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Sprachliche Konstituierung der Identität durch Emotionalität

2016
978-3-8233-7950-8
Gunter Narr Verlag 
Anita Pavic Pintaric
Zaneta Sambunjak
Tomislav Zelic

Dieser Sammelband untersucht die Bestimmung unterschiedlicher Aspekte der Emotionalität in Bezug auf die Konstituierung von Identität. Das Hauptinteresse liegt auf der Kodierung der Emotionalität in Texten, d. h. auf sprachlichen Einheiten, die bei der Konstituierung von Identität relevant sind, auf der Bewertung sowie der Realisation von Identität durch Emotionalität in Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Der Band beschäftigt sich mit den Aspekten der Emotionsforschung in Sprach- und Literaturwissenschaft, z. B. in der Emotionslinguistik, der kontrastiven Linguistik, der Translatologie und der Gesprächsforschung sowie der Literaturgeschichte und -theorie.

Sprachliche Konstituierung der Identität durch Emotionalität Anita Pavić Pintarić / Zaneta Sambunjak / Tomislav Zelić (Hrsg.) Sprachliche Konstituierung der Identität durch Emotionalität Anita Pavić Pintarić / Zaneta Sambunjak / Tomislav Zelić (Hrsg.) Sprachliche Konstituierung der Identität durch Emotionalität Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISBN 978-3-8233-6950-9 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Abteilung für Germanistik der Universität Zadar in Kroatien. Inhalt Anita Pavi ć Pintari ć Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Reinhard Fiehler Emotionale Identität - ihr Einfluss auf die Kommunikation von Emotionen im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Bernd F. W. Springer Die kulturelle Bedeutung der sprachlichen Kodierung von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Elisabeth Piirainen „ Wir und die Anderen “ : Zu europäischen Idiomen mit einer Sprachbezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Mirjana Pehar, Nikolina Mileti ć und Ž aklina Rado š Die Wirkung der emotionalen Vermittlung von Fremdsprachen auf die Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Heike Ortner Textuelle Konstruktion und emotionslinguistische Rekonstruktion von Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Milan Pi š l Konstruktion emotionaler Identität auf Facebook Eine Studie am Beispiel von Geburtstagswünschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Alexa Mathias „ Volk, Familie, Vaterland “ Korpuslinguistische Befunde zur Eigengruppenidentität rechtsextremer Jugendsubkulturen in Liedtexten der rechtsextremen Musikszene in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Artur Tworek Prosodische Ausdrucksmittel der Emotionalität Eine deutsch-polnisch vergleichende Signaluntersuchung . . . . . . . . . . . . 114 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [5] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć Identität und Emotionalität in Vázquez Montalbáns Carvalho Roman Los mares del sur und seinen deutschen Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 127 Petra Ž agar- Š o š tari ć und Anita Badurina Identitätskonstruktionen in Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Katharina Adeline Engler Das Zurückbleiben des Eigentlichen. Theodor Fontanes Effi Briest und die Selbstbeherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Sebastian Seyferth Wort- und Textbausteine als Emotionsträger innerhalb einer Beschwerdeschrift Johann Geilers von Kaysersberg Zum juridischen Selbstverständnis im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Zaneta Sambunjak Dekonstruktion der Identität durch verletzte Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Dra ž en Volk Die Auslegung der Identitätsentfaltung durch Emotionen und Sprache in der Philosophie Ernst Cassirers Anwendung auf die Entwicklung der religiösen Identität . . . . . . . . . . . . 191 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 VI Inhalt Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [6] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Anita Pavi ć Pintari ć Einleitung Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis der Tagung „ Sprachliche Konstituierung der Identität durch Emotionalität “ , die vom 5. bis 8. Juni 2014 an der Abteilung für Germanistik der Universität Zadar, Kroatien stattfand. Er umfasst Beiträge von TeilnehmerInnen aus Deutschland, Österreich, Polen, der Tschechischen Republik und Kroatien zu folgenden Fragen: Mithilfe welcher sprachlicher Mittel wird der Aspekt emotionaler Aufladung im Rahmen der Konstituierung von Identität realisiert? Wie manifestiert sich Identität durch Emotionalität in der Mündlichkeit und Schriftlichkeit? Im Bezug auf die gestellten Fragen wurde versucht, Antworten aus dem sprach- und literaturwissenschaftlichen sowie dem philosophischen Blickwinkel zu geben. Die Breite des Themas manifestiert sich ferner in der Vielfalt der Untersuchungsmethoden und -ansätze, deren Ziel ist zu erläutern, wie Emotionalität zur sprachlichen Konstituierung der Identität beiträgt. Im Folgenden werden die Begriffe Identität und Emotionalität angesprochen sowie einige Forschungsergebnisse der Beiträger zum Sammelband im Hinblick auf die gestellten Fragen hervorgehoben. Identität ist in der heutigen Welt zu einem Schlagwort geworden, 1 da sich Individuen unter den Bedingungen gesellschaftlicher Veränderungen häufig auf der Suche nach sich selbst, nach der eigenen Identität befinden. Identität ist Gegenstand der Untersuchung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, und es besteht eine Vielfalt von Definitionen des Begriffes, je nach dem Forschungsstandpunkt. Allgemein wird jedoch angenommen, dass Identität weder vorgegeben noch unveränderlich ist. Man kann außerdem mehrere Identitäten entwickeln. Was für den sprachlichen Aspekt der Identitätkonstruktion wichtig ist, ist die Interaktion, innerhalb derer Identität wahrgenommen und interpretiert wird. Verschiedene Identitäten kommen in unterschiedlichen Kontexten, vor allem in unterschiedlichen Kommunikationssituationen, zustande. Der Identität werden charakteristische Merkmale zugeschrieben, die in der Kommunikation konstituiert werden, wie Kresi ć und Rocco ausführen: „ 1) Identität ist keine feste Größe, sondern ein flexibles Konstrukt. 2) Identität wird in wesentlichem Maße sprachlich konstruiert, und zwar durch den Gebrauch verschiedener Einzelsprachen, Sprachvarietäten, Register etc. 3) Identität 1 Zu Fragen der Identität in der heutigen globalisierten Welt s. Welz (2005) und Krappmann (2004). Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [7] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur wird in verschiedenen kommunikativen Kontexten konstruiert und kann von Kontext zu Kontext variieren. 4) Identität ist daher multipel und heterogen. 5) Identität ist in jedem kommunikativen Kontext ein relevanter Faktor, ganz gleich ob die Beteiligten diesem Faktor Beachtung schenken oder nicht. 6) Mehrere Identitäten eines Sprechers können in ein und demselben Kontext ko-konstruiert werden “ . 2 Da individuelle Erfahrungen und das Bewusstsein sprachlich vermittelt werden können, sieht Thim-Mabrey Sprache „ als Medium der Selbstdarstellung - der Präsentation der eigenen Identität, selbst gestaltet: durch Wahl, Verwendung und punktuelle Um- und Neugestaltung sprachlicher Mittel und Verfahren “ . 3 Die sprachliche Dimension der Identität wird auch von Joseph hervorgehoben, 4 der das ganze Phänomen der Identität als ein sprachliches versteht, denn was und wie jemand über sich selbst oder über jemanden anderen spricht, bestimmt in hohem Maße, wie man eine Person wahrnimmt. Dem stimmen Llamas und Watt zu, indem sie behaupten, dass Sprache die Menschen direkt durch Name und Verwandschaftsbezeichunungen sowie durch Beschreibung des Aussehens, Benehmens und Hintergrunds, und indirekt durch Beurteilung der Menschen nach ihrer Sprechweise bestimme. 5 Um Identität zum Ausdruck zu bringen, kann auf zahlreiche verbale wie auch nonverbale Mittel zurückgegriffen werden. Laut Rowley ist Sprechen eine Handlung, „ die in vielen Kontexten weitgehend der bewussten Kontrolle entzogen ist. Was wir sagen, das ist uns (meist) bewusst, aber wie wir es genau aussprechen, entgeht meist unserer Aufmerksamkeit “ . 6 Emotional aufgeladene Erfahrungen und Erlebnisse können die Handlung bewirken. Emotionalität als sprachliche Funktion ist keineswegs ein einfaches und eindeutiges Konzept. Aus der Tatsache, dass Emotionen durch die Wechselwirkung von physiologischen, psychologischen, sozialen und kulturellen Faktoren entstehen, entwickelten sich etliche Definitionen von Emotionen. In diesem Sammelband suchen wir nicht nach der Definition von Emotionen, sondern untersuchen die sprachlichen Mittel, die Emotionen zu äußern und gleichzeitig die Identität des Produzenten und Rezipienten zu konstituieren helfen. Die emotionale Komponente der Kommunikation dient dazu, unser Gedächtnis zu organisieren, die Aufmerksamkeit zu lenken, soziale Situationen zu interpretieren und unser Verhalten zu motivieren. 7 Der Produzent vermittelt seine Emotionen und beeinflusst dadurch emotionale Reaktionen der Rezipienten. Die Interpretation wird „ in erster Linie durch Kenntnisse 2 Kresi ć und Rocco (2012: 19). 3 Thim-Mabrey (2003: 3). 4 Joseph (2004: 12). 5 Llamas, Watt (2010: 1). 6 Rowley (2012: 42). 7 Vgl. Salovey/ Kokkonen/ Lopes/ Meyer (2004). 2 Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [8] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur sozialer, kultureller, geographischer und historischer Faktoren [. . .] und durch individuelle Erfahrungen gesteuert “ . 8 Emotionen können ferner als „ Elemente eines individuellen Innenlebens “ und „ als öffentliche Phänomene in sozialen Situationen interpersoneller Interaktion “ 9 betrachtet werden. Wir sind imstande, in unterschiedlichen Situationen Emotionen entweder auszudrücken oder sie zu verbergen. Aber sie „ schaffen sich Ausdruck, und sie beeinflussen unser Handeln, entweder indem sie das Handeln,färben ʼ oder zu neuen, unvorhergesehenen Handlungen führen “ . 10 Somit dienen emotional motivierte Handlungen in Interaktionen der Herstellung der Identität. In der Kommunikation werden den Beteiligten durch verbale und nonverbale Mittel 11 (Gestik, Mimik oder Körperhaltung) zusätzliche Informationen zur Identität gegeben. Mit verbalen und nonverbalen Akten bewerten die Beteiligten sich selbst und andere, 12 was darauf hinweisen kann, dass es für Menschen von nicht unerheblicher Bedeutung ist, welche Identität sie in der Gesellschaft zeigen. 13 Auf diese Weise wird die Sprache zum „ Indiz für die Struktur der Gemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft “ . 14 Aus der obigen Darstellung wird deutlich, dass unterschiedliche Faktoren bei der Konstituierung der Identität wirksam sind. Uns interessierten vor allem Sprache und Emotionen, und wir wollten mittels sprachwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher und philosophischer Untersuchungsmethoden zu einigen Antworten betreffs dieses Themas kommen. Dabei erweist sich, dass Kulturbedingtheit, gesellschaftliche Normen, die Bewertung anderer Personen, die Markierung von Gruppenzugehörigkeit und Identifikation mit Anderen, die nicht nur auf Gemeinsamkeiten sondern auch auf Abgrenzungen beruht, durch den Einsatz emotional aufgeladener Lexik zur Konstituierung der Identität beitragen können. Im ersten Beitrag expliziert Reinhard Fiehler das Konzept der emotionalen Identität und verdeutlicht, dass sie ein Komplex von vier Dispositionen ist. Diese Dispositionen betreffen die Emotionen, ihre Manifestation, die Deutung von Emotionen bei anderen und die Prozessierung der Emotionen. Verschiedene Ausprägungen von emotionaler Identität werden beschrieben und ihr Einfluss auf die Kommunikation von Emotionen im Gespräch skizziert. Bernd Springer befasst sich mit der kulturellen Bedeutung der sprachlichen Kodierung von Emotionen, und darunter mit dem Wandel und Kontinuitäten der Emotionsgemeinschaften. Den Ausgangs- 8 Fries (2007: 299). 9 Fiehler (1990: 1). 10 Fiehler (1990: 1). 11 Jahr (2000: 61) nennt Studien zum verbalen und nonverbalen Ausdruck von Emotionen. 12 Goffman (1967: 5). 13 Croom (2013: 184). 14 Rowley (2012: 41). Einleitung 3 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [9] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur punkt des Beitrags von Elisabeth Piirainen bilden Elemente des figurativen Lexikons, anhand derer die identitätsstiftende Funktion der idiomatischen Ausdrücke untersucht wird, in denen mit einer Sprachbezeichnung auf die Klarheit, Verständlichkeit oder aber auf die Unverständlichkeit sprachlicher Äußerungen verwiesen wird. Mirjana Pehar, Nikolina Mileti ć und Ž aklina Rado š befassen sich mit der Wirkung von Emotionen auf den Fremdsprachenerwerb und auf die Konstituierung der Identität. Heike Ortner diskutiert in ihrem Beitrag emotionslinguistische Wege der Rekonstruktion der emotionalen Selbstdarstellung anhand von ausgewählten Beispielen aus der Online-Kommunikation. Milan Pi š l analysiert die Konstruktion der Identität auf Facebook am Beispiel von Geburtagswünschen, in denen Sprache kreativ verwendet wird, um den Emotionsausdruck zu intensivieren. Alexa Mathias stellt die sprachlichen Mittel der Eigengruppenkonstruktion in den Vordergrund und untersucht sie anhand von Liedtexten rechtsextremer Musiker und Bands. Artur Tworek befasst sich mit der phonetischen Ebene des sprachlichen Ausdrucks als potentiellem Mittel der Identitätskonstituierung. Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć untersuchen im Rahmen der Bewertungstheorie die Verwendung von Emotionen, die die Identifizierung mit bestimmten Gruppen darstellen, sowie mit deren Übersetzung. Das Korpus der Untersuchung bildet der spanische Roman Los mares del sur und seine Übersetzungen in der deutschen Sprache. Petra Ž agar- Š o š tari ć und Anita Badurina befassen sich mit der Identität im Zusammenhang mit Emotionen in Max Frischs Werk Homo Faber. Ein Bericht und zeigen, inwiefern sich die Identität des Protagonisten unter dem emotionalen und sozialen Aspekt betrachtet transformiert und was für eine Identität daraus konstruiert werden kann. Katharina Adeline Engler zeigt am Beispiel von Theodor Fontanes Effi Briest, wie die Selbstbeherrschung der Figuren nicht nur Affekte kontrolliert, sondern ihrerseits eine bestimmte Art von künstlicher Emotionalität hervorruft und identitätsstiftend wirkt. Sebastian Seyferth untersucht Themenfelder der Identität und Emotionalität anhand von Textmerkmalen in einer Beschwerdeschrift Johann Geilers von Kayserberg. Zaneta Sambunjak befasst sich mit dem Problem der Dekonstituierung der Identität durch verletzte Ehre in der Literatur des Mittelalters und der Renaissance, wobei die Aufmerksamkeit dem Haar- und Bartschneiden und Rasieren geschenkt wird. Dra ž en Volk befasst sich mit Cassirers Anthropologie um zu erläutern, wie Emotion, Sprache und Identität miteinander verbunden sind. Im Folgenden werden einige Ergebnisse aus dem vorliegenden Sammelband hervorgehoben. Es wurde schon festgestellt, dass Identität in der alltäglichen Kommunikation durch verbale und nonverbale Mittel konstituiert wird, und die Interaktion ist die Voraussetzung für die Konstituierung der Identität. In der Interaktion werden Handlungen und das Erleben von Emotionen und emotional aufgeladenen Einstellungen beeinflusst, und dadurch ergeben sich individuelle Unterschiede im Hinblick auf den Umgang mit Emotionen 4 Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [10] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur (Fiehler). Dabei spielt kulturelle Bedingtheit beim Ausdruck von Emotionen eine Rolle (Springer). Es bestehen Regeln, die bestimmen, welche Ausdrucksformen für emotionale Zustände und Prozesse verwendet werden können und dürfen. Viele Sprachen verfügen über Idiome mit Sprachbezeichnungen als Konstituenten, die emotional positiv oder negativ auf Verständlichkeit und Unverständlichkeit deuten. Solche Ethnostereotype werden aber in der heutigen Lexikographie durch kulturhistorische Erklärungen abgeschwächt (Piirainen). Beim Fremdsprachenerwerb spielen Emotionen eine wichtige Rolle, besonders wenn das Lernen und die Umgebung positive Emotionen bei den Lernenden hervorrufen. Wenn dies der Fall ist, entwickeln Fremdsprachenlerner interkulturelle und soziale Kompetenz, die auch einen Beitrag zur Konstituierung der Identität leistet (Pehar/ Mileti ć / Rado š ). Bei der Untersuchung neuer Medien liegt das Interesse auf kommunikativen Strategien und Emotionen, die in der Online-Kommunikation, verwendet und ausgedrückt werden. Sprache kann in sozialen Netzwerken in Verbindung mit visuellen Mitteln kreativ verwendet werden, mit der Absicht, die Intensität des emotionalen Ausdrucks zu steigern (Pi š l). Aber zugleich beeinflusst die räumliche Distanz den Emotionsausdruck, der vor allem zur Konstituierung der Identität in Kommentaren und Bewertungen anderer Personen beiträgt (Ortner). Identitätsstiftend wirkt Gruppenzugehörigkeit, insbesondere bei Jugendlichen, die ihre Identität gerade innerhalb einer Gruppe schaffen oder verwirklichen wollen. Die kollektive Identität kann z. B. in emotional aufgeladenen Liedtexten verwirklicht werden, da auch diese - neben und in Verbindung mit der Musik - ein Medium zum Ausdruck von Emotionen und Einstellungen sind, und sie verbinden zudem Menschen mit gleicher Weltansicht (Mathias). In der Mündlichkeit kann Emotionalität durch prosodische Merkmale absichtlich produziert werden. Emotionen können somit zur Identität der Sprecher beitragen (Tworek). Sprachlich vermittelte Emotionalität hat sich für die Entwicklung von religiöser Identität als wichtig erwiesen (Volk). Im Werk des Theologen Johann Geiler von Kaysersberg wird die emotional aufgeladene Lexik verwendet, um die Angesprochenen anzuklagen und zu warnen, aber auch Lösungen vorzuschlagen, um somit durch das religöse Bewusstsein eine Identifikationsbasis für alle zu schaffen (Seyferth). Die Untersuchung von literarischen Werken umfasst Situationen, in denen der Aspekt der Identitätskonstruktion zum Ausdruck kommt. Aus den Analysen wird ersichtlich, dass die Identität konstituiert wird - aufgrund von äußeren Faktoren kann sie jedoch auch wieder zerlegt werden. So wird in der Literatur des Mittelalters und der Renaissance die Frage der Moral, Ehre und Identität sowie das individuelle Gewissen und Engagement in der Gesellschaft durch Haar-und Bartschneiden und Rasieren problematisiert Einleitung 5 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [11] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur (Sambunjak). Figuren können Identitätskrisen haben, die dem Individuum dazu verhelfen über seine Identität nachzudenken ( Ž agar- Š o š tari ć / Badurina). Wenn fremdsprachliche Literatur übersetzt wird, kann gerade emotional aufgeladene Lexik bei der Übertragung der Identitätsmerkmale eine wichtige Rolle spielen (Espunya/ Pavi ć Pintari ć ). Mit diesem Sammelband wird auf den sprachlichen Aspekt der Konstituierung der Identität durch Emotionalität hingewiesen. Der sprachliche Ausdruck von Emotionen beeinflusst das Handeln und die Kommunikation mit Anderen, was zur Konstituierung von Identität beiträgt. Wie die vorliegenden Beiträge zeigen, kann die emotionale Funktion der Sprache aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf ihre identitätsstiftende Rolle hin untersucht werden. Die verschiedenen Untersuchungsansätze und die mit ihrer Hilfe gewonnenen Erkenntnisse zeigen aber auch, dass weitere Forschung zur Rolle der Emotionalität bei der Identitätsbildung wünschenswert ist. Bibliographie Adam M. Croom, How to do things with slurs: Studies in the way of derogatory words, in: Language & Communication 33/ 2013, S. 177 - 204. Reinhard Fiehler, Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Interaktion. (Reihe: Grundlagen der Kommunikation und Kognition/ Foundations of communication and cognition.), Berlin, New York, 1990. Norbert Fries, Die Kodierung von Emotionen in Texten, Teil 1: Grundlagen, Journal of Literary Theory 2007/ 1 (2), S. 293 - 337. Erving Goffman, Interaction Ritual: Essays in Face to Face Behavior, New Brunswick, New Jersey 1967. Vierte Ausgabe 2008. Silke Jahr, Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten, Berlin, New York 2000. John E. Joseph, Language and Identity: national, ethnic, religious, Hampshire, New York 2004. Lothar Krappmann, Identität/ Identity, in: Ulrich Ammon [et al]. (Hrsg.), Sociolinguistics: an International Handbook of the Science of Language and Society/ Soziolinguistik: ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, Volume 1, Berlin 2004, S. 405 - 412. Marijana Kresi ć , Goranka Rocco, Sprachidentität und Kontext, in: Claudia Schmidt- Hahn (Hrsg), Sprache(n) als europäisches Kulturgut. Languages as European Cultural Asset, Innsbruck, Wien, Bozen 2012, S. 17 - 38. Carmen Llamas, Dominic Watt (Hrsg.), Language and Identities, Edinburgh, 2010, hier S. 1. Anthony Robert Rowley, Dialekt als Ausdruck regionaler Identitaet, in: Claudia Schmidt-Hahn (Hrsg): Sprache(n) als europäisches Kulturgut. Languages as European Cultural Asset, Innsbruck, Wien, Bozen 2012, S. 39 - 46. Peter Salovey, Marja Kokkonen, Paulo N. Lopes, John D. Meyer, Emotional Intelligence. What Do We Know? in: Antony S. R. Manstead, Nico Frijda, Agneta Fischer (Hrsg.), Feelings and Emotions. The Amsterdam Symposium, Cambridge, 2004, S. 321 - 340. 6 Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [12] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Christiane Thim-Mabrey, Sprachidentität - Identität durch Sprache. Ein Problemaufriss aus sprachwissenschaftlicher Sicht, in: Nina Janich/ Christiane Thim- Mabrey/ Albrecht Greule, Albrecht (Hrsg.), Sprachidentität - Identität durch Sprache, Tübingen 2003, S. 1 - 18. Frank Welz, Rethinking Identity: Concepts of Identity and ‚ the Other ‘ in Sociological Perspective, The Society. An International Journal of Social Sciences, 1/ 2005, S. 1 - 25. Einleitung 7 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [13] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Reinhard Fiehler Emotionale Identität - ihr Einfluss auf die Kommunikation von Emotionen im Gespräch 1 Einleitung In meinem Beitrag möchte ich darstellen, welchen Einfluss die personale emotionale Identität auf die Kommunikation von Emotionen in der Interaktion hat (Abschnitt 5). Hierzu werde ich zunächst erläutern, was ich unter emotionaler Identität verstehe (Abschnitt 2), um dann mein Verständnis von Erleben und Emotionen zu explizieren (Abschnitt 3) und Modellvorstellungen zur Kommunikation von Emotionen darzulegen (Abschnitt 4), die erforderlich sind, um den Einfluss der emotionalen Identität zu beschreiben. 2 Emotionale Identität In der emotionalen Sozialisation entwickeln Personen eine individuelle emotionale Identität. Ihre Ausbildung ist Teil der personalen Identitätsentwicklung. 1 Die emotionale Identität lässt sich als Komplex von vier Dispositionen beschreiben: - Welche Emotionen (und in welcher Intensität) werden präferiert erlebt. - Wie werden die Emotionen manifestiert: Erfolgt aufgrund von Emotionsregulation keine Manifestation, erfolgt sie dominant in Form von Ausdruck oder durch Thematisierung. - Wie differenziert werden Emotionen bei anderen wahrgenommen und gedeutet. - Welche Formen der Prozessierung von Emotionen in der Interaktion werden präferiert. Die Ausbildung von Identität, so auch von emotionaler Identität, ist ganz wesentlich ein interaktiver Prozess: Identität ist nicht etwas Vorgegebenes, Fixes und Unveränderliches, sondern eine „ emergent construction “ , das Ergebnis eines rhetorischen Produktions- und Interpretationsprozesses [. . .], und wird im Gespräch durch die Beteiligten gemeinsam konstituiert [. . .]. 2 1 Vgl. Schwarz (2000). 2 Androutsopoulos (2001: 62). Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [14] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Die Identitätsbildung ist zudem ein permanenter Prozess: Der Identitätsprozeß ist, so sehen es die meisten neueren Ansätze der Identitätsforschung, nicht nur ein Mittel, um am Ende der Adoleszenz ein bestimmtes Plateau einer gesicherten Identität zu erreichen, sondern der Motor lebenslanger Entwicklung. 3 Die gemeinschaftliche Konstitution und Prozessierung von Identität ist Bestandteil jedweder Interaktion, sie kann dabei allerdings unterschiedlich stark im Vordergrund stehen bzw. thematisch sein. Die wechselseitige Ausbildung von Identität in der Interaktion umfasst für jeden der Beteiligten drei systematisch aufeinander bezogene Teilaufgaben: (1) Selbstpräsentation, (2) Stellungnahme zur Selbstpräsentation der anderen Person und (3) Reaktion auf die Stellungnahme der anderen Person zur eigenen Selbstpräsentation. Jeder Beitrag zur Interaktion enthält Aspekte der Selbstpräsentation. Zugleich nimmt man mit jedem Beitrag - wie indirekt auch immer - bewertend Stellung zur Selbstpräsentation der anderen Interaktionspartner. In Reaktion auf die Art der Stellungnahme der anderen Person zur eigenen Selbstpräsentation erfolgt dann eine Bekräftigung oder eine Modifikation dieser Präsentation. Da alle Beteiligten diese drei Teilaufgaben bearbeiten und da sie vielfältig miteinander verflochten sind, wird deutlich, dass die Ausbildung von Identität in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander erfolgt. Die Konstitution und Prozessierung von Identität ist somit ein kommunikativer Prozess, der sich aller Kommunikationskanäle bedienen kann (verbal, prosodisch, nonverbal). Alle drei Teilaufgaben implizieren kommunikative Akte, wobei jede Teilaufgabe in der Interaktion durch verbale Äußerungen thematisch explizit bearbeitet werden kann. Identitätsbildung erfolgt so in und durch Kommunikation und kommt zugleich in ihr zum Ausdruck. 3 Konzeptualisierung von Erleben und Emotionen Über Emotionen sollte man nicht sprechen, ohne vorab verdeutlicht zu haben, welche Konzeptualisierung man zugrunde legt. Für die hier vertretene Position sind die folgenden vier Annahmen konstitutiv 4 : (1) Emotionen sind eine spezielle Form des Erlebens. Personen stehen in einem stetigen Bezug zu ihrer Umwelt. Sie erleben diese Umwelt, und sie wirken auf diese Umwelt ein. So sind Erleben auf der einen 3 Keupp/ Ahbe/ Gmür (1999: 190). 4 Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Fiehler (1990 a: 40 - 64) sowie Fiehler (2001, 2008). Emotionale Identität 9 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [15] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Seite und handlungsmäßige Einwirkung auf der anderen Seite die beiden zentralen Stränge des Person-Umwelt-Bezugs. Das Erleben ist dabei die innere Seite, das handlungsmäßige Einwirken die nach außen gerichtete. Das Erleben umfasst alles, was der Registrierung und Verarbeitung von Umwelteindrücken sowie der Handlungsorientierung und -vorbereitung dient. Das handlungsmäßige Einwirken beinhaltet alle Formen der Einflussnahme auf die Umwelt. Erleben und Handeln sind dabei eng miteinander verzahnt: Das Erleben resultiert aus Handlungen, es begleitet das Handeln und führt zu Handlungen. Das Erleben ist ein ganzheitlicher Modus, in dem Personen sich in ihrer Beziehung zur Umwelt und zu sich selbst erfahren. Gleichwohl kann man analytisch an ihm verschiedene Komponenten unterscheiden. Es umfasst die verschiedenen Sinneswahrnehmungen, Kognitionen, Erwartungen, Bewertungen, Gefühle, Empfindungen und Handlungsimpulse. Man kann sicherlich noch weitere Komponenten annehmen oder das Erleben feiner differenzieren, aber für die hier verfolgten Zwecke mag diese Differenzierung ausreichen. Alle Aktivitäten des Erlebens erfolgen gleichzeitig und parallel zueinander, wobei die einzelnen Komponenten im Zeitverlauf unterschiedlich dominant sein können. Es gibt Phasen, in denen Gefühle und Empfindungen das Erleben beherrschen, ebenso wie solche, bei denen Sinneswahrnehmungen und Reflexionen im Vordergrund stehen. Gefühle sind nach dieser Auffassung ein spezifischer Bestandteil des Erlebens. Einen anderen Bestandteil stellen die Empfindungen dar. Man kann Ärger, Ekel und Freude - als Beispiele für prototypische Gefühle - ebenso erleben wie Irritation, Unsicherheit, Neugier, Müdigkeit und Hunger, was für mich zwar Erlebensformen, aber keine bzw. keine ‚ reinen ‘ Gefühle sind. Bei Unsicherheit z. B. spielen bestimmte kognitive Prozesse eine wesentliche Rolle, bei Müdigkeit und Hunger sind es physische Zustände. Diese zweite Gruppe wird hier als Empfindungen angesprochen. Sie sind höchst vielfältig und von der Forschung bisher nur unzureichend berücksichtigt und differenziert: „ Unsere Sprache erlaubt die Differenzierung einer ungeheuren Vielzahl psychologisch relevanter Zustände, die in der modernen Psychologie häufig unerforscht und undiskutiert bleiben. “ 5 Im Folgenden bezeichne ich Gefühle und Empfindungen zusammenfassend als Emotionen. Auch das handlungsmäßige Einwirken lässt sich in verschiedene Komponenten differenzieren: Lokomotion, praktisches Handeln, instrumentelles Handeln und multimodales kommunikatives Handeln. Hier sind ebenfalls weitere oder feinere Differenzierungen möglich. 5 Scherer (1983: 415). 