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Grundkurs Germanistische Linguistik für das bayerische Staatsexamen

2014
978-3-8233-7850-1
Gunter Narr Verlag 
Fabian Bross

Das bayerische Staatsexamen im Fach Deutsch stellt eine besondere Herausforderung an die Studierenden dar. Diese Einführung versucht den für die schriftliche Examensprüfung relevanten Stoff möglichst vollständig darzustellen und richtet sich an Studierende aller Schularten. Die Zusammenstellung orientiert sich an Aufgaben der vergangenen Jahre. Enthalten sind außerdem zahlreiche Exkurse sowie Übungsaufgaben. Wie auch das Examen, so besteht auch diese Einführung aus einem gegenwartssprachlichen und einem sprachgeschichtlichen Teil.

Grundkurs Germanistische Linguistik für das bayerische Staatsexamen Fabian Bross Grundkurs Germanistische Linguistik für das bayerische Staatsexamen Fabian Bross Grundkurs Germanistische Linguistik für das bayerische Staatsexamen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in the EU ISBN 978-3-8233-6850-2 Inhaltsverzeichnis Vorwort Tipps fürs Examen 1 I Gegenwartssprache 5 1 Phonetik & Phonologie 6 2 Wortarten 25 3 Morphologie 37 4 Syntax 50 5 Semantik: ausgewählte Themen 76 6 Textlinguistik & Stilistik 85 II Sprachgeschichte 99 7 Phonologie & Lautwandel 100 8 Phonologie & Lautwechsel 119 9 Graphemik & Orthographie 124 10 Morphologie 148 11 Syntax: ausgewählte Themen 159 12 Semantischer Wandel 170 Literatur 178 Vorwort Dieses Buch gibt Studierenden des Faches Deutsch an bayerischen Universitäten einen Überblick über die für die schriftliche Examesprüfung relevanten Prüfungsthemen. Da nur die relevanten Teile betrachtet werden, sind die Kapitel unterschiedlich gewichtet. So sind z.B. Semantikfragen im Examen selten, entsprechend kurz ist dieses Kapitel im gegenwartssprachlichen Teil gehalten. Diesem Umstand ist es auch geschuldet, dass die vorliegende Einführung kein Kapitel über Pragmatik enthält und sich die Darstellung der historischen Morphologie auf die Flexion beschränkt. Zwar sind auch Fragen zu den Bereichen Phonetik und Phonologie im Examen sehr selten, dem Kapitel wird aber dennoch ein entsprechender Platz eingeräumt, da das Verständnis dieser Disziplinen v.a. für den Lautwandel und die Graphemik unerlässlich ist. Dennoch wurde bei der Gestaltung der einzelnen Kapitel Wert darauf gelegt, dass diese mit möglichst wenig Vorwissen, auch weitgehend selbstständig gelesen werden können. Allerdings empfiehlt sich nichtsdestotrotz eine Lektüre von vorne nach hinten. Angereichert ist die vorliegende Einführung außerdem durch zahlreiche Beispielaufgaben, die mögliche und tatsächliche Staatsexamensaufgaben darstellen - Lösungsvorschläge finden Sie auf der Homepage des Narr-Verlags unter . Wie die schriftliche Prüfung des bayerischen Staatsexamens, besteht auch diese Einführung aus einem gegenwartssprachlichen und einem sprachhistorischen Teil. Der Inhalt des Buches orientiert sich an Staatsexamensaufgaben der letzten Jahre und will das für die Lösung nötige Wissen systematisch zu vermitteln. Auch wenn die vorliegende Einführung versucht, den Stoff möglichst vollständig darzustellen, ist ein weiterführendes Lektürestudium und der Besuch von Vorbereitungsseminaren dringend angeraten. Nach jedem Kapitel folgen Tipps zur weiterführenden Lektüre, die allerdings möglichst spärlich gehalten worden sind, um die Studierenden nicht mit Literatur zu überhäufen. Über Kritik und Anregungen freue ich mich! Meine Kontaktdaten finden Sie unter Viel Erfolg bei Ihren Prüfungen! . Tipps fürs Examen 1 Machen Sie Pausen! An allererster Stelle: keine Panik! Sie können nicht alles wissen und das müssen Sie auch nicht. Machen Sie Pausen! Suchen Sie sich während der Lern- und Prüfungsphasen eine Beschäftigung, mit der Sie abschalten können. Gehen Sie z.B. abends zum Sport. Das hat mir sehr geholfen. 2 Zeiteinteilung Es ist wichtig, dass Sie sich Ihre Kräfte gut einteilen. Meist ist dies aber leider leichter gesagt als getan. Versuchen Sie möglichst frühzeitig in Vorbereitungskurse zu gehen, auch wenn die Zeit dazu eigentlich sehr knapp bemessen ist. Es ist auch nicht schlimm, wenn Sie das Examen noch hinauszögern - bis zu einem gewissen Zeitpunkt ist auch noch nach der Anmeldung ein problemloser Rücktritt möglich. 3 Im Examen In der schriftlichen Prüfung erhalten Sie einen sogenannten Mantelbogen, ein Papier, in welches alle anderen Blätter am Ende eingeschoben werden. Auf den Mantelbogen tragen Sie die Nummer des Themas ein, welches Sie für die Bearbeitung ausgewählt haben. Nur dieses Thema gilt als bearbeitet. Dazu erhalten Sie grünes Konzeptpapier und 5 zusammengeheftete Bögen für die Reinschrift. Egal, welche Prüfung Sie schreiben, beginnen Sie sofort mit der Reinschrift, die Zeit ist knapp bemessen! Rechnen Sie für die Prüfungsauswahl eine halbe Stunde ein, länger sollten Sie sich nicht Zeit lassen. Am besten, Sie machen für jede schriftliche Prüfung einen Probelauf mit alten Prüfungsaufgaben (diese finden Sie im Internet). Schreiben Sie auf jede Seite, die Sie beschriften, eine Seitenzahl! Am übersichtlichsten für die Korrektoren ist es, wenn Sie für jede neu angefangene Aufgabe auch eine neue Seite beginnen. Schreiben Sie mit einem Kugelschreiber oder einem Füller. Erlaubt sind nur die Farben schwarz und blau. Arbeiten Sie auf keinen Fall mit den Farben rot und grün, diese sind dem Erstbzw. dem Zweitkorrektor vorbehalten. Haben Sie sich einmal für eine Aufgabe entschieden, markieren Sie die wichtigsten Begriffe, die in der Aufgabe genannt werden. Sie dürfen auf dem Aufgabenblatt mit Textmarkern arbeiten, vermeiden Sie dies jedoch 2 Tipps fürs Examen auf den Reinschriftbögen. Lesen Sie die Aufgabe aufmerksam und beantworten Sie nur, was auch gefragt ist. Die Aufgaben sind eingeteilt in einen sprachgeschichtlichen und einen gegenwartssprachlichen Teil. In ersterem bekommen Sie meist einen mittelhochdeutschen oder frühneuhochdeutschen Text vorgelegt, zu dem Sie Fragen beantworten müssen. Im gegenwartssprachlichen Teil bekommen Sie entsprechend einen aktuelleren Text. Neben diesen beiden Blöcken müssen Sie noch eine vertiefende C-Aufgabe lösen, wobei Sie wählen können, ob Sie diese aus dem gegenwartssprachlichen oder sprachgeschichtlichen Teil nehmen. Ob Sie Linguistik im Haupt- oder Nebengebiet gewählt haben, wirkt sich in der Regel nicht auf den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben aus - macht sich aber entsprechend bei der Bewertung bemerkbar. 4 Achten Sie auf die Form Achten Sie im Examen stets auf die Einhaltung der Form, d.h. halten Sie sich an linguistische Konventionen. Die Sprachwissenschaft ist eine Strukturwissenschaft und daher auch von Genauigkeit geprägt. Viele Korrektoren sehen Verstöße gegen solche Konventionen nicht gerne. Dazu gehört, dass eine phonetische Transkription in eckigen Klammer steht, eine phonologische zwischen Schrägstrichen, beziehen Sie sich auf die Graphemebene, schreiben Sie dagegen in spitze Klammern. Sprachbeispiele im Text werden in der Linguistik normalerweise kursiviert. Das ist Ihnen im Examen natürlich nicht möglich. Setzten Sie sie daher in Anführungszeichen und achten Sie darauf auf die korrekten Anführungszeichen zu verwenden, zum Beispiel die deutschen (die öffnenden links unten, die schließenden rechts oben). Denken Sie grundsätzlich daran die Metaebene zu kennzeichnen! 5 Abkürzungen & Symbole Um Zeit zu sparen und um zu zeigen, dass Sie mit der linguistischen Fachterminologie vertraut sind, macht es Sinn, gängige Abkürzungen zu kennen und zu verwenden. Auf den nächsten Seiten finden Sie eine Liste mit den wichtigsten Abkürzungen und Symbolen der Linguistik. 3 Abkürzung/ Symbol: Erläuterung: [] In eckigen Klammer notiert man phonetische Transkriptionen / / Zwischen Schrägstriche (Virgeln) notiert man phonologische Transkriptionen {} Zwischen geschweifte Klammern notiert man Morpheme <> Wollen Sie sich auf die Graphemebene beziehen, schreiben Sie zwischen spitze Klammern Adv. Adverb Akt./ Pass. Aktiv/ Passiv Ahd. Althochdeutsch Art. Artikel Attr. Attribut Det. Determinierer Det.Komp. Determinativkompositum Fem./ Mask./ Netr. Femininum/ Maskulinum/ Neutrum flekt. flektiert Frnhd. Frühneuhochdeutsch Germ. Germanisch Got. Gotisch Imp. Imperativ Inf. Infinitiv Konj. Konjunktiv Kop.Komp. Kopulativkompositum Mhd. Mittelhochdeutsch N Nomen Ndd. Niederdeutsch Nhd. Neuhochdeutsch Nom./ Gen/ Dat./ Akk. Nominativ/ Genitiv/ Dativ/ Akkusativ NP Nominalphrase O Objekt Part. Partizip Perf. Perfekt Pqf. Plusquamperfekt Präs. Präsens Prät. Präteritum Pl./ Sg. Plural/ Singular PP Präpositionalphrase Präfig. Präfigierung S Subjekt st./ sw. starke Flexion/ schwache Flexion Subst. Substantiv Suffig. Suffigierung Temp. Tempus V Verb V1, V2, VL Verberststellung, Verbzweitstellung, Verbletztstellung VP Verbalphrase Tabelle 1: Liste der Abkürzungen Liste der Abkürzungen TEIL I GEGENWARTSSPRACHE 1 | Phonetik & Phonologie Gegenstand dieses Kapitels sind die Laute, aus welchen sich die deutsche Sprache zusammensetzt. Dabei wird es vor allem um den Aufbau eines Beschreibunsinstrumentariums gehen, das es Ihnen ermöglichen soll, Sprachlaute in Kategorien zu sortieren und zu verschriften (Transkription). Neben der phonetischen Umschrift wird die Auslautverhärtung eingeführt und auch ein Blick auf die Struktur der Silbe geworfen. 1 Einführendes Sowohl die Phonetik als auch die Phonologie beschäftigen sich mit Sprachlauten. Die Phonetik untersucht die Laute der Sprachen der Welt unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, die Phonologie dagegen untersucht Sprachlaute einer Sprache und ihre Stellung innerhalb des Systems dieser Sprache. Die Phonetik untersucht vor allem die materielle Seite der Laute, wie sie gebildet und wahrgenommen werden. Die Phonologie konzentriert sich mehr auf die Stellung der Laute innerhalb eines Sprachsystems und auf die Gesetzmäßigkeiten ihrer Kombinierbarkeit. Die Phonetik untersucht die Laute aller Lautsprachen der Welt unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, die Phonologie untersucht die Laute einer Sprache hinsichtlich des Systems dieser Sprache. Als grundlegende Einheit gilt in beiden Disziplinen das Phonem. Definiert wird ein Phonem als die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit einer Sprache. Die Phoneme einer Sprache lassen sich über die sogenannte Minimalpaaranalyse ermitteln: Tauscht man in einem Wort einen einzigen Laut aus und ergibt sich eine Bedeutungsveränderung (eine Bedeutung muss also vorhanden sein), so hat man zwei Phoneme gefunden. 1. Einführendes 7 Ein Phonem ist die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit einer Sprache. Betrachten wir ein Beispiel für eine solche Minimalpaarbildung. Es macht z.B. einen Unterschied, ob man [ma > I n] (mein) oder [d > a I n] (dein) sagt. Durch eine solche sogenannte Minimalpaarbildung kann also eruiert werden, ob es einen Bedeutungsunterschied gibt, wenn man zwei Laute austauscht. Ist dies der Fall, hat man zwei Phoneme gefunden, nämlich [m] und [d]. Es handelt sich bei den Phonemen und eine abstrakte Einheit, die jeweils aus einer ganzen Klasse von Lauten, den sogenannten Phonen bestehen. Der Unterschied ist leicht erklärt: Es gibt prinzipiell unendlich viele Möglichkeiten z.B. ein [u] zu artikulieren. Alle diese Möglichkeiten, alle diese Phone, werden zur Klasse des Phonems [u] zusammengefasst. In manchen Sprachen macht es z.B. einen Unterschied, ob man das Phonem [x] (wie in Bach) oder [ç] (wie in ich) benutzt. Man bezeichnet diese beiden Phoneme als achbzw. ich-Laut. Im Deutschen hört es sich zwar seltsam an, wenn man sie vertauscht, aber verstehen wird einen trotzdem jeder. Im Deutschen, also auf der Ebene der Phonologie, handelt es sich um ein Phonem, in anderen Sprachen nicht (Phonetik). Phonologisch können wir also / iç/ schreiben oder / aç/ , phonetisch wäre das aber nicht korrekt. Es müsste entsprechend [iç] und [ax] heißen. Manchmal sagt man auch etwas ungenau, Phone würde man in eckige Klammern schreiben und Phoneme in Schrägstriche. Da es aber unendlich viele Phone gibt, ist das natürlich nicht ganz richtig. Das eben beschriebene Phänomen, wenn in einer Sprache zwei Laute existieren, die sich austauschen lassen, bezeichnet man als Allophonie, die entsprechenden Laute als Allophone. Die Varianten eines Phonems heißen Allophone. Allophone existieren nur innerhalb einer Sprache, sind also der Untersuchungsgegenstand der Phonologie. Was in einer Sprache ein Allophonpaar ist, muss in einer anderen keines sein. So macht es z.B. im Deutschen keinen Unterschied, ob man ein p behaucht [p h ] spricht oder nicht [p]. Es handelt sich also um Allophone, die phonologisch beide / p/ transkribiert werden. Im Hindi dagegen handelt es sich nicht um Allophone, entsprechend macht es einen Unterschied, ob man [p h ] oder [p] spricht und man notiert / p h / und / p/ . 8 Phonetik & Phonologie 2 Die Artikulation Die Phonetik zergliedert man üblicherweise in drei Bereiche. Die akustische Phonetik beschäftigt sich mit den akustischen Eigenschaften der Sprachlaute, also mit den Schallwellen, die beim Sprechen produziert werden. Die perzeptive Phonetik dagegen befasst sich mit der Wahrnehmung dieser Schallereignisse. Zu guter Letzt untersucht die artikulatorische Phonetik die Vorgänge der Aerodynamik und physiologischen Artikulation, also der Sprechbewegungen. Kurz gesagt, befasst sie sich mit der Entstehung der Laute im menschlichen Körper. Dieser Abschnitt behandelt entsprechend diese artikulatorischen Grundlagen. 2.1 Anatomie Beim Sprechen wird die Luft aus den Lungen durch unseren Mund geleitet und im Bereich etwa ab dem Kehlkopf modifiziert. Man spricht auch vom Artikulationstrakt oder - etwas technischer und in Anlehnung an Musikinstrumente - vom Ansatzrohr (= alles oberhalb des Kehlkopfes). Es handelt sich allerdings nicht um eigentliche Sprechorgane, sondern um Teilbereiche des Verdauungs- und Resirationsapparates, die sozusagen zum Sprechen ‚missbraucht‘ werden. Zunächst passiert die ausströmende Luft die Stimmlippen (Stimmbänder), die mehr oder weniger eng aneinandergepresst sein können. Die Öffnung zwischen den Stimmlippen bezeichnet man als Glottis. Abbildung 1 zeigt einen Querschnitt des Artikulationstrakts. Durch die Glottis gelangt die Luft über den Rachenraum zum Gaumensegel, das wie eine Art Kippschalter gesenkt werden kann. Ist dies der Fall, strömt die Luft durch den angekoppelten Nasenraum, ansonsten Bezeichnung: Erläuterung: bilabial mit beiden Lippen gebildet labiodental mit der Unterlippe und den oberen Schneidezähnen gebildet alveolar am Zahndamm gebildet palatal am harten Gaumen gebildet velar am weichen Gaumen gebildet uvular am Zäpfchen gebildet glottal an der Glottis gebildet Tabelle 2: Die Artikulationsstellen Kapitel 1. 2. Die Artikulation 9 in den Mundraum, wo sich der Großteil der Artikulatoren befindet. Artikulatoren sind die beweglichen Teile, die zur Bildung der Sprachlaute beitragen, hauptsächlich also die Zunge und die Unterlippe. Die unbeweglichen Teile des Sprechapparates nennt man Artikulationsstellen. Man bezeichnet sie, wie in der Abbildung eingetragen, mit lateinischen Namen. Es handelt sich im einzelnen um die Oberlippe (labial), die oberen Schneidezähne (dental), den direkt hinter den Zähnen liegenden Zahndamm (alveolar), den harten Gaumen (palatal), den weichen Gaumen (velar), das Zäpfchen (uvular) und die Stimmlippen (glottal). Tabelle 2 fasst die verschiedenen Bildungsmöglichkeiten an den Artikulationsstellen nochmals etwas ausführlicher zusammen. Das Beherrschen dieser Terminologie ist notwendig, um die Bildung von Sprachlauten exakt beschreiben zu können. Abbildung 1: Der Artikulationstrakt 10 Phonetik & Phonologie Die Artikulation erfolgt durch bewegliche Artikulatoren an unbeweglichen Artikulationsstellen. Beim Passieren der Glottis sind die Stimmlippen entweder eng aneinander gepresst oder entspannt. In ersterem Fall kommt es zu einer Vibration der Stimmlippen, in zweiterem Fall kann die Luft ungehindert fließen. Die Vibration führt zu stimmhaften, die Entspannungsstellung zu stimmlosen Lauten. Insgesamt bezeichnet man die Verengungen, die oberhalb der Glottis im Artikulationstrakt gebildet werden können, als Konstriktionen. So können vollständig oder teilweise Verschlüsse hergestellt werden. Liegt eine solche Konstriktion vor, wird ein Konsonant gebildet, erfolgt der Luftstrom ohne eine solche Verengung, so wird ein Vokal artikuliert. Je nachdem, an welcher Artikulationsstelle mit welchem Artikulator eine Konstriktion gebildet wird, entstehen unterschiedliche Konsonanten. Sprachlaute werden entweder mit einem Hindernis im Luftstrom gebildet (Konsonanten) oder die Luft fließt ungehindert durch den Mund (Vokale). Nach den beschriebenen Kriterien lassen sich die Sprachlaute gut einteilen. So kann man z.B. ein / t/ beschreiben als einen stimmlosen alveolaren oder ein / m/ als einen bilabialen stimmhaften Konsonanten. Allerdings unterscheiden sich / t/ und / m/ in der Art der Engstellenbildung (in der Art der Konstriktion). Darauf werden wir aber gleich noch einmal zu sprechen kommen. 3 Die Laute des Deutschen Sprachen bauen also aus Einzellauten, den Phonemen, Wörter auf. Wie viele solcher Phoneme es in einer Sprache gibt, ist unterschiedlich. Insgesamt gibt es etwa 160 verschiedene Phoneme, von welchen das Deutsche ca. 40 nutzt, die sich nach verschiedenen Kriterien in Kategorien sortieren lassen. 3.1 Vokale In der Regel geht man davon aus, dass es im Deutschen 16 Vokale gibt. Davon sind 14 sogenannte Vollvokale und 2 sogenannte Reduktionsvokale. Kapitel 1. 3. Die Laute des Deutschen 11 Vollvokale zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie in betonten Silben stehen können. Die Reduktionsvokale stehen in den Nebensilben und sind unbetont. Diese zwei sind das Schwa und das Lehrerschwa. Das Schwa kommt in Wörtern wie Kippe vor und wird [ @ ] notiert wird. Es wird vor Sonoranten, also solchen Vokalen, bei deren Artikulation keine Luftverwirbelungen entstehen, im Deutschen oft getilgt, d.h. also ausgelassen. Das Wort geben wird z.B. häufig statt [ge : b @ n] dann [ge : bn " ] gesprochen. Der Strich unter dem n zeigt an, dass dieses den Status einer Silbe hat. Der zweite Reduktionsvokal wird häufig als ‚Lehrerschwa‘ bezeichnet, da er im Wort Lehrer vorkommt. Man schreibt [ 5 ]. Es wird häufig mit < er > verschriftet. Die 14 Vollvokale lassen sich nach ihrer Länge und Kürze, bzw. ihrer Gespanntheit und Ungespanntheit (gemeint ist die Muskelspannung), einteilen. Gespanntheit und Länge, bzw. Kürze und Ungespanntheit, gehen dabei immer Hand in Hand. Am besten ist es jedoch, sich die Vokale mit Beispielwörtern anzusehen. Die aus Noack (2010: 37) entnommene Tabelle 3 gibt einen Überblick über die Vollvokale des Deutschen. Man kann die Vokale des Deutschen nach ihrer Artikulation in eine praktische und strukturierte Übersicht bringen, die in Abbildung 2 dargestellt ist. Dieses sogenannte Vokaltrapez ist wie folgt aufgebaut: Unten sind die Vokale aufgetragen, bei welchen der Mund weit geöffnet ist, nach oben hin nimmt der Öffnungsgrad ab. Von rechts nach links gelesen bewegt sich der Zungenrücken weiter nach vorne. In anderen Worten, befindet sich der Zungenrücken bei der Artikulation eines [i : ] weiter vorne als z.B. bei der Artikulation eines [u : ]. Die Vokale, die links von einem Punkt stehen, werden mit ungerundeten, die die rechts von einem Punkt stehen, mit gerundeten Lippen gesprochen. Manchmal sortiert man die deutschen Laute [j], wie in jemand, und [v], wie in Vase, in eine eigenständige Kateogorie, die man als Halbvokale gespannt: ungespannt: Beispiele: [e : ] [ E ] beten - Betten [i : ] [ I ] Miete - Mitte [o : ] [ O ] Robe - Robbe [u : ] [ U ] Pute - Putte [ A: ] [a] raten - Ratten [ø : ] [œ] Höhle - Hölle [y : ] [ Y ] Hüte - Hütte Tabelle 3: Die deutschen Vollvokale nach Noack (2010: 37) 12 Phonetik & Phonologie Abbildung 2: Die Vokale des Deutschen im Vokaldreieck, angelehnt an die International Phonetic Association (2005) bezeichnet. Dies hat seinen Grund darin, dass sie wegen ihres Verschlussbzw. Öffnungsgrades und ihrer Sonorität eine Zwischenstellung zwischen Vokalen und Konsonanten einnehmen. 3.2 Diphthonge In vielen Sprachen, so auch im Deutschen, gibt es innerhalb von Silben Abfolgen von zwei Vokalen, die man als Zwielaute oder Diphthonge bezeichnet. Die Diphthonge (mit zwei < h > geschrieben! ) des Deutschen sind [a I “ ], wie in Reich, [a U “ ], wie in Rauch, und [ OY “ ], wie in euch. Der seltsame Haken unter einem Vokal eines Diphthongs zeigt an, welcher der beiden Vokale nicht der Kern der Silbe ist. Diphthonge werden zu den Phonemen gerechnet. Das hat seinen Grund darin, dass beim Sprechen aufgrund der Koartikulation der Eindruck eines einzelnen Lautes entsteht. Häufig notiert man Diphthonge deshalb auch mit einem Bogen [ > a U “ ] über den Vokalen, um diese enge Verbindung kenntlich zu machen. Kapitel 1. 3. Die Laute des Deutschen 13 Exkurs: Koartikulation Phoneme sind Abstraktionen. Beim tatsächlichen Sprechen reihen wir nicht Einzellaut an Einzellaut, sondern unsere Artikulationsorgane sind in ständiger Bewegung - und diese Bewegungen gehen ineinander über, sie sind kontinuierlich. Die Artikulationsbewegungen der Einzellaute überlappen sich also. Man spricht von Koartikulation. Diese kann mal stärker sein und mal schwächer. Die gegenseitige Beeinflussung der Laute kann man gut beobachten, wenn man darauf achtet, wie unterschiedlich die Lippenstellung bei der Artikulation des [g] in Glück und gehen aufgrund der nachfolgenden Sprachlaute ist. 3.3 Konsonanten Wir haben schon festgehalten, dass sich die Konsonanten von den Vokalen durch eine Engstellung im Mund (die sogenannten Konstriktionen) unterscheiden. Um den verschiedenen Verschlussarten gerecht zu werden, hat sich eine eigene Terminologie eingebürgert, die es ermöglicht, die Konsonanten in verschiedene Klassen einzuordnen. Konsonanten, bei welchen ein vollständiger Verschluss gebildet wird und bei welchen die Luft kurz gestaut und dann gesprengt wird, nennt man Plosive. Im Deutschen gibt es 7 solcher Plosive, die in Tabelle 4 zusammengefasst sind. Zu der Tabelle sind zwei Anmerkungen notwendig. Zunächst ist zu sagen, dass die stimmlosen Plosive [p], [t] und [k] im Deutschen fast immer aspiriert vorkommen, das heißt also behaucht werden. Wenn Sie z.B. das Wort Paar laut aussprechen und Ihre Hand vor den Mund halten, werden Sie einen leichten Lufthauch bemerken. Man notiert die Aspiration wie folgt: [p h ], [t h ] bzw. [k h ]. Zweitens taucht in der Tabelle das Zeichen [ P ] auf. Dabei handelt es sich um einen sogenannten glottalen Verschlußlaut, der im Deutschen silbenstimmlos: stimmhaft: Beispiele: [p] [b] Paar - Bar [t] [d] Teer - der [k] [g] Kunst - Gunst [ P ] — Oma Tabelle 4: Die deutschen Plosive 14 Phonetik & Phonologie bzw. wortinitial artikuliert wird, wenn ein Vokal folgt. Entstprechend notiert man Oma als [ P o : ma]. Dieser Konsonanten wird in der Regel nicht bewusst wahrgenommen, da wir sehr stark auf unser Schriftbild fixiert sind. In der Phonologie wird er nicht notiert, da er nicht als Phonem betrachtet wird, weil er vorhersagbar ist. Man schreibt daher / o : ma/ . In der phonetischen Transkription wird er verschriftet. In der gesprochenen Alltagssprache taucht er allerdings nicht immer auf - häufig wird er aufgrund des kontinuierlichen Sprachflusses einfach ausgelassen. Eine weitere Klasse der Konsonanten bilden diejenigen Laute, bei welchen nur ein teilweiser Verschluss gebildet wird, so dass es zu Luftverwirbelungen kommt. Wegen des entstehenden charakteristischen Geräuschs spricht man von Reibelauten oder Frikativen. Im Deutschen gibt es 10 bzw. 11 Frikative. Diese sind in Tabelle 5 dargestellt. Zu dieser Tabelle wieder zwei Anmerkungen: Bei [ K ], wie man ihn in Regen artikulieren könnte, handelt es sich um einen uvularen Laut, er wird also am Zäpfchen gebildet. Daneben gibt es noch das sogenannte Zungen-r [r], das allerdings kein Frikativ ist, sondern ein sogenannter Vibrant (wegen der Vibration). Es handelt sich also um Allophone. Aber nicht nur mit der Zunge kann ein r-Laut gebildet werden, der ein Vibrant ist, auch das Zäpfchen kann vibrieren. Man notiert das Zäpfchen-r als [ ö ]. Die zweite Anmerkung betrifft die Laute [ç] und [x]. Es handelt sich um den schon erwähnten ichbzw. ach- Laut, also um Allophone. Jetzt wird auch klar, warum wir von 10 bzw. 11 Frikativen im Deutschen gesprochen haben. Im Deutschen werden Plosive und Frikative häufig kombiniert, z.B. [ > pf], [ > ts] oder [ > t S ]. Man spricht von Affrikaten. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie an derselben Artikulationsstelle gebildet werden (man sagt auch, dass sie homorgan gebildet werden). Wird die Luft nicht über den Mund abgestrahlt, sondern in den Nastimmlos: stimmhaft: Beispiele: [s] [z] Haus - Sonne [f] [v] Finger - Wasser [ S ] [ Z ] Schloss - Jalousie [ç] [j] mich - Jenseits [x] Bach [ K ] Regen [h] Heben Tabelle 5: Die deutschen Frikative Kapitel 1. 4. Transkription 15 Bezeichnung: Erläuterung: Plosiv Verschlusssprengung Frikativ Teilweise Konstriktion mit Geräuschbildung Affrikate Plosiv mit homorgan gebildetem Frikativ Nasal oraler Verschluss, Luft entweicht über die Nase Lateral seitlich an der Zunge gleitende Luft Vibrant mit vibrierendem Artikulator Tabelle 6: Die Artikulationsarten senraum geleitet, spricht man von sogenannten Nasalen. Sie sind von den Konsonanten am stärksten mit den Vokalen verwandt und wie diese werden sie immer stimmhaft gebildet. Das Deutsche verfügt über drei verschiedene Nasallaute: [m], [n] und [ ŋ ]. Letzterer wird in der Schrift meist < ng > wiedergegeben, wie in Enge. Als Laterallaute oder kurz Laterale bezeichnet man Konsonanten, bei welchen der Luftstrom seitlich der Zunge entlang fließt. Das Deutsche besitzt mit [l], wie in laufen nur einen einzigen Laterallaut. Der Laterallaut und die Vibranten [r] und [ ö ] werden häufig zu den sogenannten Liquiden zusammengefasst. Sowohl bei [ç] und [x] als auch bei [ K ] und [ ö ] handelt es sich um Allophone. Allerdings unterscheiden sich diese beiden Arten der Allophone in einer Eigenschaft. Während das Auftreten von [ç] und [x] von der Lautumgebung abhängt und das entstehende Wort bei einem Austausch zwar erkannt wird, aber seltsam klingt, können [ K ] und [ ö ] beliebig ausgetauscht werden. Man spricht von stellungsbedingter bzw. von freier Allophonie. Der ich-Laut [ç] tritt nach den vorderen Vokalen [i : ], [ I ], [ E: ], [y : ], [ Y ], [ø : ] und [œ] auf sowie nach den Diphthongen [ > a I ] und [ > OI ] und nach den Sonoranten [l], [n] und [ ö ]. Der ach-Laut dagegen nach den hinteren und zentralen Vokalen [u : ], [ U ], [o : ], [ O ], [a : ] und [a] sowie nach dem Diphthong [ > a U ]. 4 Transkription Wir haben nun schon gesehen, dass die Verschriftung der Laute nicht mit dem normalen, uns gewohnten Alphabet erfolgt, sondern mit einem daran angelehnten System, dem sogenannten International Phonetic Alphabet, das von der International Phonetic Association herausgegeben wird. Mit 16 Phonetik & Phonologie diesem System lassen sich prinzipiell alle Phoneme der Sprachen der Welt darstellen. Die Organisation International Phonetic Association wird mit IPA abgekürzt, aber heute kürzt man oft auch das Alphabet so ab. Abbildung 3 zeigt dieses Internationale Phonetische Alphabet. Es besteht grundsätzlich aus zwei verschiedenen Arten von Symbolen, nämlich solchen, die Phoneme repräsentieren und sogenannten diakritischen Zeichen, die Aussprache oder Betonung angeben. Die wichtigsten dieser Zeichen haben wir schon kennengelernt, z.B. haben wir bei den Diphthongen [ > a U “ ] geschrieben und mit dem unteren Haken angegeben, dass der entsprechende Vokal nicht der Kern der Silbe ist und mit dem oberen Bogen angezeigt, dass die beiden Vokale gemeinsam artikuliert werden. Das Internationale Phonetische Alphabet ist insgesamt sehr komplex - aber keine Angst, Sie müssen es nicht beherrschen. Dennoch sollten Sie es einmal gesehen haben. Um die Komplexität des Alphabets etwas zu reduzieren, wollen wir uns an dieser Stelle jedoch ausschließlich auf die Phoneme des Deutschen konzentrieren. Mit unserem Wissen über die Artikulation und der vorgestellten Klassifikation der Konsonanten, sind wir nun in der Lage eine systematische Übersicht über das Deutsche Konsonantensystem zu gewinnen. Siehe dazu Tabelle 7. An einigen Positionen stehen zwei Phoneme. Dabei ist das jeweils rechtsstehende stimmhaft, das linksstehende entsprechend stimmlos. Wir haben uns nun ein ausführliches Beschreibungsinstrumentarium erarbeitet, mit welchem wir alle Konsonanten des Deutschen genau beschreiben können. So könnten wir z.B. sagen, das [p] sei ein stimmloser bilabialer Plosiv oder das [ ŋ ] sei ein (stimmhafter) velarer Nasal. Bei Transkriptionsaufgaben, die insgesamt nicht sehr häufig vorkommen, müssen Sie sich entscheiden, ob Sie eine phonetische oder eine phonologische Transkription wählen. Wie schon angesprochen, transkribiert man phonetisch mit eckigen Klammern, phonologisch mit Schrägstrichen. Da sich die Phonetik mit den Sprachlauten aller Sprachen der Welt befasst, wird hier genauer transkribiert als in der Phonologie, da diese nur auf eine Sprache begrenzt ist und Vereinfachungen vornehmen kann. In einer phonetischen Transkription würde es so z.B. einen Unterschied machen, ob Sie das Wort Bach oder das Wort ich transkribieren sollen, da die fett markierten Laute phonetisch unterschiedlich realisiert werden (achbzw. ich- Laut, [x] bzw. [ç]). Aus Sicht der deutschen Phonologie handelt es sich dagegen um Allophone, die beide mit / ç/ verschriftet werden können. Meist werden sie aber auch in der phonologischen Transkription beide berücksichtigt. Dies wird in diesem Buch auch so gehandhabt. Kapitel 1. 4. Transkription 17 Abbildung 3: Das Internationale Phonetische Alphabet der International Phonetic Association (2005) 18 Phonetik & Phonologie Dass hier aber auch nur eine Variante ausreichen würde, verdeutlicht aber, dass die Phonologie vorhersagbare Ereignisse der Lautstruktur nicht beachten muss, da sie regelhaft sind. So muss in einer phonetischen Transkription die Auslautverhärtung bedacht werden, in der Phonologie nicht. In einer phonetischen Transkription könnten Sie verschiedene r-Laute transkribieren (Zäpfchen-r vs. Zungen-r, [r] vs. [ ö ]), in der Phonologie handelt es sich wieder um Allophone, genauso verhält es sich mit der Aspiration (Behauchung) von Plosiven ([p] bzw. [p h ] können beide als / p/ wiedergegeben werden). Bei einer phonetischen Transkription gibt es weiterhin einige Punkte, welchen Sie Beachtung schenken sollten: • Im Deutschen gibt es keine Wörter mit wort- oder silbeninitialen Vokal. Es sollte immer ein glottaler Verschlusslaut notiert werden: Oma wird [ P o : ma], aus Theater [t h e PA t h 5 ] • Endet ein Wort mit einem unbetonten e-Laut, spricht man ein Schwa, genauso muss auch notiert werden. Aus Kippe wird [k h I p h @ ] • Unbetonte Nebensilben, die in der Schrift als - < er > notiert werden, werden als Lehrerschwa gesprochen und [ 5 ] transkribiert. Aus Vater wird [fat h 5 ] • Besonders in Süddeutschland fällt es oft schwer einen Unterschied zwischen stimmlosen und stimmhaften s-Lauten zu erkennen. Generell gilt: Im Anlaut ist der s-Laut immer stimmhaft! Aus Sonne wird [z O n @ ] bilab. labiodent. alveolar postalveol. palat. velar uvlar glott. Plosiv p b td k g P Frikativ f v s z S Z ç j (x) K h Nasal m n ŋ Lateral l Vibrant (r) ( ö ) Affrikat. > pf > ts > t S Tabelle 7: Deutsche Konsonanten (in Klammern Allophone) Kapitel 1. 4. Transkription 19 4.1 Phonologische Transkription Im Unterschied zur phonetischen Transkription - das ist jetzt klar geworden - brauchen wir verschiedene Feinheiten bei der phonologischen Transkription nicht berücksichtigen. Dazu gehören alle vorhersagbaren Lauterscheinungen und die verschiedenen allophonischen Varianten. Außerdem wird bei der phonetischen Transkription stärker berücksichtigt, wie tatsächlich gesprochen wurde, dazu gehören z.B. Verschleifungen und das ‚Verschlucken‘ von Lauten. Bei der phonologischen Transkription wird hier stärker abstrahiert. Die phonetische Transkription ist daher eine engere Transkription als die phonologische, die breiter ist (sie gibt also weniger Details an). Die nachfolgende Übersicht zeigt die Unterschiede zwischen phonetischer und phonologischer Transkription: • [r], [ ö ], [ K ] > / r/ (verschiedene Allophone, brauchen wir nicht notieren) • [x], [ç] > / x/ (wieder Allophone, in manchen phonologischen Transkriptionen werden allerdings auch beide notiert und damit der Unterschied kenntlich gemacht, also / x/ und / ç/ geschrieben) • [ P ] > - (der glottale Verschlusslaut ist vorhersagbar, wir brauchen ihn nicht zu verschriften) • Tag und Tages; [t h A: k] und [t h A: g @ s] > / t A: g/ und / t A g @ s/ (sowohl die Auslautverhärtung als auch die Aspiration von Plosiven sind vorhersagbar) • [l " ], [n " ], [m " ] > / @ l/ , / @ n/ , / @ m/ (häufig wird beim Sprechen das Schwa ‚verschluckt‘, wie z.B. bei Segel oder sagen) Um uns die beiden Formen der Transkription näher anzusehen, vergleichen wir in nachfolgendem Exkurs einen kurzen Text, den wir einmal phonetisch und einmal phonologisch transkribieren. Der besseren Übersicht halber sind zwischen die einzelnen Wörter der phonetischen Transkription Leerzeichen eingefügt, die dort eigentlich nicht hingehören, da wir beim Sprechen auch keine Pausen machen. Die phonetische Umschrift unterscheidet sich von der phonologischen nicht nur in den genannten Punkten, sondern auch in der Beachtung von Merkmalen, die für das Sprechen typisch sind, so ist z.B. das [n] von und verschluckt worden. Die phonologische Transkription orientiert sich dagegen mehr oder weniger an der 20 Phonetik & Phonologie Standardaussprache. Ausführlichere Transkriptionen der ganzen Fabel Die Sonne und der Wind finden Sie in Pompino-Marschall (2009: 269f.). Exkurs: Transkriptionsbeispiele Text: Einst stritten sich Nordwind und Sonne, wer von ihnen beiden wohl der Stärkere wäre, als ein Wanderer, der in einen warmen Mantel gehüllt war, des Weges kam. Phonetische Transkription: [ P > a I ns "S t KI tn " z I ç " n O5 tv I nt U n " z O n @ ve 5 f O n i : m " " b > a I dn " vo : l d 5 "S t E5 k @K@ ve K@ P alz > a IM " vand @K5 de : 5 I n > a I n " va : m " " mantl " g @" h Y lt h va : 5 d @ s " ve : g @ s k h a : m] Phonologische Transkription: / a I nst "S tr I t @ n z I ç " n O rtvi : nt U nt " z O n @ ve : r f O n " i : n @ n " ba I d @ n vo : l de : r "S t E rk @ r @ ve : r @ als a I n " vand @ r 5 de : r I n a I n @ n " varm @ n " mant @ l g @" h Y lt va : 5 d E s " ve : g @ s ka : m/ Bis jetzt haben wir zwar schon Laute und Wörter analysiert und verschriftet, dabei jedoch die Silbe, also sozusagen den Zwischenbaustein, vergessen. Der nächste Abschnitt widmet sich daher den Fragen der Silbenphonologie. 5 Silbenphonologie Bereits Kinder sind dazu in der Lage, die Silben von Wörtern ohne größere Schwierigkeiten zu segmentieren. Man nennt den Vorgang des Zerlegens eines Wortes in seine zugrundeliegenden Silben Silbifizierung. Wir haben im Abschnitt über die Vokale schon das Wort geben [ge : b @ n] bzw. [ge : bn " ] behandelt und gesagt, dass der kleine Strich unter dem n anzeigt, dass es sich bei diesem Phonem um einen sogenannten Silbenkern handelt. Was wir bei dieser Transkription jedoch noch nicht notiert haben, sind 1) die Betonungen und 2) die Silbengrenzen. Widmen wir uns zunächst den Silbengrenzen. Diese markiert man einfach mit einem Punkt. Wir schreiben also [ge : .b @ n]. Die Betonung markiert man mit einem einfachen Strich am Beginn der betonten Silbe innerhalb eines Worts, wir schreiben also [ " ge : .b @ n]. Die meisten Wörter des Deutschen folgen im Übrigen diesem Muster, weisen also die Abfolge betonte Kapitel 1. 5. Silbenphonologie 21 Silbe σ Reim Koda Nukleus Kopf Abbildung 4: Die Silbenstruktur Silbe geht unbetonter Silbe voran auf. Das prototypische Deutsche Wort, so kann festgehalten werden, ist trochäisch organisiert. 5.1 Silbenstruktur Silben kürzt man in der Linguistik mit dem griechischen Buchstaben σ (Sigma) ab. Die Silben einer Sprache lassen sich in verschiedene Einzelglieder zerteilen und so analysieren. Dabei unterscheidet man den Silbenanlaut, den man als ihren Onset oder auch Kopf bezeichnet und den Reim. Dieser wiederum besteht aus einem (vokalischen) Nukleus und dem Silbenauslaut, der sogenannten Koda. Der Nukleus ist der Teil der Silbe mit der höchsten Sonorität, d.h. er ist mit einem Vokal oder einem vokalähnlichen Laut (z.B. ein Nasal) gefüllt. Abbildung 4 zeigt vereinfacht die Silbenstruktur. 5.2 Silbenklassifikation Silben werden nach diesem Strukturplan in verschiedene Silbenarten unterteilt. So bezeichnet man eine Silbe als offen, wenn die Koda unbesetzt ist (z.B. ha in haben). Ist die Kodaposition dagegen besetzt, spricht man von geschlossenen Silben (z.B. ben in haben). Ist dagegen der Kopf unbesetzt, nennt man die Silbe nackt und umgekehrt, wenn der Kopf besetzt ist, heißt die Silbe bedeckt. Im Gegensatz zum Kopf und zur Koda muss jede Silbe aber über einen Kern verfügen, dieser ist obligatorisch. Sehen wir uns als Beispiel die Silbenstruktur des Wortes Braten an, das wir [b ö a.t h @ n] notieren wollen (normalerweise würde man das Schwa beim Sprechen vermutlich ausfallen lassen, dann wäre das [n] in der Nukleusposition). Siehe dazu Abbildung 5. Das Symbol ∅ bedeutet, dass die Position unbesetzt ist. Wie in der Abbildung zu sehen ist, müssen Kopf und Koda nicht nur nicht unbedingt besetzt sein, sondern es können in beiden Positionen auch mehrere Phoneme auftreten. 22 Phonetik & Phonologie 5.3 Silben und Regeln Hinsichtlich der Silbe als Einheit gibt es in der Phonologie des Deutschen eine ganze Reihe von Regeln. Dazu zählt z.B. die Regel, dass der velare Nasal [ ŋ ] nur in der Kodaposition auftreten darf. Die wichtigste und prominenteste dieser Regeln ist aber die Auslautverhärtung. Sie besagt, dass stimmhafte Obstruenten, also stimmhafte Plosive und Frikative, nur in Silbenköpfen vorkommen können (also silbeninitial stehen). Nun gibt es im Deutschen zahlreiche Wörter, wie z.B. Hunde, in welchen ein stimmhafter Obstruent im Silbenkopf vorkommt (hier also ein [d]), von welchen aber gleichzeitig Flexionsformen existieren, in welchen der stimmhafte Obstruent in Kodaposition stehen müsste. Da das aber laut der Regel nicht erlaubt ist, wird er durch einen stimmlosen ersetzt, wie z.B. bei Hund. Im der Schriftsprache sieht man eine solche Ersetzung nicht, aber beim Sprechen realisieren wir die Hunde mit [d], den Hund dagegen mit [t]. Auslautverhärtung: Die stimmhafte Obstruenten [b], [d], [g], [v], [z] und [ Z ] werden am Ende einer Silbe stimmlos. So können z.B. die Plosive [p], [t], [k] und [b], [d], [g] nicht nur als verschiedene Laute betrachtet werden, sondern in gewissen Stellungen auch als Allophone. Um sich das Phänomen der Auslautverhärtung klarer zu machen, können Sie versuchen, folgende Wörter auszusprechen: der Grund - des Grundes ([t] - [d]), schreiben - schrieb ([b] - [p]), Tag - Tages ([k] - [g]), Nerv - nervös ([f ] - [v]), das Haus - des Hauses ([s] - [z]), orange - Orange Braten σ Kopf b ö Reim Nukleus a Koda ∅ σ Kopf t h Reim Nukleus @ Koda n Abbildung 5: Silbenstruktur des Wortes Braten Kapitel 1. 6. Phonetik und Phonologie im Examen 23 ([ S ] - [ Z ]). Am besten sprechen Sie die Wörter laut aus, dann können Sie die Stimmhaftigkeit richtig hören (Flüstern ist immer stimmlos). 