen Altherthumswissenschaft, hg. von W ILHELM W ISSOWA , Stuttgart 1912, Bd. 7, Sp. 1052-1115, bes.1073. Vgl. Quintil. Inst. Orat. 12,11,21. 519 Vgl. M ICHAEL , S IMONE , Steinschneidekunst, in: Der Neue Pauly, Bd. 11, Sp. 944-950, bes. 945. 520 Während bei Aristophanes diese Alltagsgegenstände gleichsam einen Minimalbesitz bezeichnen (Frg. 207), bekommen sie bei Plutarch den Beigeschmack von unwichtigen Dingen. Bei Cicero hat diese Verbindung vollends die Bedeutung von Nichtigkeiten: ampulla enim sit necne sit, quis non iure optimo irredeatur, si laboret (De fin. 4.12.30). 176 368c8ff: Epen, Tragödien, Dithyramben sowie viele unaus gearbeitete und manche ausgearbeitete Vorträge Hippias war auf verschiedenen literarischen Gebieten produktiv tätig. Der Dithyrambos ist ein Chorlied zu Ehren des Dionysos. Die Etymologie ist seit der Antike umstritten, am wahrscheinlichsten dürfte die Rückführung auf Iambus (Zweischritt) und Triambus (Dreischritt) sein. 521 Der Dithyrambos wurde seit dem 5. Jahrhundert immer mehr musikalisch ausgestaltet, dazu gehörten Instrumental- und Vokalsoli sowie Modulation von einer Tonart in die andere. Unter den unausgearbeiteten ( ) Vorträgen sind wohl die Stegreif-reden auf Fragen zu verstehen, zu denen der Polyhistor Hippias aufgrund seines breiten Wissens fähig war, während es sich bei den ausgearbeiteten ( ) Vorträgen wohl um (schriftlich) nach den Regeln der Rhetorik konzipierte Reden handelte. 368d4: Rhythmus, Harmonie und Sprachrichtigkeit In den Dissoi logoi bezeichnet Harmonie ( ) den Wortakzent 522 , der signifikant für die Wortbedeutung ist: so ist z. B. Xánthos ein Eigenname, während xanthós für die Farbe Gelb steht (5, 11). Aus dem Zusammenhang der Dissoi logoi lässt sich weiter erschließen, dass Rhythmus ( ) - auch wenn der Terminus nicht direkt benutzt wird - die Silbenquantität meint 523 , die im Beispiel der Dissoi logoi den phonetischen Unterschied 521 Vgl. Z IMMERMANN , B ERNHARD , Dithyrambos, in: DNP Bd. 3, 699-701. 522 P FEIFFER sieht keinen Grund, warum harmonia im Hippias Minor wie in den Dissoi logoi als Wortakzent aufgefasst werden sollte und vertritt stattdessen die Bedeutung von „Tonarten“ (Idem, Geschichte der Philologie, 77). Der Vergleich mit der Hippias- Maior-Passage ( [285c9-d2]) zeigt aber einen gewissen Unterschied, der besonders im Ausdruck (Hp. Mi.) bzw. deutlich wird. Die orthotēs (Richtigkeit) der Buchstaben scheint einen anderen Aspekt zu meinen als deren dynamis (Kraft, Bedeutung). Auffällig ist weiter, dass syllabē nur im Hippias Maior genannt wird, so dass das Fehlen im Hippias Minor ein Hinweis auf ein anderes Verständnis des Trikolons sein könnte. Die Übersetzung „Rhythmus“ und „Harmonie“ ist bewusst neutral gewählt und trifft im Gegensatz zum Kommentar (der im Sinne der Dissoi logoi für „Wortakzent“ und „Silbenquantität“ optiert) keine Entscheidung. Auch sollen - pace P FEIFFER - Hippias nicht Innovationen auf dem Gebiet der Metrik und Prosodie abgesprochen werden, die sich als Frucht auf dem Gebiet der Akzent- und Quantitätslehre ergeben. 523 Vgl. T RIEBER , Die , 237. Während der Wortakzent die lautliche Hervorhebung einer Silbe ausdrückt, gibt die Silbenquantität über die Länge und Schwere - 177 zwischen der Stadt Týros ( ) und dem Wort für „Käse“ ( ) ausmacht (5,12). Sprachrichtigkeit ( ) würde dann also die Korrektheit der Buchstabenfolge bedeuten, denn durch den Austausch eines Buchstabens wird z. B. aus „kártos“ (Stärke) der Genitiv von Kopf (kratós) (5, 12). 368d6: deine Gedächtniskunst […] in der du glaubst am meisten zu glänzen Wenn Hippias zwar nicht als Erfinder der Mnemotechnik angesehen wurde, so war doch sein Gedächtnis geradezu sprichwörtlich. 524 Einen Einblick in die mnemotechnische Systematik des Hippias geben uns die Dissoi logoi, die, wenn sie Hippias auch nicht direkt wiedergeben, doch von ihm abhängig sind. 525 Im neunten Kapitel der Dissoi logoi gibt der Autor folgende Ratschläge 526 : 1. Konzentration und Verständnis des Stoffes erleichtern dessen Aufnahme (2). 2. Häufiges Repetieren prägt das Gelernte besser ein (3). 3. Etymologische Zerlegung von Namen oder Begriffen und Symbolbilder für Abstrakta sind ebenfalls hilfreich (4-6). 527 Herwig Blum sieht im letzen Punkt Hippias’ Beitrag in der Verfeinerung und Ausarbeitung der Mnemotechnik und insofern kann Platon zu Recht diese als sein technēma bezeichnen. 528 370c6: denn viel besser ist es Die Homer-Zitate des Hippias sind auch interessant für die Homer- Philologie, da sie teilweise andere Lesarten haben als die Ilias-Vulgata. Platon bietet für Il.1.169 mit eine andere Lesart als die Tradition der Ilias-Handschriften, die an dieser Stelle überliefern. Der These Victor Magniens, dass Platon mit eine im Attischen gebräuchlichere einer Silbe Auskunft. Es wird zwischen Naturlängen (hauptsächlich Vokalen) und Positionslängen (durch Konsonantenkumulationen) unterschieden. 524 Vgl. Aineias von Gaza p.11 Barth: … 525 Vgl. B LUM , H ERWIG , Die antike Mnemotechnik, Hildesheim 1961, 51. 526 Die eingeklammerte Zahl am Ende der einzelnen Punkte folgt der Zeilenzählung der Dissoi logoi-Ausgabe von Becker und Scholz. 527 Als Beispiele dienen hier die Zerlegung des Namens „Chrysippos“ in chrysos (Gold) und hippos (Pferd) sowie die Assoziation des Abstraktums „Tapferkeit“ mit Achill. 528 Vgl. B LUM , Die antike Mnemotechnik, 51. 178 Form als bevorzugt habe, hält Labarbe 529 entgegen, dass bei Platon nur (spärlich und) im Spätwerk 530 bezeugt sei. Auch die These, dass es sich dabei um eine in den Text gelangte Glosse handelt, wird von Labarbe verworfen: „[…] les savants anciens ne pensaient pas à comme à un équivalent possible.“ 531 Labarbe differenziert beim homerischen Wortgebrauch zwischen , einem besser im Sinne eines kleineren Übels, und , das ein besser im Sinne von vorzüglicher und passender meint; diese Lesart ist sinnvoller, aber auch veränderungsanfälliger. Labarbe nimmt für diese Lesart ein präalexandrinisches Ilias-Exemplar an, während unsere Manuskripte auf einer schlechteren oralen Tradition beruhen. 532 Wenn auch die Annahme eines guten präalexandrinischen Exemplars und einer schlechteren oralen Tadition sehr spekulativ sind, so ist doch m. E. die semantische Differenzierung zwischen und gut begründet und eine Erklärung für die vorliegende Lesart. 529 L ABARBE , L’Homère de Platon, 71. 530 Nur in Phil. 11b, Ep. VII 336c und Legg. VIII 628a. 531 L ABARBE , L’Homère de Platon, 72. 532 L ABARBE , L’Homère de Platon. 179 4. Das Übeltäterparadoxon und die Schlussaporie (370e5-373c5) A - Inhaltsangabe Hippias hält der sokratischer Homer-Exegese entgegen, dass Achill nicht hinterlistig, sondern unfreiwillig lüge, während Odysseus vorsätzlich und hinterlistig die Unwahrheit sage. Sokrates bezichtigt Hippias mit diesem Argument der Täuschung, da Achill viel geschickter beim Lügen sei als Odysseus. Denn Achill habe sich in Gegenwart von Odysseus widersprochen, ohne dass dieser es bemerkt habe. Achill habe nämlich zuerst Odysseus seine morgige Abreise angekündigt, später aber zu Ajas von seinem Bleiben und Wiedereingreifen in den Kampf gesprochen. Als Hippias Achills Verhalten mit der Gutmütigkeit des homerischen Helden erklärt und Odysseus dagegen böse Absicht unterstellt, kommt Sokrates zum Schluss: Odysseus sei besser als Achill, da die freiwillig Lügenden besser erschienen als die unfreiwillig Lügenden. Hippias lehnt diese Folgerung ab und verweist auf das Strafrecht, in dem die vorsätzlichen Übeltäter härter bestraft werden als die unvorsätzlichen. Sokrates selbst ist mit diesem Ergebnis unzufrieden und erklärt sein Schwanken zwischen der Position von Hippias, dass der vorsätzliche Übeltäter schlechter sei als der unvorsätzliche, und der gegenteiligen Konsequenz aus dem Elenchos. Er bitte daher Hippias, diese Verwirrung durch einen erneuten logos zu heilen. Auf Vermittlung von Eudikos erklärt sich Hippias bereit, die Untersuchung fortzusetzen. B - Interpretation 1. Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit der Lüge bei Achill und Odysseus (370e5-372a5) 1.1 Hippias‘ Argument: Achills Lügen sind unfreiwillig Der Homerexperte Hippias will die in der dialektischen Argumentation aufgetretene Problematik weiter auf dem Feld der Homer-Exegese lösen. In diesem Sinne kritisiert Hippias, Sokrates untersuche die Sache nicht richtig ( , 370e5). Hippias akzeptiert das sokratische (und auch normalsprachliche) Verständnis, wonach derjenige, der nicht die Absicht hat, seine Ankündigung zu verwirklichen, lügt. Als Er- 180 klärung für die nicht erfolgte Abreise Achills und zur Unterscheidung von den Lügen des Odysseus differenziert Hippias zwischen Achill, der (a) nicht aus Hinterlist ( , 370e6), sondern (b) unfreiwillig ( , 370e7), weil durch äußere Umstände gezwungen ( , 370e7f.), seiner Ankündigung nicht nachkommt und Odysseus, der (c) freiwillig ( , 370e8) und (d) aus Hinterlist ( , 370e9) lügt. Wenn wir Hippias’ Argument richtig verstehen und bewerten wollen, müssen wir zuerst drei Fragen klären: (1) Wie wurde freiwillig (hekōn) und unfreiwillig (akōn) damals normalsprachlich verstanden? (2) Inwieweit entspricht Hippias’ Wortgebrauch dem damaligen normalsprachlichen Verständnis? (3) Welche Indizien finden sich bei Homer, dass diese Argumentation von Hippias für Achills Verhalten gerechtfertigt ist? Doch bevor wir den normalsprachlichen Gebrauch von hekōn und akōn im Griechischen betrachten, müssen wir uns über die Bedeutungsnuancen des Wortfeldes absichtlich im Deutschen klar werden. Das Nomen Absicht wird normalsprachlich synonym zu Ziel verwandt. 533 Das Adjektiv oder Adverb absichtlich wird dann von einer Handlung ausgesagt, wenn deren Ereignis ein Wollen verwirklicht. Das Nomen Vorsatz wird in der Normalsprache häufig synonym zu Absicht gebraucht und bezeichnet einen aus Überlegung enstandenen Entschluss, „der nun auch für das spätere verhalten bindend sein soll, so dasz vorsatz eine selbstgegebene moralische Regel darstellen kann.“ 534 Die Bedeutung des Wortes Vorsatz hat im juridischen Bereich eine Begriffsverengung erfahren, „dasz ein besonderes gewicht auf die überlegung bei einem entschluss gelegt wird, wobei also zufällige einwirkungen […] ausgeschaltet werden […]“ 535 Eine Tat geschieht dann vorsätzlich, wenn beim Täter volle Kenntnis über die Tatsbestände und deren 533 Vgl. G RIMM , Wörterbuch, Bd. 1 Sp. 118. 534 G RIMM , Wörterbuch, Bd. 12 II Abt. Sp. 1440. Als Beispiele wären hier die guten Vorsätze zu Neujahr zu nennen oder der vom Poenitenten in der Beichte erwartete Vorsatz, die gebeichteten Sünden fortan zu meiden. Auch in der Psychologie bezeichnet der Vorsatz eine Absicht. Dabei wird zwischen Implementierungs- und Zielintention unterschieden. Unter Implmentierungsintention versteht man die Absicht, in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Verhalten zu zeigen nach der Form: Wenn Situation X eintritt, werde ich Verhalten Y an den Tag legen. Bei der Zielintention geht es um das Erreichen eines Handlungsergebnisses. Die Zielintention hat die Form: Ich will Z. Wenn eine Zielintention mit einer Implementierungsintention ausgestattet wird, erhöht sich die Erfolgswahrscheinlichkeit der Handlungsinstantiierung. Dieser terminologische Fachgebrauch ist zwar vom normalsprachlichen Verständnis von Vorsatz als Absicht geprägt, hat aber seinerseits keinen Einfluss auf das normalsprachliche Verständnis. Zur psychologischen Terminologie s. J OCHEN M ÜSSELER , Allgemeine Psychologie, Heidelberg 2008, 251-254. Zum Zusammenhang von Implementierungsintention und Zielintention s. P ETER G OLLWITZER UND V ERONIKA B RAND- STÄTTER , Implementation intentions and effectiv goal persuit, in: Journal of Personality and Social Psychology 73 (1997), 186-199. 535 G RIMM , Wörterbuch, Bd. 12 II Abt. Sp. 1443. 181 Rechtfolgen vorliegt. 536 Vereinfacht ausgedrückt spricht man in der Normalsprache von einer vorsätzlichen Handlung, wenn diese Tat juristischer Bewertung zugänglich ist. Während Absicht und Vorsatz unter dem Aspekt des Wollens einer Person ausgesagt werden, kommen beim Begriff der Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit die Umstände einer Handlung in den Blick. Normalsprachlich wird eine Handlung dann als freiwillig bezeichnet, wenn Abwesenheit von Zwang vorliegt und so eine Tat einer Person zugeschrieben werden kann. Unfreiwillig geschieht dementsprechend eine Handlung, wenn die Kausalkette der Ereignisse sich nicht ganz dem Täter zuschreiben lässt. Wir werden also von hekōn und akōn je nach Kontext von Absicht bzw. absichtlich, Vorsatz bzw. vorsätzlich oder Freiwilligkeit bzw. freiwillig sprechen und dementsprechend übersetzen. Wir verzichten damit bewusst auf eine einheitliche Übersetzung dieser Termini zugunsten eines kontextadäquaten und somit präziseren Ausdrucks. Nachdem wir die normalsprachlichen Bedeutungsnuancen im Wortfeld des deutschen absichtlich und unabsichtlich geklärt haben, wollen wir uns dem normalsprachlichen Gebrauch des griechischen hekōn und akōn zuwenden. (1) Im ionischen Epos wird zwischen dem gefühlsmäßigen Begehren, dem Wollen im Affekt, das ethelein heißt, und dem verstandesmäßig überlegten Wollen, das mit boulesthai ausgedrückt wird, unterschieden; der Ursprung des ethelein liegt im thymos und somit im Bereich, der für die irrationalen Haltungen zuständig ist, während der Ursprung des boules-thai im phren und somit im Bereich des Rationalen angesiedelt wird. Aber auch 536 Diese Aussage entspricht der juristischen Pauschaldefinition von Vorsatz als Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. Die Rechtswissenschaft differenziert viel feiner in einen direkten Vorsatz ersten Grades (dolus directus I), zweiten Grades (dolus directus II) und einen Eventualvorsatz (dolus eventualis). Als Vorsatz ersten Grades bezeichnet man die Fälle, in denen der Täter die Tatbestandsverwirklichung als Ziel (Absicht) in seine Vorstellung aufgenommen hat. Beim dolus directus I dominiert das Willenselement, die Wissensseite setzt jedenfalls ein Fürmöglichhalten des tatbestandsmäßigen Erfolges voraus. Unter den direkten Vorsatz zweiten Grades werden die Fälle gerechnet, in denen der Täter die Verwirklichung der Tatbestandsverwirklichung als sichere Folge in seine Vorstellung aufgenommen hat. Hier ist demnach das intellektuelle Moment vorherrschend, für das Willensmoment ist nur eine eine billigende Inkaufnahme notwendig. Der Eventualvorsatz beschreibt die Fälle, in denen der Täter den Erfolg der Tat für möglich hält. Umstritten war in der Fachliteratur vor allem das Willenselement. Hier wurde durch ein BGH-Urteil Abhilfe geschaffen, das vom Täter billigende Inkaufnahme des Taterfolges verlangt. Diese feinen Unterscheidungen spielen im normalsprachlichen Verständnis von Vorsatz keine Rolle. Der Nichtjurist verwendet diesen juristischen Begriff im Sinne der Pauschaldefinition. Zur juristischen Terminologie s. K ÜHL , C HRISTIAN , Strafrecht-Allgemeiner Teil, München 6 2008, § 5 Rn. 11f und S CHÖNKE / S CHRÖDER / S TERNBERG , Strafgesetzbuch. Kommentar, München 28 2010, § 15 Rn. 75. 182 das ethelein schließt nach R ICHARD M ASCHKE 537 das affektive Wollen aus, das zu Taten hinreißt, die man später bereut; ouk ethelein ist somit synonym zu (der im Ionischen noch nicht synkopierten Form) aekōn; das Gegenteil ist hekōn. 538 So gewährt Zeus Hera widerwillig ( , Il. 4,43) das von ihm begünstigte Troja zu zerstören und Ajax, vom thymos der Sorge bewegt, verlässt sehr ungern ( ’ , Il. 11, 557) die Schiffe der Griechen. In der attischen Tragödie wird akōn in Bezug auf Handlungen ausgesagt, die man ungern, besonders infolge eines wie immer gearteten Zwanges tut. Dieser kann in einer Notlage bestehen, wie Kreusa bei der Aussetzung Ions geltend macht 539 , oder in einem göttlichen Befehl wie bei Agamemnon und Iphigenie 540 , aber auch in einem Irrtum oder Verblendung 541 begründet sein. Wenn der sophokleische Ödipos von sich sagt, er habe nicht hekōn seine Mutter geheiratet 542 , so bedeutet akōn hier „juristisch ausgedrückt das Nichtwissen der (deliktisch relevanten) Tatbestandsmomente.“ 543 Als hekōn wird stattdessen eine Handlung bezeichnet, die weder durch Gewalt erzwungen oder durch List erschlichen ist 544 , sondern meist gern geschieht. 545 Daneben liegt im hekonta prattein der Moment des wissentlichen und überlegten Handelns. 546 Auch in der Komödie des Aristophanes findet sich der Gegensatz von hekōn - akōn willentlich und gern einerseits, gezwungen, besonders mit Gewalt, andererseits. 547 Daneben bezeichnet akōn auch die Unkenntnis eines für einen bestimmten Vorgang erheblichen Tatmoments. 548 Eine Schärfung der Terminologie ist wohl im juridischen Bereich aufgekommen. So wird der Angeklagte freigesprochen, weil er ouk hekōn eine falsche Urne gezeigt hat (Sph. 992) oder der Chor verspricht, nicht wissentlich von seiner Meinung abzufallen. Unwissenheit schließt - juristisch gesprochen - den Vorsatz aus und deshalb bedeutet hekonta ēlithiazein (Hipp. 1123f.) die Absicht, für die an anderer Stelle die 537 Idem, Die Willenslehre im griechischen Recht, Berlin 1926, 2. Der Rechtshistoriker Maschke bemerkt zum damaligen Rechtsverständnis: „Willensmängel wie Gewalt, Betrug, Zorn schließen die Freiwilligkeit und damit die Absicht aus. Rechtliche Folgen hat diese Trennung nicht, da der Schuldbegriff in jener Zeit keine Rolle spielt“ (ibid.). 538 Vgl. LSJ 27. 539 Vgl. Euripides, Ion 1499. 540 Vgl. Euripides, Iph. A. 1456. 541 Vgl. Euripides, Hipp. 1433f.; 1334f. 542 Vgl. O.C. 521; 964f. 543 M ASCHKE , Die Willenslehre im griechischen Recht, S. 55. 544 Vgl. Aeschylos, Pr. 218. 545 Vgl. Aeschylos, Agam. 38. 546 Vgl. Aeschylos, Pr. 265f. 547 Z. B. Lysistr. 223f. und Neph. 868. 548 Vgl. M ASCHE , Willenslehre im griechischen Recht, S. 57. 183 Formel ek pronoias (Hipp. 848) steht. 549 Für die negative Bestimmung der normalsprachlichen Extension von hekōn ergibt sich, dass eine Handlung dann als hekōn bezeichnet wird, wenn sie nicht akōn ist und weder aufgrund von Zwang in Form von Gewalt, einer Notlage oder Unwissenheit zustande kommt; oder positiv ausgedrückt, wenn sie willentlich und wissentlich geschieht. Inwieweit folgt Hippias diesem Wortgebrauch? (2) Hippias’ Argumentation beruht auf dem normalsprachlichen Wortgebrauch von hekōn und akōn, der vom iuridischen Denken beeinflusst ist. Achill handelt deshalb für Hippias akōn, da er nicht aus Hinterlist ( , 370e6) seine Ankündigungen nicht wahr macht, d.h. unter Verhehlung seiner wahren Absichten und mit der Absicht zur Täuschung, das ein Wissen um die tatrelevanten Umstände voraussetzt, sondern vielmehr von den Umständen gezwungen ( , 370e7f), die sich ohne sein (Vorher-)Wissen einstellten und die Erfüllung seines Versprechens vereitelten. Odysseus’ Lügen seien dagegen hekōn, da er mit Hinterlist, also mit der Absicht zur Täuschung, gelogen habe. Inwieweit hat diese philosophisch einwandfreie Differenzierung auch ihre sachliche Richtigkeit in der Homer-Exegese? Oder anders gefragt, wie erklärt die Ilias Achills Verhalten? (3) Bei Tagesanbruch (Il. 11. 1; 84) kommt es zum Kampf zwischen Griechen und Trojanern, in dem zuerst die Trojaner in die Defensive geraten. Auf Anweisung des Zeus hält sich Hektor solange vom Geschehen fern, bis Agamemnon verwundet wird, da er dann mit Hilfe von Zeus bis zu den griechischen Schiffen vordringen würde (Il. 11. 192ff.). Nach der Verwundung Agamemnons (Il. 11. 250ff.) wendet sich das Blatt für die Griechen und Achill, der mit einem erneuten Hilfsansuchen der Achaier rechnet, entsendet Patroklos, um von Nestor Näheres über die Lage der Griechen zu erfahren (Il. 11. 607-615). Nach seiner Rückkehr berichtet Patroklos über die zugespitzte Situation der Griechen (Il.16. 21-29) und bittet Achill, selbst auf Seiten der Griechen kämpfen zu dürfen. Achill erlaubt Patroklos die Teilnahme am Kampf unter der Vorgabe, er solle aber nur zur Sicherstellung der Rückfahrt die angreifenden Trojaner von den Schiffen fernhalten und sich nicht an der Bestürmung Trojas beteiligen (Il. 16. 76-100). Die Entwicklung der Ereignisse in der Ilias erlauben Hippias durchaus die Deutung, Achill sei durch eine Notlage an der Abfahrt gehindert worden. Da diese Umstände zum Zeitpunkt seiner Abfahrtankün- 549 im Sinn von Vorsatz und Überlegung, teilweise mit negativer Konnotation als Hinterlist, findet sich auch bei Herodot. So heißt es von Aristodikos, der die Vogelnester am Orakeltempel zerstörte, er habe (1,159, 3), um dem Gott die Unwürdigkeiten von dessen Spruch zu zeigen. Den Gegensatz zu bildet als Unkenntnis der Wahrheit oder als Mangel an Überlegung; so von Ariston, Demrats Vater, der die Ehelichkeit des Kindes bestritten hatte, er habe selbst erkannt (6, 69, 5). 184 digung unvorhersehbar waren, ist Achill auch vom Vorwurf der Lüge enthoben, da er damals tatsächlich die Absicht zur Abreise gehabt hat. 550 Hippias’ Argumentation scheint also auf den Einwand von 370b4-c3 und der dort zitierten Ilias-Stelle (9. 357-363) Antwort zu geben. Es bleibt aber noch das zweite Ilias-Zitat (1. 168-171) und die Frage, warum Achill seine dort gemachte Ankündigung der Abfahrt nicht in die Tat umgesetzt hat und ob dort auch (ein wie immer gearteter) Zwang die Ursache ist. Auf Achills Ankündigung seiner morgigen Abfahrt (Il. 1.169ff.) reagiert Agamemnon mit einer Schmährede (Vv. 172-185). Als Achill überlegt, ob er zum Schwert gegen Agamemnon greifen solle (Vv.189-192), hält Athene ihn davon ab und verspricht, dass Agamemnon ihm für die angetane Schmach noch Genugtuung leisten werde, wenn er sich dem Rat der Götter unterwürfe (Vv.213f.); Achill verspricht sich dem Willen der Götter zu fügen (Vv. 215-215). Wenn Achill auf Rat der Göttin seine Absicht ändert, um die von Athene verheißene Wiederherstellung seiner durch Agamemnon gekränkten Ehre zu erleben, so unterliegt er für den antiken Menschen durchaus dem Zwang der eusebēia, einer Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber göttlichen Ratschlägen. Hippias’ Erklärung mit einer Notlage, die eine Absichtsänderung von Achill erzwungen hat, erscheint vor dem Hintergrund der Ilias-Ereignisse durchaus plausibel. 551 550 P HILLIPS sieht auch hier den Ausdruck von Inkompetenz auf Hippias’ ureigensten Gebiet der Homerexegese, da er nicht imstande sei, Homerstellen zur Unterstützung anzuführen (Plato’s use of Homer in Hippias Minor, 28). Als Beispiel für solch eine Passage nennt P HILLIPS die Rede des Achill an Phönix (Il. 9.606-615) am Ende der Bittgesandtschaft, in der Achill seinem alten Erzieher ein Nachtlager anbietet und die Überdenkung des Abreiseentschlusses am nächsten Morgen in Aussicht stellt. Diese Passage scheint aus argumentationstaktischen Gründen eher kontraproduktiv, da sie auch dem Gegner ein vorzügliches Argument böte, dass Achill, der anders vor der Bittgesandtschaft als vor Phönix spricht, doch verschlagen sei. Daher ist Hippias’ Rekurs auf besondere Umstände, die Achills Bleiben bedingen, strategisch klüger, zumal diese sich auch am Text belegen ließen. Das Fehlen von Homerzitaten in Hippias’ Argumentation und die Initiative, die auf diesem Gebiet scheinbar an Sokrates übergegangen ist, lässt sich dadurch erklären, dass Hippias als Antwortender im Elenchus weniger zum Zug kommen kann, mit seinen Homer-Kenntnissen zu brillieren, als bei der Epideixis. 551 G USTAV A DOLF S EECKT bemerkt in seiner Einführung in Homer zu der Problematik: „In Platons Hippias wird die Frage gestellt, ob es eine Lüge sei, wenn Achill seine Abreise ankündige, aber doch bleibe. Tatsächlich kündigt Achill nichts an, sondern droht nur damit […] Es ist für die Handlung wichtig, daß diese Drohung im Raum steht und Agamemnon und die Griechen nicht darauf verzichten können, Achill werde auf jeden Fall wieder mitmachen“ (Idem, Homer. Einführung, Stuttgart 2004, 120f.). Es wird hier nicht klar, was S EECKT genau unter einer Drohung versteht. Wenn es der Versuch einer Beeinflussung der Griechen mit einer in Aussicht gestellten negativ sanktionierten Bedingung ist (Wenn nicht x geschieht, reise ich ab), wird nicht deutlich, worin das (von den Griechen geforderte) x bestehen sollte. Steckt dahinter aber der Plan, die Griechen durch die angekündigte Abfahrt in Angst zu versetzen, 185 1.2 Sokrates’ Schluss: Odysseus ist besser als Achill Gegenüber dieser Erklärung erhebt aber Sokrates Kritik, indem er Hippias selbst des Betruges ( , 370e10) und der Nachahmung von Odysseus bezichtigt. Dem von diesem Vorwurf völlig überraschten Hippias ( , 371a1) erklärt Sokrates, dass sich Achill im Flunkern als viel klüger erweise als Odysseus ( , 371a4ff.) 552 , da er sich selbst vor Odysseus widerspricht, ohne dass dieser Notiz davon nimmt. Hippias versteht diese Anspielung nicht (371b2) und auch der sokratische Hinweis, dass dieser Widerspruch ebenfalls bei der Bittgesandtschaft im 9. Buch der Ilias im Gespräch mit Ajax vorkommt (371b3ff.), hilft Hippias nicht weiter (371b6). An dieser Stelle wird der Homer-Experte Hippias von Sokrates geschickt in die Enge manövriert und mit der Frage „Weißt du nicht“ ( , 371b2) auf seinem Fachgebiet in Frage gestellt. Sokrates kann nun seine Homerkenntnisse präsentieren und zitiert als Beleg aus dem 9. Buch der Ilias die Rede Achills an Ajax (Vv. 650-655), in der Achill ankündigt sich solange nicht in den Kampf einzumischen, bis nicht Hektor seine Schiffe angreift. Ironisch fragt Sokrates, ob Hippias diesen Widerspruch zu Achills kurz zuvor angekündigten morgigen Abreise durch Vergesslichkeit erklären wolle ( , 371c6-d1) und nicht annehme, dass Achill aus böser Absicht ( , 371d5) gehandelt habe in der Meinung, den einfältigen 553 Odysseus ( , 371d5f.) im Ränkeschmieden so ist trotzdem die dazu getätigte Aussage wahrheitsfähig und sogar gelogen, wenn diese geäußerte Absicht nicht bestand, sondern nur vorgetäuscht wurde, um seine ehemaligen Kampfgenossen abzustrafen. 