10 Reinhard Fiehler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [16] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Fasst man diese Überlegungen zu einem Modell der Person zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: (2) Emotionen erfüllen primär die Funktion einer bewertenden Stellungnahme. Emotionen sind im Rahmen des Erlebens ganzheitliche, automatisierte und unmittelbare Reaktionen. Sie erfüllen primär die Funktion einer bewertenden Stellungnahme. Jede konkrete Emotion ist beschreibbar als äquivalent mit einer spezifischen Belegung der folgenden Formel: Emotion A ist eine bewertende Stellungnahme zu X auf der Grundlage von Y als Z. Hierbei sind für X, Y und Z folgende Belegungen möglich: zu X auf der Grundlage von Y als Z (1) Situation (2) andere Person - Handlung - Eigenschaft (3) eigene Person - Handlung - Eigenschaft (4) Ereignis/ Sachverhalt (5) Gegenstände (6) mentale Produktionen (1) Erwartungen (2) Interessen, Wünsche (3) (akzeptierte) soziale Normen/ Moralvorstellungen (4) Selbstbild (5) Bild des anderen (1) (gut) entsprechend (2) nicht entsprechend Emotionale Identität 11 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [17] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Ärgere ich mich beispielsweise, weil ich eine Vase umgestoßen habe, so lässt sich dies auffassen als bewertende Stellungnahme zur eigenen Person (bzw. einer Aktivität von ihr) auf der Grundlage des Selbstbildes (bzw. Erwartungen über mein Verhalten) als nicht entsprechend. Freue ich mich bei dem Gedanken, dass ich morgen Besuch bekommen werde, so ist dies beschreibbar als bewertende Stellungnahme auf der Grundlage meiner Wünsche (oder Erwartungen) zu einer mentalen Produktion als gut entsprechend. Wenn ich über den Tod einer Person traure, so handelt es sich um eine bewertende Stellungnahme zu einem Ereignis/ Sachverhalt auf der Grundlage meiner Interessen bzw. Wünsche als nicht entsprechend. (3) Emotionen werden als sozial verfasste und sozial geregelte Phänomene betrachtet. Sie unterliegen individuell wie sozial Emotionsregeln und der Emotionsregulation. Die soziale Verfasstheit von Emotionen wird besonders deutlich im Zusammenhang mit den Regeln der Emotionalität, die über weite Strecken unser Fühlen und die Manifestation und Prozessierung von Emotionen bestimmen. 6 Zu unterscheiden sind vier Typen, die das emotionale Geschehen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen regeln: Emotionsregeln, Manifestationsregeln, Korrespondenzregeln und Kodierungsregeln. Emotionsregeln (= feeling rules) geben an, welches Gefühl (und in welcher Intensität) für einen bestimmten Situationstyp aus der Sicht der betroffenen Person und aus der Sicht anderer Beteiligter angemessen bzw. sozial erwartbar ist: There seem to be relatively clear cultural expectations as to how appropriate particular emotions and particular intensities of emotion are in particular situations. 7 Types of situation are paradigmatically linked to the emotions they afford by convention. The link is neither deterministic nor biological, but socio-cultural. 8 Die allgemeine Form dieser Regeln ist: Wenn eine Situation gedeutet wird als Typ X, ist es angemessen und wird sozial erwartet, ein emotionales Erleben vom Typ Y zu haben. Stellt z. B. etwas einen unwiederbringlichen Verlust dar (wird eine Situation so gedeutet), dann ist es angemessen und wird sozial erwartet, zu trauern. Befinde ich mich in einer entsprechenden Situation, erwarte ich, diese Emotion zu fühlen, und der Interaktionspartner unterstellt mir auf der Grundlage dieser Emotionsregel dieses Gefühl und deutet mein Verhalten in diese Richtung. 6 Vgl. Hochschild (1979). 7 Scherer/ Summerfield/ Wallbott (1983: 360 - 361). 8 Coulter (1979: 133). 12 Reinhard Fiehler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [18] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Manifestationsregeln (= display rules) regeln, in welcher Situation welches Gefühl (wie intensiv) zum Ausdruck gebracht werden darf oder muss. Ein Beispiel: Der Hund eines Jungen ist überfahren worden. Der Junge weint. Die Äußerung Ein Mann weint doch deswegen nicht. tastet wohl nicht die Emotionsregel an, dass der Junge Trauer empfinden darf, sie normiert aber die Manifestation dieses Fühlens auf der Grundlage der Manifestationsregel: Wenn männliche Personen traurig sind, ist es angemessen und wird sozial erwartet, dass sie dies nicht oder auf andere Weise als durch Weinen manifestieren. Korrespondenzregeln kodifizieren, welche korrespondierenden Emotionen bzw. welche korrespondierenden Manifestationen angemessen und sozial erwartbar sind, wenn ich in einer Situation meinen Interaktionspartner als spezifisch emotional deute (z. B. verzweifelt, wütend, fröhlich). Wenn ich z. B. sehe, dass mein Gegenüber traurig ist, darf ich mich nicht weiter ausgelassen und fröhlich fühlen, zumindest darf ich es nicht zeigen. Bei den Kodierungsregeln handelt es sich um diejenigen Konventionen, die beschreiben und festlegen, welche Verhaltensweisen als Manifestation einer Emotion gelten. Sie betreffen also einerseits die Verhaltensweisen, mit denen ein Gefühl manifestiert werden kann, und andererseits die Indikatoren im Verhalten, an denen ein Gefühl beim Interaktionspartner erkannt wird. Wesentlich an dem hier vorgestellten Modell eines Systems von Regeln der Emotionalität ist, dass nicht nur das Ausdrucksbzw. Manifestationsverhalten sozialen Normen und Konventionen unterliegt, sondern dass es für die Emotionen selbst entsprechende Regeln gibt, an denen sich Interaktionsbeteiligte orientieren. Weicht das individuelle Erleben von den Regeln ab, kann durch Emotionsregulation eine individuelle oder interaktive Abstimmung zwischen emotionalen Erfordernissen und individuellen Emotionen erfolgen. 9 Das System der Gefühlsregeln ist sozial vielfältig diversifiziert: Sie variieren rollen-, geschlechts-, situations- und (sub-)kulturspezifisch. Die Regeln der Emotionalität sind also keineswegs universell, auch wenn - besonders für Kodierungsregeln - immer wieder versucht worden ist, dies nachzuweisen. (4) Emotionen werden von mir aus einer sprachwissenschaftlichen, genauer: aus einer gesprächsanalytischen Perspektive betrachtet. D. h. sie sind primär als Phänomene der Interaktion relevant. Emotionen in der interpersonalen Interaktion stellen deutlich etwas anderes dar als Emotionalität im Kontext schriftlicher Texte. Sie sind analytisch mit anderen Anforderungen verbunden. 10 Zentral für eine gesprächsanalytische Sichtweise ist, dass Emotionen in der Interaktion kommuniziert werden. Dies geschieht, indem sie manifestiert, gedeutet und interaktiv prozessiert werden. 9 Vgl. Fiehler (1990 a: 87 - 93). 10 Vgl. Schwarz-Friesel (2007) und Winko (2007). Emotionale Identität 13 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [19] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Gefühle und Empfindungen werden so primär als veröffentlichte betrachtet und hinsichtlich ihrer Funktionen in der Interaktion thematisiert. 4 Kommunikation von Erleben und Emotionen 4.1 Manifestation von Emotionen Es gibt zwei grundsätzlich unterschiedliche Verfahren, Gefühle und Empfindungen zu manifestieren: Sprecher können ihnen auf verschiedene Art und Weise Ausdruck verleihen oder sie können Emotionen zum Thema, zum Gegenstand der Kommunikation machen. Entsprechend sind einerseits Verfahren des Ausdrucks und andererseits Verfahren der Thematisierung von Emotionen zu unterscheiden. Während bei der Thematisierung eine Emotion durch eine Verbalisierung zum Thema der Interaktion gemacht wird, sind Ausdrucksphänomene nicht an Verbalisierungen gebunden (sie können sie aber natürlich begleiten), und sie machen das mit ihnen manifestierte Erleben nicht (notwendig) zum Thema der Interaktion. Ein unwirsches Kannst du vielleicht auch mal pünktlich sein? bringt zwar durch Intonationskontur, Stimmcharakteristika, Sprechgeschwindigkeit etc. ein Erleben zum Ausdruck, thematisiert es aber nicht, wie es mit Das macht mich ganz ärgerlich. Deine ewige Unpünktlichkeit! der Fall ist. Das emotionale Erleben kann also Thema der verbalen Kommunikation sein. Wir kommunizieren dann über Emotionen. Dies ist die Grundstruktur der Thematisierung von Emotionen. Meistens ist aber ganz etwas anderes das Thema der verbalen Kommunikation. Wir kommunizieren über etwas anderes, aber daneben und zugleich kommunizieren wir - durch die Art, wie wir über das Thema kommunizieren - Emotionen. Sie haben die Funktion bewertender Stellungnahmen zum Thema, aber auch zu weiteren Aspekten: zu anderen Personen, ihren Handlungen, zu uns selbst etc. Dies ist die Grundstruktur des Ausdrucks von Emotionen. In der Interaktion verläuft die Kommunikation von Emotionen zu einem wesentlichen Teil über den Ausdruck von Emotionen und die Deutung dieses Ausdrucks. Emotionsausdruck, wie er an einer bestimmten Stelle der Interaktion erfolgt, ist eine Funktion einerseits von zugrundeliegenden Emotionen und andererseits von Manifestationsregeln, die besagen, welcher Ausdruck in der betreffenden Situation angemessen ist und sozial erwartet wird. Emotionsausdruck wird hier also nicht ausschließlich als eine Folge von innerpsychisch existierenden Emotionen verstanden (dies ist die gängige Auffassung), sondern Emotionsausdruck in der Interaktion wird gleichermaßen von Emotionen wie von Manifestationsregeln bestimmt. Unter Emotionsausdruck verstehe ich alle Verhaltensweisen (und physiologischen Reaktionen) im Rahmen einer Interaktion, die im Bewusstsein, dass 14 Reinhard Fiehler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [20] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur sie mit Emotionen zusammenhängen, in interaktionsrelevanter Weise manifestiert werden und/ oder die vom Interaktionspartner wahrgenommen und entsprechend gedeutet werden. Emotionsausdruck wird auf diese Weise von vornherein in seiner kommunikativen Funktion im Rahmen von Interaktion erfasst. Das Verhältnis von Ausdruck und Emotion kann auf dieser Grundlage folgendermaßen bestimmt werden: In spezifischen Situationen gelten spezifische Verhaltensweisen und physiologische Reaktionen spezifischer Personen(-gruppen) bei spezifischen Personen(-gruppen) als Ausdruck einer bestimmten Emotion bestimmter Intensität, und u. U. drücken sie eine solche Emotion tatsächlich auch aus. Bei der Thematisierung von Emotionen sind mindestens vier Verfahren zu unterscheiden. Dies sind (1) die begriffliche Emotionsbenennung, (2) die Emotionsbeschreibung, (3) die Benennung/ Beschreibung von erlebensrelevanten Ereignissen/ Sachverhalten und (4) die Beschreibung/ Erzählung der situativen Umstände, in deren Rahmen ein Erleben stattfand. (1) Begriffliche Emotionsbenennungen Erlebensprozesse können durch begriffliche Emotionsbenennungen verbal thematisiert werden. Emotionsbegriffe sind sozial vorgeformte Deutungsmöglichkeiten für individuelles Erleben, sie sind sozial normierte Möglichkeiten, ein Erleben zu typisieren und zu bezeichnen. Die Gesamtheit dieser Benennungen bildet den Emotionswortschatz einer Sprache. Emotionsbegriffe existieren als allgemeine (Gefühl, Stimmung, Erleben) und als differentielle (Angst, Freude, Faszination). Sie liegen in nominaler, verbaler und adjektivischer Form vor. Der Emotionswortschatz lässt sich nicht klar begrenzen. Dies ist eine Folge der Tatsache, dass die meisten Ausdrücke, mit denen wir über innere Zustände sprechen, nicht nur emotionale, sondern auch kognitive, bewertende, motivationale, physiologische und verhaltensdispositionelle Bedeutungskomponenten haben, mit denen sie in der Kommunikation relevant werden können. 11 (2) Emotionsbeschreibungen Emotionsbeschreibungen sind mehr oder minder ausführliche Versuche, ein spezifisches Erleben dem Interaktionspartner durch Umschreibungen zu verdeutlichen. Wichtige sprachliche Mittel zur Realisierung von Emotionsbeschreibungen sind u. a. der Gebrauch erlebensdeklarativer Formeln, feste 11 Vgl. Fiehler (1990 b). Emotionale Identität 15 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [21] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur metaphorische Wendungen (Phraseologismen) und der metaphorische Gebrauch von Ausdrücken: - Gebrauch erlebensdeklarativer Formeln Erlebensdeklarative Formeln sind Ausdrücke, die das, was in ihrem Skopus auftritt, als Emotion deklarieren und somit als Ganzes eine spezifische Emotion beschreiben. Zu diesen Formeln gehören Ausdrücke wie: ich fühlte (mich) X, ich hatte das Gefühl X; ich empfand X, es ging mir X, mir war X (zumute) etc. Im Skopus dieser Formeln können stehen: (a) emotionsbenennende Begriffe (Ich fühlte mich verängstigt/ deprimiert/ froh/ etc.), (b) Kurzvergleiche (Ich fühlte mich leer/ beschissen/ wie neugeboren/ etc.) und (c) mit wie oder als ob eingeleitete Vergleiche oder Bilder (Ich fühlte mich wie ein Sonnenkönig/ als ob mir der Boden unter den Füßen wegglitt/ wie damals in der Situation als [Situationsbeschreibung]/ etc.). - Feste metaphorische Wendungen Bildlich-metaphorische Mittel spielen auch ohne erlebensdeklarierende Formeln eine zentrale Rolle bei Emotionsthematisierungen, die mit Hilfe von Beschreibungen vorgenommen werden: Es kocht in mir. Das haut mich aus den Schuhen/ ist ein Schlag ins Kontor. Du treibst mich auf die Palme. etc. - Metaphorischer Gebrauch von Ausdrücken Neben den festen Wendungen ist der metaphorisch-bildliche Gebrauch von Ausdrücken ein weiteres Mittel der Emotionsbeschreibung: Ich hänge durch. Die Prüfung steht mir bevor. Ich war völlig zu. etc. (3) Benennung/ Beschreibung von erlebensrelevanten Ereignissen/ Sachverhalten Werden in einer Interaktion Ereignisse bzw. Sachverhalte benannt oder beschrieben, die mitsamt ihren Konsequenzen für den Sprecher deutlich negativ oder positiv besetzt sind, so kann auf diese Weise die mit diesen Ereignissen verbundene Emotion zum Thema der Interaktion gemacht werden. Dies insbesondere, wenn die Äußerung von entsprechenden Ausdrucksphänomenen begleitet wird, z. B. Mein Hund ist gestern überfahren worden! (mit entsprechender Mimik und Intonation). (4) Beschreibung/ Erzählung der situativen Umstände eines Erlebens Eigene oder fremde vergangene Emotionen können thematisiert werden, indem die situativen Umstände oder der Ablauf der Ereignisse beschrieben, berichtet oder erzählt werden. Es wird berichtet oder erzählt, um die Emotion in der betreffenden Situation kommunikativ zu verdeutlichen. Ziel solcher Berichte oder Erzählungen in erlebensthematisierender Absicht ist, dass der Hörer sich die betreffende Situation vergegenwärtigt und durch Rückgriff auf die für diesen Situationstyp geltenden Emotionsregeln erschließt, wie sich der andere gefühlt hat, als er das entsprechende Erlebnis hatte. Die Beschreibung der situativen Umstände und Abläufe kann dabei ausschließlich aus der 16 Reinhard Fiehler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [22] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Wiedergabe von Handlungen und Kognitionen der beteiligten Personen in der betreffenden Situation bestehen. In komplexen Emotionsthematisierungen können in solche Beschreibungen der situativen Umstände und Abläufe aber auch Emotionsbenennungen und Emotionsbeschreibungen eingelagert sein. Von einer komplexen Emotionsthematisierung spreche ich, wenn zur Thematisierung eines bestimmten Erlebens mehr als eines der hier genannten Verfahren verwendet wird. 4.2 Deutung von Emotionen Interagierende deuten die Emotionen der jeweils anderen Person permanent, wenngleich mit wechselnder Intensität und Genauigkeit. Die Deutung besteht darin, dass (1) der anderen Person - auch unabhängig vom Vorliegen von Indikatoren - ein spezifisches Erleben unterstellt wird, dass (2) Verhaltensweisen und physiologische Reaktionen als Emotionsausdruck gedeutet und dass (3) Emotionsthematisierungen interpretiert werden. Die Zuschreibung einer Emotion ist eine Resultante aus diesen drei Komponenten. In der Mehrzahl der Situationen wird dem Interaktionspartner ein Erleben mehr oder minder differenziert unterstellt. Dies geschieht auch unabhängig davon, ob Emotionsindikatoren irgendwelcher Art wahrgenommen werden. Grundlage dieser Unterstellung sind (1) die Emotionsregeln, die für die spezifische Situation gelten, (2) die Projektion eigener Erlebensdispositionen auf den anderen und (3) ggf. ein Wissen über individualspezifische Erlebensdispositionen bzw. die emotionale Identität des anderen. In der Interaktion können Verhaltensweisen und physiologische Reaktionen des anderen als Ausdruck seiner Emotionen gedeutet werden. Sofern sie so gedeutet werden, spreche ich auch von Emotionsindikatoren. Sie sind in der betreffenden Situation für eine deutende Person, nicht aber generell und objektiv Indikatoren für bestimmte Emotionen. Im Grundsatz können für die Deutung alle Verhaltensweisen und physiologischen Reaktionen als mögliche Formen eines Ausdrucks von Emotionen herangezogen werden. Schließlich stützt sich die Deutung der Emotion auch auf die Deutung der Emotionsthematisierungen der anderen Person. 4.3 Prozessierung von Emotionen Sind Emotionen durch Manifestation und Deutung für die Beteiligten als gemeinsames Faktum etabliert, können sie in der Interaktion bearbeitet bzw. prozessiert werden. Dabei lassen sich analytisch fünf Strategien unterscheiden: Die Prozessierungsstrategie ‚ Eingehen ‘ umfasst alle Formen, bei denen der Interaktionspartner die manifestierte Emotion als angemessen akzeptiert und mit Bekundungen der Anteilnahme auf sie eingeht. ‚ Hinterfragen ‘ bezeichnet zusammenfassend Interaktionsverläufe, in denen die Angemessenheit der manifestierten Emotion in Hinblick auf Intensität und/ oder Art Emotionale Identität 17 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [23] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur problematisiert wird. Beim ‚ Infragestellen ‘ wird die manifestierte Emotion nicht als angemessen akzeptiert. Bei der ‚ Gegenmanifestation ‘ wird auf eine Emotionsmanifestation mit einer konfrontativen Gegenmanifestation geantwortet. Beim ‚ Ignorieren ‘ vermeidet der Interaktionspartner bewusst und offensichtlich, obwohl er es wahrgenommen und gedeutet hat, auf die Emotion einzugehen und sie in manifester Weise interaktiv zu behandeln. Der demonstrative Charakter unterscheidet das Ignorieren vom Übergehen. Diese Strategien können auch kombiniert auftreten. Offensichtlich ist, dass die drei erstgenannten Strategien an verbale Kommunikationsprozesse gebunden sind. Eine Reihe von Möglichkeiten der interaktiven Bearbeitung von Emotionen hat sich zu kommunikativen Mustern entwickelt. Muster sind sozial standardisierte und konventionalisierte Verfahren, die zur Realisierung spezifischer, im sozialen Prozess häufig wiederkehrender Aufgaben und Zwecke dienen. 12 So ist z. B. für die Prozessierungsstrategie ‚ Eingehen ‘ das Anteilnahmemuster zentral, 13 für die Strategien ‚ Hinterfragen ‘ und ‚ Infragestellen ‘ ist es das Divergenzmuster. Mit seiner Hilfe wird eine manifestierte Emotion, sofern sie vom Partner nicht akzeptiert wird, Gegenstand einer Aushandlung. Das Divergenzmuster möchte ich an einem (fiktiven) Beispiel veranschaulichen: A: Seine blöden Bemerkungen hätte sich C auch sparen können! B: Ärgere dich doch nicht so. Das ist es doch nicht wert. A: Lass mich doch. Ich will mich nun mal aufregen. In diesem Beispiel wird eine von A zum Ausdruck gebrachte Emotion von B infragegestellt. B deutet A's Ausdrucksphänomene (z. B. Wortwahl, Intonation) und benennt sie als Ärger. B's Vorschlag im Rahmen der mit seiner Äußerung einsetzenden Aushandlung ist auf eine Veränderung der Intensität des Erlebens (so) gerichtet. Der Vorschlag zur Veränderung des Erlebenszustandes wird in Form einer direkten Aufforderung realisiert. Die Begründung rekurriert auf eine Emotionsregel, wonach eine hohe Intensität des Erlebens an eine hohe Bedeutsamkeit des Ereignisses gekoppelt ist, die jedoch nach B's Meinung nicht gegeben ist. Die korrigierende Funktion des Vorschlags überwiegt. Der Versuch interaktiver Emotionsregulation wird aber von A zurückgewiesen, wobei allerdings eine andere Emotionsbenennung (aufregen) verwendet wird. Das Beispiel belegt, dass über Emotionen sehr wohl ‚ verhandelt ‘ werden kann und dass dies nicht nur die Manifestationen, sondern auch die Emotionen selbst betreffen kann. Solche Aushandlungen werden auf der Grundlage impliziter oder explizit angeführter Emotionsregeln ausgetragen. Über 12 Vgl. Ehlich/ Rehbein (1979). 13 Vgl. Fiehler (1990 a: 150 - 156). 18 Reinhard Fiehler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [24] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Emotionen wird dabei argumentiert auf der Grundlage von Vorstellungen wie: eine Emotion ist ‚ angemessen/ unangemessen ‘ , sie besteht ‚ zu Recht/ zu Unrecht ‘ , sie ist ‚ begründet/ unbegründet ‘ etc. Aushandlungen dieser Art machen ein weiteres Mal deutlich, dass Gefühle über weite Strecken keine ‚ Privatsache ‘ , sondern sozial normiert sind. 5 Der Einfluss der emotionalen Identität auf die Kommunikation von Erleben und Emotionen in der Interaktion Resultat der emotionalen Sozialisation sind unterschiedliche individuelle Ausprägungen von emotionaler Identität. Sie sind die Grundlage für interindividuelle Unterschiede in Hinblick auf Emotionen und den Umgang mit Emotionalität. Im Folgenden sollen einige dieser Ausprägungen bzw. Formen emotionaler Identität kurz vorgestellt werden. Sie betreffen die vier oben angesprochenen Komponenten Emotionen, Manifestation, Deutung und Prozessierung. In Hinblick auf die Emotionen gibt es (1) die Dominanz von Emotionen (gegenüber anderen Bearbeitungsformen). Dies wird u. a. benannt als jemand sei ein Gefühlsmensch oder er sei gefühlig oder gefühlsduselig etc. Die Dominanz von Emotionen kann gekoppelt sein mit einer niedrigen Emotionsschwelle, so dass emotionale Reaktionen schon bei geringfügigen Anlässen erfolgen. Eine zweite Ausprägung der emotionalen Identität ist durch (2) das Fehlen bzw. ein geringes Ausmaß an Emotionen und Manifestationen charakterisiert (gefühlsloser, -armer, cooler Mensch etc.). Dies kann eine Folge des individuellen Umgangs mit Emotionen sein. Sie werden dann ggf. nicht ausgelebt, sondern durch Emotionsregulation unterdrückt, verschoben oder versachlicht. Die dritte Form ist (3) die Präferenz für bestimmte Emotionen. Einzelne Emotionen werden dabei überdurchschnittlich häufig und/ oder intensiv erlebt. (Angsthase, Wutnickel, Neidhammel, Eifersüchtling etc.). Im Zusammenhang mit der Manifestation lassen sich als Ausprägungen der emotionalen Identität (4) die (exzessive) Manifestation durch Ausdruck (Choleriker, Klageweiber etc.) und (5) die überwiegende Manifestation durch Thematisierung (Gefühlsanalytiker) unterscheiden. Im Kontext der Deutung sind als Pole der emotionalen Identität (6) die differenzierte Wahrnehmung und Deutung von Emotionen (sensibler, einfühlsamer Mensch, Versteher etc.) und (7) das Nichtbemerken von Emotionen (Holzklotz, Nichtchecker etc.) zu differenzieren. In Hinblick auf die Prozessierung sind als Formen der emotionalen Identität (8) die Präferenz für Anteilnahme als Prozessierungsstrategie (mitfühlender, anteilnehmender Mensch), (9) die Präferenz für Hinterfragen/ Infragestellen als Prozessierungsstrategie (Gefühlszweifler, ungläubiger Jakob) und Emotionale Identität 19 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [25] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur letztlich (10) die Präferenz für Ignorieren als Prozessierungsstrategie (gefühlsscheuer, gefühlskalter, herzloser Mensch) zu verzeichnen. Das Konzept der emotionalen Identität besitzt Bezüge zur psychologischen Kategorie Temperament und zur klassischen Temperamentenlehre. Temperament wird in der Psychologie als neurologische und biologische Basis der Persönlichkeitsmerkmale verstanden und in Form von Dimensionen operationalisiert. So unterscheiden etwa Buss und Plomin (1975, 1984) in ihrem psychogenetischen Ansatz vier Temperamentdimensionen, und zwar Aktivität mit den Polen aktiv vs. lethargisch, Emotionalität (emotional vs. leidenschaftslos/ unempfindlich), Soziabilität (gesellig vs. distanziert/ abgesondert) und Impulsivität (impulsiv vs. besonnen/ vorsichtig). Damit ist Emotionalität eine der Temperamentsdimensionen. Eine andere Sichtweise sieht die Empfänglichkeit für Emotionen als zentral für Temperament: Temperament ist von psychologischer Seite definiert worden als die besonders ausgeprägte Empfänglichkeit eines Menschen für ein bestimmtes Gefühl. Ein Mensch mit schüchternem, zaghaftem Temperament z. B. ist demnach ein Mensch, der mehr als andere dazu neigt, auf bestimmte Impulse (etwa die Begegnung mit fremden Menschen oder neuen Situationen) mit Ängstlichkeit zu reagieren. 14 So besitzen dann auch von den vier Grundtypen der klassischen Temperamentenlehre - Choleriker, Sanguinker, Melancholiker und Phlegmatiker - drei einen deutlichen Bezug zu Emotionen. Für den Choleriker sind Wut und Zorn charakteristisch und eine Tendenz zu massiven Manifestationen durch Ausdruck. Den Sanguiniker zeichnen Fröhlichkeit und Freude sowie lebhafte Manifestationen dieser Emotionen aus. Der Melancholiker steht für Melancholie, Trübsal und Trauer sowie deren deutliche Manifestation. Lediglich der Phlegmatiker hat dominant keinen Bezug zu Emotionen, sondern zu einer anderen Temperamentsdimension. Sein Temperament ist eher als Aktivitätsbzw. Verhaltensdisposition zu charakterisieren. Fragt man abschließend, welchen Einfluss die emotionale Identität auf die Kommunikation von Emotionen hat, so möchte ich dies tentativ an zwei Beispielen erläutern: (1) Kann man die emotionale Identität einer Person als Gefühlsscheu bezeichnen, so wird sie sich durch ein geringes emotionales Erleben und ggf. starke Emotionsregulation auszeichnen. Sie wird zudem kaum Manifestationen durch Ausdruck und Thematisierung zeigen. Emotionen bei anderen wird sie kaum wahrnehmen und ihre Fähigkeiten zur Emotionsdeutung werden gering ausgeprägt sein. Als Prozessierungsstrategie wird sie ‚ Übergehen ‘ und ‚ demonstratives Ignorieren ‘ bevorzugen. (2) Der Choleriker hingegen hat eine Präferenz für ‚ laute ‘ Emotionen (Wut, Zorn) und wird diese kaum regulieren. Er wird seine Emotionen durch exzessive Manifestationen zum Ausdruck bringen. Seine Kapazität zur 14 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Temperament (18. 11. 2014). 20 Reinhard Fiehler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [26] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Wahrnehmung und Deutung von Emotionen bei anderen ist wegen seines Selbstbezugs gering ausgeprägt. Da seine eigenen Emotionen im Zentrum stehen, wird er Emotionen anderer Personen auch kaum prozessieren. Ggf. wird er Emotionsmanifestationen anderer mit Gegenmanifestationen beantworten. Bibliographie Jannis Androutsopoulos, Von fett zu fabelhaft: Jugendsprache in der Sprachbiografie, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 62/ 2001, S. 55 - 78. Arnold H. Buss/ Robert Plomin, A temperament theory of personality development, New York 1975. Arnold H. Buss/ Robert Plomin, Temperament: Early developing personality traits, Hillsdale, NJ 1984. 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Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung, 1. Halbband, Berlin, New York 2008, S. 757 - 772. Arlie R. Hochschild, Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure, in: American Journal of Sociology 85/ 1979, S. 551 - 575. Heiner Keupp/ Thomas Ahbe/ Wolfgang Gmür, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek 1999. Klaus R. Scherer, Prolegomena zu einer Taxonomie affektiver Zustände. Ein Komponenten-Prozess-Modell, in: Gerd Lüer (Hrsg.), Bericht über den 33. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Mainz, 1982. Band 1, Göttingen etc. 1983, S. 415 - 423. Klaus R. Scherer/ Angela B. Summerfield/ Harald G. Wallbott, Cross-national research on antecedents and components of emotion. A progress report, in: Social Science Information 22/ 1983, S. 355 - 385. 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Auf der sozialen Ebene geschieht der Wandel von Gefühlen in Zeiträumen von Generationen, auf der kulturellen Ebene in Abständen von mehreren Generationen und ganzen Jahrhunderten, auf der anthropologischen Ebene erstreckt sich der Wandel über Jahrtausende. Die Entstehung von Gefühlen und Emotionen erklärt sich durch das Zusammenwirken biologischer, psychischer, sozialer und kultureller Faktoren. Deshalb sind an ihrer Erforschung auch so viele Disziplinen beteiligt: die Neurowissenschaften, die Kognitions-wissenschaften, die Linguistik, die Emotionspsychologie, die Kulturanthropologie, die Soziologie und die Kulturgeschichte. Emotionen sind subjektiv erfahrbar, und zwar lassen sie sich vom Individuum durch eine geistige wie auch körperliche Innenwahrnehmung registrieren. Sie sind an eine negative, neutrale oder positive Bewertung gekoppelt, die das eigene Körperbefinden, die seelischen Zustände, kognitive Denkinhalte oder allgemeine Umwelteinflüsse beurteilen. Viele Autoren bezeichnen subjektiv erfahrene, also bewusst gemachte Emotionen als ‚ Gefühle ‘ - allerdings besteht hier keinerlei terminologische Übereinstimmung, weder im deutschen, noch im englischen, noch im spanischen Sprachraum. Damit die vorbewusste emotionale Ebene bewusst gemacht werden kann, muss eine Konzeptualisierung stattgefunden haben, das heißt eine Emotion, die beispielsweise körperliche Unruhe auslöst, muss mit dem im Langzeitgedächtnis gespeicherten mentalen Schema der Furcht, Angst, Besorgnis, Bestürzung, Nervosität, Schrecken, Grauen, Entsetzen, Gruseln, Panik usw. in Verbindung gebracht worden sein. Nur dann nämlich kann die Emotion über eine mentale Repräsentation ( „ Ich fürchte mich! “ ) bewusst erfahren werden. In diesem Moment kodifizieren wir eine Emotion und ich schließe mich dem Sprachgebrauch an, dann vom ‚ Gefühl ‘ der Furcht zu sprechen. Gefühle sind also sprachlich konzeptualisierte, damit kodifizierte und somit wiederum Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [28] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur kognitiv beeinflusste emotionale Zustände. Gefühle verweisen folglich direkt auf Sprache und damit auf Kultur. Der dänische Linguist und Strukturalist Louis Hjelmslev stellte die Bedeutung der Sprache für den Umgang mit Emotionen und das menschliche Zusammenleben so dar: Language is the instrument with which man forms thought and feeling, mood, aspiration, will and act, the instrument by whose means he influences and is influenced, the ultimate and deepest foundation of human society. 1 Dem steht allerdings eine nicht ganz unbedeutende Denktradition der Sprachskepsis entgegen, die Goethe in seinem ‚ Faust ‘ folgendermaßen zum Ausdruck brachte: „ Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch. “ 2 Das Wahre, wirklich Wichtige liegt demnach also allein im Gefühl. Die Wörter der Sprache sind dagegen etwas Flüchtiges, Unbeständiges und erfassen nicht wirklich die Gefühle, die sie symbolhaft benennen. Nietzsche stand in derselben Tradition, als er seine Wahrheitskritik als Sprachkritik formulierte. Der Sprachbildner, so Nietzsche, bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdruck die kühnsten Metaphern zu Hilfe. Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wird nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue [. . .] Logisch geht es jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu. 3 Auch Th. Mann gestaltete diese Sprachskepsis in seiner kurzen Erzählung ‚ Enttäuschung ‘ sehr prägnant. Hier erklärt ein sonderbarer Herr zwischen 30 und 50 dem Ich-Erzähler auf der Piazza San Marco in Venedig seine existenzielle ‚ Enttäuschung ‘ : er wuchs mit großen Wörtern und großen Erwartungen an die Wirklichkeit auf; aber alles Tatsächliche, ob schön oder grässlich, war unendlich viel blasser als die Wörter. Die Sprache, so behauptet der Fremde, habe Mittel, über die Grenzen des menschlichen Empfindens „ hinweg[zu]lügen “ . Weshalb sie am Ende mehr erahnen lasse, als die Wirklichkeit mit dem „ mittelmäßigen, uninteressanten und matten “ Verlauf des Lebens tatsächlich zu bieten habe. 4 Während bei Goethe die Sprache den Emotionen unzureichend quasi hinterher hinkt, eilt sie ihnen bei Th. Mann übertreibend voraus. Allen drei Kritiken gemeinsam ist, dass die Sprache ein nicht adäquates Instrument sei, die Welt der Emotionen abzubilden bzw. auszudrücken. In der Tat existiert eine ontologische Differenz zwischen Emotionen und Sprache, die eine Eins-zu-eins-Abbildung unmöglich macht. Dennoch blei- 1 Zitiert bei: Schwarz-Friesel (2007: 18). 2 Faust 1, Szene: Marthens Garten. 3 Nietzsche (1956: 312 f.). 4 Mann (2005: 100). Die kulturelle Bedeutung der sprachlichen Kodierung von Emotionen 23 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [29] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur ben wir als soziale Wesen auf die geistige Anstrengung angewiesen, den ontologischen Sprung der Übersetzung von Emotionen in Sprache möglichst nachvollziehbar zu gestalten, und genau das war traditionell der kulturelle Dienst der Dichter an der Gesellschaft. Erfolgreiche Poesie kodiert Gefühlszustände besser, als man es selbst vermocht hätte. Durch Poesie, also durch Sprache werden somit Emotionsgemeinschaften gestiftet. Die poetische Kodierung von Emotionen führte (und führt) dazu, dass man Emotionen durch die Brille ihrer dichterischen Erfassung erlebt und ausdrückt. Darin bestand der Sinn, Gedichte auswendig zu lernen. Und indem ich die sprachliche Gestaltung der Dichter zu der meinen mache und sie mit anderen teile, entstehen emotionale Gemeinschaften, für deren Identität die Leistung der Dichter konstitutiv ist. In dem Moment allerdings, wo ein Entfremdungsprozess zwischen dem eigenen Empfinden und seiner poetischen Kodierung entsteht, wo zwischen subjektivem Erleben und Zitat sich ein Abgrund öffnet, entsteht das Empfinden, die Verse seien kitschig. Dies ist ein sicherer Hinweis auf einen kulturellen Wandel, womit sich der Kreis schließt zu der eingangs gemachten Bestimmung: Emotionen unterliegen grundsätzlich einem permanenten Wandel. 2 Die ontologische Differenz zwischen Emotionen und Sprache Bevor ich diesen kulturellen Wandel weiter verfolge, möchte ich noch einmal auf die ontologische Differenz zwischen Emotionen und Sprache eingehen, die den drei Positionen der Sprachkritik implizit zugrunde lag. In der Tat haben wir sprachliche Schwierigkeiten, etwa den genauen Unterschied zwischen Freude und Glück oder die klare Grenze zwischen Furcht, Panik, Entsetzen, Schreck, Phobie, Unsicherheit usw. zu bestimmen. Während in der Tradition der aristotelischen Kategorienlehre sich die Objekte der äußeren Welt eindeutig klassifizieren lassen durch Abgrenzung und Bestimmung des Wesentlichen - omnis determinatio est negatio, sagte Spinoza - sind die Übergänge zwischen Emotionen offenbar fließend und entziehen sich häufig einer exakten Identifizierung und Definition. Die Alltagssprache bietet zahlreiche Beispiele dafür: „ In mir ist ein unbescheibliches Gefühl. “ Oder: „ Ich kann dieses Gefühl nicht einordnen. “ Oder: „ Ich habe so ein seltsames Gefühl in mir, es ist nicht Furcht, es ist nicht Trauer, vielleicht so eine Art Weltschmerz. “ 5 Diese offenbare Schwierigkeit der exakten Identifizierung von Emotionen, die jedem vertraut sein dürfte, verweist uns an das uralte Körper-Geist- 5 Beispiele aus Schwarz-Friesel (2007: 65). 24 Bernd F. W. Springer Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [30] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Problem, das viele Vertreter der Neurowissenschaften heutzutage gerne zugunsten eines reinen Physikalismus gelöst sehen möchten: Emotionen, so behaupten sie, seien nichts anderes als ein Erzeugnis von Gehirnfunktionen, sie seien neuronale Erlebnisse und damit vor allem Gegenstand der Molekularbiologie. Liebe beispielsweise sei nichts anderes als ein biochemischer Aktivierungsprozess von Neuronenverbänden in einer Ecke des Großhirns. Richtig ist, dass es keinen Geist ohne Körper gibt, dass geistige Erlebnisse eine neuronale Trägerebene haben. Aber wie soll man jemandem einzig und allein anhand von neuronalen Modellen erklären, was schön, süß oder hasserfüllt bedeutet? In den Nervenzellen ist von den mentalen Repräsentationen, die unseren Geist ausmachen, keine Spur. Kein Neurologe kann mir meine schönsten Kindheitserinnerungen, Heines Loreley oder die binomischen Formeln in meinen Nervenzellen zeigen. Und doch haben sie dort ihre materielle Basis. Wichtig ist nun der Unterschied zwischen Emotionen als den Organismus und die Psyche des Menschen beeinflussenden Kräften einerseits und ihrer Konzeptualisierung, ihrer Wahrnehmung und damit einhergehenden Beschreibung andererseits. Ich kann unbewusst unter dem bestimmenden Einfluss einer Emotion (z. B. Angst) stehen und sie daher weder identifizieren noch darüber reflektieren. Die Tiefen- und Emotionspsychologie, die diese - wie der Name Tiefenpsychologie schon sagt - tief im Inneren wirksamen Kräfte bearbeiten wollen, müssen diese Kräfte kategorisieren und das geht nicht anders als sprachlich. Das heißt, diese Disziplinen befinden sich in einem hermeneutischen Zirkel: sie müssen annehmen, dass die Kategorien, die die Sprache zur Verfügung stellt, einen adäquaten Aufschluss über die im Organismus wirkenden Emotionen erlauben. Vorsprachlich sind sie nicht zugänglich, sondern immer nur in der subjektiven Introspektive. Diese Innenschau kann nun entweder an der exakten Identifizierung scheitern ( „ Ich kann dieses Gefühl nicht einordnen. “ ), oder aber sie findet einen adäquat erscheinden Ausdruck, der aber wiederum von der Lexik der jeweiligen Sprache abhängt. Was für die Religion der ‚ Sprung in den Glauben ‘ bedeutet, ist in der Körper-Geist-Problematik der ‚ Sprung in die Sprache ‘ . Während sich Gedanken meistens schon in sprachlichen oder vorsprachlichen Dimensionen bewegen und daher leichter sprachlich ‚ einzufangen ‘ sind (manchmal sind sie freilich ‚ schneller ‘ , als man semantisch-syntaktisch ‚ hinterherkommt ‘ ), kann man Gefühlen nur auf einer Meta-Gefühlsebene nachspüren - das macht den Sprung in die Sprache unverzichtbar. Selbst die Neurowissenschaftler, die vermeintlich objektiv das Aufblinken neuronaler Zonen im Gehirn beobachten, kommen nicht ohne sprachliche Interpretation dieses Aufleuchtens aus. Die kulturelle Bedeutung der sprachlichen Kodierung von Emotionen 25 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [31] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 3 Emotionen, Sprache, Kultur Verlassen wir nun die Bedeutung der Sprache für die Erforschung der Emotionen und kehren wir zurück zur Funktion der Sprache für die kulturelle Bedeutung der Emotionen. Paul Heelas formulierte die entsprechenden Zusammenhänge wie folgt: The greater the importance of emotion talk, the greater the importance of emotionality; the greater the number of emotions which are identified, the greater the number of experienced emotions; and the more emotion is valued, the more likely it is to be [. . .] at the forefront of experience. 6 Es gibt in der Geschichte der meisten Kulturen und Gesellschaften Epochen, in denen Emotionen Hochkonjunktur haben - oder wie Heelas sagt: when they are „ at the forefront of experience “ - , und andererseits auch Epochen der Kälte. In Deutschland waren die höfische Minnekultur und die Epochen der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang und der Romantik Zeitalter, in denen das Gespräch über Gefühle, die Identifizierung von Gefühlen, der Corpusausbau der deutschen Sprache bezüglich des Gefühlswortschatzes, die Wertschätzung von Gefühlen - man denke an Goethes: „ Gefühl ist alles “ - und das öffentliche Zeigen von Gefühlen Hochkonjunktur hatten. Dagegen büßten emotionale Befindlichkeiten ihre Vorrangstellung seit der Industrialisierung, im und nach dem Ersten Weltkrieg und in einem weiteren Schub nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Aufkommen des amerikanischen Coolness-Ideals ein. 4 Emotionsgemeinschaften: Wandel und Kontinuitäten Zu einer emotionalen Gemeinschaft zu gehören hat einen emotionalen Mehrwert: denn zusätzlich zu den konkreten Emotionen, die eine solche Gemeinschaft miteinander teilt, gibt die Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft den Menschen das Gefühl von Sicherheit, Lust und Freude. Diese Gefühle mit einer großen Gemeinschaft zu teilen, schafft Euphorie. Es ist wie eine Droge. Jedes halbwegs spannende Fußballspiel in einem gefüllten Stadion legt davon Zeugnis ab. Oder man denke nur an die Ekstase der Teenager in den Filmmitschnitten der Beatles-Konzerte. Normalerweise werden Emotionen mittels der drei Emotionsparameter Wertigkeit (also positiv, negativ oder neutral), Dauer und Intensität beschrieben. Aber dabei vergisst man einen entscheidenden Aspekt, ohne den die Emotionsforschung ins rein Technische und Statistische abzugleiten droht. Die Frage nämlich, woran sich Emotionen entzünden. 6 Heelas (1996: 193 f.). 26 Bernd F. W. Springer Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [32] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Ich habe diesen Aspekt in der von mir konsultierten Literatur nirgendwo adäquat berücksichtigt gesehen. Dabei ist es doch ein Unterschied, ob eine Emotionsgemeinschaft ihre Identität im Jubel über ein Tor findet, über die Frage „ Wollt ihr den totalen Krieg? “ , über ein romantisches Lied im Rockkonzert, bei dem Tausende ihre Feuerzeuge schwingen, oder im Chor von Beethovens Neunter zu den Zeilen „ Alle Menschen werden Brüder “ . Gerade die Inhalte, über die Emotionsgemeinschaften jubeln oder trauern, unterscheiden Generationen, Epochen und Völker voneinander. Dieser Aspekt ist wichtig für die Emotions-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte: sowohl der Grad, als auch die Anlässe von erlaubten, erwünschten und verbotenen Emotionen sind einem zeitlichen und kulturellen Wandel unterworfen. Und das wiederum bedeutet einen Wandel der Emotionsgemeinschaften und damit einen Wandel der Identitätsbildungen über Emotionen. Nun unterscheidet man in der Emotionspsychologie zwischen den Zustands- und Eigenschaftsemotionen eines Menschen. Die ersteren sind vorübergehenden Natur, wie z. B. in dem Satz: „ Seine Wut verpuffte rasch. “ Bei den letzteren handelt es sich um Grundstimmungen, wie z. B. in dem Satz: „ Er ist ein melancholischer Mensch. “ Die Frage, die sich, jedenfalls mir, stellt, und die, so meine ich, die Erforschung der Historizität von Gefühlen erst wirklich interessant macht, lautet nun: Gibt es diesen Unterschied nur auf der individuellen Ebene, oder kann man ihn auch bei Kollektiven finden? Kann es sein, dass beispielsweise durch Religion, klimatische Einflüsse, geographische Gegebenheiten, Siedlungsdichte, Verkehrsnetze und bestimmte historische Erfahrungen einzelne Bevölkerungsgruppen Langzeitmentalitäten entwickeln, die die Ausbildung von mehr intro- oder extrovertierten Charakterzügen begünstigen? Für eine in unzählige Einzeldisziplinen gespaltene und von Spezialisten bevölkerte Wissenschaft ist eine solche Frage leider zu komplex. Auch für diesen Beitrag ist sie zu komplex. Aber um in diese Richtung weiterzudenken, genügt es schon, einen einzelnen Aspekt der Emotionsforschung heranzuziehen: und zwar die emotionalen Einstellungen bzw. die soziale Konstruktion von Emotionen. Schon Nietzsche wusste, was heute als Standard in der Emotionsforschung gilt: „ Hinter den Gefühlen, “ so stellte er fest, „ stehen Urteile und Wertschätzungen, welche in Form von Gefühlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind. “ 7 (Das Wort ‚ vererbt ‘ ist hier natürlich metaphorisch zu verstehen.) Ein Hooligan mit Hakenkreuz-Tätowierung kann in mir z. B. Gefühle von Angst, Abneigung, Antipathie oder sogar Hass, Wut und Zorn auslösen. Warum? Ich kenne diese Person doch gar nicht! Weil ich ein evaluatives Urteil über Hakenkreuze fälle, das in diesem Fall eindeutig 7 Nietzsche (1954: 1037). Die kulturelle Bedeutung der sprachlichen Kodierung von Emotionen 27 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [33] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur negativ ist. Dieses Urteil löst in mir Emotionen aus. Das heißt, die Emotion ist Folge einer Bewertung. Entscheidend ist nun, den Einfluss unserer familiären und sozialen Umwelt, der Gesellschaft und der Kultur, in der wir leben, auf unsere Wertevorstellungen, Überzeugungen und Geschmäcker zu verstehen. Alle Menschen legen permanent die Welt für sich selbst aus, indem sie jedem Vorgang oder jeder Erfahrung ein Etikett geben. Sie interpretieren, was sie sehen oder hören, bewerten Vorgänge oder Dinge als gut oder schlecht, angenehm oder beängstigend. Dieser Dialog mit sich selbst ist wie ein Wasserfall, der unseren Geist wie ein Wasserrad unaufhörlich beschäftigt, aber nur in den seltensten Fällen kommt uns dies zu Bewusstsein. Obwohl diese Interpretationen individueller Natur sind, haben sie ihren Ursprung in einer dialektischen Beziehung des Individuums mit seiner sozialen und kulturellen Umwelt. Emotionsgemeinschaften sind in bestimmter Hinsicht also meistens zugleich auch Wertegemeinschaften. Und wenn es Werte gibt, die sich in Langzeitmentalitäten herausgebildet haben und die relativ konstant geblieben sind, dann korrespondieren diesen Werten vermutlich auch vergleichbare emotionale Einstellungen. Permanent gespeicherte, über Jahre hinweg erhaltene emotionale Einstellungen erweisen sich als resistent gegenüber Erfahrungswerten und rationalen Argumenten. Und sie tragen mit bei zu Phänomenen wie politischen Langzeiteinstellungen in bestimmten Milieus. 5 Angst und Liebe als emotionale Einstellungen Wenn Emotionen eine Folge einer Bewertung sind, gilt das dann auch für solch anthropologisch für das Überleben und die Fortpflanzung grundlegende Emotionen wie Angst und Liebe? Zumindest Angst kommt ja auch bei Tieren vor, und somit unabhängig von kognitiven Evaluationen. Offenbar muss man zwischen Angst als Instinkt, Affekt, Gefühl und emotionaler Einstellung unterscheiden. Ein junges Reh weiß per Instinkt, dass es zwar nicht vor einem Schmetterling, sehr wohl aber vor einem Wolf flüchten muss, auch wenn es noch nie einen gesehen hat. Angst als Affekt ist eine mechanisch ablaufende, nicht intendierte emotionale Reaktion, z. B. auf eine Explosion in unmittelbarer Nähe. Angst als Gefühl ist an das reflexive Bewusstsein gebunden, in dem das Subjekt sich selbst in eben diesem Zustand erfährt. Ein Gefühl, das alle Menschen in allen Kulturen kennen. Angst als emotionale Einstellung ist möglicherweise etwas spezifisch Deutsches (obwohl natürlich nicht etwas exklusiv Deutsches). Zumindest ist anderen Völkern die Bedeutung der Angst unter den Deutschen derart aufgefallen, dass beispielsweise die Engländer von ‚ german angst ‘ sprechen. An anderer Stelle bin ich diesem Phänomen von Goethe bis in die unmittelbare Gegenwart nachgegangen und in letzter Zeit sind auch mehrere Unter- 28 Bernd F. W. Springer Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [34] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur suchungen zu diesem Thema erschienen. 8 Von Goethes ‚ Italienischer Reise ‘ , in der er die mediterrane Sorglosigkeit des In-den-Tag-hinein-Lebens von der nordischen Daseinssorge mit ihrem ängstlichen, täglichen Sich-Abmühen abhebt, über Heidegger, bei dem Angst ein Hauptexistenzial seiner Philosophie war, bis zu der im Kalten Krieg unter Jugendlichen verbreiteten Zukunftsangst und der gegenwärtigen Hysterie in öffentlichen Debatten um bioethische Fragen oder um Google Street View gibt es in Deutschland ein auffälliges Verhalten, das britischer Humor einmal so interpretiert hat: ‚ Angst ‘ is responsible for their desire that everything be regulated, controlled, checked, checked again, supervised, insured, examined, documented. Secretly, they believe it takes a superior intelligence to realize just how dangerous life really is. 9 Man kann hier also durchaus von einer emotionalen Einstellung oder auch Langzeitmentalität der Sorge, Angst und Skepsis sprechen, die im Rahmen einer extrem zukunftsorientierten Daseinssorge jede Form von Daseinsvorsorge geradezu zur gesellschaftlichen Pflicht erhebt (nicht umsonst haben Deutsche im Durchschnitt ein Vielfaches mehr an Versicherungen als die Südeuropäer), wobei das Ganze verstärkt wird durch eine protestantische Gewissenskultur, die Werte wie Haltbarkeit, Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein zu moralischen Prüfsteinen erhebt und die Gewissenslast für den Einzelnen unerträglich macht, wenn er es wagt, sie zu ignorieren. Dieser Vorsorgewahn ist in der Tat darauf fixiert to realize just how dangerous life really is und führt in seiner Konsequenz zu einer ängstlicheren Bewertung vieler Phänomene des heutigen Lebens, als dies in anderen Kulturen der Fall ist. Die Angst des Einzelnen ist also gesellschaftlich determiniert, und zwar über lange Zeiträume hinweg, so dass wir die emotionale Einstellung der Angst als ein Phänomen der deutschen Kultur- und Mentalitätsgeschichte ansehen dürfen. Etwas Ähnliches geschah mit der Liebe. Anne-Charlott Trapp hat in ihrem Aufsatz „ Gefühl oder kulturelle Konstruktion? “ 10 gezeigt, wie im Deutschland des 18. Jahrhunderts die Liebe zu einem gesellschaftlichen Wert avancierte, der eine vergleichbare Wichtigkeit vielleicht nur in der höfischen Minnekultur des Mittelalters besaß. Natürlich gab es auch in den Jahrhunderten dazwischen Liebe als Empfindung und Gefühl in Deutschland. Aber nun wurde die Liebe zu einer sozialen Norm, die Liebesheirat zum Zentrum individueller Lebensentwürfe und das Psychologisieren und Verbalisieren dieser Emotionen zu einem der wichtigsten Themen der Tagebücher. Es entstand geradezu eine Kunst, die einzelnen Facetten dieses großen Gefühls in Worte zu fassen. 8 Springer (2012: 237 - 243). Vgl. auch Wierzbicka (1999: 123 - 167). 9 Zeidenitz, Barkow (2008: 15). 10 Trapp (2002: 86 - 103). Die kulturelle Bedeutung der sprachlichen Kodierung von Emotionen 29 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [35] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur In dem Maße, wie sich eine neue Kultur der Liebe ausbildete, waren die damit verbundenen Werte der Innerlichkeit, Sensibilität und Empathie sowohl handungs-anleitend als auch gefühlsbildend. Der Hintergrund der spezifischen Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts, wie sie im Pietismus und in der Epoche der Empfindsamkeit entwickelt wurde, hatte zuvor eine Mentalität der Innerlichkeit und der Konzentration auf das Ich gefördert, die nicht ohne Auswirkungen darauf blieb, wie man die Liebe lebte und erlebte und was man von ihr erwartete. Ich zitiere Anne- Charlott Trapp: Der auf die religiöse Erfahrung des Einzelnen zielende, zur dauernden Introspektion und Wahrnehmung jeder seelischen Regung anhaltende Pietismus hat zweifelsohne zu einer subjektorientierten wie auch zu einer gefühlsbetonten Definition und Erfahrung von Liebe beigetragen. 11 Gleichzeitig trugen der schwindende religiöse Glaube und der sich lösende Gottesbezug seit der Aufklärung zu einer Verklärung der Liebe bei. Während man Liebe zuvor stets im theologischen Kontext der Gottesliebe verstanden hatte, wurde sie nun zunächst säkularisiert und als Liebe zwischen den Geschlechtern in den Blick genommen, um bald darauf erneut sakralisiert zu werden: „ In Deutschland “ , schrieb Madame de Staël nach ihrer Reise 1810, „ ist die Liebe eine Religion “ . 12 Und das blieb sie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. In dieser Form, Liebe als Religion - und zwar in ihrer subjektorientierten protestantischen Innerlichkeit - unterschied sie sich von der Extrovertiertheit der Liebeskultur anderer Völker. 6 Emotionen heute Ich mache nun einen großen Sprung in die Gegenwart und frage: Was ist davon heute geblieben? Die Antwort lautet: wenig. Die Ausdrucksformen für bestimmte emotionale Zustände und Prozesse unterliegen bestimmten Regeln, die in der Forschung als „ Display Rules “ oder Manifestationsregeln bezeichnet werden. Für die Gegenwart gilt in Deutschland: Zu sehr ausgelebte und ausgedrückte emotionale Zustände gelten [. . .] als Zeichen von Labilität: So ist teilweise die Maskierung bzw. völlige Unterdrückung des Ausdrucks von Emotionen in der Gesellschaft [. . .] gefordert. 13 Das ist ein Kulturschock für Menschen aus Ländern, in denen es üblich ist, intensivere Gefühle vorzutäuschen als wirklich empfunden werden - etwa in Südeuropa und Südamerika. Wie ist es dazu gekommen, dass eines der 11 Trapp (2002: 96). 12 De Staël (1985: 39). 13 Schwarz-Friesel (2007: 59). 30 Bernd F. W. Springer Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [36] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur empfindsamsten und gefühlsbetontesten Völker Europas sich in weniger als zwei Jahrhunderten in sein Gegenteil verwandelt hat? Zunächst entstand mit der Industrialisierung in Deutschland eine technische Welt, in deren Folge sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in fast allen Bereichen eine Kultur der Sachlichkeit durchsetzte. Es folgten die beiden Weltkriege, in deren zeitlichem Kontext sich Verhaltenslehren der Kälte und Härte ausbildeten 14 , und schließlich stellte sich die Erfahrung der großen Desillusionierung ein, die für die so genannte ‚ skeptische Generation ‘ nach 1945 prägend wurde. Sie gab ihre tief verwurzelte Angst vor großen Gefühlen an die Nachkriegsgenerationen weiter, was schließlich zu einer merkwürdigen Dialektik von Wandel und Kontinuität in der deutschen Mentalitätsgeschichte führte: denn im Zuge dieser Gefühlskontrolle hat sich eine Kultur der Rationalisierung von Gefühlen, das heißt ihrer Hinterfragung entwickelt, die vermutlich ohne die Tradition der Innerlichkeit und introspektiven Selbstanalyse des 18. Jahrhunderts kaum denkbar gewesen wäre. Gleichzeitig führte diese Gefühlskontrolle aber zu einem Spontaneitätsverbot, das mit der Hochkultur der Emotionen zwischen Pietismus und Romantik nichts mehr gemein hat. Obwohl wir heute auf internationaler Ebene eine Renaissance der Emotionen beobachten, jedenfalls in den Wissenschaften, ist dieser Wandel noch weit davon entfernt, in der Lebenswirklichkeit der Mehrheit der Menschen angekommen zu sein. Für den deutschen Kulturraum ergibt sich dabei die Aufgabe, die negative Erfahrung der emotionalen Verführung und Verletzung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu überwinden, um sich dem Gefühlsreichtum der kulturellen Blütezeit zwischen 1750 und 1850 neu zu öffnen. Der historischen Emotionsforschung in der Germanistik und der Kulturgeschichte könnte dabei eine entscheidende Aufgabe zukommen. Bibliographie Peter A. Andersen/ Laura K. Guerrero (Hrsg.), Handbook of Communication and Emotion, San Diego 1998. Marco W. Battacchi/ Thomas Suslow/ Margherita Renna, Emotion und Sprache. Zur Definition der Emotion und ihren Beziehungen zu kognitiven Prozessen, dem Gedächtnis und der Sprache, Frankfurt 1996. Claudia Benthien/ Anne Fleig/ Ingrid Kasten (Hrsg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000. Henning Bergenholtz, Das Wortfeld „ Angst “ : eine lexikographische Untersuchung mit Vorschlägen für ein großes interdisziplinäres Wörterbuch der deutschen Sprache, Stuttgart 1980. Sabine Bode, Die deutsche Krankheit - German Angst, Stuttgart 2006. Ute Frevert, Vergängliche Gefühle, Göttingen 2013. Rom Harré (Hrsg.), The Social Construction of Emotions, New York 1986. 14 Vgl. Lethen (1994). Die kulturelle Bedeutung der sprachlichen Kodierung von Emotionen 31 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [37] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Paul Heelas, Emotion Talk across Cultures, in: Rom Harré/ W. Gerrod Parrott (Hrsg.), The Emotions. Social, Cultural and Biological Dimensions, London 1996, S. 171 - 199. Ludwig Jäger (Hrsg.), Zur historischen Semantik des deutschen Gefühlswortschatzes. Aspekte, Probleme und Beispiele seiner lexikographischen Erfassung, Aachen 1988. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt 1994. Friedrich Nietzsche, Morgenröte, in: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hg.v. Karl Schlechta, Bd. 1, München 1954. Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: Friedrich Nietzsche, Werke in 3 Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 3, München 1956. Jan Plamper, Geschichte und Gefühl: Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012. Gerhard Sauder, Empfindsamkeit. Bd. 1, Stuttgart 1974. Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, Tübingen 2007. Bernd F. W. Springer, Das kommt mir spanisch vor! München 2012, hier S. 237 - 243. Anne Germaine de Staël,: Über Deutschland (1814), Frankfurt 1985. Anne-Charlott Trapp, Gefühl oder kulturelle Konstruktion? , in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung, V.7, (2002) 01/ 2002, S. 86 - 103. Anna Wierzbicka, Emotions across Languages and Cultures, Cambridge 1999, hier S. 123 - 167 (= Chapter 3: A case study of emotion in culture: German Angst). Stefan Zeidenitz, Ben Barkow, Xenophobe ’ s Guide to the Germans, London 2008. 32 Bernd F. W. Springer Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [38] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Elisabeth Piirainen „ Wir und die Anderen “ : Zu europäischen Idiomen mit einer Sprachbezeichnung 1 Einleitung Verschiedene Faktoren sind an der Konstituierung der Identität eines Individuums oder einer Gruppe beteiligt. Die Sprache nimmt im Bereich der Identitätsfindung eine zentrale Stelle ein, wie dies aufgrund reicher Forschungen hinlänglich bekannt ist. 1 In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie sich dieses Phänomen im bildlichen Lexikon zahlreicher europäischer Sprachen manifestiert und ob die Untersuchung von Idiomen in einer multilingualen Herangehensweise einen Beitrag zum Thema „ Sprache und Identität “ zu leisten vermag. Im Mittelpunkt stehen Idiome, die in ihrem Konstituentenbestand die Bezeichnung einer Sprache enthalten. Als Materialbasis dienen die im Rahmen des Projekts „ Widespread Idioms in Europe and Beyond “ mit Hilfe zahlreicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anhand von Fragebögen gewonnenen Daten. 2 Für den vorliegenden Beitrag werden Idiome von 45 Sprachen Europas herangezogen. Den Ausgangspunkt bildete die Beobachtung, dass sich Idiome von geographisch und kulturell zum Teil recht unterschiedlichen Sprachen im Hinblick auf zugrunde liegende „ emotionale Wertungen “ kaum voneinander unterscheiden. Es ist stets die eigene Muttersprache - als Konstituente eines Idioms - , mit der auf das emotional positiv Wertende des Klaren, Verständlichen oder auch des Ehrlichen hingewiesen wird, wie in dem Idiomtyp kroatisch govoriti hrvatski oder deutsch auf gut Deutsch gesagt, dessen figurative Bedeutungen sich durch ‚ klar und unmissverständlich, ehrlich, frei heraus (sprechen/ gesagt) ‘ explizieren lassen. Ebenso einheitlich wird mit einer fremden Sprache als Idiom-Konstituente in einer Vielzahl von Sprachen auf das emotional negativ Wertende der Unverständlichkeit sprachlicher Äußerungen verwiesen, wie im Idiomtyp englisch it ’ s all Greek to me oder 1 Es würde über den Rahmen dieses Artikels hinausgehen, auf Beiträge zu diesem Thema näher einzugehen; vgl. eine Übersicht u. a. in Joseph 2004; Mendoza-Denton 2008; Edwards 2009; Llamas/ Watt 2010; Vihman/ Barkhoff 2014. 2 Hauptziel des Projektes ist die Ermittlung all jener Idiome, die in vielen Sprachen in einer ähnlichen lexikalischen und semantischen Struktur vorkommen. In dem Projekt sind 78 Sprachen Europas vertreten. Es ist von etwa 500 „ widespread idioms “ auszugehen. Vgl. Piirainen (2012; im Druck). Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [39] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur slowenisch to mi je tur š ko der figurativen Bedeutung ‚ das ist mir völlig unverständlich ‘ . In den Fallstudien in Abschnitt 3 und 4 wird für die beiden Idiomtypen zunächst das gesamte Material präsentiert, um es sodann auf unsere Fragen hin zu interpretieren. Dabei geht es primär um Sprachbezeichnungen, die als Konstituenten von Idiomen auftreten, doch fallen diese zum Teil mit Ethnonymen, Bezeichnungen ethnischer Gruppen, zusammen, deren Auftreten in figurativen Lexikoneinheiten (Sprichwörtern und Idiomen) zu allen Zeiten für Vorurteile und fremdenfeindliche Aussagen missbraucht werden konnte. Aus diesem Grund sollen diesem Phänomen - auch im Hinblick auf die gegenwärtige Lexikographie - in Abschnitt 2 einige Überlegungen gewidmet werden. Wenn wir uns Fragen der Emotionalität und identitätsstiften Funktion der Sprache vonseiten der Idiome nähern, so ist zu berücksichtigen, dass es sich dabei um festgeprägte Einheiten handelt, die der Mehrheit einer Sprachgemeinschaft bekannt sind. Idiome sind Elemente des mentalen Lexikons, sie sind im kollektiven Bewusstsein der Sprachteilhaber verankert, werden im Diskurs nicht jedes Mal neu zusammengefügt, sondern in einer relativ gleichen lexikalischen und semantischen Struktur als Ganzes reproduziert - dies im Unterschied etwa zu individuellen Formulierungen z. B. in literarischen Texten, zu poetischen, frei gebildeten Metaphern. 