6 Phonetik und Phonologie im Examen Transkriptionsaufgaben im Examen sind selten. Dennoch sind die in diesem Kapitel besprochenen Grundlagen wichtig für das Verständnis von Graphemik-Aufgaben und für große Teile im Bereich Sprachgeschichte (v.a. für den Lautwandel). Ein Aufgabentyp, bei dem Phonologiekenntnisse unerlässlich sind, ist auch das Erkennen und die Analyse von Fremdwörtern. Meist wird gefordert, deren Besonderheiten im Bereich Schreibung und Lautung zu analysieren. Mehr zu Fremd- und Lehnwörtern siehe Seite 142. Transkribieren Sie folgende Wörter phonologisch: 1. echt 2. edel 3. Eberesche 4. Laune 5. Lauch 6. Leute 7. Perforation 8. Salamander 9. Arznei 10. ABC-Schütze 11. jawohl 12. Marionette 13. oppositionell 14. töten Beispielaufgabe Transkription 24 Phonetik & Phonologie Notieren Sie phonetisch die folgenden Konsonanten: 1. stimmhafter bilabialer Plosiv 2. stimmloser postalveolarer Frikativ 3. (stimmhafter) postalveolarer Vibrant 4. (stimmhafter) bilabialer Nasal Beispielaufgabe Konsonanten Zur Einführung in die Phonetik ist Pompino-Marschall (2009) unerlässlich. Einen schnellen Überblick über die deutsche Phonologie finden Sie in Noack (2010). Literaturtipps Kapitel 1. 2 | Wortarten In diesem Kapitel werden wir die Klassifikation der Wortarten des Deutschen behandeln. Die Kenntnis der Wortarten ist die Voraussetzung für das Verständnis der Syntaxanalyse. In jeder Sprache gibt es Klassen von Wörtern, die gewisse Eigenschaften teilen. Diese Eigenschaften können unterschiedlicher Natur sein und z.B. ihre Stellung im Satz betreffen, ihre Bedeutung oder ihr Flexionsverhalten. Man ordnet die Wörter gemäß solcher gemeinsamer Eigenschaften in Wortarten ein. Diese Einordnung wird nicht immer einheitlich vorgenommen und viele Grammatiken widersprechen sich daher. Insgesamt gibt es für das Deutsche aber eine Art Grundkonsens darüber, welche Wortarten existieren. Die angesprochenen Klassifikationsprobleme liegen u.a. daran, dass die Zuordnung eines Wortes zu einer Wortart nicht immer klar ist, weil die Ränder von Wortarten recht fuzzy sind. Musan (2013: 16) formuliert etwa: Wir sollten uns eine Wortart also nicht als schwarz-weiß klar abgegrenzte Menge vorstellen, sondern eher als eine Menge von Wörtern, die einen ideal gearteten Kernbereich hat. Bei Wörtern, die zum Kernbereich gehören, stimmt alles: Sie erfüllen jede typische Eigenschaft der Wortart; sie entsprechen dem Prototyp der Wortart. Andere Wörter sind weniger gute Kandidaten ihrer Wortart. Sie erfüllen nur ein paar der Eigenschaften, aber wichtige. Wir ordnen in diesem Buch die Wortarten in zehn Klassen ein, wobei die erste große Unterscheidung über die Flektierbarkeit erfolgt. In Abbildung 6 sind diese zehn Wortarten übersichtlich zusammengestellt. Es handelt sich demnach um Verben, Adjektive, Determinierer (Artikelwörter), Pronomen, Substantive, Interjektionen, Konjunktionen, Partikeln, Präpositionen und Adverben. Allerdings werden wir, wenn wir im nachfolgenden diese Wortarten und ihre Eigenschaften besprechen, sehen, dass es sinnvoll ist, diese in noch feiner Klassen aufzugliedern, z.B. die Verben in Vollverben, Hilfs- 26 Kapitel 2. Wortarten verben und Kopulaverben oder die Parikeln in Modalpartikeln, Intensitätspartikeln, Fokuspartikeln und Antwortpartikeln. Bevor wir uns aber dieser Einteilung zuwenden, soll noch ein kurzer Blick auf eine andere, sehr grobe Unterteilung der Wörter in zwei Klassen geworfen werden. Diese Unterteilung nach inhaltsorientierten Kriterien, nämlich nach Inhalt und Funktion, soll ein erstes Verständnis dafür aufbauen, was Wörter leisten können. 1 Inhalts- und Funktionswörter Will man Wörter kategorisieren, bietet es sich als eine erste, grobe Unterscheidung an, zwei Klassen zu bilden. In die erste Klasse, die man Inhaltswörter nennt, fallen alle diejenigen Wörter, die referieren können, sich also auf eine außersprachliche Realität beziehen können. Das müssen nicht unbedingt Personen, Tiere oder Dinge sein, unter die Inhaltswörter fallen Wort unflektierbar Adverben Präpositionen Partikeln Konjunktionen Interjektionen flektierbar deklinierbar Substantive Pronomen Determinierer Adjektive konjugierbar Verben Abbildung 6: Die klassischen zehn Wortarten 3. Die Flektierbaren 27 auch Eigenschaften oder Tätigkeiten. Die Inhaltswörter bilden eine offene Klasse, das bedeutet, zu ihr kommen immer neue Wörter hinzu. Ein einfaches Beispiel wäre eine neue Erfindung, die einen Namen braucht. Tablet oder Smartphone sind solche Wörter für neue Erfindungen. Aber auch Ad hoc-Zusammensetzungen wie Examenskoller gehören dazu. Die zweite Klasse von Wörtern sind solche, die grammatische Funktion haben, also Beziehungen zwischen Inhaltswörter herstellen. Man nennt sie Funktionswörter. Zu diesen gehören z.B. Subjunktionen wie weil oder denn. Sie verweisen nicht auf eine außersprachliche Realität und bilden eine geschlossene Klasse, d.h. sie sind sprachgeschichtlich betrachtet relativ robust. Es kommt so gut wie zu keinen Veränderungen, i.e. es treten keinen neuen Funktionswörter hinzu. Funktionswörter sind in der Regel sehr kurz, genauer gesagt einsilbig und können keinen Wortakzent tragen. 2 Die klassischen Wortarten In der klassischen Grammatik unterteilt man Wörter jedoch nach ihren syntaktischen, morphologischen und semantischen Eigenschaften in Klassen ein. Traditionellerweise unterscheidet man zehn Wortarten, die wir auch hier annehmen wollen. Dabei geht man zunächst von morphologischen Eigenschaften aus, d.h. genauer dass man sie danach einteilt, ob sie veränderlich sind oder nicht. Verben zum Beispiel sind veränderlich je nachdem, in welcher Person sie stehen (ich gehe, du gehst, er/ sie/ es geht usw.) und Substantive sind veränderlich, je nachdem, in welchem Kasus (Fall) sie auftreten (das Haus, des Hauses, usw.). Diese Eigenschaft der Wörter, ihr Erscheinungsbild zu verändern, nennt man Flexion. Zunächst teilen wir die Wörter also ein in Flektierbare und Unflektierbare (siehe Abbildung 6). 3 Die Flektierbaren 3.1 Substantive Substantive sind deklinierbar nach Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ) und Numerus (Singular oder Plural). Sie haben ein festes Genus, man sagt auch, sie seien genuskonstant. Die drei Genera im Deutschen sind Maskulinum, Femininum und Neutrum (die Begrifflichkeiten ‚männlich‘, ‚weiblich‘ und ‚sächlich‘ sind zu vermeiden). Manchmal ist allerdings auch nicht ganz sicher, welches Genus ein Substantiv hat. So existieren die Formen das Virus und der Virus nebeneinander. Manchmal geht auch ein 28 Kapitel 2. Wortarten Wechsel der Bedeutung mit dem Wechsel des Genus einher: das Tor vs. der Tor. Nicht zu verwechseln ist das Genus, das eine grammatische Kategorie ist, mit dem Sexus, dem natürlichen Geschlecht. Häufig weichen sie voneinander ab (z.B. heißt es das Mädchen), obwohl überhaupt in den meisten Fällen gar kein Sexus zugewiesen werden kann (wieso sollte der Tisch ein ‚Mann‘ sein? ). Die Deklination der Substantive nach den drei Kategorien Genus, Numerus und Kasus stellt sich also wie folgt dar: Substantiv Kasus Akkusativ Dativ Genitiv Nominativ Numerus Plural Singular Genus Neutrum Femininum Maskulinum Außerdem können Substantive zusammen mit Artikeln bzw. Determinierern auftreten und eine Einheit bilden, was allerdings nur eingeschränkt für Personennamen gilt. Je nachdem, wo aus Deutschland Sie herkommen, wird Die Lisa hat gesagt, dass sie Apfelkuchen mag etwas seltsam erscheinen oder nicht. Genauer gesagt, ist es in Süddeutschland durchaus üblich Personennamen mit Artikeln zu kombinieren, in anderen Teilen Deutschlands dagegen nicht. Man teilt die Substantive ein in solche, die Gegenständliches bezeichnen, die sogenannten Konkreta (Singular: Konkretum) und solche, die Nicht-Gegenständliches bezeichnen, die Abstrakta (Singular: Abstraktum). Man kann einerseits auf ganze Gattungen Bezug nehmen, wie Katzen oder Autos, dann spricht man von den sogenannten Gattungsnomen oder Appellativa (Singular: Appellativum). Andererseits kann man auf Individuen oder Dinge mit ihrem Eigennamen Bezug nehmen, man spricht von den Nomina propria (Singular: Nomen proprium). Die Appellativa zerfallen weiter in solche, die auf zählbare Dinge oder Sachverhalte referieren, solche die nicht-zählbar sind oder sich auf Gattungen oder Mengen beziehen. Man spricht von den Indivituativa (Singular: Individuativum), den Kontinuativa (Singular: Kontinuativum) und den Kollektiva (Singular: Kollektivum). Siehe dazu die nachfolgenden Beispiele: (1) a. Individuativa: Schüler, Tisch, Mann b. Kontinuativa: Kupfer, Gold, Wasser c. Kollektiva: Menschenmenge, Rudel, Herde 3. Die Flektierbaren 29 Demonstrativpronomen Personalpronomen Relativpronomen diese, jene dieser, jener der, die, das Interrogativpronomen Reflexivpronomen Indefinitpronomen wer, was, wen, welcher sich, uns mancher, etwas Possesivpronomen Reziprokpronomen mein, dein einander, sich Tabelle 8: Pronomen des Deutschen Neben solchen primären Substantiven können durch den Prozess der Substantivierung aus anderen Wortarten sekundäre Substantive abgeleitet werden, z.B. aus dem Verb laufen das Substantiv das Laufen. 3.2 Determinierer Determinierer, auch Artikelwörter genannt, treten im Deutschen pränominal, also vor Substantiven auf und gehen eine Verbindung mit ihnen ein. Die Artikel der, die, das sind wohl die prototypischen Determinierer. Sie bilden mit Substantiven zusammen Phrasen, wie der Baum, die in Genus, Numerus und Kasus übereinstimmen. Da sie die Eigenschaften des Substantivs genauer festlegen, heißen sie Determinierer. Zu ihnen gehören außerdem noch die unbestimmten Artikel (ein, eine, ein), die Possessivartikel (mein, dein, sein, ...), die Demonstrativartikel (dieser, diese, dieses, jener, jene, jenes), die Quantoren (alle, viele, einige, manche, ...), die Infinitartikel (irgendein), Negationsartikel (kein), Interrogativartikel (welche, wessen, was für ein, ...) und die Relativartikel (dessen, deren). Determinierer sind mit dem sogenannten ‚sächsischen Genitiv‘ inkompatibel. Der sächsische Genitiv ist eine Possessivkonstruktionen mit Genitiv, wie Philips Bier. 3.3 Pronomen Während die Determinierer mit Substantiven zusammen auftreten, können Pronomen Substantive oder Determinierer und Substantive gemeinsam ersetzen (sie stehen ‚für ein Nomen‘, deshalb auch der Name pro nomen). Daher sind sie leicht mit den Determinierern zu verwechseln. Tabelle 8 gibt einen Überblick über die Pronomen des Deutschen. 30 Kapitel 2. Wortarten 3.4 Adjektive Adjektive können zwischen einem Artikel und einem Substantiv stehen. Dieses Kriterium schützt auch davor Adjektive und Adverben zu verwechseln. Adjektive sind nach Kasus, Numerus und Genus deklinierbar, müssen aber natürlich nicht dekliniert auftreten. Sie können zumeist kompariert werden, i.e. neben dem Positiv (z.B. langsam) existiert noch ein Komparativ (langsamer) und ein Superlativ (am langsamsten). Adjektive können auf drei verschiedene Arten gebraucht werden, wie in den folgenden Beispielsätzen gezeigt. (2) a. Die schnelle Magdalena b. Tanja redet schnell c. Sonja ist schnell In Satz (2a) tritt das Adjektiv schnell zwischen Artikel und Substantiv. In diesen Fällen modifiziert das Adjektiv die Bedeutung des Substantivs, man spricht von einem attributiven Gebrauch. In Satz (2b) dagegen tritt das Adjektiv schnell mit einem Vollverb auf. Es handelt sich um einen sogenannten adverbialen Gebrauch. Letztlich können Adjektive noch wie in (2c) mit Kopulaverben Verbindungen eingehen, was man als prädikativen Gebrauch bezeichnet, da schnell hier als Prädikativ fungiert. Zum Prädikativ siehe Seite 59. 3.5 Verben Im Gegensatz zu den bisher betrachteten Wortarten, die alle deklinierbar waren, sind Verben konjugierbar. Diese Art der Flexion zeichnet sich im Deutschen dadurch aus, dass Verben hinsichtlich Tempus, Person, Numerus und Modus markiert werden können. Der Numerus kann Singular oder Plural sein (in anderen Sprachen gibt es z.B. noch einen Dual, wie im Slowenischen), die 1., 2. oder 3. Person, der Modus Indikativ oder Konjunktiv. Beim Tempus sind nur Präsens oder Präteritum direkt am Verb markierbar, alle anderen Zeiten werden über analytische Konstruktionen gebildet. Daneben tauchen Verben in zwei grundlegend verschiedenen Formen auf: Sie sind entweder finit, tragen also solche Markierungen oder sind infinit. Infinite Verbformen tragen entsprechend keine solchen Markierungen. Im Deutschen existieren drei infinite Verbformen, namentlich der Infinitiv (z.B. (zu) hassen), das Partizip I (hassend) und das Partizip II (gehasst). Wir unterscheiden folgende Typen von Verben: 3. Die Flektierbaren 31 Vollverben: Sie können in einer finiten Form ohne weitere Verbformen auftauchen und tragen dennoch eine vollständige Bedeutung. Vollverben bilden die größe Klasse der Verben. Sind sie infinit, treten sie zusammen mit Hilfs- oder Modalverben auf und bilden mit ihnen einen sogenannten Verbalkomplex. Beispiele für Vollverben sind essen, hassen oder telefonieren. Hilfsverben (Auxiliare): Die Hilfsverben haben, sein und werden treten zusammen mit infiniten Verbformen auf und ergänzen diese um gewisse Bedeutungsaspekte. Sie sind an der Passiv-Bildung beteiligt (Aktiv: Bene isst einen Apfel vs. Passiv: Der Apfel wird von Bene gegessen) sowie an der Modus- und Tempusbildung. Kopulaverben: Das lateinische Wort copula bedeutet ‚Band‘ und trägt der Tatsache Rechnung, dass Kopulaverben eine Verbindung zwischen zwei Sachverhalten herstellen, nämlich zwischen einem Substantiv (bzw. einer Nominalphrase) und einem Prädikativ. Sie sagen etwas über einen Zustand aus. Die Kopulaverben im Deutschen sind sein, werden und bleiben, wie in den Beispielen (3a) bis (3c) gezeigt. (3) a. Matthias ist ein Phonetiker. b. Lisa-Marie wird später vielleicht Schauspielerin. c. München bleibt die Landeshauptstadt Bayerns. Neben diesen drei Kopulaverben gibt es eine Reihe kopulaähnlicher Verben, wie jemanden etwas heißen, jemanden etwas nennen, als etwas gelten, wirken oder scheinen. Sie werden im Abschnitt über Prädikative auf Seite 59 wieder begegnen. Modalverben: Modalverben bringen zum Ausdruck, ob ein Sachverhalt vom Sprecher als möglich, notwendig, erlaubt, verpflichtend oder wahrscheinlich eingeschätzt wird. Der Begriff ‚Modus‘ meint hier also die Art und Weise eines Geschehens. Zu den deutschen Modalverben gehören müssen, können, dürfen, sollen, wollen und mögen. Sie treten zusammen mit infiniten Voll- oder Kopulaverben auf (z.B. Ozan muss lachen). Partikelverben: Als Spezialfall der Verben seien hier noch die sogenannten Partikelverben genannt, die keine semantisch einheitliche Klasse bilden, sondern ein spezielles morphosyntaktisches Verhalten an den Tag legen: Sie bestehen aus einem Verb und einer abtrennbaren Partikel, 1 die in jedem Fall betont ist (ist die Partikel nicht betont, handelt es sich auch um 1 Nicht zu verwechseln mit der Wortart Partikel. 32 Kapitel 2. Wortarten kein Partikelverb), z.B. abweisen: Tabitha weist dich ab, aber Hansjörg wurde abgewiesen. 3.6 Aktiv und Passiv Eine besondere Kategorie des Verbs haben wir bisher noch nicht beachtet. Verben können nämlich entweder mit dem ‚Wert‘ Aktiv oder Passiv belegt sein. Man spricht von den Genus Verbi bzw. von der Diathese. Passivformen werden im Deutschen zusammengesetzt gebildet (z.B. ich werde gerufen). Man unterscheidet das Vorgangspassiv, das mit dem Hilfsverb werden gebildet wird und das Zustandspassiv, dessen Formen mit sein gebildet werden. Selten tritt auch ein sogenanntes bekommen-Passiv auf (z.B. Ich bekomme ein Paket geliefert). Letzeres ist auf nur wenige Verben beschränkt. 4 Die Unflektierbaren 4.1 Präpositionen Präpositionen sind Wörter, die mit Nominalphrasen zusammen auftreten, deren Kasus sie regieren. In einfacheren Worten: Sie geben einer Substantivgruppe einen Kasus vor. Weil Präpositionen nicht immer vor Nominalphrasen auftreten, sondern auch nach oder manchmal sogar vor und nach Nominalphrasen stehen, nennt man sie häufig auch etwas allgemeiner Adpositionen und untergliedert diese in Präpositionen wie nach, auf, Postpositionen, wie halber (der Einfachheit halber), Zirkumpositionen wie um ... willen und Ambipositionen wie wegen (wegen der Prüfung vs. der Prüfung wegen). Ihre Fähigkeit den Kasus von Substantiven und Nominalphrasen zu regieren, lässt sie uns leicht erkennen. Manchmal regiert eine Adposition auch mehrere Kasus. Die Präposition laut kann sich z.B. sowohl mit dem Genitiv als auch mit dem Dativ verbinden. So existieren die Formen laut des Berichts und laut dem Bericht nebeneinander. Präpositionen haben für sich genommen meist keine lexikalische Bedeutung, diese entsteht erst zusammen mit anderen Wortarten. Manchmal verschmelzen Adpositionen mit Determinierern zu einem Wort, wie die Präposition zu und der Determinierer dem zu zum. Man bezeichnet das Verschmelzen zweier Wörter zu einem neuen übrigens als Klitisierung, das Produkt einer solchen Verschmelzung als Klitikon (Plural: Klitika). Adpositionen können weiterhin keine selbstständigen Satzglieder bilden, sondern treten nur als Teile von Satzgliedern auf. 4. Die Unflektierbaren 33 Exkurs: Rektion und Kongruenz Gerade wurde über Präpositionen gesagt, sie würden den Kasus einer Nominalphrase regieren. Unter dem Begriff Rektion, von lateinisch regere, also ‚beherrschen‘, versteht man eine Relation zwischen zwei Konstiuenten, bei welcher eine Konstituente einer anderen Eigenschaften überträgt. Normalerweise drückt sich dies durch eine morphologische Markierung aus: des alten Mannes. Alle drei Elemente in dieser Wortfolge tragen eine Genitivmarkierung. Die Übereinstimmung in diesen Merkmalen bezeichnet man als Kongruenz. 4.2 Konjunktionen Konjunktionen können ebenfalls keine eigenständigen Satzglieder bilden. Sie leiten eine inhaltliche Verknüpfung zweier Elemente ein. Man bezeichnet sie manchmal etwas gröber als Junktionen, die man weiter aufteilt in Konjunktionen, die gleichartige Elemente (Satzteile oder Teilsätze) miteinander verbinden, wie und, oder, sowie und weder ... noch und Subjunktionen, die untergeordnete Nebensätze einleiten, wie dass, weil oder nachdem. Außerdem existieren noch sogenannte Satzteiljunktionen, die Satzteile auf vergleichende Weise verbinden oder Informationen spezifizieren, wie in Ein Drache groß wie ein Haus. 4.3 Adverben Im Gegensatz zu Adjektiven können Adverben nicht flektieren und nicht zwischen Artikel und Substantiv treten. Manche Adverben können allerdings kompariert werden. Wie bei den Adjektiven können Adverben attributiv gebraucht werden, wie in Satz (4a), prädikativ wie in (4b) oder adverbial wie in (4c). (4) a. Das Buch hier. b. Das Buch ist hier. c. Charlotte raucht hier. Das Adverb hier unterscheidet sich also nur darin von den Adjektiven, dass es nicht konjugiert werden kann und nicht zwischen Artikel und Substantiv 34 Kapitel 2. Wortarten treten kann. Nicht alle Adverben können allerdings in all diesen Verwendungsweisen auftauchen. Weitere Beispiele für Adverben sind z.B. leider, damals oder glücklicherweise. Sie lassen sich nach semantischen Kriterien untergliedern in lokale Adverben (z.B. dort), temporale (z.B. später) und modale (z.B. ungern). Modifizieren Adverben den ganzen Satz und drücken eine subjektive Sprecherbewertung eines Sachverhalts aus, so spricht man von Satzadverben, wie z.B. hoffentlich, vermutlich oder glücklicherweise, wie z.B. in einem Satz wie Glücklicherweise schien an diesem Tag die Sonne. Im Gegensatz zu den anderen Adverben sind sie durch ihre Nicht- Erfragbarkeit gekennzeichnet. 4.4 Partikeln Bei den Partikeln (Singular: die Partikel) handelt es sich um eine äußerst heterogene Wortart. In manchen Grammatiken werden unter Partikeln generell alle unflektierbaren Wortarten verstanden. Wir verwenden diesen Begriff hier für die Klasse der Unflektierbaren, die wir noch nicht in andere Kategorien sortiert haben und kein eigenständiges Satzglied bilden können. Renate Musan (2013: 27) spricht von der Kategorie Partikel gar als „Papierkorb“ in den man in der Linguistik hineinwirft, „was man nicht anders einordnen kann“. Es hat tatsächlich in der Sprachwissenschaft eine gewisse Tradition, Partikeln und ihre Subklassen etwas verächtlich zu behandeln. Gabelenz (1962) [1901] nennt sie „Flickwörter“, Reiners (1943) sogar „Läuse im Pelz der Sprache“, um nur zwei Beispiele zu nennen. Diese Verächtlichkeit hat allerdings ihren Grund darin, dass die Erforschung dieser heterogenen Klasse von Wörtern noch sehr jung ist und die Bedeutung von Partikeln teilweise nur sehr schwer zu fassen und zu beschreiben ist. 2 Man unterscheidet zwischen: Modalpartikeln: Können nicht im Vorfeld eines Satzes auftreten, nicht negiert werden, nicht die Antwort auf eine Frage bilden und verändern den Wahrheitswert eines Satzes nicht. Sie zeigen die Einstellung der Sprecherin gegenüber dem Gesagten an. Beispiele für Modalpartikeln sind in den nachfolgenden Beispiel fett gedruckt: (5) a. Du hast ja einen hübschen Hut! b. Elena hat wohl einen Platten. c. Katrin ist vielleicht hübsch! 2 Versuchen Sie ruhig einmal die Unterschiede zwischen dem Satz Sie wissen, ich heiße Hole und dem Satz Sie wissen ja, ich heiße Hole zu beschreiben. 4. Die Unflektierbaren 35 Intensitätspartikeln: Intensitätspartikeln geben den Grad von etwas an, das heißt sie steigern oder schwächen den Inhalt dessen ab, was in ihrem Skopus steht. Mit Skopus meint man in der Sprachwissenschaft allgemein die Reichweite von etwas. Die nachfolgenden Sätze zeigen wieder ein paar Beispiele: (6) a. Veronika ist ziemlich schlank. b. Klaus hat unheimlich viel Geduld. c. Olivier hat einen sehr schönen Akzent. Fokuspartikeln: Fokuspartikeln heben gewisse Informationen in einem Satz hervor und/ oder zeigen eine Alternative an. Je nach dem, wo eine Fokuspartikel im Satz steht, ändert sich ihr Skopus (die Reichweite ihres Bezugs), siehe die Sätze (7a) bis (7c). (7) a. Selbst der Papst fährt Auto. b. Der Papst selbst fährt Auto. c. Der Papst fährt selbst Auto. Antwortpartikeln: Können selbstständig als Antworten auf Ja-/ Nein-Fragen fungieren. Beispiele sind ja, nein und vielleicht. 4.5 Interjektionen Interjektionen sind syntaktisch isolierte Wörter, die Emotionen oder Körperempfindungen zum Ausdruck bringen. Sie dienen auch der Gliederung und Steuerung von Gesprächen. Wiederum einige Beispiele: (8) a. Brr, ist mir kalt! b. Oh, was für ein schöner Tag! c. Hui, so ein Wind! 36 Kapitel 2. Wortarten Die Bestimmung der Wortarten kommt häufig als Teilaufgabe bei syntaktischen Analysen vor. Für diese ist es ohnehin notwendig, die Fähigkeit der Wortartenbestimmung zu beherrschen. Zur Übung können Sie die Wortarten in folgenden Sätzen bestimmen: (9) a. Judith studiert Ethnologie und arbeitet nebenbei im Café. b. „Der älteste Sohn, Christoph, besuchte die Lateinschule am Heilig-Geist-Spital und die deutsche Schule des berühmten Schreib- und Rechenmeisters Johann Neudörffer“ (Ebert 1998: 45). c. Bloß Rosali hatte sich geärgert. d. Dreihundert leere Biergläser werden jedes Jahr gestohlen. Beispielaufgabe Wortarten Eine Besprechung der Wortarten finden Sie z.B. Pittner & Bermann (2013) oder in Kürschner (2003). Ausführlich behandelt werden die deutschen Wortarten in Hoffmann (2009). Literaturtipps 3 | Morphologie Ziel dieses Kapitels ist ein Verständnis für die Wortbildung des Deutschen aufzubauen. Analog zum Phonem werden wir das Konzept des Morphems einführen. Die Flexion wird, da sie im Examen nur eine marginale Rolle spielt und jedem intuitiv bekannt ist, nur am Rande behandelt. 1 Aufgaben und Teilgebiete der Morphologie Die Morphologie, also die Lehre (gr. logos) von der Form (gr. morphos), beschäftigt sich mit dem Aufbau der Wörter. Dies tut sie insofern, als einerseits die Beugung der Wörter behandelt wird, die sogenannte Flexion und andererseits, indem sie danach fragt, wie Wörter gebildet werden - dieses Gebiet ist die Wortbildung. Bei der Flexion geht es um die Erzeugung von Wortformen, bei der Wortbildung um das Generieren von Wörtern aus Bausteinen. 2 Das Morphem Diese Grundbausteine nennt man - in Anlehung an das Konzept Phonem - Morpheme. Sind die Phoneme die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Bausteine, so sind die Morpheme definiert als die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache. Man notiert Morpheme in geschweifte Klammern: {Grund}-{bau}-{stein}. Morpheme müssen aber nicht unbedingt eine konkrete Bedeutung aufweisen, sondern können auch Träger einer abstrakteren Bedeutung, genauer einer grammatischen Funktion sein. So ‚bedeutet‘ z.B. das Morphem -{en} im Wort Frauen einen Plural. Da andere Wörter ihren Plural auf andere Art und Weise bilden, so etwa beim Wort Fisch mit dem Morphem -{e}, führen wir analog zum Allophon, noch das Konzept des Allomorphs ein. Allomorphe sind verschiedene Realisierungen eines Morphems. 38 Kapitel 3. Morphologie Ein Morphem ist die kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache. Verschiedene Realisierungen eines Morphems nennt man Allomorphe. So bedeutet {Maus} dasselbe wie {Mäus} (in Mäuse). Die Morpheme {Maus} und -{en} unterscheiden sich deutlich in der Art ihres Vorkommens. Während {Maus} alleine stehen kann, ist dies bei {en} nicht der Fall. Man nennt Morpheme, die alleine vorkommen können freie Morpheme, solche, die nicht für sich alleine stehen können gebundene Morpheme. Letztere kommen nur in Verbindung mit anderen Morphemen vor. Morpheme, die alleine vorkommen und eine einfache Bedeutung tragen, wie {Maus}, {Haus} oder {Pferd} nennt man Simplizia. An sie kann man weitere Morpheme anhängen. Geschieht dies, dann sagt man, das Morphem sei eine Wurzel. So ist {Haus} die Wurzel im Wort Haustür. Dieses nun komplexe Wort kann aber wiederum erweitert werden, wie z.B. zu Haustürschlüssel. In diesem Fall ist das Morphem {Haus} immer noch die Wurzel, die Verbindung {Haus}-{tür}bezeichnet man als den Stamm. Dasjenige Morphem, das durch weitere Morpheme erweitert werden kann, bezeichnet man als Wurzel. Wird eine Morphemkombination erweitert, spricht man von einem Stamm. Immer wieder tritt der interessante Fall einer gebundenen Wurzel auf. So verhält es sich zum Beispiel bei {Brom}in Brombeere oder bei {Schorn}in Schornstein. Man spricht von unikalen Morphemen. Gebundene Wurzeln nennt man unikale Morpheme, wie z.B. {Him}in Himbeere. Sie kommen nie frei vor, verbinden sich aber meist auch nur zu wenigen Wörtern. Oft ist es sogar nur ein einziges. Ein ähnlicher Fall sind Verbwurzeln, die ebenfalls gebundene Wurzeln darstellen, z.B. {les}in lesen. Morpheme kann man aber nicht nur nach ihrer freien oder gebundenen Auftreten hin untersuchen, sondern auch semantisch, also nach ihrer Bedeutung. Betrachtet man Morpheme aus diesem Blickwinkel, fällt auf, dass es Morpheme gibt, die einen konkreten Inhalt haben und solche, die eine grammatische Funktion ausüben. Daher unterscheidet man zwischen lexikalischen und grammatischen Morphemen. 2. Das Morphem 39 Morpheme grammatische gebundene Flexionsmorpheme Derivationsmorpheme freie lexikalische gebundene freie Abbildung 7: Morphemtypen des Deutschen nach Elsen (2011: 3) Grammatische Morpheme sind solche, die eine grammatische Information tragen, wie z.B. das Pluralmorphem -{en}. Achtung: Grammatische Morpheme können manchmal sozusagen unsichtbar sein, wie der Plural von Teller. Dieser ist nämlich wiederum Teller, man schreibt dann {Teller}-{ } und spricht von einem Null-Morphem. Lexikalische Morpheme sind solche, mit einer konkreten Bedeutung, z.B. {Schuh}. Ist ein Morphem nun grammatisch und gleichzeitig gebunden, dann handelt es sich um ein sogenanntes Affix. Sie treten an andere Morpheme heran und verbinden sich mit ihnen - ein Vorgang, den man als Affigierung bezeichnet. Je nach der Position des Affixes, unterscheidet man zwischen Präfixen, wie {be}in bemängeln, Suffixen, wie -{chen} in Freundchen oder Zirkumfixen, wie {ge}- ... -{en} in gefangen. Es wird Zeit diese vielen verschiedenen Arten von Morphemen noch einmal in einer Übersicht zusammenzufassen. Siehe dazu Abbildung 7. Betrachten wir den Baum, so fällt auf, dass die gebundenen, grammatischen Morpheme, also die Affixe weiter zerfallen in Derivations- und in Flexionsmorpheme. Das verlangt nach einer genaueren Betrachtung. Die Flexion, also die Beugung von Wörtern - wie die Konjugation der Verben oder die Deklination der Substantive -, mittels Flexionsmorphemen lässt neue Wortformen entstehen. Ein Beispiel wäre etwa das Flexionsmorphem -{er} in Männer. Bildet man dagegen neue Wörter mittels Affixen, so spricht man von Derivation, was wörtlich ‚Ableitung‘ bedeutet. Man kann z.B. aus der Verbwurzel {les}ein Substantiv gewinnen, indem man das Derivationssuffix -{er} anhängt: Es ensteht der Leser. Obwohl die beiden Suffixe -{er} rein äußerlich die gleiche Form haben, handelt es sich einmal um ein Flexionsmorphem, einmal um ein Derivationsmorphem. Ein weiterer Sonderfall, den es zu betrachten gilt, sind gebundene, lexikalische Morpheme, wie z.B. {ident}in Identität oder in identifizieren. Man spricht von sogenannten Konfixen. Sie spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Wortbildung. 40 Kapitel 3. Morphologie Gebundene, lexikalische Morpheme nennt man Konfixe. Zuletzt sei noch auf eine besondere Form von Affixen hingewiesen, die sich eigentlich gar nicht so richtig den Affixen zuordnen lassen wollen. Deshalb hat man sie Affixoide genannt. Während Affixe gebundene, grammatische Morpheme sind, können Affixoide auch frei auftreten. Dennoch teilen sie eine entscheidende Eigenschaft mit den Affixen: Sie sind reihenbildend. Von Reihenbildung spricht man, wenn ein Morphem sich regelhaft mit anderen Morphemen zu Konstruktionen verbindet, sich also eine Reihe an Konstruktionen bilden lässt. Das unikale Morphem {Schorn}-, taucht z.B. nur noch im Wort Schornstein auf, es bildet keine Reihen mehr. Ganz anders die Affixoide. Das Suffixoid -{werk} z.B. kommt als Substantiv Werk alleine für sich vor, ist aber in der Wortbildung reihenbildend, wie in Astwerk, Blattwerk, Schuhwerk. Weitere Beispiele sind die Präfixoide {Bilderbuch}- (Bilderbuchehe), {Affen}- (Affenhitze) oder das Suffixoid -{wesen} (Gesundheitswesen). Meist handelt es sich also um Kollektiv- oder Augmentativbildungen (also eine Vergrößerungsform, wie mit den Präfixoiden {Affen}- oder {Mords}-). Affixoide verhalten sich wie Affixe, weil sie reihenbildend sind, kommen aber auch eigenständig vor. 3 Wortbildung Im Deutschen stehen verschiedene Mittel der Wortbildung zur Verfügung, die in diesem Abschnitt besprochen werden. Die beiden wichtigsten Haupttypen sind die Derivation und die Komposition. Bei der Derivation werden aus schon bestehenden Wörtern durch Affigierung neue Wörter abgeleitet, bei der Komposition werden lexikalische Morpheme miteinander verbunden. 3.1 Derivation Ausgehend von einer Wortform oder einem Konfix kann mittels der Derivation ein neues Wort, das sogenannte Derivat, abgeleitet werden. Wir zählen hier zur Derivation die explizite Derivation, die implizite Derivation und als Spezialfall auch die Konversion. 3. Wortbildung 41 Explizite Derivation: Explizit heißt diese Art der Wortbildung deshalb, weil offenkundig affigiert wird. Beispiele sind die Suffigierung mit -{heit} wie in Gesundheit oder die Präfigierung mit {ent}wie in entflammen. Bei der expliziten Derivation kann sich die Wortart ändern. Außerdem führt sie oft zu einer semantischen Modifikation. Tabelle 9 zeigt die semantischen Modifikationen, die bei einer Suffigierung, die zu einem Substantiv führen, ergeben können. Implizite Derivation: Wird nicht eindeutig ein Affix angehängt, sondern ändert sich nur der Vokal, durch einen geregelten Wechsel, den man Ablaut nennt, dann spricht man von impliziter Derivation. Hier ändert sich seltener die Wortart, z.B. bei binden → Band, meist bleibt die implizite Derivation aber innerhalb der Wortart: trinken → tränken. Hierzu rechne ich auch die Ableitung mittels Konsonantenwechsel, wie schneiden → Schnitt. Die implizite Derivation ist nicht mehr produktiv, das heißt, dass heute keine neuen Wörter mehr so entstehen. Art der Modifikation Merkmal Funktionsträger Deminution klein, vertraut -chen, -lein; Mini- Augmentation sehr, groß, wichtig, riesig, höchst Erz-, Super-, Über-, Un- und Präfixoide wie Blitz-, Riesen-, Spitzen- oder Haupt- Negation kein, nicht Un-, Miß-, Nicht- Taxation falsch, stellvertretend, ehemalig, besonders, gegensätzlich Fehl-, Miß-, Un-, Vize-, Alt-, Ex-, Extra-, Sonder-, Anti- Motion weiblich, männlich -in, -esse, -euse, -ine, -sche, -er, -erich Kollektion Gesamtheit von ... Ge-...(-e), -schaft, -icht, -werk (Suffixoid) Soziation Partner von ... Ko-, Kon-, Mit- Tabelle 9: Modifikation der semantischen Merkmale durch Affigierung bei Substantiven nach Erben (2000: 86) 42 Kapitel 3. Morphologie Typ Beispiel Paraphrase possessiv: Benennung nach dem Besitzenden Ölscheich ‚Scheich, der Öl besitzt‘ konstitutional: Bezeichnung eines Komplexes Menschengruppe ‚Gruppe, von Menschen gebildet‘ substantiell: Benennung nach Material Ledertasche ‚Tasche, die aus Leder besteht‘ explikativ: Gleichsetzung Verlustgeschäft ‚Geschäft, das ein Verlust ist‘ komparational: Ähnlichkeits-/ Wie- Relation Puderzucker ‚Zucker, der wie Puder ist‘ figurativ: formbestimmend Würfelzucker ‚Zucker in Form von Würfeln‘ referentiell: Bezug Schulangelegenheit ‚Angelegenheit, die Schule betreffend‘ benefaktiv: nach Träger oder Empfänger Herrenhemd ‚Hemd, das Herren tragen‘ lokal: ortsbezogen Gartenlaube ‚Laube, die sich im Garten befindet‘ direktional: richtungsbezogen Nordwind ‚Wind, der aus dem Norden kommt‘ temporal: zeitbezogen Vorschulalter ‚Alter vor der Schule‘ instrumental: das Mittel bezeichnend Beilschlag ‚Schlag, den man mit dem Beil macht‘ konditional: bedingend Notbremse ‚Bremse, die man in der Not benutzt‘ konzessiv: einräumend Pillenkind ‚Kind, das man trotz Pille bekommt‘ final: zweckbestimmt Transportgebühr ‚Gebühr für den Transport‘ kausal: ursächlich Freudensprung ‚Sprung, aus Freude gemacht‘ modal: die Art und Weise Serienware ‚Ware, in Serie hergestellt‘ Tabelle 10: Typen der nominalen Determinativkomposita nach Altmann (2011: 77ff.) Konversion: Die Konversion dagegen ist heute noch produktiv. Bei ihr wechselt die Wortart eines Wortes, ohne dass eine lautliche Veränderung stattfindet. Wie z.B. die Substantivierung, wie schlagen → Das Schlagen oder jenseits → Das Jenseits, oder die Adjektivierung, wie die Angst → angst. Diese Bestimmung der Ableitungsrichtung ist allerdings, ohne diachrone Vergleiche anzustellen, nur bedingt möglich. 3. Wortbildung 43 Die Derivation (oder Ableitung) ist ein Wortbildungsmittel, bei dem ausgehend von einer Wortform oder einem Konfix ein neues Wort abgeleitet wird. Bei der expliziten Derivation geschieht dies mittels Affigierung, bei der impliziten Derivation mittels Ablaut und bei der Konversion wechselt ohne lautliche Veränderungen die Wortart. 3.2 Komposition Die Komposition, auch Zusammensetzung genannt, ist ein Verfahren der Kombination von Konfixen oder Wörtern. Zwischen die einzelnen Elemente, die Komposita bilden, können sogenannte Fugenelemente treten, wie das Fugen-s oder das Fugen-e, z.B. in Zeitungsverkäufer oder Schweinelendchen. Die heimischen Fugenelemente lassen sich auf frühere Flexionsendungen zurückführen, dass sie heute auch bei Neubildungen vorkommen, beruht auf einer Analogiebildung. Determinativkomposita: Die Determinativkomposita bestehen aus nicht gleichgeordneten Teilen, wobei eines das andere genauer bestimmt (eines determiniert das andere). Genauer gesagt, bestimmt das erste, immer betonte Glied, das zweite genauer. So ist z.B. eine Haustür eine besondere Art von Türe und nicht eine besondere Art von Haus. Wir bezeichnen das erste Glied als Bestimmungswort (Determinans) und das zweite als Grundwort (Determinatum). Im Falle von Haustür ist also Hausdas Bestimmungswort und -tür das Grundwort. Das Grundwort überträgt seine grammatischen Eigenschaften auf das Determinativkompositum. So ist eine Haustüre, wie auch die Türe, Femininum. Semantisch lassen sich die Determinativkomposita in verschiedene Typen einordnen. Tabelle 10 zeigt eine solche Klassifizierung nach semantischen Eigenschaften (entnommen aus Altmann 2011: 77ff.). Kopulativkomposita: Findet bei der Determinativkomposition eine Unterordnung statt, so handelt es sich bei einem Kopulativkompositum (von lat. copula ‚Band‘) um eine Zusammensetzung gleichgeordneter Glieder. Die Bedeutung eines Kopulativkompositums ergibt sich entsprechend aus beiden Gliedern. Ein Gegenstand, der schwarz-weiß ist, ist demnach keiner, der schwarz auf eine Art weiß ist, sondern einer, der schwarz und weiß zugleich ist oder schwarze und weiße Anteile enthält. Allerdings spielt die Reihenfolge bei Kopulativkomposita eine Rolle. Eine rot-gelb-grün gestreifte Flagge (Guinea) ist etwas anderes als eine grün-gelb-rot gestreifte (Mali). Eine Rolle spielen v.a. die Verbindungen Substantiv + Substantiv und Adjektiv + Adjektiv. Manchmal sind Kopulativ- und Determinativkomposita 44 Kapitel 3. Morphologie nicht leicht auseinanderzuhalten. Altmann (2011: 34) schlägt in Zweifelsfällen vor: „Liegt der Akzent auf dem Erstelement und ist ein Fugenelement vorhanden, präferieren wir in jedem Fall eine Klassifikation als Determinativkompositum“. Possessivkomposita: Besondere Klasse, bei welcher oberflächlich betrachtet ein Besitzverhältnis angegeben wird, z.B. Rotkehlchen, Großmaul oder Löwenzahn. Diese Komposita sind allerdings nicht wörtlich zu interpretieren. Ein Großmaul ist keine Person mit einem großen Maul, zumindest nicht im wörtlichen Sinne. Exkurs: semantische Köpfe Hinter dem Beispiel Großmaul verbirgt sich ein interessantes Phänomen. Denn rein oberflächlich betrachtet ist das Morphem {Maul} sozusagen der ‚Kopf‘ dieser Konstruktion, da dieser Teil rein grammatisch seine Eigenschaften auf die Gesamtkonstruktion überträgt (Maul ist Neutrum, so auch das ganze Kompositum). Semantisch gesehen, verbirgt sich hinter einem Großmaul jedoch ein Mensch, der sich besonders angeberisch verhält. Man sagt, der semantische Kopf des Kompositums, liegt außerhalb der Konstruktion und bezeichnet diese Art der Komposition deshalb als exozentrisch. Wir werden dieser Art der Bildung bei der Zusammenrückung wieder begegnen. Reduplikationskomposita: Ein seltener und nicht mehr produktiver Wortbildungstyp sind die sogenannten Redupliktionskomposita, wie Kuddelmuddel oder Singsang, die durch Wiederholung oder Reimbildung entstehen. Sie lassen sich etymologisch zurückführen (in diesen Fällen auf ndd. koddeln, nhd. ‚waschen‘, bzw. auf singen). Lassen sich die Einzelglieder nicht trennen, liegt auch kein Reduplikationskompositum vor, wie bei Popo oder Wauwau (das sind reine Onomatopoetika). Von den Reduplikationskomposita zu trennen, sind ebenfalls Entlehnungen aus anderen Sprachen, wie Picknick aus dem Französischen oder Hokuspokus aus dem Lateinischen. Siehe dazu mehr in Elsen (2011: 66f.). Inversionskomposita: Extrem selten tauchen Fälle auf, in welchen sozusagen umgekehrte Determinativkomposita vorliegen, wie z.B. bei München- Nord oder Vierteljahr (in beiden Fällen bestimmt das Zweitglied das Erstglied genauer). 