552 Aus dieser Formulierung kann man das indirekte Eingeständnis heraushören, dass Odysseus auch (wenn zwar nicht so wie Achill) etwas vom Täuschen verstünde. Damit widerspräche sich Sokrates (vor Hippias und würde gemäß seiner Behauptung Achill nachahmen), da er zuvor in Abrede stellt, dass Odysseus irgendwo als Lügner auftritt (369e5-370a1). Allerdings vermeidet es Sokrates, direkt von Lüge zu sprechen, sondern benutzt hier alozoneuomai, das eher ein Prahlen und nicht ganz bei der Wahrheit Bleiben bezeichnet. Dafür passt im Deutschen am besten das Wort Flunkern, das (vor allem bei Kindern) eine wahrheitswidrige Übertreibung ausdrückt ohne den pejorativen Charakter der Lüge. 553 Schleiermacher übersetzt archaios ebenso mit „einfältig“ wie wenig später hypo euētheias (371e1) mit „aus Einfalt“, so dass man im Deutschen an ein Derivat denken könnte. Platon verwendet hier aber bewusst nicht das für ihn positiv besetzte Derivat euēthēs. Vgl. C-Anmerkung 371e1 186 und Lügen zu übertreffen ( , 371d6f.). 554 Hippias antwortet auf dieses Argument, dass Achill aus euētheia, da er sich hat überreden lassen ( , 371e1), anders zu Ajas spricht als zu Odysseus. Odysseus dagegen, auch wenn er die Wahrheit sagt ( , 371e2f.), spricht ebenso wie bei der Lüge immer mit böser Absicht ( , 371e3). 555 Für die richtige Einschätzung des sokratischen Arguments und ein angemessenes Verständnis von Hippias’ Erklärung erweist sich ein Homer-Scholion als sehr aufschlussreich. Der Kommentator bemerkt zu dem (von Sokrates zitierten) Vers 651 aus dem 9. Buch der Ilias, dass Achill zu Odysseus noch rasend vor Zorn von seiner Abfahrt gesprochen habe, zu Phönix schon milder geworden eine Überprüfung seiner Abfahrt zugesagt habe (vgl. Il. 9.606-615) und Ajas aus Scham Hilfe versprochen habe (vgl. Il. 9.625-640), wenn die Feinde die Schiffe bedrohen (vgl. Il. 9. 650-655). Denn er wollte das Bündnis mit den Griechen weder hoffnungslos noch verwirklicht werden lassen, damit nicht die Ehrenkränkung durch Agamemnon als Bagatelle erscheine. 556 Der Scholiast konstatiert Widersprüchlichkeiten zwischen den verschiedenen Aussagen Achills. Die sokratische Beobachtung ist also durchaus begründet und wurde in der antiken Homer-Hermeneutik problematisiert. 557 Als 554 Sokrates gibt hiermit indirekt das Eingeständnis, dass sich auch Odysseus auf das Lügen versteht. Während er in 371a4ff. das Wort direkt auszusprechen vermeidet, fällt hier pseudesthai. Damit widerspricht sich Sokrates selbst vor Hippias, während er die angebliche Selbstwidersprüchlichkeit von Achill aufzeigt. 555 Das ist kein Widerspruch zum tropos-Verständnis von pseudēs. Der verlogene Mensch (lügt natürlich nicht immer, sondern) kann auch die Wahrheit sagen. Handlungsmotiv ist für ihn ebenso wie bei der Lüge die epiboulē, die Böswilligkeit zum Nachteil des anderen (Schleiermacher hat in seiner Übersetzung das „immer“ fallengelassen. Doch dies ist gerade wichtig, da es die Charaktereigenschaft zum Ausdruck bringt, da der pseudēs ständig so handelt). Aus diesem Grund handelt der pseudēs auch ethisch schlecht. Damit wird eine Lüge zum Vorteil des anderen nicht verworfen. 556 „ ( ), “ (Sch. ad. Il. 9.651 bT 40-46.). 557 Das Scholion bT greift auf den sog. Viermännerkommentar zurück, der eine Kompilation aus den (verlorenen) frühkaiserzeitlichen Grammatikern Didymos, Aristonikos, Nikanor und Herodian darstellt. Diese kaiserzeitlichen Kommentatoren referieren ihrerseits häufig den Alexandriner Aristarch (ca 216-144 v. Chr.) und stellen somit ein wichtiges Bindeglied zur alexandrinischen Homer-Exegese dar, die wiederum in der Tradition der klassischen Dichterauslegung steht. Wenn wir auch kein direktes Zeugnis aus platonischer Zeit haben, so lässt es doch die hier zu unterstellende 187 Erklärung für Achills widersprüchliche Ankündigungen werden unterschiedliche emotionale Befindlichkeiten herangezogen. Achill erscheint als ein von Affekten (wie Zorn und Scham) gelenkter Mensch, dessen Entscheidun-gen entsprechend wandelbar sind. 558 Hippias folgt einem anderen Erklärungsansatz. Für ihn ist es Achills euētheia, seine charakterliche Gutmütigkeit 559 , die ihn für Überredungsversuche zugänglich macht und eine allzu harte Entscheidung revidieren lässt. 560 Hippias’ Argument entkräftet einerseits den Vorwurf einer betrügerischen Absicht und lässt darüber hinaus Achills Entscheidungsänderung als positiven Beleg für einen guten Charakter erscheinen. Doch Sokrates’ Interesse liegt nicht auf dem Gebiet der Homer-Exegese. Er geht wieder zum Elenchus über und schlussfolgert, dass Odysseus besser sei als Achill (371e4f.). Der Schluss beruht auf zwei Prämissen: (A) Die freiwillig Lügenden sind besser als die unfreiwillig Lügenden 561 ( , 371e7f.). (B) Odysseus lügt freiwillig und Achill unfreiwillig. Die Prämisse (A) ergibt sich aus den von Hippias zugestandenen Homologoumena: (1) Der Weiseste und Tüchtigste ist auch der Beste auf einem Gebiet (vgl. 366d6-9). (2) Der Weise auf einem Gebiet unterscheidet sich von einem Unverständigen dadurch, dass er immer, wenn er will, (freiwillig) lügen kann, während der Unverständige auch unfreiwillig lügt (vgl. 366e6-367a4). 562 Die Prämisse (B) stammt aus Hippias’ eigener Argumentation (vgl. 370e6-10). Kontinuität der antiken Auslegungstradition sehr wahrscheinlich erscheinen, dass diese Frage diskutiert wurde. 558 Diese Deutung kann durchaus aus der philosophischen Forderung nach Affektenkontrolle verstanden werden. 559 Schleiermachers Übersetzung „Einfalt“ ist unpassend, da es nicht Naivität ist, weshalb sich Achill überreden lässt, sondern die inständigen Bitten seiner alten Gefährten, denen sich Achill nicht verschließen kann. 560 J ANTZEN bemerkt dazu: „Achill handelt auf merkwürdige Weise unfreiwillig […] ihn bezwingt die unglückliche Lage des griechischen Heeres, Achill erweist sich in der Hingabe an Stimmung und Situation zwar als derjenige, der er ist, aber zugleich handelt er nicht als er selbst“ (Hippias minor, 67). 561 Für E RLER (Der Sinn der Aporien, 127) hat hekōn die Bedeutung von dynatos übernommen. Das ist insofern missverständlich als schon immer eine Interdependenz dieser beiden Begriffe besteht. Wer dynatos ist, tut immer wenn er will, was er will. Wer hekōn handelt, tut, wenn er handelt, was er will, ohne durch Unwissenheit oder Zwang eingeschränkt zu sein. 562 „Ist so die Wahrspruchmächtigkeit als Vorzug deklariert, so folgt, daß der Mangel der Wahrspruchmächtigkeit einen Wertmangel bedeutet“, wie K RAUS richtig feststellt (Platons Hippias Minor, 18). Zur dynamis als Vorzug vgl. Aristoteles, Topik IV, 5, 126a24: „Auch Gott und der tugendhafte Mann kann das Schlechte tun, aber sie sind nicht solche, sie sind nicht schlecht. Denn alle Schlechten heißen so nur auf Grund freier Wahl. Auch ist jedes Vermögen etwas Wünschenswertes, weshalb wir es auch 188 Hippias ist mit dem Ergebnis unzufrieden (371e6). Doch anstatt die Prämissen und die Gültigkeit der Schlussfolgerung einer Überprüfung zu unterziehen, führt Hippias ein common-sense-Argument gegen den Schluss an. Er rekurriert auf die private und forensische Praxis 563 , die unvorsätzlichen Übeltätern im Gegensatz zu vorsätzlichen Nachsicht ( , 372a2) und geringere Strafen zuteil werden lässt. Die Sekundärliteratur 564 hat genügend die Schwäche des Arguments unter Hinweis von Platons Ablehnung von öffentlicher Meinung 565 zur Begründung von Thesen und den internen Spielregeln 566 des Elenchus herausgearbeitet. Dennoch liegt dem Argument eine richtige Intuition zugrunde, die als Maßstab für Bewertungen von Handlungen nicht auf die Kriterien von epistēmai und dynameis zurückgriff, sondern auf den dafür üblichen Bereich der iudikalen Gepflogenheiten verweist. 567 Sokrates antwortet nicht auf dieses Argument, sondern geht über zu einer Reflexion seines Vorgehens und des Ergebnisses. 2. Sokrates’ Aporie und die neuerliche Untersuchung (372a6-373c5) Im Unterschied zu den vorherigen methodologischen Ausführungen von Sokrates (369d1-e2), mit denen sich Sokrates gegenüber der Kritik von Hippias am sokratischen Elenchus rechtfertigt (369b8-c8), reflektiert Sokrates hier von selbst sein Vorgehen. Im Gegensatz zu damals hat es Sokrates auch nicht mit einem Hippias zu tun, der vor einer offenen Aporie steht (369b3-7), sondern mit einem Sophisten, der sich mit dem Rekurs auf ein common-sense-Argument vor einem Paradoxon (371e7f.) sicher glaubt. Gott und dem tugendhaften Mann beilegen, indem wir erklären, sie seien vermögend das Schlechte zu tun.“ 563 Man könnte hier auch an die Unterscheidung von Naturrecht und positivem Recht denken, die in diesem Fall konvergieren. Es ist sicher kein Zufall, dass der Naturrechtsvertreter Hippias diese Übereinstimmung als starkes Argument versteht. Daher erscheint es sehr plausibel, dass diese Heranziehung der forensischen Praxis zur Lösung philosophischer Fragen dem Denken des historischen Hippias entsprach, wie auch die Dissoi logoi nahe legen. Dort wird die Identität von Lügner und Wahrhaftigen mit Berufung auf die Praxis der Gerichte verworfen. Vgl. auch U NTERSTEINER (The Sophists, 281), nach dem Hippias überhaupt eine grundsätzliche Übereinstimmung von Naturrecht und positivem Recht vertritt. 564 So E RLER (Sinn der platonischen Aporien, 128) und J ANTZEN (Hippias minor, 69) 565 Vgl. Crt. 44c6-d10; Laches 184e1-10; Grg. 473e2f. 566 Vgl. Grg. 474a5ff. 567 Auf diesem Gebiet darf die Meinung der Menge nicht unterschätzt werden. So wird doch der Menge bei all ihrer Schlechtigkeit ein richtiges Iudiz bei der Beurteilung anderer attestiert (vgl Leg. XII 950b6-c3). 189 Sokrates will ihn in dieser Reflexion mit der Tragweite der Aporie konfrontieren. Die sokratische Reflexion weist an dieser Stelle starke Parallelen zum vorherigen sokratischen Methoden-Diskurs auf. Bei beiden steht der fragende Sokrates im Fokus. Während dort aber Sokrates die Systematik des elenchischen Fragens ( , 369d4f) methodologisch erläutert, erklärt er dies hier geradezu entschuldigend als Eigenart von ihm ( , 372a6-b1). 568 Der fragende Sokrates hat in beiden Darstellungen seinen Ursprung im nichtwissenden Sokrates. Der nichtwissende Sokrates erkennt dort Hippias’ Überlegenheit an (369d1) und sieht hier den Dissens mit den allgemein als Weise angesehenen Sophisten ( , 372b5) als Beweis für seine Unverständigkeit 569 ( , 372c1). Die sokratische Unwissenheit ist in den frühen Dialogen auch die Triebfeder der sokratischen Untersuchungen. In der Apologie rechtfertigt Sokrates sein Vorgehen mit der Überprüfung des Orakelspruches, dass ihn zum Weisesten seiner Mitbürger erklärt (21a6f.). Dabei hatte sich herausgestellt, dass die Weisheit der vermeintlich Weiseren nichtig ist und seine größere Weisheit eben darin besteht, sein Nichtwissen anstelle eines Scheinwissens zuzugeben (21d6-e2). Solch ein Vorgehen verschafft Sokrates nicht nur unter den von ihm als Scheinwissenden Überführten Feinde, sondern ihm wird mit dieser Methode der Vorwurf gemacht, dass er selbst nichts positiv aussage, sondern rein negativ sich auf das Widerlegen beschränke (Tht. 150c5ff.). Diese Vermeidung positiver Aussagen und das offen bekannte Nichtwissen sind auch Zeichen für die sokratische Lernbereitschaft. Die sokratische Lernbereitschaft wird sowohl in jenem Abschnitt ( , 369d4; , d5f; ’ , 369e2) als auch in dieser Passage ( , 372c2ff.) besonders betont. Der lernwillige Sokrates zeigt sich frei von Eigendünkel und ist all seinen Lehrern dankbar 570 ( , 372c5ff). Wenn Sokrates an dieser Stelle sein Nichtwissen und seine Lern- 568 Das Wort liparēs bedeutet ursprünglich „klebrig“. Sokrates stellt sich also als eine „Klette“ im Fragen dar. 569 Das Substantiv amathia ist das Gegenteil zum Substantiv sophia wie das Adjektiv amathēs das Gegenteil ist von sophos (365e13f.) 570 M ICHAEL E RLER sieht hier keinen Ausdruck sokratischer Bescheidenheit oder Ironie, sondern erklärt dieses Verhalten vor dem Hintergrund der Anamnesislehre, nach der jede Seele schon über alles Wissen verfügt und nur davon entbunden zu werden braucht (Der Sinn der Aporien, 91). Meines Erachtens erscheint die Annahme einer so schwierigen metaphysischen Theorie wie der Anamnesislehre ohne jeglichen Texthinweis verfehlt. 190 bereitschaft gegenüber dem Hippias hervorhebt, so darf hier nicht die gleicher-maßen bekannte wie völlig unbestimmte sokratische Ironie vermutet werden. Wir müssen vielmehr vor dem Hintergrund des sokratischen bios philosophikos einen ernst gemeinten Appell nach einer Überprüfung des sophistischen Wissensanspruchs sehen. Mit dieser Erklärung und gleichsam Entschuldigung für sein Verhalten leitet Sokrates seinen Dissens zu Hippias’ These ein und setzt dazu antithetisch die Konsequenz aus dem Gesagten: Dass diejenigen, die andere vorsätzlich schädigen, Unrecht tun, belügen und betrügen ( , 372d5f), und sich vorsätzlich verfehlen ( , 372d6), besser seien als die, die das unvorsätzlich tun ( , 372d7). Damit hat Sokrates auch an dieser Stelle das zweite Paradoxon dieses Dialoges eingeführt. Sokrates’ Vorgehen macht zwei wichtige Punkte deutlich: Erstens ist das Paradoxon organisch aus der Überlegenheitsthese der freiwilligen Lügner (371e7f.) und der gemeinsam erzielten Definitionen des Lügner-Terms hervorgegangen (371e9-372a2). Zweitens akzeptiert Sokrates damit ausdrücklich Hippias’ Interpretation des Lügner-Terms. Wenn die Lügner mit den Übeltätern auf eine Stufe gestellt werden, dann kann es sich beim Lügner-Begriff nach Hippias’ Interpretation nicht um eine (ethisch) indifferente dynamis, sondern um einen tropos-Term handeln. 571 Sokrates zeigt sich im höchsten Maß verunsichert über den Schluss und betont sein Schwanken 572 ( , 372d8) und sein Nichtwissen ( , 372e1). 573 Mit dem Ausdruck „Anfall“ 574 ( , 571 Da greift auch der mögliche Einwand nicht, dass es sich mit adikountes und kaka ergasamenoi nicht um Charaktereigenschaften, sondern um Personen, die bestimmte Akte ausführen, handelt. Demgegenüber lässt sich einwenden, dass die Antike Handlungen als Ausdruck von Charaktereigenschaften versteht. Aber auch wenn wir annähmen, dass damit nur Personen, die die genannten Handlungen ausführen, gemeint sind, so sind diese aufgrund ihrer Handlungen einer ethischen Bewertung (von „besser“ oder „schlechter“) zugänglich und unterscheiden sich somit von Personen, die nur einer ethisch indifferenten Unterscheidung (von „besser“ und „schlechter“) in Bezug auf eine dynamis unterliegen. 572 J ANTZEN und G IULIANO (L’Odisseo di Platone, 21 Anm. 25) sehen hier eine Anspielung auf die Irrfahrten des Odysseus. Vgl. Od. 1, 75, wo es heisst, Poseidon wolle Odysseus nicht töten, sondern ihn vor der Heimat herumirren lassen: ’ . 573 Das polyseme Wort Schwanken ( ) erlaubt einen breiten Interpretationsspielraum, der in seiner Offenheit von Sokrates intendiert ist. Bedeutet das griechische Wort planaomai im wörtlichen Sinn ein Umherirren von physischen Objekten (vorzugsweise Menschen oder Tieren), so ist im übertragenen Sinn ein Schwanken und sich Täuschen gemeint, wobei es in Bezug auf die Rede auch tadelnden (hin- und herreden, nicht die Wahrheit sagen) konstatierenden (abschweifen; widerspruchsvolle Äußerungen tun) und lobenden Ton (sich redend der Situation anpassen) haben 191 372d4) bedient sich Sokrates zudem einer medizinischen Metaphorik 575 , die das eben aufgestellte Philosophem pathologisiert. Sokrates diagnostiziert die vorangegangenen logoi als Krankheitsursache ( , 372e4f.) und bittet Hippias um seine Hilfe bei der Heilung ( , 372e7). Die Therapie der Seele von Unwissenheit ( , 373a1f.) bewertet dabei Sokrates höher als die des Leibes von Krankheit. Diese Passage weist Parallelen zum Charmides (156e1-157a1) auf. 576 Auch im Hippias baut Sokrates auf die heilende Kraft der Argumente und verordnet sich eine logoi-Therapie, wobei er vor einer Anwendung der bei ihm wegen ihrer langen Reden erfolglosen Epideixis warnt (373a2ff.) und zu der Beibehaltung des Elenchus rät (373a4f.). 577 Sokrates scheint dabei von dem der antiken Medizin geläufigen Ähnlichkeitsprinzip (similia similibus curentur) auszugehen, nachdem das für eine Krankheit verantwortliche Gift auch als Antidot benutzt wird: Da kann. Beim Urteil ist es - wie in unserem Fall - meistens dem eidenai entgegengesetzt und synonym zum aporein. Das planaomai ist also symptomatisch für die Dialektik, in der Sokrates’ Nichtwissen zur Sprache kommt und die sich als nach den verschiedensten Richtungen offen erweist, „denn wohin der Logos uns wie ein Wind treibt, auf diesem Weg müssen wir gehen“ (Resp. 394d). Zum Lemma mit umfangreichen Belegen s. H ERBERT B RAUN in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 6, 230-254. Zum Wortebrauch bei Platon s. L OEWENCLAU , I LSE VON , Die Wortgruppe in den platonischen Schriften, in: H ELLMUT F LASHAR / K ONRAD G AISER Hg., Synusia, FS für Wolfgang Schadewaldt, Pfullingen 1965, 111- 122, 116f. 574 Vgl. Grg. 519a4, wo der Polis eine katabolē als Folge eines Mangels an Besonnenheit und Gerechtigkeit, die die Politiker zu fördern versäumt haben, prophezeit wird; katabolē wird bei Platon beide Male im Zusammenhang mit einer falschen Gesinnung in Fragen der Gerechtigkeit benutzt. 575 Medizinische Analogien finden sich auch bei den Sophisten. Vgl. B LONDELL , The Play of Character, S. 148 Anm. 168. 576 Dort berichtet Sokrates von einem thrakischen Arzt, der unter Berufung auf den göttlichen Thrakerkönig Zamolixeis die Lehre vertritt, nach der alle Güter und Übel ihren Sitz in der Seele haben. Um die Seele zu behandeln, muss man Besprechungen anwenden ( […] , 157a3f.), worunter schöne Reden zu verstehen seien, die in der Seele Besonnenheit hervorrufen und dann die Gesundung des Körpers bewirken. Der Ausdruck „Besprechungen“ ( ), der ursprünglich auf magische Praktiken verweist, wird von Sokrates als Metapher für sowohl positive als auch negative manipulative Argumentation verwandt. 577 Platon führt den Terminus erst in der Politeia ein. Dennoch ist die Methode nicht neu. Dass sich das im Wechselspiel von Frage und Antwort erfolgt, wird auch in den früheren Dialogen häufig thematisiert. Vgl. Crt. 50c8f.; Hp. Mi. 373a4-8; Euthyd. 275c2ff.; Prt. 335a9-b6; 336a5-b3, c4; Grg. 462a3f.; Men. 75d2-7. Vgl. S TEMMER , Platons Dialektik, 197. 192 ein Elenchus Ursache der Krankheit war, muss ein Elenchus zu deren Heilung herangezogen werden. Sokrates versichert sich für den Fall der Weigerung von Hippias (373a7f.) der Vermittlung von Eudikos, indem er ihn raffiniert an seine Anregung zum Gespräch mit Hippias erinnert (373a6f.). 578 Eudikos weiß seinerseits Hippias geschickt in die Pflicht zu nehmen, indem er ihn an sein Versprechen, Sokrates Rede und Antwort zu stehen, erinnert (373a10- 373b3). 579 Hippias erinnert sich an sein Wort, übt aber scharfe Kritik an Sokrates, dem er vorwirft, wie ein Übeltäter Verwirrung in die Argumentation zu bringen (373b4f.). Der Ton ist deutlich polemischer als im Vergleich zu 369b8-c2 und zielt nicht mehr auf methodische Kritik, sondern auf persönliche Vorwürfe. Sokrates macht sich retorsiv Hippias’ Vorwurf zunutze, indem er für sich Unfreiwilligkeit geltend macht und so nach Hippias’ These Nachsicht in Anspruch nehmen will (373b6-9). Hippias kann Sokrates die Nachsicht nicht verweigern, ohne sich in einen performativen Widerspruch zu seiner These zu bringen. 580 Eudikos enthebt Hippias der Verlegenheit einer direkten Antwort, indem er zum dritten und letzten Mal an dieser Stelle interveniert und sich für die Fortsetzung des Gesprächs durch Hippias einsetzt (373c1ff.). Diese diplomatische Intervention von Eudikos ermöglicht Hippias ohne Gesichtsverlust (quasi als Verpflichtung gegenüber dem gemeinsamen Be- 578 Vgl. 363a1-5; c3ff. H OLGER T HESLEFF (Studies in Platonic chronology, 221) sieht Parallelen zu anderen platonischen Dialogen (insbesondere Grg 458d), in denen die Diskussion vor einem dritten Zuhörer, der auch als Schiedsrichter fungiert, stattfindet. Doch Eudikos wirkt hier nicht als Schiedsrichter, sondern vielmehr als Vermittler, der in der Krise für die Fortführung des Gesprächs wirbt. 579 Vgl. 363c6-363d4. 580 J ANTZEN (Hippias minor, 72) sieht hier folgende Problematik: „Aber wenn Sokrates ein Betrüger ist, betrügt er über die Definition [sc. Der Vielgewandte ist ein Betrüger], die also falsch ist, und Sokrates ist zugleich auch kein Betrüger. Und wenn umgekehrt Sokrates kein Betrüger ist, ist die Definition richtig und Sokrates ist kein Betrüger.“ Diese Problematik ähnelt der des Kreter-Problems: Wenn du sagst, dass du lügst und die Wahrheit sagst, lügst du; wenn du aber lügst und die Wahrheit sagst, lügst du auch (vgl. Cicero, Acad. II 96, 30; De Divinat. II 11). Es wird aber nicht klar, wie es durch die Anwendung der Definition zu einem Widerspruch kommen sollte. Völlig unverständlich bleibt auch diese Argumentation: „Wenn Sokrates unfreiwillig handelt, entlastet ihn Hippias’ These, daß dem Schlechten Vorsatz unterstellt werden muß; und wenn Sokrates Vorsatz unterstellt wird, dann muß Sokrates’ These widerlegt werden (wenn sie denn falsch=schlecht ist! ). Aber wenn sie falsch und also richtig ist, daß die unvorsätzlich Handelnden besser sind, dann ist Sokrates erneut entlastet: Er hat seine These offenbar doch unvorsätzlich - ohne Wissen - geäußert (ebendies sagt er ja auch). Und wenn er die falsche These (sofern sie falsch ist! ) vorsätzlich behauptet hat, dann jedenfalls aus Wissen - und so wäre Sokrates wieder ins Recht gesetzt“ (Ibid. 76). 193 kannten) Sokrates weiterhin im Elenchus als Antwortender zur Verfügung zu stehen. Bevor wir weiter dem Elenchus folgen, wollen wir die bisher erreichten Ergebnisse einer genauen Prüfung unterziehen. 3. Ergebnisprüfung In diesem Abschnitt werden zwei wichtige Ergebnisse erzielt: I Odysseus ist besser als Achill (371e4f.). II Diejenigen, die freiwillig Unrecht tun (adikountes), sind besser, als die es unfreiwillig tun. Das Ergebnis I ist eine Schlussfolgerung aus den beiden Homologoumena, die als Prämissen fungieren: (A) Die freiwillig Lügenden sind besser als die unfreiwilligen Lügenden ( , 371e7f.). (B) Odysseus lügt freiwillig und Achill unfreiwillig. Das Ergebnis II ist eine Übertragung der Prämisse I A auf den Bereich der adikountes. An dieser Stelle gilt es sowohl die inhaltliche Gültigkeit des Schlusses (aufgrund richtiger Prämissen) als auch dessen formale Validität zu überprüfen. Dazu stellen sich drei Fragen: (1) Ist die Prämisse I A überhaupt nach dem Gesagten gegeben und der unfreiwillige Lügner nicht von vornherein ausgeschlossen? (2) Ist die Schlussfolgerung I formal korrekt und (3) und auch die Übertragung, die zu II führt, logisch zulässig? (1) Um die Prämisse I A zu überprüfen, müssen wir uns noch einmal die als Definitionen geltenden Homologoumena der Begriffe pseudēs und akon ins Gedächtnis rufen: (a) Die pseudeis sind dynatoi (365d6f.; 366b2f.). (b) Dynatoi sind solche, die das tun, was sie wollen, wann immer sie wollen (366b12-c5). (c) Adynatoi sind keine pseudeis (366b9ff.). (d) Akon handelt, wer aus Unwissenheit, Zwang oder Notwendigkeit, tut, was er tut. (e) Akontes können also (nach b) keine dynatoi sein. (f) Also sind akontes (gemäß c) keine pseudeis. Der Begriff des unfreiwilligen Lügners widerspricht der im Dialog entwickelten Lügner-Definition. 581 Hier hätte Hippias ansetzen und den Schluss aufgrund der falschen Prämisse verwerfen können. Es stellt sich 581 Vgl. W EISS , as , 295 Anm. 25. W EISS gibt zwar den Hinweis auf die Definition, ohne allerdings die Konsequenz daraus zu ziehen. 