2 „ Ethnostereotype “ in der gegenwärtigen Phraseographie Eine Sprachbezeichnung als Idiom-Konstituente kann nicht immer klar von dem Namen einer Nation oder eines Volkes abgegrenzt werden, vgl. englisch to talk to one like a Dutch uncle „ zu jemandem wie ein holländischer Onkel sprechen “ ‚ zu jemandem in aller Strenge und Entschiedenheit sprechen ‘ . Es sind gerade solche in figurativen Ausdrücken verfestigte Ethnonyme, die sich in sog. Ethnostereotypen, in diskriminierenden, auf fälschlichen Verallgemeinerungen beruhenden Aussagen über Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen, wiederfinden. 3 Zu den Ethnostereotypen gehören einerseits Vergleiche vom Typ „ stolz wie ein Spanier “ , „ geizig wie ein Schotte “ u. Ä. Zum anderen finden sie sich in Untersuchungen wie „ Das Volk X in Sprichwörtern und Redensarten “ , d. h. in einer Gleichsetzung von Elementen des figurativen Lexikons einer Sprache mit dem Charakter bzw. ethnospezifischen Weltbild der betreffenden Sprachgemeinschaft, die sich seit dem Aufkommen einer „ Weltbild-Linguistik “ in Osteuropa in gewissen linguo-kulturellen Forschungsrichtungen manifestiert. Ohne auf diesen Problemkreis näher einzugehen, sei das Beispiel „ des russischen nationalen Charakters “ genannt, 3 Beispiele aus vergangenen Zeiten finden sich u. a. in Carmichael (1996). Zum Terminus Stereotyp in der Linguistik s. Quasthoff (1973). 34 Elisabeth Piirainen Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [40] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur demzufolge ein Russe, im Unterschied zum Amerikaner, niemals unehrlich sein kann, weil ihm die russische figurative Sprache eine Fülle von Sprichwörtern über „ die Liebe zur Wahrheit “ und „ Mütterchen Wahrheit “ vorgibt. 4 Spätestens seit den Ausführungen von Levin 5 dürften derartige Ansichten überholt sein und in Forschungen zur figurativen Sprache nicht mehr auftauchen: Die Unsitte über die Sittlichkeit ja die gesamte Mentalität eines Volkes anhand seiner (oder was noch ärger sei, anhand seiner Nachbar)Sprichwörter zu urteilen, ist nach wie vor sogar unter Folkloristen stark verbreitet. Manchem genügt schon der heutige Sinngehalt weniger Redensarten um weitgehende volkscharakterologische Behauptungen über die Tugend des eigenen und Laster des fremden Volkes zu wagen. 6 Dennoch findet sich immer wieder der Versuch, Charaktereigenschaften bestimmter Sprachgemeinschaften unmittelbar mit in dieser Gemeinschaft in Umlauf befindlichen figurativen Lexikoneinheiten zu verbinden und als „ kulturell bedingt “ oder „ einzel-kulturspezifisch “ zu postulieren. In welchem Maße sich diese Sichtweise bis heute hält, mag der Artikel von Bredis (2014) zeigen,demzufolge „ sprachliche Information von dem Wertsystem (sic! ) die Besonderheit der Weltanschauung eines Volkes “ charakterisiert und „ Unterschiede des wertgebundenen Weltbildes sich in nationalen Parömien widerspiegeln “ . 7 Statt dieser Frage weiter nachzugehen, soll im Folgenden der Umgang der modernen Phraseographie mit den in Idiomen verfestigten sog. Stereotypen betrachtet werden. Außer Adjektiven, die eine Sprache oder ethnische Gemeinschaft bezeichnen, werden auch die hinzugehörenden Substantive berücksichtigt. Ausgewählt wurden vier im Umfang und in der Entstehungszeit etwa gleichartige Idiomwörterbücher: für Französisch Rey/ Chantreau (1995), für Englisch Ammer (1997), für Niederländisch Van Dale (1999) und für das Deutsche Duden Band 11. Hier wird die Ausgabe von 1998 zugrunde gelegt, um dem Zeitrahmen der anderen Wörterbücher zu entsprechen. Auf die Präsentation der Lexikoneinträge folgt eine Beurteilung des jeweiligen Lexikons im Hinblick auf den Umgang mit möglicherweise diskriminierenden Idiomen. Um es vorwegzunehmen: Äußerst brisante Ausdrücke finden sich nicht darunter. Eine ausschließlich synchronische Herangehensweise erweist sich als nicht sinnvoll, vielmehr ist der kulturhistorische Hintergrund, d. h. die „ Etymologie “ der Idiome, einzubeziehen. So handelt es sich bei dem fran- 4 Wierzbicka (1997: 15) zufolge lässt sich anhand des russischen figurativen Lexikons die Verankerung der Wahrheitsliebe im russischen Nationalcharakter nachweisen, im Unterschied zu Anglo-amerikanischen Normvorstellungen. 5 Levin (1968: 289). 6 Drastische Beispiele für diese „ Unsitte “ finden sich bei Oinas (1970): Er führt figurative Lexikoneinheiten and, in denen Vertreter des jeweiligen Nachbarvolkes z. B. mit dem Teufel oder mit einem minderwertigen Insekt gleichgesetzt werden. 7 Bredis (2014: 89). „ Wir und die Anderen “ 35 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [41] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur zösischen Idiom avoir les portugaises ensablées „ die Portugiesen voll von Sand haben “ ‚ schwerhörig sein ‘ nicht um das Ethnonym „ Portugiesen “ , sondern um ein Spiel mit dem Wort portugaise: Es bezeichnet eine flache Austernart, die einer Ohrmuschel gleicht. 8 Derartige Fälle werden hier nicht berücksichtigt. Französisch nach Rey/ Chantreau (1995): Dictionnaire des Expressions et Locutions DEUTSCH : querelle d ’ allemand „ Streit von deutsch “ ‚ Streiterei ohne ernsthaften Grund ‘ . ENGLISCH : à l ’ anglaise filer/ partir/ s ’ en aller „ auf die englische Art weggehen/ sich davon machen “ ‚ sich aus einer Gesellschaft unauffällig entfernen, ohne sich zu verabschieden ‘ ; soûl comme un Anglais (veraltet) „ betrunken wie ein Engländer “ ‚ sehr betrunken ‘ . FRANZÖSISCH : à la française „ in der französischen Art “ ‚ frei, ohne Scham ‘ ; en français dans le texte „ auf Französisch im Text “ ‚ in einer klaren und deutlichen Weise ‘ (vgl. Abschnitt 3). GRIECHISCH : être grec en qqc. „ in einer Sache griechisch sein “ ‚ sich in einer Sache gut auskennen ‘ . B ASKE : aller/ courir comme un Basque „ gehen/ laufen wie ein Baske “ ‚ sehr schnell gehen/ laufen ‘ . P OLE : soûl comme un Polonais „ betrunken wie ein Pole “ ‚ sehr betrunken ‘ . T ÜRKE : fort comme un Turc „ stark wie ein Türke “ ‚ sehr stark ‘ ; travailer pour le grand Turc „ arbeiten für den großen Türken “ ‚ umsonst arbeiten ‘ ; à la turque „ auf türkische Art “ ‚ ohne Sitzplatz u. ä. ‘ . Nach Aussage der Lexikoneinträge finden sich einzelne derogative Bewertungen der Türken, Engländer, Deutschen und Polen, doch sind darin keine schwerwiegenden Vorurteile zu erkennen. Manches ist austauschbar: „ Betrunkenheit “ kann dem Engländer wie dem Polen zugeschrieben werden. Sich ohne Gruß zu entfernen, findet sich in gleicher Weile im figurativen Lexikon des Deutschen: dort ist es eine Verabschiedung „ auf Französisch “ . Englisch nach Ammer (1997): The American Heritage Dictionary of Idioms ENGLISCH : body English ‚ Körpersprache ‘ . GRIECHISCH : it ’ s Greek to me, s. Abschnitt 4. 8 Rey/ Chantreau (1995: 653). Ein ähnliches Beispiel ist das deutsche Idiom einen Türken bauen: Duden 11 schlägt folgende Etymologie vor: „ [. . .] aus der Soldatensprache, in der früher mit ‚ Türke ‘ eine eingedrillte Gefechtsübung gegen einen angenommenen Feind bezeichnet wurde “ . Gleiches gilt für spanisch und böhmisch in deutschen Idiomen, s. dazu Abschnitt 4. 36 Elisabeth Piirainen Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [42] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur INDIANISCH : Indian giver ‚ jemand, der sein Geschenk, das er jemandem gegeben hat, zurückverlangt ‘ ; in Indian file ‚ einer hinter dem anderen gehend ‘ . NIEDERLÄNDISCH : beat all the Dutch ‚ alles (Negative) übertreffen, vor allem in einer seltsamen oder komischen Art ‘ ; Dutch courage ‚ falscher Mut, den man sich durch Trinken von Alkohol erworben hat ‘ ; Dutch treat ‚ Restaurantbesuch, bei dem jeder für sich bezahlt ‘ ; Dutch uncle ‚ strenger Kritiker oder Berater ‘ ; talk to one like a Dutch uncle ‚ zu jemandem in aller Strenge und Entschiedenheit sprechen ‘ ; to be in Dutch ‚ in einer schwierigen Lage sein ‘ ; zu double Dutch s. Abschnitt 4. Im ersten Idiom wird die eigene Sprache, English, gleichgesetzt mit „ Sprache schlechthin “ (s. Abschnitt 3). Das Zusammenleben mit den ersten Einwohnern Amerikas hat Spuren im figurativen Lexikon des Amerikanischen Englisch hinterlassen. Indian giver spielt auf den Brauch der Native Americans an, für ein Geschenk eine Gegengabe zu erwarten, während sich in Indian file auf ihre Art, sich auf den Pfaden fortzubewegen, bezieht. Das Wörterbuch von Ammer kennt nur eine weitere Sprach- oder Volksbezeichnung, nämlich Dutch, mit dem sich ausschließlich negative Wertungen verbinden. Es wird nicht versucht, diese Lexikoneinträge in der Art der „ political correctness “ zu erklären oder abzuschwächen. Niederländisch nach Van Dale (1999): Idioom woordenboek FRANZÖSISCH : met de Franse slag „ mit dem französischen Schlag “ ‚ nonchalant, flüchtig und unordentlich ‘ ; een vrolijke Frans „ ein fröhlicher Franzose “ ‚ ein unbekümmerter Spaßmacher ‘ ; daar is geen woord Frans bij „ daran is kein Wort Französisch “ ‚ das ist unmissverständlich, deutlicher kann man es nicht sagen ‘ , vgl. Abschnitt 4. SPANISCH : het gaat er Spaans aan toe „ es geht dort spanisch zu “ ‚ es geht dort ungestüm, wild und laut zu ‘ . Dieses Lexikon hat die geringste Anzahl an Idiomen mit einer sprachbezeichnenden Konstituente. Die drei negativ wertenden Idiome werden kulturhistorisch erklärt und in intertextuelle Zusammenhänge gestellt: der „ französische Schlag “ war ein bestimmter geschickter Peitschenhieb des Kutschers, der in einem Roman von 1816 beschrieben wird. Ebenso werden vrolijke Frans auf ein literarisches Werk, den Titel eines Schelmenromans von 1643, und het gaat er Spaans aan toe auf Propagandaschriften des 16. Jahrhunderts zurückgeführt. Damit soll vermittelt werden, dass sich die Idiome nicht auf die „ Wesensart “ der betreffenden Gemeinschaften beziehen. „ Wir und die Anderen “ 37 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [43] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Deutsch nach Duden 11 (1998): Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten DEUTSCH : mit jmdm. deutsch reden ‚ jmdm. unverblümt die Wahrheit sagen ‘ ; kein Deutsch (mehr) verstehen ‚ etw. nicht verstehen wollen; nicht gehorchen ‘ ; vgl. Abschnitt 3. ENGLISCH : nicht die feine englische Art sein ‚ nicht fair sein ‘ ; schief ist englisch (und englisch ist modern) ‚ Kommentar, wenn etwas schief hängt oder sitzt ‘ . FRANZÖSISCH : sich französisch/ auf Französisch verabschieden ‚ sich aus einer Gesellschaft unauffällig entfernen, ohne sich zu verabschieden ‘ . POLNISCH : polnische Wirtschaft ‚ Schlamperei, Durcheinander, Unordnung ‘ . S PANIER : stolz wie ein Spanier ‚ einen besonders stark ausgeprägten männlichen Stolz erkennen lassend ‘ . Wie Van Dales Wörterbuch ist der Duden darum bemüht, die abwertenden Idiome aus ihrem historischen Kontext heraus und als heute überwundene Vorstellungen darzustellen. Demnach bezog sich schief ist englisch auf die zur britischen Uniform gehörende schief sitzende Baskenmütze. Zu polnische Wirtschaft heißt es: „ Diese Wendung beruht auf einem alten diskriminierenden Vorurteil, wonach die Polen in ihren Lebensverhältnissen als unordentlich, nachlässig angesehen werden “ . Für stolz wie ein Spanier wird auf ein Zitat aus Schillers „ Don Karlos “ (III, 10), „ Stolz will ich den Spanier “ verwiesen. Allerdings findet sich in der ersten Ausgabe des Duden Band 11 von 1992 noch ein deutlich diskriminierendes Idiom, das seit der zweiten Auflage eliminiert wurde: scharf wie tausend Russen in der Bedeutung ‚ begierig auf sexuelle Betätigung sein ‘ . 3 Die eigene Sprache ist klar, direkt und ehrlich: auf gut Deutsch, auf Deutsch gesagt In der Datenbasis des Projekts „ Widespread Idioms in Europe and Beyond “ findet sich eine Vielfalt figurativer Lexikoneinheiten, in denen mit einer Sprachbezeichnung auf die Klarheit und Verständlichkeit sprachlicher Äußerungen verwiesen wird: Gemeinsam ist all diesen Idiomen, dass nur die eigene Muttersprache als ‚ deutlich ‘ oder auch ‚ ehrlich und direkt ‘ empfunden wird. 9 Die Sprachbezeichnungen können sich mit Adjektiven wie „ gut “ , 9 Hier sei auf Parallelen anderer figurativer Lexikoneinheiten verwiesen, z. B. jmdm. etwas verdeutschen ‚ jmdm. etwas (mit einfachen Worten) verständlich machen ‘ oder auch ungarisch magyaráz ‚ übersetzen (ins Ungarische) ‘ und ‚ verdeutlichen, erklären ‘ , sowie finnisch sano se suomeksi! „ sag das auf Finnisch! “ ‚ drücke dich klar und verständlich aus! ‘ Auf den etymologischen Zusammenhang von deutsch (zunächst „ dem Volk eigene Sprache “ ) mit deutlich wurde verschiedentlich hingewiesen (vgl. u. a. Haubrichs 2004). 38 Elisabeth Piirainen Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [44] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur „ rein “ , „ einfach “ , „ voll “ sowie mit Formen der Verben „ sagen “ , „ sprechen “ verbinden oder aber ohne diese Zusätze vorkommen. Zunächst sei der Blick auf die syntaktische Struktur der Idiome geworfen. Es zeichnen sich bestimmte Konstruktionsmuster ab, die jeweils in Idiomen mehrerer Sprachen begegnen. 10 Hervorzuheben ist die gemeinsame figurative Kernbedeutung all dieser Idiome, die sich in die beiden Hauptbedeutungen ‚ mit einfachen Worten, unmissverständlich, klar und deutlich ‘ und ‚ offen und direkt, ohne Beschönigung (seine Meinung sagen) ‘ untergliedern lässt. (i) das häufigste Konstruktionsschema: [in/ auf Adjektiv EIGENE S PRACHE ] deutsch auf gut Deutsch englisch in plain English französisch en bon français griechisch σε απλά Ελληνικά (ii) ein weiteres häufig vorkommendes Modell: [ EIGENE S PRACHE in/ auf GESAGT ] deutsch auf Deutsch gesagt serbisch српски речено „ serbisch gesagt “ ungarisch magyarán szólva „ auf Ungarisch gesagt “ (iii) ein weniger verbreitetes Modell: [ SPRECHEN EIGENE S PRACHE in/ auf ] russisch говорить по русски „ sprechen (auf) Russisch “ Im Folgenden sollen die gesammelten Daten der europäischen Sprachen vollständig präsentiert werden, angeordnet nach den Sprachfamilien. Die Idiome werden in der Form angeführt, wie sie von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Projekts mitgeteilt wurden. Auf eine Vereinheitlichung der Nennformen wird verzichtet. Germanisch norwegisch på godt norsk „ in gutem Norwegisch “ schwedisch på ren svenska „ in reinem Schwedisch “ englisch in plain English „ in vollem Englisch “ nordfriesisch (Föhr) üüs wi üüb plaat fering sai „ wie wir auf platt Fering sagen “ westfriesisch yn goed Frysk „ in gutem Friesisch “ niederländisch (Holland) in goed Hollands „ in gutem Holländisch “ (Flandern) in ’ t schoon Vlaams „ im reinen Flämisch “ Für seine Bibelübersetzungen bevorzugte Martin Luther stets den Ausdruck Verdeutschung der Bibel (vgl. Århammar 2009). 10 Die Analyse der multilingualen Daten erfolgt in Anlehnung an die Vorgehensweisen der Konstruktionsgrammatik; vgl. Dobrovol ’ skij 2011; Stathi 2011; Piirainen 2014. „ Wir und die Anderen “ 39 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [45] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur deutsch auf gut Deutsch „ auf gut Deutsch “ niederdeutsch (Münsterland) up guet Düütschk „ auf gut Deutsch “ schweizerdeutsch uf guet Dütsch „ auf gut Deutsch “ Keltisch walisisch mewn Cymraeg croyw „ in reinem Walisisch “ bretonisch en brezhoneg plaen „ in vollem Bretonisch “ en galleg plaen „ in vollem Französisch “ Romanisch französisch en bon français „ in gutem Französisch “ italienisch in buon italiano „ in gutem Italienisch “ spanisch hablando en cristiano „ auf christlich sprechend “ katalanisch (parlar) clar i català „ deutlich und katalanisch (sprechen) “ Baltisch lettisch skaidr ā latvie š u valoda „ in klarer lettischer Sprache “ litauisch lietuvi š kai tariant „ litauische Wörter “ Slawisch russisch говорить по русски „ auf Russisch sprechen “ говорить русским языком „ in russischer Sprache sprechen “ ukrainisch кажуч людською мовою „ in menschlicher Sprache “ slowakisch povedat ‘ (nie č o) po slovensky „ (etwas) auf Slowakisch sagen “ slowenisch po doma č e re č eno „ auf heimisch (wie zu Hause) gesagt “ kroatisch govoriti hrvatski „ kroatisch sprechen “ bosnisch na bosanskom „ auf Bosnisch “ serbisch српски речено „ serbisch gesagt “ mazedonisch зборува на македонски „ Rede auf mazedonisch “ bulgarisch на български ти говоря „ ich spreche zu dir auf Bulgarisch “ Albanisch thënë shkurt e shqip „ kurz und Albanisch gesagt “ Griechisch σε / με απλά Ελληνικά „ in/ mit einfachem Griechisch “ Armenisch hayerén asats „ auf Armenisch gesagt “ Finnisch-Ugrisch ungarisch magyarán szólva „ auf Ungarisch gesagt “ finnisch selkeällä suomen kielellä „ in klarer finnischer Sprache “ estnisch selges eesti keeles „ in voller estnischen Sprache “ 40 Elisabeth Piirainen Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [46] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Turksprache kasachisch қазақша айтқанда „ in gutem Kasachisch “ Georgisch kartulad gelap ’ arak ’ ebi/ gitkhari „ das sage ich/ habe ich dir georgisch (gesagt) “ Überraschend ist zunächst die Gleichförmigkeit dieser Idiome im Hinblick auf ihre syntaktische und semantische Struktur - dies im Unterschied zur lexikalischen Besetzung (den Sprachenbezeichnungen und qualifizierenden Adjektiven). Die Phraseologieforschung hat sich mit diesem Phänomen bis jetzt nicht befasst; so kann derzeit nicht gesagt werden, ob es sich um eigenständige (parallele, analoge) Bildungen der Einzelsprachen oder Rückgriff auf eine gemeinsame Quelle handelt. Entlehnungsprozesse zu postulieren, ist angesichts der ausnahmslos divergierenden Lexik eher unwahrscheinlich. Doch sind vier Ausnahmen zu verzeichnen, bei denen an die Stelle der Bezeichnung der eigenen Sprache eine andere Konstituente tritt. So wurden für das in Frankreich gesprochene Bretonisch eine Variante en galleg plaen „ in vollem Französisch “ und für Slowenisch der Ausdruck po doma č e re č eno „ wie zu Hause gesagt “ mitgeteilt. Im ukrainischen кажуч людською мовою wird die eigene, klar verständliche Sprache sogar gleichgesetzt mit der „ menschlichen Sprache schlechthin “ . Hier ließen sich Parallelen aufzeigen, u. a. in Selbstbezeichnungen von Sprachgemeinschaften, die als Appellative einfach nur „ Mensch, menschliches Wesen “ bedeuten. 11 Das spanische hablando en cristiano müsste in einem weiten kulturgeschichtlichen Rahmen untersucht werden, der mögliche Zusammenhänge des Idioms mit der Rückeroberung Südspaniens durch die Kreuzritter einbezieht. Auch hier sind Parallelen zu nennen: Wie Sprachen können auch Konfessionen als „ vertraut “ , daher gut und ehrlich, oder als „ fremd “ , daher unrein, verdächtig empfunden werden, vgl. niederländisch (Belgien) dat ziet er niet katholiek uit „ das sieht nicht katholisch aus “ und französisch ce n ’ est pas très catholique „ das ist nicht sehr katholisch “ , beide in der Bedeutung ‚ das erscheint mir fremdartig, seltsam, verdächtig ‘ . 4 Fremdes ist unverständlich: It ’ s all Greek to me Den Gegenstand dieses Abschnitts bilden rund 65 Idiome aus 44 europäischen Sprachen, die als approximative Entsprechungen des Idiomtyps „ das ist Griechisch für mich “ (englisch it ’ s all Greek to me, slowenisch to mi je tur š ko) zu werten sind. Gemeinsam ist die figurative Grundbedeutung ‚ das ist mir 11 Bekannt ist dies z. B. für Inuit (Plural von inuk), Bantu oder T(h)ai, vgl. auch die Dene- Sprachen in Alaska: „ dene meaning ‚ the one who sounds human; the one that speaks like a human being ‘“ (Rice, 2012: 30). Vgl. auch body English in Abschnitt 2. „ Wir und die Anderen “ 41 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [47] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur völlig unverständlich; der Sinn des Gesagten erschließt sich mir nicht ‘ , wenngleich dieser Idiomtyp variantenreich ausgeprägt ist. Semantische und pragmatische Unterschiede sind daher nicht auszuschließen. Zunächst sei die syntaktische Struktur der Idiome kurz betrachtet, wobei - in Anlehnung an die Konstruktionsgrammatik - vier häufig vorkommende Konstruktionsmuster aufgezeigt werden können: (i) das häufigste Konstruktionsschema [es/ das ist FREMDE S PRACHE für mich] englisch it is (all) Greek to me dänisch det er kinesisk for mig spanisch eso es chino básico para mí (ii) Nebenschema mit S CHRIFT [es/ das ist FREMDE S CHRIFT für mich] lettisch t ā ir ķī nie š u ā bece/ alfab ē ts para mina (iii) typologisch bedingte Variante 1 [das mir/ für mich ist FREMDE S PRACHE ] slowenisch to mi je tur š ko (iv) typologisch bedingte Variante 2 [das ist für mich FREMDE S PRACHE ] niederld. dat is voor mij Chinees polnisch to (-) dla mnie chi ń szczyzna Im Deutschen findet sich keine Entsprechung. Idiome wie das kommt mir spanisch vor ‚ das erscheint mir seltsam, verdächtig ‘ oder das sind böhmische Dörfer für mich ‚ das verstehe ich nicht, damit kann ich gar nichts anfangen ‘ gehören nicht hierher. Zum einen handelt es sich bei den Konstituenten spanisch bzw. böhmisch aus etymologischer Sicht nicht nur um Sprachbezeichnungen. 12 Zum anderen beziehen sich die Idiome nicht primär auf die Unverständlichkeit sprachlicher Äußerungen, sondern auf befremdliche Sachverhalte jeglicher Art. Außer Acht bleiben daher auch zahlreiche Entsprechungen dieser Idiome in anderen, vor allem westslawischen Sprachen, die zumeist als Entlehnungen bzw. Vermischungen der beiden deutschen Idiome zu werten sind. 13 12 Der historische Hintergrund beider Idiome ist bekannt. Röhrich (1991 - 1992: 1493 f.) zufolge geht das erste Idiom auf die Zeit der Regentschaft Karls V. (1519 - 1556) zurück, als sich in Deutschland spanische Sitten ausbreiteten, die als fremdartig und Misstrauen erweckend empfunden wurden. Das zweite Idiom bezieht sich auf die slawischen Namen vieler böhmischer Dörfer, die den Deutschen fremdartig klangen, schwer auszusprechen und unverständlich waren (Röhrich, 1991 - 1992: 326). 13 Beispiele sind u. a. tschechisch je to pro m ě š pan ě lská vesnice, slowakisch je to pre m ň a š panielska dedina, slowenisch zame je to š panska vas, kroatisch to je za mene š pansko selo, montenegrinisch to je š pansko selo za mene, serbisch то је за мене шпанско село „ das ist ein spanisches Dorf für mich “ oder bosnisch sve su to š panska sela za mene „ es sind alle 42 Elisabeth Piirainen Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [48] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Im Folgenden sei die lexikalische Struktur näher betrachtet, ausgehend von den häufigsten Sprachbezeichnungen (Chinesisch, Griechisch, Türkisch usw.) bis hin zu den selten vorkommenden Sprachen. Innerhalb dieser Gruppen werden die Idiome wie in Abschnitt 3 nach den Sprachfamilien angeordnet, wiederum in der Form, wie sie uns von den Kennern der Muttersprachen mitgeteilt wurden. Oft wurden sie in Satzform angegeben (Modelle (i) - (iv) oben), darunter auch in Form einer rhetorischen Frage, 14 seltener im Infinitiv. Vereinheitlichungen der Nennformen wurden nicht vorgenommen. Einige Sprachen kennen mehrere Varianten. Chinesisch wurde für Idiome in 26 Sprachen notiert. In sieben Idiomen manifestieren sich die chinesischen Schriftzeichen (das chinesische Alphabet, ABC-Buch, ein chinesisches Schriftstück, Dokument) als Inbegriff des Unverständlichen. Die chinesische Sprache war im Abendland Jahrhunderte lang kaum bekannt und galt als völlig fremder Sprachtyp höchsten Schwierigkeitsgrades, vor allem aufgrund des gänzlich unbegreiflichen Schriftsystems. 15 dänisch det er kinesisk for mig „ das ist Chinesisch für mich “ westfriesisch it is Sineesk foar my „ es ist Chinesisch für mich “ niederländisch dat is voor mij Chinees „ das ist Chinesisch für mich “ luxemburgisch dat ass Chinesech fir mech „ das ist Chinesisch für mich “ französisch c ’ est du chinois pour moi „ das ist Chinesisch für mich “ rumantsch quai è chinais per el „ es ist Chinesisch für ihn “ spanisch eso es chino básico para mí „ das ist Basis-Chinesisch für mich “ katalanisch parlar en xinès „ auf Chinesisch sprechen “ semblar escrit en xinès „ auf Chinesisch geschrieben zu sein scheinen “ galizisch parecer/ ser chino algo „ jmdm. Chinesisch sein/ scheinen “ portugiesisch é chinês para mim „ es ist Chinesisch für mich “ lettisch t ā ir ķī nie š u ā bece/ alfab ē ts „ es ist chinesisches ABC (ABC-Buch)/ Alphabet “ litauisch tai man kaip kin ų kalba „ es ist für mich alles Chinesisch “ russisch быть для кого л . Китайской грамотой „ für jmdn. chinesische Schrift (chinesisches Schriftstück) sein “ spanische Dörfer für mich “ u. a. m. Aus dem gleichen Grund werden isländisch eitthvað kemur einhverjum spánskt fyrir sjónir „ etwas kommt jmdm. spanisch vor die Augen “ , luxemburgisch dat ass Spuenesch fir mech und rumantsch quai è spagnol per el „ das ist Spanisch für jmdn. “ hier nicht berücksichtigt. 14 Die Form einer Frage kann pragmatische Unterschiede mit sich bringen. So wurde für Italienisch mitgeteilt, dass parlo arabo/ turco? besonders grob und informell wirke, im Sinne von „ Verstehst du nicht? Tu endlich, was ich dir sage! “ 15 Gestützt wird dies durch eine französische Parallele, c ’ est de l ’ algèbre pour moi „ das ist Algebra für mich “ , in dem die Unverständlichkeit der Notation algebraischer Symbole im Mittelpunkt steht. Zu vergleichen ist deutsch Fachchinesisch, Parteichinesisch u. ä. für einen unverständlichen Fachjargon. „ Wir und die Anderen “ 43 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [49] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur ukrainisch це для мене китайська грамота „ es ist für mich chinesische Schrift “ weißrussisch быць для кагосц i к i тайскай граматай „ für jmdn. chinesische Schrift sein “ tschechisch mluvím s Č í ň anem? „ spreche ich mit einem Chinesen? “ slowenisch govorim kitajsko? „ spreche ich Chinesisch? “ polnisch to dla mnie chi ń szczyzna „ das ist Chinesisch für mich “ serbisch к’о да кинески причаш „ wie auf Chinesisch sprechen “ albanisch i duket krejt kinezisht „ das scheint alles Chinesisch “ griechisch μου φαίνονται κινέζικα „ (die Dinge) scheinen mir Chinesisch “ armenisch meki hamar č’ inkan aybuben linel „ chinesisches Alphabet für jmdn. sein “ ungarisch ez nekem kínaiul van „ das scheint mir Chinesisch “ tatarisch кытай грамотасы „ chinesische Schrift “ estnisch see on hiina keel minu jaoks „ das ist chinesische Sprache für mich “ georgisch es chemtvis chinuria „ das scheint mir Chinesisch “ Griechisch steht mit elf Sprachen an zweiter Stelle. Im Mittelalter galt Griechisch als elitäre Sprache der Gelehrten; nicht jeder Klosterbruder konnte es verstehen oder übersetzen, wie die mittellateinische Wendung Graecum est, non potest legi „ es ist Griechisch, man kann es nicht lesen “ besagt. Das englische Idiom it ’ s all Greek to me wird gern auf Shakespeare zurückgeführt, der es in der Tragödie „ Julius Caesar “ (I, 2; 1599) in wörtlichem Sinne verwendet. Tilley (1950: 275) führt jedoch zwei frühere Belege an: This geare is Greek to me (1573) und Tis Greek to me, my Lord (1598). Aromanisch ist ein Sonderfall. norwegisch det er helt gresk for meg „ das ist ganz Griechisch für mich “ schwedisch det är (rena) grekiskan för mig „ das ist (reines) Griechisch für mich “ westfriesisch it is Gryksk foar my „ es ist Griechisch für mich “ niederländisch dat is Grieks voor mij „ das ist Griechisch für mich “ englisch it ’ s all Greek to me „ es ist alles Griechisch für mich “ bretonisch din-me eo gregach „ für mich ist das Griechisch “ spanisch eso es griego para mí „ das ist Griechisch für mich “ esto me suena como griego „ das klingt mir wie Griechisch “ katalanisch parlar en grec „ auf Griechisch sprechen “ portugiesisch é grego para mim „ es ist Griechisch für mich “ para mim você está falando grego „ Sie sprechen Griechisch zu mir “ aromanisch ca Grec n-hapsin- „ wie ein Grieche im Gefängnis “ kaschubisch ùdawac Greka „ einen Griechen spielen “ Türkisch ist in sieben Sprachen vertreten (Kaschubisch mag als Sonderfall gelten). Weshalb außer Sprachgemeinschaften, die in ihrer Geschichte mit dem Türkentum in Berührung kamen, auch das Jiddische darunter ist, kann anhand des synchronisch gesammelten Materials nicht erklärt werden. 44 Elisabeth Piirainen Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [50] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur jiddisch reydn terkish „ Türkisch sprechen “ venezianisch par mi xe turco „ für mich ist es Türkisch “ italienisch essere turco per qualcuno „ Türkisch für jmdn. sein “ rumänisch e ş ti turc, de nu înt , elegi „ bist du Türke, nicht verstehen “ kaschubisch bëc jak na tërecczim kôzanim „ wie bei einer türkischen Rede sein “ slowenisch to mi je tur š ko „ das ist Türkisch für mich “ griechisch εν τούρτζικα που μιλάς „ auf Türkisch sprichst du “ Für Hebräisch, das in Idiomen von vier Sprachen auftritt, lässt sich wie für Chinesisch auf die Fremdartigkeit des Schriftsystems und ähnlich wie für Griechisch auf den Charakter des Gelehrsamen verweisen. isländisch þetta er hebreska fyrir mér „ dies ist Hebräisch für mich “ niederländisch dat is Hebreeuws voor mij „ das ist Hebräisch für mich “ französisch c ’ est de l ’ hébreu pour moi „ das ist Hebräisch für mich “ finnisch tämä on minulle täyttä hepreaa „ das ist für mich volles Hebräisch “ Weitere fremde Sprachen wurden für drei (Arabisch) oder zwei Idiome (für das bildungssprachliche Latein sowie für Französisch und Volapük) gemeldet. Die Idee Ludwik Zamenhofs, Begründer des Esperanto, für unser Idiom eine Entsprechung mit Volapük, einer anderen Plansprache, zu erschaffen, zeugt von seinem sprachlichen Humor und Einfallsreichtum. Weshalb auch Dänisch eine Variante mit Volapük kennt, bleibt unklar. friaulisch par me al è arap „ für mich ist es Arabisch “ italienisch essere arabo per qualcuno „ Arabisch für jmdn. sein “ türkisch bir ş ey anlad ı ysam Arap olay ı m „ lass mich Arabisch sein, wenn ich etwas verstehe “ westfriesisch it is Latyn foar my „ es ist Lateinisch für mich “ niederländisch dat is Latijn voor mij „ das ist Lateinisch für mich “ luxemburgisch dat ass Franséisch fir mech „ das ist Französisch für mich “ türkisch olaya frans ı z kald ı m „ ich bin französisch zu der Konversation “ dänisch det er det rene volapyk for mig „ das ist das reine Volapük für mich “ Esperanto ĝ i estas la ŭ mi Volapuka ĵ o „ es ist Volapük für mich “ Die übrigen Fremdsprachenbezeichnungen finden sich jeweils in Idiomen einer einzigen Sprache, die wir im Folgenden alphabetisch anordnen (Armenisch, Holländisch Irokesisch, Japanisch, Javanesisch, Mongolisch, Patagonisch, Sanskrit, Targum und Tatarisch). aserbaidsch. erm ə nic ə dan ış maq „ Armenisch sprechen “ englisch it ’ s double Dutch to me „ es ist doppeltes Holländisch für mich französisch c ’ est de l ’ iroquois pour mois „ das ist Irokesisch für mich “ tschechisch mluvím s Japoncem? „ spreche ich mit einem Japaner? “ französisch pour moi, c ’ est du javanais „ für mich ist das Javanesisch “ tschechisch mluvím s Mongolcem? „ spreche ich mit einem Mongolen? “ bulgarisch говориш ми на патагонски „ du sprichst zu mir auf Patagonisch “ niederländisch dat is Sanskriet voor mij „ das ist Sanskrit für mich “ „ Wir und die Anderen “ 45 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [51] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur jiddisch reydn targum-loshn „ Targum-Sprache (Aramäisch) sprechen “ s ’ iz targum-loshn tsu mir „ es ist die Targum-Sprache (Aramäisch) für mich “ rumänisch e ş ti t ă tar? „ bist du Tatar? “ Bemerkenswert sind die jiddischen Idiome, die Targum, den Namen der aramäischen Übersetzungen des Alten Testaments, verwenden. Für Aserbaidschanisch gilt das in unmittelbarer Nähe gesprochene Armenisch als das prototypisch Fremdartige. Die übrigen Fremdsprachen (Irokesisch, Javanisch, Mongolisch, Patagonisch) muten eher exotisch an. Englisch it ’ s double Dutch to me kann nicht ohne Weiteres mit Idiomen dieses Typs gleichgesetzt werden. Es ist nicht nur aufgrund der Sprachenbezeichnung Dutch zu interpretieren: Dutch galt als besonders fremd und unverständlich und war in mehrfacher Hinsicht negativ konnotiert (vgl. Abschnitt 3). Vielmehr muss das Idiom aufgrund von double auch im Zusammenhang mit Ausdrücken wie double talk ‚ sinnloses, unklares Gerede ‘ und doublespeak ‚ doppeldeutige Ausdrucksweise ‘ gesehen werden. 