3. Wortbildung 45 Die Komposition oder Zusammensetzung ist ein Wortbildungsmittel, bei dem Wörter oder Konfixe zusammen neue Wörter bilden. Bei der Determinativkomposition bestimmt ein Teil das andere, bei der Kopulativkomposition sind die Teile gleichgeordnet. Possessivkomposita geben oberflächlich betrachtet Besitzverhältnisse an (sind aber exozentrisch), Reduplikationskomposita, die sehr selten sind, werden durch Wiederholung oder mittels Reim gebildet und die ebenfalls seltenen Inversionskomposita sind sozusagen umgekehrte Determinativkomposita. 3.3 Kurzwortbildung Kurzwörter sind Wörter, die ein oder mehrere Wörter abkürzen und die verkürzt gesprochen werden. Da z.B. etc. nicht abgekürzt gesprochen wird, handelt es sich dieser Definition zufolge nicht um ein Kurzwort. Kurzwörter können auf verschiedene Arten entstehen. Wir unterscheiden vier Arten: Einfach Kurzwörter: Ein Teil eines Wortes wird weggelassen; es entstehen entweder Kopfwörter wie Uni aus Universität oder Schwanzwörter wie Bus aus Omnibus. Akronyme: Bildung eines neuen Wortes aus den Anfangsbuchstaben mehrere anderer Wörter, wie z.B. Radar aus radio detecting and ranging oder der Begriff Laser von light amplification by stimulated emission of radiation. Sie können entweder am Stück ausgesprochen werden (wie Laser oder Radar) oder nicht (wie BSE), dann spricht man die Buchstaben einzeln nacheinander. Ersteren Fall bezeichnet man übrigens als eine orthoepische Aussprache. Portmanteau-Wörter: Bei der Portmanteau-Bildung werden mehrere Wörter miteinander verschmolzen, wie Smog aus smoke und fog oder Kurlaub aus Kur und Urlaub. Neologistische Suffigierung: Obwohl sie ursprünglich so nicht in Verwendung waren, können heute mit den Endungen -i(e) und -o Kurzwörter gebildet werden. So z.B. Sozi aus Sozialist oder Perso aus Personalausweis. Siehe dazu genauer auch Altmann (2011). 46 Kapitel 3. Morphologie Von Kurzwortbildung spricht man, wenn ein oder mehrer Wörter abgekürzt werden und auch verkürzt gesprochen werden. Kopf- und Schwanzwörter entstehen, wenn Teile eines Wortes ausgelassen werden, Akronyme entstehen aus den Anfangsbuchstaben anderer Wörter, Portmanteau-Wörter, wenn zwei oder mehr Wörter verschmolzen werden. Werden Kurzwörter mit den Endungen -i(e) oder -o gebildet, handelt es sich um eine neologistische Suffigierung. 3.4 Zusammenrückung Wie der Name schon sagt, wird bei diesem Wortbildungtyp etwas zusammengerückt. Zusammenrückungen lassen sich von den Komposita gut unterscheiden, da man Komposita im Gegensatz zu Zusammenrückungen mit ‚ist eine Art von‘ paraphrasieren kann. Sie lassen häufig noch die ihr zugrunde liegende syntaktischen Funktionen erkennen. Beispiele sind Dankeschön (keine Art von ‚Schön‘), Muttergottes (keine Art von ‚Gott‘) oder Dreikäsehoch (keine Art von ‚Hoch‘). Siehe dazu auch Elsen (2011: 117) und Altmann (2011: 32). Zusammenrückungen sind wie die Possessivkomposita meist exozentrisch, das heißt der semantische Kopf des Kompositum wird nicht explizit genannt. Zusammenrückungen sind Syntagmen, die zu einem Wort verschmolzen wurden. Häufig erkennt man noch die morphologischen Markierungen innerhalb des Wortes. Sie lassen sich von den Komposita mit dem ‚Ist-eine-Art-von‘-Test abgrenzen. 3.5 Zusammenbildung Zusammenbildungen lassen sich leicht erkennen, da sie sich weder der Komposition noch der Derivation zuordnen lassen. Dies lässt sich an den Beispielen Frauenversteher, Schnelldurchblicker und Wunderwirker gut zeigen (Beispiele aus Elsen 2011: 111): • Es sind keine Komposita, denn ein Frauenversteher ist keine besondere Art von *Versteher, ein Schnelldurchblicker ist keine Art von *Blicker und ein Wunderwirker kein besonderer *Wirker, im Gegenteil, diese Letztelemente existieren frei gar nicht. • Es sind keine Derivate, denn die Ableitungsbasen *frauenverstehen, *schnelldurchblicken und *wunderwirken existieren ebenfalls nicht. 3. Wortbildung 47 Die Zusammenbildung ist in der Standardsprache nicht gerade produktiv. Häufig wird sie dagegen in der Werbung verwendet. Wie bei den Komposita ist das Letztelement kategoriebestimmend. Zusammenbildungen erkennt man daran, dass das Letztglied nicht eigenständig vorkommt und dass sie keine Derivationen sein können, da ihre Ableitungsbasen nicht existieren. Exkurs: Wortbildungsparaphrase Häufig wird im Examen nach der sogenannten ‚Wortbildungsparaphrase‘ gefragt. Dabei handelt es sich um nichts anderes als um eine Wiedergabe des betreffenden Begriffes in anderen Worten. Die Wortbildungsparaphrase ist ein wichtiges Instrument, das uns bei der Bestimmung des Wortbildungstyps von großem Nutzen sein kann. Häufig wird auch der semantische Typ der Wortbildung so klarer. Wäre z.B. eine Wortbildungparaphrase von Haustüre verlangt, so könnte man dieses Wort paraphrasieren als ‚Türe eines Hauses, die als Haupteingang dient‘ (‚Türe eines Hauses‘ wäre etwas zu kurz gegriffen, da es auch Türen in einem Haus gibt, die nicht die Haustüre sind). Schon diese einfache Umschreibung macht klar, dass es sich um ein Determinativkompositum handelt (schließlich wird klar, dass es sich um eine spezielle Art von Türe handelt). 3.6 Augmentativbildung Schon weiter oben haben wir über die Steigerungsbildung mit Affixoiden gesprochen. Auch bei diesem Wortbildungstyp ist das Letztelement kategoriebestimmend, das Erstglied ist ein desemantisierter Begriff, der meist aus einem Tabubereich, aus dem Tierreich oder dem Militärjargon entstammt. 1 Auch Rohstoffe dienen oft als Erstelemente. Beispiele sind Granatenparty, Hammerstimmung, arschkalt. Von Augmentativbildung spricht man, wenn das Erstglied seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat und nur noch der Steigerung dient. Auch hier ist das Letztelement kategoriebestimmend. 1 ‚Desemantisiert‘ bedeutet, dass die ursprüngliche Semantik, also die eigentliche Bedeutung, verloren geht. Eine Hammerstimmung hat nichts mit einem Hammer zu tun. 48 Kapitel 3. Morphologie 4 Flexion Durch Flexion werden neue Wortformen gebildet. Dabei werden Wörter entsprechend ihrer syntaktischen Umgebung morphologisch angepasst. In den Bereich der Flexion fallen die Deklination, die Konjugation, die Komparation und die Tempus- und Modusbildung. Nehmen wir als Beispiel das Substantiv Koch und deklinieren es im Singular und Plural einmal durch: (10) a. Nominativ, Singular: Koch b. Genitiv, Singular: Koch-s c. Dativ, Singular: Koch d. Akkusativ, Singular: Koch e. Nominativ, Plural: Köch-e f. Genitiv, Plural: Köch-e g. Dativ, Plural: Köche-n h. Akkusativ, Plural: Köch-e Sehr deutlich sehen wir noch einmal, dass eine lineare Segmentierung im Deutschen nur bedingt möglich ist. Hier im Beispiel deswegen nicht, da im Plural das Allomorph {Köch}statt {Koch} auftritt. Im Grunde genommen haben wir die wichtigsten Kategorien der Flexion schon im Kapitel über die Wortarten kennengelernt. Flektiert werden nur die Substantive, Adjektive, Determinierer, Pronomen, die Numerale und die Verben, wobei man im Falle der Substantive, der Adjektive, der Determinierer, Pronomen und der Numerale von Deklination und im Falle der Verben von Konjugation spricht. Die prototypische Form der Deklination ist die der Substantive, die über ein festgelegtes Genus verfügen (Femininum, Maskulinum, Neutrum). Die weiteren Kategorien der Substantivdeklination sind das Numerus (Singular, Plural) und der Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ). Die Konjugation des Verbs erfolgt hinsichtlich der Kategorien Person (1., 2., 3. Person), Numerus (Singular, Plural), Modus (Indikativ, Konjunktiv, Imperativ), Genus Verbi (Aktiv, Passiv) und Tempus. Letzterer verfügt im Deutschen mit dem Präsens und dem Präteritum über zwei synthetisch gebildete (= wird über morphologische Markierungen angezeigt) und mit dem Perfekt, dem Plusquamperfekt, Futur I und Futur II über vier analytisch gebildete (= durch mehrere Wörter realisiert) Varianten. 4. Flexion 49 Analysieren Sie die folgenden Wörter unter Berücksichtigung der Formmerkmale im Text, des Wortbildungstyps, einer Paraphrase und bestimmen Sie die Konstituenten mit Hilfe einer übersichtlichen Darstellung: Reichweiten, Zuordnungsprobleme, Werbetreibende. Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2008 Beispielaufgabe Wortbildung Einen kurzen Überblick über die Morphologie gibt z.B. Heringer (2009), sehr ausführlich bespricht Elsen (2011) die deutsche Morphologie. Für die Wortbildung eignet sich Altmann (2011). Literaturtipps 4 | Syntax Bei der Syntax, also der Lehre vom Aufbau der Sätze, handelt es sich neben der Morphologie um eines der prominentesten Themen im Examen. In diesem Kapitel werden die Konstituentenanalyse, die Satzgliedanalyse, die verschiedenen Satzarten, Valenzen und das topologische Feldermodell nach Erich Drach behandelt. 1 Konstituentenanalyse Bisher können wir Folgendes festhalten: Die kleinste Einheit einer gesprochenen Sprache ist der Laut. Diese Laute, oder sagen wir besser die Phoneme einer Sprache, verbinden sich zu Silben und diese wiederum zu Morphemen, aus welchen die Wörter aufgebaut werden. Nun hat sich im Laufe der Entwicklung der Sprachwissenschaft gezeigt, dass Sätze nicht direkt aus Wörtern aufgebaut sind, sondern dass sich auch Wörter zu größeren Einheiten zusammenschließen, den sogenannten Konstituenten. Oberhalb der Wortebene und unterhalb der Satzebene gibt es sprachliche Einheiten, die man als Konstituenten bezeichnet und die man über einer Reihe von Tests ermitteln kann. 1.1 Konstituententests Zur Ermittlung dieser Konstituenten gibt es eine Reihe von Tests. Allerdings sind diese Tests jeweils für sich genommen nicht sehr zuverlässig. Das bedeutet, dass immer mehrere Test durchgeführt werden müssen, um sicher zu sein, wirklich eine Konstituente ermittelt zu haben. Wir sehen uns diese Tests im Folgenden an und versuchen die Konstituenten des nachfolgenden Satzes zu ermitteln: 1. Konstituentenanalyse 51 (11) Die gestresste Examenskandidatin genießt ein kühles Bier. Ersetzungstest: Wörter, die sich zusammen ersetzen lassen, bilden eine Konstituente. Versuchen wir uns an unserem Satz Die gestresste Examenskandidatin genießt ein kühles Bier. Wir könnten daraus z.B. folgenden Satz machen: Der Schweißer genießt ein frisches Glas Orangensaft. Die Wortfolgen Die gestresste Examenskandidatin und ein kühles Bier lassen sich offensichtlich durch andere Wortfolgen ersetzen und bilden gemäß dem Test zwei Konstituenten. Allerdings lässt sich auch genießt durch ein anderes Wort, z.B. trinkt, ersetzen. Der Test ergibt damit, dass auch genießt eine Konstituente ist. Proformentest: Wortfolgen, die durch eine Proform ersetzt werden können, bilden Konstituenten. Versuchen wir uns wieder an unserem Satz: Sie genießt es. Wieder erhalten wir die Wortfolgen Die gestresste Examenskandidatin und ein kühles Bier als Ergebnis. Das Verb genießt scheint laut diesem Test jedoch keine Konstituente des Satzes zu sein. Topikalisierungstest: Konstituenten lassen sich topikalisieren, d.h. sie lassen sich an den linken Satzrand verschieben. Wir könnten also z.B. folgende Topikalisierungen vornehmen: Ein kühles Bier genießt die gestresse Examenskandidatin oder Genießt die gestresste Examenskandidatin ein kühles Bier? Wir erhalten entsprechend genießt und Ein kühles Bier als Konstituenten des Satzes. Auch Die gestresste Examenskandidatin bildet eine Konstituente, denn sie stand schon zu Beginn am linken Satzrand. Fragetest: Konstituenten lassen sich gemeinsam erfragen. Im Falle unseres Satzes könnten wir zum Beispiel fragen: Was genießt die gestresste Examenskandidatin? Was tut die gestresste Examenskandidatin? Oder auch: Wer genießt ein kühles Bier? Koordinationstest: Konstituenten (und nur Konstituenten) können mit anderen Konstituenten koordiniert (also verbunden) werden. Eine Koordination erreicht man mit einer Konjunktion wie und oder oder. Für unseren Satz können wir zwei solche Koordinationen vornehmen, z.B. so: Die gestresste Examenskandidatin kauft und genießt ein kühles Bier und Die gestresste Examenskandidatin genießt ein kühles Bier und eine Tüte Gummibärchen. Unsere Tests haben also ergeben, dass sich der Satz aus drei Konstituenten zusammensetzt, die wie folgt aussehen: [Die gestresste Examenskandidatin] [genießt] [ein kühles Bier]. 52 Kapitel 4. Syntax 1.2 Konstituenten und Phrasen Bei der Ermittlung von Konstituenten geht man so vor, dass man zunächst mittels der genannten Tests nach möglichst großen Konstituenten sucht. Betrachten wir zunächst wieder unseren Satz Die gestresste Examenskandidatin genießt ein kühles Bier. Durch einen ersten Test, sagen wir durch den Fragetest mit „Wer genießt ein kühles Bier? “ haben wir erkannt, dass sich der Satz in zwei Teile zergliedern lässt: Satz genießt ein kühles Bier Die gestresste Examenskandidatin Die längsten Wortfolgen, die man findet, hier haben wir gerade Die gestresste Examenskandidatin und genießt ein kühles Bier gefunden, nennt man unmittelbare Konstituenten. Auf Englisch sagt man immediate constituens, weswegen man das gesamte Verfahren immediate constituent analysis, oder kurz IC-Analyse nennt. Unmittelbare Konstituenten lassen sich in der Regel wiederum in unmittelbare Konstituenten zergliedern. Auch das ist Teil einer IC-Analyse. Die Konstituente genießt ein kühles Bier, das haben wir bei den Test schon gesehen, lässt sich weiter aufteilen: ein kühles Bier genießt Betrachten wir die Konstituente ein kühles Bier genauer. Lässt sie sich auch in weiter Konstituenten zerlegen? Durch den Ersetzungstest zeigt sich, dass kühles Bier z.B. durch kaltes Radler ersetzt werden kann. Diese Wortfolge lässt sich problemlos durch eine andere Wortfolge ersetzen. Es ergibt sich folgendes Bild: kühles Bier ein Oder noch einen Schritt weiter: 1. Konstituentenanalyse 53 kühles Bier Bier kühles ein Allerdings haben wir mit der Zerlegung in Konstituenten noch nicht viel gewonnen, denn sie sagen wenig, eigentlich sogar gar nichts, über die Regeln aus, nach welchen das Deutsche funktioniert - und das ist ja das eigentliche Ziel der Syntax. Aber was sollten solche Regeln besagen? Sie sollten es z.B. verbieten, dass eine Wortfolge wie *kühles Bier ein in unserem Satz möglich ist, denn was soll das schon heißen *Die gestresste Examenskandidatin trinkt kühles Bier ein? Das klingt seltsam. Dagegen sollten die Regeln aber die richtigen Wortfolgen erlauben. Um dies zu erreichen, müssen wir die Konstituenten klassifizieren, also in verschiedene Klassen einordnen und deren möglichen Aufbau bestimmen. Dafür betrachten wir zunächst noch einmal die letzten Konstituenten, die wir gefunden haben. Das waren im letzten Baum ein kühles Bier, ein, kühles Bier, kühles und Bier. Offensichtlich gibt es zwei verschiedene Arten von Konstituenten: Solche, die aus nur einem Wort bestehen und solche, die aus einer Wortfolge bestehen. Konstituenten, die sich sich nach der Kategorie einer Wortart (genauer eigentlich einer lexikalischen Kategorie) richten, nennt man Phrasen. Phrasen haben die besondere Eigenschaft, dass sie einen Kopf haben, weswegen man auch vom sogenannten Kopfprinzip spricht. Der Kopf einer Phrase überträgt seine Eigenschaften auf den Rest der Phrase. Sehr schön können wir das z.B. an der Phrase kühles Bier beobachten. Das Genus des Substantivs Bier ist Neutrum. Es bestimmt, dass sich das Adjektiv dieser Eigenschaft anpassen muss. Wir unterscheiden hier vier verschiedene Arten von Phrasen, nämlich (siehe dazu auch Philippi 2008: 31f.): Nominalphrasen: Nominalphrasen bestehen aus einem Nomen (Substantiv oder Pronomen). Ihm dürfen beliebig viele weitere andere Wörter vorangehen, nämlich ein Determinierer, Adjektive oder ein Zahlwort (z.B. der Mann, dieser eine Mann oder dieser eine junge, verwirrte Mann). Weitere Beispiele für Nominalphrasen sind er; ich; wer; Yutings Fahrrad; Jasper; das Haus am See; das Haus am See, das Franziska gestern nicht wiedergefunden hat oder ein Haus. Verbalphrasen: Konstituenten, die aus einem Verb bestehen, dazu können Ergänzungen treten (z.B. genießt ein Bier, lacht ihn aus oder trägt ein Huhn 54 Kapitel 4. Syntax auf seinem Rücken). Weitere Beispiele sind hat gegessen, zittern, dem Typen eine reinhauen, helfen oder vergessen zu zahlen. Adjektivphrasen: Adjektivkonstituenten und ihre Ergänzungen (z.B. neidisch auf den Faulenzer oder neugierig auf das Seminar). Präpositionalphrasen: Präpositionen treten ohnehin nie alleine auf. Konstituenten, die eine Präposition und die von ihr regierten Ergänzungen beinhalten (z.B. auf dem Rücken oder unter dem Tisch). Um uns die Schreibarbeit ein wenig zu erleichtern, kürzen wir sowohl die Phrasentypen als auch die Namen für ihre jeweiligen Köpfe ab. Wir schreiben daher NP statt Nominalphrase und N statt Nomen; VP statt Verbalphrase und V statt Verb; AdjP statt Adjektivphrase und Adj statt Adjektiv; und letztlich PP statt Präpositionalphrase und P statt Präposition. Außerdem kennen wir noch Sätze, die wir mit S abkürzen, Adverben, für die wir kurz Adv schreiben und Determinierer, für die wir D schreiben (manchmal auch Det.). Sätze lassen sich über die Konstituentenanalyse in ihre Konstituenten zergliedern. Werden die Konstituenten nach der sie bestimmenden Kategorie klassifiziert, spricht man von Phrasen. Diese haben per definitionem einen Kopf, der seine Eigenschaften auf den Rest der Phrase projiziert. Im Laufe der Untersuchungen zur Struktur des Deutschen (und auch anderer Sprachen) hat sich gezeigt, dass es gewisse Regeln gibt, wie die Phrasen aufgebaut sein dürfen und wie nicht (jetzt kommen also diese Regeln, die uns sagen, ob ein Satz grammatisch ist oder nicht). Eigentlich haben wir in der Beschreibung der vier Phrasentypen diese Regeln schon angesprochen (z.B. darf eine Nominalphrase einen Determinierer, ein Zahlwort und Adjektive sowie ein N als Kopf beinhalten). Wir brauchen uns nicht alle diese zahlreichen Regeln ansehen, aber ein paar, um das Prinzip zu verstehen. Man notiert sie z.B. so: (12) a. S → NP VP b. NP → Det (Adj) N Die Regel in (12a) sagt, dass ein Satz aus einer NP und einer VP bestehen muss, die Regel in (12b), dass eine NP aus einem Determinierer, wahlweise einem Adjektiv und einem Nomen besteht. Es gibt aber auch Regeln, wie 2. Satzgliedanalyse 55 die in (13), die deswegen etwas besonderes darstellt, weil sowohl links vom Pfeil als auch rechts davon dasselbe Symbol auftaucht. (13) NP → NP + S Solche Regeln nennt man rekursiv: Was rechts vom Pfeil herauskommt, kann man theoretisch links wieder einfügen. Und so ist es tatsächlich auch. Wir können Sätze (z.B. Relativsätze) in NPn einbetten, solange, bis uns die Luft ausgeht (z.B. Der Mann, der einen grünen Hut trägt, der eine blaue Schleife hat, die aus feinstem Stoff gewebt wurde, der ...). Verbinden wir das Wissen, das wir schon über Konstituenten und deren Darstellung als Baum gesammelt haben mit den Phrasen, so sind wir in der Lage, auch komplexe Sätze in ihre unmittelbaren Konstituenten zu zerlegen, bis wir bei der Wortebene angekommen sind. Nun müssen wir nur noch an den jeweiligen Verzweigungen die Kategoriensymbole anbringen, die wir kennengelernt haben und wir erhalten z.B. für unseren Satz folgende Baumstruktur: S NP Det Die NP Adj gestresste N Examenskandidatin VP V genießt NP Det ein NP Adj kühles N Bier 2 Satzgliedanalyse Wir haben uns nun mit den verschiedenen Phrasenkategorien beschäftigt. Dabei haben wir gesehen, dass sich der Typ einer Phrase nicht verändert, egal wo im Satz die Phrase steht. Eine Nominalphrase ist und bleibt eine Nominalphrase. Das hat ganz einfach damit zu tun, dass Phrasen nach ihrer äußeren Form bestimmt werden. So beinhalten der Form nach Satz (14a) und Satz (14b) beide die Nominalphrase die hübsche Anna (wir wollen von der Groß- und Kleinschreibung einmal absehen). 56 Kapitel 4. Syntax (14) a. Die hübsche Anna kaut einen Kaugummi. b. Marie liebt die hübsche Anna. Offensichtlich übernehmen diese beiden äußerlich identischen Phrasen im Satz jedoch unterschiedliche Funktionen. Während es in Satz (14a) Anna ist, die etwas tut, ist sie in Satz (14b) von einer ‚Handlung‘ betroffen. Genau darum nun geht es in der Satzgliedanalyse, nämlich um die Funktion der Satzglieder und nicht um die Bestimmung ihrer Form. Auch umgekehrt müssen wir vorsichtig sein, denn nicht nur ein und dieselbe Phrase kann verschiedene Funktionen übernehmen, sondern auch gänzlich verschiedene Konstruktionen können dieselbe Funktion erfüllen. Betrachten wir dafür kurz die Sätze (15a) und (15b): (15) a. Natascha riecht das Feuer. b. Natascha riecht, dass es brennt. Beide Sätze enthalten ein Objekt. In Satz (15a) ist dieses jedoch durch die Nominalphrase das Feuer realisiert, in Satz (15b) hingegen als Nebensatz. Satzglieder sind diejenigen Glieder in einem Satz, die als ganzes verschoben werden können, ohne das der Satz ungrammatisch wird. Man kann sie erfragen. Im Gegensatz zu den Phrasen sind sie allerdings relational. Die Satzglieder können sein: Subjekt, Objekt, Adverbiale (adverbiale Bestimmung) und Prädikativ. Das Prädikat wird je nach Grammatik mal zu den Satzglieder gerechnet, mal nicht. Zwar kann es oft nicht als Einheit verschoben werden, dennoch behandeln wir es hier als Satzglied. Die Satzlieder (außer dem Prädikat) lassen sich daran erkennen, dass sie ins Vorfeld eines Satzes verschoben werden können (i.e. sie können topikalisiert werden). 2.1 Subjekt, Prädikat, Objekt Der prototypische deutsche Satz besteht mindestens aus einem Subjekt und einem Prädikat. Das Subjekt eines Satzes ist derjenige Teil, den man mit Wer oder was? erfragen kann. Es kongruiert mit dem Prädikat, also mit dem Verb des Satzes und seinen Zusätzen. Prädikate können einfach oder komplex sein, sie bestehen immer mindestens aus einem Verb, können aber auch aus einem oder mehreren Verben und Zusätzen bestehen. Bestimmte Verben fordern aber nicht nur ein Subjekt, sondern aufgrund ihrer Semantik auch noch weitere Ergänzungen, die als sogenannte Objekte realisiert werden. Dabei wird vom Verb festgelegt, in welchem Ka- 2. Satzgliedanalyse 57 sus das Objekt stehen muss oder ob es mit einer Präposition gebildet wird. Dementsprechend existieren im Deutschen: • Genitivobjekte (Oma gedenkt ihrer Jugend.) • Dativobjekte (Ich schenke ihm ein Buch.) • Akkusativobjekte (Jonas gibt den Ball an mich weiter.) • Präpositionalobjekte (Kathi verlässt sich auf dich.) Genitivobjekte (auch: adverbale Genitive) sind im Deutschen allerdings sehr selten, da es nur noch wenige Verben gibt, die ein Genitivobjekt fordern. Im Althochdeutschen gab es dagegen noch viele solcher Verben, spätestens seit dem 14./ 15. Jahrhundert sind diese jedoch entweder ausgestorben oder haben ihre Rektion geändert, d.h. sie fordern heute andere Kasus. 1 So wie man heute eher sagen würde Oma denkt an ihre Jugend als Oma gedenkt ihrer Jugend. Zur häufigsten Klasse solcher Verben, die ein Genitivobjekt fordern, gehören heute noch die sog. „Derrickverben“. Diese fordern sowohl ein Genitivals auch ein Akkusativobjekt: anklagen, beschuldigen, bezichtigen, überführen, verdächtigen. 2.2 Freie Dative Manchmal kommt in einem Satz eine Dativkonstruktion vor, die nicht vom Verb, einer Präposition, etc. gefordert wird. Man spricht von sogenannten ‚freien Dativen‘. Diese werden nach semantischen Gesichtspunkten wie folgt unterschieden: Dativus commodi: Beim Dativus commodi wird eine Person angeführt, zu deren Vorteil etwas geschieht: Lia malt ihm ein Bild. Dativus incommodi: Im Gegensatz dazu wird durch den Dativus incommodi eine Person angegeben, zu deren Nachteil etwas geschieht: Die Vase ist ihm zerbrochen. Dativus possessivus: Der Dativus possessivus, auch als Pertinenzdativ bezeichnet, zeigt ein Besitzbzw. Zugehörigkeitsverhältnis an: Katja haut ihm auf die Schulter. 1 Der Plural von Kasus ist übrigens ebenfalls Kasus, dann wird das Wort allerdings mit einem langen / u : / gesprochen. 58 Kapitel 4. Syntax Ethischer Dativ: Der ethische Dativ ist im Deutschen selten, er bezeichnet die emotionale Involviertheit einer Person: Pass mir ja auf oder Fall mir nicht über die Bücher. Dativus iudicantis: Der Dativus iudicantis bezieht sich auf eine Person, die ein Urteil über etwas oder jemanden fällt: Du redest mir zu viel! 2.3 Adverbiale Bestimmungen Neben den Mitspielern, die ein Verb fordert, können in einem Satz noch weitere Informationen genannt sein, die den in ihm beschriebenen Sachverhalt näher bestimmen. Man bezeichnet diese Art des Satzglieds als adverbiale Bestimmung oder kurz als Adverbiale. Sie werden zwar nicht immer vom Verb gefordert, manchmal aber schon! Man unterscheidet: 1. Lokaladverbiale: wo, wohin, woher? a) Ort: Julian schlägt Max auf dem Schulhof. b) Richtung: Kathrin schickt einen Koffer nach Berlin. c) Herkunft: Kirsti kommt aus Norwegen. d) Wegstrecke: Philip sprintet 200m. 2. Modaladverbiale: wie, auf welche Art und Weise? a) Quantität: Lisa lacht viel. b) Instrument: Natalie schlägt ein Loch mit dem Hammer in die Wand. c) Begleitung: Markus fährt mit Elias in den Urlaub. 3. Temporaladverbiale: wann, wie oft, wie lange, usw.? a) Zeitpunkt: André geht um 8: 30 Uhr ins Kino. b) Zeitraum: Lina war drei Stunden lang im Kino. c) Wiederholung: Claude war sieben Mal im Kino. 2. Satzgliedanalyse 59 4. Kausaladverbiale: warum, weshalb, wieso? a) Kausal: Georg trinkt ein Bier aus Frust. b) Konditional: Bei schlechtem Wetter nimmt Laura einen Schirm mit. c) Konsekutiv: Der hohe Anteil an Kohlensäure bringt mich dazu aufzustoßen. d) Konzessiv: Trotz des schlechten Wetters geht Alessa auf das Konzert. e) Final: Ich esse den Kuchen nur, um satt zu werden. Auf keinen Fall dürfen adverbiale Bestimmungen mit den Adverbien verwechselt werden. Ein Adverb ist eine Wortart, eine Adverbiale ein Satzglied. Das bedeutet natürlich nicht, dass ein Adverb nicht auch mal eine adverbiale Bestimmung sein kann, identisch sind sie deswegen jedoch nicht. Adverbiale, das haben wir bereits gesagt, bestimmen die Umstände eines in einem Satz beschriebenen Sachverhaltes näher. Nun werden Sachverhalte hauptsächlich über Verben zum Ausdruck gebracht. Adverbiale beziehen sich daher auch hauptsächlich auf Verben oder auf den ganzen Satz. 2.4 Prädikative Während also Adverbiale die Umstände eines Sachverhalts näher bestimmen und sich auf das Verb beziehen, gibt es auch einen Typ von Satzglied, der die Eigenschaften des Subjekts bzw. Objekts genauer bestimmt. Daher unterscheidet man auch zwischen einem Subjektsprädikativ (auch: Prädikatsnomen) und einem Objektsprädikativ. Subjektsprädikative bestimmen die Eigenschaften des Subjekts näher und treten mit Kopulaverben zusammen auf. Zur Erinnerung: Kopulaverben sind die Verben sein, bleiben und werden, die nie allein das Prädikat bilden können, sondern zu diesem Zweck ein Prädikativkomplement brauchen. Ähnlich wie die Kopulaverben verhalten sich die kopulaähnlichen Verben heißen, nennen, gelten, aussehen, wirken, scheinen. Beispiele für Subjektsprädikative finden sich in den Sätzen (16a) bis (16d). (16) a. Das Auto ist schön. b. Studiengebühren werden abgeschafft. 60 Kapitel 4. Syntax c. Daniel bleibt Linguist. d. Er heißt Bernhard. Allen diesen Sätze ist gemeinsam, dass den durch das grammatische Subjekt bezeichneten Entitäten mittels eines Kopulaverbs bzw. mittels eines kopulaähnlichen Verbs eine Eigenschaft zugesprochen wird. Objektsprädikative verhalten sich genauso, beziehen sich aber auf das Objekt. Sätze (17a) und (17b) zeigen Beispiele für Objektsprädikative. (17) a. Natalie findet die Idee gut. b. Michaela hält den Beschuldigten für unschuldig. Exkurs: AcI-Konstruktionen Die vor allem im Lateinischen und Altgriechischen häufigen AcI- Konstruktionen (accusativus cum infinitivo, ‚Akkusativ mit Infinitiv‘) existieren auch im Deutschen. Dabei handelt es sich um Konstruktionen, bei welchen ein Akkusativobjekt, ähnlich wie beim Objektsprädikativ, durch einen Infinitiv ergänzt wird. AcI-Konstruktionen entstehen im Deutschen mit verba sentiendi, also mit Wahrnehmungsverben oder mit Verben des Veranlassens (z.B. erlauben oder zwingen). Die Sätze (18a) bis (18c) zeigen Beispiele für deutsche AcI-Konstruktionen. (18) a. Lorenz sieht das Wasser kochen. b. Yuting hört die Glocke schlagen. c. Amelie zwingt den Gast zu gehen. Wie an den Beispielen ersichtlich, fordern die entsprechenden Verben einen Akkusativ und einen Infinitiv. Dies ist jedoch nicht bei allen verba sentiendi der Fall (bei bemerken z.B. nicht). Mehr zu AcI-Konstruktionen finden Sie bei Welke (2007: 184). 2.5 Kein Satzglied: das Attribut Nicht als Satzglieder gelten Attribute. Sie sind nur Teile von Satzgliedern, die in der Regel ein Substantiv, ein Pronomen oder ein Adjektiv genauer bestimmen. Im Satz Der kleine, braune Bär hat einen lustigen Hut ist Der kleine, braune Bär das Subjekt. Teil dieses Satzglieds ist das Attribut kleine, braune. Attribute werden mit dem Satzglied, zu dem sie gehören, verschoben. Sie müssen nicht zwangsläufig vor dem Element, das sie genauer n 2. Satzgliedanalyse 61 bestimmen stehen, sondern treten auch danach auf: die Tasche des Bergsteigers (des Bergsteigers als Attribut). 2.6 Satzglieder sicher erkennen Die Satzgliedanalyse gehört zu den absoluten Grundlagen. Daher sollten Sie Satzglieder ohne größere Probleme erkennen können. Schon bei der Konstituentenanalyse haben wir gesehen, dass es häufig verschiedener Tests bedarf, um sicher sein zu können, dass man tatsächlich eine Konstituente ermittelt hat. Genauso verhält es sich bei den Satzgliedern. Ein einzelner Test reicht in der Regel nicht aus, Subjekte, Objekte, Prädikate und adverbiale Bestimmungen sicher zu erkennen. Eine wirklich gute Übersichtshilfe stellt Dürscheid (2012: 34ff.) bereit, der wir hier folgen wollen. In den nachfolgenden Merkkästchen sind die wichtigsten Merkmale der Satzglieder Subjekt, Objekt, Prädikat, Adverbial und Prädikativ zusammengefasst. Ein weiteres Kästchen ist der Erkennung der Attribute gewidmet, die selbst jedoch keine Satzglieder darstellen, sondern nur als Teile von Satzgliedern auftreten. Das Subjekt: • lässt sich prototypischerweise mit wer oder was? erfragen, da es im Nominativ steht. • beschreibt in der Regel das, worüber man eine Aussage machen will, es beschreibt also das Topik. • kongruiert mit dem Prädikat. Das Objekt: • ist das Ziel eines verbalen Geschehens. • ist die Ergänzung zum Prädikat, die nicht das Subjekt ist. • ist meist von einer Handlung betroffen (ist Patiens) oder Empfänger von etwas (Rezipient). • wird in seinem Kasus vom Verb oder durch ein Adjektiv festgelegt. 62 Kapitel 4. Syntax Das Prädikat: • ist eigentlich kein Satzglied, weil es oft nicht als Einheit verschoben werden kann, wird aber dennoch häufig dazugezählt. • besteht mindestens aus einem Verb (oder einem ganzen Verbalkomplex). • bezeichnet einen Vorgang, eine Handlung oder einen Zustand, der sich auf das Subjekt bezieht. • kongruiert mit dem Subjekt. Die adverbiale Bestimmung: • bezieht sich auf das Verb oder auf den ganzen Satz. • bestimmt die Umstände eines Geschehens genauer, z.B. hinsichtlich des Ortes oder der Zeit. Das Prädikativ: • bezeichnet die Umstände des Subjekts bzw. Objekts genauer (bezieht sich also nicht auf das Verb oder den ganzen Satz). • kann als Subjektsprädikativ mit Kopulaverben zusammen auftreten. • kann als Objektsprädikativ auftreten und bezieht sich dann immer auf ein Akkusativobjekt; ist ebenfalls eng mit dem Prädikat verbunden (z.B. Florian nennt Tim einen Raufbold). Das Attribut: • ist immer Teil eines Satzglieds • ist eine Beifügung, die zu einem Substantiv, Pronomen oder einem Adjektiv hinzutritt • Außer dem Prädikat, kann man jedes Satzglied um ein Attribut erweitern . . . 3. Haupt- und Nebensätze 63 Liefern Sie eine syntaktische Analyse der nachfolgenden Sätze (einschließlich Attribute, keine Einzelwortbestimmung): „Zu den Unterkategorien gehören beispielsweise Social Networking, Reisen und Sport. Laut Bungartz und dem Messedienstleister der IVW, Infoline, ist dieses ergänzte Kategoriensystem aber nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem neuen System, bei dem die Eigenschaften von Seiten mehr im Vordergrund stehen sollten.“ (Quelle: Internet World Business, Ausgabe 14/ 07 vom 9. Juli 2007, S. 1.) Gestellt im bayerischen Staatsexamen Frühjahr 2008 Beispielaufgabe syntaktische Analyse 1 3 Haupt- und Nebensätze Hauptsätze sind Sätze, die strukturell selbständig sind. Sie verfügen im Gegensatz zu den meisten Nebensätzen über eine eigene illokutive Kraft, was nichts anderes bedeutet, als dass sie selbstständig eine Aussage, eine Frage, einen Befehl, einen Wunsch, etc. zum Ausdruck bringen können. Nebensätze dagegen sind untergeordnete Sätze, ihre Illokution ist vom Hauptsatz abhängig. 2 Allgemeiner nennt man solche Sätze, welchen ein Satz untergeordnet ist, Matrixsätze. Nebensätze können eingeleitet oder uneingeleitet sein. Sind sie eingeleitet, weisen sie Verbletztstellung auf. Je nach ihrer Funktion lassen sie sich wie folgt einteilen: Konditionalsätze: eingeleitet mit wenn: Wenn Nikola reich wäre, dann hätte sie keine Sorgen mehr. Eingeleitet mit falls: Falls es regnet, habe ich eben keinen Schirm. Konditionalsätze geben eine Bedingung an. Konzessivsätze: eingeleitet z.B. mit obwohl oder auch wenn: Ich hatte einen schönen Abend, obwohl es kein Bier gab. In Konzessivsätzen wird ein Sachverhalt kodiert, der dem im Hauptsatz ausgedrückten Sachverhalt unerwartet gegenübersteht. Kausalsatz: eingeleitet mit weil oder da: Elias ist nächste Woche in Berlin, weil er dort arbeiten muss. In Kausalsätzen wird eine Begründung für einen im Hauptsatz angeführten Sachverhalt geliefert. Besonders bei Kausalsät- 2 Es gibt aber auch Ausnahmen, i.e. illokutiv eigenständige Nebensätze, siehe Thurmair (1989: 82). 64 Kapitel 4. Syntax zen, die mit denn eingeleitet werden, ist Vorsicht geboten, denn oft handelt es sich gar nicht um Nebensätze, sondern um Hauptsätze mit V2-Stellung. Temporalsätze: eingeleitet z.B. durch während, als oder seitdem: Anna arbeitet bei der Tagespost, seitdem sie einen Abschluss hat. In Temporalsätzen erfolgt eine zeitliche Bestimmung des im Hauptsatz ausgedrückten Sachverhalts. Lokalsätze: eingeleitet mit wo, wohin oder woher: Das Bernsteinzimmer ist dort versteckt, wo es niemand vermutet. Lokalsätze verorten den im Hauptsatz ausgedrückten Sachverhalt. Konsekutivsätze: eingeleitet mit dass, so dass oder ohne dass: Veronikas Wecker klingelt laut, so dass sie vor Schreck aus dem Bett fällt. Konsekutivsätze geben die Folge eines im Hauptsatz ausgedrückten Sachverhalts an. Finalsätze: eingeleitet mit dass, damit oder auf dass: Bettina lernt Linguistik, damit sie nicht durch die Klausur fällt. In Finalsätzen wird der Zweck oder das Ziel eines im Hauptsatz ausgedrückten Sachverhalts angegeben. Modalsätze: eingeleitet z.B. durch indem: Indem Constanze nicht mit ihm sprach, brach sie ihm das Herz. Modalsätze drücken die Umstände eines Sachverhalts aus, bzw. erläutern diese genauer. Adversativsätze: eingeleitet durch während: Während in Villabacho noch geputzt wird, wird in Villariba schon wieder gefeiert. In einem Adversativsatz wird dem im Hauptsatz ausgedrückten Sachverhalt widersprochen, dieser eingeschränkt oder mit einem anderen Sachverhalt kontrastiert. Komparativsätze: eingeleitet durch als: Der Kaffee im Cafékiosk ist definitiv besser, als in der Mensa. Komparativsätze dienen dem Ausdruck eines Vergleichs. Zu beachten ist allerdings, dass Konditionalsätze auch uneingeleitet auftreten können (z.B. Hätte Ronja frei, sie ginge nach Hause). Das gleiche gilt für Konzessivsätze (z.B. Ist er sich auch sicher, zweifelt er doch manchmal). 3. Haupt- und Nebensätze 65 Aufgabe: Bestimmten Sie die Struktur in nachfolgendem Textabschnitt und fertigen Sie eine Tabelle an (links die Teilsätze, rechts die Satzarten): „Um wirklich gute Baga-Weine produzieren zu können, sind ein trockener Herbst und wagemutige Winzer nötig, die das Risiko auf sich nehmen, die Traube spät und damit mit der erforderlichen phenolischen Reife zu lesen. Dass bei den meisten Winzern vor allem in früheren Zeiten der Mut nicht zu den herausragenden Eigenschaften zählte, kann man an der Fülle ‚grüner‘ und harter Weine vergangener Jahrzehnte ablesen, die dem Ruf dieser Gewächse nicht gerade gut bekommen sind.“ (Quelle: Hubert, Wolfgang/ Schwarzwälder, David: Portugal und seine Weine. München 2007, S. 79.) Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2010 Beispielaufgabe Haupt- und Nebensätze 3.1 Relativsätze Werden Nebensätze mit einem Relativpronomen eingeleitet, so spricht man von Relativsätzen. Sie sind damit in der Regel von einem nominalen Kopf abhängig und modifizieren eine Nominalphrase. Die einleitenden Elemente sind entweder die Relativpronomen der, die oder das (z.B. Der Mann, der ...) oder ein w-Wort (z.B. Wer ohne Sünde ist, ...). Unterschieden werden restriktive und nicht-restriktive Relativsätze, wobei letztere auch als appositive Relativsätze bezeichnet werden. Restriktive Relativsätze beschreiben eine Einschränkung (meist auf eine gewisse Gruppe), nicht-restriktive Relativsätze beziehen sich meist auf eine Gesamtheit. 3.2 Gliedsätze & Gliedteilsätze Nebensätze bezeichnet man manchmal auch als Gliedsätze. Das liegt daran, dass der Begriff ‚Nebensatz‘ nicht auf der Beschreibungsebene der syntaktischen Funktionen (= Satzglieder) angesiedelt ist. Aber auch Nebensätze übernehmen die Funktionen von Satzgliedern. In den Sätzen (15a) und (15b), hier wiederholt als (19a) und (19b), haben wir schon gesehen, dass ein Objekt nicht nur eine Nominalphrase sein kann, sondern dass die 66 Kapitel 4. Syntax Funktion des Objekts auch von einem Nebensatz übernommen werden kann. (19) a. Natascha riecht das Feuer. b. Natascha riecht, dass es brennt. Will man nun nicht auf der Form-, sondern auf der Funktionsebene (= Satzglieder) einen Satz beschreiben, genau dann verwendet man die Bezeichnung Gliedsatz für solche Nebensätze, die die Funktion eines Satzgliedes übernehmen. Es gibt folgende vier Optionen (Beispiele aus Dürscheid 2012: 59): (20) a. Subjektsatz: Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. b. Objektsatz: Es sagte, dass er keine Zeit habe. (Akkusativobjekt) c. Adverbialsatz: Er weinte, weil sie ihn nicht beachteten. d. Prädikativsatz: Er ist geworden, was er immer schon werden wollte: ein Dichter. Gliedteile sind dagegen in Satzglieder eingebettete Phrasen. Während man Satzglieder topikalisieren kann, ist dies bei Gliedteilen nicht möglich. Betrachten wir dazu den Satz in (21). (21) Valentina mag das Haus des Freundes. Das Akkusativobjekt des Satzes lautet das Haus des Freundes. Es lässt sich topikalisieren (Das Haus des Freundes mag Valentina). Die Konstituente des Freundes dagegen ist ein Gliedteil, sie lässt sich nicht topikalisieren: *Des Freundes mag Valentina das Haus. Es handelt sich lediglich um eine in ein Satzglied eingebettete Phrase. Gliedteile sind damit den Attributen sehr ähnlich. Daher werden sie auch häufig gleichgesetzt. Manchmal definiert man jedoch als Attribut nur solche Gliedteile, die eingebettete Phrasen in nominalen Satzgliedern sind. Entsprechend sind Gliedteilsätze solche Sätze, deren syntaktische Funktion die eines Attributes ist und die ein Bezugswort oder mehrere Bezugswörter erweitern: Wer du bist, das ist mir egal. Die Bezugswörter, auf die sich der Gliedteilsatz (also das Attribut) das ist mir egal bezieht, sind Wer du bist. Diese Art von Satz haben wir aber schon kennengelernt. Gliedteilsätze, die mit einem Relativpronomen eingeleitet werden, nennt man 4. Valenzen 67 nämlich Relativsätze. Zu beachten ist aber, dass der Gliedteilsatz in diesem Fall auch ohne Relativpronomen realisierbar ist: Wer du bist, ist mir egal. 4 Valenzen Der Begriff ‚Valenz‘ (Wertigkeit) stammt aus der Chemie und bezeichnet dort die maximale Anzahl der Elektronen, die ein Atom binden kann. Analog zu den Elektronen nahm der französische Sprachwissenschaftler Lucien Tesnière (1893-1954) an, das Verb binde eine gewisse Anzahl an Mitspielern an sich (Tesnière 1959). Auf seinen Überlegungen gründen sich die heutigen Ansätze der Valenzgrammatik (manchmal spricht man auch von Dependenzgrammatik). Das Verb, so sagt man in der Terminologie der Valenzgrammatik, eröffnet sogenannte Leerstellen, die entweder gefüllt werden müssen oder gefüllt werden können. 