194 daher die Frage, wie Hippias den Begriff pseudēs verstanden hat, da er nicht intervenierte. Dabei ist zu vermuten, dass Hippias einen doppelten pseudēs- Begriff hat: Zum einen den faktischen Lügner, der unfreiwillig lügt und dessen Tat nach juridischem Verständnis wie andere unvorsätzliche Vergehen den Straftatbestand erfüllen, aber bei der Strafzumessung Milde erfahren. 582 Daneben aber auch den pseudēs als tropos-Term. Beide Begriffe wären einer ethisch-juridischen Beurteilung (beltious) zugänglich, wonach der habituelle pseudēs natürlich (sowohl in der ethischen als auch rechtlichen) schlechter ist als der unvorsätzliche Lügner, der faktisch auch lügt, aber nach beiden Kriterien besser bewertet wird. Diese Unterscheidung mag uns vielleicht erklären, warum Hippias nicht die Widersprüchlichkeit in der Begrifflichkeit des unfreiwilligen Lügners durchschaut hat, doch erhalten wir damit noch keine Auskunft, wie Sokrates den Begriff verstanden hat, was aber für die Frage nach der Gültigkeit entscheidend ist. Dazu konzedieren wir einmal, die Prämisse A sei akzeptabel und prüfen, ob unter dieser Voraussetzung der Schluss formal gültig ist. (2) Das ist dann der Fall, wenn wir weiter annehmen, dass es sich bei pseudēs und beltios um auf eine dynamis zugeordnete Terme handelt. Ein freiwilliger pseudēs ist beltios im Hinblick auf die dynamis zur Lüge, während der unfreiwillige pseudēs in diesem Sinn schlechter ist, da er nur aus Unwissenheit lügt. Für diese Interpretation sprechen sich Kraus und Zembaty 583 aus, die von einer Univokität des dynamis-Terms ausgehen und eine 582 Inwieweit dieses Konstrukt praktikabel ist, da es doch dem normalsprachlichen Verständnis dessen, was einen Lügner ausmacht, eklatant widerspricht, sei dahin gestellt. 583 Z EMBATY nimmt zwar auch eine univoke Verwendung von „besser“ an, will es aber weiter als W EISS ’ Verständnis im Sinne von „fähiger in x“ verstehen: „She [Weiss] is correct about the consistent use of ameinōn, as meaning ,more able or skilled’, in the Hippias’ Minor’s argument, but that argument is within a wider context in which part of what is at issue in the sense of the evaluative terms which are to be used in making comparative judegments about the inferiority/ superiority of human beings.” Z EM- BATY unterscheidet zwischen besser” „used in an unspecified sense but having to do with judgments about human excellence“ (BU) und einem „besser” im Sinn von „fähig sein zu x” (BA). Der Satz C1 von Sokrates (372d3-7) lautet dann: Diejenigen, die anderen Unheil bereiten und Übles tun vorsätzlich, nicht unvorsätzlich, sind BU als die, die es unvorsätzlich tun: Für C2 (372b1-373a9), das Sokrates als Gegenteil zu C1 formuliert und mit Hippias teilt, heißt es dann: Diejenigen, die anderen Unheil bereiten und unvorsätzlich Übles tun, nicht vorsätzlich, sind BU als die, die es vorsätzlich tun. Daher kommt es nach Z EMBATY zum sokratischen Schwanken: „Ich beschuldige aber die bisherige Argumentation (die BU als BA verstanden hat) an meinem jetzigen Zustand Schuld zu sein, da mir jetzt diejenigen, die das unvorsätzlich tun, schlechter (das Gegenteil von BU) erscheinen, als welche es vorsätzlich tun“ (372e3-6). „On this reading, Socrates’ expression of puzzlement here focuses attention on questions about the role played by statements using terms with a strictly dunamis sense in making judgements about human excellence” (Socrates’ Perplexity, 60). Es wird bei Z EMBATY nicht ersichtlich, inwieweit BU sich von einem dynamis-Term un- 195 Übertragung auf II auch für gültig halten. Auch in II sind dieser Interpretation zufolge diejenigen, die freiwillig Unrecht tun, gegenüber denen im Hinblick auf die dynamis überlegen (beltioi), die es unfreiwillig tun. Kraus sieht im Hinblick auf diese Überlegenheit noch eine wichtige Erweiterung durch das Wort „nur“ als nötig an. Denn bei denen, die nur freiwillig Unrecht tun, ist die Gewähr gegeben, dass sie, wenn sie wollen, gerecht handeln: „Dieser ist es, der nicht nur die Macht hat zu fehlen, sondern auch zu „treffen“. Ganz ebenso wie bei den . Weshalb auch die Berufung auf sie zutreffend ist.“ 584 (3) Unter diesen Umständen (eines univoken Verständnisses von pseudēs, adikountes und beltioi als dynamis-Terme) wären sowohl Schluss I als auch die Übertragung auf II formal korrekt. Dieser „therapeutische“ Eingriff von Sokrates, der aus tropos-Termini wie adikountes entgegen dem Hippiasschen Verständnis (das auch das normalsprachliche ist) und ohne jeden Hinweis für seinen Gesprächspartner dynamis-Begriffe macht, erscheint nicht sehr plausibel. 585 Auch stellt sich dann die inhaltliche Frage, inwieweit die Anwendung eines dynamis-Konzepts auf Personen, die Handlungen ausführen, die eher für die Beschreibung mit tropos-Termen geeignet sind, der Sache adäquat ist. Wenn es sich also um ein tropos-Verständnis handelt, ist natürlich die Übertragung II unzulässig und es stellt sich weiter die Frage, ob dieses Verständnis schon in I gegolten hat und somit auch dieser Schluss ungültig ist. Wenn wir das auch annehmen, stellt sich schließlich die Hauptfrage, was Sokrates mit terscheidet, ohne dabei ein tropos-Begriff zu sein, was aber die Spitze der Argumentation ausmacht. 584 K RAUS , Hippias minor, 19. K RAUS problematisiert den Begriff des freiwillig Fehlenden: „Er war ohnmächtig, sei es infolge seines Nichtwissens oder Nichtkönnens. Das was er gewöhnlich seine ,Handlung’ nennt, war nicht von ihm gewollt und daher kommt diesem Vorgange der Namen ,Handlung’ nicht eigentlich zu“ (Ibid. 20). Es verwundert daher, dass er die inkonsistente Begrifflichkeit des freiwilligen Lügners nicht genauer untersucht hat. 585 Positv für diese Deutung spricht, dass schon Sokrates den Rekurs auf die aretai eingeleitet hat ( , 370e2f) und es nicht verwunderlich wäre, wenn Hippias dabei bliebe. Diese These findet auch in dem sokratischen Schwanken eine starke Unterstützung, das ein wichtiges Indiz für die Fraglichkeit des Bewiesenen ist. Für eine unzulässige tropos-Interpretation dieses Terminus optiert auch M ULHERN . Unverständlich bleibt die nach M ULHERN damit korrespondierende Äquivokität des hekōn-Terms: (a) „is taken to indicate what is in our power, it is used of a -concept; (b) when it is taken to indicate what we (normally] wish or desire, it is used of a -concept ” ( and in Plato’s Hippias Minor, 288). Der Satz „Diejenigen, die hekōn Unrecht tun, sind besser“ würde dann entweder (a) „Diejenigen, die die dynamis haben, Unrecht zu tun, sind besser“ oder (b) „Diejenigen, die den Wunsch oder das Verlangen haben, Unrecht zu tun, sind besser“ bedeuten können. Doch M ULHERN versäumt es, Textbelege anzuführen, wann und wo sich diese Äquivokität findet. 196 zwei so gravierenden Fehlschlüssen intendiert. Diese Frage kann nur vom Hintergrund des sokratischen Tugendverständnisses, wie es weiter im Dialog entwickelt wird, beantwortet werden. C - Anmerkungen 371b8: des blutigen Kampfes gedenken Gedenken übersetzt hier , das alle Manuskripte der Ilias sowie TWS des Hippias minor führen. Die Handschrift F bietet das semantisch äquivalente . Homer kennt zwar sowohl das Aktiv als auch das Medium , benutzt aber dieses nicht im Sinne von „gedenken“. Labarbe sieht mit gutem Grund einen Majuskelfehler am Werk, der zu gemacht hat. 586 371c2: Myrmidonen Volk in der alten thessalischen Landschaft Phtia (der Heimat Achills), das als Gefolgsleute des Achill mit 50 Schiffen am Trojanischen Krieg teilnahm (Il. 2.683ff.). 371c3: und verbrennt die Schiffe Die wichtigsten Hippias-Handschriften TWF 2 haben hier für verbrennt die Lesart , während die Ilias-Manuskripte allgemein überliefern. Labarbe sieht als die originale Ilias-Version und vermutet, dass (das sich auf Hektor bezieht) durch das Epitheton (der Flammengleiche) 587 für Hektor entstanden ist. 588 586 Vgl. L ABARBE , L’Homère de Platon, 80. Dafür spricht auch indirekt das von Burnet angeführte (ablassen von etwas), das semantisch das Gegenteil dessen, was Achill ausdrücken will, besagt. Durch eine falsche (asperierende) Aussprache wurde zu 587 Vgl. Il. XIII, 53; 688; XVII, 88; XVIII, 154; XX, 423. 588 Vgl. L ABARBE , L’Homère de Platon, 83f. 197 371c4: Um mein Zelt aber Wir folgen mit dem Possessivpronomen mein der Lesart , die in TWS überliefert wird. Die Handschrift F hat hier die Partikel (aber), während die Ilias-Manuskripte geschlossen (also) bieten. Labarbe sieht als (plausible, wenn auch falsche) Originalvariante des Hippias, die gegenüber eine locutio facilior darstellt, da die Phrase nur einmal für die Ilias belegt ist (I 654), während die Verbindung 18mal in der Ilias 589 oder Odyssee 590 vorkommt, davon sechsmal am Versanfang. 591 371d1: Sohn der Thetis und der Zögling des hochweisen Cheiron Achill ist der Sohn der Göttin Thetis und des Sterblichen Peleus (daher sein Patronym Pelide). In der Ilias beklagt Thetis die Sterblichkeit ihres Sohnes, gegen die sie nichts machen kann, und versucht ihrem Sohn dafür ein ruhmvolles Leben zu verschaffen - weshalb sie nach der Ehrenkränkung durch Agamemnon für Achill beim Göttervater Zeus interveniert. Als Achill wieder in Kampf zieht, um seinen Freund Patroklos an Hektor zu rächen, sagt sie ihm voraus, dass er nach dem Sieg über Hektor fallen werde. Sie besorgt aber noch ihrem Sohn vor dem Kampf mit Hektor neue Waffen vom Schmiedegott Hephaistos (Il. 18. 35-147). Cheiron ist ein Kentaur und somit ein Mischwesen von Mensch und Tier. Im Unterschied zu den anderen unzivilisierten Kentauren gilt er als Zivilisationsbringer. Homer nennt ihn den „gerechtesten der Kentauren“ (Il. 11.832). Er ist heilkundig (Il. 4.199; 1.832) und erzieht zahlreiche Heroen wie Achill (Il. 11.832) in der Jagd- und Kriegskunst, der Medizin und der Musik. 371e1: sondern er spricht aus Arglosigkeit Unsere Übersetzung (und der Kommentar) folgt der Lesart und verwirft die (semantisch auch nahe) Variante (guter Gesin- 589 Vgl. Il. VI, 117 ; XIV, 473 ; XXIV, 588. Am Versanfang in Il. III 231; IV 90, 201; XV 153; XVI 414, 580. 590 Vgl. Od. III, 467 ; IV, 404 ; VIII, 455 ; X, 212 ; XI, 605 ; XIII, 434, 436 ; XVII, 65 ; XXIII, 155. 591 Vgl. L ABARBE , L’Homère de Platon, 84 ; 87. 198 nung). 592 Der kodikologische Befund spricht für , das in TWP überliefert wird, während sich nur in F (ante correctionem) und in einer Marginalie von W findet. 593 Die Variante erklärt Vancamp als Lesefehler der Unzialen in , der vielleicht von demselben Kopisten in Hippias Maior 293d8 ( F ac : TWP recte) und 301c7 ( F ac sine acc.: TWP recte) stammt. 594 Auch inhaltlich erscheint passender, da es eine allgemeine Charaktereinstellung beschreibt 595 , während eine momentane Disposition ausdrückt. 596 372a4f: Auch die Gesetze sind freilich viel härter gegen die, die freiwillig Böses tun und lügen Eine Unterscheidung von vorsätzlich oder unvorsätzlich bei der Tatbewertung kannte das archaische Recht der Griechen nicht. 597 So war bei einem Tötungsdelikt der Totschläger dem - möglicherweise ritualisierten - Racherecht der Familie des Opfers ausgesetzt. 598 Ihm konnte er sich durch Flucht entziehen. 599 Das Racherecht konnte durch Verzeihung (Aidesis), die in der Regel von der Bezahlung eines Wergeldes abhängig gewesen sein wird, abgelöst werden. 600 Erst die Drakonische Gesetzgebung brachte die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Nichtvorsatz bei der Strafzumessung. Bei unvorsätzlicher Tötung wird auf zeitweilige Verbannung er- 592 Gegen B URNET und J ANTZEN . 593 Die Note im kritischen Apparat müsste komplett so lauten: TWSF 3il : F ac W mg ( ist ein Hinweis, dass der Schreiber der Marginalie in W ein anderes Manuskript hinzugezogen hat). 594 Vgl. V ANCAMP , B RUNO , Réflexions à propos des Manuscrits des Hippias de Platon, in : Revue belge de philologie et d'histoire 79 (2001), 31-37, 33. Wenig überzeugend ist das Argument von G IULIANO (L’ Odisseo di Platone, 55), der g als Korrektur sieht, da eine pejorative Bedeutung bekommen hat. 595 Vgl. R. III 400d11-e4, wo Platon von ableitet. 596 Vgl. G IULIANO , L’Odisseo di Platone, 55. 597 Zwar tötet Odysseus Antinoos (Od. XXII, 1-33) vorsätzlich, die Verfolger halten aber diese Tat für unvorsätzlich ( XXII, 31); dennoch beschließen sie seinen Tod dafür. „This example indicates that there was no fundamental difference in the treatment of intentional and unintentional homicide in the epics.[...]”, wie M I- CHAEL G AGARIN festellt (Idem, Drakon and the early Athenian homicide law, London u.a. 1981, 11).Vgl. D IETER N ÖRR , Zum Mordtatbestand bei Drakon, in: Idem, Historiae Iuris Antiqui, hg. v. T IZIANA J. C HIUSI / W OLFGANG K AISER / H ANS -D IETER S PENGLER , Bd. 3, Goldbach 2003, 1535*-1557. 598 Vgl. Od. III, 196f.; XXIII, 118-22. 599 Vgl. Od. Il. IX, 632-36; Od. XXIII, 118-22. 600 Vgl. Il. IX, 632-36. 199 kannt, die, wie das Gesetz weiter ausführt 601 , nach Übereinkunft mit den Angehörigen und Erlaubnis der Behörden aufgehoben werden kann. Es stellt sich die Frage, ob Drakon zwischen einem Tötungsdelikt mē ek pronoias ( ) und akōn/ akousios ( / ) unterscheidet oder ob beide Ausdrücke austauschbar sind; ebenso stellt sich die Frage, wie es sich mit den konträren Ausdrücken ek pronoias ( ) und hekōn/ hekousios ( / ) verhält. Bei letzteren ist die opinio communis, dass es sich um Äquivalente handelt. So kommt Gernet, zum Schluss, „la comparaison des textes affirme que et s’emploient l’un pour l’autre, et que l’expression assez frequent de n’est qu’un redoublement.“ 602 Maschke macht eine Bedeutungsveränderung von pronoia schon bei den attischen Rednern aus, bei denen pronoia „überlegt“ heißt, und sieht in späterer Zeit eine Unterscheidung zwischen hekōn und ek pronoias sowie akōn und mē ek pronoias. In der drakonischen Gesetzgebung werden akōn und mē ek pronoias noch synonym zur Bezeichnung von Totschlag benutzt, während es später die unvorsätzliche Tötung meint. 603 Als Beleg für den synonymen Wortgebrauch und zugleich als Beispiel für die damalige Rechtspraxis sei hier ein Fall genannt, den Aristoteles anführt: Eine Frau, die einem Mann ein Aphrodisiakum gegeben hatte, an dessen Folge der Betroffene starb, wurde vor Gericht freigesprochen, weil der Effekt nicht ek pronoias und somit ouk ekousion ( ) war (MM I 16, 1188b31). Die damalige Rechtspraxis zeigt eine differenzierte Rechtsauffassung und Strafzumessung von vorsätzlichen und unvorsätzlichen Delikten. 604 373a6: Zu Recht kann ich auch dich heranziehen Der Kodex W bietet als Lesart das Medium (wie SLRI) und nicht den Aktiv , wie es die Handschriften TF überliefert. Vancamp sieht den Fehler bei den Manuskripten TF, die sich als fehleran- 601 IG I 3 104, Z. 12-32. 602 G ERNET , L OUIS , Recherches sur le développement de la pensée juridique et morale en Grèce, Paris 1917, 352 (zitiert nach G AGARIN , Drakon, 31). 603 Vgl. M ASCHKE , Willenslehre,42-63. 604 So heißt es bei Demosthenes in der Rede gegen Meidias: Die Gesetze gegen Menschentötung bestrafen den vorsätzlichen Mörder mit dem Tod, lebenslänglichem Exil und Vermögensentzug, den unvorsätzlichen Totschläger aber behandeln sie sehr gnädig und milde ( ’ ’ ; 23, 43). 200 fällig erweisen. 605 Für die deutsche Übersetzung hat es keine Relevanz, ob im diesem Fall das Medium oder der Aktiv steht. 605 Vgl. V ANCAMP , Réflexions, 33. 201 5. Die induktive Argumentation (373c6-375d6) A - Inhaltsangabe Sokrates prüft die Frage, ob der freiwillig Fehlende besser sei als der unfreiwillig Fehlende, induktiv. Dazu beginnt er mit dem Bereich der körperlichen Fähigkeiten (wie Laufen und Ringen) und Funktionen (wie die der Sinne), wo derjenige, der freiwillig eine bestimmte Fähigkeit oder Funktion schlecht gebraucht, besser ist als der, der unfreiwillig so handelt. Das Gleiche gilt auch auf dem Gebiet der Werkzeuge (wie Bogen oder Musikinstrumente), wo die besser sind, mit denen man ihre Tätigkeit freiwillig schlecht verrichtet, als die, mit denen man es unfreiwillig tut. Schließlich muss man auch von handelnden Subjekten (wie Heilkundigen oder Schützen) sagen, dass diejenigen, die freiwillig eine Handlung schlecht ausführen, besser sind als die, die unfreiwillig dabei fehlen. B - Interpretation 1. Induktiver Beweis (373c6-375d6) Der vorherige Abschnitt hat mit einer Aporie geendet. Sokrates formuliert nochmals als Frage, wer besser sei, die freiwillig oder die unfreiwillig Fehlenden ( , 373c7f.). Damit hat Sokrates die Aporie, nach der die freiwillig Unrechttuenden besser seien als die unfreiwilligen (372d5ff.), geschickt umformuliert, indem er aus der Aufzählung der Unrechtstaten den Terminus des Fehlens (harmatanein) herausgegriffen hat. Das sowohl technischem wie ethischem Verständnis zugängliche Wort eignet sich hervorragend für die Beispiele des induktiven Beweises. In seinem konkreten Sinn des Verfehlens als Nichterreichen eines Zieles findet sich harmatanein seit Homer und wird seit Herodot auch im übertragenen Sinn des intellektuellen Verfehlens gebraucht. 606 Platon benutzt hamartanein für das Verfehlen eines wie immer gearteten Zieles, eines konkreten wie das eines Bogenschützens 607 , eines abstrakten wie einer Bitte 608 oder eines intellektuellen Vorhabens 609 606 Vgl. Thuc. 1, 33, 3. 607 Vgl. Tht. 154a4. 608 Vgl. Phdr. 262e5. 609 Vgl. Tht. 189c3; 199b3; Polit. 274e2. 202 vor allem durch Irrtum aufgrund von Nichtwissen 610 . Dann aber gebraucht er es auch als Verfehlen einer sittlichen oder gesetzlichen Norm durch ein Vergehen gegen eine andere Person 611 oder als ungerechtes oder ungesetzliches Handeln 612 . Diese Vorstellung des Verfehlens eines wie immer gearteten Ziels, die Folge eines teleologischen Handlungsverständnisses ist, wird bestimmend für den Gedankengang des induktiven Beweises. 1.1 Argumente aus dem Bereich der Körperfähigkeiten und -funktionen Sokrates fährt (wie vereinbart) mit der Methode des Elenchus fort (373c4; 373c9) und führt einen induktiven Beweis für die Überlegenheit des freiwillig Fehlenden. Im Unterschied zum Induktionsbeweis für die Identität des pseudēs und alethēs greift Sokrates dabei nicht auf den Bereich der epistemai zurück. Während von der Lüge nur im Zusammenhang mit wahrheitsfähigen Aussagen gesprochen werden kann und daher die epistemai als Paradigmen solcher Aussagen zur Verfügung standen, wird der Begriff des Verfehlens im Bereich von Handlungen und Funktionen benutzt. Eine Handlung oder die Funktion (eines Werkzeugs oder Organs) wird als verfehlt angesehen, wenn das Ziel oder der Zweck der Handlung oder Funktion nicht erreicht wird. Der Handelnde fehlt dann oder man kann auch sagen, die Handlung oder Funktion wird schlecht ausgeführt; gut dagegen wird eine Handlung oder Funktion ausgeführt, wenn sie das Ziel oder den Zweck der Handlung oder Funktion erfüllt. 613 Sokrates führt das am Beispiel des Läufers (373c9-e12) paradigmatisch für die anderen Beispiele vor: Läufer werden als gut (agthos) oder schlecht (kakos) bewertet (373c9-d2). Als Bewertungskriterium dient die Schnelligkeit bzw. Langsamkeit. Ein schneller Läufer ist ein guter Läufer, während der langsame Läufer ein schlechter Läufer ist (373d3-9). Man könnte auch sagen, das Ziel des Laufens ist die schnelle Fortbewegung, die langsame Fortbewegung verfehlt dagegen das Ziel. 614 Wer freiwillig langsam und somit schlecht läuft, ist der bessere 610 Vgl. R. I. 340e3ff.; 341a1. Aristoteles definiert das Substantiv hamartia als das Verfehlen der Tugend aus Schwäche, Ungeschick oder mangelndem Wissen (NE II, 5, 1106b25ff.) und somit als ein Unrecht ohne kakia (NE III, 13, 1118b16). 611 Vgl. R. III 396a2. 612 Vgl. Leg. X 908e2; XI 919b2. In der Rechtssprache bezeichnet das vom Verb abgeleitete Nomen hamartēma ein vorsätzliches (! ) und darum schuldhaftes Vergehen ( , Antiphon 1, 27). 613 Dabei wird im Folgenden von widrigen (außerhalb menschlichen Einflusses liegenden) Umständen abstrahiert, die den Erfolg einer Handlung erschweren oder verhindern können. 614 Es spielt dabei keine Rolle, ob man das Laufen als Körperfähigkeit (im Sinne einer dynamis) oder als sportive Betätigung versteht, bei dem auch Training wichtig ist, so dass man von einer durch Übung beeinflussbaren Fertigkeit sprechen müsste. Für das Verständnis als Wettkampfdisziplin spricht, dass das nächste Beispiel Ringen 203 Läufer als der, der unfreiwillig langsam läuft (374e10ff.) Wie der gute Rechner im Beispiel der Mathematikaufgabe verfügt der gute Läufer über die dynamis gut und d.h. schnell zu laufen, wann immer er will. An dieser Stelle könnte Sokrates das Beispiel beenden, da ja in diesem Bereich der Beweis erbracht wurde, dass der freiwillig Fehlende besser als der unfreiwillig Fehlende ist. Aber Sokrates geht weiter und wendet sich dem Begriff Laufen zu, den er in Übereinstimmung mit Hippias als „etwas tun“ (poiein ti) versteht und „etwas tun“ wird schließlich mit „etwas vollbringen“ (ergazesthai ti) identifiziert (374d13-e1). Der schlechte Läufer ( ) vollbringt Schlechtes und Schändliches im Lauf ( ), der gute Läufer vollbringt also Schlechtes und Schändliches im Lauf freiwillig, während dies der nichtsnutzige Läufer unfreiwillig vollbringt (374e2-12). Das Argument erscheint problematisch und stößt auch in der Sekundärliteratur auf Kritik. Jantzen moniert, dass Sokrates „unter der Hand das Paradigma gewechselt [habe]“, da mit Laufen keine technē oder Fertigkeit vorliege, sondern es sich dabei um eine natürliche Disposition handle. Dispositionen setzen im Unterschied zu technai keine Produkte ins Werk, durch die sie charakterisiert werden. Sprachlich werden Dispositionen durch Modi beschrieben 615 , denen als Gegenteil andere Modi gegenüberstehen, während dem Werk das Nicht-Werk entgegengesetzt ist: „Der langsame Lauf z. B. mag zwar als schlecht beurteilt werden, ist aber jedenfalls ein ,Werk’ (der schlechte Hausbauer dagegen baut gar nicht).“ Platon lässt sich gegen Jantzens Kritik stark machen: Es ist zwar richtig, dass jede technē über ein spezifisches ergon verfügt, das für sie kennzeichnend ist (vgl. Ion 537c7ff.). Doch muss nicht jedes ergon materiell sein (wie z. B. in der Baukunst), sondern technai wie Navigation oder Medizin haben immaterielle erga. Man könnte auch weniger missverständlich von Zielen sprechen, die die jeweilige technē ausmachen. So ist das Ziel der Heilkunst die Gesundheit und der Baukunst das Haus. Dementsprechend ist der Gegensatz auch nicht das Nicht-Werk, sondern das schlechte (und somit das Ziel verfehlende) Werk (Der schlechte Hausbauer baut also schlechte Häuser, solche, die die von einem Haus erwartete Funktion [Bewohnbarkeit und vielleicht auch Ästhetik] nicht erfüllen und somit ihr Ziel verfehlen.). Daher bereitet das Beispiel des Laufens kein Problem: Das Ziel des Laufens ist die schnelle Fortbewegung (zu Fuß). Je nach Erreichen oder Verfehlen des (374a1-9) ist, was außerhalb des Sports nur schwerlich als Körpergebrauch einen Platz haben dürfte ( , 374a10). 615 J ANTZEN macht auf den Wechsel vom nominalen ( ) zum partizipialen ( ) Ausdruck aufmerksam, der dem vom attributivischen ( bzw. 373c9-d2) zum adverbialen ( bzw. , 373d2) Ausdruck entspricht. Adverbial wird der Modus, - die Art und Weise einer Tätigkeit- zum Ausdruck gebracht, während das Partizip den Hervorbringer der Tätigkeit beschreibt. 204 Zieles wird der Läufer als gut oder schlecht bewertet. Soweit ist Sokrates’ Argumentation klar und einsichtig. Es stellt sich die Frage, weshalb Sokrates die Identifizierung von poiein und ergazesthai einführt, um eine neue Gebrauchsweise von gut und schlecht (kakon und aischron als Nomina Neutra) zu erreichen, die überflüssig erscheint. Für den Beweis der These, dass niemand freiwillig fehle, hätten gut und schlecht (als adjektivische Attribute oder Adverbien) ausgereicht. Vielleicht bot die Substantivierung der Adjektive als Schaffung sprachlich flexibler Termini, die (im Gegensatz zu von einem Beziehungswort abhängigen Adjektiven oder Adverbien) selbständig stehen können, Sokrates bessere Ausdrucksmöglichkeiten. Sokrates kommt zum nächsten Beispiel: dem Ringen (374a1-9). 