16 5 Ausblick Hier konnten nur einige Ergebnisse eines weit umfangreicheren Komplexes von Idiomen europäischer Sprachen skizziert werden. Idiome, die eine Sprachbezeichnung als Konstituente enthalten, bildeten den Ausgangspunkt. Da sich die Sprachbezeichnung nicht immer von der entsprechenden Bezeichnung einer ethnischen Gruppe abgrenzen lässt, wurde zunächst der Frage nach möglichen fremdendfeindlichen Ethnostereotypen in figurativen Lexikoneinheiten nachgegangen. Es zeigte sich, dass gegenwärtige phraseologische Wörterbücher keine grob diskriminierenden Ethnostereotype (mehr) enthalten, sondern die negativen Konnotationen einiger Idiome durch kulturhistorische Erklärungen abzuschwächen versuchen. Daten der folgenden Abschnitte, die sich mit zwei Idiomtypen befassen, beruhen auf der Befragung von Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern. Diese empirische multilinguale Herangehensweise hat sich bewährt, denn viele der hier behandelten Idiome sind in den einschlägigen Wörterbüchern nicht verzeichnet. Ziele der Phraseologieforschung bestanden oft darin, zwischensprachliche Unterschiede von Idiomen herauszuarbeiten. Die Untersuchung der beiden Idiomtypen hat gezeigt, dass die Gemeinsamkeiten hier deutlich überwiegen. In 34 europäischen Sprachen ist ein phraseologisches Modell wie [in/ auf - eigene Muttersprache - gesagt/ sprechen] geläufig, und zwar einheitlich in den figurativen Bedeutungen ‚ klar und deutlich, ehrlich, frei heraus ‘ . Gemeinsam ist den Sprachen somit auch die emotional 16 Ammer (1997: 170 f.). 46 Elisabeth Piirainen Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [52] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur positive Wertung der eigenen Sprache in ihrer Klarheit und identitätsstiftenden Funktion. In dem zweiten Idiomtyp steht die Bezeichnung einer fremden Sprache im Vordergrund. Für 44 Sprachen Europas konnte ein Modell wie [das/ es - ist - fremde Sprache - für mich] eruiert werden, wobei der Platz „ fremde Sprache “ mit 18 verschiedenen Bezeichnungen besetzt ist. Einheitlich ist hingegen die figurative Bedeutung: ‚ das ist für mich völlig unverständlich ‘ . Einige Sprachen bevorzugen die direkt angrenzende oder konkurrierende Sprache zur Kennzeichnung des Unverständlichen (wie es das Armenische für Aserbaidschaner, das Arabische für Türken oder das Aramäische für Teilhaber des Jiddischen darstellt). Türkisch als das prototypisch Fremde für Italiener, Rumänen, Slowenen und Griechen mag auf historische Erfahrungen zurückgehen und negative Konnotationen umfassen. Doch sollten diese Unterschiede nicht überinterpretiert werden, zumal mehrere Sprachen über Varianten mit austauschbaren Konstituenten verfügen. Konstituenten vieler Idiome beziehen sich nicht gleichzeitig auf ein Ethnonym, sondern auf die „ völlig unbegreiflichen “ Bildungs- und Kultursprachen Chinesisch, Griechisch, Hebräisch, seltener auch auf Latein und Sanskrit. Als Ergebnis zeichnet sich ab, dass es innerhalb der europäischen Sprachen weiteichende Gemeinsamkeiten der Einschätzung der eigenen und der fremden Sprachen, des „ Wir und die Anderen “ gibt, die in dieser Tragweite zuvor nicht bekannt war. Bibliographie Christine Ammer, The American Heritage Dictionary of Idioms, Boston, New York 1997. Nils Århammar, Das Luthersche Translationsparadox: Warum der große deutsche Bibelübersetzer „ (ver)dolmetschte “ und „ (ver)deutschte “ u. a. m., aber nicht „ übersetzte “ . Eine wortgeschichtliche Studie, in: Kurt Gärtner/ Hans-Joachim Solms (Hrsg.), Von lon der wisheit: Gedenkschrift für Manfred Lemmer, Sandersdorf 2009, S. 39 - 52. Mikhail Bredis, Der Begriff „ Sparsamkeit “ in den Sprichwörtern unter dem Aspekt der kulturwissenschaftlichen Linguistik (basierend auf Russisch, Lettisch, Deutsch und Englisch), in: Proverbium 31/ 2014, S. 89 - 108. Catherine Carmichael, Ethnic Stereotypes in early European Ethnographies, in: Narodna umjetnost 2/ 1996, S. 197 - 209. Dmitrij Dobrovol ’ skij, Phraseologie und Konstruktionsgrammatik, in: Alexander Lasch/ Alexander Ziem (Hrsg.), Konstruktionsgrammatik III. Aktuelle Fragen und Lösungsansätze, Tübingen 2011, S. 111 - 130. Duden 11: Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, bearb. von Günther Drosdowski und Werner Scholze-Stubenrecht, Mannheim u. a. 1992. Duden 11: Duden. Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung überarbeiteter Neudruck der 1. Auflage, bearb. von Günther Drosdowski und Werner Scholze-Stubenrecht, Mannheim u. a. 1998. John Edwards, Language and Identity. An Introduction, Cambridge 2009. „ Wir und die Anderen “ 47 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [53] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Wolfgang Haubrichs, „ Theodiscus “ , Deutsch und Germanisch - drei Ethnonyme, drei Forschungsbegriffe. Zur Frage der Instrumentalisierung und Wertbesetzung deutscher Sprach- und Volksbezeichnungen, in: Heinrich Beck/ Dieter Geuenich/ Heike Steuer/ Dietrich Hakelberg (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „ germanisch-deutsch “ . Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin, New York 2004, S. 199 - 228. John Earl Joseph, Language and Identity: National, Ethnic, Religious, Houndsmills etc. 2004. 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Elisabeth Piirainen, mettre le pistolet sous la gorge de qqn. - jmdm. das Messer an die Brust setzen: Zum Modellcharakter multilingualer Idiom-Entsprechungen, in: Martine Dalmas/ Elisabeth Piirainen (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit Natalia Filatkina, Figurative Sprache - Figurative Language - Langage figuré. Festgabe für Dmitrij Dobrovol ’ skij, Tübingen 2014, S. 261 - 279. Elisabeth Piirainen, Zur europaweiten Verbreitung von Idiomen. Ursachen und Hintergründe, in: Tomislav Zeli ć / Zaneta Sambunjak/ Anita Pavi ć Pintari ć (Hrsg.), Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee. Würzburg, im Druck. Elisabeth Piirainen, Lexicon of Common Figurative Units. Widespread Idioms in Europe and Beyond Volume II. In cooperation with József Attila Balázsi, New York, im Druck. Uta M. Quasthoff, Soziales Vorurteil und Kommunikation - eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps: ein interdisziplinärer Versuch im Bereich von Linguistik, Sozialwissenschaft und Psychologie, Frankfurt 1973. 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Wir lernen essen, trinken, laufen, sprechen, singen, lesen, schreiben, rechnen usw., indem wir einfach zusehen, zuhören, nachmachen oder bei Fremdsprachen Vokabeln lernen. Das Lernen findet im Kopf statt und ist durch das Gehirn, das Organ des Lernens, und die Umwelt, in der gelernt wird, bestimmt. Die noch relativ junge Gehirnforschung hilft das Lernen besser zu verstehen, da wir wissen, dass für sein Verständnis die neurobiologischen Grundlagen sehr wichtig sind. Wer lernt, ändert sich, oder anders gesagt, wenn man lernt, ändert man sich. Daraus folgt „ Wer lernt, riskiert seine Identität “ , 1 d. h. diejenigen Erfahrungen und Werte, die seine Person ausmachen. Der Begriff der Identität hat in den letzten Jahren in verschiedenen Wissenschaften an Bedeutung gewonnen und hat sich auch in der Alltagssprache eingebürgert. „ Identität meint zunächst einmal die subjektive Interpretation des eigenen Lebens “ . 2 Es geht um die Frage, wie ein Mensch in ständiger Auseinandersetzung mit den Bedingungen seines Lebens sein eigenes Wesen hervorbringt. Unsere Identität konstituiert sich in der Verschiedenartigkeit der Erfahrungen und ist als Antwort auf die Frage, Wer wir sind, zu verstehen. Identität entwickeln nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive. Man spricht von sozialer Identität. Soziale Identität konstituiert sich auf Grund von Gemeinsamem und Unterschiedlichem durch die Einsicht in das Eigene und seine Eigentümlichkeit, und in das Andere und seine Andersartigkeit. 3 Die Identität beruht auf vielen integrativen Elementen, von denen die Sprache zu den wichtigsten gehört. Dieser Beitrag geht von der Annahme aus, dass sich das Erlernen einer Fremdsprache positiv auf die Konstituierung der Identität auswirken kann. Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern das Sprachenlernen von positiven Emotionen begleitet sein sollte. Ist dies nicht der Fall, kann das Unlust 1 Spitzer (2009: 12). 2 Grieswelle (1986: 175). 3 Vgl. ebd. Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [56] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur und Angst auslösen, die als einige der größten Probleme im Fremdsprachenunterricht betrachtet werden sollen. Angst hemmt kreative Prozesse und verhindert gerade das, was beim Lernen erreicht werden soll, nämlich die Verknüpfung der neuen Lerninhalte mit bereits Bekanntem und die Anwendung des Gelernten mit vielen Situationen und Beispielen. Um darauf hinzuweisen und aufzuzeigen, wie sich der Entzug emotionaler Komponente im Fremdsprachenunterricht negativ auf die zu erlernende Sprache auswirken kann bzw. der Einsatz positiver Komponente sich positiv auswirkt, und dass die Herangehensweise der Lehrenden, die nicht durch Emotionalität geprägt ist, Angst und Unmotiviertheit verursachen kann, wurde unter Germanistikstudierenden eine Umfrage durchgeführt. Das primäre Ziel der Umfrage war zu prüfen, ob die wissenschaftlichen Ansätze der Begriffe Emotion und Identität im Kontext des Fremdsprachenunterrichts von den Befragten als positiv bewertet werden und das sekundäre auf mögliche Anwendungen im methodisch-didaktischen Bereich hinzuweisen bzw. mit einem weiteren für den Unterricht relevanten Terminus Motivation in Verbindung zu bringen. 2 Zum Begriff der Identität Der Begriff der Identität hat sich in den letzten Jahren in verschiedenen Wissenschaften eingebürgert, wie Soziologie, Psychologie, Medizin, Religions- und Geschichtswissenschaft, Pädagogik u. a. 4 Identität meint zunächst einmal „ die subjektive Interpretation des eigenen Lebens “ . 5 Es geht um die Frage, wie der Mensch in ständiger Auseinadersetzung mit Bedingungen des Lebens sein eigenes Wesen hervorbringt. Die Antwort auf die Frage Wer sind wir? wäre gleichzeitig die Frage unserer Identität. Die Identität konstituiert sich in der Verschiedenheit der Erfahrungen und gedeuteten Geschichte. Die Vielzahl an subjektiven Ausprägungsformen sprachlicher, sozialer, ökonomischer und biografischer Erlebnisse prägt den Einzelnen und seine Identität. Wie ein Mensch seine Identität, sein Selbst 6 definiert, hängt von mehreren Faktoren wie Umwelterfahrungen, Integration und Identifikation, die stets eine emotionale Befindlichkeit enthält, Sozialisationsbedingungen und Vielem mehr. 7 Als Ant- 4 Vgl. Grieswelle (1986: 175). 5 Ebd. 6 „ Das Selbst differenziert sich in qualitativer und quantitativer Hinsicht in verschiedene Identitätsaspekte aus (z. B. in die Selbstaspekte Kroatischstämmige, englischsprachige [. . .]. Dabei werden folgende Merkmale [. . .] als charakteristisch für Identitäten angesehen: Identität ist keine kontinuierliche und konstante Größe, sondern ein flexibles Konstrukt. Identität wird zu einem wesentlichen Teil sprachlich konstruiert, insbesondere durch den Gebrauch verschiedener Sprachvarietäten, Register, Einzelsprachen etc. [. . .]. Identität ist daher multipel und heterogen “ (Kresi ć 2013: 41). 7 Vgl. Wildmann (2013: 13 - 16). Die Wirkung von Fremdsprachen auf Identität 51 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [57] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur wort auf die Frage unseres Daseins entwickeln die Individuen, aber auch Kollektive, Identität, d. h. es gibt nicht nur individuelle, sondern auch kollektive bzw. soziale Identität. Das Wort Identität gebraucht man im sozialpsychologischen Sinne, d. h. im Sinne der Identifikation des Einzelnen mit der Weltanschauung einer Gruppe, Erfahrungen, Aktivitäten und Zielsetzungen eines Kollektivs. So gesehen, hat die Identität einen subjektiven und einen kollektiven Aspekt. 8 Die subjektive bzw. individuelle Identität ist stark situationsbedingt und gibt subjektive Anteilname an Problemen oder Zielen einer Gruppe, wie Familie, Gesellschaft, eine Generation oder ein bestimmter Kulturkreis. Geht man vom subjektiven Aspekt aus, stellt man fest, dass jedes Individuum multiple Identitäten aufweist. Die Identitäten eines Individuums sind zahlreich und ineinandergehend, so dass man heute kaum noch von reinen Identitäten sprechen kann. 9 Die Identitätsbildung vollzieht sich in der Interaktion zu gesellschaftlichen und persönlichen bzw. biografischen Prozessen, denen ein Individuum ausgesetzt ist. 10 Gemeinsame Ziele und Werte vermitteln den Mitgliedern von Gruppen und Gesellschaften das Gefühl der Zugehörigkeit und die Identifikation mit positiven Bewertungen eigener sozialer Bezüge, die sich auf ganz verschiedene Bereiche beziehen können, wie z. B. Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, Wohngebiet, Gemeinde, Stadt, Staat oder Nation. Identität beruht auch auf verschiedenen integrativen Elementen wie Moral, Recht, Religion, Abstammung, Sprache, Geschichte und auf sozioökonomischen Leistungen. 11 Ob die Identität individuell oder kollektiv ist, stellt sie ein Verhältnis von Menschen und Menschengruppen zu sich selbst, setzt sich aber auch ins Verhältnis mit anderen Menschen und Gruppen ein. Identitätsbildung ist nicht losgelöst zu sehen davon, was andere von einem denken, einen sein lassen und wie man in einem Kampf und Anerkennung in der Frage, was man selber sein möchte und wie man den anderen beurteilt, sich durchsetzt gegenüber anderen Individuen, Gruppen, Gesellschaften, Kulturen. 12 Die Identität als Heimatbewusstsein 13 ist wesentlich durch Geschichte und Traditionkonstituiert, und zwar nicht nur durch das schulische Lernen, sondern auch durch andere Formen der Erinnerung, wie z. B. in Denkmälern, Sitten und Bräuchen, Feiern und Festen und vor allem in der Sprache. 14 8 Vgl. Lützeler (1993: 100). 9 Vgl. ebd. 102. 10 Vgl. Wildmann (2013: 16). 11 Vgl. Grieswelle (1986: 176). 12 Ebd. 172. 13 Gebauer (1986: 350) betont Folgendes: „ Heimat ist nicht nur dort, wo man geboren ist. Heimat ist (auch) der Ort, wo man in Verantwortung genommen wird und wo man verantwortlich sein kann “ . 14 Vgl. Grieswelle (1986: 182). 52 Mirjana Pehar, Nikolina Mileti ć und Ž aklina Rado š Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [58] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Die Sprache darf nicht von Kultur isoliert betrachtet werden und wer sich heute selbst als Subjekt verwirklichen wollte, könnte dies im Bereich der Kultur tun. Die Kulturen sind als Quellen der Identität zu betrachten, betont Steinmetz. 15 Das soll eine lebendige Kultur sein, d. h. Kultur, in der sich Menschen beheimatet fühlen und sie ist immer mit Lokalität und Geschichte verbunden, „ weil die Identität und Individualität von komplexen institutionellen Strukturen des Staates erdrückt werden und nur noch außerhalb vom Wirtschaftsmarkt verwirklicht werden können “ . 16 Die Sprache ist daher nicht von Kultur zu trennen, beide sind fest in- und miteinander verflochten und beeinflussen stark die menschliche Identität. Aus diesem Grund darf man sie im Fremdsprachenunterricht nie getrennt betrachten. 3 Identität durch Sprache und Kultur Sprache und menschliche Identität sind eng miteinander verknüpft. In sprachlicher Interaktion „ verwirklicht “ sich Identität. 17 Die Identifikation mit der Sprache erfolgt auf der regionalen, aber auch auf nationalstaatlicher Ebene. Die Grundvoraussetzung des Menschenseins ist der Besitz von Sprache jedes einzelnen Menschen sowie jedes Volkes. Die Sprache ist für Humboldt 18 „ äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ist ihre Sprache; man kann sich beide nie identisch genug denken “ . Herder und die deutschen Romantiker waren davon überzeugt, dass die Sprachen bestimmte Lebensweisen der Völker zum Ausdruck bringen 19 und damit ihre Identität bestimmen. Bei der Bestimmung europäischer Identität betont man auch immer die Vielfalt in der Einheit, d. h. dass man die Vielfalt der kulturellen und sprachlichen Gegebenheiten akzeptieren und respektieren soll. Die Identitäten in der Gegenwart sind immer auch multiple Identitäten, in denen sich eine Vielzahl von Identitäten aneinander reihen und mischen: individuelle, geschichtliche, familiäre, professionelle, lokale, regionale, nationale, globale Identitäten eines jeden Individuums. So lange es Nationen gibt, so lange wird es auch nationale Identitäten geben. Eine multikulturelle Identität entsteht erst dann, wenn man bereit ist, allen Bürgern die völlige rechtliche Gleichstellung der Bürger vor dem Gesetzt ohne Rücksicht auf ethnische Herkunft und Religion zu geben. 20 Das Lernen einer Fremdsprache versteht daher auch das Erschließen einer neuen Welt, einer neuen Kultur, da beide eng miteinander verknüpft sind, so 15 Steinmetz (2001: 106). 16 Ebd. 17 Vgl. Kresi ć (2006: 249). 18 Humboldt (1949: 41). 19 Vgl. Lützeler (1993: 104). 20 Vgl. ebd. 112. Die Wirkung von Fremdsprachen auf Identität 53 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [59] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur dass die Identität durch Sprache auch immer die kulturelle Identität bedeutet. Beide sind untrennbar verbunden, genauso wie der Mensch und Sprache verbunden sind. Die Sensibilisierung der Europäer für die sprachliche und kulturelle Vielfalt sollte in Schulen stattfinden, aber der bisherige Fremdsprachenunterricht hat fast nichts getan, betont Schröder, denn Grammatikunterricht beispielsweise, wie er europaweit betrieben wird, vermittelt nicht die Einsicht in Sprache, und schon gar nicht Einsicht in die Vielfalt der Sprachen und in die Zusammenhänge zwischen Sprachen und Kulturen. [. . .] Institutionskunde ersetzt immer noch die erforderliche handlungsorientierte und zunächst einmal auf Alltagsphänomene bezogene interkulturelle Kompetenz. 21 Bei solch einem Ansatz im Fremdsprachenunterricht ist es nicht möglich, Identität in der Sprache und durch Sprache zu finden. Laut Schröder herrscht im deutschen Bildungswesen die Meinung, Gymnasiasten könnten zwei bis vier Fremdsprachen erwerben, Realschüler nur eine und die meisten Hauptschüler gar keine, was absurd ist, denn Erfahrungen, die in dieser Richtung gemacht wurden, zeigen, dass der Fremdsprachenunterricht vor Ort „ methodisch obsolet ist und eine motivatorische Schieflage sowie affektive Armut aufweist “ . 22 Die Mehrsprachigkeit ist heutzutage weltweit zur Selbstverständlichkeit und Regel geworden und nicht die Ausnahme, denn auch in großen, scheinbar monolingualen Nationalstaaten Europas leben viele Schüler in einer „ Diglossie-Situation, wobei neben der Hochsprache ein regionaler Dialekt und dazu noch soziale Dialekte und auch Technolekte beherrscht werden “ . 23 So gesehen, ist auch das einsprachige Individuum mehrsprachig. Wollte man die affektive Armut und das motivationale Misslingen im Fremdsprachenunterricht vermeiden, sollte die Vermittlung von Fremdsprachen im Unterricht emotionell geprägt sein. 4 Emotionale Vermittlung der Sprachinhalte Emotionen 24 werden als „ bewusste, durch ein Objekt oder Ereignis ausgelöste und auf ein Ziel bezogene relativ kurzfristige Phänomene beschrieben “ . 25 Obwohl der Begriff der Emotion in der Psychologie nicht einheitlich gebraucht wird und die gemeinten Phänomene, wenn die Rede von Emotionen 21 Schröder (1995: 63). 22 Schröder (1995: 62). 23 Ebd. 24 „ Emotionen sind ‚ Widerfahrnisse ‘ , d. h. die Person erfährt sich beim Erleben von Gefühlen häufig als eher passiv; Gefühle erscheinen häufig als spontan, unwillkürlich, wie von selbst, außerhalb der Kontrolle der Person entstehend. Zu ihrer Entstehung und Existenz bedürfen Gefühlsreaktionen keinerlei ‚ Zwecke ‘ außerhalb ihrer selbst, z. B. im ‚ Überleben ‘ oder in der Handlungssteuerung. Emotionen sind Phänomene sui generis “ (Ulich, D. http: / / www.wissenschaft-online.de/ abo/ lexikon/ psycho/ 4030 (26. 05. 2014). 25 Hielscher (2003: 678). 54 Mirjana Pehar, Nikolina Mileti ć und Ž aklina Rado š Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [60] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur ist, schwer zu definieren sind, muss angenommen werden, dass es Emotionen als eigenständiges Phänomen gibt. 26 Um den Begriff terminologisch zu definieren, wird heute zwischen Emotionen, Stimmungen und affektiven Bewertungen unterschieden. Emotionen sind definiert als zeitlich begrenzte, intensive, auf ein Ziel oder Objekt gerichtete affektive Zustände, die der betroffenen Person gewöhnlich bewusst sind, wohingegen Stimmungen als länger andauernde, weniger intensive und nicht notwendigerweise bewusste affektive Zustände beschrieben sind. 27 Nach Goleman 28 sind Emotionen Impulse 29 und der Keim aller Impulse ist ein Gefühl, das sich unkontrolliert in die Tat umsetzt. Die Wurzel des Wortes Emotion ist lateinisch movere und bedeutet bewegen, das Präfix e bedeutet hinbewegen, woraus zu schließen ist, dass jeder Emotion eine Tendenz zum Handeln 30 innewohnt. Eine Emotion umfasst bestimmte leib-seelische Zuständlichkeiten einer Person, an denen sich, je nach Betrachtungsebene, folgende vier Komponenten unterscheiden lassen: 1. die subjektive Erlebniskomponente, 2. die neurophysiologische Erregungskomponente, 3. die kognitive Bewertungskomponente und 4. die interpersonale Ausdrucks- und Mitteilungskomponente. 31 26 Was die Heterogenität der noch vorhandenen Emotionsdefinitionen betrifft, waren die psychologischen Forschungen der 50er bis 70er Jahre umstritten und sie existieren noch heute. In den Untersuchungen von Kleinginna und Kleinginna (1981) wurden mehr als hundert Definitionen verglichen und ausgewertet (vgl. bei Hielscher 2003 a: 470). 27 Hielscher (2003 a: 471). 28 Goleman (1995: 12). 29 „ Wer seinen Impulsen ausgeliefert ist - wer keine Selbstbeherrschung kennt - , leidet an einem moralischen Defizit: die Fähigkeit, Impulse zu unterdrücken, ist die Grundlage von Wille und Charakter. Auf der anderen Seite beruht der Altruismus auf Empathie, auf der Fähigkeit, die Gefühlsregungen anderer zu erkennen [. . .]. Und wenn in unserer Zeit zwei moralische Haltungen nötig sind, dann genau diese: Selbstbeherrschung und Moral “ (Goleman 1995: 12 - 13). 30 Bei Zorn z. B. strömt das Blut zu den Händen und bewegt zur Waffe zu greifen oder zu schlagen, bei Furcht fließt das Blut zu den großen Skeletmuskeln, vor allem in die Beine und bewegt zum Fliehen, beim Glück kommt es zur Aktivierung im zerebralen Zentrum und die verfügbare Energie hemmt negative Gefühle. Auch bei anderen emotionalen Zuständen wie Liebe, Überraschung, Abscheu oder Trauer erhalten wir die dem Zustand entsprechenden Informationen (vgl. Goleman 1995: 22 - 23). 31 Vgl. Ulich/ Mayring (1992: 35). „ Wegen der nach wie vor unklaren Beziehungen zwischen diesen vier Komponenten und weil wir einander im Alltag ja nicht als ‚ Organismen ‘ , sondern als Personen begegnen, bietet sich der Begriff ‚ Gefühl ‘ als umgangssprachliche Verwendung für einen erlebten Zustand an (Ulich/ Mayring, 1992). Auf Gefühle stoßen wir immer dann, wenn wir fragen, ob und wie ein Ereignis, eine Vorstellung oder eine Erinnerung eine Person berührt. Wenn ein Ereignis eine Person berührt, dann steht weniger ein Handlungsimpuls, eine Handlung oder eine Kognition im Vordergrund, sondern eine jeweils qualitativ unterschiedlich ausgeprägte subjektive Zuständlichkeit “ . http: / / www.wissenschaft-online.de/ abo/ lexikon/ psycho/ 4030 (26. 05. 2014). Die Wirkung von Fremdsprachen auf Identität 55 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [61] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Diese Komponenten stehen in Zusammenhang mit sprachlichen Ausdrucksformen, so dass die vierte interpersonale Ausdrucks- und Mitteilungskomponente direkt auf die Wichtigkeit der pragmatischen Ebene bei der Kommunikation von Emotionen hinweist. Zur subjektiven Erlebens- und kognitiven Bewertungskomponente zählt Hielscher auch psychologische Aspekte, interpersonale Ausdrucks- und Verhaltensmuster sowie motivationale Elemente als wichtige Komponenten, die die Emotionen definieren. 32 Von den Emotionen soll man emotionale Zustände und Stimmungen, emotionale Persönlichkeitsmerkmale und affektive Bewertungen trennen. Nun stellt sich die Frage, welche Begriffe umfasst das emotionale Lexikon und nach welchen Kriterien werden die Emotionsbegriffe festgelegt? Die Modelle für die Bestimmung notwendiger Merkmale eines Begriffs und seine Zugehörigkeit zum Oberbegriff Emotion sowie eine Klassifizierung der Emotionswörter basieren gewöhnlich auf dem klassisch-linguistischen und dem Prototypenansatz. 33 Geht man von einem Prototypenansatz lexikalischer Begriffe aus, findet man typische Emotionswörter wie Angst, Ärger, Traurigkeit, Freude und Wörter, die den Rand der Klasse beschreiben wie Überraschung, Langweile, Aggression, Müdigkeit, Schüchternheit, Interesse. Den prototypischen Emotionswörtern werden oft Emotionsbegriffe der dimensionalen Darstellung 34 zugeschrieben wie Zorn, Hass, Verachtung und zu diesen werden auch Angst, Ärger, Traurigkeit, Freude, Ab- und Zuneigung, Überraschung, Scham/ Schuld, Unruhe gezählt. 35 Es ist bewiesen, dass Texte, die emotional relevante Informationen enthalten und übermitteln, besser und intensiver memoriert und leichter reproduziert werden als nicht emotionale Informationen, vor allem dann wenn entsprechende Emotionen bei Rezipienten ausgelöst werden. 36 Emotional relevante Informationen werden in menschlichen Interaktionen durch unterschiedliche verbale, paraverbale und nonverbale Sprachmittel vermittelt, das heißt, sie sind in der Alltagskommunikation von Mimik und Gestik begleitet. Und wie sieht die Situation im Klassenzimmer in der Interaktion zwischen den Lehrenden und Lernenden aus? In dieser Arbeit sind wir davon ausgegangen, dass sich der Entzug emotionaler Komponente im Fremdsprachenunterricht negativ auf die zu erlernende Fremdsprache auswirkt, und dass das Fehlen der Emotionalität bei Lehrenden Unlust und bei jüngeren Lernenden sogar Angst verursachen kann. Angst ist ein schreckliches Gefühl, das Unsicherheit verursacht, oder die Unsicherheit, die Angst macht. 37 Die 32 Vgl. Hielscher (2003: 678). 33 Vgl. ebd. 684. 34 Beim dimensionalen Ansatz versucht man die Bedeutungsvielfalt aller Emotionswörter auf möglichst wenige Grunddimensionen zu reduzieren (vgl. Hielscher 2003: 685). 35 Vgl. ebd. 685. 36 Vgl. Hielscher (2003: 688). 37 Vgl. Jegge (1982: 211). 56 Mirjana Pehar, Nikolina Mileti ć und Ž aklina Rado š Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [62] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Untersuchung für diese Arbeit ist in Form einer Umfrage unter den Germanistikstudenten durchgeführt worden und die Umfrage hat folgende Ergebnisse gezeigt. 5 Die Ergebnisse der Umfrage Die Umfrage in Form eines Fragebogens enthält zwei Kategorien von Fragen: Grundsätzliche Fragen zu Testpersonen und Fragen zum Thema Die Wirkung der emotionalen Vermittlung von Fremdsprachen auf die Identität. Die erste Kategorie enthält sechs (6) Fragen über das Geschlecht, gesammelte Erfahrungen im Bereich des Faches Deutsch als Fremdsprache sowie den Aufenthalt im deutschsprachigen Raum. Die zweite näher analysierte Kategorie enthält acht (8) Fragen, von denen fünf (5) offenen und drei (3) geschlossenen Typs sind. Die gesammelten Daten zu den Fragen offenen Typs wurden unter einem passenden gemeinsamen Nenner kategorisiert, pro Erwähnung der Testpersonen gepunktet sowie gegebenenfalls prozentuell dargestellt. Die gesammelten Daten zu den Fragen geschlossenen Typs wurden gezählt und prozentuell dargestellt. Testpersonen waren insgesamt 57 Studierende (49 weibliche und 8 männliche) des zweiten und dritten Studienjahres des Bachelorstudiums sowie des ersten Jahres des Masterstudiums der Germanistik, Studiengang Lehramt, der Abteilung für Germanistik der Universität Zadar. Alle Befragten haben mehrjährige Erfahrungen mit dem Erlernen der deutschen Sprache gesammelt. Das primäre Ziel der Umfrage war zu prüfen, ob die wissenschaftlichen Ansätze der Begriffe Emotion und Identität im Kontext des Fremdsprachenunterrichts von den Testpersonen als positiv bewertet werden und das sekundäre auf mögliche Anwendungen im methodisch-didaktischen Bereich hinzuweisen bzw. mit einem weiteren für den Unterricht relevanten Termin Motivation in Verbindung zu bringen. Die Untersuchungsergebnisse wurden grafisch dargestellt und kommentiert. 