4.1 Ergänzungen Verben verlangen also eine bestimmte Anzahl an ‚Mitspielern‘, um grammatisch korrekte Konstruktionen zu bilden. Diese Anzahl liegt fast immer in der Semantik der Verben bzw. in der Semantik der Situationen begründet, die diese Verben beschreiben sollen. So brauchen wir zu einem Verb wie gehen auf jeden Fall auch jemanden, der die Tätigkeit des Gehens ausübt. Ein Verb wie schlagen dagegen fordert nicht nur jemanden, der schlägt, sondern auch jemanden oder etwas, der oder das geschlagen wird. Das, was das Verb fordert, bezeichnet man als eine Ergänzung. Allerdings verhalten sich Verben hinsichtlich der von ihnen geforderten Ergänzungen recht unterschiedlich. Vom Verb gehen haben wir gesagt, dass es jemanden benötigt, der geht, es benötigt also ein Subjekt, wie in Satz (22a). Satz (22b) zeigt, dass gehen neben der Subjektergänzung aber noch auf andere Art erweitert werden kann. Das Präpositionalobjekt nach Hause ist ohne weiteres, das heißt, ohne dass der Satz ungrammatisch wird, weglassbar. Wir unterscheiden deshalb zwischen obligatorischen und fakultativen Ergänzungen. Wird eine obligatorische Ergänzung weggelassen, wie in Satz (22c), wird der Satz ungrammatisch. Das Verb kitzeln benötigt also immer auch jemanden (oder etwas), das gekitzelt wird, wie in Satz (22d). (22) a. Julia geht. b. Julia geht nach Hause. c. *Kirsti kitzelt. d. Kirsti kitzelt Max. 68 Kapitel 4. Syntax Je nachdem, wie viele Ergänzungen ein Verb fordert, bezeichnet man es als 1-wertig (z.B. schlafen: Sandra schläft), 2-wertig (z.B. kitzeln: Kirsti kitzelt Max), 3-wertig (z.B. geben: Michaela gibt Anna das Buch) oder sogar 4-wertig (z.B. übersetzen: Kassandra übersetzt den Artikel vom Spanischen ins Deutsche). Manche Autoren gehen auch von 0-wertigen Verben aus, zu denen hauptsächlich die Wetterverben zählen, die nur eine syntaktische Ergänzung fordern, die allerdings auf nichts verweist: Es regnet (*Was regnet? ). Manche Verben fordern je nach Kontext unterschiedlich viele Ergänzungen. Je nachdem, wie viele es sind, ändern diese Verben dann ihre Bedeutung. Ein häufig angeführtes Beispiel hierfür ist geben. In Satz (23a) ist geben 3-wertig, d.h. es fordert drei Ergänzungen (Subjekt, Dativobjekt und Akkusativobjekt). In Satz (23b) hat geben eine andere Bedeutung als in Satz (23a), denn der Satz ist nur in speziellen Kontexten sinnvoll zu interpretieren - z.B. beim Spielen eines Kartenspiels. Dann ist die Bedeutung von geben die von ‚Karten geben‘. (23) a. Ich gebe der hungrigen Hannah ein Brot. b. Melissa gibt. Obligatorische Ergänzungen sind in keinem Fall weglassbar, fakultative Ergänzungen kann man bedingt weglassen, z.B. wenn der Kontext es erlaubt, die beschriebene Situation trotzdem zu verstehen. Bisher hatten wir es mit Ergänzungen zu tun, die fakultativ oder obligatorisch sein können. Daneben gibt es noch sogenannte Angaben. 4.2 Freie Angaben Während Ergänzungen, egal ob obligatorisch oder fakultativ, vom Verb abhängen, sind freie Angaben immer weglassbar und hängen nicht vom Verb ab. Dazu zählen die bereits angesprochenen Adverbiale (z.B. Ich gehe um fünf Uhr nach Hause) und die sogenannten freien Dative (z.B. Komm mir ja nicht zu spät nach Hause! ). Freie Angaben haben nichts mit den Leerstellen des Verbs zu tun. Freie Angaben sind ohne Änderung der Lesart weglassbar oder hinzufügbar. 4. Valenzen 69 4.3 Valenzen bestimmen Fassen wir unser Wissen noch einmal zusammen. Das Verb eröffnet Leerstellen, die gefüllt werden müssen. Man spricht von Ergänzungen. Diese können obligatorisch sein, müssen also realisiert werden oder sie sind fakultativ, d.h. sie können auch weggelassen werden, weil sie über den Kontext mitverstanden werden oder unbestimmt sind. Daneben gibt es die freien Angaben, die man ohne Probleme hinzufügen oder weglassen kann. Es gibt, wie so oft in der Linguistik, keine 100%-ig zuverlässigen Tests, die zwischen Ergänzung und Angabe unterscheiden lassen. Folgende Regeln führen fast immer zum richtigen Ergebnis (siehe Pittner & Berman 2013: 45f.): • Subjekte und Objekte sind immer Ergänzungen. • Wird der Satz ungrammatisch oder verändert das Verb seine Bedeutung, wenn man eine Konstituente weglässt, handelt es sich um eine obligatorische Ergänzung. • Fakultative Ergänzungen kann man nur unter speziellen Bedingungen weglassen, nämlich dann, wenn sie weiterhin mitverstanden wird • Freie Angaben kann man in fast allen Fällen in einen eigenen Satz umformen, der mit und das geschieht beginnt (z.B. Ich gehe um fünf Uhr nach Hause → Ich gehe nach Hause und das geschieht um fünf Uhr). Bei der Bestimmung der Valenz eines Verbs hält man sich in der Regel an die Logik. Man notiert dann das Verb in Großbuchstaben und schreibt in Klammern dahinter die geforderten Ergänzungen. So wird z.B. aus schlagen, das ja 2-wertig ist, wie wir wissen: (24) SCHLAG(x, y) Manchmal werden solche sogenannten Lexikoneinträge auch noch etwas ausführlicher gestaltet, indem man auch noch angibt, in welchem Kasus die Ergänzungen stehen müssen und mit welchen Phrasentypen sie gefüllt werden können. Ein entsprechender Eintrag für schlagen würde dann wie folgt aussehen: (25) NP Nom , NP Akk SCHLAG(x, y) 70 Kapitel 4. Syntax Aus dem Eintrag, der die sogenannte Argumentstruktur des Verbs widerspiegelt, kann man nun ablesen, dass das Verb schlagen zwei obligatorische Ergänzungen fordert (fakultative Ergänzungen schreibt man einfach in Klammern), die beide NPs sein müssen, wobei erstere im Nominativ und zweitere im Akkusativ steht. 3 Besonders interessant sind die 0-wertigen Wetterverben. Sie werden z.B. so notiert: (26) es REGNE() Der Eintrag zeigt an, dass syntaktisch ein es (genauer ein sogenanntes ‚expletives es‘) realisiert sein muss, das allerdings kein semantisches Gegenstück hat, i.e. auf keinen außersprachlichen Sachverhalt verweist. Aufgabe: Bestimmen Sie die Verbvalenzen zu zählte, ablesen und bekommen. Schreiben Sie in eine dreispaltige Tabelle die Verben, ihre Valenzpartner aus dem Text und die syntaktischen Bestimmungen: „Um wirklich gute Baga-Weine produzieren zu können, sind ein trockener Herbst und wagemutige Winzer nötig, die das Risiko auf sich nehmen, die Traube spät und damit mit der erforderlichen phenolischen Reife zu lesen. Dass bei den meisten Winzern vor allem in früheren Zeiten der Mut nicht zu den herausragenden Eigenschaften zählte, kann man an der Fülle ‚grüner‘ und harter Weine vergangener Jahrzehnte ablesen, die dem Ruf dieser Gewächse nicht gerade gut bekommen sind.“ (Quelle: Hubert, Wolfgang/ Schwarzwälder, David: Portugal und seine Weine. München 2007, S. 79.) Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2010 Beispielaufgabe Verbvalenz 3 Normalerweise müssten die Einträge auch noch enthalten, mit welchen Rollen die Argumente belegt werden dürfen, z.B. müsste die erste NP in unserem Fall belebt sein. Aber das würde hier zu weit führen. 5. Die Verbstellung 71 5 Die Verbstellung Sprachen weisen untereinander gewisse Differenzen in der Stellung des Verbs auf. Betrachten wir dazu einige Beispielsätze, um über die Verbstellung des Deutschen einige Klarheit zu gewinnen. In Satz (27a) steht das Verb an erster Stelle. Man spricht von Verberststellung. Der Nebensatz in Beispiel (27b) weist offensichtlich eine sogenannte Verbletztstellung auf. Interessanter sind die Sätze (27c) und (27d). Während bei Satz (27c) noch relativ klar ist, dass es sich um Verbzweitstellung handelt, ist die Situation in Satz (27d) nicht so einfach zu bewerten. Rufen wir uns aber unser Wissen, das wir im Abschnitt über die Konstituentenanalyse erworben haben, wieder in Erinnerung, so wird klar, dass auch dieser Satz eine Verbzweitstellung aufweist, da [Die wunderbare Natalie] eine Konstituente bildet, was z.B. über eine Verschiebeprobe leicht zu ermitteln ist: Einen Film sieht sich die wunderbare Natalie an. (27) a. Geht Dede nach Hause? b. Wenn der Milchmann zweimal klingelt, [...]. c. Natalie sieht sich einen Film an. d. Die wunderbare Natalie sieht sich einen Film an. Das Deutsche verfügt über diese drei Varianten der Verbstellung. Deklarativsätze stehen in Verbzweitstellung (V2-Stellung), Interrogativsätze in Verberststellung (V1-Stellung) und Nebensätze weisen eine Verbletztstellung (VL-Stellung) auf. 4 4 In seltenen Fällen gibt es auch selbstständige Sätze mit VL-Stellung, z.B. Als ob ich nicht tanzen könnte! Diese werden immer mit einer Konjunktion oder einem w-Element eingeleitet. Siehe dazu Buscha (1976). 72 Kapitel 4. Syntax Exkurs: Formtyp, Satztyp & Sprechakt Leider wird in der linguistischen Fachliteratur nicht konsequent zwischen den drei eben besprochenen Formtypen (Verberstsatz, Verbzweitsatz und Verbletztsatz), Satztypen und Sprechakten differenziert. Bei Satztypen handelt es sich um semantische Typen von Sätzen, die wir mit lateinischen Namen bezeichnen. Es gibt drei grundlegende Satztypen, die in allen Sprachen der Welt ausgedrückt werden können: • Deklarativsätze: Sabrina mag Bier. • Interrogativsätze: Mag Sabrina Bier? • Imperativsätze: Hol mir ein Bier! Deklarativsätze weisen prototypischerweise Verbzweitstellung auf. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Eins-zu-eins-Zuordnung, wie Interrogativsätze mit Verbzweistellung und Frageintonation zeigen: Sabrina mag Bier? Interrogativsätze stehen prototypischerweise in Verberststellung, Imperativsätze ebenfalls. Mit den Formtypen beschäftigt sich die Syntax, da es sich um ein Oberflächenphänomen handelt. Mit den Satztypen beschäftigt sich die Semantik, da es hier um Bedeutungen geht. Allerdings kann z.B. ein Deklarativsatz in einer konkreten Situation durchaus als Aufforderung interpretiert werden, z.B. wenn ich sage Ich trinke ein Bier. Die jeweiligen Sprechakte, die mit einem in einer konkreten Situation geäußerten Satz zum Ausdruck kommen, bezeichnen wir mit den deutschen Namen. Auch hier sind, wie eben schon angedeutet, keine Eins-zu-eins-Zuordnungen möglich. Jedoch drücken Deklarativsätze prototypischerweise Aussagen aus, mit Interrogativsätzen stellt man Fragen und mit Imperativsätzen erteilt man Befehle. Unter bestimmten pragmatischen Bedingungen können Deklarativsätze im Deutschen mit dem finiten Verb beginnen. Dies ist z.B. bei Witzen der Fall (Treffen sich zwei Kobolde ...). 6 Das topologische Feldermodell Bei der Betrachtung der Verbstellung haben wir bisher nur Sätze betrachtet, die ein einfaches Prädikat aufwiesen, sprich nur ein finites Verb enthielten. Was aber ist mit komplexeren Prädikaten? Diese Frage stellte sich auch der Sprachwissenschaftler Erich Drach (1963) [1937] und entwickelte speziell für das Deutsche eine Beschreibung der Satzstruktur, ausgehend vom Verb: das topologische Feldermodell. 5 Drach war aufgefallen, dass Verbalkomplexe im Deutschen eine Art Klammerstruktur bilden, die den Satz in drei Teile zerlegt. Betrachten wir dazu Satz (28). Der Verbalkomplex, bestehend aus hat und gefreut, zerlegt den Satz in drei Teile. Man nennt 5 Das Feldermodell geht aber auch auf ältere Arbeiten u.a. auf Herling (1821) und Erdmann (1886) zurück. 6. Das topologische Feldermodell 73 den Verbalkomplex die Satzklammer und die Felder nach ihrer Stellung Vorfeld (gefüllt mit Gökce), Mittelfeld (gefüllt mit sich gestern) und Nachfeld (gefüllt mit wie eine Schneekönigin). (28) Gökce hat sich gestern gefreut wie eine Schneekönigin. Was Drach bemerkte, ist eine Besonderheit des Deutschen, die es von vielen anderen Sprachen unterscheidet: die ausgeprägte Neigung zur Distanzstellungen. Solche Klammerverfahren kommen in unserer Sprache immer wieder zum Einsatz, z.B. in Form von Nominalklammern (Der flinke und besonders schnelle Bär) oder eben in der von Drach entdeckten Verbalklammer. Natürlich müssen nicht alle Felder besetzt sein. Da der prototypische deutsche Satz aber über ein finites Verb verfügt, ist die linke Klammer in jedem Fall gefüllt. Handelt es sich nicht um einen Haupt-, sondern um einen Nebensatz, so ist die linke Klammer durch die einleitende Konjunktion besetzt. In der rechten Klammer steht, wenn sie besetzt ist, der Rest des Verbalkomplexes. Tabelle 11 zeigt einige Beispiele für die Klassifizierung verschiedener Sätze nach dem topologischen Feldermodell. Bei den letzten zwei Sätzen handelt es sich um einen eingeleiteten und einen uneingeleiteten Nebensatz. Im Vorfeld kann nur eine einzige Konstituente stehen. Mehr ist nicht möglich. Allerdings gibt es davon - besonders in der gesprochenen Sprache - Ausnahmen, von denen man aber annimmt, dass sie nicht das Vorfeld, sondern eine Position davor besetzen. Vorfeld linke Klammer Mittelfeld rechte Klammer Nachfeld Gökce hat sich gestern gefreut wie eine Schneekönigin. Ich gehe! Ich gehe nach Hause! Wer hat gestern angerufen? dass er gestern nicht zurückgerufen hat. er wolle ein Auto kaufen Tabelle 11: Verschiedene Beispiele für das Feldermodell Aus der Untersuchung des Verhaltens von Sätzen nach diesem Schema, lassen sich nach Meibauer et al. (2007: 125) folgende Generalisierungen ableiten: 74 Kapitel 4. Syntax 1. Mittel- und Nachfeld können unbesetzt bleiben. 2. Die linke Klammer muss besetzt sein, nicht jedoch die rechte. 3. Infinite Verben können nicht in der linken Klammer stehen. 4. Die rechte Klammer in VL-Sätzen muss besetzt sein. 5. Nur Verbzweitsätze haben ein Vorfeld. Hinsichtlich dieses Modells hat sich eine gewisse Terminologie eingebürgert, die die verschiedenen Besetzungen der Felder beschreibt. Danach bezeichnet man einen Satz mit einem finiten Verb in der linken Klammer und einem besetzten Vorfeld als Kernsatz. Vorfeld linke Klammer Mittelfeld rechte Klammer Nachfeld Markus isst eine Pizza. - - Tabelle 12: Ein Kernsatz Ist das Vorfeld unbesetzt, die linke Klammer aber trotzdem mit einem finiten Verb gefüllt, spricht man von einem Stirnsatz: Vorfeld linke Klammer Mittelfeld rechte Klammer Nachfeld Isst Ilgın eine Pizza? - - Tabelle 13: Ein Stirnsatz Und schließlich bezeichnet man einen Satz mit einem finiten Verb in der rechten Klammer als Spannsatz: Vorfeld linke Klammer Mittelfeld rechte Klammer Nachfeld ob Patricia eine Pizza wolle. - Tabelle 14: Ein Spannsatz 6. Das topologische Feldermodell 75 Erstellen Sie eine syntaktische Analyse des nachfolgenden Satzes, inklusive Topologie (Verbstellung, Satzart, Felder), Verbvalenz, Formen und Funktionen der Satzglieder und Satzgliedteile bis zur Wortebene, einschließlich der Wortarten: „Es kommt darauf an, so zu leben, daß ein Ordnungsbedarf gar nicht erst entsteht.“ Gestellt im bayerischen Staatsexamen Frühjahr 2008 Beispielaufgabe syntaktische Analyse 2 (schwer) Zur Einführung in die Deutsche Syntax eignen sich besonders Pittner & Bermann (2013) und Dürscheid (2012). Eine umfangreiche Einführung in die Satzgliedanalyse bietet Welke (2007). Literaturtipps 5 | Semantik: ausgewählte Themen Da die Semantik im Examen nur am Rande behandelt wird, werden in diesem Kapitel auch nur ausgewählte Themen abgehandelt. Besonders die grundlegenden Bedeutungsbeziehungen werden vorgestellt und die Konzepte Wortfeld und Wortfamilie eingeführt. Die Semantik beschäftigt sich mit der Bedeutung von Morphemen, Wörtern und Sätzen. Insgesamt nehmen Semantikfragen im bayerischen Staatsexamen zu, allerdings sind sie meist auf einige ausgewählte Teilbereiche begrenzt, auf die sich entsprechend auch dieses Kapitel beschränkt. 1 Was ist Bedeutung? Die Semantik, das wurde schon mehrfach angesprochen, beschäftigt sich mit der Bedeutung. Doch was ist das eigentlich, eine ‚Bedeutung‘? Die Antwort auf diese Frage ist umstritten. Man kann Bedeutung definieren als ein mentales Konzept, also eine Repräsentation in unserem Gehirn, die durch neuronale Aktivität entsteht. Im Strukturalismus dagegen geht man davon aus, dass Bedeutung etwas ist, was ein Zeichen nur haben kann, wenn man die strukturellen Beziehungen zu anderen Zeichen kennt. Solche Beziehungen werden wir im Abschnitt ‚Bedeutungsbeziehungen‘ kennenlernen. Die linguistische Semantik steht damit vor einem Problem, das für die gesamte Linguistik kennzeichnend ist. Die Struktur, die untersucht werden soll, ist gleichzeitig auch das Mittel mit dem sie beschrieben wird. Man spricht auch von der Unhintergehbarkeit der Sprache. Objekt- und Metasprache fallen also zusammen. Kurz zusammenfassen lässt sich die Situation der Semantik mit folgendem Zitat des britischen Sprachwissenschaftlers John Lyons (*1932) „Noch niemand hat auch nur in Umrissen eine befriedigende und umfassende Semantiktheorie angeboten“ (Lyons 1973: 411). 2. Das semiotische Dreieck 77 2 Das semiotische Dreieck Ein berühmtes Modell zur Beschreibung des Zusammenhangs zwischen einem Zeichen, seinem Referenten und seiner Bedeutung, stammt von Ogden & Richards (1923), das heute unter dem Namen semiotisches Dreieck bekannt ist (zur Erinnerung: die Semiotik ist die Theorie der Zeichen). Abbildung 8 zeigt dieses Dreieck, in dem gezeigt werden soll, dass sich ein sprachliches Zeichen (Symbol) nicht direkt auf eine außersprachliche Wirklichkeit (Referent) bezieht, sondern dass eine Bedeutung, die nur in unserem Kopf existiert (Gedanke), eine Art Mittlerfunktion einnimmt. Daher ist auch die Linie zwischen Symbol und Referent gestrichelt. Die Beziehung zwischen sprachlichem Zeichen und seinem Referenten ist willkürlich - man spricht seit Ferdinand de Saussure (1857-1913) von der Arbitrarität der Zeichen. So gibt es keinen besonderen Grund, warum ein Tisch eben Tisch heißt und nicht Stuhl; die Verbindung zwischen dem Wort und dem, was es bezeichnet, ist nicht logisch notwendig. Das semiotische Dreieck macht deutlich, dass die Begriffe ‚Bedeutung‘ und ‚Referenz‘ nicht unbedingt gleichbedeutend sind. Es wurde immer wieder versucht, den Unterschied zwischen Bedeutung und Referenz anhand von Beispielen zu verdeutlichen. Die zwei berühmtesten Beispiele stammen von Gottlob Frege (1848-1925) und Edmund Husserl (1859- 1938). Von ersterem stammt das Beispiel des Begriffspaars Morgenstern und Abendstern, die eine unterschiedliche Bedeutung haben, jedoch über dieselbe Referenz verfügen (die Venus), letzterer verwendete zur Illustration die Ausdrücke der Sieger von Jena und der Besiegte von Waterloo, die wieder zwei verschiedene Bedeutungen haben, aber auf die gleiche außersprachliche Wirklichkeit referieren (Napoleon). Abbildung 8: Das semiotische Dreieck 78 Kapitel 5. Semantik: ausgewählte Themen 3 Denotation und Konnotation Man nennt die Menge aller potentiellen Entitäten, auf die mittels eines sprachlichen Zeichens referiert werden kann, das Denotat dieses Zeichens. Man sagt auch, dass Zeichen denotieren. So denotiert das Wort Katzen die Menge aller potentiellen Katzen - potentiell, weil man mit dem Wort auch auf Katzen verweisen kann, die nicht mehr existieren, noch existieren werden oder nur in unserer Phantasie existieren. Diese Menge ist also unendlich groß. Nicht nur einzelne Wörter, sondern auch Sätze haben ein Denotat. Sie bezeichnen die Menge aller potentiellen Situationen, auf die die im Satz ausgedrückte Beschreibung zutrifft. Nun haben Wörter die denotieren, und das sind an aller erster Stelle die Inhaltswörter, häufig nicht nur eine rein deskriptive Bedeutung, sondern sie lösen gewisse emotionale Assoziationen in uns aus: Wenn man einen Ausdruck mit deskriptiver Bedeutung benutzt, aktiviert man damit bei seinem Adressaten nicht nur das semantische Konzept, das mit der Wortform mental als Bedeutung verknüpft ist, sondern einen ganzen Hof von Assoziationen. (Löbner 2003: 48) Viele dieser Assoziationen sind sicherlich von Individuum zu Individuum unterschiedlich, i.e. sie variieren von Mensch zu Mensch. Manche dieser Assoziationen sind allerdings überindividuell stabil (zumindest im Rahmen einer Kultur bzw. Sprachgemeinschaft). Diese Nebenbedeutungen bezeichnet man als Konnotate. So haben beispielsweise die Wörter Ross und Pferd das selbe Denotat, sie unterscheiden sich allerdings in ihrem Konnotat, da Rösser in der Regel etwas edles an sich haben. Genauso verhält es sich mit Polizist und Bulle oder Köter und Hund. 4 Ambiguität Viele, ja sogar die meisten Wörter der deutschen Sprache (dasselbe gilt natürlich für jede andere natürliche Sprache genauso) haben nicht nur eine Bedeutung, sondern mehrere, verschiedene Bedeutungen. Dies trifft an erster Stelle wieder auf die Inhaltswörter zu, die ja auch die größere Klasse darstellen. So kennt etwa allein fünf verschiedene Bedeutungen des Wortes Kopf (dazu noch mehrere Unterbedeutungen). Zwei dieser Bedeutungen lauten etwa 4. Ambiguität 79 (29) a. „essbarer, rundlicher Teil bestimmter Gemüse- und Salatpflanzen, der etwa die Größe eines Menschenkopfes hat“ b. „oft rundlicher [durch den Hals mit dem Rumpf verbundener] Körperteil des Menschen und vieler Tiere, zu dem Gehirn, Augen, Nase, Mund und Ohren gehören“ In solchen Fällen spricht man von lexikalischer Ambiguität (manchmal auch: Äquivokation). Allerdings zeigen die Beispiele noch etwas Spezielleres. Die beiden Bedeutungen in (29a) und (29b) weisen nämliche eine Ähnlichkeit auf, die Bedeutungen scheinen in irgendeinerweise miteinander verwandt zu sein. Genauer gesagt, geht es in beiden Fällen um eine runde Form. Wenn zwei Lexeme über eine solche ähnliche Bedeutung verfügen, bezeichnet man sie als Polyseme, die zugrundeliegende Eigenschaft nennt man Polysemie. Es handelt sich in beiden Fällen um ein ähnliches Konzept - eine tatsächlich ökonomische Eigenschaft natürlicher Sprachen. Ein ganz ähnliches Verhältnis beschreibt der Begriff Homonymie. Dabei handelt es sich ebenfalls um einen Fall von lexikalischer Ambiguität und wieder um zwei oder mehr Begriffe, die verschiedene Bedeutungen haben, diese sind allerdings sehr unterschiedlich geartet. Homonyme sind historisch gesehen nicht miteinander verwandt - dies ist allerdings ein Kriterium, das nicht immer angewendet werden kann, da die historische Verwandtschaft vieler Wörter weitgehend im Dunkeln liegt. Unterarten der Homonymie sind die Homophonie und die Homographie. Homophone sind Wörter, die gleich ausgesprochen werden, wie z.B. Seite und Saite. Homographen sind entsprechend Wörter, die gleich geschrieben werden, aber nicht unbedingt auch gleich gesprochen werden müssen. So kann man z.B. von der einen Seite eines Flusses auf die andere gelangen, also übersetzen, was gleich geschrieben, aber anders betont wird als wenn Verlage erfolgreiche Bücher übersetzen lassen. Lexikalische Ambiguität kann also die nachfolgenden Ausprägungen haben: Lexikalische Ambiguität Homonymie Homographie Homophonie Polysemie Ambiguität muss aber nicht notwendigerweise lexikalischer Natur sein. Sie kann auch durch die syntaktische Struktur eines Satzes entstehen. Man spricht entsprechend von syntaktischer Ambiguität. So kann der beliebte 80 Kapitel 5. Semantik: ausgewählte Themen Beispielsatz Das Mädchen sah den Mann mit dem Fernglas auf zwei verschiedene Arten interpretiert werden. Entweder sieht das Mädchen den Mann, indem es durch ein Fernglas sieht oder aber das Mädchen kann einen Mann sehen, der ein Fernglas hat. Die Unterschiede zwischen den beiden Interpretationen werden durch die nachfolgenden Baumstrukturen deutlich: S VP PP NP N Fernglas Det dem P mit NP N Mann Det den V sah NP N Mädchen Det Das S VP NP PP NP N Fernglas Det dem P mit NP N Mann Det den V sah NP N Mädchen Det Das Ambiguität kann noch auf andere Arten entstehen. Die wichtigste Art ist natürlich der Kontext, in dem ein Wort oder ein Satz geäußert wird. 6. Bedeutungsbeziehungen 81 5 Das Kompositionalitäts-Prinzip Bedeutungen von Sätzen entstehen nicht irgendwie, sondern nach gewissen Regeln. Die grundlegendste dieser Regeln bezeichnet man als Kompositionalitäts-Prinzip, das auch als Frege-Prinzip bekannt ist - benannt nach dem eben schon erwähnten deutschen Philosophen Gottlob Frege. Es besagt, dass sich die Bedeutung eines Satzes aus der Bedeutung der Wörter ergibt, aus denen er zusammengesetzt ist und aus deren Anordnung und Verknüpfung. 6 Bedeutungsbeziehungen Bedeutungsbeziehungen dienen der Beschreibung von Wortbedeutungen und wie sie sich semantisch zueinander verhalten. Sie entstammen der Tradition des Strukturalismus. Die nachfolgende Darstellung, die sich auf Bedeutungsbeziehungen von Wörtern beschränken, orientiert sich an Löbner (2003: 166f.). 6.1 Synonymie Unter dem Begriff ‚Synonymie‘ versteht man im Allgemeinen, dass zwei sprachliche Ausdrücke, in unserem Fall also zwei Wörter, dieselbe Bedeutung tragen. Totale Synonymie ist allerdings extrem selten. Das heißt also, dass es kaum zwei Wörter in einer Sprache gibt, die exakt dieselbe Bedeutung haben. Häufig dagegen ist partielle Synonymie, also der Sachbestand, dass zwei oder mehr Ausdrücke eine ähnliche, sich überschneidende Bedeutung haben. Partielle Synonyme sind z.B. Komposita und ihre Zweitbestandteile wie Tür und Haustür. Totale Synonymie liegt z.B. vor bei Streichholz-Zündholz oder Cousin- Vetter. Triviale Fälle sind solche, in welchen Abkürzungen aufgelöst werden (PKW -Personenkraftwagen) oder Übersetzungen fremdsprachlicher Begriffe (Hund-dog). 6.2 Hyponymie Unter Hyponymie versteht man eine Relation zwischen zwei Wörtern A und B, bei welcher A ein Unterbegriff von B ist. A enthält also zusätzlich zu den Bedeutungsbestandteilen von B noch mehr Merkmale, sodass A eine speziellere Bedeutung trägt. Die umgekehrte Relation ist die Hyperony- 82 Kapitel 5. Semantik: ausgewählte Themen mie. Wenn A hyponym zu B ist, dann ist gleichzeitig B hyperonym zu A. Die beiden Beispiele (30a) und (30b) zeigen eine solche Beziehung. (30) a. Tulpe ist hyponym zu −−−−−−−−−−→ Blume b. Blume ist hyperonym zu −−−−−−−−−−−→ Tulpe Sprache ist jedoch nur bedingt streng logisch aufgebaut. Deshalb darf die logische Beziehung der Unterordnung nicht mit Hyponymie gleichgesetzt oder verwechselt werden. So gehören etwa die Brombeeren sprachlich gesehen zu den Beeren, während sie rein botanisch betrachtet zu den Sammelsteinfrüchten gezählt werden. 6.3 Opposition Unter dem Begriff ‚Opposition‘ fasst man eine Reihe von Gegenteilsbeziehungen zusammen, die allerdings spezifische Eigenheiten aufweisen. Dies erkennt man schon allein daran, dass es viele sprachliche Ausdrücke gibt, die mehrere Gegenteile haben. Das Gegenteil von alt kann z.B. - je nach Kontext - jung oder neu sein. Ein weiteres Beispiel wäre heiraten. Einerseits könnte man sagen, das Gegenteil von heiraten wäre verwitwen, andererseits könnte man auch anführen, dass das Gegenteil sich scheiden lassen sei. Im ersten Fall (alt) liegt dies an der Polysemie des Wortes (es hat mehrere Bedeutungen), in zweitem Fall daran, dass es mehrere Arten gibt, auf die man seinen Ehepartner verlieren kann. Wir wollen hier folgende Arten der Opposition unterscheiden: Antonymie: Zwei Begriffe sind genau dann antonym zueinander, wenn sie auf entgegengesetzten Polen einer (potentiell offenen) Skala liegen. Zu den Antonymen zählen z.B. die Paare flüstern-schreien, Liebe-Hass sowie zahlreiche Adjektivpaare wie klar-unklar oder hell-dunkel. Direktionale Opposition: Wie im Namen schon angedeutet sind direktionale Oppositionen solche Gegenteilsbeziehungen, die sich auf eine räumliche Achse und deren entgegengesetzten Richtungen beziehen. Klassische Beispiele für direktionale Oppositionen sind rechts-links, oben-unten oder heben-senken. Semantische Komplementarität: Bei einer semantischen Komplementarität handelt es sich um ein Zeichenpaar, das die gleiche Bedeutung aufweist, bis auf ein einziges polares Merkmal. Es handelt sich um eine nicht- 7. Wortfamilien & Wortfelder 83 graduierbare Entweder-oder-Beziehung, wie z.B. verheiratet-ledig, möglich-unmöglich oder Frau-Mann. Semantische Komplemente sind gleichzeitig auch logische Komplemente. Heteronymie: Heteronyme sind genau wie Antonyme logisch inkompatibel, bezeichnen aber nicht entgegengesetzte Pole einer Skala, sondern spannen ein Spektrum von gleichrangigen, semantischen Alternativen auf, wie dies z.B. bei den Wochentagsnamen, bei Farbadjektiven oder Verben der Lokomotion (beispielsweise laufen, rennen, schleichen, usw.) der Fall ist. Konversität: Einzig bei Konversen ist ein gegenseitiger Ausschluss der beiden sprachlichen Zeichen nicht notwendigerweise gegeben. Löbner (2003: 129) führt als Beispiel implizieren und folgen aus an, da zwei Sätze sich wechselseitig implizieren können. Konversen drücken eine Relation zwischen zwei Referenten aus, wobei deren Rollen jeweils vertauscht sind. Daraus ergibt sich, dass Konversen nur bei mehrstelligen Prädikatsausdrücken vorkommen können, wie z.B. x ist Mutter/ Vater von y-y ist Kind von x; x ist größer als y-y ist kleiner als x oder x ist Chef von y-y ist Angelstellter von x. Mischformen: Die hier vorgestellten Formen der Opposition schließen sich, wie wir gesehen haben, nicht notwendigerweise aus. Das gerade angesprochene Beispiel kleiner-größer ist beispielsweise sowohl antonym zueinander als auch konvers. 7 Wortfamilien & Wortfelder 7.1 Wortfamilie Unter dem Begriff ‚Wortfamilie‘ versteht man eine Gruppe von Wörtern mit verwandtem Stammmorphem. Dazu gehören z.B. Gruppen wie trinken, Trank, Trunk, Getränk, Tränke, oder fallen, fällen, Unfall, Fallschirm, fällig, usw. 7.2 Wortfeld Wortfelder (Trier 1973 [1934]) dagegen müssen kein gemeinsames Stammmorphem aufweisen, sondern nur eine gemeinsame semantische Eigenschaft. Außerdem gehören die Mitglieder eines Wortfeldes der selben grammatischen Kategorie an, sind also z.B. alle Substantive oder Adjektive. Man 84 Kapitel 5. Semantik: ausgewählte Themen notiert sie meist in einer Listendarstellung in geschweifte Klammern. Gute Beispiele für Wortfelder sind Farbadjektive oder Wochentagsbezeichnungen: {grün, blau, gelb, rot}, usw. oder {Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag}. Auch Verwandtschaftsbeziehungen bilden z.B. Wortfelder. Zur Einführung in die Semantik bietet sich Löbner (2003) an. Literaturtipps 6 | Textlinguistik & Stilistik Sowohl die Textlinguistik als auch die Stilistik werden im Examen immer wieder abgefragt. In diesem Kapitel werden mit der Textkohäsion und der Kohärenz die grundlegenden Konzepte der Textlinguistik vorgestellt. Auch auf Isotopie, Präsuppositionen und Frames wird eingegangen. Nach einem Ausflug in die Rhetorik werden die Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit dargelegt. Den Abschluss des Kapitels bildet eine Übersicht über die wichtigsten Begriffe der Stilanalyse. 1 Textlinguistik Beschäftigt man sich intensiv mit Linguistik, so wird klar, dass erstaunlicherweise die zentralen Begriffe dieser Wissenschaft nicht exakt definiert sind. Was genau ein Wort ist, ein Satz oder was eine Sprache von einem Dialekt unterscheidet ist schwer zu sagen. Diese fuzziness liegt im Wesen der menschlichen Kognition begründet und genau dieser Umstand macht die Linguistik auch zu einem sehr spannenden Forschungsfeld. Die zentrale Fragestellung der Textlinguistik ist nun wieder so eine Frage nach einer solchen Definition, nämlich die Frage: „Was ist ein Text? “ bzw. „Was macht einen Text zu einem Text? “ Mit anderen Worten ist die Textlinguistik also diejenige linguistische Disziplin, „die das Wesen und die Leistung von Texten zu erfassen versucht“ (Eroms 2008: 41). Einfach gesprochen ist ein Text eine Kette zusammenhängender Sätze bzw. Äußerungen, die etwas verbindet. Darauf deutet auch schon der Wortursprung hin, denn das lateinische Wort textus ‚Geflecht‘, ‚Text‘ ist etymologisch mit texture ‚Gewebe‘ verwandt (vgl. Gülich & Raible 1977: 52). Einen Text definiert man als eine Einheit, die meist aus mehreren Sätzen besteht, die einen Zusammenhang aufweisen. Ein Text kann gesprochen oder geschrieben sein (das mag zunächst etwas ungewöhnlich sein, da Texte in der Alltagssprache etwas Geschriebenes sind). Es kann sich um monologisch geäußerte Sätze handeln oder auch um ein Gespräch. Die 86 Kapitel 6. Textlinguistik & Stilistik Länge eines Textes spielt bei dieser Definition keine Rolle. Ein Text kann also im Extremfall aus nur einem Wort bestehen. In diesem Kapitel werden wir uns zunächst ansehen, auf welche Art und Weise Zusammenhänge zwischen Sätzen hergestellt werden, dass sie einen Text bilden. Im Wesentlichen geht es um die zwei zentralen Konzepte Kohärenz und Kohäsion. Kohärenz meint alle diejenigen Eigenschaften eines Textes, die Zusammenhänge zwischen Sätzen herstellen, aber nicht explizit ausgedrückt werden, sondern in irgendeiner Form in ihm verborgen sind. Auf der anderen Seite stehen Ausdrücke, die oberflächlich, d.h. tatsächlich grammatisch, Zusammenhänge markieren: die Kohäsion. 1 1.1 Kohäsion Wie gesagt, bezeichnet die Kohäsion alle diejenigen Oberflächenformen, die einen Zusammenhang in einem Text kenntlich machen. Man unterscheidet folgende Kohäsionsmittel (siehe auch Vater 1992: 32ff.): • Proformen: Wiederaufnahme durch Proformen: Elias trinkt Bier. Er hat Durst. • Totale Rekurrenz: Wiederaufnahme eines Textwortes: Franzi arbeitet in der Bibliothek. Franzi kommt aus Landshut. • Partielle Rekurrenz: Wiederaufnahme eines Textwortes in abgewandelter Weise: Elias trinkt Bier. Der Trunk schmeckt ihm gut. • Substitution: Hierbei wird ein Ausdruck durch einen synonymen Ausdruck mit derselben Referenz wieder aufgenommen (man spricht von Koreferenz): Franzi trinkt auch ein Bier. Der Hopfen-Malz-Extrakt mundet ihr vorzüglich. • Ellipsen: Strukturell gleiche Bauart eines Satzes, in dem eine Lücke gelassen wird: A: Lucy hat Durst. B: Dietmar auch. (Ohne die Lücke würde der zweite Satz lauten: Dietmar hat auch Durst.) • Junktionen: Verbindungswörter wie und, oder, folglich, trotzdem. • Tempuskongruenz: Die Verwendung derselben Zeit innerhalb eines Textes. 1 Ich merke mir diesen Unterschied so: Kohäsion ist ein Oberflächenphänomen, alles was nicht an der Oberfläche eines Textes zu erkennen ist, muss dementsprechend zur Kohärenz gehören. 1. Textlinguistik 87 Kohäsive Mittel sind also solche, die rückwärts an bereits geäußerte Ausdrücke anschließen. Derjenige Ausdruck, an den angeschlossen wird, bezeichnet man als Substituendum, denjenigen, der anschließt als Substituens. Eroms (2008: 43) führt als Beispiel für einen solchen Substitutionsvorgang die Sätze Es war einmal ein König. Der hatte eine Tochter. Die war sehr schön ... an. Das Pronomen Der im zweiten Satz nimmt als Substituens das Substituendum ein König wieder auf. Entsprechend ist eine Tochter Substituendum zum Substituens Die im dritten Satz. Die Kohäsionsmittel gesprochener und geschriebener Sprache unterscheiden sich manchmal. So werden z.B. in gesprochener Sprache häufig Modalpartikel verwendet, um Kohäsion herzustellen, in geschriebener Sprache fehlen sie meist. Werden die Zusammenhänge in einem Text an der Oberfläche markiert, spricht man von Kohäsion. 1.2 Kohärenz Unter diesem Terminus verstehen wir diejenigen Hinweise darauf, dass Sätze einen Sinnzusammenhang haben, der nicht oberflächlich im Text erkennbar ist. Das heißt, es geht um die Strukturiertheit des Textes, die kognitiver Natur ist. Ein Text kann Kohäsion aufweisen, aber keine Kohärenz. Das bedeutet, dass oberflächlich betrachtet Zusammenhänge hergestellt werden, die uns jedoch keine Sinnzusammenhänge erschließen lassen. Dies ist etwa bei folgendem Textoid der Fall, das kaum Kohäsion aufweist: Der Schauspieler, der den Terminator spielt ist sehr muskulös. Arnold Schwarzenegger kommt aus Österreich. Er hat einen Vornamen, der mit A beginnt. Einen Vornamen muss man sich gut aussuchen und Schauspielen ist eine Kunst. Texte müssen also thematisch und konzeptuell ein Ganzes ergeben. Als die wichtigsten Kohärenzmittel führt Eroms (2008: 48ff.) die Isotopie, Präsuppositionen und Frames an, die hier kurz angerissen werden. Sinnzusammenhänge, die nicht oberflächlich in einem Text markiert werden, bezeichnet man als Kohärenz. 88 Kapitel 6. Textlinguistik & Stilistik Isotopie Wie wir im sprachgeschichtlichen Teil dieses Buches, genauer in Abschnitt 12, noch sehen werden, lässt sich die Semantik eines Wortes als Merkmalsbündel beschreiben. Die Bedeutung des Wortes Hündin beinhaltet z.B. unter anderem die Merkmale [+belebt], [+weiblich] oder [+tierisch]. Auf Greimas (1986) geht nun die Idee zurück, dass die Bedeutung zweier Begriffe gemeinsame Merkmale teilen können, wie etwa Hund und Hündin die Merkmale [+belebt], [+vierbeinig] und [+tierisch] teilen; man spricht von Isotopie. Als Beispiel kann jede Art von Text dienen. Nehmen wir z.B. diesen Text des Nachrichtenportals SPIEGEL ONLINE: Das Konklave zur Wahl des Nachfolgers von Papst Benedikt XVI. findet möglicherweise früher als bisher angekündigt statt. Die Kardinäle hätten genug Zeit, auch vor dem 15. März anzureisen, sagte ein Vatikansprecher. Derzeit werde geprüft, ob die vatikanische Verfassung dies zulässt. 2 Die wichtigen Wörter im Text, die immer wieder auftauchen, tragen alle das gemeinsame Merkmal [+katholisch] bzw. [+zur katholischen Kirche gehörig], so Konklave, Papst, Kardinäle, Vatikansprecher, vatikanisch. Durch dieses gemeinsame Merkmal erkennen wir einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Ausdrücken im Text. Teilen zwei oder mehr Begriffe Bedeutungsmerkmale, so spricht man von Isotopie. Präsuppositionen Bei Präsuppositionen handelt es sich um Voraussetzungen, die sich rein logisch aus einem Satz ableiten lassen, ohne dass sie explizit genannt werden. Bekannt wurden Präsuppositionen durch den 1905 erschienen Aufsatz On Denoting des britischen Philosophen und Mathematikers Bertrand Russell (1872-1970). Dieser prägte den Satz: (31) The present king of France is bald. ‚Der gegenwärtige König von Frankreich hat eine Glatze.‘ 2 , zuletzt eingesehen am 16.02.2013. 