616 Auch hier gibt es ein Verfehlen des Zieles, das im Fallen besteht und als Übel und Schande gilt. Auch hier entpuppt sich derjenige Ringer als besser, der freiwillig fällt. Sokrates generalisiert von den beiden Beispielen für jeden Gebrauch (chreia) des Körpers, bei dem es auf Stärke (ischy) ankommt: Der körperlich Bessere ( , 374a11) vermag sowohl das Schändliche (in diesem Fall das Schwache) als auch das Schöne (in diesem Fall das Starke) zu vollbringen (ergazesthai) und ist daher auch der, der das Schlechte freiwillig verrichtet. Von der körperlichen Stärke bzw. Schwäche kommt Sokrates zur Schönheit (euschēmosynē) und Hässlichkeit (aschēmosynē) der Körperbewegungen (374a10-b4). Es zeigt sich auch für die Harmonie oder Disharmonie der Bewegungen, dass der bessere (und in seiner Bewegung harmonischere) Körper hässliche Bewegungen freiwillig vollbringt. Nicht in den Bereich der Körperbewegungen, wohl aber der Ästhetik, fällt als nächstes Beispiel die Stimme (374c3-7). Als Bewertungskriterium gilt hier der Klang, so dass die freiwillig schlecht klingende Stimme (apadousa) die bessere ist. Sokrates stellt die gleichsam das Prinzip der Argumentation enthaltene Frage (374c8ff), ob Hippias lieber das Gute (tagatha) als das Schlechte (ta kaka) besitzen wolle. Diese trivial anmutende Frage hat in diesem Zusammenhang vielleicht den Zweck, Hippias noch einmal bei sich überlegen zu lassen, was sich bei diesen Beispielen als das Gute bzw. Schlechte erwiesen 616 P OHLENZ will eine Ähnlichkeit zur Argumentation im Charmides (159a1-160d4) ausmachen, wo Platon auch die Beispiele des Läufers, Ringers und Kitharaspielers anführt: „Beide Mal wird vom Körper zur Seele übergegangen“ (Aus Platos Werdezeit, S. 63 Anm. 1). Dieser schichtontologische Aufstieg von den physischen zu den intellektuellen Leistungen findet sich im Charmides nicht, im Gegenteil: Sokrates beginnt zuerst mit geistigen Tätigkeiten (Schreiben, Lesen, Kitharaspielen, 159c2ff.) und kommt dann zu den sportlichen (Ringen, Faustkampf und Allkampf, 159c6ff.). Erst bei der Generalisierung beginnt Sokrates bei den körperlichen Arbeiten (159d4-8) und endet bei den geistigen (159e1ff.) - es folgen dann noch weitere Beispiele intellektueller Tätigkeiten (lehren, memorieren, lernen, beschließen, 159e3-160b2), die nochmals mit einer Verallgemeinerung, beginnend bei der Seele und zum Körper kommend, abgeschlossen werden (160b2-6). 205 hat. Das Unterscheidungskriterium ist - wie schon anfangs bestimmt - das Erlangen eines Ziels oder das Erfüllen einer Funktion. Das Versagen einer Funktion und die daraus resultierende unfreiwillige Schlechtigkeit wird von Sokrates anhand von Defekten des Bewegungsapparats oder der Sinne thematisiert. Sokrates beginnt mit dem Hinken der Füße (374c11-d3), das einen Fehler des Bewegungsapparats (aschēmosynē) darstellt, und kommt über die Kurzsichtigkeit der Augen (374d4-9) schließlich zu den Sinnesorganen allgemein (374d10-e3): Auch dort erweist sich der betreffende Sinn durch eine unfreiwillige Fehlfunktion schlechter als durch freiwilligen Verzicht der (vollständigen) Inanspruchnahme der jeweiligen Kompetenz. 1.2 Argumente aus dem Bereich von Werkzeugen Sokrates geht von den Körperorganen zu den Werkzeugen über (374e4-10). Auch dort erweist sich das Werkzeug mit einer freiwilligen Fehlfunktion besser als ein solches, das unfreiwillig seine Aufgabe nicht erfüllt. Der Übergang von den Körperorganen zu den Werkzeugen wird von Jantzen problematisiert. Der Köper werde dabei wie ein Instrument angesehen, dessen Können darin bestehe, dass er aufgrund seiner körperlichen Verfassung dazu in der Lage ist. Die körperliche Verfassung sei somit sowohl Benutzer als auch Benutztes. 617 Diese Kritik ist m. E. verfehlt, denn die körperliche Verfassung ist nicht der Benutzer ihrer Selbst wie auch die Glieder und Sinne nicht Willensträger ihrer Funktionen sind. Der Willensträger der Körperfunktionen ist eine mit dem Körper oder seinen Funktionen oder seiner Verfassung nicht identische Entität, die willensfähig ist und sich des Körpers wie eines Werkzeuges bedient. Wie das Verhältnis von Sinnen und sinnlicher Wahrnehmung zu verstehen ist, wird im Theaitetos deutlich, wo Sokrates die Frage untersucht, ob wir mit den Augen oder mittels der Augen sehen und mit den Ohren oder mittels der Ohren hören ( ’ […] 184c6f.). Die Antwort ist, dass wir mittels dieser Sinne wahrnehmen ( ’ , 184c9), denn ansonsten ergäbe sich das Problem, dass die Wahrnehmungen der einzelnen Sinne unverbunden nebeneinander lägen ( […] […] , 184d1f.). Dafür sorgt eine Zentralinstanz, die allgemein psychē genannt wird, in der die Wahrnehmungen zusammenlaufen und die sich der Sinne als Werkzeuge zur Wahrnehmung bedient ( , 184d3ff.). Die psychē ist also Agens und Willensträger der 617 Vgl. J ANTZEN , Hippias minor, 88. Ein Vorbehalt gegen den Vergleich von Körperfunktionen mit technischer Kompetenz findet sich auch bei P HILLIPS (Hippias minor, 127). 206 durch die Sinne oder Körperglieder 618 bewirkten Handlungen. Wenn freiwillig oder unfreiwillig im Zusammenhang mit den Sinnen oder Körpergliedern gesprochen wird, so ist das auf die psychē bezogen zu verstehen. Es bereitet daher auch keine Probleme, wenn Sinnesorgane (und Körperglieder) wie Werkzeuge aufgefasst werden, obwohl sie - im Gegensatz zu anderen Werkzeugen - Teil des Benutzers und nicht benutzerfremd sind. Als problematisch erweist sich, dass es für den Gebrauch der Sinne - wenn diese funktionsfähig sind - keiner eigenen Kunst bedarf, um diese zu nutzen. Wenn die Augen sehfähig sind, kann derjenige (gut) sehen, der sehen können will. Bei den genannten Werkzeugen wie Steuerruder, Bogen und Leier - ebenfalls deren Funktionsfähigkeit vorausgesetzt - genügt nicht allein der Wille zum Gebrauch, sondern nur der kann sie gut gebrauchen, der die jeweils dafür nötige Kunst (Steuerkunst, Schützenkunst oder Tonkunst) beherrscht. Platon scheint diese Schwierigkeit bemerkt zu haben und so lässt er Sokrates beim Thema der Künste (374a12-c6) auch über die Schützenkunst (374a12-b6) sowie Kunst des Flöten- und Leierspiels (374b13) sprechen. Bei den technai und epistēmai ist auch die psychē, die freiwillig fehlt, die bessere, da sie über das nötige Wissen verfügt, aber nur auf dessen Anwendung verzichtet (375b12-c4). Psychē wird hier einerseits als Willensträger,der freiwillig oder unfreiwillig handeln kann, und andererseits als Wissensträger verstanden, der für die auszuführende technē oder epistēmē das notwendige Wissen hat. Der Besitz oder Nicht-Besitz des jeweiligen Fachwissens macht sie zur besseren oder schlechteren Seele und ist zugleich Entscheidungskriterium, ob das Ergebnis der diesbezüglichen Handlung freiwillig oder unfreiwillig erreicht wurde. Sokrates ist sich wohl dessen bewusst, dass zum funktionsfähigen Werkzeug auch die kundige Seele und umgekehrt gehört und setzt diese oder dieses jeweils im betreffenden Beispiel (zur besseren Anschaulichkeit) voraus. 619 1.3 Argumente aus dem Bereich der handelnden Subjekte Sokrates kommt von den Werkzeugen zu den handelnden Subjekten und beginnt mit den Tieren (375a1-11). Wenn bei Tieren hier von Seele gesprochen wird, so ist damit ein Träger von Eigenschaften wie Willigkeit und Fähigkeit in Bezug auf die spezifische Aufgabe des Tieres gemeint. Ein Pferd (375a1-9) hat dann eine gute Seele, wenn es die Aufgaben des Pferdes 618 Auch die Körperglieder sind Werkzeuge der Seele zur Erfüllung ihrer jeweiligen Funktion. Die Seele ist es, die will, dass der Mensch läuft, und so bedient sie sich der Beine zur Fortbewegung. 619 Er übergeht dabei die mögliche Kombination, dass die bessere Flötenspieler-Seele auf einer schlechteren Flöte besser spielt als die schlechtere Flötenspieler-Seele auf einem besseren Instrument, da Kunst Werkzeugdefekte in gewissen Grenzen kompensieren kann. 207 ( , 375a6) wie das Berittenwerden willig (ohne sich zu widersetzen) und gut ausfüllt. Ein Hund (375a10f.) hat eine gute Seele, wenn er seine Aufgabe als Jagd- oder Wachhund willig und gut erfüllt. Auch bei (Nutz-)Tieren gilt, dass die bessere Seele freiwillig fehlt (d.h. ihre Aufgabe schlecht verrichtet), während die schlechte unfreiwillig fehlt. Auch hier setzt Sokrates implizit den sachkundigen Umgang mit den Tieren voraus. 620 Sokrates kommt von den Tieren als handelnden Subjekten zu Personen, die eine Kunst ausüben: die Schießkunst (375a12-b6), die Heilkunst (375b7- 12), die Leier- und Flötenkunst (375b13) sowie alle technai und epistēmai (375c1ff.). Die Seele fungiert hier ebenfalls als Willens- und Wissensträger. 621 Auch hier erweist sich in der jeweiligen technē oder epistēmē die Seele 620 Vgl. J ANTZEN , Hippias minor, 94. J ANTZEN konstruiert zwei Fälle und fünf Möglichkeiten: „A. Jemand reitet gut, d.h.: Ein freiwillig gutes Pferd wird von einem freiwillig guten Reiter geritten. B. Jemand reitet schlecht, d.h.: (1)Ein unfreiwillig schlechtes (d.h. unberittenes) Pferd hat einen in jedem Fall unfreiwillig schlechten Reiter (gleichgültig ob er reiten kann oder nicht). (2)Ein freiwillig schlechtes Pferd hat wiederum einen in jedem Fall unfreiwillig schlechten Reiter. (3)Ein freiwillig (gezwungen) schlechtes Pferd hat einen unfreiwillig schlechten Reiter (der nicht reiten kann). (4)Ein unfreiwillig (gezwungen) schlechtes Pferd hat einen freiwillig schlechten Reiter (der reiten kann).“ J ANTZEN bemerkt richtig, dass Sokrates bei seinem Beispiel an die Fälle (2) und (3) denkt. Diese Abstraktion, die nur die Qualität des Werkzeugs (in diesem Fall des Pferdes) betrachtet und von der Fähigkeit des Benutzers absieht, ist im Beispiel legitim, um die Qualität des Werkzeugs für dessen Güte oder Schlechtigkeit am besten (d.h. am übersichtlichsten) zu veranschaulichen. Jedes Beispiel muss, um seine Funktion des Erläuterns zu erfüllen, abstrahieren und kann nicht alle Faktoren berücksichtigen, sondern hat sich auf das tertium comparationis zu beschränken. J ANTZEN macht diesen Umstand nur beim Pferde-Beispiel geltend, das gilt aber auch für alle anderen Beispiele. Bei den Werkzeugen spielt nicht nur die Qualität des Instruments, sondern auch die Fähigkeit des Benutzers eine wichtige Rolle. Beim Beispiel des Arztes ist es noch komplizierter. Hier kommt es auf die Fähigkeit des Mediziners, die Qualität der Heilmittel (Instrumente) und die Physis des Patienten an, die auf bestimmte Heilmittel nicht anschlägt oder vielleicht sogar keiner Therapie mehr zugänglich ist. 621 J ANTZEN unterscheidet zwischen der Seele des Bogenschützen, die als Instrument dient, und der Seele des Arztes, die mit ihrem Besitzer identisch ist. Er begründet diese Unterscheidung damit, „daß in diesem dritten Fall das (technische) Tun durch den Begriff der heilkundigeren Seele unmittelbar auf das Subjekt bezogen wird (Hippias minor, 96).“ Damit wird dennoch nicht der Grund der Differenzierung deutlich, warum auf diese Weise zwischen dem Schieß- und Heilkundigen unterschieden werden sollte. 208 als besser (ameinon), die auf die Anwendung ihrer Fähigkeit verzichtet und somit freiwillig fehlt. Als nächstes Beispiel handelnder Subjekte führt Sokrates Sklaven an (375c5-9). Als besser gilt die Seele des Sklaven, die freiwillig fehlt und übel tut ( , 375c6f). 622 Die Seele des Sklaven erfüllt eine Doppelrolle. Sie ist einerseits Funktionsträgerin für den Sklaven, indem sie über das Wissen verfügt, das der Sklave für die Erfüllung seiner (hier unspezifischen) Tätigkeiten braucht. 623 Darüber hinaus wird der Sklave (im Unterschied zu dem Inhaber einer technē) nicht auf das Sklavesein reduziert, sondern auch im Hinblick auf sein Menschsein betrachtet. Somit hat der Sklave auch Anteil an der Aufgabe der Menschenseele, dem gerechten Handeln. Gerechtigkeit ist also die spezifische Aufgabe des Menschen wie die Kenntnis über die Heilkunst die spezifische Aufgabe der Seele des Arztes. Hippias ist sich bei seiner Zustimmung nicht über die Konsequenzen bewusst (375c9), die im nächsten Beispiel folgen. Sokrates kommt nun zu der individuellen Seele (375c10-d6). Als argumentum a minore ad maiorem formuliert Sokrates, dass jeder die eigene Seele so gut wie möglich haben will (375c10ff.). In Anwendung der Ergebnisse aus der Induktion folgert Sokrates weiter, dass die Seele besser ist, wenn sie freiwillig übel tut und fehlt, als wenn sie es unfreiwillig tut. Hippias ist mit diesem Ergebnis nicht einverstanden (375d3f.; 375d6), obwohl es - wie Sokrates betont - aus dem Gesagten folgt (375d5). Die Anwendung der Ergebnisse auf die individuelle Seele macht zwei Punkte deutlich. Erstens wird der Einzelseele ein spezifisches Gebiet, für das sie verantwortlich ist, zugeordnet: die Gerechtigkeit. Zweitens wird die Gerechtigkeit dabei (analog zu den Beispielen) als technē oder epistēmē aufgefasst. Bevor wir nun zum deduktiven Beweis kommen, der die hier implizierten Grundlagen expliziert, wollen wir in gewohnter Weise die Schlüssigkeit des Arguments überprüfen. 622 W EISS ( as , S. 300 Anm. 49). hat sehr gut beobachtet, dass das Verb an drei wichtigen Stellen in diesem Dialog vorkommt: Erstens beim Lügner-Paradoxon, in dem Hippias von den pseudeis sagt, dass sie aufgrund ihres Wissens übel tun (365e8f.). Zweitens in der Diskussion um die Überlegenheit des freiwillig Fehlenden gegenüber dem unfreiwillig Fehlenden (373b4f.). Drittens in dem Paradoxon, dass der Gute freiwillig Unrecht tut, während der Böse unfreiwillig Unrecht tut (375c5). hat hier eine Signalfunktion, indem es auf die Verbindung der Paradoxa verweist, die sich organisch auseinander entwickeln. 623 Völlig unverständlich J ANTZEN : „Der Ausdruck ,Knecht’ stellt das Verhältnis des Kundigen zu seiner Fertigkeit oder seinem Wissen als Besitz- und Verfügungsverhältnis vor, in dem das Subjekt von sicht selbst unterschieden und getrennt wird. Er ,besitzt’ eine kundige Seele, ist selbst aber nicht kundig.“ (Hippias minor, 97). J ANT- ZENS Interpretation führt zu einem schizophrenen Seelenkonzept, das keinerlei Erklärungswert bietet, dafür aber große Schwierigkeiten. 209 2. Die Schlüssigkeit der induktiven Argumentation Bei der Untersuchung der Schlüssigkeit wollen wir die Unterscheidung zwischen einem falschen Schluss und einem Fehlschluss beibehalten. Kritiker machen (I) Äquivokation, (II) Unterschlagung einer einschränkenden Bedingung, (III) Konfusion von Handlung und Zustand oder (IV) eine unzutreffende Analogie für den Fehlschluss verantwortlich. 2.1 Einwände gegen die Schlüssigkeit (I) Äquivokation Einen durchweg äquivoken Gebrauch des agathos-Terms im Dialog nehmen Guthrie 624 , Mulhern 625 , Sprague 626 und Vlastos 627 an. Demnach werde agathos einmal in einem neutralen Sinn als gut in funktional verstanden und zum anderen in einem evaluativen Sinn als ethisches Prädikat aufgefasst. Auch der Komparativ ameinon oder beltion wird nach Mulhern und Hoerber 628 äquivok als tropos- oder dynamis-Term verwendet. Kombiniert mit der Äquivokation des agathos-Terms nehmen Guthrie, Mulhern und Sprague auch eine äquivoke Verwen-dun von hekōn an. Dabei wird hekōn einmal im Sinne einer Fähigkeit (und somit als dynamis) verstanden und zum anderen im Sinne einer Vorliebe (und somit als tropos) verwendet. (II) Unerlaubte Unterschlagung einer einschränkenden Bedingung Guthrie. glaubt eine unerlaubte Unterschlagung einer einschränkenden Bedingung zu entdecken, wenn Sokrates Hippias’ bedingtes Zugeständnis, dass im Fall des Bogenschützen derjenige besser sei, der sein Ziel freiwillig verfehlt, als derjenige, der es unfreiwillig nicht trifft, unbemerkt und unzulässig verallgemeinere. 629 (III) Die Konfusion von Handlung und Zustand (Aristoteles) Die älteste Auseinandersetzung mit der platonischen Argumentation findet sich bei Aristoteles im schon erwähnten 29. Kapitel des fünften Buches der Metaphysik (1025a8-13), in dem er die Analogie des Hinkens 624 Vgl. G UTHRIE , W.K.C., A History of Greek Philosophy, Bd. IV, Cambridge 1975, 195. 625 Vgl. M ULHERN , and , 288. M ULHERN unterscheidet zwischen agathos als dynamis- oder tropos-Konzept. 626 S PRAGUE , Plato’s Use of Fallacy, 74f. 627 V LASTOS , G REGORY , Socrates. Ironist and moral philosopher, Cambridge 1991, 279 628 Vgl. H OERBER , Plato’s Lesser Hippias, 127. H OERBER sieht die Konfusion durch den Gebrauch verschiedener Komparative von agathos begünstigt. Während ameinōn „besser“ im funktionalen Verständnis bedeute, drücke beltion eine ethische Überlegenheit aus. 629 Vgl. G UTHRIE , A History of Greek Philosophy, 276. 210 (374c11-d3) angreift. Aristoteles’ Argumentation ist selbst nicht einfach zu verstehen, lässt sich aber erhellen, wenn wir (wie im Deutschen möglich) zwischen der Handlung (a) hinken und dem Zustand (b) lahm sein unterscheiden. 630 Aristoteles interpretiert die sokratische Analogie so, dass der freiwillig Hinkende (a) besser sei als der unfreiwillig Lahme (b), wobei er das Hinken als Nachahmung des Zustandes Lahm sein auffasst. 631 Für Aristoteles ist aber z. B. der pseudēs nicht derjenige, der eine Tätigkeit (die Lüge) ausübt als vielmehr der Inhaber eines Zustandes oder einer hexis. Ein freiwilliger Lügner ist also für Aristotels jemand, der freiwillig diesen (schlechten) Zustand erworben hat. Die aristotelische Kritik zielt nun dahin, dass derjenige, der freiwillig einen (guten) Zustand verloren oder nicht erworben hat, sowohl auf diesem Gebiet als auch auf ethischem der Schlechtere und nicht der Bessere ist. 632 Denn es ist auf dem Gebiet des richtigen Gehens auch derjenige schlechter, der freiwillig den Zustand des guten Gehers verloren hat und lahm wird, wie auf ethischem derjenige, der absichtlich eine gute hexis ablegt. (IV) Unzutreffende Analogie (Backs/ Horneffer) Einen falschen Schluss aufgrund unzulässiger Analogie sehen Backs 633 und Horneffer 634 in diesem Fall vorliegen. Der falsche Vergleich liege in der Gegenüberstellung von ethischem Wissen und Wissen auf anderen Gebieten. Während das Wissen anderer Gebiete wie der Heilkunst auch den Missbrauch ermögliche (und es dem Arzt möglich macht, der aufgrund seines Wissens heilen und töten kann), lasse das sittliche Wissen keinen 630 Im Griechischen bedeutet das Verb und dessen Substantiv-Derivat sowohl die Tätigkeit hinken als auch den Zustand lahm sein. 631 - (1025a10f.). G IOVANNI R EALE bemerkt in seinem Metaphysik-Kommentar zu dieser Stelle, dass im Fall der Nachahmung nicht im eigentlichen Sinn von lahm sein gesprochen werden kann und dass der freiwillig lahm Gewordene schlechter als der unwillentlich Lahme ist (Aristoteles Metafisica. Saggio introduttivo, testo greco con traduzione a fonte e commentario, ed. G IOVANNI R EALE , 3 Bde., Mailand 1993 , Bd. 3, 287). 632 W ILHELM E CKERT , der als Erster in der neuzeitlichen Forschungsliteratur die Aristoteles-Kritik am Hippias zurechtweist, sieht einen Widerspruch, der sich ergibt, wenn man den platonischen hekōn-Terminus in die aristotelische Annahme einsetzt. Bei Platon bedeutet vorsätzlich hier „nicht gezwungen von seiner oder seines Organs Beschaffenheit (die ein besseres Verhalten ermöglichen würde)“. Diese Bedeutung eingesetzt, lautete die aristotelische Annahme „wenn einer vorsätzlich lahm ist“: „wenn einer, nicht gezwungen durch schlechte Beschaffenheit seiner Füße, schlecht beschaffene Füße hat“ (E CKERT , W ILHELM , Dialektischer Scherz in den früheren Gesprächen Platons, Nürnberg 1911, 45). Aber eben diesen Widerspruch vermeidet Aristoteles, indem er annimmt, dass die schlechte Beschaffenheit der Füße erworben oder erwählt wird, was dann auch das Schlechte ausmacht. 633 B ACKS , Zur Erklärung der Dialoge, 7. 634 H ORNEFFER , Platon gegen Sokrates, 14. 211 falschen Gebrauch zu, so dass es niemand gibt, der aufgrund seines sittlichen Wissens schlecht handeln könne (wie das im Arztbeispiel der Fall war). Das Ziel ethischen Handelns sei absolut (oder kantianisch gesprochen kategorisch), während das Handeln auf anderen Gebieten übergeordnete Ziele zulasse (und kantianisch gesehen hypothetisch ist). So gibt Gomperz zu Bedenken: „Der gute Läufer mag gelegentlich schlecht laufen, um seine Gesundheit zu schonen […] Dürfen wir aus solchen Instanzen schließen, daß auch der Gerechte gelegentlich ungerecht handeln wollen kann.“ 635 2.2 Besprechung der Einwände Die kritischen Einwände gegen die Schlüssigkeit der platonischen Argumentation sollen nun ihrerseits auf den Prüfstein der Kritik gestellt werden. Gegen den Vorwurf der Äquivokation des agathos- (und im Komparativ des ameinon-) Terminus hat Weiss ganz zu Recht geltend gemacht, dass dieser Terminus univok funktional aufgefasst wird. Der agathos ist also nicht der gerechte Mensch, sondern der Mensch, der gut in Gerechtigkeit ist. 636 Dieser Gebrauch ist zwar nicht normalsprachlich, ergibt sich aber folgerichtig aus dem platonischen Gerechtigkeitskonzept, das Gerechtigkeit als epistēmē oder dynamis oder als Kombination von beidem auffasst. Auch der Terminus hekōn wird - wie Weiss zutreffend feststellt - univok im Sinne einer Fähigkeit, das umzusetzen, was man will, gebraucht. 637 Dem Vorwurf Guthries. der Unterschlagung von Einschränkungen ist Erler zu Recht entgegengetreten. Sokrates übergeht in der induktiven Argumentation keineswegs Einschränkungen, sondern greift sie vielmehr auf und versucht sie durch weitere Beispiele zu erweitern. 638 Aristoteles’ Angriff auf die platonische Argumentation kritisiert Kraus aus gutem Grund. Der Einwand von Aristoteles trifft eben deswegen nicht, da „der Betreffende die Fähigkeit recht zu gehen nicht eingebüßt hat und außer dieser auch die Macht hat, wenn er will, zu gehen wie ein Lahmer 635 G OMPERZ , Griechische Denker II 240. 636 W EISS , as , 299. 637 Die Konnotation von Vorliebe mag bei hekōn normalsprachlich im Griechischen durchaus mitklingen, spielte aber im forensischen Verständnis, das hier grundlegender ist, keine Rolle. Der Täter, der hekōn gehandelt hat, ist nicht unbedingt Neigungstäter, sondern hat lediglich willentlich und wissentlich die Tat begangen. Der sokratische hekōn-Begriff steht im Zusammenhang mit der dynamis-Defintion (366b12-c1), wonach der dynatos ist, der immer, was er will, tun kann, wenn er es will. In den sokratischen Beispielen fehlt der hekōn in seiner technē, der aus eigenem Willen und nicht durch den Zwang der Umstände das Ziel der Tätigkeit nicht erreicht. So tut der hekōn Unrecht, der willentlich und wissentlich Unrecht tut. Es liegt keinerlei Hinweis vor, dass hier in irgendeiner Weise eine Neigung oder Vorliebe gegeben ist. 638 Vgl. E RLER , Der Sinn der Aporien, 130. 212 […]“ 639 Auch spricht Sokrates nicht von dem, der freiwillig schlecht ist, sondern schlecht handelt, und dieser lässt sich nicht mit dem Lahmen, sondern mit dem Hinkenden vergleichen. 640 Der Vorwurf eines falschen Schlusses aufgrund unzutreffender Analogie führt uns zu der inhaltlichen Beurteilung von Platons Philosophie. Die vorliegende Argumentation basiert auf der Analogie von technē/ epistēmē und Tugend. Im Folgenden wollen wir den deduktiven Beweis nachzeichnen, in dem Sokrates die Prämissen expliziert. Im Anschluss wollen wir den Schluss und die Schlüssigkeit dieses Beweises untersuchen. 639 K RAUS , Hippias Minor, 44. 640 Vgl. K RAUS , Hippias Minor, 46. K RAUS macht für diese Fehlinterpretation einen Zusatz fremder Hand verantwortlich, da Aristoteles seiner Meinung nach den ersten Teil des Dialoges von Platon richtig erklärt bekommen habe und so auch über die Lösung des zweiten Teils verfügt haben müsse. Inwieweit Aristoteles über esoterische Erklärungen der platonischen Dialoge von Platon selbst verfügte, ist umstritten. Unbestritten ist die höchst problematische Überlieferung des aristotelischen Textkorpus, die Spekulationen über das authentisch Aristotelische Tür und Tor öffnet. Zu dieser Debatte möchte diese Arbeit keine Stellung nehmen. 213 6. Die deduktive Argumentation (375d7-376c6) A - Inhaltsangabe Hippias erklärt sich auch nach der induktiven Argumentation mit der Konsequenz, dass die vorsätzlichen Übeltäter besser seien als die unvorsätzlichen, nicht einverstanden. Sokrates greift nun zur deduktiven Argumentation: (1) Die Gerechtigkeit ist entweder (A) eine dynamis, (B) eine epistēmē oder (C) beides. (2) Im Fall (A) ist die fähigere Seele die gerechtere. Für den Fall (B) ist die weisere die gerechtere Seele und umgekehrt die unweisere Seele die unverständigere. Im letzten Fall (C) ist die Seele, die über dynamis und epistēmē verfügt, auch die gerechtere, während umgekehrt die unfähigere und unverständigere die ungerechtere ist. (3) Die fähigere und weisere Seele hat sich als besser erwiesen, sowohl das Schändliche als auch das Schöne zu bewirken. (4) Wenn also die fähigere und weisere Seele Schändliches tut, bewirkt sie es freiwillig aufgrund der dynamis oder technē oder der Kombination von beiden. (5) Auf dem Gebiet der Gerechtigkeit heißt Unrecht tun Schlechtes tun und nicht Unrecht tun Schönes tun. (6) Die fähigere und bessere Seele tut, wenn sie Unrecht tut, freiwillig Unrecht, während die schlechtere Seele es unfreiwillig tut. (7) Der gute Mann ist Träger der guten Seele, der schlechte Mann der schlechten Seele. (8) Also tut der gute Mann - wenn er Unrecht tut - freiwillig Unrecht und der schlechte unfreiwillig. (9) Umgekehrt ist der freiwillige Übeltäter der gute Mann. Hippias, der bislang den einzelnen Schritten der Argumentation zugestimmt hat, lehnt das Ergebnis ab. Sokrates zeigt sich auch unzufrieden mit dem Schluss, hält ihn aber für zwingend. Der Dialog endet aporetisch und zurück bleibt ein schwankender Sokrates. B - Interpretation 1. Deduktiver Beweis (375d7-376c6) Sokrates legt dem über das bisherige Ergebnis unzufriedenen Hippias die Prämissen der Argumentation dar und führt den deduktiven Beweis. Der 214 induktive Beweis, so hat es sich in der Analyse der Schlüssigkeit gezeigt, beruht auf der impliziten Prämisse, dass die diakaiosynē analog der Beispiele eine dynamis oder technē ist. (1) Sokrates klärt daher zuerst, was die diakaiosynē ist und gibt drei Möglichkeiten einer Wesensbestimmung: Die diakaiosynē ist demnach entweder eine dynamis (A) 641 , eine epistēmē (B) oder (C) beides ( ; 375d6ff.). Der erste Kandidat (A) für das Wesen der diakaiosynē ist die dynamis. Ontologisch lässt sich dynamis als „eine gewisse Art von Sein, wodurch sowohl wir vermögen, was wir vermögen, als auch jegliches andere etwas vermag“ 642 bestimmen. Epistemeologisch wird dynamis (wie epistēmē) durch einen bestimmten Gegenstandsbereich und ein spezifisches Werk definiert ( ’ , R. V 477d1f.). 