1. Frage: Was verstehen Sie unter dem Begriff Identität? Die Ergebnisse zu dieser Frage ließen sich nicht kategorisieren, aber einige wichtigste Aussagen der Studierenden werden angegeben: „ Das, was wir sind. “ , „ Identität, das sind wir selbst. “ „ Alles, was ich bin. “ Die Wirkung von Fremdsprachen auf Identität 57 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [63] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 2. Frage: Welche Elemente prägen die menschliche Identität? Kreuzen Sie bitte fünf (5) für Sie wichtigste Elemente an. Angebotene Elemente sind: Familie, Schule und Ausbildung, Mitmenschen, Geschichte und Zeitalter, Beruf und Karriere, Ethnische Zugehörigkeit/ Land und Mentalität, Sprache und Kultur, Genetische Veranlagung, Persönliche Erfahrungen, Glaube/ Religion und Kirche, Anderes. Die Ergebnisse zu dieser Frage sind aus folgender Grafik ersichtlich. 16% 15% 14% 13% 12% 30% 0 0,05 0,1 0,15 0,2 0,25 0,3 0,35 Elemente der Identität Zu den fünf am meisten vertretenen Antworten, die prozentuell angegeben sind, zählen folgende Elemente: Familie (16 %), Persönliche Erfahrungen (15 %), Ethnische Zugehörigkeit/ Land und Mentalität (14 %), Sprache und Kultur (13 %), Schule und Ausbildung (12 %). Weitere angegebene Elemente und ihr prozentueller Anteil sind: Mitmenschen (7,5 %), Glaube/ Religion und Kirche (7 %), Beruf und Karriere (6 %), Geschichte und Zeitalter (5 %), Genetische Veranlagung (3 %) und Anderes (0 %). 58 Mirjana Pehar, Nikolina Mileti ć und Ž aklina Rado š Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [64] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 3. Frage: Erklären Sie bitte, wie der Fremdsprachenunterricht (FSU) zur Identitätsbildung beiträgt. Die Ergebnisse zu dieser Frage sind aus folgender Grafik ersichtlich. Persönliche Entwicklung (Identität, Eigenschaften) 28% Kognitive Entwicklung des Menschen 19% Komm. Kompetenz 7% Interkulturelle und soziale Kompetenz 40% Anderes (eigene Sprache und Kultur) 3% Kein Beitrag 3% Einfluss des FSU auf Identitätsbildung Auf die Frage, wie der Fremdsprachenunterricht zur Bildung der Identität beiträgt, gaben die Befragten folgende in Prozenten angeführte Antworten an: interkulturelle und soziale Kompetenz (40 %), persönliche Entwicklung (28 %), kognitive Entwicklung des Menschen (19 %), kommunikative Kompetenz (7 %), Anderes (3 %) und kein Beitrag (3 %). Die Wirkung von Fremdsprachen auf Identität 59 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [65] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 4. Frage: Kreisen Sie bitte eine Note ein (1=nein; 2= wenig; 3=ja, schon; 4= ja, ziemlich viel; 5= ja, sehr). Die den Studierenden angebotenen Antwortangaben sind: Durch den Fremdsprachenunterricht: a) bin ich meiner Sprache und Kultur bewusster geworden b) habe ich andere Sprachen(n) und Kultur besser kennengelernt c) habe ich meine Sprache und Kultur besser verstanden d) habe ich die geschichtlichen Verbindungen wahrgenommen e) bin ich ein besserer Mensch geworden f) bin ich offener und neugieriger geworden g) hat sich meine mehrsprachige und mehrkulturelle Identität herausgebildet Die Ergebnisse zu dieser Frage sind aus folgender Grafik ersichtlich. 0 2 4 Bewussstein/ eigene S u K Kenntnisse/ andere S u K Verständnis/ eigene S u K Wahrnehmung/ Geschichte Positiver Werdegang Offenheit und Neugier Bildung der m k Identität 3,4 3,6 2,9 3,1 2,6 3,4 3,5 Den Studierenden wurden sieben (7) mögliche Antworten auf die Frage, inwieweit sich der Fremdsprachenunterricht auf ihre Identität auswirkt, gegeben. Die Ergebnisse dazu sind in Durchschnittsnoten ausgedrückt und werden in folgender Reihenfolge angegeben: Kenntnisse der fremden Sprache und Kultur (Durchschnittsnote 3,6), Bildung der multikulturellen Identität (3,5), Bewusstsein über die eigene Sprache und Kultur (3,4), Offenheit und Neugier (3,4), Wahrnehmung der geschichtlichen Verbindungen (3,1), Verständnis der eigenen Sprache und Kultur (2,9) und Positiver Werdegang als Mensch (2,6). 60 Mirjana Pehar, Nikolina Mileti ć und Ž aklina Rado š Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [66] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 5. Frage: Was verstehen Sie unter emotionaler Vermittlung von Fremdsprache(n), die Sie lernen bzw. studieren? Die Ergebnisse zu dieser Frage ließen sich nicht einordnen. In über 80 % der Fragebögen fehlten die Antworten, was darauf schließen lässt, dass die Befragten die Frage entweder nicht beantworten wollten bzw. nicht wussten oder sogar sie nicht verstanden haben. 6. Frage: Das Fehlen der emotionalen Komponente seitens der Lehrenden wirkt sich auf das Erlernen einer Fremdsprache negativ aus. Haben Sie oder andere Lernende dies im Deutschunterricht erfahren? Ja/ Nein Die Ergebnisse zu dieser Frage sehen so aus: 51 % der Befragten stimmten der Aussage zu, während 40 % keine ähnlichen Erfahrungen gemacht hatten. 6.1. Frage: Wenn ja, wie wirkte sich die negative Einstellung der Lehrenden auf Ihre Persönlichkeit aus? Die Ergebnisse zu dieser Frage sind aus folgender Grafik ersichtlich. Mangel an Motivation Negative Einstellung des Lernenden Negatives Lernumfeld Kein Einfluss 15 12 3 1 Negative Einstellung der Lehrkräfte Die Ergebnisse der Befragten auf die Frage, wie sich die negative Einstellung der Lehrenden auf ihre Persönlichkeit auswirkt, haben gezeigt, dass darunter am meisten die Motivation der Lernenden leidet (15 Punkte), dann folgt die negative Einstellung gegenüber dem Lehrfach mit zwölf (12) Punkten und an letzter Stelle ist das negative Lernumfeld mit drei (3) Punkten. Die Wirkung von Fremdsprachen auf Identität 61 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [67] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 7. Frage: Die Anwesenheit der positiven emotionalen Komponente seitens der Lehrenden wirkt sich auf das Erlernen einer Fremdsprache positiv aus. Haben Sie oder andere Lernende dies im Deutschunterricht erfahren? Ja/ Nein Die Ergebnisse zu dieser Frage zeigen, dass 67 % der Befragten der Aussage zustimmten, während 33 % der Befragten eine negative Antwort hatten. 7.1. Frage: Wenn ja, wie wirkte sich die positive Einstellung der Lehrenden auf Ihre Persönlichkeit aus? Die Ergebnisse zu dieser Frage sind aus folgender Grafik ersichtlich. Erhöhte Motivation Positive Identitätsbildung des Lernenden Einfachere Erschließung des Lernstoffes Positives Lernumfeld 24 15 11 3 Positive Einstellung der LK Bei der wörtlichen Erklärung der Frage, wie sich die positive Einstellung der Lehrenden auf ihre Persönlichkeit auswirkt, haben die Befragten angegeben, dass dies stark auf ihre erhöhte Motivation (24 Punkte) wirkt. Danach folgt die positive Einstellung zum Fach mit fünfzehn (15) Punkten sowie einfachere Erschließung des Lernstoffes mit elf (11) Punkten, und an letzter Stelle ist das positive Umfeld mit drei (3) Punkten. 62 Mirjana Pehar, Nikolina Mileti ć und Ž aklina Rado š Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [68] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 8. Frage: Wie sollten die Fremdsprachenlehrenden zu den Schülern bzw. Studenten sein? Nennen Sie bitte einige wünschenswerte bzw. weniger wünschenswerte Merkmale ihrer Verhaltensweise(n) im Unterricht. Die Ergebnisse (wünschenswerte Eigenschaften) sind aus folgender Grafik ersichtlich. Erwartungen an die Persönlichkeit der Lehrkraft 52% Erwartungen an die Einstellung der Lehrkraft 18% Erwartungen an die Methodik der Lehrkraft 30% Wünschenswerte Verhaltensweisen der LK Die Antworten wurden in drei (3) Kategorien eingeordnet: 1. Erwartungen an die Persönlichkeit der Lehrenden enthalten Komponenten wie: angenehm, freundlich, geduldig, offen, klug, entspannt usw. 2. Erwartungen an die Methodik der Lehrenden enthalten Komponenten wie: organisiert, realistisch, informiert, kompetent usw. und 3. Erwartungen an die Einstellung der Lehrenden enthalten Komponenten wie: motiviert, ansprechbar, positiv usw. Aus den Ergebnissen ist zu erschließen, dass die meisten Befragten (52 %) von der Persönlichkeit der Lehrenden die Komponenten wie angenehm, freundlich, geduldig, offen, klug, entspannt erwarten. Weiterhin haben 30 % der Befragten angegeben, dass die Lehrperson methodisch gut organisiert, realistisch, informiert und kompetent sein soll. Was die Antworten auf die Erwartungen an die Einstellung der Lehrenden betrifft, haben 18 % der Befragten die Motiviertheit, Ansprechbarkeit und eine positive Einstellung der Lehrenden als sehr wichtige Komponenten angegeben. Die Wirkung von Fremdsprachen auf Identität 63 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [69] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Die Ergebnisse (weniger wünschenswerte Eigenschaften) sind aus folgender Grafik ersichtlich. Unerwünschte Verrhaltensweisen - Persönlichkeit der LK 34% Unerwünschte Verrhaltensweisen - Einstellung der LK 36% Unerwünschte Verrhaltensweisen - Methodik der LK 30% Unerwünschte Verhaltensweisen der Lehrkraft Die Antworten wurden in drei (3) Kategorien eingeordnet: 1. Unerwünschte Verhaltensweisen, Persönlichkeit der Lehrenden enthalten Komponenten wie: nervös, ungeduldig, aggressiv usw. 2. Unerwünschte Verhaltensweisen, Methodik der Lehrenden enthalten Komponenten wie: unorganisiert, langweilig, inkompetent usw. und 3. Unerwünschte Verhaltensweisen, Einstellung der Lehrenden enthalten Komponenten wie: negativ, unkonzentriert, lustlos usw. Aus den Ergebnissen der Befragten zu den weniger wünschenswerten Eigenschaften der Lehrenden ist zu erschließen, dass die meisten Befragten an erster Stelle die negativen Einstellungen der Lehrenden wie: negativ, unkonzentriert, lustlos mit 36 % bewertet haben. Danach folgen die 34 % Antworten der Befragten, die unerwünschte Verhaltensweisen der Lehrenden sowie ihre Persönlichkeit kennzeichnen und mit Komponenten wie nervös, ungeduldig, aggressiv beschreiben. An dritter Stelle mit 30 % sind die Angaben zu unerwünschten Verhaltensweisen, die den methodischen Bereich der Lehrenden betreffen und mit Komponenten wie: unorganisiert, langweilig, inkompetent beschreiben. 64 Mirjana Pehar, Nikolina Mileti ć und Ž aklina Rado š Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [70] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 6 Zusammenfassung Ausgehend von der Annahme des positiven Einflusses des Erlernens einer Fremdsprache auf die Konstituierung der Identität sind im Beitrag wichtige Termini der Emotionen und Identität aus linguistisch-psychologischer Sicht näher erläutert sowie ihr Zusammenhang mit dem Fremdsprachenunterricht verdeutlicht worden. Als Antwort auf die Frage unseres Daseins entwickeln die Individuen, aber auch Kollektive, Identität, d. h. es gibt nicht nur individuelle, sondern auch kollektive bzw. soziale Identität, die sich auf Grund von Gemeinsamem und Unterschiedlichem, durch die Einsicht in das Eigene und seine Eigenschaften und in das Andere und seine Andersartigkeit konstituiert. Der geschichtliche Zusammenhang zwischen Identität, Sprache und Kultur wurde nahegelegt. Die Ergebnisse der unter den Studierenden der Germanistik durchgeführten Umfrage unterstützen unsere These, dass einerseits das Erlernen einer Fremdsprache die Bildung unserer Identität positiv beeinflusst, was auch die meisten Befragten bestätigt und mit bester Durchschnittsnote bewertet haben, und sich andererseits der Entzug emotionaler Komponente im Fremdsprachenunterricht negativ auf die zu erlernende Sprache auswirkt, was bei den Befragten in ihren Antworten besonders einen negativen Einfluss auf die Motivation der Lernenden und die Einstellung zum Fach hat. Wollte man dies im Unterricht vermeiden, müssten die Fremdsprachenlehrenden eine den Bedürfnissen entsprechende Fachausbildung erhalten, in der die Theorie mit viel mehr Praxis verbunden und ein System von berufsbegleitenden relevanten methodisch-didaktischen Fortbildungsseminaren gesichert wird. Weiterhin ist es für das Gelingen und den Aufbau einer sprachlich und kulturell definierten Identität durch den Fremdsprachenunterricht notwendig, dass dafür eine fremdsprachenfreundliche Haltung der Bildungsbehörden existiert, die planmäßige Förderung von außerschulischen Anreizen für den Fremdsprachenunterricht ermöglicht. Die emotionale Vermittlung von Fremdsprachen öffnet somit alle Sprachenpforten und sichert die Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit für den politischen Stellenwert für andere Sprachen und Kulturen, die stark auf die Bildung unserer Identität wirken, was auch die Befragten bei der Frage Inwieweit der Fremdsprachenunterricht zur Bildung der Identität beiträgt, bestätigt haben, indem sie in ihren Antworten die interkulturelle und soziale Kompetenz als wichtigste Komponenten angegeben haben. Somit könnte eine friedliche Zukunft und ein friedliches miteinander Leben in Europa gesichert werden. Das Endergebnis solch eines Ausbildungswesens würde der Entstehung der europäischen Identität beitragen, und der Ausdruck dieser neuen Identität sollte die Mehrsprachigkeit als konstitutionelles Element sein. Wird das Sprachenlernen von positiven Emotionen begleitet, so werden die Lernenden imstande sein, in mehreren Fremdsprachen sowohl kognitiv als auch pragmatisch und affektiv zu handeln und die neuen Inhalte mit schon bekannten zu verknüpfen. Die Wirkung von Fremdsprachen auf Identität 65 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [71] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Bibliographie Klaus-Eckart Gebauer, „ Small is beautiful “ und „ do it yourself “ : Vor einem Trend zur „ kleinen Einheit “ ? Werkstatsfragen zur Disskusion, in: Heimat - Tradition - Geschichtsbewußtsein, Studien zur politischen Bildung, Mainz 1986, S. 333 - 353. Daniel Goleman, Emotionale Intelligenz, München 2008. Detlef Grieswelle, Tradition und kleinräumliche Identität, in: Heimat - Tradition - Geschichtsbewußtsein, Studien zur politischen Bildung, Mainz 1986, S. 175 - 197. Martina Hielscher, Sprachrezeption und emotionale Bewertung, in: Gert Rickheit/ Theo Herrmann/ Werner Deutsch (Hrsg.), Psycholinguistik - Ein internationales Handbuch, Berlin, New York 2003, S. 677 - 707. Martina Hielscher, Emotion und Sprachproduktion, in: Gert Rickheit/ Theo Herrmann/ Werner Deutsch (Hrsg.), Psycholinguistik - Ein internationales Handbuch Berlin, New York 2003 a, S. 468 - 490. Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Darmstadt 1949. Jürg Jegge, Angst macht krumm, Zürich 1982. Marijana Kresi ć , Sprache, Sprechen und Identität, München 2006. Marijana Kresi ć , Minderheitensprachen, Identitätsbildung und Mehrsprachigkeitsdidaktik, in: ide Bd 20, Innsbruck, Wien, Bozen 2013, S. 38 - 47. Paul Michael Lützeler, Europäische Identität in der Postmoderne. Vom Nationalismus zur Multikulturalität, in: Jahrbuch DaF, Bd 19, #München 1993, S. 100 - 116. Konrad Schröder, Zur Problematik von Sprache und Identität in Westeuropa, in: Internationales Jahrbuch für europäische Soziolinguistik, Bd. 9/ 1995, S. 56 - 66. Manfred Spitzer, Lernen - Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg 2009. Horst Steinmetz, Identität, Kultur (Literatur), Globalisierung, in: Jahrbuch DaF, Bd 27/ 2001, München, S. 105 - 126. Dieter Ulich/ Philipp Mayring, Psychologie der Emotionen, Stuttgart 1992. Anja Wildmann, Mehrsprachige und transkulturelle Identitätskonstruktionen und ihr Potenzial für eine moderne Deutschdidaktik, in: ide Bd 20, Innsbruck, Wien, Bozen 2013, S. 13 - 22. 66 Mirjana Pehar, Nikolina Mileti ć und Ž aklina Rado š Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [72] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Heike Ortner Textuelle Konstruktion und emotionslinguistische Rekonstruktion von Identität 1 Einleitung Auf ihrer offiziellen Website beschreibt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel unter „ Persönliches “ ihre Kindheit mit wenigen kurzen Sätzen, illustriert mit einem großen Schwarz-Weiß-Foto, das sie als kleines Mädchen zeigt: Ich wurde in Hamburg geboren, am 17. Juli 1954. Mein Vater war Theologiestudent, meine Mutter hatte Englisch und Latein studiert. Von Hamburg aus zogen wir nach Quitzow und später nach Templin in Brandenburg. In Templin habe ich gemeinsam mit meinem Bruder Marcus und meiner Schwester Irene eine schöne Kindheit verbracht. Wir haben im Leben unterschiedliche Wege eingeschlagen, aber noch immer verbindet uns viel. Die christlichen Werte und die Weltoffenheit in unserer Familie sind für mich bis heute sehr prägend. 1 In ähnlichem Stil und immer gleicher grafischer Gestaltung wird ein kurzer Lebenslauf der Kanzlerin geboten. Neben den politischen Stationen und Erfolgen werden auch private Themen wie Hobbys und sogar unangenehme Details wie eine Scheidung erwähnt. In der Selbstdarstellung finden sich einige implizite und explizite Emotionsthematisierungen sowie Bewertungen, und zwar hauptsächlich, aber nicht ausschließlich positiver Art (z. B. Das war harte Arbeit, aber auch eine schöne Zeit; Ich mag meine Arbeit. Ich denke mich gern in ganz unterschiedliche Themen ein und freue mich, mit sehr verschiedenen Menschen zusammenzukommen). Diese kurzen Texte verraten weniger über die Persönlichkeit von Angela Merkel als über die Art und Weise, wie sich die Bundeskanzlerin in der Öffentlichkeit präsentieren möchte bzw. welche sprachliche und bildliche Identität sie zur Interpretation anbietet. Dass sie den Text selbst, alleine und ohne Korrektur von Beraterinnen bzw. Beratern geschrieben hat, ist unwahrscheinlich. Die Frage, die im vorliegenden Beitrag gestellt wird, lautet jedoch nicht, ob einzelne Texte ein authentischer Ausdruck der Identität oder der 1 URL: http: / / www.angela-merkel.de/ pers%C3 %B6nlich.html, zuletzt geprüft am 01. 11. 2014. Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [73] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Persönlichkeit sind, da dies nicht mit linguistischen Mitteln entschieden werden kann. Ich werde in der Folge 1. einige grundlegende Gedanken zur Frage einbringen, wie Sprache und Identität zusammenhängen (Abschnitt 2), 2. auf die Kodierung von Emotionen in Texten eingehen (Abschnitt 3) und 3. Grundlegendes über die sprachliche Konstituierung der Identität in der Online-Kommunikation zusammenfassen (Abschnitt 4), da 4. diese Überlegungen anhand von Beispielen aus der Online-Kommunikation veranschaulicht werden (Abschnitt 5). Die Leitfrage ist, welchen Beitrag die sprachliche Kodierung von Emotionen zur Konstruktion von Identität in Texten leistet. 2 Sprache, Identität und Persönlichkeit Dieser Abschnitt enthält notwendige terminologische Abgrenzungen und die wichtigsten theoretischen Grundlagen des Themenkomplexes Sprache - Identität - Persönlichkeit. Persönlichkeit ist nicht dasselbe wie Identität, doch es gibt Querverbindungen: Unter Persönlichkeit versteht man „ eine komplexe Menge von einzigartigen psychischen Eigenschaften, welche die für ein Individuum charakteristischen Verhaltensmuster in vielen Situationen und über einen längeren Zeitraum hinweg beeinflussen “ . 2 Eine bekannte Beschreibung der Persönlichkeit ist das Fünf-Faktoren-Modell nach Eysenck und Eysenck, das die Merkmale Neurotizismus, Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit als umfassende Beschreibung der Persönlichkeit festlegt. 3 Weitere häufig angegebene Persönlichkeitsfaktoren sind z. B. das Bindungsverhalten, das Selbstkonzept und die Fähigkeit zur Selbstregulation (das ‚ Temperament ‘ ). 4 Eine alternative, emotionspsychologische Persönlichkeitstheorie von Magai und McFadden postuliert, dass emotionale Erfahrungen vor allem in der Kindheit die Persönlichkeit formen, indem Emotionen die Informationsverarbeitung und das Verhalten prägen. Die meisten Menschen haben bestimmte emotionale Tendenzen (affective biases), das heißt, ihr Denken und ihr Verhalten sind häufig von einzelnen Emotionen bestimmt. Beispielsweise kann die Persönlichkeit eines Individuums eher um die Emotion Wut organisiert sein, während eine andere stärker von Scham oder Interesse geleitet wird. 5 2 Zimbardo/ Gerrig (2008: 504). 3 Vgl. H. J. Eysenck/ M. W. Eysenck, Persönlichkeit und Individualität: Ein naturwissenschaftliches Paradigma, München,Weinheim 1987, zit.n. Schmidt-Atzert (1996: 62 ff.). 4 Vgl. Pekrun (2000). 5 Vgl. Magai/ McFadden (1995: 226, 244 f., 278 ff.). 68 Heike Ortner Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [74] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Zum Vergleich eine allgemeine Definition von Identität: Als Identität lassen sich alles Wissen und alle Erfahrungen verstehen, welche von einem Individuum auf sich selbst bezogen und von anderen zugewiesen werden. Personen verarbeiten diese Annahmen, Überzeugungen, Erwartungen und Deutungen. Sie ‚ identifizieren ‘ sich mit ihnen, und stellen in diesem Prozess Identität über sich selbst her. 6 Der Unterschied zwischen Persönlichkeit und Identität besteht also darin, dass Menschen eine Persönlichkeit haben, ihre Identität aber machen, 7 und zwar indem sie ihre Erfahrungen, Einstellungen usw. deuten und für sich festlegen, auf welche Weise sie wahrgenommen werden wollen. Andererseits ist die Identität einer Person auch geprägt von den Zuweisungen anderer Menschen - die Identität beruht also auf einer Integration von Selbst- und Fremdbild. Wichtige ‚ Identitätsressourcen ‘ sind äußerliche Merkmale, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften, aber auch Vorstellungen und Einstellungen über all diese Identitätsaspekte, die in Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt werden und somit kulturell und historisch variabel sind. Da Personen sich meist in unterschiedlichen Umfeldern bewegen, haben sie auch multiple Teilidentitäten, abhängig von Rollenmustern, Vorbildern usw. 8 Neben verschiedenen Signalen wie Kleidung ist die Sprache eine zentrale Form, seine Identität zu entwickeln und auszudrücken. In diesem Beitrag liegt die Konzentration auf dem Aspekt des Zusammenhangs zwischen Sprache und Identität, den Thim-Mabrey als „ Identität durch Sprache “ 9 bezeichnet - in Abgrenzung zur „ Sprachidentität “ , 10 die als Summe der individuellen inneren und äußeren Mehrsprachigkeit verstanden wird. Für beide Formen oder Auffächerungen sprachlicher Identität sind die soziale Umwelt und soziolinguistische Merkmale wie Alter, institutionelle Zugehörigkeit usw. bedeutend. Die Identität ist jedenfalls an bestimmte symbolische Praktiken gebunden und manifestiert sich in der Kommunikation, insbesondere im Individualstil. Hier wird eine Mittelposition zwischen zwei Sichtweisen eingenommen: Auf der einen Seite stehen konstruktivistische Auffassungen, nach denen Identität ausschließlich in der Interaktion existiert. Auf der anderen Seite wird angenommen, dass die Identität per se etwas Außersprachliches ist, dass aber der Sprachstil Rückschlüsse auf Sprecher bzw. Sprecherin und seine bzw. ihre Identität erlaubt oder sogar mit dem Sprecher bzw. der Sprecherin eins ist. Wenn Forschende aus einem bestimmten sprachlichen Stil Aussagen über 6 Fraas/ Meier/ Pentzold (2012: 73). 7 Vgl. Bendel (2007: 356). 8 Vgl. Fraas/ Meier/ Pentzold (2012: 73 f.). 9 Thim-Mabrey (2003: 2). 10 Ebda. Textuelle Konstruktion und Rekonstruktion von Identität 69 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [75] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Identitätsmerkmale von Sprecherinnen und Sprechern ableiten - z. B. über die Herkunft, die institutionelle Zugehörigkeit, die politische Überzeugung, den Bildungsgrad - , handelt es sich um Interpretationen. 11 In der Folge werden vier linguistische Fundierungen des Konzeptes I DENTITÄT zusammengefasst. Auf der Grundlage einer postmodernen, konstruktivistischen Perspektive versteht Kresi ć Identität „ als plurales, multiples Gebilde, das sich ausdifferenziert in verschiedene kontextspezifisch konstruierte (Teil-)Identitäten “ , die „ patchworkartig zusammengesetzte, zu einem wesentlichen Teil medialsprachlich und dialogisch-kommunikativ erzeugte Konstrukte “ sind. 12 Sie geht davon aus, dass jede Person multiple Sprachidentitäten bzw. ein Repertoire an verschiedenen sprachlichen Varietäten (z. B. Dialekte, Genderlekte, Ethnolekte) hat, zwischen denen auf der Grundlage bestimmter kommunikativer Normen gewechselt werden kann. 13 Kresi ć zufolge gibt es keinen Individualstil, sondern nur Register, die von verschiedenen Rollen und von der Auseinandersetzung mit anderen Personen abhängen; Identitätskonstruktion erfolgt also dialogisch. 14 Auch Bendel und Norris betrachten Individualität respektive Identität als ko-konstruiert in der Interaktion, als Bündel von kontextabhängigen Verhaltensweisen bzw. Strategien auf allen sprachlichen Ebenen - Norris nennt dies Identitätselemente (nationale, familiäre, persönliche Anteile). 15 Bendel unterscheidet die individuelle sprachliche Variation ( „ das Spektrum möglicher Verhaltensweisen in einer bestimmten Situation “ 16 ) von Interaktionsprofilen. Mit Letzteren meint sie „ die spezifische, von allen anderen Individuen unterscheidbare Art und Weise, wie sich ein konkretes Individuum in wiederkehrenden Situationen verhält “ 17 - abhängig unter anderem von der Persönlichkeit, von der Situations- und Rollenauslegung, der körperlichseelischen Befindlichkeit und der beruflichen und sprachlichen Kompetenz. 18 Lucius-Hoene und Deppermann entwickeln ein Modell zur Analyse narrativer Interviews und beschreiben in diesem Kontext ein Modell der ‚ narrativen Identität ‘ : „ die Art und Weise, wie ein Mensch in konkreten Interaktionen Identitätsarbeit als narrative Darstellung und Herstellung von jeweils situativ relevanten Aspekten seiner Identität leistet “ 19 . Wenn Personen etwas erzählen, dient diese sprachliche Handlung sowohl der Identitätsdarstellung 11 Vgl. Vogel (2012: 125 f.). 12 Kresi ć (2006: 224). 13 Vgl. Kresi ć (2006: 225 f.). 14 Vgl. Kresi ć (2006: 233 ff.). 15 Vgl. Norris (2011: 30). 16 Bendel (2007: 13). 17 Bendel (2007: 14). In Bendels Arbeit findet sich auch ein ausführlicherer Forschungsüberblick, wie er in diesem Beitrag nicht geleistet werden kann. 18 Vgl. Bendel (2007: 356 - 366). 19 Lucius-Hoene/ Deppermann (2004: 55, Hervorhebung i. O.). 70 Heike Ortner Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [76] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur als auch der Identitätsherstellung, 20 und zwar auf der Grundlage von sprachlichen Selbstdarstellungen in drei Dimensionen: Temporal betrachtet werden z. B. Zeiterfahrungen, die Kohärenz und die Kontinuität der Identität dargestellt, soziale Aspekte werden z. B. durch Positionierungen in der Interaktion ausgedrückt und in der selbstbezüglichen Dimension sind z. B. explizite Selbstaussagen und Formen der Selbstreflexion mitverantwortlich dafür, dass eine narrative Identität entsteht. Diese beruht unter anderem auf Linearisierung und Selektion von biografischen Ereignissen, also auf Sinnzuschreibungen. 21 Auf der Grundlage dieser theoretischen Fassungen können auch konkrete sprachliche Mittel der Identitätskonstruktion in Texten formuliert werden. Vogel zieht die stilistischen Ansätze von Sandig und Fix 22 heran und nennt unter anderem folgende Strategien der Selbstbzw. Identitätsdarstellung: - Persönlicher Stil im Spannungsfeld von Normenbefolgung und Normendurchbrechung (z. B. bewusstes Abweichen von Stilmustern) - Perspektivierung und Adressierung (z. B. Wir-Formulierungen und andere Formen der Personaldeixis, Einfach- oder Mehrfachadressierung) - Kulturelle Markierungen - Selbstdarstellungsstrategien (z. B. Vermeiden von Selbstlob durch Fremddarstellung, Einschüchtern, Selbstvermarktung, Bitten um Hilfe) - Verschiedene Register der Beziehungsgestaltung (z. B. Anrede) und der Selbstdarstellung (z. B. sachbetont, meinungsbetont, unernst-scherzhaft oder gefühlsbetonte Einstellungsbekundungen) - Namen und identitätsstiftende Lexik (Schlüsselwörter, Gruppenzugehörigkeit ausdrückende Wörter etc.). 23 Norris hebt hervor, dass die Identität nicht immer bewusst repräsentiert wird, dass aber andere Personen alle Äußerungen einer anderen als intentional produziert ansehen. 24 Eine wichtige Quelle der individuellen Identitätskonstruktion sind die Diskussionen darüber, wie andere die Identität wahrnehmen. 20 Vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann (2004: 56). 21 Vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann (2004: 56 - 71, 74 f.). 22 Vgl. Fix (2007 [1991]), Sandig (2006). Fix beschreibt die Stilmuster bzw. Formulierungsverfahren ORIGINALISIEREN (bewusstes Unikalisieren) und DURCHFÜHREN (bewusstes Anpassen an textuelle Normen) als Beispiele für das Spiel mit Normdurchbrechung und Normbefolgung (zwischen ‚ Abheben ‘ und ‚ Anpassen ‘ ). In Sandigs „ Textstilistik “ werden zahlreiche textstilistische Handlungsmuster dargestellt, deren Anwendung im Spannungsfeld von Individualität und Typikalität abläuft. 23 Vgl. Vogel (2012: 136 - 147). Ihre Arbeit bezieht sich auf die Unternehmenskommunikation, die genannten Strategien sind aber auch für die individuelle Identitätskonstruktion von Bedeutung. 24 Vgl. Norris (2011: 34). Textuelle Konstruktion und Rekonstruktion von Identität 71 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [77] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Als Fazit aus diesen Überlegungen lehne ich die Auffassung ab, dass es eine „ wahre “ Identität gebe, die sich in der Sprache äußere und beispielsweise aus Texten herausgelesen werden könne. Ähnliches gilt für die sprachliche Vermittlung von Emotionen. 3 Analyse von Emotivität in Texten Emotionen werden hier verstanden als subjektive Erfahrungen, die in persönliche, zeit- und kulturabhängige, aber auch zeit- und kulturübergreifende Strukturen eingebettet sind. Emotionen haben eine körperliche und eine kognitive Komponente, sie manifestieren sich im Ausdrucksverhalten sowie in Handlungen, darunter auch in der Sprache. Einerseits formt und verändert ihre Verarbeitung kognitive Schemata wie z. B. Narrationen, andererseits wird diese Verarbeitung durch vorhandene Konzepte gelenkt. 