1. Textlinguistik 89 Untersuchen wir den Satz, wie ein Semantiker es tun würde, auf Wahrheitswerte, so fällt auf, dass der Satz weder wahr noch falsch ist, da Frankreich gegenwärtig keinen König hat. Der Satz funktioniert nämlich nur unter der Voraussetzung, dass überhaupt ein solcher König existiert. Man sagt auch, der Satz präsupponiert, dass es einen gegenwärtigen König von Frankreich gibt. Präsuppositionen unterscheiden sich jedoch von normalen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Satz einen Sinn ergibt. Dieser Unterschied wird im sogenannten Präsuppositionstest deutlich: Negiert man den zu untersuchenden Satz, bleibt die Präsupposition bestehen. Probieren Sie es aus! Präsuppositionen sind Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Satz wahr sein kann. Ob es sich um einfache Voraussetzungen oder Präsuppositionen handelt, lässt sich über den Präsuppositionstest ermitteln: Präsuppositonen bleiben erhalten, wenn man den Satz negiert. Frames Frames sind globale Handlungsmuster, die wir durch unseren täglichen Umgang mit der Welt erfahren. Sie sind daher stark kulturabhängig. Sie erlauben es uns, Kontexte von Texten als kohärent oder nicht einzustufen. Beispiele für solche Frames sind ‚Restaurantbesuch‘ oder ‚Einkaufen an der Tankstelle‘. Taucht in einem Text über einen Restaurantbesuch der Satz Nachdem Magdalena gegessen hatte, gab sie dem Kellner ein Handzeichen doch bitte zu ihr zu kommen auf, wird Ihnen klar sein, was ungefähr als nächstes passieren sollte (nämlich, dass Magdalena nach der Rechnung verlangt). Weicht die Handlung grob von einem laut Frame plausiblen Szenario ab, geht die Kohärenz mehr oder weniger verloren. Übrigens machen sich Flashmobs häufig solche Frames zu nutze. Globale Handlungsmuster, nach welchen Situationen immer wieder ablaufen, nennt man Frames (engl. frame, nhd. ‚Rahmen‘). Sie helfen uns bei der schnellen Orientierung in der Welt. 90 Kapitel 6. Textlinguistik & Stilistik 2 Stilistik Immer wieder tauchen Fragen nach der Stilistik eines Textes im Examen auf. Bei der Beantwortung solcher Fragen ist es wichtig, sich zunächst klar zu machen, um welche Textart (Textsorte) es sich handelt. Hat man einen literarischen oder einen nichtliterarischen Text vor sich, handelt es sich um einen journalistischen oder einen Fachtext? Dann sollte man die verwendete Sprache kurz umreißen: Handelt es sich um eine Fachsprache, ist der Text eher essayistisch gehalten oder in Umgangssprache (oder Jugendsprache oä.) geschrieben? Dem Begriff ‚Stil‘ liegt die Idee zugrunde, dass es zum Ausdruck eines Sachverhalts möglich ist, zwischen verschiedenen sprachlichen Ausdrucksformen zu wählen, das Vorhandensein von Variationsmöglichkeit ist also die Grundbedingung für Stil. Natürlich hat der Sprecher nicht die freie Wahl, sondern unterliegt gewissen Einschränkungen. Ein Wissenschaftsjournalist kann keine belletristische Geschichte als Fachartikel verkaufen und in einer Rede im Bundestag kann man nicht mit Kiezdeutsch anfangen (theoretisch ginge das natürlich schon). Oder wie es Maria Thurmair (1989: 296) ausdrückt: „Stilistische Angemessenheit ist [...] vor allem die Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks in einer bestimmten Situation.“ 2.1 Stilbegriff und Rhetorik Wie genau der Begriff ‚Stil‘ zu definieren ist, war und ist umstritten. Das liegt auch an der Mehrdeutigkeit des Begriffes. Einerseits kann mit ‚Stil‘ ein wiederkehrendes Muster, ein Gepräge gemeint sein, andererseits hat der Begriff auch eine positive Konnotation im Sinne ‚guten Stils‘. Besonders intensiv haben sich schon die antiken Rhetoriker mit dem Stilbegriff auseinandergesetzt und Stil definiert als den ‚Schmuck der Rede‘. Seit etwa dem 5. Jahrhundert n.d.Z. wurde die Rhetorik im antiken Griechenland in der Rednerausbildung gelehrt. In der Weiterentwicklung römischer Gelehrter unterschied man fünf Teile der Vorbereitung einer Rede, die auch heute noch häufig in Universitäten gelehrt werden: 1. Inventio (Stoffsammlung) 2. Dispositio (Ordnung des gesammelten Stoffes) 3. Elocutio (sprachliche Ausformulierung) 2. Stilistik 91 4. Memoria (Einprägung) 5. Pronuntatio (Vortrag) Die Elocutio ist also der Teil der Redevorbereitung, in dem der Schmuck hinzugefügt wird. Dabei müssen abhängig vom Zweck der Rede verschiedene Wortfiguren, sogenannten Tropen zum Einsatz kommen. Im Mittelalter wurde die Rhetorik im Rahmen der septem artes liberales neben der Grammatik und Dialektik (also innerhalb des Triviums) unterrichtet. Stil wurde also aufgefasst als eine bewusste Textgestaltung mit ausgewählten Mitteln, die je nach Zweck zum Einsatz kommen sollten. 3 Der Stilbegriff ist also sehr heterogen. Einerseits versteht man darunter die charakteristische Ausdrucksweise eines Menschen, einer Zeit, einer Gruppe, manchmal auch die (bewusste) Abweichung von einer sprachlichen Norm, die Zugehörigkeit zu einer Gattung oder eine funktionsgebundene Ausdrucksweise. In letzterem Fall unterscheidet man häufig verschiedene Funktionsstile wie Fachsprache, Amtssprache, Literatursprache, Jugendsprache, usw. Es geht also in der Stilistik um das ‚Wie‘ der Textgestaltung. Dabei kann man den Stil auf einer Mikroebene (Mikrostilistik) analysieren (Wortebene, Grammatik) oder auf einer Makroebene (Makrostilistik) und damit nach der Funktion fragen (Funktionalstile). 2.2 Mündlichkeit und Schriftlichkeit Die Beschreibung der Stilistik eines Texts betrifft zunächst die zwei hauptsächlichen Verwendungsweise von Sprache: gesprochen und geschrieben. Die genauere Untersuchung dieser Verwendungsweisen erfolgt in der Regel nach einem Muster, welches in einem mittlerweile klassisch gewordenen Aufsatz von Koch & Österreicher (1985) dargelegt wurde. Mündlichkeit, wie auch Schriftlichkeit, so argumentieren die Autoren, könne auf zwei verschiedene Arten beschrieben werden. Einerseits könne man die mediale Dimension von Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit untersuchen, andererseits die konzeptionelle Dimension. Mit dem Begriff ‚medial‘ ist zunächst der tatsächliche Vermittlungsweg gemeint, also die Art und Weise, wie mit Sprache kommuniziert wird. Das heißt nichts anderes, als dass Mündlichkeit auf Sprachschall (bzw. im Fall von Gebärdensprache auf visuellen Reizen) beruht und Schriftlichkeit auf Schriftzeichen. Neben 3 Etwas verknappt ausgedrückt verlief die Entwicklung in etwa so: Aus der Rhetorik im Allgemeinen und der Elocutio im Speziellen entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die literaturwissenschaftliche Stilistik, aus der im 20. Jahrhundert die Textlinguistik entstand. 92 Kapitel 6. Textlinguistik & Stilistik Kennzeichen Mündlichkeit: Kennzeichen Schriftlichkeit: räumliche und zeitliche Kopräsenz räumliche und zeitliche Getrenntheit situationsgebundene Themen nicht-situationsgebundene Themen parataktischer Stil hypotaktischer Stil reich an Modalpartikeln und Hesitationen, häufig unvollständige Sätze arm an Modalpartikeln, gut strukturiert, Orientierung an der Orthographie Verbindung mit nonverbalen Signalen keine nonverbalen Signale möglich freies Sprechen Orientierung an Textsorten Adressat ist anwesend stärkerer Adressatenbezug, da Adressat abwesend weniger Struktur mehr Struktur (da mehr Zeit und Möglichkeit der Korrektur vorhanden) Tabelle 15: Kennzeichen von Mündlichkeit & Schriftlichkeit diesem Vermittlungsweg spielt aber auch die Form der sprachlichen Äußerung eine Rolle. Dabei geht es um für Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit prototypische Weisen der Kommunikation. Das Paradebeispiel der konzeptionellen Mündlichkeit wäre ein Smalltalk mit dem Nachbarn am Gartenzaun. Prototypisch für Schriftlichkeit dagegen wäre etwa ein Gesetzestext. Zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und konzeptioneller Schriftlichkeit auf der einen und medialer Mündlichkeit und medialer Schriftlichkeit auf der anderen Seite existieren natürlich zahlreiche Mischformen. So ist z.B. das Halten einer Rede medial mündlich, konzeptionell jedoch eher schriftlich. Ein weiteres, interessantes Beispiel für eine Mischform sind Chats und SMS, die medial schriftlich, konzeptionell jedoch mündlich sind. Tabelle 15 gibt eine Übersicht über die prototypischen Kennzeichen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Mündlichkeit wird häufig auch als ‚Sprache der Nähe‘ bezeichnet, da sich die Kommunikationspartner räumlich, zeitlich und emotional näher sind, als bei der Schriftlichkeit - der ‚Sprache der Distanz‘. 2. Stilistik 93 2.3 Die konkrete Analyse Eine stilistische Analyse kann entweder vom Kleinen zum Großen (Bottom- Up-Ansatz) oder umgekehrt vom Großen zum Kleinen verfahren (Top- Down-Ansatz), wobei wir hier von letzterem Fall ausgehen. Es lässt sich eine Makro- und eine Mikroebene unterscheiden, wobei die Analyse beim Top-Down-Ansatz vom größten Element, nämlich dem Text, ausgeht und dann nach unten schreitet. Siehe dazu Abbildung 9, in der der Aufbau eines Textes gezeigt wird, an dem man sich entlang abarbeiten kann. Auf diese Weise vergessen Sie auch nicht Erscheinungen einer Ebene zu beschreiben (z.B. lautliche Besonderheiten). Den globalsten Beschreibungsrahmen stellt die Zuordnung des Textes zu einer Textsorte dar (z.B. Zeitungstext, wissenschaftlicher Text, juristischer Text, Prosa, usw.). Danach lohnt es sich zu betrachten, ob der Text eher der Schriftlichkeit oder der Mündlichkeit zuzuordnen ist. Als dritten Schritt kann man den Funktionsstil untersuchen ( Jugendsprache, Fachsprache, usw.) und schließlich die Textfunktion. Die Textfunktion beschreibt die Wirkungsabsicht, die mit der Gestaltung eines Textes verknüpft ist. So kann ein Text eine appellative Funktion haben, also zu etwas aufrufen, eine informative Funktion, eine expressive Funktion (also Gefühle ausdrücken) oder eine reine Unterhaltungsfunktion. Der Funktionsstil und die Textfunktion können sich innerhalb eines Textes verändern. Dies geschieht aber in der Regel sehr selten. Es ergibt sich folgender Ablauf: 1. Textsorte 2. Verwendungsweise ⎫ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎬ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎭ Makrostilistik 3. Funktionsstil 4. Textfunktion 5. Mikroanalyse mit stilistischen Fachwörtern Während sich die beschriebene Makroanalyse immer auf den ganzen Text oder mindestens auf mehrere Sätze bezieht, setzt die Mikroanalyse, für die wir im nachfolgenden Abschnitt ein eigenes Beschreibungsinstrumentarium bereitstellen, auf der Satzebene an. Nach der Beschreibung der Sätze (z.B. hypotaktisch, parataktisch), folgt die Beschreibung der Wörter (z.B. Nominalstil, Verbalstil, usw.; viele Wörter aus dem Computerbereich, 94 Kapitel 6. Textlinguistik & Stilistik Gefühlsbereich, Kirchenbereich, usw.) und schließlich die Lautgestaltung, wie in Abbildung 9 dargestellt. 2.4 Stilistische Begrifflichkeiten Die nachfolgende Liste führt die wichtigsten Fachbegriffe zur Beschreibung des Sprachstils eine Textes an. Viele der Begrifflichkeiten finden im Besonderen in der Literaturwissenschaft Verwendung. Adaption: Das Umformen eines Texts, sodass er nach der Transformation einer anderen Gattung angehört. Adhortation: Ermahnung. Allegorie: Verbildlichung eines abstrakten Begriffs (z.B. Gerechtigkeit) durch die Zuordnung eines konkreten Begriffs, meist einer Figur (z.B. Justitia). Alliteration: Ein Stabreim, also die Wiederholung des Anlauts, wie in mit Kind und Kegel oder Mann und Maus Alltagssprache: auch: Umgangssprache. Der Mündlichkeit angepasste Sprache, bzw. Verschriftung gesprochener Sprache. Amplificatio: Dieser Begriff bezeichnet die künstliche Erweiterung einer Erklärung, die zum eigentlichen Verständnis eines Sachverhaltes nicht nötig wäre. Amtsstil: Stil behördensprachlicher Texte. Meist gekennzeichnet durch Nominalstil und Passivierungen. Anachronismus: Nicht zeitgemäßer Ausdruck. Abbildung 9: Der Aufbau eines Textes 2. Stilistik 95 Anakoluth: Nicht richtig zu Ende geführter Satz, also ein Abbruch, z.B. Es ist immer seltsam, wenn ein Satz anders endet, als man es Kartoffel. Anapher: Wiederholung eines Wortes am Anfang eines Satzes/ Verses. Antithese: Die Vereinigung gegensätzlicher Begriffe in einer rhetorischen Figur: Der eine ist ein Held, der andere ein Feigling. Sehr bekannt ist auch die folgende antithetische Konstruktion aus der Bibel: Ihr wisst, dass es heißt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Verzichtet auf Gegenwehr, wenn euch jemand Böses tut! Mehr noch: Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halte auch die linke hin. Anschaulichkeit: Rückgriff auf konkrete Beispiele, bildhafte Sprache. Aphärese: Das Auslassen oder Ausfallen von Wortmaterial am Wortanfang. Apokope: Das Auslassen oder Ausfallen eines Vokals am Wortende, wenn das darauffolgende Wort mit einem Konsonanten beginnt (z.B. Ich hab statt ich habe). Aposiopese: Abbruch eines Satzes. Archaismus: Ein Wort, das früher häufiger, heute nur noch selten gebraucht wird (z.B. sintemal statt weil). Asyndeton: unverbundene Aufzählung. Auktoriales Erzählen: Der Erzähler nimmt einen allwissenden Standpunkt ein. Cento: Zitatcollage aus einem oder mehreren Zitaten. Chiasmus: Überkreuzstellung (z.B. aus Goethes Faust: Die Kunst ist lang, / Und kurz ist unser Leben.) Ellipse: Auslassung. Enumeratio partium: Aufzählung einzelner Teile. Besonders beliebtes Mittel im Barock. Epipher: Wiederholung von Wörtern am (Teil-)Satzende. So heißt es bei Nietzsche: Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit! 96 Kapitel 6. Textlinguistik & Stilistik Epitheton ornans: ein schmückendes Beiwort (z.B. bunte Blumen). Euphemismus: (sprachliche) Beschönigung, z.B. Kollateralschaden, statt zivile Kriegsopfer. Fachsprache: Sprache einer bestimmten (Berufs-)Gruppe mit speziellen Fachausdrücken und Wendungen. Figura etymologica: Wortspiel mit etymologisch verwandten Wörtern, z.B. einen Kampf kämpfen. Funktionsstil: Stilmittel mit einem gewissen Zweck stimmen mit diesem überein. Hendiadyoin: Anstatt nur eines Wortes, werden zwei Wörter mit derselben Bedeutung verwendet. Oft handelt es sich um feste Wendungen, die zusammen erst den richtigen Sinn ergeben (hierin liegt auch der Unterschied zur Tautologie), wie z.B. Hab und Gut statt Besitz. Hyperbel: Übertreibung. Hypotaktischer Stil: Sätze werden einander untergeordnet (Gegenteil: parataktischer Stil). Inversion: Ungewöhnliche Wortstellung. Klimax: Steigerung. Konnotat: Nebenbedeutung eines Wortes (im Gegensatz zu seiner wörtlichen Bedeutung, dem Denotat). Kumulation: Häufung von Stilmitteln. Leitmotiv: Sich wiederholende Motive/ Aussagen in einem Text. Litotes: Hervorhebung eines Begriffs durch die Nennung seines negierten Gegenteils (z.B. nicht hässlich statt schön). Zum Litotes wird manchmal auch der Diminutiv gezählt, also die Verkleinerung (z.B. ein passables Geschenk). Lokalkolorit: ortstypische Stilprägung. 2. Stilistik 97 Metapher: Ersetzung eines Ausdrucks (verbum proprium) durch einen anderen (verbum translatum), sodass Eigenschaften des letzteren auf den ersteren Übergehen. Man spricht auch vom Bildempfänger und vom Bildspender. Verwandt ist die Metapher mit dem Vergleich. Zum Beispiel Julia ist die Sonne (aus Shakespeares Romeo und Julia). Metonymie: Ersetzung eines Begriffs durch einen anderen, der jedoch in einer engen Beziehung zum ersten steht. Zum Beispiel Goethe lesen. Nominalstil: häufig in wissenschaftlichen/ fachsprachlichen Texten anzutreffende, auffällige Häufung von Substantiven. Oxymoron: Ein Oxymoron (Plural: Oxymora) ist die Verbindung mehrerer, sich widersprechender Elemente, wie etwa schwarze Milch oder Hassliebe. Oft sind solche Ausdrücke dann nicht mehr interpretierbar. Man spricht dann von einer Chiffre, also einer nicht auflösbaren Metapher. Parodie: Die Parodie ist eine Form des intertextuellen Aufgreifens von inhaltlichen oder strukturellen Elementen früherer Texte oder Textsorten. Sie hat einen spöttelnden und übertreibenen Unterton. Fehlt dieser, so spricht man von einer Kontrafaktur. Paranomasie: Die Verbindung von Wörtern, die einen ähnlichen Klang haben, semantisch aber nicht zusammengehören. Zum Beispiel Dichter und Denker. Parataktischer Stil: Gleichgeordnete Wörter, Wortgruppen oder Sätze werden z.B. durch und oder Kommata nebeneinander gleichgeordnet (Gegenteil: hypotaktischer Stil). Pejorativ: abwertender Ausdruck. Personifikation: Ein unbelebtes Objekt wird dargestellt, als sei es menschlich-belebt, z.B. Der Wind wanderte die Hauswand entlang (wandern ist normalerweise auf Menschen beschränkt). Das Gegenteil der Personifikation ist eine Enthumanisierung. Pleonasmus: Mehrfachkodierung der gleichen Bedeutung. Auch Tautologie genannt. Zum Beispiel runde Kugel. Es handelt sich also um eine Form der Redundanz. Rhetorische Frage: Scheinfrage; Frage, auf die die man keine Antwort erwartet (da man die Antwort schon kennt). 98 Kapitel 6. Textlinguistik & Stilistik Rhythmus: Abfolge der betonten und unbetonten Silben. Symbol: Element eines Texts, dessen Bedeutung über sich hinausweist. Tropus: (Plural: Tropen) Stilfigur, bei der ein Ausdruck durch einen bildhaften Begriff ersetzt wird. Wird als Überbegriff für verschiedene rhetorische Figuren gebraucht, u.a. für Metapher, Metonymie, Synekdoche, usw. Vulgarismus: derber Ausdruck. Zeugma: Unlogische Verbindung mehrerer Textteile, oft durch Auslassungen von Zwischengliedern. Zum Beispiel Ich heiße Fabian und Sie herzlich willkommen. Als Einführung in die Textlinguistik eignet sich Vater (1992). Einen Überblick über die Stilistik bietet Eroms (2008). Literaturtipps TEIL II SPRACHGESCHICHTE 7 | Phonologie & Lautwandel Gegenstand dieses Kapitels sind die beiden Lautverschiebungen. Daneben werden die wichtigsten Lautwandelerscheinungen des Vokalismus, wie die Mono- und die Diphthongierung, die Assimilierung oder die Senkung und des Konsonantismus, darunter die Auslautverhärtung, vorgestellt. 1 Allgemeines Die Sprachen der Welt lassen sich nach dem Grad ihrer Verwandtschaft zu verschiedenen Sprachgruppen, den sogenannten Sprachfamilien zusammenfassen. Neben anderen europäischen und einigen wenigen asiatischen Sprachen gehört das Deutsche zur indogermanischen Sprachfamilie. Weitere Beispiele für indogermanische (manchmal sagt man auch indoeuropäische) Sprachen sind z.B. Englisch, Italienisch, Indisch, Griechisch, Albanisch, Keltisch oder die slawischen Sprachen. Insgesamt bildet das Indogermanische mit etwa 140 verschiedenen Sprachen und über 3 Milliarden Sprechern aktuell die größte Sprachfamilie der Welt. 1 Da man annimmt, dass das Indogermanische sich etwa im 3. Jahrtausend v.d.Z. 2 entwickelt hat, lassen sich natürlich auch nur bedingt Aussagen über eine (hypothetische) gemeinsame Ursprache machen. Da sich allerdings aus sprachgeschichtlichen und sprachvergleichenden Studien theoretisch Formen dieser Sprachstufe rekonstruieren lassen, ist es sinnvoll diese zu kennzeichnen. Dies geschieht mit einem Stern, den man auch Asterisk nennt. So schreibt man z.B. für die rekonstruierte Form unseres nhd. Wortes ‚drei‘ 1 Der Begriff ‚Indoeuropäisch‘ findet immer seltener Verwendung, da zur Sprachfamilie des Indogermanischen erstens Sprachen gehören, die nicht in Europa gesprochen werden und es zweitens in Europa, z.B. mit dem Ungarischen oder Finnischen, Sprachen gibt, die gar nicht zu dieser Familie gehören. 2 Vor der Zeitrechnung. 1. Allgemeines 101 (32) idg. *treies Dieser Stern ist zwar optisch derselbe, den man macht, um grammtisch nicht korrekte Formen anzugeben, darf mit diesem allerdings nicht verwechselt werden! Gesehen haben wir jetzt auch, dass wir die verschiedenen Sprachen durch Abkürzungen anzeigen. So schreiben wir beispielsweise idg. statt indogermanisch, germ. statt germanisch, nwg. statt nordwestgermanisch, got. statt gotisch, ahd. statt althochdeutsch usw. Diese Abkürzungen sind relativ selbsterklärend. Die Übergänge zwischen den Sprachstufen, die wir in diesem und in den nachfolgenden Kapiteln behandeln, sind fließend. Wichtig ist jedoch, dass Sie einen groben Überblick darüber haben, zu welchen Zeiten welche Prozesse abgelaufen sind. Heute noch gebräuchlich ist die nachfolgende Gliederung des Deutschen, die auf den Linguisten Wilhelm Scherer (1841- 1886) zurückgeht: Bezeichnung: Zeit: Althochdeutsch ca. 750-1050 Mittelhochdeutsch ca. 1050-1350 Frühneuhochdeutsch ca. 1350-1650 Neuhochdeutsch ca. 1650-heute Tabelle 16: Die klassische Periodisierung des Deutschen Unübersehbar ist, dass jeder Abschnitt in dieser Periodisierung 300 Jahre umfasst. Rechnet man allerdings ab dem Beginn des Neuhochdeutschen 300 Jahre aufwärts, so landet man im Jahr 1950. Ab dieser Zeit spricht man auch oft vom ‚Gegenwartsdeutschen‘. Die Präfixe Alt-, Mittel-, Früh- und Neugeben dabei eine zeitliche Komponenten an. Mit hoch wird eine Angabe zur räumlichen Gliederung gemacht. In einer sehr groben Unterteilung unterscheidet man nämlich zwischen zwei deutschen Sprachräumen, die von der sogenannten Benrather Linie getrennt werden. Nördlich dieser Linie befindet sich der niederdeutsche Raum, wo in der gesprochenen Sprache die zweite Lautverschiebung nicht durchgeführt wurde. Südlich der Benrather Linie, die - wie in Abbildung 10 eingezeichnet - aufgrund der charakteristischen Sprachunterschiede auch machen-maken- Linie genannt wird, befindet sich der hochdeutsche Raum. Der Begriff ‚Hochdeutsch‘ wird in der Umgangssprache häufig mit Standarddeutsch 102 Kapitel 7. Phonologie & Lautwandel gleichgesetzt - was Sie allerdings nicht verwechseln sollten. Das Hochdeutsche erkennt man an der durchgeführten oder teilweise durchgeführten zweiten Lautverschiebung (dazu aber gleich mehr). Wie in der Karte eingetragen, gibt es noch eine weitere Grenzlinie, die sogenannte Speyerer Linie oder Apfel-Appel-Linie. 3 Der Teil Deutschlands, in dem die zweite Lautverschiebung vollständig durchgeführt wurde, nennt man den mitteldeutschen Sprachraum (sozusagen das ‚Appel- Gebiet‘). Der südlichste Teil, in dem sich auch Bayern befindet, ist derjenige Bereich, in dem die zweite Lautverschiebung nur teilweise durchgeführt wurde. Dies ist der oberdeutsche Raum. 2 Die Lautverschiebungen 2.1 Die erste Lautverschiebung Im Zeitraum zwischen etwa 1000 und 500 v.d.Z. kam es zu lautlichen Veränderungen innerhalb des Indogermanischen, die die Abspaltung des Germanischen, sozusagen als Nebenzweig, zur Folge hatte. Man spricht auch vom Urgermanischen und ab der Abspaltung des Gotischen vom Nordwestgermanischen. Diese lautlichen Veränderungen, die zu dieser Zeit von statten gingen, wurden zuerst von Jacob Grimm beschrieben und sind heute unter dem Namen erste oder germanische Lautverschiebung bekannt. Nach ihrem mutmaßlichen Entdecker spricht man in der angelsächsischen Tradition auch von Grimm’s Law. 4 Da die erste Lautverschiebung noch vor dem Kontakt mit den Römern abgeschlossen war, haben sich lateinische Lehnwörter, die ins Germanische aufgenommen wurden, nicht lautlich verändert. Da das Lateinische aber zum Indogermanischen gehört, lassen sich lateinische Wörter gut als Beispiele für die Stufe des Indogermanischen heranziehen. Betroffen von der ersten Lautverschiebung sind die indogermanischen stimmlosen Verschlusslaute (sog. Plosive) [p], [t] und [k], die sogenannten Tenues und die stimmhaften Plosive [b], [d] und [g], die sogenannten 3 Solche Linien, die zwei Dialektgebiete abgrenzen, nennt man in der Linguistik etwas unglücklich ‚Isoglossen‘. Der Name ist eigentlich verwirrend, da ‚iso‘ normalerweise gleich bedeutet und in der Geographie Isolinien Punkte mit gleichen Eigenschaften verbinden und nicht unbedingt verschiedene Gebiete abgrenzen. Dennoch wird er beibehalten, obwohl auch passendere Begriffe, wie z.B. ‚Heteroglosse‘, vorgeschlagen wurden (Sihler 200: 260). 4 Allerdings hatte Kanne (1804) schon ähnliche Beobachtungen gemacht. Eine genauere Formulierung fand das ‚Grimm’sche Gesetz‘, das von Grimm selbst nie ‚Gesetz‘ genannt wurde, in einer Publikation von Rask (1811), die Grimm vorgelegen hatte. 2. Die Lautverschiebungen 103 Abbildung 10: Die Benrather und die Speyerer Linie Mediae sowie ihre behauchten Pendants [b h ], [d h ] und [g h ]. Die nachfolgende Tabelle gibt einen sehr kurz gefassten Überblick über den Wandel im Rahmen der ersten Lautverschiebung (mit dem Buchstaben , genannt ‚Thorn‘, bezeichnet man einen Laut, wie im englischen thick): 104 Kapitel 7. Phonologie & Lautwandel Indogermanisch: Germanisch: p, t, k → f, , h b, d, g → p, t, k b h , d h , g h → b, d, g Tabelle 17: Verschiebungen im Zuge der ersten Lautverschiebung 2.2 Die zweite Lautverschiebung War im Zuge der ersten Lautverschiebung das Germanische entstanden, so führte die zweite Lautverschiebung ab etwa 500 n.d.Z. zur Entstehung des (Althoch-)Deutschen. Wie schon bei der ersten Lautverschiebung, so handelt es sich auch bei der zweiten um eine Verschiebung im Bereich der Konsonanten. Die nachfolgende Tabelle gibt eine knappe Übersicht über die zweite Lautverschiebung: Germanisch: (Althoch-)Deutsch: f, , h → f, d, h b, d, g → b, t, g p, t, k → ff/ pf, tz/ zz, (k)ch/ h Tabelle 18: Verschiebungen im Zuge der zweiten Lautverschiebung Die zweite Lautverschiebung wurde im Süden Deutschlands am stärksten, im Norden am wenigsten stark durchgeführt. Wirft man einen Blick über die Nordsee nach Großbritannien, so finden sich zahlreiche Belege, dass diese germanischen Sprache gar nicht von dieser Verschiebung betroffen wurde, z.B. engl. pipe, nhd. Pfeife oder engl. thing, nhd. Ding. Aufgabe: Viehzucht: Im Lateinischen entsprechen den beiden Konstituenten dieses Wortes die etymologisch verwandten Wörter pecu und ducere. Wie sind die konsonantischen Unterschiede in der Lautung zu erklären? Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Herbst 2010 Beispielaufgabe Lautverschiebung 3. Lautwandel im Vokalismus 105 3 Lautwandel im Vokalismus In diesem Kapitel über den Vokalismus werden die relevanten Veränderungen der Vokale mit dem Schwerpunkt vom Mittelzum Neuhochdeutschen behandelt. Vokale, umgangssprachlich auch als Selbstlaute bezeichnet, sind eine Klasse von Lauten, die selbstständig gebildet werden und bei welchen im Zuge der Artikulation keine Verengung im Mundraum gebildet werden muss (siehe auch das Kapitel über Phonetik & Phonologie im gegenwartssprachlichen Teil). 3.1 Mono- und Diphthongierung Von den Monophthongen und den Diphthongen Vokale können kurz oder lang gesprochen werden. Im Deutschen markiert man im Schriftbild die Länge von Vokalen oft durch sogenannte ‚Dehnungszeichen‘, wie z.B. einem < h > , wie in Sehne oder einem < e > wie in Liebe. Wir können an diesen Beispielen mehrere Dinge ablesen. Erstens spricht man sowohl das < h > als auch das < e > in den Beispielen nicht aus. Bei den gesprochenen Vokalen handelt es sich vielmehr um einfache Laute, die nur einen einzigen Lautwert aufweisen, nämlich / e : / und / i : / . Man spricht von sogenannten ‚Monophthongen‘ (ein Wort, das man wie auch ‚Diphthong‘ mit zwei < h > schreibt). Zweitens fällt auf, dass hier eine ganz besondere Art der Hervorhebung Verwendung findet. Auf diese sei hier kurz eingegangen. Zwischen spitze Klammer ( < und > ), setzt man all diejenige Schrift, von der man anzeigen möchte, dass es sich um sogenannte Grapheme, also um Schriftzeichen, handelt. 5 Damit kann man genau anzeigen, wie etwas geschrieben wurde oder wird. Zwischen Virgeln, also Schrägstriche (/ und / ) schreibt man Phoneme, gibt also die Lautung innerhalb eines Sprachsystems an. Will man auf dieser Ebene die Länge eines Vokals markieren, so schreibt man hinter den entsprechenden Vokal ein Längungszeichen, das unserem Doppelpunkt im Deutschen ähnelt (z.B. / i : / ). Kursiviert werden im Allgemeinen Beispielwörter oder -sätze. Manchmal aber auch einzelne Buchstaben aus einem Text. Letzteres mag verwirren. Warum sollte man einen Buchstaben aus einem Text kursivieren, wo wir doch gesagt haben, dass wir diese in spitze Klammern schreiben? Nun, das liegt meist daran, dass die mittelalterlichen Texte, die uns heute vorliegen, oft von Philologen später bearbeitet und zur besseren Lesbarkeit vereinheitlicht wurden. Über die Aussprache im Mittelalter weiß man natürlich so gut wie 5 Das ist noch eine vorläufige Definition. Für eine genaue Definition des Begriffs ‚Graphem‘ siehe aber Seite 126. 106 Kapitel 7. Phonologie & Lautwandel nichts. Allerdings kann man durch intensive Textvergleiche mit einiger Wahrscheinlichkeit herausfinden, wie bestimmte Buchstaben oder Buchstabenkombinationen ausgesprochen wurden. Die Langvokale sind nach dieser editorischen Tätigkeit heute meist mit einem Zirkumflex markiert. Da hier nicht der Originaltext wiedergegeben wird, können wir also ruhig manchmal auch kursiv schreiben: î oder û, wie z.B. in mîn hûs, nhd. ‚mein Haus‘. Allerdings werden diese Ebenen oft durcheinander gebracht. Auch in einschlägigen Lehrbüchern. 6 Nun gibt es auch Vokale, die nicht nur einen einfachen Lautwert haben, sondern mehrere Lautwerte sozusagen in sich vereinen. Man spricht von Zwielauten oder Diphthongen. Bei uns im Deutschen kommen solche Diphthonge ziemlich häufig vor, wie in deutsch: [d > OY t S ]. Diese seltsamen Symbole, die nun in eckige Klammern geschrieben werden, geben auch die Lautung wieder. Im Gegensatz zu der Lautung, die in Schrägstrichen geschrieben wird, handelt es sich nun nicht mehr um eine Betrachtung, die auf einem einzelnen Sprachsystem beruht, sondern um eine allgemeinere Betrachtungsweise. Die Ebenen, die hier unterschieden werden sind die Phonetik und die Phonologie. Siehe dazu Kapitel 1 im gegenwartssprachlichen Teil des Buches. Neuhochdeutsche Monophthongierung Sprachen bleiben nicht immer gleich. Im Laufe ihrer Entwicklung verändern sie sich in einem nie endenden Prozess. Eine Besonderheit des Übergangs vom Mittelzum Neuhochdeutschen ist der Wandel bestimmter Diphthonge zu Monophthongen. Man spricht von der neuhochdeutschen Monophthongierung. Die mhd. Diphthonge [ > i @ ], [ > u @ ] und [ > Y@ ] wurden dabei spontan zu den langen Vokalen [i : ], [u : ] und [ Y: ] monophthongiert. Von einem spontanen Lautwandel spricht man nicht deswegen, weil das plötzlich aus einer Laune heraus geschah, sondern weil die von einem Wandel betroffenen Laute sich nicht aufgrund einer besonderen lautlichen Umgebung verändert haben, sondern ohne Berücksichtigung auf die Nachbarlaute. Kurz zusammengefasst ergibt sich also: (33) a. mhd. [ > i @ ] > nhd. [i : ] b. mhd. [ > u @ ] > nhd. [u : ] c. mhd. [ > Y@ ] > nhd. [ Y: ] 6 In althochdeutschen Texten findet man dagegen manchmal einen Strich über den Vokalen. Dieser bedeutet aber genau dasselbe wie der Zirkumflex in den mhd. Texten: eine Vokallängung. 3. Lautwandel im Vokalismus 107 Da diese phonetischen Symbole für den Anfänger schwer zu lesen sind, merkt man sich die neuhochdeutsche Monophthongierung mit einem alten Merkspruch: Mhd. liebe guote brüeder > nhd. Liebe gute Brüder Die neuhochdeutsche Monophthongierung wurde etwa ab dem 11. bzw. ab dem 12. Jahrhundert durchgeführt. In manchen Dialekten, besonders im Bairischen, wurde sie allerdings nicht oder nur teilweise durchgeführt. 7 Aufgabe: Beschreiben Sie den lautlichen und graphischen Wandel zum Nhd. des mhd. Wortes süezer. Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Herbst 2002 Beispielaufgabe süezer Neuhochdeutsche Diphthongierung Ebenso wie aus Diphthongen Monophthonge wurden, veränderten sich ab dem 12. Jahrhundert einige Monophthonge zu Diphthongen. Dies trifft auf die mhd. Langvokale [i : ], [y : ] und [u : ] zu. Für den Langvokal [y : ] gilt eine Besonderheit. Geschrieben wird er < iu > , sieht also graphisch aus wie ein Diphthong, gesprochen wird er allerdings wie unser heutiges < ü > (natürlich lang). Diese Monophthonge wurden - ebenfalls spontan - nach folgendem Muster diphthongiert: (34) a. mhd. [i : ] > nhd. [ > a I ] b. mhd. [ Y: ] > nhd. [ > OY ] c. mhd. [u : ] > nhd. [ > a U ] Auch hier gibt es wieder einen Merkspruch: 7 Beachten Sie den Unterschied zwischen bairisch (= auf den Dialekt bezogen) und bayerisch (= auf den geographischen Raum Bayerns bezogen). 108 Kapitel 7. Phonologie & Lautwandel Mhd. mîn niuwes hûs > nhd. mein neues Haus Und auch hier gibt es wieder dialektale Ausnahmen, besonders im niederdeutschen Raum. Aufgabe: Erläutern Sie die Veränderungen folgender Wörter in Lautung und Schreibung: mhd. tûsent, hiute. Beispielaufgabe tûsent 3.2 Neuhochdeutsche Dehnung - Teil 1 Vom Mittelzum Neuhochdeutschen findet sehr häufig eine Dehnung kurzer Vokale statt. Dies geschieht in betonten, offenen Silben. Offene Silben sind alle diejenigen Silben, die auf einen Vokal enden. Enden sie auf einen Konsonanten (wie z.B. in mhd. tac, nhd ‚Tag‘), gelten sie als geschlossen. Kurze Vokale in offenen, betonten Silben werden gedehnt. So wird beispielsweise: (35) a. mhd.vil [i] > ndh. viel [i : ] b. mhd. leben [e] > nhd. leben [e : ] Der Vergleich der beiden Beispiele zeigt, dass nicht in allen Fällen auch eine graphische Markierung der lautlichen Veränderung stattgefunden hat. Während im ersten Fall ein Dehnungs-e eingefügt wurde, ist eine solche Markierung (z.B. Dehnungs-h) im zweiten Fall unterblieben. Die neuhochdeutsche Dehnung, die sich vom 12. bis zum 14. Jahrhundert ausbreitete, wurde zwar mit einiger Konsequenz durchgeführt, blieb aber vor [t], [n] und [m] häufig aus. 3. Lautwandel im Vokalismus 109 Vor [t], [n] und [m] wurde häufig nicht gedehnt. Da im Nhd. Kurzvokale oftmals durch eine Verdopplung des nachfolgenden Konsonanten angezeigt werden, sind in unserem Schriftbild < tt > , < nn > und < mm > entsprechend häufig (wie z.B. in Kette, Tanne oder Amme.) So enthielt mhd. komen einen Kurzvokal genauso wie heute nhd. kommen. Allerdings taucht die neuhochdeutsche Dehnung auch in zwei Ausnahmefällen in geschlossenen Silben auf. Viele monosyllabische Wörter weisen mehrsilbige Flexionsformen auf. Das ist heute noch so. Im Gegensatz zum einsilbigen Nominativ Tag ist die Genitivversion Tages zweisilbig. Betrachten wir die Silbenstruktur des Genitivs so erhalten wir Ta-ges und haben damit eine offene, betonte Silbe! Betrachten wir nun die mhd. Entsprechungen tac und tages, so verhält es sich entsprechend. So wurde in einem Analogieschluss auch mhd. tages [a] > nhd. Tages [a : ]. Einsilbige, auf einen Konsonanten endende mhd. Wörter wurden ebenfalls gedehnt, wenn eine entsprechende Flexionsform mit offener Tonsilbe existierte. Bevor wir uns den zweiten Fall ansehen, in dem nicht-offene Tonsilben gekürzt wurden, machen wir einen Exkurs zur Schallfülle, der sogenannten Sonorität. Aufgabe: Erläutern Sie die Entstehung der nhd. Schreibung < ie > für / i: / am Beispiel des Wandels des mhd. Wortes si zu nhd. sie. Beispielaufgabe si > sie 110 Kapitel 7. Phonologie & Lautwandel Exkurs: die Sonoritätshierarchie Manche Laute sind lauter als andere. Physikalisch, genauer gesagt akustisch, drückt sich diese Tatsache in der Amplitude aus. Wahrnehmungspsychologisch in der wahrgenommenen Lautstärke bzw. in der Schallfülle. (Das ist streng genommen so nicht ganz richtig, in diesem Fall reicht diese Definition aber. Becker (2012: 61) z.B. weist darauf hin, dass der Begriff Sonorität einfach „nicht gut definiert“ ist.) Wenn sich z.B. jemand in fünf Metern Abstand vor Sie stellt und alle Laute des Deutschen hintereinander artikuliert, werden Sie einige Laute besser verstehen als andere. Wiederholt er dieses Experiment in 10, 20 oder 100 Metern Entfernung, so werden Sie wahrscheinlich manche Laute gar nicht mehr hören, andere schon. Nach der Schallfülle der Laute, ihrer sogenannten Sonorität, hat man dementsprechend versucht, eine Hierarchie zu erstellen. Am sonorsten sind die offenen Vokale. Sie können auch am lautesten artikuliert werden. Am wenigsten sonor sind die Plosive. Sie heißen so, weil bei ihrer Artikulation ein Verschluss gebildet und anschließend gesprengt wird, wie bei einer Explosion - beispielsweise beim [p] im Wort Plosiv. In folgender Reihenfolge nimmt die Sonorität ab: Vokale → Halbvokale → Liquide → Nasale → Frikative → Plosive. Zwischen den Vokalen und Plosiven stehen also verschiedene andere Lautklassen. Nach den Vokalen kommen - über die Halbvokale, wie das [j] - die Liquide (wie [l] und [r]) und Nasale (wie [m] und [n]), die noch eher den Vokalen ähnlich sind. Über die Frikative, also die Reibelaute, wie z.B. [s] oder [f ], geht es zu den Plosiven über. Die Sonoritätshierarchie spielt vor allem beim Aufbau von Silben eine Rolle. 3.3 Neuhochdeutsche Dehnung - Teil 2 Wir haben nun gesehen, dass die Liquide [l] und [r] sowie die Nasale [m] und [n] in der Sonoritätshierarchie nahe an den Vokalen stehen. Oft wurden daher monosyllabische Wörter, die auf [l], [r], [m], [n] oder manchmal auch [r] + einen anderen Konsonanten (genauer: ein Dental) enden, ebenfalls gedehnt. Daher wurde aus mhd. swert [ E ] > nhd. Schwert [e : ] oder aus mhd. wem [ E ] > nhd. wem [e : ]. 3. Lautwandel im Vokalismus 111 Aufgabe: Erläutern Sie den Lautwandel des mhd. Wort sales (Genitiv des nhd. Wortes Saal). Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2010 Beispielaufgabe sales 3.4 Neuhochdeutsche Kürzung Auch der umgekehrte Fall, nämlich dass Vokale nicht gedehnt, sondern zum Neuhochdeutschen hin gekürzt wurden, kommt vor. Allerdings wurde diese Lautwandelerscheinung weit weniger konsequent durchgeführt als die neuhochdeutsche Dehnung. Dafür ist sie aber auch leichter zu lernen. Mhd. Langvokale wurden im Zuge der neuhochdeutschen Kürzung häufig vor Konsonantenclustern, also vor Ansammlungen von Konsonanten, gekürzt. In den meisten Fällen handelt es sich bei diesen Clustern um < ht > und < r > + Konsonant. Die Kombination < ht > wird gesprochen als [xt], wie z.B. auch in unserem Wort dachte. So wurde etwa in den folgenden Fällen gekürzt: (36) a. mhd. dâhte > nhd. dachte b. mhd. brâhte > nhd. brachte c. mhd. hôrchen > nhd. horchen Aufgabe: Erläutern Sie die Veränderung des mhd. Wortes wærlîche zum nhd. Wort wahrlich in Lautung und Schreibung. Beispielaufgabe wærlîche 3.5 Apokope, Synkope und Sprossvokal Während das Althochdeutsche noch reich an verschiedenen Vokalen in allen Silben der Wörter war, beginnt sich bereits zum Mittelhochdeutschen hin dieser Vokalreichtum in den Nebensilben abzuschwächen. Vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen findet eine weitere Nebensilbenabschwächung statt. Meist fällt ein unbetontes [ @ ], graphisch repräsentiert 112 Kapitel 7. Phonologie & Lautwandel als < e > im Wortauslaut oder zwischen zwei Konsonanten aus. Geschieht dies im Wortauslaut, spricht man von einer Apokope. Beispiele für apokopierte [ @ ] sind z.B.: (37) a. mhd. deme > nhd. dem b. mhd. schœne > ndh. schön Den umgekehrten, selteneren Fall, der Anfügung eines Vokallautes am Wortende bezeichnet man als Vokalepithese. Fällt ein unbetonter Vokal im Wortinnern, zwischen zwei Konsonanten aus, spricht man von einer Synkope, man sagt auch, dass der Vokal synkopiert wird: (38) a. mhd. kumet > nhd. kommt b. mhd. angest > nhd. Angst Manchmal kommt es aber auch vor, dass Vokale nicht ausfallen, sondern im Gegenteil - der leichteren Aussprache wegen - zwischen Konsonanten eingeschoben werden. Dieses Phänomen des sogenannten Sprossvokals taucht besonders bei monosyllabischen Wörter auf, die einen Langvokal enthalten, der diphthongiert wird. So z.B. bei mhd. bûr > nhd. bauer. Das Phänomen des Sprossvokals wird auch häufig bei Menschen mit Deutsch als Zweitsprache beobachtet. So kommt etwa Senef statt Senf zustande. Der Ausfall eines unbetonten Vokals am Wortende heißt Apokope. Fällt ein unbetonter Vokal zwischen zwei Konsonanten aus, spricht man von Synkope. Wird ein Vokal zur Ausspracheerleichterung eingeschoben, so bezeichnet man ihn als Sprossvokal. Aufgabe: Beschreiben Sie den Laut- und Schriftwandel des mhd. Wortes ernest. Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2002 Beispielaufgabe ernest 3. Lautwandel im Vokalismus 113 3.6 Assimilation Benachbarte Laute passen sich häufig im Laufe der Entwicklung eines Wortes aneinander an, bzw. ein Laut passt sich dem anderen an. Oftmals wird dies im Schriftbild durch folgende Veränderungen deutlich: < mb > > < mm > , < nt > > < nd > , wie umbe > umme. Aufgabe: Erläutern Sie den Lautwandel von mhd. juncfrouwe zu nhd. Jungfrau. Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2010 Beispielaufgabe Jungfrau 3.7 Senkung Betrachten wir die Vokale in einem einfachen Vokaldreieck, wie in Abbildung 11, so lässt sich ablesen, dass die einzelnen Vokale mit unterschiedlichen Zungenhöhen artikuliert werden, wie der Ordinate zu entnehmen ist. Vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen wurde die Vokale [u] und [ Y ] (graphisch repräsentiert durch < u > und < ü > ) zu den Vokalen [o] und [ø] (graphisch repräsentiert durch < o > und < ö > ) gesenkt. Meist geschah dies vor Nasalen: (39) a. mhd. sunne > nhd. Sonne b. mhd. künec > nhd. König Auch im ersten Diphthonganteil kamen ab dem 13. Jahrhunderts Senkungen vor. Diese wurden aber nicht immer auch graphisch markiert. Beispiele für eine Senkung des ersten Diphthonganteils sind: (40) a. mhd. keiser > nhd. Kaiser b. mhd. ouge > nhd. Auge In Diphthongen wie in mhd. kein wurde der erste Bestandteil des Diphthongs auch gesenkt, allerdings veränderte sich hier das Schriftbild nicht. 