643 Eine dynamis als Definiens einer Tugend begegnet uns auch in einem anderen Dialog. Im Menon unternimmt Sokrates’ gleichnamiger Gesprächspartner zwei Versuche, die Tugend mit Hilfe einer dynamis zu definieren: Der erste Definitionsversuch bestimmt die Tugend als Fähigkeit über die Menschen zu herrschen ( ’ , 73c11). 644 Sokrates erhebt dagegen zwei Einwände: Zum einen inkludiert diese Definition nicht alle Menschen (die Tugend eines Kindes oder eines Knechtes besteht nicht im Herrschen), zum anderen ist Herrschen für sich noch ambivalent und bedarf der Bestimmung durch die dikaiosynē (73d2-74a6). Auch der zweite Defintionsversuch der Tugend als Vermögen, sich Güter zu verschaffen 645 , scheitert, denn die Fähigkeit zum Gütererwerb erweist sich als ambivalent, wenn sie nicht mit Gerechtigkeit, Besonnenheit und anderen Tugenden einhergeht, so dass diese Fähigkeit auch nicht zur Bestimmung der Tugend schlechthin tauglich ist. Beiden Defintionsversuchen war kein Erfolg beschieden, da bei beiden das spezifische Werk ethisch ambivalent ist. Wie sieht es nun hier bei Sokrates’ Vorschlag aus? Im Unterschied zum Menon gibt Sokrates weder Gegenstandsbereich noch spezifisches Werk der dynamis an. Da es 641 Im Griechischen steht dynmis mit dem Indefinitpronomen tis, das das Unspezifische des Vermögens ausdrückt und die Definition dynamis sehr offen macht. 642 (R. V 477c1-3). 643 T HEODOR E BERT sieht in der epistemologischen Bestimmung ein Kriterium mit zwei Bedingungen, die beide für sich genommen notwendig, aber erst zusammen hineichend sind (Idem, Sind Meinung und Wissen nach Platon Vermögen, in: The Republic and the Laws. Proceedings of the First Symposium Platonicum Pragense, hg. A LEŠ H ARLIČ / F IL- IP K ARFIK , , 27-45, bes. 31f.). 644 Menon gebraucht hier nicht den Begriff dynamis, sondern umschreibt es mit einer Verbalphrase, die dem inhaltlich aber entspricht. 645 (77b4f.). 215 sich bei der dikaiosynē um eine Tugend handelt, wird sich der Gegenstandsbereich auch auf den Umgang mit Menschen beziehen. Wer über die dynamis der dikaiosynē verfügt, vermag sich gerecht (Werk) gegenüber Menschen (Gegenstandsbereich) zu verhalten (wann immer er will), könnte die sokratische Formaldefinition der diakoiosynē lauten. Damit ist freilich keine Materialdefinition gegeben und es bleibt somit offen, was Gerechtigkeit wirklich ist. Dennoch ist diese Formaldefiniton für den Zweck eines deduktiven Beweises völlig ausreichend, eine formale Identität von Gerechtigkeit und dynamis zu postulieren. Die zweite Möglichkeit (B) einer Wesensdefintion von dikaiosynē, die Sokrates vorstellt, ist die epistēmē. Das epistēmē-Konzept von (einer) Tugend ist bei Platon nicht unproblematisch. Dem Hippias Minor kommt in dieser Debatte insofern Relevanz zu, als dass Sokrates’ Konzept nicht direkt (wie im Menon) widerlegt wird und sich die Frage stellt, ob wir es mit einer (indirekten) reductio ad absurdum zu tun haben. Gerechtigkeit wäre nach dieser Definition die epistēmē vom Gerechten (Gegenstandsbereich) und das Ausüben gerechter Handlungen (Inhalt). Die diakaiosynē würde also zu den praktischen epistēmai gehören, die (im Gegensatz zu theoretischen) durch das Vollbringen spezieller Werke gekennzeichnet sind. Wer nun über die epistēmē vom Gerechten verfügt, wird wohl auch imstande sein gerecht zu handeln, wenn immer er will (und kein äußeres Hindernis vorliegt), d.h. also auch über die dynamis verfügen. Umgekehrt sollte derjenige, der die dynamis der dikaiosynē hat gerecht zu handeln, wann immer er will, auch über die epistēmē der Gerechtigkeit verfügen, da sonst die Sicherstellung seiner dynamis nicht gewährleistet wäre. 646 Es liegt daher nahe, an eine dritte Möglichkeit (C), die eine Synthese aus dynamis und epistēmē darstellt, zu denken. Sokrates erhebt mit den genannten drei Möglichkeiten Anspruch auf Vollständigkeit dessen, was als Wesen von dikaiosynē infrage kommen kann ( , 375d9f.). Hippias’ knappe Antwort Ja (375d11) ist von weitreichender Bedeutung, wenn wir nicht von vornherein einen intellektuell schwächlichen Dialogpartner unterstellen. Denn damit ratifiziert er nachträglich auch die Prämissen des induktiven Beweises. Sokrates muss in diesem Fall von dem Vorwurf freigesprochen werden, er täusche seine Dialogpartner durch versteckte Voraussetzungen. Hätte hier Hippias seine Zustimmung verweigert und die Vollständigkeit der genannten Möglichkeiten angezweifelt (oder ein Quartum angeführt), wäre auch die sokratische Argumentation ex 646 Man könnte aber auch an eine phronesis denken, die dem dynatos die Erkenntnis des Gerechten gibt, wenn immer er gerecht handeln will. Dieses Wissen unterscheidet sich von der epistēmē darin, dass es nicht begründet ist, sondern sich aus Erfahrung und lebenspraktischer Klugkeit speist. 216 post hinfällig geworden. Wenn Hippias aber nicht widerspricht (und von uns intellektuell ernst genommen wird), muss er entweder von Sokrates’ Argumentation überzeugt worden sein oder sogar selbst diese Auffassung teilen. Für die zweite Option spricht der Befund aus den schon erwähnten Dissoi logoi, die einen guten Einblick in Hippias’ oder zumindest in das dem Hippias nahestehendes Gedankengut geben. Das achte Kapitel dieser Schrift widmet sich der überragenden Bedeutung des Wissens. Im zweiten Satz dieses Abschnitts wird die These vertreten, dass wer die Natur aller Dinge kennt (eidōs), auch befähigt (dynaseitai) ist, in allen Dingen richtig zu handeln. 647 Die Fähigkeit zu allgemein adäquatem Handeln beruht hier also auf Wissen. Der Zusammenhang zwischen Wissen und (forensischer) Gerechtigkeit wird im neunten Satz hergestellt. Dort wird von dem, der zu richten weiß, gesagt, dass er das Gerechte wissen (epistasthai) müsse, da dessen Bestimmung Aufgabe des Gerichtes sei. Gleichzeitig gilt von diesem Experten des Gerechten auch, dass er das Gegenteil des Gerechten weiß. 648 Diese beiden Sätze aus dem achten Kapitel der Dissoi logoi weisen drei Ähnlichkeiten zum Hippias Minor auf: (a) Es besteht ebenfalls in der Dissoi-logoi-Passage ein Zusammenhang von dynamis und epistēmē. (b) Die Gerechtigkeit (in der forensischen Praxis) besteht in einer epistēmē, als deren Inhalt das Gerechte bestimmt wird. (c) Der Experte auf dem Gebiet der Gerechtigkeit kennt sich notwendigerweise auch mit der Ungerechtigkeit aus. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus plausibel anzunehmen, dass die Zustimmung des literarischen Hippias Ausdruck der eigenen Überzeugung ist und überdies die Auffassung des historischen Hippias darstellt, die Platon seiner Dialogfigur zurecht in den Mund legt. Die Annahme eines (aus welchem Grund auch immer) täuschenden Platons, der seinem literarischem Geschöpf Hippias diese (nicht von der Dialogfigur geteilte) Meinung zuteilt, erscheint von dem Befund der Dissoi logoi her unplausibel. (2) Nach Bestimmung der möglichen Wesensdefinition spielt Sokrates diese in der Anwendung durch. Im Fall (A), wenn die Gerechtigkeit eine dynamis der Seele ist 649 , ergibt sich, dass die fähigere Seele ( , 375e2) die gerechtere ist. Sokrates beruft sich bei dieser Anwendung auf ein Homologoumenon ( , 375e3). Dabei ist unklar, worauf (a) sich das Demonstrativpronomen toiautē bezieht und (b) wo diese Übereinkunft, die auch Hippias bestätigt ( , 375e4), erzielt wurde. Als Bezugswort für toiautē kommt entweder (aa) die erstgenannte fähigere oder (ab) 647 (8,2). 648 (8,9). 649 Träger von Eigenschaften und Dispositionen ist wie bei Platon üblich die Seele. 217 die gerechtere Seele in Frage. Je nach angenommenem Bezugswort für das Demonstrativpronomen ergeben sich zwei unterschiedliche Aussagen: (ba) „Denn als besser war uns die fähigere Seele erschienen“ oder (bb) „Denn als besser war uns die gerechtere Seele erschienen.“ Es liegt nahe, dass (aa) gemeint ist. In 366d6-9 waren Sokrates und Hippias übereingekommen, dass der (sophotatos und) dynatatos auch der aristos auf seinem Gebiet ist. Wenn nun die Gerechtigkeit eine epistēmē ist und epistēmē sich darin auszeichnet, dass es dort auch einen dynatos geben kann, ist auch der dynatōteros 650 auf diesem Gebiet der bessere 651 ( , 375c2). Für den Fall (B) ergibt sich, dass die weisere die bessere Seele und im Umkehrschluss die unverständigere die ungerechtere ist (375e5-7). 652 Im letzten Fall (C) ist in der Kombination von (A) und (B) die Seele, die über epistēmē und dynamis verfügt, die gerechtere und umgekehrt die unverständigere 653 auch die ungerechtere. 654 (3) Die fähigere und weisere Seele 655 , so Sokrates weiter, habe sich als die bessere ( , 375e12) erwiesen und mehr befähigt 656 ( , 375e13) gezeigt, sowohl das Schöne als auch das Schändliche zu bewirken ( , 375e13-376a1). 657 650 Typisch griechisch ist hier der Komparativ (wie dort der Superlativ oder Elativ), der für die Argumentation keine Rolle spielt und genauso gut durch einen Positiv ersetzt werden könnte. 651 Besser wird hier funktional gebraucht, was angesichts des dynamisch-eristemischen Gerechtigkeitskonzepts folgerichtig ist. Nach diesem Verständnis wird schließlich eine Trennung von gut im ethischen und funktionalen Sinne obsolet, da auch das ethische gut auf ein funktionales reduzierbar ist. 652 Sokrates zieht hier den Umkehrschluss, den er im Fall A nicht gemacht hat. Auch dort müsste demnach die unfähigere Seele die ungerechtere sein. Diese Auslassung ist zwar eine Ungenauigkeit, hat aber für den Fortgang der Argumentation keine Konsequenzen. 653 Schleiermacher zeigt sich aus unersichtlichen Gründen inkonsequent und übersetzt einmal mit „ungelehrigere“ (375e6) und dann mit „unverständigere“ (375e9). Diese Variatio mag zwar stilistisch angenehmer sein, tut aber einer einheitlichen Übersetzung Abbruch. 654 Sokrates unterschlägt im Umkehrschluss von (C) die unfähigere Seele, die in Einheit mit der unverständigeren auch die ungerechtere ist. Diese Auslassung ist zwar wie im Fall A eine Ungenauigkeit, berührt aber die Gültigkeit des Schlusses nicht. 655 Auffallend ist, dass Sokrates auf den Umkehrschluss verzichtet, dass die unwissendere und unfähigere Seele weniger fähig ist, sowohl das Schöne als auch das Schlechte zu bewirken. 656 Auch hier ist Schleiermacher terminologisch unpräzise und übersetzt dynatōtera (375e12) mit „tüchtigere“ und das stammverwandte Partizip Präsens Medium dynamenē mit „im Stande sein“, womit der begriffliche Zusammenhang verwischt wird. 657 Hier beschränkt sich Sokrates nur auf 1C und unterschlägt 1A und 1B. Diese Auslassung hängt mit der kolloquialen Situation zusammen, in der beim letzten Fall angeknüpft wird und nicht wie bei einer schriftlichen Argumentation die einzelnen Mög- 218 Schon im Lügner-Paradoxon hatte sich gezeigt, dass derselbe sowohl zur Lüge als auch zur Wahrheit fähig ist (vgl. 367c8ff.), da eine dynamis oder epistēmē die Möglichkeit zum Gebrauch oder Missbrauch hinsichtlich ihres Zieles inkludiert. Jede technē oder epistēmē (wie auch jegliche Handlung) hat ihr Ziel. Das Erreichen dieses Zieles wird als schön (kalon), das Verfehlen als schändlich 658 (aischron) bezeichnet (vgl. 373d3). Der Begriff des dynatos beinhaltet also sowohl die Möglichkeit zum Schönen und Schändlichen. Mit dem Begriff des dynatos verbunden ist der des hekōn. Der dynatos handelt hekōn, weil er das tut, was er will, wann immer er es will (vgl. 366b12-c1). (4) Wenn also die fähigere und weisere Seele Schändliches tut, bewirkt sie es freiwillig aufgrund der dynamis oder technē 659 oder der Kombination von beiden, wie Sokrates mit Hippias Zustimung feststellen kann. 660 (5) Auf dem Gebiet der Gerechtigkeit, so Sokrates weiter, heißt Unrecht tun Schlechtes tun und nicht Unrecht tun Schönes tun ( , 376a7f.). Wenn Sokrates Unrecht tun mit Schlechtes tun identifiziert, dann folgt er der Normalsprache, die Verfehlungen auf dem Gebiet der Gerechtigkeit als Unrecht bezeichnet. Problematisch ist hier die Zuordnung von nicht Unrecht tun und Schönes tun. Schlecht und schön bilden ein kontradiktorisches Gegensatzpaar, dem mit Unrecht tun und nicht Unrecht tun ein konträres gegenübergestellt wird. Konträre Gegensätze schließen zwar einander aus, aber wer nicht Unrecht tut, muss nicht unbedingt Schönes tun, denn er kann auch ethisch indifferent handeln. Wir kommen damit zu einem signifikanten Unterschied zwischem dem ethischen und dem technischepistemischen Bereich. Während Handlungen auf dem letzteren Gebiet durch kontradiktorische Gegensätze geprägt sind und das Ziel einer Handlung erreicht oder nicht erreicht wird - tertium non datur 661 -, gibt es im ethischen Bereich eine dritte Kategorie der indifferenten Handlung. Man könnte die These vertreten, dass dieser dritte Typ von Handlungen von Platon negiert wird. 662 Sokrates könnte eine Ethik vertreten, nach der alle lichkeiten durchgegangen werden. Dass diese Auslassung ein Versehen ist, wird in (4) deutlich, wenn wieder alle Möglichkeiten genannt werden. 658 Schleiermacher übersetzt aischron in 373e2 mit „unrühmlich“ und in 376a1 mit „schlecht“. 659 Technē steht (wie schon dargelegt) synonym zu epistēmē, so dass hier nach der Defnition von 375d9 nichts Neues eingeführt wurde. 660 g (376a3ff.). 661 So wird in der Arithmetik das Ergebnis einer Aufgabe richtig oder falsch bestimmt, ansonsten wird nicht gerechnet und die Handlung unterbleibt. 662 Bekanntes Beispiel für eine solche Ethik ist die stoische, die die Existenz von adiaphora ablehnt. 219 Handlungen, die nicht schlecht sind, automatisch gut sind. Sokrates hat dargelegt, dass die fähigere und bessere Seele Schändliches freiwillig aufgrund ihrer dynamis und epistēmē (bzw. technē) bewirkt. Auf dem Gebiet der Ethik nennt man Schlechtes tun Unrecht tun. Der nächste Satz ergibt sich dann folgerichtig: (6) Sokrates ersetzt den definierten Ausdruck durch das Definiens: Die fähigere und bessere Seele 663 tut, wenn sie Unrecht tut, freiwillig Unrecht, während die schlechtere Seele es unfreiwillig tut (376a9-11). 664 Der zweite Teil des Satzes erscheint nur dann folgerichtig, wenn wir in (4) umgekehrt annehmen, dass die unfähigere und unwissendere Seele aufgrund ihrer fehlenden Fähigkeit und aus Wissensmangel unfreiwillig Unrecht tut. (7) Sokrates kommt von der Seele als Trägerin von Dispositionen und Kenntnissen zum anēr agathos, der Träger der guten Seele ist; ihm steht gegenüber der kakos, dessen Seele schlecht ist (376ab1-3). Wenn nun die Gerechtigkeit ein Wissen oder eine Disposition der Seele ist, muss diese dem guten Mann zur Verfügung stehen. Der anēr agathos darf hier wieder nicht habituell verstanden werden, sondern als Meta-Träger der guten Seele. (8) Aus den Prämissen (6) und (7) kommt Sokrates zum Schluss, dass der gute Mann freiwillig Unrecht tue 665 , der schlechte unfreiwillig. Hippias bestätigt den Nachsatz, der den Besitz der guten Seele als Bedingung nennt ( , 376b5), ohne sich offensichtlich dessen Konsequenz bewusst zu sein (376b6). Diese wird erst geschehen, wenn Sokrates den Umkehrschluss zieht (9), wonach der freiwillig Fehlende und das Schändliche und Unrecht Tuende kein anderer als der Gute ist (376b7ff.). Sokrates formuliert diesen entscheidenden Satz sehr vorsichtig und sichert sich durch die eiper-Klausel ( , 376b8) sorgsam ab. 666 Hippias ist sich jetzt der Konsequenz im Klaren und lehnt den Schluss rundweg ab ( , 376b10). Der Dialog endet aporetisch (10). Sokrates ist einerseits selbst unzufrieden mit dem Schluss ( ], 376b10), hält ihn 663 Auch hier nur wird die Möglichkeit 1C durchgespielt und 1A und 1B unberücksichtigt gelassen, was aber der Gültigkeit der Argumentation keinen Abbruch tut. 664 Zembaty (Socrates’ Perplexity, 65) sieht einen unreflektierten, wenn auch zulässigen Übergang von Personentugenden zu Handlunstugenden an dieser Stelle. Dabei ist aber vorher nicht von tropoi-Termen die Rede, sondern von dynameis-Termen. 665 Sokrates unterschlägt hier den Restriktitvsatz . Da diese Unterschlagung für den Schluss irrelevant ist und die Einschränkung in (9) wieder genannt wird, können wir auch hier das principium caritatis anwenden und den Schluss nicht wegen dieses Formfehlers verwerfen. 666 Wir werden uns mit diesem particulus stantis vel cadentis interpretationis und des damit eingeleiteten Satzes in einem eigenen Kapitel eingehend beschäftigen. 220 aber dennoch für zwingend nach der Argumentation ( ’ , 376b10f.). Sokrates schwankt wieder ( , 376c2f.) und damit ist die Argumentation spiralförmig zu der ersten Aporie zurückgekehrt (372d7-e1). Der Grund des damaligen Schwankens war das Paradoxon, dass der freiwillig Fehlende besser sei als der unfreiwillig sich Vergehende. Die damalige Hoffnung auf Hippias’ Therapie, die eine Lösung des Paradoxons bringen sollte, hat sich weder in der induktiven und noch in der deduktiven Argumentation erfüllt. Sokrates’ Schwanken, das er als Zeichen seiner Unwissenheit sieht (376c3) 667 , trifft auch den Weisen. Hippias’ Anspruch auf Allkompetenz bleibt uneingelöst und zurück bleibt wieder einmal mehr ein ratloser Sokrates. Die Aporie stellt den Leser umso mehr vor die Aufgabe, sich mit der Klärung der aufgeworfenen Fragen zu beschäftigen. Ist die deduktive Argumentation formal konsistent? Wie sind deren Prämissen (die Definitionsmöglichkeiten der Gerechtigkeit) zu bewerten? Und schließlich die Frage der nach eiper-Klausel: Gibt es jemanden der freiwillig Unrecht tut? Die Beantwortung dieser Fragen lässt uns dann zur Frage nach Platons Intention des Hippias Minor kommen. 2. Schluss und Schlüssigkeit der deduktiven Argumentation 2.1 Formale Kritik Als Ursachen für einen Paralogismus werden drei mögliche formale Fehler vorgebracht: (I) Fehlende Explizierung des quantitativen Charakters von Gerechtigkeit in (1) (II) Fehlender Bikonditional-Zusammenhang in (8) (III) Äquivokation des dynamis-Terms (Kraus) (I) Fehlende Explizierung des quantitativen Charakters von Gerechtigkeit in (1) In der Anfangsthese (1) wird Gerechtigkeit entweder (a) als dynamis, (b) epistēmē oder (c) einer Kombination von beidem definiert. Gerechtigkeit wird also, wie es scheint, über Qualitäten bestimmt, deren Vorhandensein diese Tugend instantiiert. Damit ist auch Gerechtigkeit eine Qualität. Qualitäten sind im Unterschied zu Quantitäten nicht steigerbar, d.h. entweder eine Qualität ist vorhanden oder nicht, graduelle Abstufungen sind nicht möglich. In der Anwendung (2) werden aber Quantitäten vorausgesetzt, wie die Komparative deutlich machen: Wenn Gerechtigkeit eine dynamis ist, ist die fähigere Seele die gerechtere oder wenn (1b) gilt, die wissendere 667 Vgl. 372c1. 221 Seele oder im Fall von (1c) die fähigere und wissendere Seele. Es wurde aber nicht expliziert, dass diese Qualitäten wie Quantitäten steigerbar sind. Der Schluss von (1) auf (2) wäre somit ungültig. (II) Fehlender Bikonditional-Zusammenhang in (8) In (9) wird durch Umkehrschluss von (8) geschlossen, dass der freiwillig Unrecht Tuende der gute Mann ist. Ein Umkehrschluss ist nur erlaubt, wenn ein Bikonditional vorliegt und die notwendige auch die hinreichende Bedingung ist. In (8) ist das nicht gegeben, da an dieser Stelle nicht gesagt wird, dass nur der gute Mann freiwillig Unrecht tue. (III) Äquivokation des dynamis-Terms (Kraus) Kraus macht eine „Zweideutigkeit des Wortes “ aus. Wenn Gerechtigkeit als dynamis identifiziert wird, ist nach Kraus nicht eine Macht des Willens, sondern ein zum Wollen bestimmendes Prinzip, das bei Platon gelegentlich auch als hexis (vgl. R. 443e; 411e) bezeichnet wird, gemeint. 668 Der Gute hat zwar die Fähigkeit, wenn er will, das Schlechte zu tun, aber ihm fehlt gerade die Fähigkeit, zum unrechten Wollen bestimmt zu werden, da er die hexis besitzt, die ausnahmslos zum rechten Wollen determiniert. 669 2.2 Inhaltliche Kritik Neben diesen formalen Fragepunkten finden sich etliche Gründe für eine inhaltliche Kritik. In der Antike attackierte Aristoteles (IV und V) die Prämisse (1) scharf. In der Neuzeit problematisieren Zembaty (VI) und Jantzen (VII und VIII) verschiedene Aspekte der Argumentation. (IV) Tugend ist keine dynamis (Aristoteles) Im vierten Kapitel seines zweiten Buches der Nikomachischen Ethik untersucht Aristoteles das Wesen der Tugend. Als Kandidaten werden hier Affekte (pathē), Fähigkeiten (dynameis) und Haltungen (hexeis) in Betracht gezogen. 670 In einem Negativbeweis zeigt Aristoteles, dass hexeis das Wesen der Tugend ausmachen. Gegen die dynamis führt er folgende Argumente an: (i) Der Besitz einer dynamis macht weder lobensnoch tadelnswert. Fähigkeiten sind Naturgaben und unterliegen als solche nicht der 668 Vgl. K RAUS , Hippias minor, 26. 669 Vgl. K RAUS , Hippias minor, 30. K RAUS nimmt zwar keine Analyse vor, wann dynmis eine hexis oder eine Fähigkeit im umgangsprachlichen Sinn bezeichnet, aber Kraus’ These angewandt würde bedeuten: In (1) und (2) wird dynamis als hexis verstanden, während in (3), (4) und (6) das normalsprachliche Verständnis intendiert ist. 670 Dabei handelt es sich um psychische Phänomene ( , 1105b20), zu denen epistēmē offensichtlich nicht gezählt wird. 222 Bewertung von „gut“ und „schlecht“ (1106a6-13). Im Rahmen seiner Untersuchung der Gerechtigkeit im fünften Buch der Nikomachischen Ethik führt Aristoteles einen weiteren Unterschied (ii) zwischen hexis und dynamis an: Eine hexis umfasst im Unterschied zu einer dynamis keine Gegensätze, da beispielsweise von der hexis der Gesundheit keine Krankheit ausgehen kann (1129a11-17). (V) Tugend ist keine epistēmē theoretikē (Aristoteles) Aristoteles unterzieht im fünften Kapitel des ersten Buches der Eudemischen Ethik (1216b1-25) die sokratische Frage „Was ist Gerechtigkeit“ einer wissenschaftstheoretischen Kritik. Die Fragestellung „Was ist“ zielt auf das Wesen einer Sache ab und gehört in den Bereich der theoretischen Wissenschaften (episthēmai theoretikai). Das Ziel einer theoretischen Wissenschaft ist Erkenntnis (gnōsis) und wer über diese verfügt, ist ein solcher Wissenschaftler; wer Kenntnis über Mathematik hat, ist ein Mathematiker. Anders ist es bei den praktischen Wissenschaften (epistēmai poiētikai). Deren Ziel ist die Verwirklichung ihrer jeweiligen Aufgabe. So ist es beispielsweise das Ziel der Heilkunst die Gesundheit und der Staatskunst die gute Gesetzebung. Dem Ziel entsprechend ist auch die Fragestellung nicht „was ist“, sondern „wie“ oder „wodurch“ entsteht etwas. Die Tugenden gehören in den Bereich der praktischen Wissenschaften. Bei den Tugenden wollen wir nicht wissen, was sie sind, sondern wie sie entstehen, denn wir wollen nicht wissen, was Gerechtigkeit ist, sondern wie Gerechtigkeit verwirklicht wird. (VI) Verschiedene Wirkungen trotz gleicher dynamis (Zembaty) Wenn ungerechte Handlungen das Gegenteil von gerechten sind, bleibt nach Zembaty unklar, wie die dynamis/ epistēmē/ oder beides, die die ungerechten Handlungen hervorgebracht hat, auch die gerechten bewirkt. Sokrates und Hippias geben keine Begründung, warum dynamis und/ oder technē auf jede Weise ungerechte Handlungen hervorbringen können. 671 (VII) Tun-Verrichten-Unterschied (Jantzen) In der induktiven Argumentation (374a) wird nach Jantzen von der dynamis zur Verrichtung gesprochen, die dem dortigen Beispiel des Laufens angemessen ist, da die Modi des Laufens dessen Verrichtung bedeuten. Dagegen ist in der deduktiven Demonstration von der dynamis zum Tun die 671 „If unjust acts are the opposite of just acts, then the ‘power’ which would explain the performance of unjust acts would not be the same power manifested in just acts. This possibility is never considered [...] Socrates and Hippias have given us no reason to support the claim that justice as a dynamis and/ or/ technē can also account in any way for the performance of unjust acts” (Z EMBATY , Socrate’s perplexity, 62). 