25 In meiner Dissertation habe ich mich intensiv mit Emotionen in Texten auseinandergesetzt. 26 Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion berührt semiotische, semantische, morphologische, lexikalische, syntaktische, stilistische und pragmatische Aspekte. Die sprachliche Kodierung von Emotionalität bezeichne ich als Emotivität - wie stark und auf welche Art und Weise Emotionen thematisiert und ausgedrückt werden, ist von Text zu Text sehr unterschiedlich und außerdem von vielen Faktoren abhängig: beispielsweise von der Textsorte, vom aktuellen zeitlichen, räumlichen und gesellschaftlichen Kontext, vom Textthema, von der Textfunktion - aber auch von der Persönlichkeit des Textproduzenten bzw. der Textproduzentin, von persönlichen Erfahrungen, Intentionen, Kompetenzen und Defiziten. All dies ist mitentscheidend dafür, welche Strategien jemand aus den vielfältigen Möglichkeiten auswählt, um seine Emotionen sprachlich zu kodieren. Emotionen im Text sind auf drei Ebenen zu betrachten, die jedoch eng miteinander zusammenhängen: Auf der grammatischen Ebene interessieren die verschiedenen emotiven Mittel, die sich in Emotionsthematisierungen, Emotionsausdruck und emotive Bewertungen klassifizieren lassen. Die folgende Tabelle bietet einen groben Überblick über sprachliche Mittel für Emotionsausdruck und Emotionsthematisierung (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). 25 Vgl. Fox (2008: 2 - 9), Schwarz-Friesel (2013: Kap. 4). 26 Vgl. die publizierte Fassung: Ortner (2014). 72 Heike Ortner Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [78] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Tabelle 1: Emotionsausdruck und Emotionsthematisierung 27 Ebene Emotionsausdruck Emotionsthematisierung Para- und nonverbale Ebene Mimik, Gestik, Stimmqualität, Körperhaltung, Proxemik, physiologische Merkmale, Intonation usw. Beschreiben von Mimik, Gestik, Stimmqualität, Körperhaltung, Proxemik, physiologischen Merkmalen, Intonation usw. Wortebene Emotionsausdrückende Lexeme (z. B. verdammt) Interjektionen Emotive Derivation (z. B. Diminutiva) Schimpfwörter u. Ä. Denotation von Emotionen, emotionsbeschreibende Lexeme (z. B. Liebe, hassen, glücklich) Satzebene Exklamativsätze Markierte syntaktische Konstruktionen (z. B. Wortstellung) Sprachliche Gradierung (Intensivierung, Komparation, Quantifizierer, Modalität, Negation) Unmarkierte, deskriptive syntaktische Konstruktionen Textebene Wiederholungen Metaphern/ nicht-wörtliche Rede Zeichensetzung (z. B.! ! ! ) Anaphorik (Pronominalisierung) Empathie zeigen Vagheit Emotive Evaluationen (implizit, sprachsystematisch ausgedrückt) Umfangreiche Thematisierungen Implizite Thematisierung Beschreiben emotionaler Szenen Emotionale Scripts Empathie versichern Emotive Evaluationen (explizit) Pragmatische Ebene Expressive Sprechakte Assertive Sprechakte Zu fragen ist jedoch auch nach den Funktionen dieser Mittel - und wie sie in Texten auf außersprachliche Zustände referieren. Kurz gesagt: Welche thematischen Aspekte von Emotionen (z. B. die betroffene Person, die Emotionsqualität, die Begleitumstände des Erlebens) werden mit welchen sprachlichen Mitteln zu welchem Zweck kodiert? Es geht also um Emotionsmarker, auch um Identitätsmarker in Texten. Aus meiner Sicht ist dabei unerheblich, wie stark diese Markierungen mit ‚ echten ‘ , erlebten Emotionen zusammenhängen. In Abschnitt 2 wurden bereits die wichtigsten sprachlichen Formen der Identitätsdarstellung genannt. Wie fügt sich die sprachliche Kodierung von Emotionen in dieses Bild ein? In diesem Beitrag wird die Auffassung vertreten, dass die Auswahl von emotionslinguistischen Mitteln gerade in schriftlichen Texten nicht zufällig erfolgt, sondern einen Beitrag zur Identitätskonstruktion leistet - etwa durch die Häufigkeit und Intensität des 27 Vgl. Bednarek (2008: 11); vgl. auch Schwarz-Friesel (2013) für nähere Beschreibungen vieler der hier genannten Mittel. Textuelle Konstruktion und Rekonstruktion von Identität 73 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [79] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Emotionsausdrucks, ob einzelne Textproduzenten bzw. -produzentinnen ihre Emotionen sehr genau beschreiben oder sich als möglichst unemotional darstellen, indem verstärkt Empathie ausgedrückt wird usw. Die Art der bevorzugten sprachlichen Kodierung von Emotionen ist ein wichtiger Teil der sprachlichen Identität, gerade in der Online-Kommunikation. 4 Identitätsmanagement in der Online-Kommunikation Die Konstruktion von Identität in der Online-Kommunikation ist seit Beginn der Erforschung des World Wide Web Mitte der 1990er Jahre ein umfangreiches Forschungsgebiet. Unter der Online-Identität versteht man „ jegliche Form der konsistenten Selbstdarstellung einer Person durch Mittel der Online-Kommunikation “ . 28 Klassische Beispiele für solche Formen sind die Wahl des Nicknames (selbst gewählter Name), die Entscheidungen beim Ausfüllen eines Profils, Nutzungspraktiken, der Gebrauch von Bildern, die Selbstbeschreibung im Chat, die Gestaltung eines Charakters in einem Online-Spiel, aber auch jegliche Verweigerung von Informationen. All diese Möglichkeiten der Selbst- und Fremdbeschreibung werden als „ Identitätsrequisiten “ 29 bezeichnet. Am Beginn der Forschung war die dominante Perspektive das Spiel mit der Identität aufgrund der vermeintlichen Anonymität im Internet (z. B. Geschlechterwechsel, freierer Selbstausdruck, De-Marginalisierung von Minderheiten). 30 Menschen sollen andere über ihre Identität täuschen, andererseits ihre Identität auch gefahrlos ausdrücken und gestalten, also Identitätsmanagement betreiben, etwa indem man sich bestimmten Gruppen zuordnet (siehe aber Abschnitt 6). Die Frage der Authentizität ist für jede Plattform gesondert geregelt, auf Facebook etwa restriktiver als in Chats. 31 Mit diesen Fragen hängt auch das Reputationsmanagement zusammen: Je nachdem, wie man seine Online-Identität arrangiert und wie kompetent man darin ist, steigt oder fällt man im Ansehen von Kommunikationspartnern online. 32 Mittlerweile konzentriert sich das Interesse der Forschung eher auf den Aspekt der Selbstoffenbarung, 33 also was Menschen von sich in der 28 Fraas/ Meier/ Pentzold (2012: 81); vgl. auch Döring (2003). 29 Döring (2003: 342). 30 Vgl. Turkle (1998) für eine einflussreiche Arbeit zu diesem Thema. Vgl. auch Fraas (2012: 76 ff.). 31 Vgl. Fraas/ Meier/ Pentzold (2012: 81). 32 Vgl. Albert (2013: 160 ff.), der aufgrund von Chat- und Forenanalysen hierfür sprachliche Hinweise wie die Korrektheit, den Einsatz von Emoticons und Akronymen und den allgemeinen Stil als starke Marker des sozialen Status identifiziert, die von den Nutzerinnen und Nutzern entsprechend interpretiert werden. 33 Vgl. Fraas et al. (2012: 78). In dieser Publikation werden auch weitere einflussreiche Theorien der Online-Identität referiert. 74 Heike Ortner Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [80] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Online-Kommunikation preisgeben. Döring geht davon aus, dass die Identität ein hybrides Konstrukt ist: Nutzerinnen und Nutzer integrieren verschiedene Online- und Offline-Identitäten, die auch in unterschiedlichen Kodes (z. B. in Text, Bild und Ton) und unterschiedlichen Kommunikationsformen (z. B. Chats, Soziale Netzwerke) zu vermitteln sind. 34 Nach Thaler bedienen sich Nutzerinnen und Nutzer dabei in der Auseinandersetzung mit anderen Usern unterschiedlicher Strategien der Nähe und der Distanz: Strategien der Nähe sind etwa positive Bestätigungen, Humor oder auch die Art und Weise, wie Emotionen ausgedrückt und thematisiert werden. 35 In der Online-Kommunikation sind insbesondere Majuskeln (z. B. WAS SOLL DAS? ), Graphemwiederholungen (z. B. gaaaaaaanz langsam) und Inflektivkonstruktionen (z. B. *verliebtschau*) dazu geeignet, emotionale Bewertungen auszudrücken. 36 Vermeintlich sehr emotionale Formen wie Emoticons können aber auch Strategien der Distanz sein - häufig sind Emoticons keine Signale von positiver oder negativer Emotionalität, sondern Markierungen von Ironie, Hervorhebungen oder Abschwächungen. 37 5 Beispiele Abschließend sollen diese Vorüberlegungen anhand von einigen Beispielen der Online-Identitätskonstruktion veranschaulicht werden. Zur offiziellen Website der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde bereits in der Einleitung festgestellt, dass die sprachliche Darstellung emotionaler Sachverhalte und emotionalen Erlebens nur selten, in geringer Intensität und nahezu sachlich-einordnend erfolgt. Auch der Facebook- Auftritt von Angela Merkel 38 passt in dieses Bild, wobei hier nicht einmal versucht wird, den Eindruck zu vermitteln, dass die veröffentlichten Texte von der Bundeskanzlerin selbst stammen. Es handelt sich bei den Postings um Presseaussendungen, in denen über aktuelle Aktivitäten berichtet wird. Angela Merkel selbst tritt nur in eindeutig als solchen markierten Zitaten auf. Ihre eigenen Emotionen werden äußerst selten thematisiert (z. B. Wie viele Millionen Fans freue ich mich heute auf ein spannendes DFB-Pokalfinale, 17. 05. 2014), häufiger finden sich einerseits Bewertungen der Kanzlerin (z. B. Die Bundeskanzlerin sowie die gesamte Bundesregierung verurteilen die Gewaltausbrüche und antisemitischen Äußerungen bei pro-palästinensischen und anti- 34 Vgl. Döring (2003: 345). 35 Vgl. Thaler (2012: Kap. III). 36 Vgl. Marx/ Weidacher (2014: 147). 37 Vgl. Baron (2009: 109 ff.). 38 URL: https: / / www.facebook.com/ AngelaMerkel? fref=ts, zuletzt geprüft am 01. 11. 2014. Textuelle Konstruktion und Rekonstruktion von Identität 75 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [81] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur israelischen Demonstrationen aufs Schärfste, 23. 07. 2014) und der Redaktion (z. B. Toller Empfang für Bundeskanzlerin Angela Merkel am Samstag in Eberswalde, 06. 09. 2014). Auf bildlicher Ebene finden sich vorwiegend Fotos der Bundeskanzlerin mit offener Körpersprache und freundlichem Lächeln. Formen von Emotionsausdruck finden sich nicht, insgesamt verwendet Angela Merkel bzw. ihr Team Facebook relativ selten und nur zur Verbreitung wichtiger sachlicher Informationen. Diese emotionale Zurückhaltung entspricht der öffentlichen Identität von Angela Merkel als besonnene Politikerin, die auch nur ‚ staatstragende ‘ Emotionen in der Öffentlichkeit zulässt. Ein völlig entgegengesetztes Beispiel ist der persönliche Blog „ Ani denkt “ von Anika, die sich als Autorin und Schauspielerin beschreibt. 39 Hier werden reportageähnliche Impressionen von Reisen, Gedanken und Gedichte verbreitet, die sehr emotional gehalten sind. Im folgenden Abschnitt finden sich sowohl Emotionsausdruck (z. B. so verdammt lässig) als auch Emotionsthematisierungen (die Konzeptualisierung von Glück). Der ganze Absatz lässt sich als emotionale Szene beschreiben, die bemüht ist, bekannte Emotionen möglichst originell zu deuten. Ich schaue zu ihr. Sie sieht so verdammt lässig aus. In dem Moment, in dem ich das Foto schieße, tauchen im Hintergrund drei Palmen auf. Ich drücke ab und halte das Glück fest. Man kann es festhalten, weil es mitkommt, bei diesen Road Trips. Weil die das Glück einfach einpacken. Man muss ihm nicht hinterherjagen, es steigt freiwillig ein. 40 Die Form der emotionalen Identitätskonstruktion ergibt sich aus der Summe des Emotionsausdrucks und der indirekten Emotionsthematisierungen, die oft nur über die Darstellung von Stimmungen realisiert werden, und durch die Selbst- und Fremdreflexion. Als besondere Form der Online-Identitätskonstruktion können sogenannte Trolle gelten: Darunter versteht man in der virtuellen Sphäre ‚ pathologische Störer ‘ 41 in Diskussionsforen, die andere Nutzerinnen und Nutzer bewusst provozieren, indem sie andere beleidigen, absurde Meinungen vertreten oder ernst gemeinte Diskussionen auf andere Weise behindern. Die Beweggründe dahinter sind meist nicht erkennbar. Besonders hervorzuheben ist, dass Trolle in der Regel im Modus der Ernsthaftigkeit verbleiben, ihre Beiträge also nicht als ironisch gemeint markieren. Wenn die Trollabsicht von anderen Usern nicht erkannt wird, fallen die Reaktionen sehr emotional aus - der Ausdruck von Ärger ist dann intensiv und direkt, während jene User, die den Troll erkannt haben, ihre Überlegenheit in Form von betonter 39 URL: http: / / www.anidenkt.de, zuletzt geprüft am 01. 11. 2014. 40 URL: http: / / www.anidenkt.de/ reiseimpressionen/ das-coolste-maedchen/ , zuletzt geprüft am 01. 11. 2014. 41 Vgl. Bruns (2008: 25), im englischen Original „ pathological disruptors “ . 76 Heike Ortner Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [82] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Gelassenheit demonstrieren und sich selbst damit die Identität von fortgeschrittenen Nutzerinnen oder Nutzern verleihen. 42 Zum letzten Beispiel: Bei Twitter handelt es sich um ein sogenanntes Microblogging-Tool, in dem man kurze Botschaften von maximal 140 Zeichen teilen kann. Die Kommunikation ist sowohl privater als auch öffentlicher Art, möglich ist die Realisierung unterschiedlichster Funktionen mit weitgehend beliebiger sprachlicher Gestaltung im Rahmen des vorgegebenen Umfangs. 43 Die Kommunikation ist grundsätzlich textbasiert, doch in den letzten Jahren hat sich Twitter stark gewandelt: Ein sehr großer Teil (ca. 40 Prozent) ist nach wie vor rein phatische Kommunikation, 44 also dominiert von Formen der Kontaktaufnahme und des Kontakthaltens, digitales Geplauder mit hoher Emotionalität. Mittlerweile jedoch ist die Plattform noch bedeutsamer als ein Verbreitungsmedium für Verlinkungen zu umfangreicheren Texten, Bildern sowie andere Arten der externen Verweise. Die Identitätskonstruktion läuft in erster Linie über diese Verweise, die ein umfangreiches Bild von Interessen, Vorlieben und Abneigungen zeichnen. Die Tweets selbst enthalten neben diesen Verweisen meist kurze emotive Bewertungen, mit denen die verlinkten Inhalte in das eigene Weltbild eingeordnet werden. Trotzdem ergeben sich über die Reply-Funktion (also das direkte Antworten auf vorhergehende ‚ Tweets ‘ ) oft „ klassische Adjazenzpaare “ 45 wie in mündlichen Gesprächen, die dann auch starke Emotionalität entwickeln können. 6 Schluss Die genannten Beispiele zeigen nur einen kleinen Ausschnitt aus dem breiten Spektrum der Möglichkeiten, wie online eine emotionale Identität konstruiert werden kann. Fragen, die eine derartige Analyse leiten können, lauten: Wie intensiv werden welche Emotionen ausgedrückt, wie häufig, mit welcher Funktion? Die Annahme, dass Online-Kommunikation generell sehr emotiv sei und dass weniger Normen und Regeln des Emotionsausdrucks bestehen, kann nicht bestätigt werden. Zum einen bilden sich längst starke soziale Normen heraus, 46 zum anderen bewirkt die räumliche Distanz und das Fehlen von 42 Da Trolle tunlichst ignoriert werden sollten, möchte ich an dieser Stelle keinen konkreten Troll aus einem konkreten Diskussionsforum nennen. Trolle finden sich aber in fast jedem Diskussionsforum, insbesondere bei Online-Portalen bekannter Medien. 43 Vgl. Demuth/ Schulz (2010). 44 Vgl. Siever (2012: 74). 45 Siever (2012: 80). 46 Vgl. z. B. die Studie „ Ich im Netz. Selbstdarstellung von weiblichen und männlichen Jugendlichen in sozialen Netzwerken. Bericht zum Forschungsprojekt imaGE 2.0. Selbstdarstellung und Image-Management von weiblichen und männlichen Jugendlichen in Textuelle Konstruktion und Rekonstruktion von Identität 77 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [83] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Face-to-face-Kontakt nicht automatisch eine freiere Entfaltung der Identität, was nicht nur dem Ende der Anonymität im Web geschuldet ist (Stichwörter: Big Data, Überwachung, postuliertes Ende der Privatsphäre). Mehr denn je ist die Identität rückgebunden an die Reaktionen, Kommentare und Bewertungen anderer Personen. Bibliographie Georg Albert, Innovative Schriftlichkeit in digitalen Texten. Syntaktische Variation und stilistische Differenzierung in Chat und Forum, Berlin 2013. Naomi Baron, The myth of impoverished signal: Dispelling the spoken language fallacy for emoticons in online communication, in: Jane Vincent/ Leopoldina Fortunati (Hrsg.), Electronic emotion. 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Ein Problemaufriss aus sprachwissenschaftlicher Sicht, in: Nina Janich/ Christiane Thim- Mabrey/ Albrecht Greule, Albrecht (Hrsg.), Sprachidentität - Identität durch Sprache, Tübingen 2003, S. 1 - 18. Sherry Turkle, Leben im Netz: Identität in Zeiten des Internet, Reinbek bei Hamburg 1998. Kathrin Vogel, Corporate Style. Stil und Identität in der Unternehmenskommunikation, Wiesbaden 2012. Philip G. Zimbardo/ Richard J. Gerrig, Psychologie, München [u. a.] 18 2008. Textuelle Konstruktion und Rekonstruktion von Identität 79 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [85] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Milan Pi š l Konstruktion emotionaler Identität auf Facebook Eine Studie am Beispiel von Geburtstagswünschen 1 Einleitung 1 Demographische Studien und Erforschungen von Kommunikations-, Interkultur-, und Marketingforschern zeigen, 2 dass das soziale Netzwerk Facebook schon lange kein ausschließlich kommunikatives Mittel mehr darstellt. In jedem Moment kommunizieren auf der Erde Millionen Menschen auf Facebook miteinander, was unvermeidlich zur Konstruktion einer emotionalen Identität führt (sei es Exhibitionismus, Jagd nach Aufmerksamkeit oder nur bloßer Zeitvertreib). Ziel dieses Beitrags ist, diese Konstruktion zu erörtern und vor allem unter dem Aspekt der emotionalen Identität und ihrer Bildung im Rahmen der veröffentlichten Geburtstagswünsche zu untersuchen. Diese Auswahl geht vom Folgenden aus: Facebook führte einen neuen eindeutigen Impuls ein, 3 indem es anzeigt, wenn befreundete Nutzer Geburtstag haben. Gleichzeitig bekommt der Nutzer eine Aufforderung zur Formulierung eines Glückwunsches, wofür sich ein eigenes Pop-up öffnet. Der Text wird dann unmittelbar auf der jeweiligen Profilseite veröffentlicht. Je nach Einstellung des privaten Datenzugangs wird er auch auf der Hauptseite von Facebook angezeigt. Verbreitung, Auswirkung und Einfluss auf die Konstruktion der emotionalen Identität des jeweiligen Geburtstagswunsches sind also sehr groß. Zu den weiteren Gründen für eine hohe emotionale Beteiligung gehört die gesamte soziale Situation, in der ein Geburtstagswunsch formuliert wird. Diese emotionale Konstellation ist durchaus positiv, es spiegeln sich Glücksgefühle, emotionale Nähe, gemeinsame Erinnerungen bzw. Erlebnisse oder auch der Ausdruck von Freude, Wohlstimmung, Überraschung und Zuneigung wider. Das kommunikative Verhalten auf Facebook entspricht der Variabilität von Nutzern, Zielen und Strategien - die auffälligsten Texte und andere Beiträge (z. B. Statusaktualisierungen, gepostete Fotos usw.) werden am stärksten reflektiert und das ist die Absicht von den meisten Nutzern. Facebook stellt eine neue Darbietungsmodalität dar, die den Ausdruck 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojekts GA Č R 405/ 09/ 0718. 2 Vgl. URL 1, URL 2. 3 Vgl. Angaben und Graphiken unter URL 4. Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [86] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur von Gefühlskonstellationen im sozialen Kontext modifiziert, in manchen Hinsichten auch verstärkt, auf jeden Fall aber wesentlich gestaltet. Die Konstruktion der emotionalen Identität bekam mit Facebook einen neuen Impuls. Das Unternehmen Facebook bekam zu spüren, dass es weder möglich (und technisch auch kaum realisierbar) noch erwünscht ist, allen Benutzern komplette und ausführliche Inhalte zu zeigen. 4 Von tausenden Fotos, Veranstaltungen, Statusaktualisierungen, hypertextuellen Hinweisen, die Facebook-Freunde veröffentlichen, wird nur ein Teil präsentiert. Das bedeutet, dass Facebook die dargestellten Inhalte absichtlich filtert. Datenexperten stellten fest, dass es dies nicht wahllos tut, sondern Kriterien wie das Ausmaß der Beliebtheit und des erweckten Interesses detailliert auswertet und mit diesen Daten gezielt arbeitet. Da die Veröffentlichung von der Firma Facebook 5 selbst technisch realisiert wird, ist dem System bekannt, wer was kommentiert, wie viele „ Likes “ gegeben werden und welche Inhalte ein besonders großes Feedback (in Form der Kommentare und Likes) hervorrufen. Facebook nutzt auch einen enormen Vorteil aus - es kann mit riesigen Datenmengen arbeiten (sog. Big Data) und gewinnt daraus konkrete Angaben über Verhaltensweisen von Benutzern - u. a. Zeit und Ort des Einloggens, Art der veröffentlichten Inhalte, wer welche Profile anschaut und wie lange usw. Diese Daten werden gespeichert und sorgfältig analysiert und sowohl für personalisierte Werbung 6 als auch für die Abbildung der bevorzugten Inhalte, die man als angenehm empfindet, verwendet. Das Sprachmaterial der sozialen Netzwerke bietet also ein breites Spektrum für sprachwissenschaftliche Untersuchungen von Emotionen an. Im Rahmen dieses Artikels wurden ca. 500 studentische Profile sowohl aus Deutschland als auch aus der Tschechischen Republik analysiert. Die gefundenen Belege werden nach einer kurzen theoretischen Erörterung kategorisiert und die verwendeten Sprachmittel und kommunikativen Vertextungsstrategien beschrieben. 2 Perspektiven der Kommunikation auf Facebook In Sprachen sind kulturelle Vorstellungen eingeprägt, deren Beherrschung entscheidet in der Alltagskommunikation über die Teilhabe am öffentlichen Leben. Auf Facebook lösen sich diese Barrieren und Unterschiede langsam auf. Die Kommunikation folgt nur begrenzt den alten Regeln. Heutzutage tragen religiöse und nationale Traditionen immer weniger zur persönlichen Orientierung in der komplexen Welt bei. Es wird ein Paradigma vertreten, in dem jedes Individuum für sich selbst verantwortlich ist. Diese 4 Vgl. URL 3. 5 Vgl. URL 6. 6 Vgl. Holzapfel (2011: 44 f.). Konstruktion emotionaler Identität auf Facebook 81 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [87] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Tatsache spiegelt sich auch in der Identitätskonstruktion wider. 7 Auch im Rahmen der Entwicklung innerhalb der sozialen Netzwerke der letzten Zeit kommt es zu einer Veränderung der Gewohnheiten. Fast in allen europäischen Ländern kann man eine kleinere (z. B. Tschechische Republik) oder deutlichere (z. B. Deutschland) Abwendung von Facebook beobachten. 8 Dies gilt besonders für die jüngere Altersgruppe (16 - 18 Jahre), die am stärksten auf Facebook präsent ist. Diese zeigt eine immer stärkere Abneigung gegenüber dem sozialen Netzwerk. Früher war es noch so, dass die Eltern Angst vor Aktivitäten ihrer Jugendlichen auf Facebook hatten, heute ist die Situation umgekehrt: Die Jugendlichen haben Angst davor, dass sie ihre Familie dazu zwingt, gemeinsame (und von den Jugendlichen als höchst peinlich empfundene) Inhalte zu veröffentlichen (z. B. Fotos von Familienfeiern oder vom Familienurlaub usw.). Teilweise steht hinter der aktuellen Abwendung auch die Popularität von neuen Anwendungen für Smartphones (z. B. WhatsApp, SnapChat, Instagram usw.), die für Facebook durch ihre absolute Zugänglichkeit und Aktualität ein (wirtschaftliches) Risiko darstellen können. Viele soziologische und demographische Studien 9 untersuchten das soziale und kommunikative Verhalten von den Facebook-Nutzern und brachten signifikante Ergebnisse, die für die mediale, digitale und soziale Kommunikation auf Facebook prototypisch sind. Hier folgen ausgewählte Merkmale der Kommunikation auf Facebook, die für die nachfolgende Analyse von Bedeutung sind: Die Hälfte der Facebooknutzer loggt sich jeden Tag ein, jeder hat ca. 130 Freunde und ist mit anderen 80 Anwendungen, Gruppen oder beliebten Seiten verbunden. Zu den am häufigsten kommunizierten Inhalten gehören Beziehungen, Partys, Schule bzw. Studium und Pläne fürs Wochenende. Die Administratoren bearbeiten täglich 350 Mio. Fotos und 10 Milliarden Nachrichten und Status-Aktualisierungen. Inhalte werden zeitlich strukturiert, angefangen bei der chronologisch absteigenden Anordnung der Postings bis hin zu Auflistungen der letzten abgegebenen Kommentare oder Verlinkungen. Die gestalterischen Ansprüche liegen bei Facebook sehr niedrig - das Layout ist einheitlich vom Anbieter vorgegeben, dazu stehen funktionale Navigationsbuttons zur Verfügung. Im Rahmen der Textproduktion drängen sich technische Gesichtspunkte in den Vordergrund, die der gezielten Textwirkung vorangehen und ihr erst den Boden bereiten, so beispielsweise Emoticons oder die Möglichkeit, Fotos endlos zu kommentieren. 7 Vgl. Schwarz (2000: 17 f.). 8 Vgl. URL 3, URL 6. 9 Vgl. Studien zu sozialen Netzwerken (zugänglich unter URL 3) oder im Projekt „ Jugendmedien “ (zugänglich unter URL 2) oder im Projekt „ Soziale Bewegungen und Social Media “ (zugänglich unter URL 1). 82 Milan Pi š l Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [88] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Konstruktion der emotionalen Identität und Datenpsychologie Über Facebook wird vor allem als Kommunikationsmittel gesprochen. Neuere Forschungen 10 bestätigen jedoch auch eine weitere Tatsache - das soziale Netzwerk Facebook kann als Verbindung zur eigenen Vergangenheit empfunden werden. Dies gilt vor allem in den Situationen, in denen Leute nach emotionaler Harmonie und Ruhe suchen. Wenn man sich unwohl fühlt, ist es sehr einfach die positiven Seiten des menschlichen Lebens zu vergessen. Die schönen Erinnerungen können demnach durch das Ansehen des eigenen Facebook-Profils wieder hervorgerufen werden. Es zeigt sich, dass durch Facebook emotionale Identität konstruiert werden kann. Somit erfüllt es kaum vorstellbare emotionale Funktionen: Wenn Leute deprimiert sind, können die früher veröffentlichten Inhalte (z. B. Fotos vom Urlaub oder empfundene Geburtstagswünsche) positive und erwünschte emotionale Konstellationen erwecken. Diese Art der Erinnerungstherapie hilft auch bei Angst- und Beklemmungszuständen oder bei Gedächtnisstörungen. 11 Ein und dasselbe Facebook muss jedoch den Anforderungen von Teenagern, Studenten und ihren Eltern oder auch Großeltern, Kaufleuten, Firmen und sozialen Gruppen usw. entsprechen. Es kommunizieren hier nicht nur Mitschüler und Kollegen, sondern auch kommerzielle Subjekte, Institutionen, Universitäten oder unterschiedlichste Interessengruppierungen. Diese starke Verbreitung in der Bevölkerung und die rasche Entwicklung von veröffentlichten Inhalten produzieren eine enorme Masse von Daten. Forscher kamen zu der Auffassung, dass Facebook-Freunde teils als Referenzgruppe dienen, nach der die Benutzer ihre eigene Popularität und ihren Erfolg bemessen. 12 Dabei werden die Profile mit den meisten „ Likes “ und Kommentaren beinahe glorifiziert. Dies kann bei Anderen Neidgefühle hervorrufen, die Kommunikation wird stärker emotional orientiert. 13 3 Merkmale der emotionalen Identität in einem Geburtstagswunsch Geburtstagswünsche verdienten als selbständige und hoch sozialisierte Texte bis jetzt überraschend wenig Aufmerksamkeit. Vielleicht hängt es von der variierenden Form (Postkarte, SMS, E-Mail, soziale Netzwerke 14 usw.) ab oder auch von der individuellen Textgestaltung, die sehr subjektive und schwer 10 Vgl. URL 5. 11 Vgl. Miller (2012: 17 f.). 12 Vgl. URL 6. 13 Vgl. Kurz/ Rieger (2011: 26). 14 Vgl. alle realisierbaren Formen eines Geburtstagswunsches unter URL 4. Konstruktion emotionaler Identität auf Facebook 83 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [89] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur kategorisierbare Impulse wie Nähe und emotionale Betroffenheit, gemeinsame Erlebnisse usw. reflektieren und in den Geburtstagswunschtexten auch thematisieren. Der geringe Stellenwert entsteht möglicherweise auch aufgrund der relativen Kürze und sprachlicher Knappheit von Geburtstagswünschen. Die untersuchten elektronischen Geburtstagswünsche knüpfen einerseits an traditionelle schriftliche Postkarten an, die eine selbständige Textsorte darstellen, und andererseits an die persönlichen Reaktionen in Form einer Gratulation, Umarmung bzw. des Küssens, Händedrucks usw. Es lässt sich beobachten, dass die Form sich zwar verändert hat - eine Papier-Karte wurde durch digitale Zeichen ersetzt - der Inhalt hat sich allerdings kaum verändert. Die sprachlichen Mittel, die zum Ausdruck emotionaler Konstellationen wie Freude, Begeisterung und Glücksgefühle anlässlich eines Geburtstags zum Ausdruck kommen, variieren jedoch. Obwohl die Geburtstagsgrüße auf Facebook auch für andere Nutzer zu sehen sind (je nach der Einstellung der Privatsphäre und dem Zugang zum jeweiligen Profil), handelt es sich oft um private, persönliche Andeutungen. Die Texte werden - abgesehen von ihren eindeutig nicht privaten Gebrauchszwecken - oft individuell, kreativ und originell gestaltet. Durch ihre Gestaltung konstituiert sich eine individuelle Art der emotionalen Identität, die sich in diesem Fall nur sehr wenig (wenn überhaupt) vom Alltag unterscheidet - und wenn, dann v. a. durch den Kanal, nämlich das soziale Netzwerk. Der Informationsgehalt ist meistens klar und einfach, die Formulierungen werden jedoch mit stilistischen Besonderheiten geschmückt und es tauchen Versuche auf, die Spontaneität der mündlichen Redeweise zu erreichen bzw. zu imitieren. Kurze Nachrichten dieser Art enthalten oft stereotype und klischeehafte Phrasen. Diese Ausdrücke wirken dementsprechend kühl und unpersönlich. Auf Facebook versuchen die Nutzer, diese zu meiden und eine herzlichere, persönliche Stimmung zu finden. Es soll nochmals betont werden, dass die Auswahl der Ausdrucksmittel und die Kreativität bei der Textgestaltung vom Bezug des Absenders zum Adressaten abhängt. 