114 Kapitel 7. Phonologie & Lautwandel Man sprach im Mhd. / k > ein/ nicht wie heute / k > a I n/ . Manchmal spricht man hinsichtlich dieses Phänomens auch vom neuhochdeutschen Diphthongwandel, der wie folgt aussah: mhd. [ > ei] > nhd. [ > a I ]; mh. [ > øu] > nhd. [ > OY ]; mdh. [ > ou] > nhd. [ > a U ]. Aufgabe: Welche lautlichen und graphischen Veränderungen sind bei sun aufgetreten? Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Herbst 2002 Beispielaufgabe sun 3.8 Rundung und Entrundung Vokale werden entweder mit gerundeten oder ungerundeten Lippen artikuliert. Entweder macht man also einen Kussmund oder nicht ([ø] vs. [e]). Vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen hin gab es sowohl Rundungsals auch Entrundungsprozesse, die hauptsächlich dann stattfanden, wenn dem betroffenen Vokal ein Laut folgte, der im vorderen Teil des Vokaltrakts artikuliert wird. Genauer gesagt handelt es sich um Lau- Abbildung 11: Ein sehr vereinfachtes Vokaldreieck des Deutschen 4. Lautwandel im Konsonantismus 115 te, die labial, dental oder alveolar produziert werden. So wird im Zuge der Rundung z.B.: (41) a. mhd. helle > nhd. Hölle b. mhd. wirde > nhd. Würde Und im Zuge der Entrundung z.B.: (42) a. mhd. küssen > nhd. Kissen b. mhd. spriutzen > nhd. spritzen 4 Lautwandel im Konsonantismus 4.1 s-Wandel Der Wandel des Frikativs [s] vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen hin wird im bayerischen Examen immer wieder gefragt. Es empfiehlt sich daher nicht nur die Wandelerscheinungen zu beherrschen, sondern vielleicht auch ein Beispiel zu merken. Ab dem 13. Jahrhundert wurde aus wortanlautendem [s] vor Konsonant ein [ S ]. In der Schreibung schlägt sich dieser phonologische Wandel durch den Wandel von < s > zu < sch > wieder: (43) a. mhd. snit > nhd. Schnitt b. mhd. swîn > nhd. Schwein Phonologisch zwar durchgeführt, aber in der Schreibung unterblieben ist dieser auch als Anlautverhärtung bezeichnete Prozess, wenn der folgende Konsonant ein [p] oder ein [t] war: (44) a. mhd. stein > nhd. Stein b. mhd. sprechen > nhd. sprechen 116 Kapitel 7. Phonologie & Lautwandel Aufgabe: Charakterisieren Sie den lautlichen Wandel von slougen vom Mhd. zum Nhd. Gestellt im Staatsexamen, Herbst 2003 Beispielaufgabe slougen 4.2 w-Wandel In mehreren Fällen hat sich das mhd. [v], geschrieben als < w > , zum Neuhochdeutschen hin gewandelt. Dies geschah einerseits nach Langvokalen oder Diphthongen zum artikulatorisch ähnlichen [u]/ [ U ]: (45) mhd. triuwe > nhd. Treue Nach [a : ] wird [v] zum artikulatorisch nahen Diphthong [ > a U ]: (46) mhd. brâwe > nhd. Braue Schließlich wird [v] nach einem Liquid (/ l/ oder / r/ ) zum stimmhaften Plosiv [b]: (47) mhd. varwe > nhd. Farbe Aufgabe: Charakterisieren Sie den lautlichen Wandel von vrouwe vom Mhd. zum Nhd. Gestellt im Staatsexamen, Herbst 2003 Beispielaufgabe vrouwe 4.3 j-Wandel Der Halbvokal < j > fällt in intervokalischer Stellung aus. So entstehen etwa die Form: 4. Lautwandel im Konsonantismus 117 (48) mhd. saejen > nhd. sähen Folgt < j > auf einen Liquid (zur Erinnerung: / l/ oder / r/ ), kann < j > zu < g > werden: (49) mhd. scherje > nhd. Scherge Diese Anpassung kann man auch als Assimilation bezeichnen. 4.4 Auslautverhärtung Die Auslautverhärtung kennen wir auch aus dem Neuhochdeutschen. Allerdings wird sie aufgrund unserer schriftfixierten Kultur häufig nicht wahrgenommen. So sprechen wir den Genitiv Tages mit einem stimmhaften velaren Plosiv [g], den Nominativ dagegen mit einem stimmlosen velaren Plosiv [k] (Tag ). Geschrieben wir allerdings in beiden Fällen ein < g > . Dies hat seinen Grund in einem orthographischen Prinzip, nämlich der Morphemkonstanz (siehe ausführlich Seite 137). Im Mittelhochdeutschen hat diese Form der Auslautverhärtung auch schon existiert. Dabei werden die Konsonanten [b], [d] und [g], also die stimmhaften Plosive, in wortfinaler Position zu ihren stimmlosen Pendants [p], [t] und [k] verhärtet. Im Unterschied zum Neuhochdeutschen wurde dieser Unterschied allerdings im Schriftbild auch umgesetzt. So schrieb man mhd. < tac > statt nhd. < Tag > , aber den Genitiv: mhd. < tages > . Auslautverhärtung (vereinfacht): Die stimmhaften Plosive [b], [d] und [g] werden in wortfinaler Position zu den stimmhaften Plosiven [p], [t] und [k] verhärtet. Auch das Phänomen, dass wortfinal auftretendes [n] und [s] oft zu [t] wird, die sogenannten Dentalepithese, wird manchmal zur Auslautverhärtung gezählt (z.B. Hennings 2003: 42): (50) a. mhd. nieman > nhd. niemand b. mhd. palas > nhd. Palast Die Auslautverhärtung ist eigentlich kein Lautwandelphänomen, sondern ein Lautwechselphänomen. Da sich aber die Schreibung verändert hat, ha- 118 Kapitel 7. Phonologie & Lautwandel ben wir sie in diesem Kapitel besprochen. Das nachfolgende Kapitel behandelt nun Phänomene auf synchroner Ebene. Aufgabe: Welche lautlichen und graphischen Veränderungen sind bei leit zum Neuhochdeutschen eingetreten? Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Herbst 2002 Beispielaufgabe leit Übersichtlich und knapp bieten sowohl Hennings (2003) als auch Weddige (2007) einen Überblick über den Lautwandel. Literaturtipps 8 | Phonologie & Lautwechsel Hauptgegenstand dieses kurzen Kapitels sind der Primärberührungseffekt und der grammatische Wechsel. Für letzteren wird mit dem Vernerschen Gesetz eine Erklärung geliefert. Im Gegensatz zu den Lautwandelphänomenen, die diachron ablaufen, also ein Laut oder eine Lautfolge sich von einem Zeitpunkt A zu einem späteren Zeitpunkt B verändern, handelt es sich bei Lautwechselerscheinungen um solche, die synchron, also gleichzeitig, ablaufen: „Innerhalb des Mittelhochdeutschen können in etymologisch miteinander verwandten Wörtern öfter als im Nhd. bestimmte Phoneme (sowohl Vokale als auch Konsonanten) miteinander wechseln“ (Hennings 2003: 45). Wie schon bei den Wandelprozessen, können auch die Wechselerscheinungen sowohl auf der Ebene des Vokalismus als auch der Ebene des Konsonantismus auftreten. Dass diese Alternanzen heute nicht mehr so häufig sind, lässt sich durch einen Prozess erklären, den man Systemausgleich nennt, also die Bestrebung eines Sprachsystems, Unregelmäßigkeiten auszubügeln. Um synchrone Phänomene erklären zu können, bedarf es häufig des Verständnisses diachroner Prozesse. Zu solchen diachronen Veränderungen gehört beispielsweise die Nebensilbenabschwächung vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen. Diese setzte ab etwa 900 n.d.Z. ein und führte zu einer Ersetzung des ausgebildeten Nebensilbensystems des Althochdeutschen durch Schwas: [ @ ]. So können im Ahd. noch verschiedene Vokale in Nebensilben stehen (z.B. ahd. mahhôn), heute stehen hier nur noch unbetonte Schwalaute (mhd./ nhd. machen). Wir werden uns in diesem kurzen Kapitel auf die Lautwechselerscheinungen des Konsonantismus konzentrieren. Die Lautwechselerscheinungen des Vokalismus - z.B. den Ablaut, den wir heute noch in etymologisch verwandten Wörtern finden (etwa nhd. binden vs. gebunden) - werden wir im Zuge der Verben im Kapitel über Morphologie mitbehandeln. 120 Kapitel 8. Phonologie & Lautwechsel Die Nebensilbenabschwächung: Ab etwa 900 n.d.Z wurde das vokalreiche Nebensilbensystem des Althochdeutschen abgeschwächt. Ab dem Mittelhochdeutschen sind die einzigen Vokale, die in Nebensilben stehen können, das Schwa und das Lehrerschwa. 1 Primärberührungseffekt Aufgrund von Veränderungen, die noch in der Zeit vor der ersten Lautverschiebung liegen (und uns hier auch nicht näher interessieren müssen), wechseln im Mhd. (51) a. < k > , < g > , < ch > mit < h > ( < ch > ) vor < t > b. < p > , < b > , < pf > , < ff > mit < f > vor < t > Beispiele für diesen Primärberührungseffekt sind die Alternanzen zwischen mhd. schrîben - schrift, mügen - mohte, denken - dâhte, tragen - traht, phlegen - phliht oder geben - gift. Im Mhd. wechseln an etymologisch verwandter Stelle die Konsonanten < k > , < g > , < ch > mit < h > ( < ch > ) vor < t > sowie < p > , < b > , < pf > , < ff > mit < f > vor < t > . Man spricht vom sogenannten Primärberührungseffekt. 2 Intervokalischer Konsonantenschwund Etwa im 12. Jahrhundert kommt es zu einem Ausfalls des Hauchlauts in intervokalischer Stellung und zum Ausfalls der, ebenfalls in intervokalischer Position befindlichen, stimmhaften Plosive [b], [d] und [g] vor [t]. Der erste Fall zeigt sich im Schriftbild durch den Ausfall des Graphems < h > : (52) mhd. vâhen - mhd. vân Der Halbgeviertsstrich zwischen den Wörtern zeigt an, dass es sich um Formen handelt, die etwa zur selben Zeit nebeneinander auftauchen. Mit dem 3. Grammatischer Wechsel und Vernersches Gesetz 121 Ausfall von < h > geht eine Kontraktion der Vokale einher. Der zweite Fall, der Ausfall der stimmhaften Plosive in intervokalischer Stellung mit bei nachfolgendem [t], zeigt sich besonders in der Flexion der Verben. Auch hier folgt eine Kontraktion der Vokale, um einen Hiatus (also den Zusammenprall zweier Vokale) zu vermeiden: (53) ahd. gibit > mhd. gît Ab dem 12. Jahrhundert fallen in intervokalischer Stellung der Hauchlaut sowie die stimmhaften Plosive [b], [d] und [g] aus, wenn ein [t] folgt. Man spricht einfach von einem intervokalischen Konsonantenschwund. 3 Grammatischer Wechsel und Vernersches Gesetz Besonders in der Flexion starker Verben, aber teilweise auch in der Wortbildung, spielt ein Konsonantenwechselphänomen eine Rolle, das man seit Jacob Grimm als Grammatischen Wechsel bezeichnet. Diese Begrifflichkeit mag uns heute etwas verwirrend erscheinen, da es sich nur um den Wechsel einzelner Konsonanten handelt. Dies lässt sich allerdings damit erklären, dass das griechische Wort grámma eigentlich ‚Buchstabe‘ oder ‚Schriftzeichen‘ bedeutet. Gemeint ist also ein am Schriftbild zu beobachtender Wechsel der Schriftzeichen (in etymologisch verwandter Stellung). Auch wir kennen einen solchen Konsonantenwechsel in etymologisch verwandten Wörtern im Neuhochdeutschen: (54) a. nhd. schneiden - nhd. geschnitten b. nhd. verlieren - nhd. Verlust Insgesamt kam es im Mittelhochdeutschen zu einem solchen Grammatischen Wechsel bei folgenden Konsonanten (wir beziehen uns hier wieder auf das Schriftbild): Der Grammatische Wechsel ist der Wechsel der Konsonanten < d > und < g > , < f > und < b > , < h > und < g > sowie < s > und < r > in etymologisch verwandten Wörtern. 122 Kapitel 8. Phonologie & Lautwechsel < d > - < t > < f > - < b > mhd. snîden - sniten mhd. dürfen - darben < h > - < g > < s > - < r > mhd. ziehen - zugen mhd. was - warn Da die Flexion der (starken) Verben per se eine etymologische Verwandtschaft beinhaltet, tritt der Grammatische Wechsel bevorzugt bei den starken Verben auf. Aufgabe: Erklären Sie am Beispiel der Wörter verlôs und was den Grammatischen Wechsel. Wie hat sich der Grammatische Wechsel zum Neuhochdeutschen hin entwickelt? Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2008 Beispielaufgabe Grammatischer Wechsel Lange Zeit fehlte eine Erklärung für das Phänomen des Grammatischen Wechsels. Erst der dänische Linguist Karl Verner (1846-1896) fand eine Erklärung, die heute als Vernersches Gesetz bekannt ist. Jetzt brauchen wir ein wenig Konzentration! Der Grammatische Wechsel ist ein Sprachwechselphänomen! Das Vernersche Gesetzt erklärt diesen auf synchroner Ebene angesiedelten Wechsel durch eine sprachhistorische, also durch eine diachrone, Entwicklung: eine Ausnahme von der ersten Lautverschiebung. Zur Wiederholung: Die erste Lautverschiebung bewirkte, dass aus / p/ , / t/ , / k/ > / f/ , / þ / , / h/ wurde. Damit entstand das Germanische. In der zweiten Lautverschiebung wurde aus / f/ , / þ / , / h/ > / f/ , / d/ , / h/ . So spaltete sich das Deutsche vom Germanischen ab. Verner entdeckte nun, dass es eine Ausnahme von der ersten Lautverschiebung gab, denn sie wurde nicht durchgeführt, wenn zwei Bedingungen erfüllt waren: 1. Wenn / f/ , / þ / , / h/ in stimmhafter Umgebung standen und 2. ihnen im Frühgermanischen der freie Wortakzent nicht voranging. 3. Grammatischer Wechsel und Vernersches Gesetz 123 Zur Erinnerung: Einen freien Wortakzent zu haben, bedeutet, dass die Betonung in einem Wort auf verschiedenen Silben liegen kann. Mehr dazu auf Seite 137. Von einer stimmhaften Umgebung spricht man dann, wenn ein Konsonant zwischen zwei Vokalen steht oder er nach / l/ , / r/ , / m/ oder / n/ folgt. Waren diese beiden Bedingungen erfüllt, so verschob sich / f/ , / þ / , / h/ zu / b/ , / d/ und / g/ . Das Vernersche Gesetz beschreibt eine Ausnahme von der ersten Lautverschiebung und erklärt den grammatischen Wechsel von / s/ und / r/ , / f/ und / b/ , / d/ und / t/ sowie / h/ und / g/ . Das Vernersche Gesetz ist also eine historisch-genetische Erklärung für ein synchrones Phänomen. Die Ausnahme besagt, dass / f/ , / þ / , / h/ , wenn sie in stimmhafter Umgebung standen und ihnen der freie Wortakzent nicht voranging, zu / b/ , / d/ und / g/ verschoben wurden. In den Wortformen, die einen Grammatischen Wechsel zeigen, herrschten also jeweils unterschiedliche Bedingungen. Dies erklärt jedoch noch nicht den Wechsel von / s/ und / r/ , denn beide sind von der ersten Lautverschiebung nicht betroffen. Allerdings gelten für das stimmlose / s/ im Germanischen die gleichen Bedingungen, die oben genannt wurden. Stand / s/ in einer stimmhaften Umgebung und ging der Wortakzent nicht voran, so entwickelte es sich zu / r/ weiter (vgl. Hennings 2003: 28). Übersichtlich und knapp bieten sowohl Hennings (2003) als auch Weddige (2007) einen Überblick über den Lautwechsel. Literaturtipps 9 | Graphemik & Orthographie Ziel dieses Kapitels ist die Einführung in die Graphemik und die Entwicklung der deutschen Orthographie. Neben den wichtigsten Graphem-Phonem-Korrespondenzen werden die Schreibprinzipien erläutert, deren Kenntnis für das Examen und den späteren Beruf unerlässlich sind. 1 Einführendes Wer sagt, er studiere Germanistik oder gar Germanistische Linguistik, wird immer wieder nach der Schreibung eines Wortes gefragt. Dass es Unsinn ist, dass ein Germanist nur aufgrund seines Studiums weiß, wie ein Wort richtig geschrieben wird, liegt aber in einem tief verbreiteten Missverständnis begründet, das es näher zu betrachten gilt. Die Sprachwissenschaft beschäftigt sich mit der Sprache und die Germanistische Sprachwissenschaft entsprechend mit der deutschen Sprache. Doch Linguistinnen und Linguisten machen zunächst einmal nichts anderes, als die Sprache, die Sie untersuchen möchten, zu beschreiben. Man sagt auch, es handle sich um eine deskriptive Wissenschaft. 1 Wer wissen will, wie ein Satz grammatisch korrekt lautet oder wie ein Wort richtig geschrieben wird, ist also beim Sprachwissenschaftler/ bei der Sprachwissenschaftlerin an der falschen Adresse. Hierfür braucht man jemanden, der präskriptiv, also vorschreibend tätig ist. Im Falle der richtigen Schreibung sind dies die Macher der Wörterbücher - in Deutschland denkt man da zuerst an den Duden. Die normierte Schreibung, also die Rechtschreibung inklusive der Zeichensetzung, bezeichnet man als Orthographie. Diese ist präskriptiv, hat aber ein deskriptives Pendant, nämlich die Graphemik (manchmal auch Graphematik genannt). Die Veränderungen der Schreibung in der Geschich- 1 Natürlich versucht der Sprachwissenschaftler/ die Sprachwissenschaftlerin später aus seinen/ ihren Beschreibungen Hypothesen herzuleiten, die er/ sie dann falsifizieren will. Die Linguistik bleibt nicht auf der deskriptiven Ebene stehen. 1. Einführendes 125 te der deutschen Sprache bezeichnet man als graphematischen Wandel. Dass man nicht vom orthographischen Wandel spricht, eine Annahme, zu der man ja leicht kommen könnte, hat einen einfachen Grund: „Da für das Deutsche erst seit 1902 eine [...] Normierung gilt, kann auch erst seitdem von einer Orthographie gesprochen werden“ (Nübling 2010: 174). Die Orthographie gibt normierend vor, wie geschrieben werden soll. Die Graphemik dagegen untersucht, wie sich tatsächlich die Phoneme zu den Graphemen verhalten. Zunächst könnte man annehmen, dass am besten genauso geschrieben werden sollte, wie man auch spricht. In einem solchen Fall, man bezeichnet ihn als Phonographie, wird einem Laut auch genau ein Graphem, also ein Schriftzeichen zugeordnet und umgekehrt. Damit gibt es in einem solchen System für jeden Laut genau einen Buchstaben. Das Deutsche ist kein solcher Fall. Schon allein der Laut [ S ] gibt ein gutes Beispiel dafür ab. Ihm werden in der Schrift mal ein, mal drei Buchstaben zugeordnet. Wir schreiben beispielsweise < Tisch > und sprechen [t h IS ] oder schreiben < Spiel > und sprechen [ S pi : l]. Zwar ist das Deutsche in dieser Hinsicht nicht gerade intuitiv oder leicht zu durchschauen, jedoch nicht ohne Regeln. Die regelhaften Beziehungen zwischen der lautlichen und der graphischen Ebene bezeichnet man als Phonem-Graphem-Korrespondenzen, bzw. aus der umgekehrten Perspektive als Graphem-Phonem-Korrespondenzen. Ein oft gebrauchter Terminus ist einfach abgekürzt GPK-Regeln. Zwischen den Phonemen und den Graphemen bestehen regelhafte Beziehungen, die man als Graphem-Phonem-Korrespondenzen, kurz GPK-Regeln, bezeichnet. Eine Übersicht über die Graphem-Phonem-Korrespondenzen des Deutschen bietet Tabelle 19. Kurz gesagt: die Schreibung des Deutschen ist kompliziert. Viele der Regeln hängen vom Graphem-Kontext ab, andere nicht. Wir können sie hier nicht behandeln, aber das ist auch nicht weiter schlimm. Wichtiger, als alle diese Regeln bewusst auswendig zu wissen, ist vielmehr die dahinter stehenden Prinzipien verstanden zu haben. Wir werden daher erst ein paar wenige, aber wichtige Regelungen herausgreifen und dann auf diese Prinzipien eingehen. In der Darstellung folgen wir im groben Nübling (2010: 178ff.), behandeln in diesem Kapitel aber die Graphemik und Orthographie des Deutschen sowohl historisch als auch gegenwartssprachlich, da diese Be- 126 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie reiche nur schwer getrennt darstellbar sind und die Entwicklungen im Laufe der Zeit zu unserer heutigen Form der Rechtschreibung geführt haben. Bisher haben wir ganz unvoreingenommen von ‚Graphemen‘ gesprochen - ohne jedoch genau zu definieren, was das eigentlich ist. Analog zu den Konzepten ‚Phonem‘ und ‚Morphem‘ definiert man ein Graphem als die kleinste bedeutungsdistinktive Einheit eines Schriftsystems. Und genauso wie wir Phone und Phoneme unterschieden haben, so lassen sich auch Graphe und Grapheme trennen, wie Abbildung 12 für das Graphem < a > exemplarisch zeigt. In der Abbildung oben zu sehen sind verschiedene Realisierungen des Graphems < a > (es handelt sich entsprechend um Allographe), unten in der Darstellung in spitzen Klammern das Graphem < a > . Grapheme sind nicht mit Buchstaben zu verwechseln, da Grapheme durchaus aus mehreren Buchstaben bestehen können, wie z.B. das Graphem < sch > , welches das Phonem [ S ] repräsentiert. Graphem: Phonem: Graphem: Phonem: Graphem: Phonem: <a> / A / , / A: / , / a/ , / a : / <p> / p/ <sch> / / <e> / E / , / e : / <t> / t/ <ch> / x/ <i> / I / , / i : / <k> / k/ <h> / h/ <ie> / i : / <b> / b/ <w> / v/ <o> / O / , / o : / <d> / d/ <v> / v/ , / f/ <u> / U / , / u : / <g> / g/ <l> / l/ <ä> / E / , / E: / <m> / m/ <r> / r/ <ö> / œ/ , / ø/ <n> / n/ <x> / > ks/ <ü> / Y / , / y : / <ng> / ŋ / <z> / > ts/ <ai>, <ei> / > Ai / <f> / f/ <qu> / > kv/ <au> / > au/ <s> / s/ , / z/ , / S / <pf> / > pf/ <äu>, <eu> / > Oy / <ß> / s/ Tabelle 19: Graphem-Phonem-Zuordnung des Deutschen (verändert nach Altmann & Ziegenhain 2002: 116) 2. Von der Schwierigkeit der deutschen Schreibung 127 2 Von der Schwierigkeit der deutschen Schreibung Ab dem 8. Jahrhundert verfügen wir über Schriftzeugnisse des Deutschen, genauer gesagt des Althochdeutschen. Die Schreiber der damaligen Zeit bedienten sich des lateinischen Alphabets, was sie vor nicht einfach zu lösende Probleme stellte, denn das Althochdeutsche verfügte über ein anderes Lautinventar als das Lateinische. Besonders bekannt für seine Überlegungen zur Schreibung ist bis heute der althochdeutsche Dichter Otfrid von Weißenburg (ca. 790-875). Eines dieser Probleme war z.B., dass man häufig drei < u > hintereinander schreiben musste - die ersten beiden konsonantisch, das letzte vokalisch. Nübling (2010: 180) gibt als Beispiel das Wort < Wurm > an, das im Ahd. aufgrund des noch bilabialen Frikativs [ B ] (wie im Englischen worm) dann hätte < uuurm > geschrieben werden können. Der heutige Begriff ‚double u‘ erinnert noch an diese Schreibung. Ein normales < w > gab es im lateinischen Alphabet nicht. Auf der anderen Seite stand z.B. für den Laut [k] einmal ein < k > zur Verfügung, aber auch ein < c > oder die Kombination < ck > . Weitere solche Probleme waren z.B. das fehlende Zeichen für den glottalen Verschlusslaut (dieser spielte im Lateinischen keine Rolle) oder die Darstellung des Phonems [ ŋ ], das häufig mit < g > , < gg > oder < n > wiedergegeben wurde. Das für die i-Laute zwei Zeichen zur Verfügung standen, nämlich < i > und < y > , führte bis ins 19. Jahrhundert hinein zu Verwirrung - häufig galt einfach die Regel, dass i-Laute im Wortinneren mit < i > und am Wortende mit < y > wiedergegeben wurden und damit zur Grenzmarkierung dienten. Zu kämpfen hatten die frühen Schreiber auch mit der Tatsache, dass wir beim Sprechen einen kontinuierlichen Lautstrom bilden, i.e. zwischen Abbildung 12: Graphe und Graphem 128 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie den Wörtern keine Pausen einlegen, wie dies die Spatien, also die Leerräume zwischen den Wörtern heute vermitteln. Man schrieb noch lange Zeit in der sogenannten scriptio continua, machte also keine Leerzeichen zwischen die Wörter, sondern reihte einfach alles aneinander. Ein heute noch schwer zu entzifferndes Schlamassel. Weitere Probleme bestanden in der Schreibung der Umlaute. Ab dem Frühneuhochdeutschen entwickelt sich dann die Grapheme < ä > , < ü > und < ö > , die sich aus Zusammenschreibungen ergeben haben. So schrieb man früher einfach ein kleines < e > über das < a > , woraus sich unser Trema (also die Punkte über den Buchstaben) entwickelte. Lange Umlaute wurden - mit Ausnahme des [y : ] für das man < iu > schrieb - einfach als Ligaturen geschrieben, also < æ > und < œ > . Aus einer Ligatur entstand im Übrigen auch unser Eszett < ß > . Fachbegriffe wie Trema, Spatien, Virgel, Ligatur oder scriptio continua sollten Sie auf jeden Fall beherrschen. Viele Prüfer legen einen besonderen Wert darauf. Ein eindrückliches Beispiel der Schwierigkeiten der Schreiber liefert uns eine Überlieferung des Georgslieds aus dem 11. Jahrhundert. Der schwer zu entziffernde Text endet mit der Bemerkung des Schreibers „nequeo“, was so viel bedeutet wie ‚Ich kann nicht mehr‘. Wie wir sehen werden, ist die Schreibung auf diese Weise von starker Varianz geprägt. Besonders im Frühneuhochdeutschen kommt es zu einem Nebeneinander unzähliger Schreibweisen. Eine Vereinheitlichung der Varianten ging erst nur langsam vonstatten, besonders befeuert hat diese Entwicklung die Erfindung des Buchdrucks. Mit der Einführung der Schulpflicht im 19. Jahrhundert und der Reichsgründung 1871 wurden die Stimmen nach einer Normierung der Schrift lauter, wobei unterschiedlichste Ansichten vertreten wurden. Jacob Grimm (1785-1863) z.B. vertrat die strenge Kleinschreibung von Substantiven und orientierte sich bei der Schreibung an historischen Vorlagen. Dies hätte den Schreibenden allerdings sprachhistorisches Wissen abverlangt, weswegen seine Vorschläge nur wenig Anklang fanden. Andere forderten eine strenge phonetische Schreibweise, die eine eineindeutige Zuordnung von Phonem und Graphem verlangt hätte. Eine eher gemäßigte Position zwischen Tradition und phonetischer Schreibweise begann sich langsam herauszukristallisieren. Ihre Vertreter, darunter Konrad Duden (1829-1911), versuchten auf der I. Orthographischen Konferenz 1876 in Berlin eine Normierung der Rechtschreibung zu beschließen, was jedoch am Widerstand gegen einen Beschluss zur Aufhebung der Vokalkürzekennzeichnung scheiterte. Erst auf 2. Von der Schwierigkeit der deutschen Schreibung 129 der II. Orthographischen Konferenz 1901 wurde eine Einigung erzielt, die ein Jahr später in Kraft trat und ihre Gültigkeit bis 1996 in Deutschland, Österreich und der Schweiz behielt. 2 Beschlossen wurde auf dieser Konferenz u.a.: • Statt der Suffixe - < niß > und - < iren > wurde jetzt - < nis > und - < ieren > geschrieben. • Abschaffung der < th > -Schreibung zu Gunsten einer < t > -Schreibweise ( < Tal > statt < Thal > ). Dies gilt nicht für Fremdwörter wie am Beispiel < Orthographie > zu sehen • Anpassung von Fremdwörtern, die ein < c > enthielten ( < zentral > statt < central > ) Die letzte Rechtschreibreform seit dieser 1901 festgelegten Normierung fand 2006 statt. Geändert wurden u.a. die Trennungsregeln, das Genitiv- Apostroph für Eigenbezeichnungen wurde erlaubt (Hilde’s Backstube), das sogenannte morphologische Prinzip wurde gestärkt (siehe weiter unten) und die Zeichensetzung wurde vereinfacht. Fast zeitgleich mit den Diskussionen und der Umsetzung der ersten größeren Rechtschreibreform 1996 begann sich in der Sprachwissenschaft die Erkenntnis durchzusetzen, dass die deutsche Orthographie gewissen Regeln folgt. Besonders durch die Forschungen von Peter Eisenberg (1983) wurde man darauf aufmerksam, dass zwar die Orthographie eine Norm vorgibt, sich aber das Schriftsystem unabhängig davon linguistisch analysieren lässt. Nachdem man sich vom „Mythos von der Irregularität [...] der deutschen Orthographie“ (Bredel & Günther 2006: 200) verabschiedet hatte, konnte man beginnen, die Regelhaftigkeit des Systems zu untersuchen. Heute unterscheidet man bei der Schreibung von Wörtern generell zwischen einem Kern- und einem Peripheriebereich. Ersterer umfasst alldiejenigen Wörter, deren Schreibung nach Regeln erfolgt, zu letzterem gehören sozusagen alle Ausnahmen (etwa 10% der deutschen Wörter). Etwa 90% aller deutschen Wörter werden regelhaft geschrieben. 2 Die erste Reform nach 1901 fand 1996 statt. 2004 und 2006 wurde diese letzte Reform nochmals überarbeitet. 130 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie 3 Vokallänge Im Gegensatz zu den Konsonanten spielt im Deutschen die Länge der Vokale eine bedeutungsunterscheidende Rolle. Es macht z.B. einen Unterschied, ob jemand Miete oder Mitte sagt. 3 In althochdeutschen bzw. mittelhochdeutschen Texten sieht man die Vokallänge oft durch einen über dem Buchstaben angebrachten Strich bzw. ein Zirkumflex markiert (z.B. mâne). Allerdings handelt es sich dabei um philologische Editionszeichen, sogenannte Diakritika, die von den Editoren (meist im 19. Jahrhundert) bei der Abschrift eingebracht wurden, sie sind in den Originalhandschriften nicht zu finden. Interessanterweise wird in der nhd. Schreibung die Länge eines Vokals nicht, bzw. nur sehr selten, markiert. Thomé (1992: 220) kommt in einer Textuntersuchung zum Ergebnis: „Dem Phonem / a : / stehen in den untersuchten Texten in 89,9% ein < a > , in 8,9% ein < ah > und 1,3% ein < aa > gegenüber.“ Wie im Zitat schon angedeutet, kann die Länge eines Vokals im Deutschen also durch verschiedene Mittel angezeigt werden. Entweder entfällt die Längenmarkierung ganz, wie in den meisten Fällen, der Vokal wird verdoppelt, was allerdings nur selten und nur bei den Graphemen < a > , < e > und < o > möglich ist, oder man fügt ein Dehnungszeichen ein. Langvokale werden im Deutschen entweder 1) nicht markiert, 2) durch Vokalverdopplung angezeigt oder 3) durch ein Dehnungszeichen kenntlich gemacht. Ein solches Dehnungszeichen ist im Deutschen das Dehnungs-h. Es entstand durch einen Lautwandel. Im Alt- und Mittelhochdeutschen finden wir in der Schreibung das < h > noch häufig, zum Frühneuhochdeutschen hin verstummt dieser bis dahin noch gesprochene Laut im In- und Auslaut, in der Schrift bleibt er allerdings erhalten. Nübling (2010: 181) führt als Beispiel an: (55) ahd. finhu > mhd. vihe > nhd. Vieh 3 In Wirklichkeit unterscheiden sich die Wörter nicht nur durch die Vokallänge, sondern auch noch durch ihre Ungespanntheit/ Gespanntheit. Aber davon wollen wir an dieser Stelle einmal absehen. 3. Vokallänge 131 Nach dem lautlichen Ausfall wurde das nur noch in der Schrift existierende h im 17. Jahrhundert reinterpretiert und dann auch an anderer Stelle zu diesem Zweck eingeschoben. Zum Frühneuhochdeutschen hin verlor in- und auslautendes [h] oft seinen Lautwert, blieb aber in der Schrift erhalten. Aus diesem geschriebenen h entwickelte sich das Dehnungs-h. Aufgabe: Beschreiben Sie den Laut- und Schriftwandel des mhd. Wortes gemahel. Aufgabe: Beschreiben Sie den Laut- und Schriftwandel des mhd. Wortes siechtuom. Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2002 Beispielaufgabe gemahel und siechtuom Heute lässt sich das Dehnungs-h mit allen Vokalen kombinieren, kommt aber nur vor Nasalen und Liquiden vor. Durch einen ähnlichen Uminterpretationsvorgang hat sich das Dehnungs-i entwickelt. Im Zuge der neuhochdeutschen Monophthongierung wurde aus dem mhd. Diphthong [ > i @ ] ein [i : ], das in der Schreibung allerdings weiterhin mit < ie > wiedergegeben wurde. So wurde das < e > als Dehnungszeichen uminterpretiert. Schon im 17. Jahrhundert war das Dehnungs-e geläufig. Einen interessanten Fall stellen die Personalpronomen der 3. Person, wie ihm, ihr, ihm oder ihnen, dar, bei welchen trotz des < i > als Längungszeichen ein < h > verwendet wird. Dieses trägt hier also auch grammatische Information. Durch die neuhochdeutsche Monophthongierung verlor < ie > seinen Wert als Diphthong und wurde zum langen Monophthong. Das in der Schreibung erhaltene e wurde als Dehnungszeichen reinterpretiert. Die Vokallängenanzeige durch Dehnungszeichen dient in manchen Fällen auch dazu, Homophone im Schriftbild auseinander zu halten, vgl. < Lid > 132 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie vs. < Lied > (manchmal spricht man auch von der sogenannten ‚Schemadifferenzierung‘). 4 Doppelgraphie der Vokalbuchstaben Die Verdopplung von Buchstaben taucht immer wieder im Deutschen auf. Die hat seinen Grund zum Teil darin, dass sich so Homonyme im Schriftbild auseinanderhalten lassen, wie bei < Moor > vs. < Mohr > . 4 Ansonsten dient sie im vokalischen Bereich der Längenkennzeichnung. Im Mittelhochdeutschen gab es diese Art der Kennzeichnung jedoch noch nicht. Vgl. mhd. < bot > , nhd. < Boot > oder mhd. < sal > , nhd. < Saal > . Ausgenommen von der Doppelgraphieschreibung sind die Vokalzeichen < u > und < i > . Dies hat seinen Grund darin, dass < uu > im Schriftbild mit < w > und < ii > mit < ü > verwechselt werden könnte. 5 5 Vokalkürze Kurze Vokale werden im Deutschen nicht schriftlich am Vokal selbst markiert, sondern durch die Verdopplung des nachfolgenden Konsonantenbuchstabens angezeigt - es sei denn, dem kurzen Vokal folgen schon mehrere Konsonanten. Man spricht auch von Schärfungsschreibung. Hier zwei Beispiele für diese Fälle: (56) a. Wette b. Heft Wie schon beim Dehnungs-h und Dehnungs-e hat diese auf den ersten Blick etwas seltsam anmutende Regelung ihren Grund in einem vorangegangenen Lautwandel. Noch im Althochdeutschen existierten sogenannte Geminaten - ein Begriff mit dem man heute zumeist einfach eine Verdopplung meint. Hier wird unter einer Geminate allerdings tatsächlich ein langer Konsonant verstanden. Ein Phänomen, dass heute noch in vielen Sprachen vorkommt, z.B. sehr ausgeprägt im Finnischen. Auch wenn es für uns seltsam erscheinen mag, kann man tatsächlich nicht nur Nasale, Liqui- 4 An der Wahl des Beispiels lässt sich schon ablesen, dass dieser Fall in Wirklichkeit selten auftritt. 5 Achten Sie darauf, zwischen Vokalen und Vokalbuchstaben und analog zwischen Konsonanten und Konsonantenbuchstaben zu unterscheiden! 6. Die f - und v-Schreibung 133 de und Frikative lang aussprechen, sondern auch Plosive wie [t] oder [p]. 6 Spätestens ab dem Mittelhochdeutschen tauchten solche Geminaten nur nach Kurzvokalen auf. Man schrieb jedoch weiterhin einen Doppelvokal und reinterpretierte diesen als Anzeiger der Vokalkürze. Interessanterweise fungieren diese Konsonanten heute als Silbengelenke. Eine Trennung in Sprechsilben ist also an diesen Stellen nur schwer möglich. Um kenntlich zu machen, dass die Silbengrenze direkt im Laut liegt, markiert man sie mit einem kleinen Strich darunter, so wie in Bitte: [b I t " @ ]. Vokalkürze wird im Deutschen entweder durch eine nachfolgende Konsonantenbuchstabenverdopplung markiert, wenn nicht ohnehin mehrere Konsonanten folgen. Eine Ausnahme bilden einsilbige ‚Funktionswörter‘ wie z.B. man oder was. In einsilbigen Funktionswörtern muss die Vokalkürze deshalb nicht markiert werden, da hier das morphologische Prinzip nicht greift. So wird das Inhaltswort Mann mit Doppel-n geschrieben, da das Silbengelenk im Plural (Männer) auf dem [n] liegt. Aufgabe: Geben Sie für folgende Wörter die Lautentwicklung an: mhd. her, man. Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Herbst 2004 Beispielaufgabe her und man 6 Die f - und v-Schreibung Da das lateinische Alphabet mehrere Möglichkeiten zur Verschriftung ein und desselben Lautes im Ahd. bot, wurde anfangs noch relativ wahllos mal < v > und mal < f > geschrieben. Im Neuhochdeutschen schreibt man für das anlautende / f/ zumeist < f > , seltener auch < v > . Letztere Schreibung resultiert vermutlich aus der im Spätalthochdeutschen erfolgten Spirantenschwächung, in deren Zuge die stimmlosen Spiranten (Frikative) / f/ , / þ / und / x/ erweicht wurden. Aus / þ / , sozusagen dem th-Laut, der im Englischen noch Verwendung findet, wurde / d/ ; aus / x/ wurde anlautendes 6 In manchen Sprachen, wie z.B. dem Maltesischen, gibt es sogar einen geminierten glottalen Verschlusslaut. 134 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie / h/ wie in Hubert. Auch der Frikativ / f/ muss erweicht worden sein, da er mit < v > verschriftet wurde. Alle anderen f -Laute, die im Zuge der 2. Lautverschiebung entstanden, wurden im Gegensatz dazu konsequent mit < f > geschrieben. Heute gilt, dass stimmhaftes / v/ entweder mit < v > oder < w > verschriftet wird. Stimmloses / f/ , wie ausgeführt, meist mit < f > oder auch < v > . Letzteres tritt häufig im Silbenanlaut auf: < Vater > (für / f/ ), < Vogel > (für / f/ ), < Larve > (für / f/ ), < Frevel > (für / v/ ), < Vase > (für / v/ ). 7 Die Schreibprinzipien Die schriftliche Wiedergabe von Lauten kann auf verschiedene Arten erfolgen. In der Geschichte der Schrift haben sich dabei verschiedene, teilweise miteinander in Konkurrenz stehende Prinzipien herausgebildet, die in diesem Abschnitt vorgestellt werden. 7.1 Das phonologische Prinzip Das phonologische oder phonetische Prinzip baut darauf auf, möglichst alle Laute auch graphisch abzubilden. Genauer gesagt, geht es um Phoneme. Allophone, also die Varianten eines Lautes, werden dagegen möglichst nur durch ein Graphem repräsentiert. Beispiele dafür sind der ich- und der ach-Laut. Es hört sich zwar komisch an, diese auszutauschen, ein Bedeutungsunterschied wird so jedoch nicht produziert. Daher können wir sowohl für [ç] als auch für [x] < ch > schreiben. Genauso verhält es sich beim Zungen- und beim Zäpfchen-r ([r] bzw. [ ö ]), die beide durch ein < r > repräsentiert werden. In früheren Zeiten, als es noch keine orthographischen Regelungen gab, hat man solche Allophone häufig aufgeschrieben. Insgesamt nimmt die Allophonieschreibung im Laufe der Geschichte des Schriftdeutschen also ab. Bestes Beispiel hierfür ist die graphische Rücknahme der Auslautverhärtung (ausführlicher Seite 117). Schon im Mittelhochdeutschen hatte es sich durchgesetzt, dass die stimmhaften Plosive [b], [d] und [g] am Wortende zu den stimmlosen Plosiven [p], [t] und [k] erhärtet wurden. Und genauso wurde auch geschrieben. Der < tac > vs. des < tages > . Die Auslautverhärtung hat sich bis heute erhalten. Allerdings wurde sie graphisch im Frühneuhochdeutschen wieder zurückgenommen und zwar aufgrund der inhaltlichen Nähe der betroffenen Wörter (dazu gleich mehr): Um diese inhaltliche Nähe auch graphisch sichtbar zu machen, ist man zur heute noch gültigen Schreibung mit stimmhaftem Plosiv übergegangen: nhd. < Tag > 7. Die Schreibprinzipien 135 wegen < Tage > , < Land > wegen < Länder > . Diese graphische Konstanthaltung des Morphems {tag} bzw. {land} entgegen der tatsächlichen Lautung dient der Stabilität des Morphems (Morphemkonstanzprinzip) und erleichtert dem Leser die direkte Informationsentnahme. (Nübling 2010: 179) Viele Fremdworte, die ursprünglich mit < ph > geschrieben wurden, dürfen seit der Rechtschreibreform von 1996 auch mit < f > geschrieben werden. Dies bedeutet eine Stärkung des phonologischen Prinzips. Das phonologische Prinzip folgt der Regel „Schreibe wie du sprichst“, jedem Phonem wird möglichst ein Graphem zugeordnet. 7.2 Das silbische Prinzip Die Silbe stellt eine Sprecheinheit dar, die oberhalb der Phonemebene aber unterhalb der Morphembzw. Wortebene anzusiedeln ist. Allerdings kann in vielen Fällen die Silbe mit einem Morphem oder Wort zusammenfallen. Es handelt sich bei der Silbe um eine Phonemfolge, die die kleinste Sprechflusseinheit darstellt, die in einem Atemzug artikuliert werden kann. Silben sind keine strukturlosen Einheiten, sondern setzen sich nach einem gewissen, einzelsprachbezogenen Schema zusammen. Im Deutschen besteht eine Silbe, abgekürzt als σ (griechischer Kleinbuchstabe ‚Sigma‘), aus dem Silbenanlaut, genannt Onset und aus dem Reim. Dieser wiederum besteht aus dem Silbenkern, genannt Nukleus und dem Silbenauslaut, den man als Koda bezeichnet. Silben tendieren dazu einen optimalen Sonoritätsverlauf anzunehmen, wobei der Sonoritätsgipfel zum Nukleus hin ein Maximum erreicht und zu den beiden Rändern (Onset und Koda) hin abnimmt. Siehe dazu aber die Ausführungen im Abschnitt über Silbenphonologie auf Seite 20. Schon Kinder beherrschen die silbische Analyse von Wörtern. Allerdings lassen sich Schreib- und Sprechsilben unterscheiden. Häufig bezieht man sich aber, wenn man von Silben spricht, auf die Sprechsilbe. Was eine Schreibsilbe ist, lässt sich am besten durch das silbeninitiale h illustrieren. Dieses hat nämlich kein lautliches Gegenstück. Nübling (2010: 184) führt als Beispiel < Schuhe > an, das [ S u : . P@ ] gesprochen wird. Der Punkt zeigt die Silbengrenze an. Aufgrund des Schriftbildes kann man allerdings auch auf eine Schreibsilbentrennung kommen, die dann so aussieht: < Schu-he > . In der Schrift geschieht hier etwas äußerst Interessantes. Der Onset der zweiten Silbe ist im Schriftbild gefüllt. Und das ist er tatsächlich auch in der Lautung. Es gibt im Deutschen - entgegen unserer ersten Intuition - kei- 136 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie ne silbeninitialen Vokale. Vor diesen Vokalen wird immer noch ein Konsonant artikuliert, den wir nicht verschriften und daher auch nicht mehr wahrnehmen, der sogenannte ‚glottale Verschlusslaut‘, auch Knacklaut genannt: [ ]. Die deutsche Rechtschreibung ist hier der Sprechsilbe näher. Einzelne Vokale am Wortanfang oder -ende dürfen nicht abgetrennt werden. So wird Abend oder Kleie nicht getrennt. Das silbische Prinzip in der deutschen Schreibung kommt hauptsächlich in der Worttrennung an Zeilenrändern zum Tragen. Den Trennungsregeln zugrunde liegt die Sprechsilbe. Während vor der Rechtschreibreform von 2006 st nicht getrennt werden durfte, ist dies nun - im Sinne des silbischen Prinzips - erlaubt: < Dis-tel > . Folgte man früher dem morphologischen Prinzip in Fällen wie < Interesse > oder < war-um > , so orientiert man sich heute aufgrund der den meisten Menschen nicht mehr erklärbaren Wortzusammensetzungen (diese sind ‚verdunkelt‘) am silbischen Prinzip und trennt < In-te-res-se > und < wa-rum > . Das silbische Prinzip basiert auf der Sprechsilbe. Silbengrenzen werden im Deutschen manchmal durch ein Dehnungs-h kenntlich gemacht, wie in gehen. Auch die Trennung von Wörtern am Zeilenende beruht auf der Sprechsilbe. Die Rechtschreibreform 2006 erlaubt auch die Trennung von st; das silbische Prinzip wird so gestärkt. Silbengelenke werden außerdem oft mit Konsonanten-Doppelgraphie (Wette, Matte) oder mit Di- und Trigraphen kenntlich gemacht (Katze, Zecke, Masche). Exkurs: warum kein < sch > vor < p > / < t > Einer berühmten Argumentation des Potsdamer Linguisten Peter Eisenberg zufolge lässt sich aus der Schreibsilbe heraus erklären, warum wir den Frikativ [ S ] im Deutschen mit dem Trigraphen < sch > verschriften, dies aber in den Ausnahmefällen vor < p > und < t > nicht machen. Betrachten wir die Lautung, so fällt auf, dass im Deutschen auf Wörter, die mit [ S p] oder [ S t] beginnen, weitere Konsonanten folgen dürfen. In allen anderen Fällen von [ S ] + Konsonant, dürfen jedoch keine weitere Konsonanten folgen. Eisenbergs Überlegung, warum bei [ S p] und [ S t] nun konsequent < sp > und < st > geschrieben wird, ist nun, dass hierdurch komplizierte Schriftbilder entstehen würden, die eine allzu große Konsonantenhäufung im (Schrift-)Silbenonset produzieren würde: * < Schtrumpf > oder * < Schprache > . 