223 Rede. „Der instrumentelle Ansatz, der für die Tugend [genommen wird], verlangt indessen nach einer Entsprechung und darum muß ein ,Tun’ des Schönen und Schändlichen eingeführt werden.“ Aber für Jantzen gibt es kein Tun, das durch schön und gut bzw. schändlich und schlecht direkt adverbial bestimmt ist wie das Laufen durch die Modi schnell und langsam. 672 (VIII) Problem der Zweiseitigkeit (Jantzen) (a) Problem der Besitzmetapher: Der Gute ist zweiseitg definiert durch den Besitz und den Besitzer der Fähigkeit, während der Schlechte nur einseitig definiert ist, denn ein Besitzer eines Nicht-Besitzes ist undenkbar. Die Besitzmetapher führt zu einem weiteren Problem: (b) dem Iterationsproblem. Die Besitzmetapher führt zur iterativen Verdoppelung der Fähigkeit. Der Besitzer ist qua Besitz befähigt, steht aber seiner Fähigkeit qua Besitzer gegenüber und dieses Gegenüberstehen muss nach Jantzen als Fähigkeit gedeutet werden, womit sich das Verhältnis fortsetzt. Zum Abbruch der Iteration kommt es erst, wenn wir vom Fähigen direkt und nicht über den Besitz seiner Fähigkeit sprechen (so vom Steuermann anstatt vom Besitzer der Steuermannskunst). 2.3 Auseinandersetzung mit der formalen Kritik Wir werden im Folgenden die einzelnen formalen Kritikpunkte durchgehen und so überprüfen, wie valide die Argumentation in dieser Hinsicht ist. Der Vorwurf (I), dass der quantitative Charakter der Gerechtigkeit und ihrer Konstituenten nicht expliziert wird, ist zwar für den Teil der Argumentation formal korrekt, aber für den Dialog als Ganzen nicht zutreffend. Sokrates benutzt häufig die Adjektiv-Derivate (der Termini dynamis und epistēmē) dynatos und sophos im Superlativ, so wenn er beispielsweise Hippias als den dynatōtatos und sophōtatos im Rechnen bezeichnet (366c3). Fähigkeit und Fachwissen auf einem Gebiet können demnach in graduellen Abstufungen auftreten und tun es auch im normalsprachlichen Verständnis. Daher erscheint es völlig problemlos, Sokrates diese Sicht auch im Fall der Gerechtigkeit zu unterstellen. 673 Das Anlegen eines Maßstabes moder- 672 J ANTZEN , Hippias minor, 103. 673 Diese Vorstellung verträgt sich gut mit der platonischen Lehre von den verschiedenen ontologischen Wahrheits- und Wissenstufen, die ein aproximatives Erreichen von Wahrheit und Wissen bedingen. Es bleibt allerdings offen, warum Sokrates an dieser Stelle überhaupt auf die Komparativformen zurückgreift und die Aussagen nicht im Positiv formuliert. 224 ner Logik, wonach alle nicht ausdrücklich explizierten Voraussetzungen, auch wenn sie normalsprachlich üblich und als Homolougomena dialogintern akzeptiert sind, die formale Gültigkeit des Schlusses aufheben, ist m. E. ungeeignet. Der fehlende Bikonditionalzusammenhang (II) in (8), der einen Umkehrschluss in (9) verbietet, birgt in der Tat Probleme. Ein Bikonditionalzusammenhang ist nur dann gegeben, wenn gilt: Nur der gute Mann tut freiwillig Unrecht. Aber das wird weder hier noch an anderer Stelle im Dialog behauptet. Im Lügner-Paradoxon sagt Sokrates, dass der unverständige Lügner häufig ( , 367a1f.), aber nicht immer, statt das beabsichtigte Falsche das Richtige trifft, während der verständige, immer wenn er lügen will, lügt. Es ist also beim Lügner-Paradoxon, das dem Übeltäter- Paradoxon als prinzipielle Argumentationsgrundlage dient, nicht nur der Verständige, der freiwillig lügen kann, sondern auch der Unverständige. Gleiches gilt auch für diese Argumentation. Wenn in (6) gesagt wird, dass die fähigere und wissendere Seele, die nach (7) den guten Mann ausmacht, nur freiwillig Unrecht tut, wenn sie denn Unrecht tut, darf nicht geschlossen werden, dass nur diese freiwillig Unrecht tut. Der Umkehrschluss ist vielmehr, dass der schlechte Mann mit der weniger fähigen und wissenden Seele nicht immer (aber manchmal) freiwillig Unrecht tut, wenn er Unrecht tut. Das Beweisziel, dass der freiwillig Unrecht Tuende identisch mit dem guten Mann ist und somit eine Identität wie zwischen dem Lügner und dem Wahrhaftigen vorliegt, ist nicht erreicht. Sokrates scheint sich des Paralogismus nicht bewusst zu sein, er schwankt zwar wegen des Ergebnisses, hält es aber für notwendig aus der Arumentation folgend ( ’ , 376b11-c1). Wir sollten Sokrates ernst nehmen und hinter seinen Worten nicht eine Täuschung vermuten, wenn nicht gute Gründe dafür sprechen, die aber hier nicht auszumachen sind. Die Frage, ob auch sein Schöpfer Platon den Fehlschluss nicht bemerkt hat, wollen wir bis zur Interpretation der auktorialen Intention verschieben. Was bedeutet das für Fragestellung des Dialoges? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir sehen, welche Aussage stattdessen formal korrekt wäre. Der Schluss aus (8) müsste lauten: Nur der gute Mann tut, wenn er denn Unrecht tut, dies immer freiwillig. Diese These ist ungleich schwächer als die Identitätsthese, aber bleibt dennoch ein Paradox und es steht weiter das Problem im Raum, ob es solch einen Menschen geben kann. Dem von Kraus erhobenen Vorwurf einer Äquivokation des dynamis- Terms (III) fehlt eine ausführliche Begründung und solange diese nicht erbracht ist, gilt das forensische Prinzip der Unschuldsvermutung auch für Platon. 225 2.4 Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Kritik Wir kommen von der Überprüfung der formalen Kritik zur der Auseinandersetzung mit der inhaltlichen. Es stellt sich in (IV) die Frage, inwieweit das aristotelische dynamis- Verständnis dem platonischen entspricht. Wird daher die aristotelische Kritik überhaupt der platonischen Intention gerecht? Im 12. Kapitel des fünften Buches der Metaphysik unterscheidet Aristoteles u.a. zwischen einem metaphysischen und einem ethischen Verständnis von dynamis. Metaphysisch wird dynamis als Prinzip der Bewegung oder Veränderung (archē metabolikē) verstanden (1019a15-18). Das ethische Verständnis fasst dynamis als Prinzip des Wirkens oder Leidens auf, das einer Bewertung aufgrund des Handlungszieles oder einem Vorsatz unterliegt (1019a35-40). 674 Das letzte Verständnis ist ein Spezialfall des ersteren. Platons dynamis-Konzept im Hippias Minor entspricht dem metaphysischen bei Aristoteles. 675 Es bleibt die Frage, inwieweit das platonische dynamis-Konzept von der aristotelischen Kritik betroffen ist. Das Problem wird umso komplexer, wenn man wie Kraus eine weitere Unterscheidung der dynamis in aktive und passive annimmt. Passive dynameis sind - wie im vierten Kapitel des zweiten Buches der Nikomachischen Ethik dargelegt - angeboren und daher keine Tugenden. Aktive dynameis sind dagegen erworben und bilden eine besondere Art von dynamis, mit denen Tugend identifiziert wird. Als Beleg für diese Unterscheidung führt Kraus jene Passage aus dem 12. Kapitel des sechsten Buches der Nikomachischen Ethik an, in dem hexis und dynamis synonym gebraucht werden. 676 Ein weiterer wichtiger Beleg findet sich im neunten Kapitel des ersten Buches der Rhetorik. Dort definiert Aristoteles die Tugend als dynamis, (a) sich Güter zu verschaffen und (b) wohltätig zu sein mit vielen und großen Dingen gegenüber allen. Diese Definition steht in einem scharfen Kontrast 677 zur Definition der Charaktertugend in den bei- 674 Aristoteles führt als Beispiele die (metaphysische) dynamis des Gehens oder Sprechens an, die aber nicht unbedingt zusammenfällt mit der (ethischen) dynamis des schönen Gehens oder Sprechens oder der Umsetzung des eigenen Vorsatzes (auf eine bestimmte Art) zu gehen oder zu sprechen. 675 Vgl. K RAUS , Hippias minor, 22. 676 Vgl. K RAUS , Hippias minor, 25. […] ’ (1143a 25; 28f.) 677 C HRISTOF R APP räumt ein, „dass die Bestimmung der Tugend als Fähigkeit noch keine Unvereinbarkeit der als populär dargestellten Auffassung der Rhetorik und der philosophischen Position begründet. Weil der Begriff der Fähigkeit in der Rhetorik wohl eher unspezifisch gebraucht ist, ist dieser Hinweis durchaus berechtigt“ (Aristoteles. Rhetorik, 400). Auch sieht hier Rapp keine konkurrierenden Konzepte, sondern vielmehr komplementäre vorliegen, in der die philosophische Theorie als Versuch 226 den Ethiken (EE II 10, 1227b8-10; EN II 6, 1106b36-1107a2) und knüpft stattdessen an populäre Vorstellungen von Tugend an, wie sie im Menon vorgestellt und verworfen wurden. 678 Das in der Rhetorik formulierte Tugend- Konzept weist eine große Nähe zum Hippias auf, da in beiden Fällen dynamis als Fähigkeit verstanden wird, eine als positiv bewertete und intendierte Handlung zu realisieren. Ebenfalls populäre Tugendvorstellungen vermittelt der aristotelische Hymnus an die Tugend. 679 In dem 338 v. Chr. wohl als Enkomion entstandenen Hymnus heißt es über die aretē: „Deinetwegen erduldeten der Sohn des Zeus Herakles und die Helden Lea viele Mühen/ nach deiner dynamis dürstend/ und im Verlangen nach dir gingen Achill und Aias in des Hades Haus.“ 680 Die Tugend wird hier als dynamis verstanden, die Objekt eines Strebens und somit nicht eine Naturanlage ist. Als aktive dynamis gleicht doch auch hier die aretē einer hexis, die durch die Bemühung um sie erworben wird. Im Unterschied zur sonst üblichen hexis liegt der Fokus nicht auf der Neigung, sondern auf der Bereitschaft zur Tugend. Wie wird nun dynamis von Sokrates verstanden und ist dieses Verständnis gegen die aristotelische Kritik immun? Um den ersten Teil der Frage zu beantworten, müssen wir noch einmal auf die Verwendung von dynamis in den Beispielen schauen. Wenn Sokrates Hippias im Zusammenhang mit dem Lügnger-Paradoxon als dynatotatos und sophotatatos (366d3ff.) in diversen epistēmai bezeichnet, dann ist diese dynamis (wie die epistēmai) erworben und kann nur mit den epistēmai auftreten. Dieses dynamis-Verständnis würde ein Gerechtigkeitsmodell wie in (1c) implizieren, in dem dikaiosynē eine Kombination von dynamis und epistēmē darstellt. Uneinheitlich zeigt sich dagegen das dynamis-Verständnis in den Beispielen des Übeltäter-Paradoxons. Für die Beispiele beeinträchtigter Körperfunkti- verstanden werden kann, die Probleme, die sich aus der populären Sicht ergeben, auf höherer Ebene zu beheben (ibid. 401). 678 Mit dem Menon teilt diese Stelle die Auffassung, dass die Tugenden in die Lage versetzen sollen, das Erstrebte zu realisieren. Während im platonischen Dialog diese Ziele allgemein durch gelingendes Handeln im privaten und öffentlichen Bereich charakterisiert werden, sind sie in der Rhetorik nur als Güter beschrieben. Dabei bleibt zuerst (a) offen, zu wessen Gunsten die durch die Tugend erworbenen und bewahrten Güter gebraucht werden, wird dann aber in der Definition (b) auf eine wohltätige Wirkung für alle spezifiziert. 679 Der Text wird zitiert nach der zweibändigen Ausgabe Greek Hymns von W ILLIAM F URLEY / J AN M AARTEN B REMER (Tübingen 2001) Bd. 2, S. 222 680 ’ ’ ’ † [...] † ’ ΐΐ . (Verse 9-12; Einrückung des letzten Verses gemäß der Textausgabe). 227 onen (wie das Hinken und die Kurzsichtigkeit) und funktionsuntüchtiger Werkzeuge ist die Vorstellung erworbener dynameis auszuschließen und vielmehr anzunehmen, die jeweilige dynamis sei von Natur (wie bei den Körperorganen) oder von der Herstellung (bei Werkzeugen) zugegen oder nicht vorhanden. 681 Bei den Beispielen der Körperbewegung (dem Laufen, Ringen, Harmonie der Bewegungen und der Stimme) könnten dahinterstehende dynameis teilweise angeboren (als grundsätzliche Fähigkeit) und teilweise erworbene sein (als spezielle Fähigkeit durch Training und Übung). Für den Fall, dass wir den technai und epistēmai (375a12-c7) dynameis als Begleiter zubilligen und wieder eine Kombination (wie in 1c) annehmen 682 , wird es sich auch um erworbene dynameis handeln. Zusammengefasst lassen sich drei mögliche Formen von dynamis bei Platon unterscheiden: (i) die (von Natur) gegebene, (ii) die erworbene und (iii) die Kombination von gegebener und erworbener. Im Fall (i) würde die aristotelische Kritik voll greifen und es wäre unverständlich, warum Gerechtigkeit lobens- und Ungerechtigkeit tadelnswert wäre. Im Fall (ii) ließe sich vorstellen, dass die grundsätzliche Fähigkeit zur Ausbildung der Tugend angeboren, die Tugend aber selbst erworben werden muss. Diese Vorstellung wäre auch prinzipiell gegen die aristotelische Kritik gefeit 683 wie der Fall (iii). Wir haben bisher nur das Kriterium der Zuschreibbarkeit überprüft. Zuschreibbarkeit ist die Voraussetzung für Verdienstlichkeit und somit für die Prädikation von lobens- und tadelnswert. Aristoteles hat noch ein weiteres Kriterium formuliert: das Verbot von gegensätzlichen Effekten. Es ist das ontologische Proprium von dynameis, dass sie sowohl ihren Inhalt als auch dessen Gegenteil bewirken können. Dabei ist es vom Gebiet und Inhalt der dynamis abhängig, ob das konträre oder sogar kontradiktorische Gegenteil evoziert werden kann. Bei der Gerechtigkeit ist es fraglich, ob die Fähigkeit zur gerechten Handlung notwendigerweise auch die Fähigkeit zum kontradiktorischen Gegenteil impliziert. Das Antonym zu Gerechtigkeit ist zwar die Ungerechtigkeit, aber es besteht durchaus die Möglichkeit der Vorstellung von indifferenten Handlungen. Dann würde auch die aristotelische Kritik, die nur kontradiktorische Effekte verbietet (wie das Hervorbringen von Krankheit durch Gesundheit), nicht treffen. 681 Es stellt sich die Frage, ob solche (naturgegebene oder vom Menschen erzeugte) dynameis durch unsachgemäße Anwendung Schaden erleiden (wie bei Organen) oder verschlissen werden können (wie Werkzeuge). 682 Sokrates ordnet die Beispiele der induktiven Argumentation nicht streng nach Schema, so dass ersichtlich wäre, ob eine dynamis und in Kombination mit epistēmē oder eine reine epistēmē gemeint ist. 683 Das würde sogar mit der Annahme, dass es ein paar moralisch „Unmusikalische” geben könnte, die wie Blinde oder Taube des jeweiligen Sinnes entbehren, der grundsätzlichen Fähigkeit zum Erwerb der moralischen Qualität ermangelten, vereinbar sein. 228 Aber auch für die Annahme einer zweiwertigen Ethik bei Platon (die Adiaphora ausschließt) lässt sich der aristotelischen Kritik entgegenhalten: Ist die reine Möglichkeit zum gegensätzlichen Effekt einer Tugend ein hinreichender Grund für die Verweigerung des Tugend-Status? Aristoteles’ Konzept von Tugend als dynamis beinhaltet notwendigerweise auch die Möglichkeit des gegensätzlichen Effekts (wobei wieder fraglich ist, ob er das konträre oder kontradiktorische Gegenteil bewirkt 684 ). Dennoch lässt sich durchaus kritisch anfragen, ob analog zur Güterlehre - dort rangieren Güter, die (prinzipiell) missbrauchbar sind, auf der Güterskala unten - auch ein Gerechtigkeitskonzept, das die potentielle Möglichkeit eines gegensätzlichen Effektes beinhaltet, axioloisch nicht inferiorer sein muss als ein Verständnis, das diese Möglichkeit nicht zulässt. Die Option, Gerechtigkeit als dynamis aufzufassen, erweist sich nicht als unmöglich, doch ist diese philosophisch höchst problematisch. 685 Zur Verteidigung Platons gegen die aristotelische Kritik (V) lässt sich einwenden, dass sich Platon dieser wissenschaftstheoretischen Unterscheidung wohl bewusst war, wie der Charmides zeigt. Dort wird bei (praktischen) epistēmai zwischen Gegenstand und Inhalt unterschieden. Im Beispiel der Heilkunde ist der Gegenstand dieser epistēmē das Gesunde (und die Frage: Was ist das? ) und ihr Inhalt die Gesundheit (verbunden mit der Frage: Wie wird diese erreicht). Im Fall der Gerechtigkeit wäre also das Gerechte der Gegenstand und das gerechte Handeln der Inhalt. Platons Konzept der praktischen Wissenschaft verbindet Ontologie mit Ethik und erklärt, warum jemand aus dem Wissen des Gerechten gerecht handelt. Aus dem Wissen um das Wesen des Gerechten weiß der Experte auf dem Gebiet der dikaiosynē, wie er gerechte Handlungen ausführen muss. 686 Es stellt sich daher die Frage, ob der Experte wider dieses Wissen ungerecht handeln kann. 687 Zembatys Kritik (VI) ist bedingt gerechtfertigt. Aus der bisherigen Argumentation geht hervor, dass eine dynamis bzw. epistēmē durchaus Ursache gegenteiliger Handlungen sein kann, wie das Lügner-Paradoxon zeigt: 684 Ist das Gegenteil von sich Güter zu verschaffen, sich keine Güter zu verschaffen gleichbedeutend mit dem Verschaffen von Übeln? Oder bei den Wohltaten gegenüber Freunden die Schädigung? 685 Platon hat diese Problematik in späteren Dialogen als unüberwindbar angesehen und daher eine Tugendefinition über die dynamis verworfen. Der Hippias Minor steht vielleicht zu Beginn der Kritik an der populärphilosophischen aretē-Definition, und diese Kritik wird später Allgemeingut sein. 686 Der aristotelische Experte weiß zwar auch um das Wie, aber eine ontoloisch fundierte Begründung für das gerechte Handeln vermag dieses Konzept nicht zu geben. 687 Auch diese Problematik klingt hier schon an, bleibt aber bis zum Gorgias ungelöst. 229 im Fall eines kontradiktorischen Gegenteils, da es zwischen Wahrheit und Lüge kein Tertium gibt. Dagegen ist auf ethischem Gebiet durchaus möglich, zwischen gerechter und ungerechter auch eine indifferente Handlung anzunehmen. Hier ist auch m. E. das Hauptproblem zu sehen, das sich aber löst, wenn wir bei Platon eine zweiwertige Ethik, die adiaphora auschließt, annehmen. Jantzens Kritik (VII) beruht auf einer Tun-Verrichten-Unterscheidung, die von außen an die Argumentation herangetragen wenig aufschlussreich und vielmehr verwirrend ist. Wenn wir von einer Teleologie jeglichen Handelns ausgehen, lässt sich ein Kriterium für jedes Tun oder Handeln benennen, das bestimmt, ob die Handlung gut (und somit das Ziel erreicht) oder schlecht (und somit das Ziel verfehlt) ist. Das Ziel des Laufens ist die Geschwindigkeit, langsames Laufen, das dieses Ziel verfehlt, ist schlecht, schnelles Laufen, das das Ziel realisiert, ist gut. Das (der Gerechtigkeit zugängliche) Handeln zielt auf Gerechtigkeit, gerecht handeln heißt dann gut handeln, ungerecht handeln schlecht handeln. Dann unterscheiden sich auch nicht mehr Laufen und menschliches Handeln. Jantzens hausgemachtes Problem der Zweiseitigkeit (VIII) lässt sich durch eine philosophische Sprachtherapie heilen. Wenn x die Fähigkeit y zu tun hat, ist x fähig y zu tun. Die Fähigkeit ist also nicht als Besitzgegenstand, sondern als Eigenschaft von x aufzufassen, der auch keine Vermittlungsinstanz (mit Iterationsfolge) braucht, um auf diese Fähigkeit zurückzugreifen. Das Problem der Besitzmetapher entfällt damit. Der Gute ist definiert, dass er die Fähigkeit y hat, während der Schlechte dadurch bestimmt ist, dass er über diese Eigenschaft nicht verfügt. 2.5 Resümee Was bleibt also? Die philosophischen Prämissen erweisen sich als problematisch, aber nicht unmöglich. Auch die aristotelische Auseinandersetzung, die wohl wichtigste und beste, konnte kein knock-down-Argument gegen eine dieser Grundannahmen für das Wesen der Gerechtigkeit anführen. Die Argumentation ist vielmehr formallogisch fehlerhaft, da sie sich eines unerlaubten Umkehrschlusses bedient. Die These, dass (nur) der gute Mann freiwillig Unrecht tue, kann so nicht bewiesen werden, stattdessen gilt die Aussage, wonach nur der gute Mann, wenn er Unrecht tut, es immer freiwillig tut. Damit bleibt die Frage, ob es denn überhaupt einen Menschen geben kann, der freiwillig fehlt. Deren Antwort wird aufschlussreich für die Interpretation des ganzen Dialoges sein. 230 C - Anmerkungen 375d5: Aber so scheinen sie Die Manuskripte TW überliefern hier den Singular , während die Handschriften SF den Plural führen. 688 Der Text der Belles- Lettres-Ausgabe folgt den wichtigen Handschriften TW 689 ; Vancamp, der unserer Übersetzung als Textgrundlage dient, votiert (mit Burnet) für den Plural als lectio difficilior gegenüber TW. 690 Diese Entscheidung erscheint m. E. plausibel, aber auch im Fall des Singulars würde sich keine gravierende Sinnänderung ergeben. 688 H ADEN bemerkt zu diesem Lesartunterschied: „The manuscript’s evidence differs on whether the verb “appears” is singular or plural. If the latter, then Socrates is saying that voluntary wrong-doers appear to be better persons, thus agreeing with Hippias; if the former, then he seems to be referring in a general way to the conclusion of the argument as he has just stated it, which is different from the way Hippias took it” (On the Hippias Minor, S. 167 Anm. 13). Es wird dabei nicht deutlich, inwiefern sich genau Plural- und Singular-Variante inhaltlich unterschieden. Haden belässt es bei der Konstatierung, ohne selbst Position zu beziehen - nicht einmal ein „non liqued“. 689 Die zweisprachige Platon-Studienausgabe, die auf dem Belles-Lettres-Text basiert, vermerkt die Plural-Lesart nicht einmal im textkritischen Apparat. 690 Wie mir Herr Vancamp freundlicherweise auf schriftliche Nachfrage mitteilte. 231 7. Epilog: Schlussinterpretation 1. Die eiper-Klausel oder die Frage: Kann jemand freiwillig fehlen? Der mit der Konjuktion eiper eingeleitete Konditionalsatz „Wenn es überhaupt einen solchen geben sollte“ ( , 376b8), dessen Inhalt durch den (griechischen) Partizipialsatz 691 „der also sich freiwillig verfehlt und Schändliches und Unrechtes tut“ ( , 376b7) näher bestimmt wird, lässt prinzipiell drei Verständnismöglichkeiten hinsichtlich einer Stellungnahme des Sprechers zum Gesagten zu: (1) aporetisch: Sokrates ist sich selbst darüber nicht im Klaren oder lässt offen, ob ein solcher tatsächlich existiert. (2) negativ: Sokrates insinuiert, dass ein solcher nicht existiert und niemand freiwillig fehlt. (3) affimativ: Sokrates insinuiert, dass ein solcher unter gewissen Umständen existiert. Welchem Verständnis man den Vorzug gibt, hängt damit zusammen, welche Position man für das gesamtplatonische Œuvre im Allgemeinen und für diesen Dialog im Speziellen vertritt, wie auch umgekehrt die Exegese dieser Stelle die Interpretation des Dialoges bestimmt. Wir müssen uns dieses hermeneutischen Zirkels bewusst sein, um ihn, so weit und so gut wie möglich, zu durchbrechen und unsere Interpretation auf eine breitere Basis zu stellen. 1.1 Es ist unklar, ob es der freiwillig Fehlende existiert Diese Position ist in der Sekundärliteratur am spärlichsten vertreten und lässt sich meines Wissens nur bei John Phillips finden. Phillips widersetzt sich einer „Socratic-Platonic“-Hermeneutik, die den Hippias Minor nicht dialogimmanent interpretiert, sondern vor dem Hintergrund einer aus dem Gesamtœuvre rekonstruierten platonischen Philosophie verstehen will. Diesen Ansatz beurteilt Phillips als überflüssig (unnecessary) und darüber hinaus als Verstoß gegen gute Evidenzregeln (violates sound rules of evi- 691 Das griechische Partizip betont im Gegensatz zum finiten Verb, dass es sich dabei um eine dauerhafte Eigenschaft handelt. Im Deutschen, wo diese Unterscheidung nicht geläufig ist, wird das Partizip aus stilistischen Gründen als finites Verb wiedergegeben. 232 dence). Für Phillips wird aus dem Dialog nicht ersichtlich „whether the good man does ‚good’ or ‚bad’ or neither.“ 692 1.2 Niemand fehlt freiwillig In der Forschung wird mehrheitlich für (2) optiert und die These vertreten, Sokrates schließe die Existenz eines Menschen, der freiwillig Unrecht tut, aus. Zur Begründung dieser These werden textiinterne und texteexterne Argumente angeführt. Die textimmanente Argumentation weist auf die eiper-Klausel hin. (I) Warnsignal durch Einschränkung (Ackeren/ Hoerber) Das Vorhandensein dieser eiper-Klausel als deutlichen Hinweis an den Leser, dass es eine solche Person nicht gibt, sehen Hoerber 693 und van Acheren 694 . Van Ackeren macht in Sokrates’ Schwanken (376c2) ein weiteres Indiz für einen clandestinen Widerruf der These aus. Die textexternen Argumente lassen sich auf drei Typen reduzieren: (II) Transzendentalpragmatische Argumentation (Gauss) Hermann Gauss argumentiert, dass es unmöglich sei, das Wahre zu wissen und sich gleichzeitig zu belügen. „Denn im Augenblick, wo ich mich selber belüge, hörte ich ja auf, vorausgesetzt ich könnte mich wirklich belügen, das Wahre zu wissen.“ 695 Daher komme dieser Fall in Wirklichkeit nicht vor. (III) Unwissenheit bedeutet Aufhebung der Freiheit (Eckert/ Croiset) Für Eckert ist Gerechtigkeit bei Platon die Erkenntnis des Guten und Gerechten. Wer das Gute und Gerechte nicht kennt, handelt unter dem Zwang der Unwissenheit schlecht und ungerecht. 696 Ähnlich kommt auch Croiset zu dem Schluss: „Toute mauvaise action est donc une erreur ou, en d’autres termes, une ignorance ; la vertu, au contraire, est une connaissance de la réalité des choses, une science. “ 697 (IV) Niemand will freiwillig unglücklich sein (Sprague/ Wieland) Nach Rosamond Kent Sprague basiert die These von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns auf zwei Prämissen: (i) (dynamis-Konzept) Ein Mensch kann nur das tun, was in dessen Macht liegt. (ii) (eudaimonia-Konzept) Ein Mensch tut das, wonach er verlangt, d. h. das was ihm gut erscheint. Die einzig mögliche Erklärung eines Fehlers liegt darin, dass das für gut gehal- 692 P HILLIPS , Hippias minor, 126. 693 H OERBER , Plato’s Lesser Hippias, 128. 694 V AN A CKEREN , M ARCEL , Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität der Theorie des Tugendwissens in den Dialogen Platons, Amsterdam / Philadelphia 2003, 59. 695 G AUSS , H ERMANN , Philosophischer Kommentar, 196. 696 Vgl. E CKERT , Dialektische Scherz, 32. 697 M AURICE C ROISET , Platon œuvres complètes, 22. 233 tene nur den Anschein des Guten hatte. 698 Wolfgang Wieland teilt wie Sprague die Ansicht, dass der sokratische Satz von der Unfreiwilligkeit allen Verfehlens in Zusammenhang mit der Vorstellung der Eudaimonie als letztem Ziel menschlichen Handelns steht. Der Mensch mag sich über dessen Charakter irren und zu dessen Erreichung vielleicht sogar unfähig sein, wie Wiegand einräumt 699 , aber er kann trotzdem diesem Ziel nicht wissentlich und willentlich entgegen handeln. 700 Wieland sieht überdies einen Zusammenhang zwischen dem Satz von der Unfreiwilligkeit allen Unrechttuns und dem Satz, dass Unrecht erleiden bessser sei als Unrecht tun. Wer im Konfliktfall dem Unrechttun den Vorzug gibt, weiß nicht, was er tut, da er sein Handeln nicht unter dem Gesichtpunkt seiner unsterblichen Seele betrachtet, die nach dem Tod in einem Jenseits für zu Lebzeiten begangenes Unrecht bestraft wird. 701 1.3 Es gibt den freiwillig Fehlenden Aber auch die These, dass der freiwillig Fehlende existiert, findet einige Anhänger. (V) Widerlegung der sokratischen Tugend-ist-Wissen-These Ernst Horneffer vertritt die These, dass es sich bei der Argumentation um eine reductio ad absurdum der sokratischen Identifikation von Tugend und Wissen durch Platon handele. Mit der eiper-Klausel setze Platon „das Vorhandensein von Menschen, die freiwillig Böses tun, voraus. Und deshalb glaubt er auch mit seiner absurden Schlussfolgerung, daß diese die sittlich besseren sind, den Satz des Sokrates zu treffen.“ 702 (VI) Schlechtigkeit setzt Wissen voraus (Erler) Erler wendet sich vehement gegen die Deutung, „daß Platon einen beinahe zwanzigseitigen Beweisgang […] vorführt, nur um durch einen kleinen Einschub zu zeigen, daß das Ergebnis nichtig ist.“ Für Erler folgt aus der Nutzung der gegebenen Möglichkeiten und der Wahl des Schlechten, dass dies eben nicht aus Unkenntnis auf dem jeweiligen Gebiet und somit unfreiwillig geschehe, sondern es könne nur aufgrund dieses Wissens ge- 698 Vgl. S PRAGUE , Plato’s use of fallacy, 77. Vgl. auch M ICHAEL O’B RIEN , The Socratic Paradoxon, 144f. 699 Wenn es einen solchen Experten des Guten geben sollte, der allein weiß, was er will und wie er es erreichen kann, würde er nicht (freiwillig) Unrecht tun. Das Wissen vom Guten und der Eudaimonie als letzten Zweck schließt im Gegensatz zu allem anderen (technischen) Wissen eine alternative Zweckanwendung aus. Wieland gibt allerdings bei dieser Spekulation zu: „Doch diese Thematik liegt jenseits der Grenzen, innerhalb deren sich die Erörterungen im ,Hippias minor’ bewegen“ (W IELAND , Platon und die Formen des Wissens, 275). 700 Vgl. W IELAND , Platon und die Formen des Wissens, 268ff. 701 Vgl. W IELAND , Platon und die Formen des Wissens, 278. 702 H ORNEFFER , E RNST , Platon gegen Sokrates. Interpretationen, Leipzig 1904, 21. 234 schehen und sei somit freiwillig. Dass dies oft der Fall sei, dafür spreche die Praxis der Gesetzgebung. Auch fasse der Dialogpartner Hippias den Ausdruck nicht einschränkend oder ausschließend auf, da sein Protest sich nicht gegen die Existenz solcher Menschen richtet, sondern gegen die Folgerung, dass diese als „gut“ bezeichnet werden. 703 (VII) Unrecht für einen höheren Zweck (Erler/ Gerhard Müller/ Lampert) Für Michael Erler ergibt sich das Paradoxon, dass der Gute bisweilen Schlechtes tun muss, gerade weil er das Gute will 704 , womit Erler sich auf die pia fraus (frommen Betrug) des Philosophenherrschers beruft. 705 Auch Gerhard Müller sieht in dem freiwillig schlecht handelnden Guten einen möglichen Sonderfall, der gerade die Freiwilligkeit im Handeln des Guten im Unterschied zum Schlechten deutlich macht. Müller vertritt hier einen metaphysischen Freiwilligkeitsbegriff, nach dem Freiwilligkeit die Verfassung der Seele ist, „wenn sie zu sich selbst kommt, wenn sie sich selbst und ihre Bestimmung kennt, indem sie die Wahrheit schauend weiß, mit der sie verwandt ist […]“ 706 703 E RLER , M ICHAEL , Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons, 136f. 704 E RLER , M ICHAEL , Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons, 142. 705 Um die Akzeptanz der Ständeordnung und so das Bestehen des idealen Staates zu sichern, soll den Bürgern erzählt werden, ihre Erziehung sei ihnen „nur wie im Traume vorgekommen“ ( , 414d5), eigentlich seien sie unter der Erde geschaffen und erzogen worden. Dem Land als ihrer Mutter schuldeten sie deshalb Dank und Gehorsam und so ergebe sich für sie ihrem Stand nach die Pflicht, für das Land zu arbeiten. Neben dieser allgemeinen Verpflichtung für die Sorge um den Staat, die für die Krieger in der speziellen Verpflichtung seiner Verteidigung nach innen und außen besteht, wird auch die Ständeordnung durch eine weitere Erklärung begründet: Der Gott, der sie alle gebildet und so zu Brüdern gemacht hat, hat aber darüber hinaus einigen bei der Geburt Gold beigemischt, was sie zur Herrschaft befähigt, anderen Silber, was sie zu Gehilfen der Herrscher macht, und wieder anderen Eisen und Erz, was sie zu Bauern und Arbeitern macht. Das Wohlergehen des Staates hinge aber nach Götterspruch davon ab, dass jeder die ihm von Geburt zugewiesene Stellung im Staate einnimmt; deshalb darf es auch keine Bevorzugung geben, sollten einmal goldene Eltern einen silbernen Sprössling hervorbringen (415a1-c8). Um die Sicherstellung guten Nachwuchses und die Erhaltung des Staates zu gewährleisten, schlägt Platon ein eugenisches Programm vor, das nur die Heirat von den Anlagen passender Paare vorsieht. Damit sowohl nach staatlicher Planung die richtigen Paare zusammenfinden als auch von Missstimmungen gegenüber den Oberen vermieden werden, soll ein manipuliertes Losverfahren eingerichtet werden, „damit bei jeder Verbindung jener Schlechtere dem Glück die Schuld beimesse und nicht den Oberen“ (460a8-10). Diese Täuschungen lassen sich auch als pädagogische Lügen verstehen, bei denen vom fehlenden Verständnis der Menge ausgegangen wird, die man durch Tricks (wie Kindern) zu ihrem Glück führen muss. 706 M ÜLLER , G ERHARD , Platonische Freiwilligkeit im Dialoge Hippias Ellaton, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaften NF 5 (1979), 61-79, 64. 235 Eine ähnliche, wenn auch differenziertere Position vertritt Lampert. Die Frage, ob es den freiwillig Unrecht Tuenden gibt, beantwortet er mit einem Ja und Nein. Die Antwort ist abhängig vom Rechts- und Unrechtsverständnis. In Hippias’ Augen begeht der polytrope Odysseus Unrecht mit seinen Täuschungsmanövern, von der sokratischen Warte aus handelt dieser homerische Held weise und verantwortungsvoll, da er so den Griechen den Sieg und den Seinen die Heimkehr ermöglicht. Für Sokrates begeht der gute Mensch auch nicht freiwillig Unrecht, aber er hat andere Maßstäbe: „the truly good man acts on the basis of a responsibility - a giving of what is owed - that he alone sees as binding [...]“ 707 Das paradoxale Ergebnis löst sich für Lampert als „equivocation between two opposites, the wise view and the common view.“ 708 1.4 Philologische Antwort auf eine philosophische Frage Soweit die Forschungspositionen. Eine philosophische Interpretation dieses Satzes steht und fällt mit ihrem philologischen Fundament. Wenn wir die eiper-Klausel als Schlüssel zum Textverständnis nutzen wollen, müssen wir deren grammatikalische Grundlage näher betrachten. Es handelt sich hier um einen Konditionalsatz, der aus einem bedingenden Nebensatz (Protasis) und einem folgernden Hauptsatz (Apodosis), der nachgestellt ist, besteht: Eiper tis houtos estin, ouk an allos eiē ē ho agathos. In der Protasis steht mit dem Verb estin ein Indikativ, während in der Apodosis mit der Form eiē ein Optativ (von estin) vorliegt. Steht in der Potasis ei 709 mit Indikativ, so sieht der Sprecher die Bedingung als gewiss, unbezweifelbar und bestimmt an, ohne seine persönliche Ansicht über die Wirklichkeit der Aussage anzudeuten. 710 Steht dann in der Apodosis ein an mit Optativ, so wird die Folge als „ungewiss, zweifelhaft, als ein unentschieden Mögliches“ 711 angesehen. Daraus ergeben sich zwei Folgen für die Interpretation des Satzes: Erstens sieht Sokrates die Existenz eines freiwillig Fehlenden argumentationsintern als gewiss an, wobei er zum tatsächli- 707 L AMPERT , L AWRENCE , Socrates’ Defence of Polytropic Odysseus, 253. 708 L AMPERT , Socrates’ Defence of Polytropic Odysseus, 253. Nach L AMPERT erkennt Sokrates durchaus die Berechtigung von Hippias’ commen-sense-Verständnis an. „It is good that the famous wise [sc. Hippias] who teach the sons of Achilles the noble pursuits that bring the highest repute hold fast to the view that Achilles is the best man in Homer [...] Socrates defeats Hippias but does so in a way that honors Hippias: the victor in this verbal contest employed, it seems, merely sophistic arguments to defeat a sophist noble enough to stand firm on truth-telling even if he does not know how defend his conviction against a tricky dialectian” (254). 709 Das Suffix -per dient der Intensivierung der Konjunktion ei. 710 Vgl. R APHAEL K ÜHNER -B ERNHARD G ERTH , Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, 2 Bde., Bd. 2 Hannover 4 1995, Bd. 2 § 573 Ia (S. 466). 711 K ÜHNER -G ERTH , Ausführliche Grammatik der gr. Sprache, Bd. 2 § 573 Ib (S. 467). 236 chen (externen) Vorhandensein einer solchen Person keine Aussage macht. Zweitens hält Sokrates die Konsequenz des Gesagten, d. h. die Identifikation dieser Person mit dem guten Mann, für zumindest fraglich. Dieser zweite Punkt ist von großer Bedeutung, gibt Sokrates hier vielleicht einen Hinweis, dass er sich des vorliegenden Paralogismus bewusst ist. Im vorigen Kapitel haben wir festgestellt, dass aufgrund des fehlenden Bikonditionals der Schluss nicht lautet, dass nur der gute Mann freiwillig fehle, sondern vielmehr, dass nur der gute Mann, wenn er fehlt, immer freiwillig fehlt. Sollte Sokrates hier schon vorsichtig Zweifel bezüglich seiner Argumentation anmelden, so wird dieser Zweifel deutlich im Schlusswort durch das Schwanken des Sokrates ( , 376c2f) ausgedrückt. 712 Für unsere Eingangsfrage ergibt sich, dass Sokrates die (tatsächliche) Existenz offen lässt (1). 713 Es ergeben sich nun zwei Fragen: Welche Meinung möchte Sokrates diskutieren? Warum gibt er keinen Hinweis oder legt sie offen dar? Die These von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns durchzieht das platonische Werk, wie in Kapitel 6 in der Einführung gezeigt wurde. Die dafür angeführten Ursachen variieren in den verschiedenen Werkphasen: Werden Verfehlungen anfangs als ein rein kognitiver Defekt betrachtet, so kommen im Spätwerk auch physiologische und psychologische Ursachen hinzu. Es besteht also kein Grund zu der Annahme, dass diese Überzeugung für Platon jemals wirklich fraglich oder gar nicht ausgebildet war, zumal diese These sokratischen Ursprungs ist. 714 Wenn Sokrates hier seine These von 712 Damit wird auch Sokrates’ Vertrauen in die Gültigkeit des Schlusses ( ’ , 376b10f.) wieder relativiert und dem Einwand, Sokrates halte den Schluss für formal korrekt, inhaltlich aber für fraglich, begegnet. Der Optativ mit an in der Apodosis ist hier noch mal ein wichtiges Indiz, dass Sokrates die Konsequenz der Argumentation vorsichtig in Frage stellt. 713 In der Sekundärliteratur werden verschiedentlich (vgl. P OHLENZ , Aus Platos Werdezeit, 65; H OERTER , Plato’s Lesser Hippias, 128) Platonpassagen angeführt, in denen die im eiper-Satz gemachte Annahme tatsächlich nicht von Platon geteilt wird. Ein sehr gutes Beispiel, weil von der grammatikalischen Konstellation unserem Satz ähnlich, ist die Stelle im Euthyphron (7d8f.): […] ’ ’ Im mit eiper eingeleiteten Nebensatz steht das Prädikat im Indikativ (diapherontai), während im Hauptsatz mit an das Verb die Optativform (diapherointai) hat. Sokrates stellt hier die Frage, ob die Götter, wenn sie denn überhaupt streiten, über das Gute und Schlechte streiten. Der Streit der Götter wird zwar argumentationsintern von Sokrates angenommen, de facto aber von ihm abgelehnt (vgl. Resp. II 378b9-d3). Solche Einzelbelege beweisen natürlich nicht, dass Sokrates immer die in den eiper-Sätzen gemachten Annahmen in Wirklichkeit nicht teilt, zeigen aber, dass das manchmal der Fall ist. 714 Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Hippias Minor zu den frühen Werken zu zählen ist. Dem Einwand, Platon habe in früher Zeit diese These noch nicht vertre- 237 der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns nicht klar darlegt, dann hat das andere Gründe, die wir nicht in der Genese von Platons Philosophie suchen dürfen. Diese Frage fällt schließlich mit der Schlussfrage nach der Intention dieses Dialoges zusammen. Wir müssen klären, was Hauptgedanke des Dialoges ist, um sagen zu können, warum Platon einen Gedanken nicht weiter ausführt. Dieser Frage widmen wir uns im nächsten Kapitel. 2. Die Intention des Dialoges Was ist die Intention des Dialoges? Welchen Hauptgedanken verfolgt Platon? Im Einleitungsteil haben wir unsere Deutung gleichsam als Arbeitshypothese vorangestellt. Im Folgenden wollen wir unsere Hypothese anhand der gewonnenen Ergebnisse einer kritischen Prüfung unterziehen. Dazu soll zuerst ein Forschungsüberblick geboten werden. Dann sollen die bishrigen Forschungspositionen vor dem Hintergrund der eigenen Ergebnisse dikutiert und abschließend eine Zusammenfassung geliefert werden. 2.1 Positionen in der Forschung In der Forschung werden sieben Interpretationen diskutiert 715 : (I) Die Reductio ad absurdum sokratischer Lehren (II) Ein indirekter Beweis für platonisch-sokratische Lehren (III) Problematisierung der sophistischen Bildung (IV) Persiflage eines Sophisten (V) Ethisch-logisches Übungsstück (VI) Widerlegung falscher Konsequenzen aus dem Intellektualismus-Paradigma (VII) Darlegung des platonischen Freiheitsbegriffs (I) Die Reductio ad absurdum sokratischer Lehren (Horneffer/ Hirschberger/ Gauss/ Traglia) Ernst Horneffer sieht hier einen platonischen Angriff auf das Zentraldogma des sokratischen Intellektualismus, dass Tugend Wissen ist. Dazu habe Platon seinen literarischen Sokrates im Lügnerparadoxon mit der ten, ist entgegenzuhalten, dass es viel wahrscheinlicher ist, er habe diese Ansicht gerade in dieser Zeit aufgrund größerer Abhängigkeit von Sokrates vertreten. 715 Dieser knappe Überblick über den Forschungsstand erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zu umfangreich ist die Sekundärliteratur zu Platon, die man auf etwaige weitere Hippias-Interpretation untersuchen müsste. Berücksichtigt wurden alle bis dato erschienenen Monographien zum Thema Hippias Minor und ein Großteil der in ihnen herangezogenen weiteren Literatur, so dass wir auf mehr als 30 Autoren seit dem 19. Jahrhundert zurückgreifen können. 238 Identifikation des Lügners und Wahrhaftigen zeigen lassen, dass Wissen kein Kriterium des Wahrhaftigen ist. 716 Schließlich habe er im Übeltäterparadoxon, das in der Prämisse von der Identität von Gerechtigkeit als Wissen und/ oder Fähigkeit ausgeht, die absurde Konsequenz dieser Lehre anschaulich gemacht. 717 Nach Gauss besteht Platons Intention, auf die fehlende Spezifikation von theoretischem und praktischem Wissen bei Sokrates hinzuweisen. Der Hippias Minor steht für Gauss am Anfang von Platons philosophischer Entwicklung, in der er sich von seinem Lehrer Sokrates emanzipiert. 718 Traglia vertritt die Ansicht, Platon wolle hier nicht direkt gegen seinen Lehrer polemisieren, sondern er zeige nur die Methode des historischen Sokrates, die sich als unzulänglich und unausgereift erweise. 719 (II) Indirekter Beweis platonisch-sokratischer-Lehren (Schleiermacher/ Steinhart/ Berndt/ Backs/ Gomperz/ Guthrie/ Hintikka/ Kube/ Erler/ Boder) Die gegensätzliche Interpretation zu Horneffer wird von Steinhart 720 , Berndt 721 , Backs 722 , Gomperz 723 , Guthrie 724 , Hintikka 725 und Boder 726 vertreten. Demnach werde mit der Prämisse, dass Tugend Wissen sei, indirekt das zweite platonische Dogma, dass niemand freiwillig Unrecht tue, bewiesen. Schleiermacher sieht hier eine Klarstellung Platons, dass die Tugend „sofern sie Erkenntnis ist, nicht die Erkenntnis des Gegenstandes ist, den sie jedes Mal behandelt.“ 727 Auch Erler sieht in Platon den Vertreter einer Wissensethik, allerdings handelt es sich nach dessen Deutung um das Ideenwissen, das eine Lösung der Aporie ermöglicht. 728 716 Vgl. H ORNEFFERS Schrift mit dem programmatischen Titel Platon gegen Sokrates, S. 6f. 717 Vgl. H ORNEFFER , Platon gegen Sokrates, 16-19; vgl. H IRSCHBERGER , J OHANNES , Die Phronesis in der Philosophie Platons vor dem Staate, in: Philologus (Supplementband 25), 94 unter Berufung auf H ORNEFFER . 718 Vgl. G AUSS , Philosophischer Handkommentar zu den Dialogen Platons, 199f. 719 Vgl. T RAGLIA , Platone. Hippias Minore, XVI. 720 Vgl. S TEINHART , Einleitung zum Hippias minor, 99. 721 Vgl. B ERNDT , Der innere Zusammenhang, 8. 722 Vgl. B ACKS , Zur Erklärung der Dialoge Hippias minor und Hippias maior, 5. 723 Vgl. G OMPERZ , Griechische Denker, 234. 724 Vgl. G UTHRIE , A history of Greek philosophy, Bd. 4 , 198f. 725 Vgl. H INTIKKA , J AAKO " Knowledge and its objects. Patterns in Plato’s thought, in: Papers arising out of the 1971 West Coast Greek Philosophy Conference. ed. J.M. M ORAVCSI , Dordrecht/ Boston 1974, 1-30. 726 Vgl. B ODER , W ERNER , Die sokratische Ironie in den platonischen Frühdialogen, Amsterdam 1973, 94. 727 Vgl. S CHLEIERMACHER , Platons Werke, Erster Theil. Zweiter Band, 204. 728 Vgl. E RLER , Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons, 143. 239 (III) Problematisierung der sophistischen Bildung (Hermann/ Stallbaum/ Back/ Pohlenz/ Howland/ Gomperz/ Phillips/ Balaudé) Die nächste Interpretation sieht nicht im Beweis oder in der Widerlegung einer sokratischen These das Ziel des Dialoges, sondern in der Auseinandersetzung mit dem Sophismus in Gestalt seines Vertreters Hippias. Bei Hermann) ist es die sophistische Unwissenheit und die verkehrte Dichterinterpretation des Hippias, die durch die sokratische Dialektik bloßgestellt wird. 729 Laut Stallbaum wird in diesem Dialog der eitle und unfähige Sophist Hippias von Sokrates vorgeführt und überführt. 730 Nach Pohlenz wird mit Hippias ein Exponent der Sophistik, der ein Beispiel von unreflektierter Polymathie anstelle philosophisch verantworteten ethischen Wissens bietet, und das dahinterstehende Bildungskonzept desavouiert. Die von Hippias vertretenen Wissenschaften erweisen sich als ambivalent, es fehlt das Wissen vom Guten. 731 Araújo sieht in Hippias’ Wissen sogar die Gefahr der Ungerechtigkeit, demgegenüber die sokratische Ironie und Ignoranz als überlegen dargestellt wird. 732 Für Backs und Howland sitzt mit Hippias ein falsches Tugendverständnis auf der Anklagebank; bei Backs ist es eine Auffassung, die die Tugend in einzelnen Handlungen und nicht in der den Handlungen zugrundeliegenden Gesinnung sucht 733 , während Howland mit Hippias die Identifikation von Tugend mit technē in der platonischen Kritik sieht. 734 (IV) Persiflage eines Sophisten (Wilamowitz/ Eckert/ Apelt) Der Weg von der Interpretation als Kritik am Sophismus führt dann weiter zur Deutung, die Intention des Dialoges bestehe ausschließlich darin, die dialektische Inkompetenz des eitlen Hippias aufzudecken und ihn der verdienten Lächerlichkeit preiszugeben. Bezeichnend für diese Interpretation ist die Bewertung durch den Nestor der Altphilologie Wilamo- 729 Vgl. H ERMANN , Geschichte der platonischen Philosophie, 434f. 730 Vgl. S TALLBAUM , Platonis dialogos selectos, Vol. IV Sec. I, 232. 731 Vgl. P OHLENZ , Aus Platos Werdezeit, 69. Zu diesem Ergebnis kommt auch P HILLIPS : „Socrates wishes to suggest that the technical areas perhaps without moral significance, are never separable from oral choice. And the point ought to be obvious, to show that a person like Hippias, though he be ever so competent in various special skills [...] nevertheless is ultimately useless or even dangerous without knowledge of the larger art that controls the lesser ones, the larger art has knowledge of the ‘Good’ [...] as its object” (A Study of Plato’s Hippias minor, 123). 732 Vgl. A RAÚJO , O poder do falso no Híppias Menor de Plat-o, 161. 733 Vgl. B ACKS , Zur Bestimmung, 7. 734 Vgl., J ACOB " The Paradox of political philoso: y: Socrates' Philosophic Trial, New York 1998, 179. Ähnlich sieht auch J EAN -F RANÇOIS B ALAUDE (Que veut montrer Socrate dans l’Hippias Mineur? In : Lezioni Socratiche. A cura di G ABRIELE G IANNANTONI e M ICHEL N ARCY , Neapel 1997 [Elenchos XXVI], 261-277, bes. 272-275) Sokrates’ Argumentation als Angriff auf Hippias’ Tugendverständnis. 240 witz: „Imponierend ist es, wie dieser Sokrates die Leute schlägt; aber mehr als dies Negative gibt es nicht. Als Satire, in der Hippias getroffen werden soll, ist die Schrift ganz allein voll befriedigend.“ 735 (V) Logisch-ethisches Übungsstück (Grote/ Hoffmann/ Kraus/ Hoerber/ Sprague/ Jantzen) Die nächste Interpretation vertritt die These, dass Platon den Dialog nicht zur Unterhaltung, sondern vielmehr als logisch-ethisches Übungsstück, wie er es oft seinen Schülern vorlegte, verfasst habe: „Die logischen Fehler, die zu einer verkehrten ethischen Ansicht führen, müssen aufgedeckt werden.“ 736 Dabei gelte es die Fähigkeit zur sauberen Nominaldefintion zu entwickeln und den Blick für Äquivokationen zu schärfen. Für diese These sprechen nach Hoerber drei Gründe: (1) Sokrates drückt zweimal seine Unzufriedenheit mit dem Ergebnis der Argumentation aus (372d-e; 376b-c); (2) Es ist bekannt, dass Sokrates (und Platon) die gegenteilige Lehre vom Übeltäterparadoxon vertreten. (3) Schließlich sieht Hoerber mit der eiper-Klausel einen deutlichen Warnhinweis an den Leser gegeben, der den Leser dazu bewegen soll, das Ergebnis der Argumentation nicht ernst zu nehmen. 737 (VI) Widerlegung falscher Konsequenzen aus dem Intellektualismus- Paradigma (Kutschera) Für Kutschera will Platon einfach zeigen, dass aus der Behauptung, Tugend sei Wissen, nicht folge, dass der wissentliche Übeltäter als tugendhaft zu bezeichnen sei. 738 (VII) Darlegung des platonischen Freiheitsbegriff (Ovink/ Müller) Nach Ovink wird in diesem Dialog zum ersten Mal der Begriff der menschlichen Willensfreiheit analysiert und das damit verbundene Problem des bösen Willens untersucht. 739 Müller sieht Platons Intention in dem Vorhaben, dem von Hippias vertretenen Normalverständnis von Freiwilligkeit sein metaphysisches entgegenzustellen. Unter Freiwilligkeit werde demnach von Platon diejenige Verfassung der Seele verstanden, „die ihr eigen ist, wenn sie zu sich selbst 735 W ILAMOWITZ , Platon, 139. Eine ähnliche Interpretation wird auch von E CKERT , Dialektischer Scherz in den frühen Gesprächen Platons, 46, und A PELT , Einleitung zur Übersetzung, 2 vertreten. 736 H OFFMAN , M AX , Zur Erklärung platonischer Dialoge, in: Zeitschrift für das Gymnasialwesen NF (38) 1904, 279-288, 281. Vgl. G ROTE , G EORGE , Platon and the other companions,402; K RAUS , Platon Hippias minor, 53ff; S PRAGUE , Plato’s Use of Fallacy, 78. 737 H OERBER , Plato’s Lesser Hippias, 128. 738 Vgl. K UTSCHERA , F RANZ VON , Platons Philosophie, 3. Bde., Paderborn 2002, Bd. 1, 64. 739 Vgl. O VINK , Philosophische Erklärung, 125f. 241 kommt, wenn sie sich selbst und ihre Bestimmung kennt, indem sie die Wahrheit schauend weiß, mit der sie verwandt ist.“ 740 2.2 Forschungskritik anhand der eigenen Ergebnisse Wir wollen diese Interpretationen näher besprechen und sie einer Kritik unterziehen, bevor wir zur Zusammenfassung unserer Forschungsergebnisse kommen. Horneffers Interpretation (I) des Dialoges als eine reductio ad absurdum der sokratischen Lehre von der Unfreiwilligkeit des Unrechts zeigt sich völlig inkompatibel mit der Tatsache, dass sich diese These sowohl in frühen und späten Dialogen Platons findet. Der Einwand Horneffers, Platon habe zwischenzeitlich seine Kritik revoziert und sei wieder zur sokratischen Lehre zurückgekehrt 741 , kann den Verdacht einer ad-hoc-Hypothese nicht zerstreuen. 