7. Die Schreibprinzipien 137 7.3 Das morphologische Prinzip - Teil I Das morphologische Prinzip ist eines der stärksten Prinzipien und steht über dem phonologischen und dem silbischen Prinzip. Das morphologische Prinzip geht davon aus, dass die Varianten eines Wortes graphisch möglichst ähnlich dargestellt werden, um deren Zusammengehörigkeit zu spiegeln. Man spricht auch vom Morphemkonstanzprinzip oder von der (graphischen) Schemakonstanz: „Dies beschleunigt die Identifikation der Morpheme und damit die Sinnerfassung [...]“ (Nübling 2010: 186). Aus dem morphologischen Prinzip heraus funktionieren auch die deutschen Umlaute < ä > , < ü > und < ö > in der Pluralbildung wie bei < Maus > und < Mäuse > . Das Setzen des Tremas zeigt hier eine Verwandtschaft an. Besonders bei umgelauteten < a > und < au > , also < ä > und < äu > , handelt es sich um Anzeiger für morphologische Ableitungen. Ein weiterer Fall, in dem das morphologische Prinzip greift, ist das Phänomen der Auslautverhärtung, das wir u.a. schon auf Seite 117 besprochen haben. Dass diese zwar in der Lautung nach wie vor Bestand hat, graphisch jedoch zurückgenommen wurde, ist der Schemakonstanz geschuldet. Mit anderen Worten: Dass wir in den beiden Fällen < der Tag > und < des Tages > beide Male ein < g > schreiben und nicht einmal ein < k > und das andere Mal ein < g > , wie wir das sprechen würden, liegt daran, dass so kenntlich gemacht wird, dass es sich um ein und dasselbe Morphem handelt. Das morphologische Prinzip beginnt sich ab dem Frühneuhochdeutschen verstärkt durchzusetzen und tritt zusammen mit dem Wandel des Deutschen hin zu einer Wortsprache auf. 7.4 Ein kurzer Abstecher: von der Silbenzur Wortsprache Im Gegensatz zum Neuhochdeutschen hatte das Althochdeutsche einen sogenannten freien Wortakzent, wie es heute noch das Englische oder Spanische aufweisen. Einen freien Wortakzent zu haben bedeutet, dass die Betonung in einem Wort auf verschiedenen Silben liegen kann. Im Englischen bedeutet z.B. das Wort (to) recórd etwas anderes als (the) récord oder im Spanischen heißt cántara (dt. ‚Krug‘) etwas anderes als cantará (dt. ‚er wird singen‘). Der Akut über den Wörtern gibt jeweils an, wo die Betonung liegt. Ganz so frei, wie der Name ‚freier Wortakzent‘ es erscheinen lässt, ist der Akzent natürlich nicht. Je nachdem, wo der Akzent liegt, verschiebt sich die grammatische oder lexikalische Bedeutung der Wörter. Im Neuhochdeutschen dagegen ist der Wortakzent festgelegt auf die Stammsilbe. Damit liefert die betonte Silbe in einem Wort ein entscheidendes Grenzsignal, dass 138 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie dem Hörer signalisiert, dass ein neues Morphem beginnt. Im Prinzip erfüllt der feste Wortakzent damit eine ähnliche Funktion wie auch die Auslautverhärtung, die als Anzeiger eines Wortendes interpretiert werden kann. Vergleicht man die Silbenstruktur des Althochdeutschen mit der des Neuhochdeutschen, so fällt ins Auge, dass im Althochdeutschen deutlich einfache Vokal-Konsonant-Silben (CV-Silben) vorherrschten, im Neuhochdeutschen dagegen fallen zahlreiche Konsonantencluster auf. Sogar bis zu fünf Konsonanten (und in Einzelfällen sogar noch mehr Konsonantenbuchstaben) hintereinander - in nur einem Wort - sind möglich: des Herbsts! Dies hängt damit zusammen, dass es sich beim Althochdeutschen um eine sogenannten Silbensprache gehandelt hat. Im Gegensatz dazu ist das Neuhochdeutsche eine Wortsprache. Was genau Silben- und Wortsprachen unterscheidet, lässt sich anhand sprachökonomischer Überlegungen darlegen. Hier existieren prinzipiell zwei miteinander im Widerstreit stehende Kräfte. Einerseits tendieren Sprachen dazu, möglichst sprecherfreundlich zu sein, auf der anderen Seite steht jedoch der Hörer, dem es leicht gemacht werden soll, so gut als möglich Informationen aus dem Sprachfluss zu extrahieren. Sprachen, die die Sprecherseite und damit den Sprachfluss einfach halten wollen, legen Wert auf eine einfache Silbenstruktur. Solche Silbensprachen, wie z.B. das Spanische oder das Althochdeutsche, bestehen zu großen Teilen aus CV-Silben. Wortsprachen tendieren eher zu einer hörerorientierten Strategie. Die Aussprache ist nicht einfach (wie die Konsonantencluster des Deutschen), der Hörer kann aber durch bestimmte Markierungen leicht Morphemgrenzen erkennen. Sprecher, die eine Silbensprache als Muttersprache haben und Deutsch erlernen, tendieren so häufig dazu, Sprossvokale zwischen die für das Neuhochdeutsche typischen Konsonantencluster zu schieben (Senf → Senef ). 7.5 Das morphologische Prinzip - Teil II Das morphologische Prinzip sorgt dafür, dass wir anhand der Schreibung einfach erkennen können, dass verschiedene Varianten eines Wortes zusammengehören. Dazu gehört auch die Doppelschreibung der Konsonantenbuchstaben, die sich zwischen 1710 und 1770 durchgesetzt hat. Vorher wurde phonologisch verschriftet, was zu Formen wie mhd./ frnhd. < kunnen > vs. < kan > geführt hat. Heute zeigt uns die Doppelschreibung in nhd. < können > vs. < kann > an, dass es sich um das selbe Morphem handelt. Hierzu gehört auch, dass mittlerweile Dreifachkonsonanten zugelassen sind, wie in < Schifffahrt > . Auch hier wird dem morphologischen Prinzip Rechnung getragen und die Morphemerkennung erleichtert. Das morphologische Prinzip wurde auch im Falle der Umlautschreibung gestärkt, sodass es heute 7. Die Schreibprinzipien 139 z.B. nicht mehr < aufwendig > heißt, sondern < aufwändig > , um die Verwandschaft zu < Aufwand > herauszustellen (Nübling 2010: 187f.). Problematisch ist allerdings die Reform der < ss > / < ß > -Schreibung und ihre Konsequenzen für das morphologische Prinzip: Zunächst wurde dieses einerseits gestärkt (alt: fassen - faßbar, neu: fassen - fassbar, alt: Fluß - Flüsse, neu: Fluss - Flüsse), andererseits auch geschwächt (alt: Fluß - fließen, neu: Fluss - fließen, alt: Schloß/ Schluß - schließen/ schließlich, neu: Schloss/ Schluss - schließen/ schließlich). (Nübling 2010: 189) Besonders augenfällig ist auch die Schwächung des morphologischen Prinzips durch die schlechteren Segmentationsmöglichkeiten beim Lesen, da < ß > häufig als Begrenzungssignal eines Wortstammes oder Wortes interpretiert werden konnte, wie in < Flußufer > . Im Gegensatz dazu bedeutete eine < ss > -Schreibung, dass das Wort noch nicht zu Ende war: < Flüsse > . „Mit der Reform wurde diese finale Wortrandmarkierung aufgehoben“, konstatiert Nübling (2010: 189). Dem morphologischen Prinzip verdanken wir, dass Varianten eines Morphems graphisch möglichst ähnlich dargestellt werden (Schemakonstanz). Dies gilt auch, wenn sie anders gesprochen werden (z.B. Auslautverhärtung). 7.6 Das lexikalische Prinzip Dem lexikalischen Prinzip folgen alle Strategien, die versuchen, das einzelne Wort, bzw. die Zugehörigkeit eines Wortes zu einer Wortart, hervorzuheben. Die auffälligste dieser Strategien ist das Setzen von Spatien zwischen einzelnen Wörtern, obwohl diese keine lautlichen Entsprechungen aufweisen. Heute erscheinen uns diese Leerzeichen so selbstverständlich, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, in der ohne Zwischenräume geschrieben wurde. Im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen werden schon konsequent Spatien zwischen Wörter gesetzt. Häufig auch zwischen Komposita, was heute nicht mehr üblich ist. Keine Leerzeichen findet man dagegen häufig zwischen flektiertem Verb und Pronomen, wie z.B. bei mhd. < bistu > . Zum lexikalischen Prinzip gehört auch die < ſ> / < s > -Schreibung, die heute abgeschafft ist. Diese beiden Schreibweisen repräsentierten denselben Laut, jedoch in unterschiedlicher Distribution innerhalb eines Wortes. Das runde < s > wurde nur am Silbenende (und damit am Wortende), das lange < ſ> dagegen überall, nur nicht am Silbenende geschrieben. So 140 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie wird schon beim Lesen eines Wortes klar, ob es sich um einen kleinen Kreis < Kreischen> oder um ein schrilles Schreien <Kreiſchen> handelt. Siehe dazu aber auch die Ausführungen auf Seite 142. Ein extrem spätes Produkt des lexikalischen Prinzips ist die Zusammenschreibung von Komposita. Erst 1880 legt der Duden diese fest, vorher wurde eine Vielzahl an Möglichkeiten ausprobiert. Getrenntschreibungen, wie sie sich auch im Englischen durchgesetzt haben, auch Schreibungen mit Bindestrich, Doppelbindestrich und sogar Binnenmajuskeln tauchen auf, wie wir sie heute in der Werbesprache (z.B. BahnCard) oder beim Binnen-I im Gendering (z.B. StudentInnen) wieder finden. 7 Auch die Substantivgroßschreibung steht heute ganz im Zeichen des lexikalischen Prinzips, denn hierdurch wird ein Wort als zur Klasse der Substantive oder der Eigennamen zugehörig markiert. Da sich die Substantivgroßschreibung allerdings in mehreren Schritten unter unterschiedlichen Vorzeichen entwickelte, werden wir sie eigens besprechen (siehe Seiten 144 und 146). Den letzten Punkt, den wir im Rahmen des lexikalischen Prinzips behandeln wollen, ist die sogenannte Homonymdifferenzierung. Homonyme sind zwei oder mehr gleichklingende Wörter, die auf unterschiedliche Entitäten oder Sachverhalte referieren. Genauer gesagt, geht es um Homophone, also um gleichlautende Wörter. Bei der Homonymdifferenzierung werden also gleichlautende Wörter unterschieden, indem man sie im Schriftbild differenziert. Leider werden die meisten Homophone im Deutschen allerdings gleich geschrieben. Beispiele für eine Homonymdifferenzierung sind z.B. < Fön > (‚Haartrockner‘) und < Föhn > (‚Wetterphänomen‘) oder < Leib > (‚Körper‘) und < Laib > (‚rundliche Form von Käse oder Brot‘). Beispiele dagegen < Schloss > (‚Schließvorrichtung‘) und < Schloss > (‚Gebäude‘) oder < Steuer > (‚Lenkinstrument‘) und < Steuer > (‚Staatsabgabe‘). Das lexikalische Prinzip hebt einzelne Worte hervor oder zeigt die Zugehörigkeit eines Wortes zu einer Wortart an. Das syntaktische oder grammatische Prinzip, das der Hervorhebung syntaktischer Funktionen dient, drückt sich vor allem in Form der Großschreibung des Satzanfanges im Deutschen aus. Dem syntaktischen Prin- 7 Das Binnen-I entspricht nicht der amtlichen Rechtschreibung. Der Duden empfiehlt die Schreibung Student/ -innen. 7.7 Das syntaktische Prinzip 7. Die Schreibprinzipien 141 Die Virgel kann auch als Nebensatzabtrenner Verwendung finden, wie im nachfolgenden Beispiel, einem Auszug aus einem Buch des Augsburger Patriziers Eitelhans Langenmantel von 1527: Paulus schreybt / Ich habe es von dem Herren entpfangen / das ich euch geben hab / dann der Herr in der Nacht da er veratten ward / Nam er das Brot / dancket vnnd brachs / vnd sprach / Nempt / esset / Das ist mein leyb / der für euch brochen wirdt / sollichs th e ut z o u meiner ged e atnuß / Deßgleychen auch den Kelch nach dem abentmal / vnd sprach / Diser Kelch ist ain new Testament in meine bl o ut/ sollichs th e ut so offt ir trinckt / o u meinem ged e achtnuß dann so offt ir von disem brit esset / vnd von disem Kelch trickt / solt ir des Herren todt verkünden / biß er kompt. Wie das Beispiel zeigt, wird hier der Punkt schon teilweise als Satzschlusszeichen verwendet (nämlich ganz am Ende) und die Virgel als Nebensatzbegrenzer und Satzschlusszeichen. Die Großschreibung des Folgesatzes setzt sich ab 1500 herum durch. Die weiteren Satzzeichen entstehen im Laufe des 16. und 17. Jahrhundert . So z.B. Frage- und Ausrufezeichen, als Anzeiger des Satzmodus. Erst im 18. Jahrhundert findet das Komma (eine verkürzte Version der Virgel) weite Verbreitung. Das syntaktische oder grammatische Prinzip hebt grammatische Funktionen hervor. Dazu zählt im Deutschen die Großschreibung von Satzanfängen und deren Abtrennung durch Satzzeichen. Außerdem zählt zum grammatischen Prinzip die graphische Unterscheidung zwischen das und dass. Aufgabe: Wohl, wenig, kann, Fischer: Die entsprechenden mhd. Wörter sehen in der Normalschreibung so aus: wol, wênec, kan, vischœre. Erklären Sie an der Schreibung der fett gedruckten Stellen dieser Wörter Unterschiede zwischen der Schreibung im Mhd. und Nhd., und nennen Sie jeweils das/ die für die nhd. Schreibung verantwortliche(n) Prinzip(ien)! Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2010 Beispielaufgabe die Prinzipien zip im Deutschen kommt sonst hauptsächlich die Interpunktion zu Gute. Diese wird lange Zeit bestimmt durch Virgeln, also Schrägstriche, und bald auch schon durch den Punkt. Beide können als Satzschlusszeichen dienen. s 142 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie 7.8 Weitere Prinzipien In manchen Büchern finden sich noch weitere Prinzipien. Dazu zählen meist das eugraphische Prinzip, auch als ästhetisches Prinzip bezeichnet. Diesem zufolge schreiben wir z.B. nicht < schp > im Anlaut (siehe die Ausführungen über Peter Eisenbergs Argumentation). Der Begriff Homonymieprinzip ist schon angeklungen. Gemeint ist damit ein Prinzip, das Homonyme durch unterschiedliche Schreibung differenziert, z.B. Meer vs. mehr oder Saite vs. Seite. Das pragmatische Prinzip steht auf der Ebene zwischen Sprachzeichen und Zeichenverwender und hebt z.B. die Anredepronomen bei höflichen Anreden durch Großschreibung hervor. Das etymologische Prinzip schließlich beruht auf der Überlegung, Wörter jeweils nach ihrer Herkunft zu schreiben, z.B. schreibt man aus dem Griechischen kommende Fremdwörter häufig mit < th > , wie Theater. Exkurs: Fremd- und Lehnwörter Je nach grammatischer Integration unterscheidet man zwischen Fremdwörtern und Lehnwörtern. Fremdwörter sind solche Wörter, die aus anderen Sprachen entnommen wurden und deren Integrationsgrad noch relativ niedrig ist. Das bedeutet, dass sie in verschiedenen (nicht unbedingt aber in allen) Bereichen der Grammatik von der deutschen abweichen. Die Sprache, aus der das Wort stammt, bezeichnet man als Gebersprache, die Sprache, in die das Wort mehr oder weniger integriert wird, als Nehmersprache. Zum Beispiel handelt es sich bei dem Wort Bluetooth eindeutig um ein Fremdwort. Sowohl die Aussprache als auch die Schreibung ist nicht an das Deutsche angepasst. Lehnwörter dagegen sind stark integriert. Gute Beispiele für Lehnwörter sind Streik, das aus dem Englischen stammt oder Fenster, das aus dem Lateinischen entlehnt wurde. In beiden Fällen ist die Herkunft nicht mehr zu erkennen, da sie vollständig grammatisch integriert wurden (also z.B. in Lautung, Schreibung, Flexion, usw.). 7.9 Die Regeln der s-Schreibung Folgen wir der Argumentation in Bierwisch (1972), so können wir anhand der phonologischen Struktur eines Wortes auf dessen Schreibung schließen. Diese Regel gilt natürlich nicht immer, aber doch öfter, als man vielleicht vermuten möchte - so auch für die s-Schreibung. Die Regeln welche diese im Deutschen folgt, sind allerdings nicht ganz unkompliziert. Wir 7. Die Schreibprinzipien 143 werden sie etwas genauer betrachten. Im Kurzüberlick lauten sie etwa wie folgt: • Stimmhaftes s [z] → < s > ( < Käse > ) • Stimmloses s [s], wenn ein Kurzvokal vorangeht und ein Vokal nachfolgt → < ss > ( < Gasse > ) • Stimmloses s [s], wenn ein Langvokal vorangeht und ein Vokal nachfolgt → < ß > ( < Straße > ) • Stimmloses s [s], in sonstigen lautlichen Umgebungen → < s > ( < es > ) • s-Laut als Teil der Affrikate [ts], wenn ein Kurzvokal vorangeht → < tz > ( < hetzen > ) • s-Laut als Teil der Affrikate [ts], in sonstigen lautlichen Umgebungen → < z > ( < Zeppelin > ) Die s-Schreibung des Deutschen ist also positionsabhängig, aber gut geregelt. Allerdings galten diese Regeln, so wie sie hier dargestellt wurden, nicht schon immer. Besonders bis in das 19. Jahrhundert wurde die s-Schreibung des Deutschen durch die Existenz zweier Schriftvarianten erschwert. Neben den heute üblichen Antiqua-Schriften, wurde lange in Fraktur geschrieben. Diese Schriftart ist Ihnen sicherlich aus alten Büchern bekannt. Im Falle der s-Schreibung kannte die Fraktur-Schrift eine Besonderheit, die vor allem deshalb für das Staatsexamen von Bedeutung ist, da häufig frühneuhochdeutsche Texte als Grundlage der Prüfungen verwendet werden, die in Fraktur geschrieben sind. Neben dem normalen < s > , wie wir es auch heute kennen, gab es in der Fraktur auch die Variante < ſ> , das lange s. Nur im Silbenauslaut wurde < s > geschrieben. Ausgenommen davon sind Wörter, bei welchen die nachfolgende Silbe mit einem < t > oder einem < p > beginnen oder ein Schwa ausgefallen ist: < Pi ſ te > , < Ka ſ perl > oder < Verwech ſ lung > . Im Silbenanlaut oder -inlaut wurde <ſ> geschrieben: < Mäu ſ e > (aber: < Maus > ) oder <ſ etzen > . Kompliziert wird diese Angelegenheit noch durch die im Deutschen häufig auftretende Doppelschreibung von Konsonantenbuchstaben, die ja auch heute noch unser < s > betrifft. Hier galt, dass < ſſ> zu <ſ s > wurde, wenn es am Silbenende stand: < Ku ſ s > vs. < Ku ſſ es > . So entstand im Laufe der Zeit unser heutiges < ß > . Es handelt sich nämlich einfach um eine Verbindung (Ligatur) aus dem langen und dem kurzen s. 144 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie 7.10 Großschreibung sowie die Zeichensetzung - Teil I Im Deutschen wird in der Regel klein geschrieben. Davon gibt es allerdings Ausnahmen, die allgemein gefasst folgende Punkte umfassen: • Eigennamen • Substantive • Satzanfänge Die Großschreibung der Eigennamen und der Substantive folgt dem lexikalischen Prinzip. Andere Sprachen kennen diese Regel nicht, es handelt sich um eine „deutsche Besonderheit“ (Nübling 2010: 195). 8 Die Großschreibung der Satzanfänge folgt dem grammatischen Prinzip. Allerdings bedarf es hinsichtlich der Substantivgroßschreibung noch einer Erläuterung, denn nicht immer ist einfach zu erkennen, ob es sich in betreffendem Fall um ein Substantiv handelt oder nicht. Daher werden wir die einfache Regel „Substantive werden groß geschrieben“ spezifizieren. Dies geschieht über folgende Regel (nach Maas 1992: 161, erweitert durch Dürscheid 2006: 145): Der Kern jeder expandierbaren Nominalgruppe in einem Satz wird groß geschrieben. Was eine Nominalgruppe und deren Kern ist, haben wir bereits im Kapitel über Syntax gelernt. Was aber bedeutet expandierbar? Der Kern einer Nominalgruppe ist dann expandierbar, wenn er erweitert werden kann. Im Satz Die Kaffeetasse ist lila wird das Wort Kaffeetasse groß geschrieben, denn es bildet eine Nominalgruppe, bestehend aus nur einem Substantiv, das Wort ist also zugleich auch der Kern. Dass dieser expandierbar ist, lässt sich leicht zeigen: Die alte, zerbrochene Kaffeetasse ist lila. Nicht erweiterbar ist z.B. der Kern der NP ihm in folgendem Satz Ich gab sie ihm (*Ich gab sie dem lustigen ihm). Bis in das 19. Jahrhundert hinein gab es allerdings immer wieder Schreiber, die auch nicht-erweiterbare Nominalgruppen großgeschrieben haben, also z.B. Pronomen, wie * < Hast du Etwas gehört? > . 8 In Dänemark wurde die Großschreibung der Substantive 1948 abgeschafft. 7. Die Schreibprinzipien 145 Großgeschrieben werden manchmal noch die Pronomen in der höflichen Anrede (Ich schreibe Ihnen heute diesen Brief. Ich hoffe, Sie freuen Sich). Sie können allerdings auch klein geschrieben werden. 9 Auch sie sind nicht-erweiterbare Nominalgruppen. Die Groß- und Kleinschreibung war im Deutschen natürlich nicht schon immer so geregelt. Wie alle anderen Formen der Kodifizierung von Schriftsprache, ist sie das Ergebnis eines Prozesses, der hier in gebotener Kürze dargelegt sei. Da zahlreiche verschiedene Schriftarten existierten, wurde auf Veranlassung Karls des Großen Mitte des 8. Jahrhunderts die sogenannte karolingische Minuskel eingeführt, eine einheitliche, gut lesbare Schriftart, die nur aus Minuskeln bestand. Großbuchstaben kamen nur als Schmuckinitialen vor, also als große, ausgeschmückte Buchstaben am Anfang eines Textes oder Absatzes. Im Althochdeutschen gab es dementsprechend zunächst noch keine Großschreibung. Dies änderte sich jedoch langsam zum Mittelhochdeutschen hin. Die mhd. Großschreibung ist noch relativ ungeregelt. Groß werden oft sakrale Namen (z.B. GOTT, GOtt, HERR oder HErr) geschrieben, Eigennamen oder Satz- und Zeilenanfänge. Allerdings ist das mhd. Schriftbild in dieser Hinsicht sehr heterogen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Großschreibung der Hervorhebung diente. Im 16. und 17. Jahrhundert, also im Frühneuhochdeutschen, wurde die Substantivgroßschreibung verfestigt. Vereinfacht dargestellt verlief diese Entwicklung in etwas so: Zunächst wurden Eigennamen und nomina sacra großgeschrieben, dann Titelbezeichnungen und geographische Namen, dann Gruppenbezeichnungen und Konkreta, schließlich auch Abstrakta. Die Regelung, nur den expandierbaren Kern einer NP groß zu schreiben galt noch nicht, folglich kam es auch zu häufigen Großschreibungen von Adjektiven, die Substantive modifizieren. Auch sonst wurden Adjektive im 16. und 17. Jahrhundert häufig groß geschrieben. Um 1700 herum ist die Substantivgroßschreibung abgeschlossen. Die Entwicklung der Groß- und Kleinschreibung von Satzanfängen ist eng verbunden mit der Entstehung der Interpunktion, die erst langsam im Mittelhochdeutschen entstand. Von einer geregelten Interpunktion ist allerdings noch nicht zu sprechen. Zur Kennzeichnung des Satzendes oder von Sprechpausen dienen der Punkt und die Virgel (Schrägstrich). Letztere findet ab dem Frühneuhochdeutschen immer häufiger Verwendung und wird eingesetzt zur Markierung von Teilsätzen und Sätzen. Langsam entsteht erst die Kenntlichmachung von Teilsätzen durch das Komma und die 9 Manchmal spricht man bei der Großschreibung von Pronomen zum Zweck der höflichen Anrede von einem pragmatischen oder pragmatisch-textuellen Prinzip. 146 Kapitel 9. Graphemik & Orthographie tauchen das Frage- und das Ausrufungszeichen auf. Exkurs: Substantivgroßschreibung Im Deutschunterricht wurde früher häufig gelehrt, dass Substantive groß geschrieben werden. Diese Bezugnahme auf die Wortart führte, besonders durch das Vorhandensein zahlreicher sekundärer Substantive, zu vielen Problemen. Auch heute noch zählen Fehler in der Groß- und Kleinschreibung zu den häufigsten überhaupt. Daher suchte man nach neuen Strategien. Heute ist man vom Wortarten-Zugang abgerückt und versucht den Schülerinnen und Schülern den Substantivbegriff syntaktisch zu vermitteln. Als Substantiv gilt, was mit Adjektivattributen erweitert werden kann, z.B. der Hut, der lustige Hut, der wirklich lustige Hut, usw. Manchmal wird auch die Artikelprobe verwendet. Als Substantiv gilt dann, was einen Artikel nehmen kann. Die Artikelprobe funktioniert allerdings nicht immer. Daher müssen meist beide Proben herangezogen werden, nur so kann man erklären, warum man z.B. im Allgemeinen groß schreibt. 7.11 Großschreibung sowie die Zeichensetzung - Teil II Da die Interpunktion im 16. Jahrhundert also noch nicht geregelt war, begann man immer konsequenter - ganz im Sinne des grammatischen Prinzips - Satzanfänge durch Großschreibung zu kennzeichnen. Teilweise wurden ab dem 16. Jahrhundert auch Nebensätze groß geschrieben. So schreibt Martin Luther 1545 noch: „Darumb bleiben die Gottlosen nicht im Gerichte / Noch die Sünder in der gemeine der Gerechten.“ Im Althochdeutschen stellt die Kleinschreibung die Normalform dar. Groß geschrieben werden nur Anfänge von Sätzen, Strophen oder Absätzen. Im Mittelhochdeutschen dient die Großschreibung vor allem der Hervorhebung von nomina sacra (Jerusalem, GOtt) und hohen Würdenträgern (Keiser, Heinrich), sie taucht also auch innerhalb von Sätzen auf. Kennzeichnung des Satzendes mittels des Punktes. Erst im 16. Jahrhundert 7. Die Schreibprinzipien 147 Im Frühneuhochdeutschen verstärkte Großschreibung innerhalb von Sätzen, zur Hervorhebung von Eigennamen, Titelbezeichnungen, Gruppennamen, geographischen Namen, Substantiven oder anderen Wortarten sowie teilweise zur Kennzeichnung von Satzanfang oder Teilsatzbeginn. Manchmal auch Kennzeichnung eines Sprecherwechsels. Aufgabe: Versuchen Sie, die Prinzipien herauszufinden, nach denen sich die Großschreibung in diesem Text richtet! Wie haben sich diese Prinzipien zum Nhd. hin entwickelt? Die erste vrsache ist / das das Sauffen von Gott in seim Wort verboten ist. Saufen aber heisst (wie es alle vernünfftige Menschen verstehen) wenn man mehr in Leib geusst / denn die notturfft foddert / Es geschehe nun / auf wasserley weise / oder vmb wasserley vrsachen willen es geschehe / man thue es gleich aus eignem vornemen / aus gewonheit / oder jemand zugefallen / so heissts doch alles gesoffen. Gleich wie Fressen / heisst / wenn man mehr speise in Leib stecket / denn die notturfft foddert. Denn essen vnd trincken ist vns von Gott darumb gegeben / das wir den Hunger vnnd Durst damit vertreiben / vnd den Leib damit erhalten sollen / Was nun dar e uber geschicht / das heisst alles gefressen vnnd gesoffen / vnnd ist ein missbrauch der Creaturn Gottes / da hilfft keine entsch e uldigung fur. Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2006; Text aus Matthäus Friedrich, Wider den Saufteufel, Druck Leipzig 1552, editiert in: Frühneuhochdeutsches Lesebuch, hg. von O. Reichmann u. K.-P. Wegera, 1988, S. 93f. Beispielaufgabe Großschreibung Eine Einführung in die Graphemik finden Sie in Dürscheid (2006), eine knappe Übersicht über die Entwicklung der deutschen Orthographie bietet z.B. Maas (2011). Literaturtipps 10 | Morphologie Während im gegenwartsprachlichen Teil im Kapitel über Morphologie noch auf weiterführende Ausführungen über die Flexion ausgespart wurden, treten diese hier verstärkt in den Fokus. Dies hat seinen Grund darin, dass die gegenwartsprachliche Flexion jedem kompetenten Sprachbenutzer bekannt ist und diese aus dem Gedächtnis abgerufen werden kann. Dies gilt selbstverständlich nicht für vergangene Sprachstufen. Allerdings werden wir uns hier auf den im Examen am häufigsten gefragten Bereich konzentrieren: die Verbflexion. Die Deklination der Substantive und Adjektive werden nur selten gefragt. Diese entnehmen Sie z.B. Weddige (2003). 1 Die Verbflexion Im Deutschen unterscheidet man grundlegend zwischen sogenannten starken und schwachen Verben. Starke Verben sind solche mit einer Flexion, die einen Wechsel des Stammvokals beinhaltet. Ihre verschiedenen gebeugten Formen werden also durch den sogenannten Ablaut gebildet. Dabei handelt es sich um den geregelten Wechsel eines Vokals in etymologisch verwandten Wörtern (die flektierten Formen eines Verbs sind logischerweise miteinander verwandt). Beim Ablaut handelt es sich um den geregelten Vokalwechsel in etymologisch verwandten Wörtern. Der Ablaut kann qualitativer Natur sein, dann wechselt tatsächlich der Vokal oder quantitativer Art, dann wechselt nur die Vokallänge. Im Falle der starken Verben wechselt bei deren Flexion der Stammvokal, wie z.B. im mhd. Verb nemen: 2. Die starken Verben 149 (57) nemen - nam - genomen Den starken Verben zu eigen ist außerdem, dass das Partizip Präteritum durch die Zirkumfigierung mit {ge}- ... -{en}, wie in genomen, gebildet wird. Die Präteritumsform der schwachen Verben wird durch Suffigierung mit -(e)tgebildet, wie beim mhd. Verb legen: (58) legen - legete - geleget Schwache Verben erkennt man an dem t, das sowohl im Präteritum als auch im Partizip Präteritum angehängt wird. Sie sind immer aus Substantiven, Adjektiven oder starken Verben entstanden. Starke Verben erkennt man am Ablaut, also am Wechsel des Stammvokals. Besonders das Erkennen der starken Verben ist für das Übersetzen und Verstehen mhd. Texte eine grundlegende Fähigkeit. Nur so kann man den Infinitiv rekonstruieren, den man im Wörterbuch nachschlagen kann. Dies ist vor allem deshalb von Bedeutung, da es im Mhd. mehr starke Verben gibt, als im Neuhochdeutschen (die Zahl der mhd. starken Verben beträgt etwa zwischen 350 und 400). Die mhd. starken Verben werden nach ihren speziellen Eigenschaften in sieben große Klassen (teilweise mit Unterklassen) eingeteilt. 2 Die starken Verben Starke Verben zeichnen sich also durch die Eigenschaft aus, ihren Wurzelvokal infolge der Flexion zu ändern. Folgen wir Hennings (2003: 48) und betrachten die Präsensflexion von mhd. nemen: Sg. 1. ich nim-e 2. du nim-est 3. er nim-et Pl. 1. wir nem-en 2. ir nem-et 3. sie nem-ent Während also im Infinitiv und in den Pluralformen in der Wurzelsilbe ein < e > steht, weist das Paradigma im Singular ein < i > auf. Dies hat seinen 150 Kapitel 10. Morphologie Grund in voralthochdeutscher Zeit. Sieht man sich die ahd. Flexionstabelle an, so fällt eine Tatsache sofort ins Auge: Sg. 1. ich nim-u 2. du nim-ist 3. er nim-it Pl. 1. wir nem-âmes 2. ir nem-et 3. sie nem-ant Gemeint ist hier natürlich nicht, dass die Alternanz des Wurzelvokals schon in althochdeutscher Zeit aufgetreten ist, sondern ein Phänomen, das schon einmal kurz angesprochen wurde: die Nebensilbenabschwächung vom Althochdeutschen über das Mittelhochdeutsche zum Neuhochdeutschen. Der Vokalreichtum der Nebensilben ist schon zum Mittelhochdeutschen hin weitgehend verschwunden. Allerdings haben die Nebensilbenvokale in voralthochdeutscher Zeit hier etwas bewirkt: Ursprünglich war < e > in allen Flexionsformen zu finden. Allerdings wurden im Laufe eines Prozesses, den man nordwestgermanische Hebung nennt, alle < e > zu < i > angeglichen, wenn eine der drei folgenden Bedingungen galt: 1 1. wenn dem < e > ein < i > oder ein < j > folgte 2. wenn dem < e > ein < u > folgte oder 3. wenn dem < e > eine Nasalverbindung folgte, z.B. < nd > Von besonderem Interesse ist für uns an dieser Stelle die erste Bedingung. Denn sie kommt vor allem für die Gruppe der sog. jan-Verben in Betracht und erklärt etwa, wie aus got. lagjan > mhd. legen werden konnte. Man bezeichnet diese erste Bedingung als i-Umlaut oder einfach nur als Umlaut (nach Jacob Grimm). Die vom i-Umlaut betroffenen Laute werden palatalisiert, also in Richtung des harten Gaumens verschoben, wo auch das / i/ artikuliert wird. 1 Wie Sie sehen, beziehen wir uns hier nicht auf die Lautung. 2. Die starken Verben 151 Als Umlaut oder i-Umlaut bezeichnet man das Phänomen, dass umlautfähige Vokale in betonter Silbe, welchen ein < i > oder < j > in einer unbetonten Silbe folgte, an diese angeglichen (palatalisiert) wurden. Dieser Prozess fand in allen germanischen Sprachen, außer im Gotischen, statt. Berühmtestes Beispiel für einen solchen Umlaut ist der Plural von Gast: Gäste. Da man ursprünglich angenommen hatte, dass der Umlaut in verschiedenen Phasen vonstatten ging, unterscheidet man heute - begrifflich vielleicht etwas verwirrend - den Primärumlaut, den Sekundärumlaut und den Restumlaut. Der Primärumlaut: Folgte auf ein kurzes, in betonter Silbe stehendes < a > ein < i > oder ein < j > in unbetonter Silbe, so wurde das / a/ zu einem / e/ gehoben. Da dieses Phänomen schon in Schriften aus dem 8. Jahrhundert, also in der Frühzeit der deutschen Aufzeichnungen, beobachtet werden kann, bezeichnet man es als Primärumlaut. So wurde bereits in althochdeutscher Zeit aus der ursprünglichen Pluralform gasti ahd. gesti (nhd. Gäste). Jetzt wird auch die Bedeutung des Primärumlauts für die starken Verben klar. Hennings (2003: 58) führt als Beispiel das Verb fahren, ahd. faran bzw. mhd. varn an. Sg. 1. ich far-u 2. du fer-ist 3. er fer-it Pl. 1. wir far- ¯ ames 2. ir far-et 3. sie far-ant Zum Mittelhochdeutschen hin kommt es in Folge der Nebensilbenabschwächung zum Ausfall des Vokalreichtums in den unbetonten Silben. Mhd. varn wird nun wie folgt flektiert: 152 Kapitel 10. Morphologie Sg. 1. ich var 2. du ver-st 3. er ver-t Pl. 1. wir var-n 2. ir var-t 3. sie var-nt Der Sekundärumlaut: Folgte zwischen dem kurzen Wurzelvokal / a/ und dem nachfolgenden < i > bzw. < j > eine Konsonantenverbindung, die meist als < ht > , < hs > oder < rw > wiedergegeben sind, oder trat eine Silbe dazwischen, so fand zunächst kein Umlaut statt. Erst im 12. Jahrhundert wurden auch diese kurzen / a/ umgelautet - jedoch nicht zu / e/ , sondern zu / E / , graphisch heute als < ä > dargestellt. So wurde aus dem Plural von mhd. maht dann mähte (nhd. Macht, ahd. Plural mahti). Der Restumlaut: Ebenfalls im 12. Jahrhundert - also zu mittelhochdeutscher Zeit! - wurden nun auch andere Vokale als das kurze [a] umgelautet, wenn in der nächsten oder übernächsten unbetonten Silbe im Althochdeutschen ein < i > oder ein < j > folgte. Wegen des zeitlichen Zusammenfalls von Sekundär- und Restumlaut spricht man auch vom ‚sogenannten Restumlaut‘. Betroffen sind nur lange Vokale. Beispiele sind: (59) a. ahd. gotir > mhd. götter b. ahd. sk¯ oni > mhd. schœne c. ahd. wurfil > mhd. würfel d. ahd. h ¯ usir > mhd. hiuser e. ahd. m ¯ ari > mhd. mære f. ahd. houbit > mhd. höübet g. ahd. gruoni > mhd. grüene Dabei steht ein Strich über einem Vokalbuchstaben für eine in der Sprachgeschichte traditionelle Darstellung für lange Vokale bis zum Mittelhochdeutschen hin. Ebenso wie das Zirkumflex über langgesprochenen Vokalbuchstaben im Mittelhochdeutschen handelt es sich um ein diakritisches Zeichen, das später von Philologen eingesetzt wurde. 3. Die Ablautreihen 153 2.1 Der sogenannte Rückumlaut Unter einem ‚sogenannten Rückumlaut‘ versteht man einen Wechsel des Wurzelvokals in paradigmatisch zusammengehörigen Formen. Der Terminus ‚sogenannter Rückumlaut‘ geht auf eine fehlerhafte Annahme zur Entstehung des Phänomens durch Jacob Grimm zurück. Beschrieben werden soll mit dem sogenannten Rückumlaut das Phänomen, dass im Mittelhochdeutschen eine Reihe Verben existieren, deren Infinitiv- und Präsensformen einen Umlaut aufweisen, dieser jedoch nicht in den Präteritalformen auftritt, z.B.: (60) a. hœren - hôrte - gehôrt b. knüpfen - knupfte - geknupft c. zeln - zalte - gezalt Dass der Umlaut im Präteritum nicht durchgeführt wurde, hat folgende Ursache: Diese Verben entwickelten sich aus den sogenannten langwurzligen jan-Verben des Gotischen, die wie der Name schon sagt, auf -jan endeten. Das < j > , aus dem sich später im Ahd. ein < i > entwickelte, schwand jedoch im Präteritum und konnte so nur im Präsens Umlaut bewirken. 2 Im Neuhochdeutschen wurden der sogenannte Rückumlaut im Zuge einer Analogiebildung dann allerdings meist wieder getilgt, das heißt, die Präteritalformen wurden den Präsensformen angeglichen. So wurde z.B. aus mhd. küssen - kuste - gekust, nhd. küssen - küsste - geküsst. Ausnahmen bilden Wörter, in welchen auf den Stammvokal < nn > oder < nd > folgt, wie brennen - brannte - gebrannt. 3 Die Ablautreihen Da der Infinitiv starker Verben nur mit der Kenntnis der genauen Ablautschemata rekonstruierbar ist, wird viel Wert darauf gelegt, diese Schemata, die sogenannten Ablautreihen gut zu beherrschen. Die Rekonstruktion des Infinitivs dient der Lexemrückführung. Nur so lässt sich das entsprechende Verb im Lexikon nachschlagen, schließlich findet man in Lexika keine flektierten Formen. Für das Staatsexamen heißt das: Sie müssen diese Tabelle auswendig lernen. 2 Jacob Grimm hatte irrtümlich angenommen, dass die Präteritalformen zunächst umgelautet wurden und dieser Umlaut später wieder rückgängig gemacht wurde. Daher bezeichnete er diese Phänomen als ‚Rückumlaut‘. 154 Kapitel 10. Morphologie Die mittelhochdeutschen starken Verben werden in sieben Ablautklassen eingeteilt, wobei die ersten drei Klassen jeweils über eine Unterklasse verfügen. Es reicht nicht, nur Beispielkonjugationen zu lernen, da beim Ablaut vor allem die Lautumgebung eine Rolle spielt. Gelernt werden muss die Infinitivform, das Präsens Singular, das Präteritum Singular und Plural sowie das Partizip II, wie in Tabelle 20 gezeigt. Die Abkürzung K steht für Konsonant. Reihe Infinitiv Präs. Sg. Prät. Sg. Prät. Pl. Part. II Ia (î) rîten rîte reit riten geriten Ib (î + h/ r/ w) zîhen zîhe zêh zigen gezigen IIa (ie) biegen biuge bouc bugen gebogen IIb (ie + t/ d/ s/ z/ h) bieten biute bôt buten geboten IIIa (i + m/ n + K) binden binde bant bunden gebunden IIIb (e + l/ r + K) werfen wirfe warf wurfen geworfen IV (e + m/ n/ l/ r) nemen nime nam nâmen genomen (komen) (kume) (kom) (kômen) (komen) V (i/ e + K) geben gibe gap gâben (ge)geben VI varn var vuor vuoren gevarn VII (ie im Prät.) heizen heize hiez hiezen geheizen Tabelle 20: Die sieben Ablautreihen des Mittelhochdeutschen Es bringt wenig nur die in der Tabelle angegeben Beispiele zu lernen. Die in der ersten Spalte in Klammern angegebenen Rahmenbedingungen (Lautumgebungen) sind unbedingt notwendig, um Verben eindeutig bestimmen zu können. Reihe VII stellt eine Besonderheit dar, da sie nur an den Diphthongen < e > in den Präteritalformen erkennbar ist. In allen anderen Formen können beliebige Vokale auftreten (z.B. vallen, valle, viel, vielen, gevallen oder ruofen, ruofe, rief, riefen, geroufen). 4. Präterito-Präsentien 155 Aufgabe: Notieren Sie zu den folgenden Verben jeweils die Klasse und die mittelhochdeutschen Stammformen: (1) ir bûhurt wart sô herte, daz al diu burc erdôz. (2) Ir ritterschaft die geste bat man abe lân[...] und (3)Die herren kômen beide, dâ sie solden ligen. Gestellt im bayerischen Staatsexamen, Frühjahr 2010 Beispielaufgabe Stammformen 4 Präterito-Präsentien Die Präterito-Präsentien sind eine besondere Klasse von Verben. Sie waren ursprünglich starke Verben, deren Präteritalform jedoch die Bedeutung des Präsens angenommen hat. Um ein neues Präteritum zu bilden, wurde einfach auf die Bildung der schwachen Verben zurückgegriffen, es erfolgte also eine Suffigierung mit {-te} bzw. {-de}. Präterito-Präsentien sind Verben, deren starke Präteritalformen Präsensbedeutung angenommen haben. Die nachfolgende Tabelle gibt eine kurze Übersicht über die mhd. Präterito- Präsentia. Reihe Infinitiv 1. Pers. Sg. Präs. 1. Pers. Sg. Prät. I wizzen weiz wisse/ wesse/ wiste/ weste II tugen/ tügen touc tohte III kunnen/ künnen kann kunde/ konde gunnen/ günnen ich gan - du ganst gunde/ gonde durfen/ dürfen ich darf - du darfst dorfte turren/ türren (nhd. wagen) ich (ge)tag - du tars (ge)torste IV suln/ süln ich sal/ sol - du salt/ solt solde/ solte V mugen/ mügen/ magenich mac - du maht mahte/ mohte VI mouzen/ müezen ich mouz - du moust mouse/ mouste 156 Kapitel 10. Morphologie Wie aus der Tabelle ersichtlich, lassen sich die Präterito-Präsentien den Ablautreihen I bis VI zuordnen. Da in den Staatsexamina fast jedes Mal eine Bestimmung von Verbformen verlangt wird, ist es unumgänglich, auch diese Tabelle zu lernen, da immer wieder Präterito-Präsentia gefragt werden. Ähnliche Phänomene gibt es übrigens auch in anderen Sprachen, so im Georgischen oder die verba defectiva im Lateinischen (z.B. meminisse). 5 Wurzelverben Eine weitere Gruppe besonderer Verben stellen die Wurzelverben dar. Sie lassen sich weder zu den starken noch zu den schwachen Verben rechnen, da ihnen ein stammbildendes Suffix fehlt. Zu den Wurzelverben zählen mhd. sîn, nhd. sein, mhd. tuon, nhd. tun, mhd. gân/ gên, nhd. gehen und mhd. stân/ stên, nhd. stehen. Sie werden wie folgt konjugiert: Indikativ (Präsens) Konjunktiv I (Präsens) Sg. 1. ich bin sî 2. du bist sîst 3. er ist sî Pl. 1. wir sîn/ sint/ birn sîn 2. ir sît/ sint/ birt/ bint sît 3. sie sint sîn Das Wurzelverb sîn verfügt über keine eigene Präteritalformen. Stattdessen wird zu diesem Zweck das aus der 5. Ablautreihe stammende starke Verb wesen verwendet, das der Vollständigkeit halber auch noch aufgeführt sei: Indikativ (Präteritum) Konjunktiv II (Präteritum) Sg. 1. ich was wære 2. du wære wærest 3. er was wære Pl. 1. wir wâren wæren 2. ir wâret wæret 3. sie wâren wæren 5. Wurzelverben 157 Das Wurzelverb tuon flektiert wie folgt: Indikativ (Präsens) Konjunktiv I (Präsens) Sg. 1. ich tuon tuo 2. du tuost tuost 3. er tuot tuo Pl. 1. wir tuon tuon 2. ir tuot tuot 3. sie tuont tuon Indikativ (Präteritum) Konjunktiv IT (Präteritum) Sg. 1. ich tet(e) tæte 2. du tæte tætest 3. er tet(e) tæte Pl. 1. wir tâten tæten 2. ir tâtet tætet 3. sie tâten tæten Die Konjugationen der Wurzelverben gân und stân verhalten sich gleich, weswegen hier nur exemplarisch die Konjugationstabelle von gân aufgeführt wird. Sie verhalten sich im Präsens wie tuon, das Präteritum bilden sie regelmäßig: Indikativ (Präsens) Konjunktiv I (Präsens) Sg. 1. ich gân gê 2. du gâst gêst 3. er gât gê Pl. 1. wir gân gên 2. ir gât gêt 3. sie gânt gên 158 Kapitel 10. Morphologie Indikativ (Präteritum) Konjunktiv II (Präteritum) Sg. 1. ich gienc gienge 2. du gienge giengest 3. er gienc gienge Pl. 1. wir giengen giengen 2. ir gienget gienget 3. sie giengen giengen Die Wurzelverben werden auch als athematische Verben bezeichnet, weil sie über keinen sogenannten Themavokal verfügen. Das bedeutet, dass zwischen Wurzel und Flexionsendung kein Vokal eingeschoben wird, wie bei (er) findet: {find} = Wurzel, {e} = Themavokal, {et} = Flexionsendung. Im Gegensatz dazu (er) tuot, ohne einen solchen Themavokal. Ähnlich wie die Wurzelverben verhalten sich die sogenannten kontrahierten Verben, von welchen neben Vollformen auch kontrahierte Formen existieren, so haben neben hân oder lâzen neben lân. Zur historischen Morphologie finden Sie weitere Informationen in Nübling (2010) und Fleischer (2011). Zur Flexion finden Sie weitere Informationen in Hennings (2003) und Weddige (2007). Literaturtipps 11 | Syntax: ausgewählte Themen Die Syntax vergangener deutscher Sprachstufen ist noch nicht sehr intensiv untersucht worden, daher werden hier nur ausgewählte Bereiche behandelt. Syntaxthemen werden im Examen immer häufiger gefragt. Vorgestellt werden hier vor allem der Ausbau der Klammerstruktur, der Genitivwandel und die Negation. 1 Die deutsche Klammerstruktur im Wandel Im gegenwartssprachlichen Teil dieses Buches haben wir bereits das topologische Feldermodell von Erich Drach kennengelernt (Seite 72), nach dem sich für deutsche Sätze eine charakteristische Felderstruktur ergibt. Den Vorteil solcher klammernden Verfahren sieht Ronneberger-Sibold (1994: 115) auf der Hörerseite: Das klammernde Verfahren besteht darin, daß bestimmte Bestandteile eines Satzes so von zwei Grenzsignalen umschlossen werden, daß der Hörer aus dem Auftreten des ersten Signals mit sehr großer Wahrscheinlichkeit schließen kann, daß der betreffende Bestandteil erst dann beendet sein wird, wenn das passende zweite Signal in der Sprechkette erscheint. Diese Struktur hat allerdings in ihrer heutigen Ausprägung so noch nicht immer bestanden. Insgesamt lässt sich für die Geschichte des Deutschen ein starker Ausbau der Klammerstruktur nachweisen. Allerdings wird bisweilen unter dem Begriff ‚Klammer‘ nicht nur die Drach’sche Verbalklammer verstanden, sondern teilweise auch Nominal- und Nebensatzklammern. 160 Kapitel 11. Syntax: ausgewählte Themen 1.1 Nominal- und Nebensatzklammern Nominalklammern werden meist aus einem Determinierer und einem Substantiv gebildet (z.B. Der lachende und sich schüttelnde Mann) 1 oder im Falle von Präpositionalphrasen von einer Präposition und einem Substantiv (z.B. Unter dem hölzernen Tisch). Die deutschen Nebensatzklammern bestehen aus einem einleitenden Element (ein Relativpronomen oder eine Konjunktion) und einem finiten Verb (bzw. einem Verbalkomplex mit einem Finitum; z.B. weil er ihr einen Brief geschrieben hatte.). So ergibt sich die für das Deutsche charakteristische Distanzstellung. Interessanterweise ist die Interpretation solcher Klammern erst möglich, wenn beide Teile verarbeitet wurden. Sprachgeschichtlich verstärkt wurde dies nicht nur durch den verstärkten Ausbau der Klammern, sondern auch durch die mhd. Nebensilbenabschwächung, in deren Zuge viele deutsche Artikelformen homophon wurden. Nübling (2010: 93) führt als Beispiel den heutigen Artikel die an, dessen Nominativ-Singular-, Akkusativ-Singular- und Akkusativ-Plural-Formen im Ahd. noch diu, dia bzw. dio lauteten und heute allesamt zu die wurden. Das bedeutet für die Sprachverarbeitung, dass der Hörer zunächst aus dem klammeröffnenden Element nicht genau schließen kann, wie die Konstruktion endet. Dabei handelt es sich also um ein eher sprecherorientiertes Verfahren. 1.2 Klammerausbau Wie bereits angesprochen, erfuhr das Deutsche in seiner Entwicklung bis heute einen Ausbau seiner Klammerstruktur. Dieser Ausbau erfolgte jedoch nicht voraussetzungslos, sondern hat seine Gründe in einigen besonderen Sprachentwicklungen der deutschen Sprache. Nübling (2010: 94) gibt folgende Gründe bzw. Voraussetzungen für den deutschen Klammerausbau an (die Beispiele stammen ebenfalls von dort): • Die obligatorische Verwendung von Personalpronomen (ahd. giloubu > ih giloubu) • Der Einsatz von Artikeln (ahd. man quam > nhd. ein/ der Mann kam) • Präpositionen als Kasusersatz (das Ende des Liedes > das Ende vom Lied) 1 Steht kein Determinierer vor einem durch ein Adjektiv attribuierten Substantiv, so übernimmt das Adjektiv die starke Flexion (z.B. dem schönen Mann vs. schönem Mann). 1. Die deutsche Klammerstruktur im Wandel 161 • Periphrastische Umschreibung wie Perfekt (sie hat Lieder gesungen), Plusquamperfekt (sie hatte Lieder gesungen), Passiv (Lieder werden gesungen) oder die Konjuktivumschreibung mit würde (sie würde gerne Lieder singen) • Modalverbkonstruktionen (sie muss Lieder singen) • Funktionsverbgefüge (sie wird den Liedvortrag zum Abschluss bringen) 2 Was im Laufe der Entwicklung des Deutschen geschehen ist, bezeichnet man als Prädetermination. Zwar werden, wie noch im Idg. die Flexionsendungen am Wortende markiert (z.B. Konjugationsendungen oder Kasusmarkierer), jedoch hat sich das Deutsche langsam von einer postdeterminierenden zu einer prädeterminierenden Sprache entwickelt, bei der erst die grammatische Information, dann die lexikalische genannt wird, damit steigt der Informationsgehaltes eines Satzes sozusagen von links nach rechts an. 1.3 Die Entwicklung der Verbstellung Wie wir bereits gelernt haben, ist das Deutsche eine sogenannte V2-Sprache, also eine Sprache, in der das Verb als zweites Element in einem Satz steht, bzw. in der Terminologie des Feldermodells, die linke Klammer besetzt. Diese Eigenschaft teilt das Deutsche mit zahlreichen anderen germ. Sprachen, eine Ausnahme stellt z.B. aber das Englische dar, in dem vor dem finiten Verb nicht nur ein einziges Satzglied stehen darf, sondern ohne Probleme auch mehrere (Tomorrow Alice and Bob will marry vs. Alice und Bob werden morgen heiraten). Auch im Ahd. wurden deklarative Hauptsätze meist mit V2-Stellung konstruiert, allerdings war die Wortstellung insgesamt freier. So konnten z.B. auch deklarative Hauptsätze mit Verberststellung auftreten, wie das folgende Beispiel aus dem Tatian zeigt (zitiert nach Fleischer 2011: 152): (61) uuas thar ou sum uuita / in threo burgi war da auch gewisse Witwe in dieser Stadt ‚Es lebte eine Witwe in dieser Stadt‘ (Tatian 201,2-3) 2 Funktionsverben sind solche Verben, die eine grammatische Funktion tragen, aber zur Bedeutung eines Satzes nicht beitragen. Beispiele sind bringen in etwas zum Abschluss bringen oder verabschieden in ein Gesetz verabschieden. 162 Kapitel 11. Syntax: ausgewählte Themen Die Verberststellung im Ahd. - im Nhd. häufig noch in Witzanfängen verwendet - diente bei deklarativen Hauptsätzen der Kennzeichnung neuer Information. Diese Gliederungsfunktion der Informationsstruktur kommt heute einer Einleitung mit einem Vorfeld-es gleich (siehe die Übersetzung des Satzes). Auch andere Verbstellungstypen treten im Ahd. in deklarativen Hauptsätzen auf. Das bedeutet zusammengefasst, dass die V2-Stellung im deklarativen Hauptsatz im Ahd. schon - wenn auch nicht ausschließlich - genutzt wurde, sich aber im Laufe der Zeit verfestigte. Genauso gab es im Ahd. schon - wieder neben anderen Formen - eine Verbletztstellung im Nebensatz, die sich in der Sprachgeschichte bis heute verfestigte. Interrogativ- und Imperativsätze wurden wie im Ahd. genauso wie bei uns im Nhd. mit V1- Stellung gebildet. Die Wortstellung in ahd. deklarativen Hauptsätzen ist noch relativ variabel, zum Nhd. hin verfestigt sich die heute charakteristische V2-Stellung. Aber noch eine weitere auffällige Verbstellung existierte, nämlich die sogenannte Verspäterstellung, wie wir sie im Prinzip schon im englischen Beispiel eben gesehen haben. Es war also im Ahd. möglich, dass mehrere Satzglieder vor dem Verb standen. Dabei können in Anlehnung an Robinson (1997) und Ramers (2005) zwei Fälle unterschieden werden: 1. Vor dem Finitum stehen mehrere, sogenannte ‚schwere‘ Satzglieder. 2. Vor dem Finitum steht ein schweres Satzglied und ein oder mehrere leichte Satzglieder. Von schweren Satzgliedern spricht man bei vollständigen Phrasen, von leichten Satzgliedern, wenn es sich um Pronomina, die Negationspartikeln oder die Adverbien handelt. Ramers (2005: 85) führt als Beispiel für mehrere schwere Satzglieder folgenden Satz aus dem Tatian an, die Phrasen sind zur Übersicht eingeklammert, das Verb kursiviert: (62) ahd. [in minemo namen] [díuuala] uúrfent ‚In meinem Namen wird er Teufel austreiben ...‘ 1. Die deutsche Klammerstruktur im Wandel 163 Als Beispiel für einen Satz mit einem schweren und einem leichten Satzglied vor dem Finitum führt Ramers (2005: 87) folgendes Beispiel aus dem Isidor an: (63) ahd. [Erino portun] ich firchnussu ‚Eherne Tore zerschmettere ich.‘ Wie die Beispiele zeigen, passen sie nicht zu dem, was wir über das topologische Feldermodell gesagt haben, nämlich dass im Vorfeld nur ein Satzglied stehen darf. Das Verb steht nicht in der linken Satzklammer. Allerdings befindet sich dieser wohl auf das Indoeuropäische zurückgehende Verbstellungstyp bereits im Ahd. auf dem Rückzug - zugunsten der Feldermodells. Noch im Ahd. war es möglich, dass mehrere Elemente im Vorfeld standen. Man spricht von Späterstellung. Vom Althochdeutschen bis in das 16. Jahrhundert war es im Nebensatz möglich, das Infinitum vor oder nach das Finitum zu stellen, wie in den Sätzen (64b) und (64b) eines Nürnberger Lautenspielers von 1546 gezeigt (die Sätze sind Ebert 1998: 2 entnommen). (64) a. ... wie du hernach wirst hören. b. ... wie du hernach sehen wirst. Ab dem 16. Jahrhundert setzt dann ein Wandel in Form einer Bevorzugung der auch heute noch üblichen Abfolge Infinitum vor Finitum ein. 1.4 Die Besetzung der Felder Im Ahd. können also im deklarativen Hauptsatz noch - wie heute z.B. im Englischen - mehrere Konstituenten stehen. Im Laufe der Fixierung der deutschen Klammerstellung wurde das Vorfeld abgebaut, dafür aber das Mittelfeld ausgebaut. Heute können, rein theoretisch, beliebig viele Konstituenten in das Mittelfeld geschoben werden. Das Nachfeld dagegen ist in der deutschen Schriftsprache kaum vorhanden, in der gesprochenen 164 Kapitel 11. Syntax: ausgewählte Themen Sprache dagegen findet man häufig Konstituenten dort. Auch im Ahd. lassen sich zahlreiche Nachfeldbesetzungen nachweisen, die bis zum späten Frühneuhochdeutschen allerdings verschwinden. Diese Entwicklung begünstigt auch eine besondere Eigenschaft des Deutschen, nämlich die Verbendstellung im Nebensatz. Während in früheren Zeiten noch mehrere Konstituenten im Vorfeld eines Satzes stehen konnten, ist heute nur noch eine Konstituente möglich. Das Mittelfeld erfährt einen starken Ausbau. Die Nachfeldbesetzung nimmt diachron ab. Untersucht man die Frage, welche Konstituenten in das Nachfeld ausgelagert werden können, zeigt schon das Ahd. eine Tendenz, die bis heute gilt, nämlich dass hauptsächlich Präpositionalphrasen ausgeklammert werden. Dies hat seinen Grund - so Fleischer (2011: 163) - wahrscheinlich in dem von Otto Behaghel (1932: 6) postulierten Gesetz der wachsenden Glieder 3 nach welchem größere Konstituenten eher in eine Nachstellung tendieren. Auch die Besetzung der rechten Verbalklammer hat sich diachron verändert. Dies lässt sich besonders gut beobachten, wenn sie mit Verbalclustern, also mit zwei oder mehr Verben besetzt ist (z.B. dass das Pferd geschrubbt werden muss). Hier zeigt sich die Tendenz, dass das finite Verb im Laufe der Zeit, besonders aber seit dem 18. Jahrhundert, an die letzte Position rückt. Insgesamt lässt sich auch heute noch ein Ausbau des deutschen Klammerprinzips beobachten. Nübling (2010: 98) nennt folgende, weitere Indizien für einen weiteren Ausbau: • Verwendung vieler trennbarer Partikelverben • (Eigentlich unnötige) Erweiterungen mit trennbaren Partikeln bei Entlehnungen (zB. aufoktroyieren, antelefonieren, nachrecherchieren) • Entwicklung der Adverbialklammer (davon weiß ich nichts > da weiß ich nichts von) • Aufspaltung von Fragewörtern (Woher hat Ayna die Tasche? vs. Wo hat Ayna die Tasche her? ) 3 Es handelt sich um kein Gesetz im eigentlichen Sinne, sondern eher um eine Tendenz. 3. Der Genitiv-Wandel 165 Zur Stärkung der Klammerstrukturen siehe auch Thurmair (1991) oder Ronneberger-Sibold (1994). 2 Die Stellung der Adjektive Adjektive stehen im Nhd. vor dem Substantiv. Im Ahd. war diese Stellung noch sehr frei, i.e. Adjektive konnten Substantiven voran- oder nachgestellt werden. Darüber hinaus war eine Flektion der Adjektive zur Anpassung an das Substantiv nicht notwendig, wie heute noch erhaltene Redewendungen belegen: auf gut Glück. Ab mittelhochdeutscher Zeit ändert sich dies jedoch - im Nhd. werden Adjektive flektiert und vorangestellt. 3 Der Genitiv-Wandel 3.1 Genitivschwund Genitive kommen im Deutschen z.B. adnominal oder adverbal vor. Der adnominale Genitiv ist ein einfaches Genitivattribut, wie der lustige Clown. Der Begriff ‚adnominal‘ besagt also nur, dass der Genitiv an einem Nomen steht. Adverbale Genitive sind solche Genitive, die von einem Verb gefordert werden. Solche vom Verb geforderten Genitivobjekte (z.B. Oma gedenkt ihrer Jugend) sind heute sehr selten geworden (häufig kommen sie noch bei den sogenannten ‚Derrickverben‘ vor, also z.B. anklagen, beschuldigen, bezichtigen, überführen, verdächtigen). Im Ahd. und Mhd. wurden adnominale Genitive meist vor die Substantive gestellt, man sagt auch, es handele sich um präponierte Genitive. Ab dem Frühneuhochdeutschen kommt es dann zu einer Rechtsversetzung, wie Nübling (2010: 102) an folgendem Beispiel zeigt (65) ahd. (des) fateres h ¯ us > mhd. des vater(e)s hûs > frnhd. des vaters haus > das haus des vaters > nhd. das Haus des Vaters/ ugs. das Haus vom Vater, dem Vater sein Haus Eine Strategie zur Vermeidung solcher Rechtsversetzungen ist eine Morphologisierung, genauer eine Komposition der aufeinanderfolgenden Substantive. So würde aus der Folge fateres h ¯ us das Substantivkompositum Vaterhaus. In diesem Fall fällt das Genitiv-s aus, dieses ist jedoch tatsächlich der Ursprung des heutigen, produktiven Fugen-s. 166 Kapitel 11. Syntax: ausgewählte Themen Der adnominale Genitiv ist heute selten geworden. Er wird heute entweder durch einen possessiven Dativ oder durch eine von-Periphrase ersetzt: (66) a. Dem Nachbarn sein Auto (possessiver Dativ, nur für belebte Referenten) b. Das Auto vom Nachbarn (von-Periphrase) Für den adverbalen Genitiv gilt in der Sprachentwicklung des Deutschen: Verben, die einen Genitiv fordern, sterben im 14./ 15. Jahrhundert entweder aus oder ändern schlichtweg ihre Rektion (fordern also heute z.B. einen Dativ). Teilweise existieren auch mehrere Rektionsformen zur gleichen Zeit. Fleischer (2011: 87) illustriert eine solche Konkurrenzsituation an zwei Lutherzitaten: (67) a. Vnd hast vergessen Gottes / der dich gemacht hat (Genitivobjekt) b. da vergist man Gott (Akkusativobjekt) Die beiden Beispielsätze zeigen, dass das Verb vergessen etwa zur gleichen Zeit sowohl ein Genitivals auch ein Akkusativobjekt fordern konnte. Überlebt hat heute nur das Akkusativobjekt. Der Akkusativ ist auch derjenige Kasus der den meisten Verben als Ersatzkasus anstelle des Genitivs gedient hat. Häufig wurde der Genitiv aber auch durch Präpositionalphrasen verdrängt (z.B. sich behelfen mit). 3.2 Genitivus subjecticus und objectivus Wie auch im Lateinischen, so gibt es im Mittelhochdeutschen das Phänomen, dass ein Genitiv als sogenannter genitivus subjectivus sozusagen den ‚Träger einer Handlung‘ bezeichnen kann oder als formgleicher genitivus objectivus das Objekt einer Handlung oder Ereignisses. Auch wenn Sie von Latein keine Ahnung haben, werden Sie die folgenden lateinischen Beispiele und ihre Übersetzungen verstehen (lat. feminae, also nhd. ‚Frau‘ steht im Genitiv): (68) a. Amor feminae: die Liebe einer Frau (genitivus subjectivus) b. Amor feminae: die Liebe zu einer Frau (genitivus objectivus) 4. Negation 167 Genauso verhält es sich im Mhd. Auch dort können formgleiche Genitive entweder als genitivus subjectivus oder als genitivus objectivus interpretiert werden: (69) a. eines wîbes minne: die Liebe einer Frau (genitivus subjectivus) b. eines wîbes minne: die Liebe zu einer Frau (genitivus objectivus) 3.3 Genitivus partitivus Der genitivus partitivus, eine Form des Genitivs, die manchen ebenfalls aus dem Lateinunterricht bekannt sein könnte, bezeichnet den Teil einer Gesamtheit. Der genitivus partitivus steht im Mhd. nach Ausdrücken der Qualität, wie z.B. bei mhd. wâfens genouc > nhd. genügend Waffen. Dieser partitive Genitiv hat sich heute nur noch in Redewendungen wie Manns genug sein oder Aufhebens um etwas machen erhalten. 4 Negation 4.1 Der Jespersen-Zyklus In einer berühmt gewordenen Arbeit beschrieb der Linguist Otto Jespersen (1860-1943) die sprachgeschichtliche Entwicklung von Negationsträgern in einer Art Zyklus, der später nach ihm benannt wurde ( Jespersen 1917). Dieser Zyklus umfasst die folgenden drei Stufen: (I) Schwächung des Negationsträgers, (II) die Negation muss wieder gestärkt werden, schließlich handelt es sich um ein zentrales Konzept, also wird ein weiterer Negationsausdruck hinzugefügt, der dann aber (III) so stark wird, dass der ursprüngliche Negationsträger getilgt werden kann. Im Althochdeutschen wurde eine Satznegation mittels einer Konstruktion, die sich etwa so ‚ni + finites Verb‘ schematisieren ließe, realisiert. Siehe dazu das ahd. Beispiel in (70), zitiert nach Nübling (2010: 103). (70) dê dâr trinkit fon thesemo uuazzare thaz ih gibu ni thurstit zi êuuidu ‚Wer von dem Wasser trinkt, das ich gebe, den dürstet nicht in Ewigkeit‘ (Tatian 87,3) Bereits im Spätahd. wurde der Negationsträger ni geschwächt. Die Gründe für eine solche Schwächung sind zwar unklar, dennoch lässt sich diese 168 Kapitel 11. Syntax: ausgewählte Themen Entwicklung an den häufigen Klitisierungen ablesen (z.B. ahd. nindrinnes > nhd. nicht entrinnest). Etwa zu selben Zeit tritt zu ni der verstärkende Negationsausdruck niht hinzu, sodass sich folgendes Schema ergibt: ‚ni + finites Verb + niht‘. 4 Ab dem 15. Jahrhundert beginnen die Klitika wieder zu verschwinden, bereits im 17. Jahrhundert finden sie sich nicht mehr. Es bleibt nur noch unser heutiges nicht übrig. Vom Mittelhochdeutschen, das neben niht auch noch die aus dem althochdeutschen ni entstandenen Negationsträger ne, en und n kannte, wird allgemein angenommen, dass es hauptsächlich mit doppelter Negation als Grundstruktur arbeitete. Dem widerspricht allerdings eine empirische Untersuchung von Jäger (2008: 215ff.), die in mhd. Texten nur in 4 bis 27% der Fälle eine doppelte Negation gefunden haben will (ich denke, hier wäre eine großangelegte Studie vonnöten). Fleischer (2011: 231) bringt es auf den Punkt (Hervorhebung von mir): Wahrscheinlich wird die doppelte Negation, die ja im Mittelhochdeutschen durchaus vorkommt, als besonders typisch wahrgenommen, weil sie eine im Neuhochdeutschen nicht mehr mögliche Struktur darstellt und deshalb im Vergleich zum Neuhochdeutschen besonders ‚auffällig‘ ist. In diesem Zusammenhang zeigt sich der verzerrende Effekt der kritischen Ausgaben mittelhochdeutscher Texte deutlich: Die Herausgeber ‚klassischer‘ mittelhochdeutscher Texte fügten häufig die Negationspartikel en in ihren Ausgaben hinzu [. . . ]. Scheinbar wurde die doppelte Negation im Deutschen also nicht häufig oder jedenfalls nicht lange gebraucht. Oder mit anderen Worten: Die zweite Stufe des Jespersen-Zyklus scheint im Deutschen kaum aufgetreten zu sein. 4.2 Negativ exzipierende Sätze Häufig tauchen in mhd. Sätzen für uns ungewöhlich erscheinende Negationskonstruktionen auf, die aus einem untergeordenen Satz bestehen, der eine Einschränkung des übergeordneten Satzes ausdrückt. Diese untergeordneten, sogenannten negativ exzipierenden Sätze (exzipierend heißt einfach ‚eine Ausnahme bildend‘) enthalten eine Negation, stehen im Konjunktiv und sind ihrer äußeren Konstruktion nach Hauptsätze. Hennings (2003: 200) nennt drei Kennzeichen zum Erkennen negativ exzipierender Sätze: 4 Sollten Sie sich an französische Negationskonstruktionen erinnert fühlen, so liegen Sie mit Ihrer Intuition genau richtig. Auch das Französische hat solche Klammerkonstruktionen, die sich ebenfalls durch den Jespersenzyklus beschreiben lassen. 4. Negation 169 1. Der Satz enthält eine einfache Negation mit ne. 2. Der Satz weist die Satzstellung eines Hauptsatzes auf. 3. Das Verb steht im Konjunktiv. Solche Sätze lassen sich übersetzen mit es sei denn, dass oder mit wenn nicht, wie im nachfolgenden mhd. Beispiel dargestellt (beide aus Hennings 2003: 201): (71) mich enmac getrœsten niemen, si entuoz. ‚Mir vermag niemand Hoffnung zu geben, es sei denn, dass sie es tut.‘ Allerdings kann die Negation mit ne auch fehlen, wenn sie schon im übergeordneten Satz ausgedrückt wurde: (72) ich ensinge niht, ez wolde tagen. ‚Ich singe nicht, es sei denn, dass es Tag werden will.‘ Zur Syntax finden Sie weitere Informationen in Nübling (2010) und Fleischer (2011). Literaturtipps 12 | Semantischer Wandel In diesem Kapitel werden die grundlegenden Typen der Bedeutungsveränderung vorgestellt. Den Hauptteil des Kapitels stellen die Bedeutungsveränderungen ausgewählter Wörter in Form einer alphabetisch sortierten Liste dar. 1 Grundlagen Oft wird im Staatsexamen anhand von Textwörtern aus mittelhochdeutschen oder frühneuhochdeutschen nach der Veränderung von Bedeutungen gefragt. Wir werden hier kurz die wichtigsten Arten von Bedeutungsveränderungen vorstellen und Beispiele nennen. Oft können Sie die frühere Bedeutung eines Wortes aus dem Text erschließen oder die ältere Bedeutung ungefähr eingrenzen, indem Sie überlegen, in welchen eingefrorenen Wendungen das Wort noch auftaucht (z.B. taucht das Wort billig in der Wendung recht und billig noch auf, wo sich seine ursprüngliche Bedeutung ‚angemessen‘ noch erhalten hat). Prinzipiell kann man Bedeutungen aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten. Die Semasiologie untersucht die Begriffe, also die Wörter, und fragt nach ihren Bedeutungen zu verschiedenen Zeiten (z.B. wie hat sich das Wort krank vom Mhd. zum Nhd. entwickelt? ). Genau umgekehrt, nämlich nicht von den Wörtern, sondern von den Bedeutungen her, schaut die Onomasiologie (eine Fragestellung wäre z.B. wie werden Krankheiten bezeichnet? ). Die semasiologische Perspektive ist die absolut dominante unter den Staatsexamensaufgaben, d.h., gefragt wird oft nach einem bestimmten Wort und seinen Bedeutungsveränderungen (hat diese sich verengt, erweitert, verbessert, usw.). Bei der Beschreibung von Veränderungen in der Bedeutung eines Wortes greift man in der Regel auf sogenannten Merkmalstheorien zurück, welche Bedeutung als Bündel von Merkmalen beschreiben. Vergleicht man so die Worte Pferd und Stute, so teilen die Bedeutungen der beiden Worte nicht nur viele Merkmale, wie z.B. [+belebt], [+Tier] oder [+vierbeinig], son- 2. Typen semantischen Wandels 171 dern sie unterscheiden sich auch in ihren Merkmalen. Genauer gesagt hat das Wort Stute gegenüber dem Pferd mehr Merkmale, nämlich [+weiblich] und [+erwachsen]. 1 In diesem Kapitel werden zuerst die wichtigsten Typen semantischen Wandels behandelt und dann eine Reihe wichtiger Beispielwörter klassifiziert. 2 Typen semantischen Wandels 2.1 Bedeutungserweiterung Erweitert sich die Bedeutung eines Wortes im Laufe der Sprachgeschichte, so fallen entsprechend dem Merkmalsmodell Merkmale weg. So bedeutete ahd. thing z.B. ‚Gerichtsversammlung‘. Zum Nhd. hin verlor dieses Wort fast sämtliche Merkmale und bedeutet heute nur noch ‚Sache‘. 2.2 Bedeutungsverengung Verengt sich die Bedeutung eines Wortes, so treten Bedeutungsmerkmale hinzu. Ahd. faran bzw. mhd. varn bezeichnete nur das ‚sich fortbewegen‘, meint heute dagegen aber eine ‚Fortbewegung mit Rädern‘ (in speziellen Kontexten müssen keine Räder beteiligt sein; man kann auch mit dem Schiff fahren). 2.3 Bedeutungsverbesserung Im Gegensatz zur Bedeutungsverschlechterung kommen Bedeutungsverbesserungen (auch: Meliorisierung) in der Sprachgeschichte relativ selten vor. Beispiele sind Minister, ursprünglich die Bezeichnung für einen Diener (aus dem Lateinischen), dann für einen hohen Beamten oder ahd. marahscalc, der ‚Pferdeknecht‘, im Mhd. ist der marschalc bereits ein höfischer Beamter; heute bezeichnet das Wort Marschall einen hohen militärischen Rang. 2.4 Bedeutungsverschlechterung Bedeutungsverschlechterungen (auch: Pejorisierungen genannt) kommen relativ häufig vor. Bei diesem Vorgang wird ein neutral besetzter oder positiv konnotierter Begriff negativ umgedeutet. Dies kann verschiedene Grün- 1 Allerdings ist eine semantische Beschreibung mittels Merkmalen ziemlich schwierig, da die Merkmale recht willkürlich gewählt werden müssen, wie im Beispiel ersichtlich. 172 Kapitel 12. Semantischer Wandel de haben. Einerseits führen euphemistische Ausdrücke für Tabubereiche häufig dazu, dass entsprechende Begriffe pejorisiert werden. Auf der anderen Seite stehen Ausdrücke, die als besonders höflich gelten, dann aber routinisiert immer häufiger gebraucht, ihre positive Bedeutung verlieren. Beispiele: mhd. schimphen, ‚scherzen‘ > nhd. schimpfen, ‚seinen Ärger Kund tun‘; mhd. kneht, ‚Knabe‘ > nhd. Knecht, ‚Landarbeiter in einem Abhängigkeitsverhältnis‘; mhd. dierne, ‚junges Mädchen, Dienstmädchen‘ > nhd. Dirne, ‚Prostituierte‘. 2.5 Bedeutungsverschiebung Bedeutungsverschiebungen beruhen auf metonymischen Beziehungen, also auf solchen Beziehungen, bei denen der Sinnbezirk nicht verlassen wird, also die semantischen Bereiche - im Gegensatz zur Metapher - in einem genauen Verhältnis stehen, z.B. in einem Ursache-Wirkungs- oder Teil- Ganzes-Verhältnis. Beispielsweise bedeutete das mhd. Wort berille ‚Beryll‘, bezeichnete also einen Halbedelstein, aus dem Brillengläser gefertigt wurden, heute bedeutet Brille ‚Sehhilfe‘. 2.6 Bedeutungsübertragung Bei einer Bedeutungsübertragung wird die Bedeutung eines Wortes metaphorisch auf einen anderen Bereich angewandt. Zum Beispiel bedeutete im Ahd. stroum nur ‚schnell fließendes Wasser‘, heute meint Strom dagegen metaphorisch erweitert auch ‚Elektrizität‘ oder kann auch auf Menschenmassen angewendet werden. 3 Ausgewählte Bedeutungsveränderungen Diese Liste bietet einen Überblick über die wichtigsten Wörter und ihre ursprünglichen bzw. mhd. Bedeutungen. Diese sollten Sie beherrschen. Die Bedeutungsbeschreibungen basieren, soweit nicht anders angegeben, auf Weddige (2004: 93ff.). angest: mhd. ‚Bedrängnis, Gefahr, Angst‘, heute nur noch ‚Furcht‘; Bedeutungsverengung. arbeit: mhd. ‚Mühsal, Not, Bedrängnis‘, das mhd. Wort meint alle Tätigkeiten sowie deren Produkte; Bedeutungsverengung. 3. Ausgewählte Bedeutungsveränderungen 173 arm: mhd. ‚besitzlos, verlassen, bemitleidenswert, vereinsamt‘; Bedeutungsverengung. art: ‚Anlage, angeborene Eigentümlichkeit, Herkunft, Wesen, Abstammung, Beschaffenheit‘, im Nhd. nur noch ‚Beschaffenheit‘; Bedeutungsverengung. âventiure: zentraler Begriff der mittelalterlichen Dichtung, ‚gewagtes Unternehmen, wunderbare und gefährliche Begebenheit, Abschnitt einer Dichtung, literarische Quelle‘, heute als Abenteuer nur noch so ähnlich wie eine ‚wunderbare und gefährliche Begebenheit‘; Bedeutungsverengung. biderbe: ‚tüchtig, brav, tapfer, edel, vornehm‘, nhd. bieder; Bedeutungsverschlechterung. billig: ursprünglich ‚angemessen‘, heute eher abwertend ‚preiswert‘; Bedeutungsverschiebung, Bedeutungsverschlechterung. bîspel: wörtlich die ‚Bei-Erzählung‘, eine Erzählung, die neben der eigentlichen steht, die alleine nicht gültig ist; Bedeutungsverschiebung. bœse: mhd. ‚wertlos, gering‘, aber auch schon als Gegenbegriff zu guot wie im Nhd.; Bedeutungsverengung. burc: mhd. sowohl ‚Burg‘ als auch ‚Stadt‘; Bedeutungsverengung. dienest: mhd. die Pflichten eines Gefolgsmannes, ‚Dienst, Ergebenheit‘. dinc: mhd. ‚Gericht, Versammlung‘, nhd. Ding ist allgemein eine ‚Sache‘; Bedeutungserweiterung. dörper: mhd. ‚Bauer, ungebildeter Mensch, Dorfbewohner‘, dörperheit gilt als Gegenbegriff zu hövescheit, wird also von der höfischen Gesellschaft als pejorativer Begriff gebraucht. Im Gegensatz zu nhd. Dorf Bedeutungsverbesserung. ê: mhd., auch ewe, ‚Recht, Gesetzt, Ehebündung‘, zu nhd. Ehe; Bedeutungsverengung. edel(e): im frühen Mittelalter noch ‚von vornehmer Herkunft‘, jedoch noch nicht ‚zum Geburtsadel gehörig‘, diese Bedeutung kommt im Spätmittelalter hinzu. Bezogen auf Gegenstände auch ‚kostbar‘. Weiterentwicklung zu edel und adlig. 174 Kapitel 12. Semantischer Wandel ellende: mhd. ‚fremd, verbannt, in einem fremden Land‘, nhd. elend. êre: mhd. ‚gesellschaftliche Geltung, Anerkenung, Ruf‘, zunächst ist die êre etwas was von außen an einen herangetragen wird, später auch eine innere Haltung. Nhd. Ehre. gast: mhd. ‚Gast, Fremder‘; Bedeutungsverengung. gelücke: mhd. ‚Art, wie etwas ausgeht, Schicksal‘, zunächst noch neutraler Begriff, zu nhd. Glück; Bedeutungsverengung (da ein semantisches Merkmal [+positiver Ausgang] hinzukommt). gemach: mhd. ‚Gemach, Ruhe, Bequemlichkeit‘, zu nhd. Gemach; Bedeutungsverengung. gesinde: mhd. „alle zum Hause eines Grundherren gehörigen Personen, die den Hofstaat und das Gefolge bildenden Diener, Ministerialen, Vasallen und Verwandten“ (Weddige 2004: 107); Bedeutungsverengung zu nhd. Gesinde. guot: mhd. ‚passend, geeignet, richtig, vortrefflich‘. hêrre: mhd. Standeszeichnung für adlige Männer; Bedeutungsverschlechterung. hôchgezît: mhd. allgemein das ‚Fest‘; Bedeutungsverengung. hövesch: mhd. ‚fein gesittet, fein gebildet‘, dann auch ‚hübsch‘, Weiterentwicklung zu nhd. hübsch (Bedeutungsverschiebung) und höflich (Bedeutungsverengung). juncvrouwe: mhd. ‚junge Herrin‘, also eine Standesbezeichung, zum Nhd. hin tritt verstärkt ein sexueller Bezug auf; Bedeutungsverengung. kebse: mhd. abwertende Bezeichnung für ‚Beischläferin‘, heute ausgestorben. kiusche: mhd. ‚bewusst, sittsam, rein‘, heute nur noch im sexuellen Sinne; Bedeutungsverengung. klein(e): ‚glänzend, fein, zierlich, sorgfältig‘ (verwandt mit engl. clean), Bedeutungsübertragung. Was wir heute als klein bezeichnen, ist im mhd. lüt- 3. Ausgewählte Bedeutungsveränderungen 175 zel, ‚klein an Umfang/ Zahl‘, genauso wie sein Gegenteil mhd. michel ‚groß an Umfang/ Zahl‘ ausgestorben. kneht: mhd. ‚Knabe, Jüngling, Knappe‘; Bedeutungsverschlechterung, Bedeutungsverengung. kranc: mhd. ‚schwach, schlecht, geringwertig‘; Bedeutungsverschiebung. kunst: das mhd. Wort kunst kommt nicht, wie oft kolportiert, von können, sondern vom Präterito-Präsens kunnen, also von ‚wissen, verstehen‘. Es bedeutet etwa ‚Wissenschaft, Bildung, Kunst‘; Bedeutungsverengung. leit: mhd. ‚Beleidigung, Schmerz‘; Bedeutungsverengung. liep: mhd. Konkurrenzbegriff zu minne, bedeutet allgemein ‚Glücksgefühl, Lust, Liebe‘; Bedeutungsverengung. lîp: mhd. ‚Körper, Gestalt, Mensch‘, davon abgeleitet das Suffix -lîch; Bedeutungsverengung. Das Wort ist heute noch enthalten ist nhd. Leiche. list: mhd. ‚Weisheit, Klugheit, Kunst, Wissenschaft‘; Bedeutungsverschlechterung, -verengung. mâc/ mâge: mhd. zunächst allgemeine Bezeichnung für ‚Verwandte‘, dann für ‚angeheiratete Verwandte‘, ausgestorben. machen: ursprünglich ‚knete‘ oder ‚Lehm verarbeiten‘, heute: ‚tun, etwas bewirken‘; Bedeutungserweiterung, Verlust der lexikalischen Bedeutung, Grammatikalisierung (vgl. Nübling 2010: 111f.). mære: mhd. ‚Nachricht, Neuigkeit, Dichtung, Gegenstand einer Geschichte, Geschichte‘, Weiterentwicklung zu nhd. Märchen; Bedeutungsverengung. maget: häufig auch kontrahiert zu meit, mhd. ‚unverheiratete Frau‘; Bedeutungsverschlechterung. mout: mhd. ‚Gesinnung, Entschluss, Stimmung, Gemütsverfassung‘ (vgl. engl. mood); Bedeutungsverengung. nît: mhd. ‚feindliche Gesinnung, Hass‘; Bedeutungsverengung zu nhd. Neid. 176 Kapitel 12. Semantischer Wandel orden: vom lat. ordo abgeleitet, bedeutet mhd. orden ‚Ordnung, Reihenfolge, Regel‘. rât: mhd. ‚Rat, Hilfe, Ausweg, Vorrat‘; Bedeutungsverengung. rîche: mhd. ‚vornhem, reich‘; Bedeutungsverengung. riuwe: mhd. zunächst ‚Schmerz, Kummer‘, bereits im Spätmittelalter Bedeutungsverengung zu ‚Schmerz über etwas, was man selbst getan hat‘. sene: mhd. ‚Schmerz, den man der Liebe wegen leidet‘, Weiterentwicklung zu nhd. Sehnsucht; Bedeutungserweiterung. sêr: mhd. Adjektiv, nhd. ‚wund, verwundet‘, nhd. sehr, im Gebrauch als Intensitätspartikel; sogenannte „schreckliche Intensivierung“, die auch bei anderen Intensitätspartikeln zu beobachten ist, vgl. arg, furchtbar, schrecklich, ungeheuer oder unheimlich; Bedeutungserweiterung (siehe Hentschel 1998 und Nübling 2010: 112). tiutsch: nhd. deutsch meinte ursprünglich soviel wie ‚volkssprachlich‘, als Abgrenzung zum Lateinischen (dem lat. Begriff lingua vulgaris nachgebildet); Bedeutungserweiterung (vgl. Weddige 2004: 101). tump: mhd. ‚stumpf an Sinnen, einfältig, dumm‘, Bedeutungsverengung zu dumm, das die Sinne nun nicht mehr mit einbezieht. urlopu: mhd. Erlaubnis zu gehen, Abschied, heute kann man Urlaub nur machen, wenn man eine Arbeit hat; Bedeutungsverengung. vriunt: mhd. ‚Freund, Geliebte(r)‘; Bedeutungsverengung. vrouwe: mhd. vrouwe stand für ‚sozial hochgestellte/ adlige Frau‘, heute neutraler Begriff; Bedeutungsverschlechterung (wie besonders häufig bei Begriffen für Frauen). Nach der Pejorisierung wurde im 17. Jahrhundert der Begriff Frauenzimmer für sozial hochstehende Frauen verwendet, dieser erfuhr ebenfalls eine Bedeutungsverschlechterung, schließlich entlehnte man aus dem Französischen das Wort Dame (vgl. Nübling 2010: 117). vrum: mhd. ‚tapfer, brav, rechtschaffen‘, Verengung zu nhd. fromm. wîb: mhd. wîb wird heute als Weib nur noch abwertend gebraucht. Im Mhd. jedoch war das Wort die neutrale Bezeichnung für ‚Frau‘; Bedeutungsverschlechterung. 3. Ausgewählte Bedeutungsveränderungen 177 werden: im Ahd. noch ‚wenden‘ (vgl. lat. vertere, ‚umdrehen‘), Verlust der lexikalischen Bedeutung, Grammatikalisierung, Bedeutungsverschiebung (vgl. Nübling 2010: 112). witzig: ursprünglich ‚geistreich, klug‘; nhd. ‚lustig‘, auch ‚seltsam‘; Bedeutungsverschiebung. zuht: mhd. ‚Erziehung, Versorgung‘, heute in dieser Bedeutung nur noch eingefroren in Zucht und Ordnung, sonst auf Tiere beschränkt; Bedeutungsverengung. Eine Liste mit Bedeutungsveränderungen ausgewählter Wörter bietet Weddige (2007). Ausführlich mit mhd. Wortgeschichte befasst sich Ehrismann (1995). Literaturtipps Literatur Altmann, H. (2011): Prüfungswissen Wortbildung. 3., durchgesehene Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Altmann, H. & Ziegenhain, U. (2002): Phonetik, Phonologie und Graphematik fürs Examen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Becker, T. (2012): Einführung in die Phonetik und Phonologie des Deutschen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Behaghel, O. 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KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BES TELLEN! Karin Pittner / Judith Berman Deutsche Syntax Ein Arbeitsbuch narr studienbücher 200 Seiten €[D] 19,99/ SFr 28,00 ISBN 978-3-8233-6834-2 Dieses Lehrbuch führt in die Grundbegriffe und Methoden der syntaktischen Analyse des Deutschen ein. Behandelt werden syntaktische Kategorien und Funktionen, Valenz und Argumentstruktur, die Formen des Passivs, die Wortstellung, der Aufbau von komplexen Sätzen, Besonderheiten bei der Verwendung der Pronomina sowie Grundbegriffe der Informationsstruktur. Jedes Kapitel enthält Übungen mit Lösungshinweisen und Literaturtipps zum Weiterlesen, die den Studierenden die Möglichkeit geben, sich den Stoff weitgehend selbständig zu erarbeiten. „Die Verfasser haben ihr im Vorwort angegebenes Ziel vollauf erreicht: Sie haben ein Arbeitsbuch mit Überblickscharakter vorgelegt, das sich als Einführung vorzüglich eignet.“ Gerhard Helbig in Deutsch als Fremdsprache Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de JETZT BESTELLEN! Jürg Fleischer Oliver Schallert Historische Syntax des Deutschen Eine Einführung narr Studienbücher 2011, 359 Seiten €[D] 24,90/ SFr 35,90 ISBN 978-3-8233-6568-6 In dieser Einführung werden zentrale Phänomene und Probleme der historischen Syntax des Deutschen behandelt. Da ältere Sprachstufen nur über schriftliche Dokumente zugänglich sind, kommen Fragen der Methodologie und der Interpretation von Quellen ausführlich zur Sprache. Den Kern bildet die Darstellung einzelner syntaktischer Entwicklungen (u.a. Kasussyntax, Kongruenz, Wortstellung). Ausführlich thematisiert wird auch die Erklärung syntaktischen Wandels, wobei externe Ansätze (Normierungen, Sprachkontakt) ebenso zu Wort kommen wie interne (funktionale und formale Erklärungen). Das bayerische Staatsexamen im Fach Deutsch stellt eine besondere Herausforderung an die Studierenden dar. Diese Einführung versucht den für die schriftliche Examensprüfung relevanten Stoff möglichst vollständig darzustellen - und richtet sich an Studierende aller Schularten. Die Zusammenstellung orientiert sich an Aufgaben der vergangenen Jahre. Enthalten sind außerdem zahlreiche Exkurse sowie Übungsaufgaben. Wie das Examen, so besteht auch diese Einführung aus einem gegenwartssprachlichen und einem sprachgeschichtlichen Teil.