742 Die in der Forschung weit verbreitete Interpretation, Platon habe mit seiner Argumentation die Unfreiwilligkeit des Unrechttuns indirekt bewiesen (II), erweist sich als unhaltbar. Nach dieser Deutung müsste der indirekte Beweis lauten: Prämisse (1) Nur der gute Mann tut freiwillig Unrecht (Ergebnis der Deduktion). Prämisse (2) Diesen Menschen gibt es aber nicht (Behauptung der eiper-Klausel). Schluss (3) Niemand tut freiwillig Unrecht. Die Prämisse (1) fällt aber, wie wir gezeigt haben, weg, da sie aus einem Paralogismus gewonnen wurde. Richtig müsste die Prämisse (1) lauten: Nur der gute Mann tut, wenn er Unrecht tut, es immer freiwillig. Mit dieser Prämisse lässt sich allerdings der Schluss (3) nicht beweisen. Wir stehen damit vor dem Dilemma: Entweder war sich Platon dessen nicht bewusst, und der Beweis ist missglückt, oder er war sich dessen bewusst, dann war 740 M ÜLLER , G ERHARD , Platonische Freiwilligkeit im Dialoge Hippias Elatton, 64. Einen ähnlichen Gedanken formuliert Alfred Fouillée im 19. Jahrhundert. Fouillée unterscheidet zwischen libertas und liberum arbitrium. Unter libertas versteht er: „Libertas vero nihil est nisi sui imperium […] solus autem sibi imperat, qui ratione paret […] Liberum denique quod vocatur arbitrium, per quod vel scientiae ipsi agendo repugnare dicimur, nihil aliud est quam status animi scientia vere carentes atque incerta opinione utentes […]“ (F OUILLÉE , A LFRED , Platonis Hippias Minor sive socratica contra liberum arbitrium argumenta, Paris 1872, 22). Platon wendet sich nach Fouillée gegen das normalsprachliche Verständnis, das unter nur Handlungsfreiheit (liberum arbitrium) versteht und die eigentliche Freiwilligkeit (im Sine von libertas) außer Acht lässt. 741 Vgl. H ORNEFFER , Platon gegen Sokrates, 28. 742 Zur Kritik an H ORNEFFER vgl. O’B RIEN , The Socratic Paradoxes, S. 100 Anm. 11. 242 aber der indirekte Beweis nicht Intention. Für die zweite Option spricht, dass der Optativ in der Apodosis des eiper-Satzes diese Konsequenz als fraglich erscheinen lässt und so einen Hinweis auf den versteckten Fehlschluss gibt. Der in verschiedentlicher Formulierung geäußerten These (III), Platon gehe es um die Problematisierung der sophistischen paideia, ist differenziert zu antworten. In dem von Hermann, Stallbaum und Pohlenz vertretenen Ansatz dieser These, der die Überführung und Desavouierung eines eitlen Sophisten im Fokus sieht, wird die Auseinandersetzung mit einer Sachfrage verkannt und der Dialog auf pure Polemik reduziert. Dagegen weist die von Howland vertretene Sicht, Hippias‘ Identifikation von Tugend mit technē stehe im Blickpunkt der platonischen Kritik, in die richtige Richtung, bleibt aber auf halben Weg stehen, indem sie die Entwicklung von Platons Tugendverständnis nicht miteinbezieht und so nicht herausarbeitet, dass Platon bei der Abfassung dieser Schrift selbst die Frage noch nicht beantworten konnte. Für die von Wilamowitz, Eckert und Apelt vertretene These (IV), im Hippias Minor gehe es um die Persiflage eines Sophisten, gilt im besonderen Maße der Vorwurf, dass hier die ernste Frage nach dem Verhältnis von technē und Tugend, die hinter dem Dialog verkannt wird. Indem deren Verfechter Hippias zum aufgeblasenen Ignoranten machen, übersehen sie, dass der Sophist hier als Exponent einer verbreiteten Tugendtheorie auftritt, die wohl der historische Sokrates auch teilte. Platon wird sich wahrscheinlich mit dem Tugendverständnis seines geistigen Ziehvaters respektvoller auseinandergesetzt haben als in Form einer Persiflage. Zum trifft diese Deutung die methodische Kritik, dass Ironie ihren Erklärungswert verliert, werden nicht gute Gründe angegeben werden, die die Ernsthaftigkeit Sokrates‘ oder eines anderen Dialogpartner in Zweifel ziehen. Die These (V), dass es sich beim Hippias Minor um ein logisch-ethisches Übungsstück handele, wie sie von Grote, Hoffmann, Kraus, Sprague und Jantzen vertreten wird, ist unzutreffend, wenn das hieße, Platon verfügte zur Zeit der Dialogabfassung selbst über eine Tugenddefinition, zu der er die Leser hätte führen wollen. Der These ist unter dieser Hinsicht Recht zu geben, dass Platon sich des Paralogismus‘ bedient und damit einen idealen Leser voraussetzt, der diesen zu entdecken vermag. Vielleicht sucht Platon diesen idealen Leser auch, um ihn zum gemeinsamen Projekt Philosophie und zur Forschung nach einer gültigen Tugenddefinition einzuladen. Kutscheras Interpretation (VI), nach der Platon einfach zeigen wollte, dass aus der Behauptung, Tugend sei Wissen, nicht folge, dass der wissentliche Übeltäter als tugendhaft zu bezeichnen sei, ist verfehlt, da diese Behauptung nie ernsthaft zur Debatte gestanden hat und so Platon eine Scheindiskussion verfolgt hätte. 243 Ovinks und Müllers Deutungen (VII), dass der Dialog den platonischen Freiheitsbegriff darlege, sind völlig spekulativ und entbehren jeglicher Textgrundlage, so dass sich eine tiefere Auseinandersetzung von selbst erübrigt. 2.3 Zusammenfassung Fassen wir die Ergebnisse der Untersuchung zusammen und kehren dazu zum Lügner-Paradoxon zurück. Der Schluss erwies sich gültig unter der Voraussetzung, dass die dort auftretenden dynamis-Terme univok gebraucht werden und dass das tropos-Verständnis von 370e2ff. nicht rückwirkend gilt. 743 Doch ist damit die Ausgangsfrage beantwortet, indem von der (dynamisch-epistemischen) Gleichheit von alēthēs und pseudēs auf eine Gleichwertigkeit der Epen geschlossen wird? Es scheint ein Dilemma zu geben: Entweder Sokrates beantwortet die Ausgangsfrage und versteht die beiden Ausdrücke als tropos-Termini - wobei er einen Fehlschluss begeht - oder aber der Schluss ist zwar gültig, trägt aber nichts zur Beantwortung der Frage bei. Das Tertium, das uns den Ausweg aus dem Dilemma weist, ist die Annahme, dass zwischen dynamis und tropos kein Unterschied besteht. Der tropos ist Träger einer Tugend - in diesem Fall die Tugend der Wahrhaftigkeit. 744 Wenn wir weiter davon ausgehen, dass Sokrates - wie bei der Definition von Gerechtigkeit in 375d8ff. im speziellen und der allgemeinen Tugenddefinition im Menon - die Tugend der Wahrhaftigkeit auch hier als dynamis versteht, wird klar, warum er auch damit auf die Eingangsfrage geantwortet hat. Die dynamis zur wahren Aussage ist identisch mit der Tugend zur Wahrhaftigkeit. Gleichzeitig wird das Lügner- Paradoxon verschärft: Der Wahrhaftige ist qua dynamis mit dem Lügner identisch und ist gleichzeitig qua dynamis Träger der Tugend. Da Achill und Odysseus die gleiche dynamis haben, haben sie auch den gleichen Charakter und folglich sind auch beide Epen gleichwertig. Doch will Platon wirklich Sokrates ernsthaft die Eingangsfrage beantworten und Stellung zu 743 In 370e2ff. kam Sokrates zu dem Schluss, dass Achill und Odysseus im Hinblick auf Lüge und Wahrheit und allen anderen Tugenden fast gleich seien. An dieser Stelle werden pseudos und alētheia als aretai und nicht dynameis verstanden. Wenn dieses Verständnis sich nicht nur auf diese Stelle beschränken, sondern auch für den vorherigen Gebrauch gelten sollte, so würden die Schlussfolgerungen, deren Gültigkeit von dem univoken dynamis-Verständnis der pseudēs und alēthēs-Terme abhängen, hinfällig. 744 Die Tugend der Wahrhaftigkeit fand zwar als solche nicht explizit Erwähnung in einem antiken Tugendkanon. Doch findet sich schon im homerischen Epos eine Negativbewertung der Lüge und eine positive Einschätzung von Ehrlichkeit. Ein moralischer Rigorismus, der die Wahrhaftigkeit absolut setzt, findet sich in der Antike allerdings nicht. 244 Fragen der Literaturästhetik nehmen lassen? In der Einleitung haben wir dagegen plädiert und werden durch die Ergebnisse der Feinanalyse bestätigt. Die sokratische Interpretation von Ilias-Passagen erweist sich eher als Rabulistik und entspricht keineswegs den Standards damaliger Homer- Hermeneutik. Zudem fordert Sokrates Hippias ausdrücklich auf, die Frage nach der homerischen Intention hintanzustellen und stattdessen für Homer im Elenchos zu antworten (vgl. 365c9-d4). Sokrates macht hier deutlich, dass die hippiassche Deutung (und nicht die unzugängliche Dichterintention) auf dem Prüfstand des Elenchos steht. Der Untersuchungsgegenstand des Elenchos - und das ist die anfangs formulierte und im Verlaufe der Arbeit immer wieder verifizierte Interpretationsthese - ist die Frage, inwieweit sich eine dynamis als Definiens einer Tugend eignet. Das Übeltäterparadoxon, das sich organisch aus dem Lügnerparadoxon entwickelt, entfaltet noch paradoxer die Problematik, eine Tugend mit einer dynamis zu identifizieren. Grundgelegt ist diese organische Entwicklung in der Proportionalität von dynamis und Gutheit auf einem Gebiet. Denn wenn die Tugend eine dynamis ist, wächst mit dem Anteil an der dynamis auch der Grad der Tugendhaftigkeit. Des Weiteren korreliert die dynamis mit der Freiwilligkeit. So wie der dynatos auf dem Gebiet der wahren und falschen Aussagen immer wenn er lügt, freiwillig lügt, so fehlt auch der dynatos auf dem Gebiet der Gerechtigkeit, wenn er Unrecht tut, freiwillig. Dies führt dann zur Frage, ob es den freiwillig Fehlenden überhaupt geben kann. Die Antwort gibt später der Gorgias, indem der in dynamis enthaltene Willensbegriff (fähig x zu tun, wenn immer man x will) nur auf das wahrhaft Gute ausgerichtet ist. Da das Übel nicht gewollt werden kann, kann es auch keine dynamis geben, die Unrecht realisiert. Dieses Paradoxon führt die Problematik eines Tugendverständnisses, das Tugend als dynamis definiert, auf die Spitze. Platon belässt es dabei aber nicht, sondern fordert seinen Leser zum Mitdenken auf, indem er die Logik des Elenchos nicht nur nachvollziehen, sondern selbst überprüfen muss. Dem mitdenkenden Leser muss nach 366e6-367a4 auffallen, dass auch der adynatos manchmal, wenn auch nicht immer, freiwillig lügen kann und daher per analogiam zu erwarten ist, dass auch der adynatos auf dem Gebiet der Gerechtigkeit gelegentlich freiwillig fehlen kann. Der in Logik versierte (und ideale) Leser erkennt als Fehlerquelle den unzulässigen Umkehrschluss (von „Der gute Mann tut freiwillig Unrecht“ auf „Der freiwillig Unrechtuende ist kein anderer als der gute Mann“), der sich aus einem fehlenden Bikonditionalzusammenhang ergibt. Platon stellt seinen (idealen) Leser vor eine zweifache Aufgabe: Er soll zum einen die im Paradoxon aufgezeigte Problematik der dynamis-Definition einer Tugend nach- 245 vollziehen und zum anderen die logischen Grenzen des Elenchos erkennen. 745 Platons idealer Leser ist auch mit dem literarischen Diskurs seiner Zeit vertraut und versteht Platons mannigfaltige Anspielungen. So erkennt er in den von Hippias vorgetragenen Positionen der Homer-Exegese Debatten wieder, die im Antithenes-Dialog ihren Niederschlag fanden. Einem solch informierten Leser wird auch nicht die Ironie, die Platon mit der Hyperbolik der an Antisthenes angelehnten Hippias-Argumentation an den Tag legt, entgehen. Diese Ironie signalisiert dem kundigen Leser sofort, dass es hier nicht um die Auseinandersetzung mit Fragen der Homer- Hermeneutik geht. Zudem stellt diese Ironie auch die hermeneutische Methode des Hippias in Frage, die darin besteht, aus einzelnen Versen, geschlossene Charakterbilder zu rekonstruieren. Aber auch im philosophischen Diskurs kann der ideale Leser Anleihen an dem historischen Hippias ausmachen. Er wird die Identitätsthese des Wahrhaftigen mit dem Lügner als Anspielung auf die Diskussion der Dissoi logoi identifizieren. Vor diesem Hintergrund wird auch das vom Sophisten vorgetragene Gegenargument aus der forensischen Praxis als Auseinandersetzung mit der common-sense-Philosophie des historischen Hippias nachvollziehbar. Vor dem dargestellten Hintergrund erweist sich der Hippias Minor als ein wichtiges Frühwerk, in dem Platon nicht nur seine Vertrautheit mit literaturästhetischen und philosophischen Debatten unter Beweis stellt sowie durch geschickte Allusionen Proben seines schriftstellerisches Können gibt, sondern er reißt vielmehr hier schon zwei Problemkomplexe an, die ihn bis ins spätere Werk begleiten werden: Die Definition der Gerechtigkeit und die Möglichkeit eines freiwillig Fehlenden. Platons Fragestellungen und Lösungsansätze können in ihrer ideengeschichtlichen Bedeutung nicht überschätzt werden und befruchten darüber hinaus auch noch heute philosophische Debatten. 745 An dieser Stelle kommt auch der von H OFFMANN , K RAUS und H OERBER vertretene Interpretationsansatz, der im Hippias Minor ein ethisch-logisches Übungsstück, sieht, wieder zu Ehren, doch beschränkt sich unsere Interpretation nicht darauf, den Hippias nur auf ein Übungsstück zu reduzieren, wenn er auch Elemente davon aufweist. Sicherlich stellt der Hippias in gewissem Sinne auch eine Problematisierung des sophistischen Bildungsbegriffes dar, der eine von der Dialektik abgekoppelte Polymathie vertritt und daher die Schwierigkeit einer Definition der Tugend durch dynamis verkennt; auch ist die argumentative Schwäche von Hippias Gegenstand sokratischen Spottes, doch keinesfalls trifft eine dermaßen monokausale Erklärung die Vielschichtigkeit des platonischen Dialoges. 247 Bibliographie 1. 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Stellenverzeichnis A - Platon Apologie 19e1-4 90 21d6-e2 188 23b1 110 27c10 95 41c1 170 Charmides 156e1-157a1 190 158e7-160d4 140, 204 161a2 98 161e7f. 159 165c3-e2 131 165e6-d3ff. 132 167a1-4 47 169a6-b3 47 170d1-3 47 174b7-d6 47 Euthydemos 273c1-9 102 275cff. 191 288b7f. 163 288d8 121 290b7-c9 135 292d2 164 Euthyphron 7d8 236 Gorgias 426a3f. 190 447c7 88 450d4-451c9 135 455c6 87 461b8-c2 163 462a3f. 191 466e1f. 68 466e6ff 68 467a5f 68 467b2-468e6 129 467c5-d10 68 467e1ff 68 467e9f. 68 468a6ff. 68 468d1-5 68 470e6f., e9ff. 101 473e2f, 474a5. 188 482c3 163 484b4f 98, 121 488c3-6 68 500c7 121 501a1ff. 132 506b6ff. 94 509d1-510a5 69 Hippias Maior 281a1-4 40, 65 281c8-282a8 92, 93 282b4ff. 40 282e2 90 282e1-8 93 285c1f. 92,93 285c4 93 285c9-d2 91, 175 285d6-e2 92, 93 285e9f 52 286a7-b2 88, 92, 99, 109 286b5f. 40, 87, 94 295c3 48 295d8-e2 48 295e7ff 48 256 295e11 48 295e12-296a3 48 296b6f. 48 296d4f. 48 301b2f 163 Hippias Minor 363a2 119 363a5-b2f. 62, 88, 95, 99, 113, 121, 166 363b7 102 363c1ff. 94, 99, 101 363c4f 101, 144 363c6-364a9 40, 62, 63, 102, 103,121, 192 363d1-4 165 364a1-7 103 364a7ff 62, 102, 165 364b1ff. 103, 118 364b5ff. 87, 89. 166 364c2ff 103, 118 364c4-7 145 364c9-d2 102 364d7-e1 101, 110 364e1-4 110 365a1-b2 166 365b3ff. 104, 113, 145, 166 365b7-366b7 151 365c9-d4 241 365d1ff. 123, 145, 191 365d7 128,130,152,192 365d9 55 365e1-2 145 365e8f. 206 365e11f. 133, 189 366a1ff 134f. 366b4-5 146, 146, 192 366b7-c4 130, 151,216 366c6-368a11 133, 140, 153, 155, 187, 215 366a9-b8 134 366b12-c5 128 366d6-9 63, 146, 187,217 366e6-367a4 61, 63,65, 187 367a6-b2 141 367c4-11 141, 215 367d5-e8 141, 155, 157 367e9-368a1 141 368a12-b1 158 368b4 157 368b6ff. 175 368b12-c5 134, 175 368c2 175 368c7-d5ff. 158, 176, 177 368d. 52 368e1-369a1 161 369a9-b1 161 369b3-7 173, 188 369b8-c8 161, 188,191 369d1-e2 164, 172, 188, 188 369e5-370a1 130, 165, 185, 189 370b4-c3 184 370c6-d1ff. 167, 241 370e2ff 173, 194, 242 370e5-10 166, 171, 179f., 183, 185 371a1 185 371b8 196 371c2ff. 196 371c6-d1 185, 197 371e1 197 371e3f. 186 371e4ff. 187, 191 371e9-372a2 188, 190 372a4f. 52, 188, 198 372b1-373a9 193 372b5 189 372c1 189 372c5ff. 190 372d3-7 153, 216 372d5ff. 190, 201, 217 372e3-6 193 373a6 94, 199 373a10-373b3 94, 192 373b6-9 94, 192 373c9-e12 189, 200, 202, 218 374a1-9 204 374a10-b4 202, 204 374c3-7 204 374c11-d3 203, 208 374d4-9 201, 203 374d13-e1 201, 203 374e2-12 201, 203 375a1-11 206 375a12-b6 207, 206" 227 375b7-12 207 375b12-c4 204, 206, 215 375c5-9 207 257 375c10-d6 208 375d6ff. 46, 173, 213f., 375d8-376a5 63, 64, 190, 213, 216, 217, 241 376a7f. 218 376a9ff 219 376b5-10 65, 219,219 231, 236 376b11-c6 102, 219, 220, 224, 236 Ion 530b3-c6 95, 102 531d11-532a1 53 533dff. 98 537a5-b5 110 541b5 108 Kratylos 393a4 162, 168 414a3 162, 168 437b8 162, 168 Kriton 44b2 97 44c6-d10 188, 54 50c8f. 191 Laches 184e1-10 188 194d2 133 201b1ff. 97 Menon 71a7f. 45 73c11 46, 214 73d2-74a6 46, 214 75d2-7 191 77a6-9 67 77b3f 46, 67,214 77c1-8 67 77c9-d6 67 77d7-e5 67 78a1-7 67 78a8-b2 67 78d1-79a2 46 79b3-c9 46 80a2f. 163 80a6-b2 163 82b3-85b7 135 87b6f 47 88d7f. 130 92c2-e10 48 95b6-96a3 48 96c1-10 48 97e2-98a8 48 99c3f 97 Nomoi 706d3-e7 170 729d4 108 747b6-d1 130 776e6 110 816d9-e1 54 816e2-6 54 860d1 71 860d5 71 860d7f 71 860e8-12 71 861e1-862c10 71 862d1-4 71 862d4-e1 71 862e1-863a2 72 863b2-4 72 863b6-9 72 863c1-4 72 863c4-6 72 863d1 72 863e2f 72 864a1 72 908e2 200 919b2 200 950b6-c3 188 Phaidon 60b3-7 53 60c1-5 53 69a9-c2 129 81b3 162 94d6-9 170 97c1-d5 54 Phaidros 260a2-5 55 260c6-d2 55 261b8f. 169 261e7-262a2 56 262a5-b9 56 262e5 199 275a6-b3 125 275d4-e6 125 258 Philebos 31b4-32b8 53 Politeia 329a3 162 331a1 56 331e4f. 56 332a9f 56, 60 332c2 56 332d7f 56 332e5 56 335c12-e7 60 340e3ff. 201 341a1 201 378a, d 97 378b9-d3 236 381e8 163 387e9-388b3 107 390e4-391c5 106 391b5ff. 107 396a2 200 412e7 163 413b1 163 414d5 234 415a1-c8 234 460a8-10 234 477c1ff. 212 477d1f. 212 487b5f. 164 488c3-6 68 489b7-c1 163 497b7 163 509d1-510a5 69 510d4-511b2 135 525c1-6 136 526e1-527c11 136 544a7ff. 108 561d2 121 620c3-d3 171 Politikos 274e2 201 Protagoras 311a 88 315c5f. 91,92 317c7 88 328d8 e2 102 329a4-b2 164 332e5 129 333d11f. 57 333e3f. 57 334a5 57 334b7f. 57 334c14-d8 57 335a9-b6 57, 190 336a5-b3,c4 190 337d 52, 98 337c7-e2 93 337e2-338b2 93 347a6-b2 93 347c3-d7 125 350c8ff 147 351a7-b3 147 358a6 67 358b5ff. 67 358c2 68 368b2ff. 102 Sophistes 237e1 126 247e3f 126 Symposion 176e8 88 179e2-180a3 108 197c2f. 108 204a2ff. 133 208d4-e1 108 223d3ff. 54 Theaetet 145d11-e6 133 150c5ff. 188 154a4. 201 172c9-d1 95 174b1 120 176e5-177a3 128 184c6f. 203 184d1ff. 203 189c3 201 199b3 201 Timaios 20d9f. 109 29a5 108 86b1-5 70 86b5-c3 70 86c4-8 70 86d2 70 86e1f. 70 259 87a4-7 70 87b6f 70 87b7ff 70 B - Andere Autoren Alexander von Aphrodisias In Aristotelis Metaphysicos 1025a17 CAG I, 436, 25ff. 35 Aristoteles Metaphysik 1019a15-40 222f. 1024b1f.-1025a13 143, 209 1025a6-29 35, 143, 210 Nikomachische Ethik 1105b20 221 1106a6-13 219 1106b25ff. 202 1106b36-1107a2 226 1110b24-27 76 1110b28-1111a2 76 1113a3-21 76 1113b5 74 1113b16f 74 1113b21-30 74 1113b26-29 74 1118b16 202 1122a6 74 1127b14ff. 142 1129a11-17 222 1135b24 74,117 1143a 25, 28f.) 225 1144a24-29 129 1145b25f 73 1145b32-35 75 1146b24 74 1152 a16. 20-24 74, 117 1146b29f 75 1147a10-24 75 1147a24-b9 75 1147b14-17 76 1216b1-25 222 1227b8-10 226 Politik 1276b28 90 1267b30 89 1330b24ff 89 Topik 117b 107 Asklepiades von Trallies In Metaph. Comm. CAG VI, 2, 353, 33f. 35 Cicero De officiis 1, 31, 113 171 3, 26, 97 171 De finibus 5, 18, 49 172 Tusculanen 2, 21, 48, 50 172 Diogenes Laertios 3.56-61 35 Diels-Kranz Fragmente DK 21 B 10 96 DK 22B56 DK 86 A 1 91 DK 86 A 2, 2 91 DK 86 B 1 91 DK 86 B 3 91 DK 86 B 6 91 DK 86 B 7 91 DK 86 B 9 91 Diodor 12.53.1 40 Dissoi logoi 3, 3-53 60 4,1 50 4,2 50 4,5 51 4,6 51 8,2 216 8,9 216 9,11 52 Herodot 2, 53,2 96 260 Homer Ilias 1.91 106 1.169ff 166, 184 1.172-185, 189-92 184 1.213-215 184 1. 244, 412 105 2.370 108 2.768 106 9.240 172 9.308-313 165 9. 357-363 162, 172, 184 9.410-16 108 9.606-615 184 9.625-640 182, 186 9.650-655 186 11.1, 84, 192, 250ff. 183 11.607-615 183, 184 14.96-102 169 16.21-29, 76-100 183 16.271 105 16. 274 105 17.689 106 18.95 107 19.278ff. 107 20.1-74 97 21.130; 212-226 107 21.385-513 97 22.15; 26 107 23.23-48 107 23.175-82 107 24.14-18 107 Odyssee 11.363f 113, 168 11.563f. 95 11. 601 92 13. 291-95 114 19.51 168 19.203 113, 1 68 20.17f. 171 Horaz EpistuIae 2, 17-26 172 Seneca De constantia sapientis 2,2 172 Tertullian Apologeticum 46, 11f 90 Thukydides 1, 33, 3 201 3.86 40 5. 43-50. 40,41 Xenophon Memorabilien 1.3.7 171 3.2 96 3.9.5 63 4. 62 52 4.2.1 59, 62 4.2.3 59 4.2.4 59 4.2.12 59 4.2.13 60,61 4.2.15 60 4.2.16 60 4. 2.17 60 4.2.19f. 59, 60, 64 4.2.20 61, 62, 64 4.2.21 61, 65 4.2.22 61 4.2.23 61 4.2.33 170 4.2.39 61 4.2.40 61 4.4.5 65 4.6.15 170 Symposion 3,5 96 261 Personenverzeichnis Agamemnon 17 Antisthenes 115, 168 Apelt 38, 89, 240, 242 Araújo 159, 239 Ast 36 Backs 148, 210, 238, 239 Becker 50, 51, 52, 177 Berndt 148, 238 Blum 53, 177 Boeder 136 Calderini 170, 171 Calogero 94 Classen 137 Cornford 70 Croiset 38, 41, 94, 232 Dihle 70 Ebert 214 Eckert 210, 232, 240, 242 Erbse 59 Erler 161, 188, 189, 233, 234 Fonterrotta 144 Ford 111 Fouillée 38, 241 Friedländer 103 Gauss 42, 232, 238 Giuliano 105, 109, 174, 198 Guiliano 124 Guthrie 88, 209, 211, 238 Haden 112 Heidegger 136 Heitsch 55, 137 Hermann 37, 94, 239 Hintikka 238 Hirzel 88 Hoerber 209, 232, 240, 245 Hoffmann 146, 151, 240, 242 Horneffer 116, 210, 233, 237, 241 Hösle 88 Howland 239 Jantzen 89, 102, 103, 104, 118, 128, 129, 147, 152, 166, 187, 188, 192, 198, 203, 205, 208, 223 Kraus 64, 141, 143, 144, 145, 151, 194, 195, 211, 221, 224 Kutschera 240, 242 Labarbe 111, 112, 178, 196, 197 Lampert 40, 94, 103, 165, 235 Ledger 38, 41, 42, 43 Loening, 74 Maier 64, 65, 66 Manuwald 90, 92, 125, 126 Marschall 64 Maschke 182, 199 Mulhern 142, 144, 145, 149, 209 Müller 234, 240, 241 O’Brien 233 Odysseus 16 Ovink 148, 240, 243 Patzer 115, 116, 169 Pfeiffer 91, 176 Phillips 62, 63, 88, 94, 103, 151, 163, 168, 184, 205, 231, 232, 239 Pohlenz 52, 53, 146, 147, 151, 204, 236, 239 Rapp 225 Rensch 130 Saunders 71, 72, 73 Schleiermacher 36, 37, 119, 162, 185, 186, 187, 217, 218, 238 Scholz 50, 51, 52, 177 Schwartz 64 Seubert 133 Snell 91 Socher 37, 38 Sprague 103, 146, 151, 209, 232, 233, 240, 242 Stallbaum 112, 239 Steinhart 37, 38, 64, 89, 238 Stemmer 125, 126, 191 262 Szaif 136, 137, 138, 139 Traglia 54, 66, 76, 238 Treu 65 Untersteiner 90, 164, 188 Vancamp 31, 33, 198, 199, 200, 230 Vlastos 125, 209 Weiss 149, 150, 193, 194, 208, 211 Wieland 132, 233 Wilamowitz 55, 57, 94, 114, 116, 240 Zembaty 150, 151, 194, 219, 222, 228 Sachverzeichnis adikountes 195 agatha 68 agathos 100, 101, 105, 133, 141, 146, 209, 211 akōn 180 alēthēs 45, 78, 134, 161, 173, 202, 243 Allegorese 97, 172 aristos 78, 140 beltios 194, 195 Determinismus 70, 73 diakaiosynē 214 diakios 58 dikaiosynē 59, 101, 228 Disposition 73 doxa 75, 77 dynamis 46, 48, 58, 61, 63, 68, 69, 78, 79, 149, 169, 170, 173, 194, 195, 203, 209, 214, 215, 218, 227, 243 dynatos 126 epistēmē 46, 47, 61, 62, 63, 75, 76, 77, 78, 79, 132, 133, 207, 214, 215, 218 ēthos 170 Eudaimonismus 69 Gerechtigkeit 46 hēdy 67 hekōn 63, 180, 209, 218 hekousios 69 hexis 75 historische Hippias 53, 92, 117, 188, 216, 245 historische Sokrates 54, 64, 171, 242 Homer-Exegese 98, 105, 112, 113, 158, 168, 172, 179, 183, 186 Ideen 44, 45, 136, 238 Intellektualismus 66, 69, 73, 237 kaka 68 kakon 67 kakos 133, 219 kallion 99 kalos 99, 100 paideia 242 Paralogismus 142, 147, 149, 152, 220, 224, 236, 241, 242 phronesis 215 polytropos 78, 118, 161, 166 pseudēs 45, 58, 78, 126, 161, 170, 173, 194, 195, 202, 243 Realismus 73 Rigorismus 243 Sophismus 94 sophos 61, 133 sophōtatos 140 technai 159, 227 technē 58, 61, 69, 203, 207, 214, 218, 242 tropos 149, 169, 194, 209, 243 Tugend 46, 54, 79, 130, 173, 202, 225, 226, 242, 243, 245 Der Hippias Minor , der hier neu übersetzt und umfassend kommentiert vorliegt, gehört zu den weniger bekannten Dialogen Platons. In der Forschung wurden vielfach die Authentizität und die Qualität dieses Dialoges in Frage gestellt. Sokrates tritt hier scheinbar als Sophist auf und vertritt die Thesen, dass der Lügner und der Wahrhaftige identisch und der freiwillige Übeltäter besser sei als der unfreiwillige. Das war der Grund dafür, dass entweder die Autorschaft Platons in Abrede gestellt oder der Dialog als „Kinderspiel“ ohne tiefere Bedeutung abgetan wurde. Dass aber der Hippias Minor Platon zuzuschreiben ist und sich mit philosophischen Fragen beschäftigt, die für das Verständnis des frühplatonischen Denkens von großer Wichtigkeit sind, soll hier gezeigt werden. Der Kommentar besteht aus zwei großen Teilen, der Einleitung und dem eigentlichen Kommentarteil. Die Einleitung hat zum einen die Aufgabe, typisch philologische Fragen zur Überlieferungslage, Authentizität und zur Datierung vorab zu klären, und zum anderen die Funktion, die platonischen Paradoxa synchron in die philosophische Diskussion der Zeit und diachron innerhalb von Platons Werk zu situieren. Diese philosophiegeschichtliche Einordnung soll die Interpretation im Kommentarteil entlasten und ihr erlauben, sich auf die systematische Durchdringung des Gedankenganges zu konzentrieren.