4 Analyse der Identitätskonstruktion Die untersuchten Geburtstagswünsche können in mehrere Gruppen kategorisiert werden, wobei in jeder Gruppe gewisse Sprachmittel zu unterschiedlichen kommunikativen Zwecken eingesetzt werden. Einen weiteren Grund für diese Klassifizierung stellen u. a. die jeweilige Vertextungsstrategie bzw. realisierte Sprechhaltung oder Widerspiegelung von nahen Beziehungen zwischen den Kommunikationspartnern dar. Am häufigsten treten kurze Aussagen auf, die durch mehrfache und oft auch massive Verwendung von Vokalwiederholungen und Interpunktionszeichen bekräftigt werden. Zu den traditionellen Emotionsausdrücken gehö- 84 Milan Pi š l Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [90] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur ren hier die Superlative. 15 Sie ergeben sich einerseits aus der kontextualisierten sozialen Situation - man wünscht sich im Prinzip immer „ das Gute “ bzw. „ das Beste “ , wobei alles andere im Rahmen dieser zukunftsbezogenen Sprechhaltung als wenig aussagekräftig betrachtet werden kann - und andererseits wurden diese Redewendungen schon kodifiziert und im schriftlichen wie auch im mündlichen Substrat sind sie zum Alltag geworden. (1) AAAAaaaaalles Gute und Gesundheit! (2) alles supi liebe und nur das beste zu deinem geburtstag! ! ! (3) jeee ty mas dnes narozeniny! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! at si zdrava a stastnaaaa! ! ! ! ! (jeee du hast heute Geburtstag! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! ! sei gesund und glücklich! ! ! ! ! ) (4) Krááásnéééé narozeniny! : -)))) vse nej nej nej! ! ! ! (Schönen Geburtstag! : -)))) alles beste beste beste! ! ! ! ) Bei den vorgefundenen Belegen handelt es sich um relativ knappe Aussagen ohne weiteren Kontext, die mittels mehrfacher Wiederholung von Ausrufezeichen und/ oder auffälligen Vokalwiederholungen intensiviert werden. Man kann sagen, dass der semantische Code (Vokalwiederholung) mit dem nicht-semantischen Code (Kapitälchen, Fettschrift, Kursivschrift) verflochten wird, wodurch ursprünglich nicht-semantische Codes eine semantische (emotionale) Bedeutung bekommen. 16 Weitere Bekräftigung der jeweiligen Aussage realisieren Superlative und zum Ziel wird hier die möglichst hohe Intensität des stereotypischen Ausdrucks bzw. dessen emotionaler Beteiligung. Die Nutzer der sozialen Netzwerke werden mit diesen beinahe traditionellen Sprachelementen ständig konfrontiert (z. B. Emoticons aus Interpunktionszeichen) und diese Formen der quasi-emotionalen Kommunikation gelten heutzutage als weniger herzlich bzw. als schon abgenutzt. 17 In dieser Kategorie unterscheiden sich die deutschen und tschechischen Geburtstagsgrüße überhaupt nicht und verwenden die gleichen Sprachmittel zu denselben kommunikativen Zwecken. Die nächste Gruppe von Geburtstagsgratulationen repräsentieren die Formulierungen, die den emotionalen Höhenpunkt zu verbalisieren versuchen. Sie basieren auf einer (wenigstens vermeintlich) engeren Bekanntschaft bzw. Freundschaft mit der jeweiligen Person, weswegen die Wünsche sprachlich und emotional zugespitzt sind. Die deutlich zum Ausdruck gebrachte emotionale Teilnahme muss jedoch in keinem Fall die realen Verhältnisse widerspiegeln: (5) Alles nur superaffengeil zu deinem Geburtstag! ! ! (6) XXXXL-Premium-Supersize-Extended-Maxiversion-Anwünschungen! 15 Vgl. Mostýn (2012: 113); Pi š l (2012 a: 183 f.). 16 Vgl. Albert (2013: 17 f.). 17 vgl. Pi š l (2012 b: 183). Konstruktion emotionaler Identität auf Facebook 85 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [91] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur (7) ♥ mému nejv ě t š ímu pokladu k narozeninám! : P Nikomu T ě nedám! ; * (meinem größten Schatz zum Geburtstag! Ich gebe dich niemandem) (8) P ř eji ti v š e nejlep š í k dne š ním narozeninám! Hodn ě zdraví č ka, š t ě stí č ka a lásky! (Ich wünsche dir alles Gute zum heutigen Geburtstag! Viel Gesundheitchen, Glückchen und Liebe! ) Hier können schon gewisse Emotionalisierungsstrategien beobachtet werden, die aber im Deutschen und Tschechischen - je nach dem Charakter der Sprache - variieren. Im Deutschen gewinnen die Komposita stärker an Bedeutung, die außergewöhnliche Worteinheiten bilden. Einige gehören in den Bereich der Jugendsprache (superaffengeil) und gehen von den modischen Ausdrücken (geil, affengeil), sowie von den (umgangssprachlichen) hyperbolischen 18 Präfixoiden (super) aus. Der Beleg (6) stellt eine extrem lange Zusammensetzung - besser gesagt einen Okkasionalismus - dar, der mehrere international bekannte und aus dem englischen stammende Superlative verkettet. Es ist höchstwahrscheinlich eine mühsam verfasste Passage, die den absoluten Intensitätsgipfel verbalisiert. Die ausgewählten Belege zeigen, dass emotionale Sprachmittel oft kombiniert werden (Englisch, Vokalwiederholung, Emoticons aus Interpunktionszeichen, verwendete Sprechhaltung). Das Ziel ist eine höhere emotionale Beteiligung zu versprachlichen und die größtmögliche Wirkung zu erreichen. Die tschechischen Beispiele gehen hingegen viel stärker von den Superlativen (7) und Verkleinerungsformen (8) aus. Diese dienen als traditionelles Sprachelement der Emotionslinguistik 19 und drücken ebenfalls hohe emotionale Betroffenheit aus. Im tschechischen Sprachraum werden sie jedoch als Zeichen der Kindersprache oder auch des mentalen Mangels interpretiert und ihre Verwendung in den kontextlosen kommunikativen Situationen kann demnach irreführend sein. Als Thematisierung einer sehr engen und liebevollen Beziehung gilt die Passage in (7) (Nikomu t ě nedám (Ich gebe dich niemandem)), in der eine (teilweise besitzergreifende) Absicht, auch in einem langen Zeithorizont zusammen zu bleiben, versprachlicht wird. Im Rahmen der Forschung und Sammlung des Sprachmaterials kamen viele Geburtstagswünsche vor, die die emotionale Teilnahme mittels modifizierter Anreden der Geburtstagspersonen zum Ausdruck bringen: (9) Alles gute, unser Geburtstagskind! (10) Herzlichen Glückwunsch Lieblingskollege: -) (11) Alles Gute an meine Aaaaaaaaallerbesten . . . (12) Alles Liebe zum Geburtstag, Marcolein! (13) Alles Gute Lieblingsactionheldin: ) 18 Vgl. DWDS. 19 Vgl. Va ň ková/ Wolf (2010: 15). 86 Milan Pi š l Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [92] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Da die Geburtstagsglückwünsche häufig eine Beziehung zwischen dem Adressaten und Empfänger widerspiegeln, kommen hier neben den erprobten und beinahe klassischen Varianten von Personenbezeichnungen (9), (10), auch Anredeformen mit verkleinerten Formen von Vornamen (12) vor, die eine engere und längere Bekanntschaft signalisieren. Im Deutschen haben sich neben gewöhnlichen Anreden, die oft visuell intensiviert werden (11), auch die Anredeformen aus dem Englischen (13) durchgesetzt. Es handelt sich hier um den Ausdruck einer (wenigstens vermeintlich) engeren Beziehung, der jedoch fast ausschließlich auf der lexikalischen Ebene - oft mit dem Präfixoid Lieblings- - geäußert wird. Es kann konstatiert werden, dass die Satzebene und individuelle Gestaltung des Geburtstagstextes zwar eine überzeugendere Emotionalität verbalisieren, der emotionale Höhepunkt kann jedoch auch in isolierten Worteinheiten stecken. Auch im Tschechischen tauchen verschieden motivierte Kosenamen auf, die oft auf ein Tier und auf damit verbundene prototypische Eigenschaften oder auch auf machistische Verhaltensweise hinweisen. Die Wahl der Anrede hängt von der sozialen und persönlichen Beziehung zwischen den jeweiligen Personen bzw. von der gezielten Bedeutungszuschreibung ab und spiegelt einen hohen Grad an Kreativität und Originalität wider: (14) v š e nej Draku! ! ! (Alles Beste, Drachen) (15) No tak ty starej pardále, v š echno nejlep š í (Na, du alter Panther, alles Beste) (16) Vl č ico, v š e nej, a ť se da ř í ve v š ech oblastech, kam tvoje chlupatá pa ř áta dopadne: )) (Wölfin, alles gute, soll es in allen Gebieten gut gehen, wo deine behaarte Pranke aufschlägt: ))) (17) V š e nej legendo . . .: ) (Alles Beste, Legende) Die aus der Tierwelt stammenden Kose- und Spitznamen in der Funktion einer Anrede versprachlichen meistens stereotypische und oft auch nur idealisierte Eigenschaften des Jubilars. Aus diesem Betrachtungswinkel betrachtet stellen die Benennungen von mächtigen Märchenwesen (14) und starken Raubtieren (15), (16), die eine äußerst positive und bewundernde Einstellung implizieren sollen, keine Überraschung dar. Ein weiterer Beleg (17) demonstriert Bewunderung bzw. drückt Respekt aus, wobei die genaue Bedeutung erst zusammen mit dem situativen Kontext eindeutig wird: Es geht um eine Andeutung bezüglich eines erfolgreichen Wettkampfs, bei dem das Geburtstagskind eine so gute Leistung brachte, dass sie in den Augen des Gratulanten zu einer Legende geworden ist. Es zeigt sich, wie stark emotionalisierend die Anredeformen wirken können - vor allem im passenden Kontext oder in der situativen Einrahmung können sie z. B. soziale Nähe oder Distanz markieren. Sie werden in den vorgefundenen Belegen nur selten mit anderen emotionsausdrückenden Konstruktion emotionaler Identität auf Facebook 87 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [93] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Vertextungsstrategien kombiniert und weisen deswegen ein hohes Emotionalisierungspotential 20 auf. Einer eigenen Analyse wert sind die kreativ gestalteten und originellen Glückwünsche, die meistens zu längeren, emotionsgeladenen und persönlichen Passagen werden. Sie beinhalten Hinweise auf gemeinsame Erlebnisse oder reflektieren die Vergangenheit bzw. die Zukunft, deren Kenntnis zu einem Bindeglied wird. Der nachfolgende Beleg kommt von einer Kommilitonin und langjährigen Freundin: (18) HAPPY BIRTHDAY liebste Franzi. Ich wünsche dir immer den leckersten kuchen, die größten luftballons und das bunteste konfetti für das ganze nächste jahr! und sollte das nicht klappen, dann halt wenigstens die gute laune im dauerabo! lass es dir gut gehen und bis bald.: D Nach dem englischen Glückwunsch in Versalien - was einen deutlichen Blickfang darstellt - folgt der erste Superlativ verbunden mit dem Vornamen der Geburtstagsperson. Die Aussage wird somit gleich zu Anfang persönlich. Weitere Superlative werden dann in hoher Frequenz mit prototypischen Gegenständen, die zum Geburtstag bzw. zu einer Feier gehören (Kuchen, Luftballons, Konfetti) kombiniert. Die Anhäufung von Superlativen (leckersten, größten, bunteste) wird noch durch Akzentuierung von zeitlicher Dimension (immer, ganze nächste Jahr) emotional verstärkt. 21 Interessant in diesem Beleg ist, dass die Autorin unmittelbar eine unangenehme Eventualität erwähnt (sollte das nicht klappen) und auch eine Lösung von negativen Umständen bietet. Dies wird durch ein superlativisch gebrauchtes Adverb (wenigstens) und mit dem Hinweis auf die zeitliche Ebene des Emotionsausdrucks realisiert. Es lassen sich auch hier die gewöhnlichen Mittel des Emotionsausdrucks in digitalen Medien 22 beobachten - emotionale Einstellungen in Form von Smileys aus Interpunktionszeichen und auch das Verzichten auf große Buchstaben bei den Substantiven. Eine persönliche Auswirkung weist auch die traditionelle Grußformel zu Ende auf. Sie signalisiert zusammen mit der Anredeform einen privaten Briefverkehr und unterliegt nicht dem Diktat der sozialen Medien, die diese Grußformeln fast eliminiert haben. 23 Der Beispieltext verbalisiert zukunftsbezogene Wünsche und auch die Möglichkeit, dass das Gewünschte nicht unbedingt in Erfüllung gehen muss. Des Weiteren werden einerseits prototypische Gegenstände (Luftballons, Konfetti usw.) thematisiert, die zum Geburtstag gehören, andererseits werden persönliche bzw. private Andeutungen gemacht, die auf langjährigen 20 Vgl. Schwarz-Friesel (2007: 6, 212). 21 Mehr zum Thema zeitliche Dimension beim Emotionsausdruck vgl. Pi š l (2012 a: 214 f.). 22 vgl. Pi š l (2012 b: 178 f.). 23 vgl. Albert (2013: 94). 88 Milan Pi š l Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [94] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Beziehungen basieren. Dies zeigt, dass ein durch soziale Netzwerke formulierter Geburtstagswunsch - im Gegensatz zu allen Voraussetzungen und kritischen Anmerkungen zu Facebook - keine nur primitiven Kurztexte produzieren muss. Der Kontrastivität der Analyse halber, wird auch ein derartiger, längerer Beleg aus dem Tschechischen gezeigt. Dank dem sehr ähnlichen kulturellregionalen Umfeld kann man erwarten, dass die sprachlichen Mittel in dieser sozialen Situation keine großen Unterschiede aufweisen werden. Dies gilt nur in begrenztem Maße, die Sprache zeigt, wie variabel sie im Bereich der Emotionslinguistik sein kann. Im präsentierten Beispieltext kommunizieren wieder gute und langjährige Freunde. (19) Tak ty starej ď áble, za chvíli budeme asi spole č n ě nacvi č ovat skoky do truhly; ) Tak ž e v š ecko nejlep š í se ž elá, kopec zdraví č ka a š t ě stí č ka, aby si je š t ě hromadu nevhodných a politicky nekorektních p ř ání dostal: ) (So du alter Teufel, in einer Weile werden wir vielleicht zusammen den Sprung in den Sarg üben; ) Also es wird alles Beste gewünscht, ein Hügel von Gesundheitchen und Glückchen und auch dass du einen Haufen von unpassenden und politisch inkorrekten Wünschen bekommst) In dem angeführten Beleg spielt schon die Anredeform eine zentrale Rolle, da sie eine enge Beziehung widerspiegelt. Die einleitende Passage thematisiert auf kreative und spezifische Art und Weise die Gleichaltrigkeit und den Aspekt des gemeinsamen Älter-Werdens und verwendet dabei die Formulierung, die auf schwarzem Humor basiert (nacvi č ovat skoky do truhly - den Sprung in den Sarg üben). Des Weiteren treten hier Diminutive auf, die jedoch zwei prototypische abstrakte Ereignisse verkleinern, wobei zugleich eine große Menge von beiden betont wird (kopec zdraví č ka a š t ě stí č ka - ein Hügel von Gesundheitchen und Glückchen). Dadurch wird eine (sprachlich unlogische) emotionale Einstellung zum Ausdruck gebracht. Da die Autoren einzigartig gratulieren möchten, suchen sie oft nach originellen Worteinheiten, wie im präsentierten Beleg - das tschechische Wort p ř át (wünschen) wird durch eine dialektale Variante ž ela ť (wünschen) ersetzt, die aus dem Slowakischen bzw. Mährischen kommt. Dieser Geburtstagsgruß beinhaltet in der Endpassage auch eine Art Reflexion des formulierten Textes - der Autor ist sich dessen bewusst, dass seine Andeutung über den Sarg vielleicht übertrieben war und mildert die Brisanz dieser Formulierung durch Bezeichnung der Wünsche als unpassend und politisch inkorrekt. Diese mildernde Sprechhaltung findet man in den sonstigen Beispieltexten selten, denn die Autoren scheinen in den anderen Beispieltexten von der sprachlichen Treffsicherheit und Angemessenheit ihrer Wünsche überzeugt zu sein. Zu den besonders stark emotional wirkenden Wünschen gehören haptische und akustische Hinweise. Ihr Auftreten lässt sich in beiden Sprachen gleichermaßen beobachten und sie verstärken das Emotionalisierungspoten- Konstruktion emotionaler Identität auf Facebook 89 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [95] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur zial des Textes. Es geht am häufigsten um einen Versuch, den körperlichen Kontakt des Umarmens bzw. Küssens zu verbalisieren. (20) Alles Gute wünsche ich Dir Stefan! Und Gottes Segen! Kuss und Umarmung an Dich! ♥ (21) Happy birthday to you, Marmelade im Schuh, Aprikose in der Hose, Happy birthday to you! Sei gedrückt! : -) (22) sluní č ko mé nejkrásn ě j š í, v š ecko nej nej, a´t jsi mi šť astná a veselá v ž ivot ě : ) cmuky (Mein schönster Sonnenschein, alles beste beste, sei mir glücklich und lustig im Leben: ) Schmatz) (23) Posíláme ti k narozeninám velikananánskou pusinku! (Wir schicken dir zum Geburtstag ein großes Küsschen) Es lässt sich beobachten, dass die Verfasser, die einen körperlichen Kontakt im Intim- und Nahbereich zum Ausdruck bringen, auch andere originelle bzw. einzigartige Ereignisse thematisieren. Überraschenderweise selten (nur Einzelbelege) kommt das Thema Gottes Segen (20), was vielleicht die Veränderungen im Wertesystem der heutigen Facebook-Benutzer widerspiegelt. Ähnlich selten kommen Großbuchstaben vor, die beispielsweise im klassischen Briefwechsel dem Ausdruck von Höflichkeit (Dir/ Dich) dienen. Auf der syntaktischen Ebene handelt es sich um Kurzaussagen, die entweder mit einem Ausrufezeichen oder Komma getrennt werden. Der emotionale Höhepunkt wird zu Ende des Geburtstagswunsches graphisch hervorgebracht. Es tauchen hier Emoticons kombiniert mit Ausrufezeichen (20) (21) oder mit dem verbalisierten Schmatzlaut (22) bzw. mit einer (gegensätzlichen) Verkleinerungsform (23) auf. Die somit entstandene, in einer logischen Bedeutungsopposition stehende Verbindung velikananánskou pusinku (großes Küsschen), wird im Tschechischen noch durch Silbenwiederholung- und -Dehnung bekräftigt. Es zeigt sich also, dass emotionale Steigerungen und entsprechende Sprachelemente oft kombiniert und am Ende positioniert werden und als emotionaler Endpunkt des gesamten Geburtstagswunsches dienen. Des Weiteren kommen in diesen Belegen auch traditionelle Mittel der Emotionslinguistik, wie Verkleinerungsformen von Abstrakta (sluní č ko - Sonnenschein), Superlative (nejkrásn ě j š í - schönste) oder auffällige und intensivierende Elemente (nej nej - beste beste) vor. Zu den Sprachmitteln, die die Aufmerksamkeit immer erhöhen, gehören gereimte Sequenzen. In (21) handelt es sich um eine Variante des Geburtstagsliedes „ Happy Birthday to you “ bzw. der deutschen Variante „ Zum Geburtstag viel Glück “ . In allen ausgewählten Beispielen erfüllt die körperliche Nähe die Rolle einer semantischen Dominante und steht im Zentrum des Emotionsausdrucks. Zusammenfassend kann man sagen: Wenn die sprachlichen Elemente mit intimen Handlungsvorgängen bzw. Sprechakten (küssen, umarmen, drücken) verbunden werden, entsteht die stärkste emotionale Konstellation, die eine besonders enge Beziehung zur Geburtstagsperson voraussetzt und signalisiert. 90 Milan Pi š l Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [96] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 5 Fazit Die (multi-) mediale Massenkommunikation prägt und beeinflusst seit einigen Jahren den zwischenmenschlichen - also auch emotionalen - Kontakt bzw. den Austausch von einem breiten Spektrum an Informationen. Die erfolgreiche Plattform von neuen Medien, zu denen Facebook ohne Zweifel gehört, verändert die Ausdrucksweise der jeweiligen Nutzer wesentlich. Dies spiegelt sich auch in den Konstruktionen der (individuellen) emotionalen Identität wider. Wenn man die Sprachelemente und Vertextungsstrategien, die sich sowohl am Ausdruck von Emotionen innerhalb eines Geburtstagswunsches als auch an der Konstruktion emotionaler Identität beteiligen, näher untersucht, kommt man zu folgenden Schlussfolgerungen: Von großer Bedeutung sind vor allem die verwendeten Anredeformen. Sie schaffen es, in einer knappen lexikalischen Einheit viel auszudrücken - Bewunderung, besondere Eigenschaften, sportliche Begabung oder auch interkulturelle Vorurteile und demonstrieren die sozialen und persönlichen Beziehungen zwischen den Kommunikationsteilnehmern. Zu den weiteren Aspekten der via Facebook realisierten Geburtstagswünsche gehören keine (oder keine strenge) Einhaltung von kodifizierten Sprachnormen, Versuche der Nachahmung mündlicher Sprache bzw. von Gesang, oder die häufige Aktualisierung üblicher und klischeehafter Sprachmittel durch Fremdsprachen, Umgangssprache, persönliche Anredeformen oder Thematisierung des nahen Körperkontakts. Des Weiteren kommen zahlreiche Belege vor, in denen sprachliche Experimente, Kreativität und Suche nach Originalität und Einzigartigkeit beobachtet werden können. Die Wahl der jeweiligen Ausdrucksmittel entspricht den sozialen Gewohnheiten und der Beziehung zwischen Absender und Empfänger. Im Hinblick darauf, dass sich gesellschaftlich motivierte Kommunikationssituationen im vertraulichen Kontakt oft wiederholen (und Geburtstagswünsche stellen keine Ausnahme dar), haben sich für diese Kommunikationsabsichten bestimmte Regeln gefestigt: Je freundlicher die Beziehung ist, desto mehr stilistische Abweichungen sind möglich. Im Gegensatz dazu führt eine offizielle Beziehung zum Adressaten zur Verwendung stärker gefestigter und konventionalisierter Höflichkeitsformeln. In dieser Perspektive können also stilistische Abweichungen wie Kreativität, Originalität und persönliche Andeutungen als markante Faktoren betrachtet werden, die bei der Konstituierung der (gegenseitigen) emotionalen Identität eine bedeutende Rolle spielen. Facebook wird oft wegen der Entpersonalisierung kritisiert: Man hat genug von den Semi- und Quasi-Emotionen, die man von virtuellen Facebook-Freunden bekommt. In diese Sphäre gehören auch die untersuchten Beiträge zu den Geburtstagswünschen - es wird oft kritisiert, dass Facebook die jeweiligen Pop-Ups ziemlich aggressiv präsentiert, sogar mit einer Auf- Konstruktion emotionaler Identität auf Facebook 91 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [97] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur forderung und einem direkten Link zum jeweiligen persönlichen Profil. Auch das verursachte Verhalten (Formulierung eines Geburtstagstextes) unterliegt einer gewissen Kritik - ohne es durch Facebook erfahren zu haben, dass jemand aus dem Freundeskreis Geburtstag feiert, würden deutlich weniger Wünsche, und auch mittels unterschiedlicher Kommunikationskanäle auftauchen. Die Analyse hat gezeigt, dass soziale Netzwerke geeignetes Material zu Untersuchungen von Gefühlsausdrücken und von emotionaler Identität liefern. Facebook ist eine neue Darbietungsmodalität, die den Ausdruck von Gefühlskonstellationen im sozialen Kontext kulturübergreifend modifiziert, verstärkt und wesentlich gestaltet. Es ist allerdings ohne Zweifel noch eine weitere und tiefgehende Erforschung von Texten aus dem Bereich der modernen digitalen Medien notwendig, um die aktuellen Tendenzen sowohl in der medialen Kommunikation als auch in der Emotionslinguistik und im Rahmen der Konstruktion emotionaler Identität erörtern zu können. Bibliographie Georg Albert, Innovative Schriftlichkeit in digitalen Texten. Syntaktische Variation und stilistische Differenzierung in Chat und Forum, Berlin 2013. Jakob Arnim-Ellissen/ Thomas Kreiml/ Hans Voigt et al. Soziale Bewegungen und Social Media, Wien 2011. Zugänglich unter URL1. Paul Ekman, Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, München 2010. Felix Holzapfel, Facebook - Marketing unter Freunden: Dialog statt plumpe Werbung, Göttingen 2011. Constanze Kurz/ Frank Rieger, Die Datenfresser. Wie Internetfirmen und Staat sich unsere persönlichen Daten einverleiben und wie wir die Kontrolle darüber zurückerlangen, Frankfurt am Main 2011 Zugänglich unter: http: / / datenfresser. info/ Daniel Miller, Das wilde Netzwerk: ein ethnologischer Blick auf Facebook, Berlin 2012. Martin Mostýn, Emotionalisierung in der deutschen und tschechischen Sportberichterstattung, in: Lenka Va ň ková et al. (Hrsg.), Emotionalität in deutschen und tschechischen Medientexten, Ostrava 2012, S. 91 - 122. Milan Pi š l, Ausdruck von Emotionen in den gegenwärtigen deutschen Dramentexten, Ostrava 2012 a. Milan Pi š l, Facebook und Emotionen, in: Lenka Va ň ková et al. (Hrsg.), Emotionalität in deutschen und tschechischen Medientexten, Ostrava 2012 b, S. 177 - 198. Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, Tübingen 2007. Stefan Schwarz, Emotionen und Identität in der modernen Gesellschaft: Eine emotionssoziologische Betrachtung der Bedeutung der Emotionen zur Identitätsfindung, Hohenheim 2000. Johannes Schwitalla, Kommunikative Funktionen von Sprecher- und Adressatennamen in Gesprächen, in: Nicolas Pepin/ Elwys De Stefani (Hrsg.), Eigennamen in der gesprochenen Sprache, Tübingen 2010, S. 179 - 199. Lenka Va ň ková/ Norbert Richard Wolf (Hrsg.), Aspekte der Emotionslinguistik, Ostrava 2010. 92 Milan Pi š l Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [98] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Internetquellen URL1: http: / / www.sozialbewegungen.org (letzter Zugriff am 11. 9. 2014). URL2: http: / / www.jugendundmedien.ch/ chancen-und-gefahren/ soziale-netzwerke. html (letzter Zugriff am 24. 9. 2014). URL3: http: / / www.socialmediastatistik.de/ category/ facebook/ (letzter Zugriff am 3. 10. 2014). URL4: http: / / www.ronny-siegel.de/ wp-content/ uploads/ 2013/ 09/ geburtstagsgrussper.png (letzter Zugriff am 22. 9. 2014). URL5: http: / / www.cyberemotions.eu/ (letzter Zugriff am 17. 9. 2014). URL 6: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Facebook (letzter Zugriff am 21. 10. 2014). DUDEN - DUDEN. Online. (www.duden.de) DWDS - Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (www.dwds.de) Konstruktion emotionaler Identität auf Facebook 93 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [99] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Alexa Mathias „ Volk, Familie, Vaterland “ 1 Korpuslinguistische Befunde zur Eigengruppenidentität rechtsextremer Jugendsubkulturen in Liedtexten der rechtsextremen Musikszene in Deutschland 1 Einleitung Es scheint ein für unsere Zeit typisches Phänomen zu sein, dass politischextremistische oder auch religiös-fundamentalistische Weisen der Weltsicht ihren Impetus nicht ausschließlich aus Desiderata der Welterklärung und des Entwurfs problemlösender Konzepte für die soziale Umgebung eines Individuums oder einer Gruppe beziehen. Viel deutet darauf hin, dass die Überzeugungskraft solcher Ideologien gegenüber ihren häufig noch jungen Aspiranten und prospektiven Anhängern sich vielmehr in hohem Maße erklärt aus dem Bedürfnis vieler Jugendlicher und junger Erwachsener nach der Entwicklung und Bewahrung einer möglichst kohärenten, in sich konsistenten und (vermeintlich) stabilen Eigen- und sozialen Identität in einer Lebensphase, in der die entsprechende entwicklungspsychologische Notwendigkeit hierzu besteht, und dies vor dem Hintergrund einer Welt, die sich für viele junge Menschen alles andere als geeignet präsentiert, ein solch stabiles und kohärentes Selbstkonzept und eine entsprechende soziale Identität zu entwickeln. Beobachten wir in vielen Ländern derzeit, wie Jugendliche, deren soziale Integration in Gesellschaften mit freiheitlich-demokratischem Wertesystem westlicher Prägung aus einer Reihe von Gründen als defizitär oder gar gescheitert betrachtet werden muss, eine geistige und psychologische Heimat in vorgeblich religiös motivierten fundamentalistisch-islamistischen Bewegungen finden, so verweisen im Bereich der Politik Wahlergebnisse in der Europäischen Union (so z. B. 2014) auf den rhetorischen Erfolg nationalistischer, rechtspopulistischer bis hin zu offen rechtsextremistischer Gruppierungen und ihrer Gesinnung in Deutschland und Europa. Nun sind es allerdings weniger die politischen Parteien und ihre Aktivitäten, die von nach Orientierung suchenden Jugendlichen als Bezugspunkt betrachtet werden, auch wenn sich im rechtsextremen politischen Spektrum beispielsweise die „ Jungen Nationaldemokraten “ (JN) als Jugendorganisation der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) inten- 1 HKR, Aryan Brotherhood: Sturm über Europa. Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [100] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur siv um die junge Generation als potentiellen Parteinachwuchs bemühen. In der Regel sind es Peer Groups aus der unmittelbaren sozialen Umgebung der Jugendlichen, die im Zuge ihres Sozialisierungsprozesses die Orientierungsfelder Familie und Schule ablösen und in dieser Lebensphase zur identitätsstiftenden Instanz werden. Der hier vorgelegte Beitrag stellt daher erste Ergebnisse einer korpuslinguistischen Untersuchung vor, die sich vor der Matrix eines sozialpsychologischen Ansatzes, nämlich Tajfels (1974) und Tajfel & Turners (1979) Sozialer Identitätstheorie vollzieht. Als Datenbasis dient ein weiter unten vorgestelltes Korpus von Liedtexten rechtsextremer Bands und Solointerpreten, deren Musik und Texte eine wichtige Funktion in der Bildung und Kohäsion von jugendlichen Peer-Groups in der rechtsextremen Szene der Bundesrepublik Deutschland übernehmen. 2 Sozialpsychologische Rahmenlegung 2.1 Peer Groups als soziale und emotionale Bezugsentitäten für die Identitätsbildung Jugendlicher Als Peer Groups sind ganz allgemein kleinere soziale Einheiten im Sinne von (auch: subkulturellen) 1 Gruppen zu verstehen, deren Präferenzen und Wertsetzungen für Individuen als einstellungs- und handlungsleitend betrachtet werden. Für Jugendliche spielen Faktoren der Identifikation mit der Peer Group als präferierter Zielinstanz eine ebenso bedeutende Rolle wie die Abgrenzung von bisherigen Orientierungsinstanzen, vor allem dem Elternhaus. Brunner verweist resümierend auf den Einfluss von subkulturellen Peer Groups auf den Sozialisationsprozess junger Menschen: „ Jugendliche sozialisieren sich selbst durch Sympathie mit bestimmten Kulturen, denen sie möglicherweise angehören wollen “ . 2 Entsprechend der Sozialen Identitätstheorie von Tajfel (1974) und Tajfel/ Turner (1979) konstituieren sich diese Gruppen entsprechend sozialkategorialer Parameter, Auffassungen und Wertsetzungen, die von ihren Mitgliedern als gemeinsam geteilt und zustimmungsfähig betrachtet werden: 1 Unter Subkulturen verstehe ich mit Clarke „ Subsysteme der dominanten Stammkultur [. . . , die] eine so eigenständige Gestalt und Struktur aufweisen [. . .], dass sie als von ihrer Stammkultur verschieden identifizierbar sind. [. . .] Da sie aber Subsysteme sind, muss es auch signifikante Dinge geben, die sie mit der Stammkultur verbinden “ (Clarke/ Hall/ Jefferson/ Roberts 1981: 45 f.). Lipp versteht sie entsprechend als „ Teilkulturen, die in das übergeordnete soziale System weitgehend integriert sind “ (Lipp 1987: 196), jedoch „ Normenordnungen aufweisen, die vom Wertgefüge, den institutionellen Prämissen und Rollenerwartungen der Gesamtkultur abweichen “ (ebd.). 2 Brunner (2007: 10). „ Volk, Familie, Vaterland “ 95 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [101] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur We can conceptualize a group, in this sense, as a collection of individuals who perceive themselves to be members of the same social category, share some emotional involvement in this common definition of themselves, and achieve some degree of social consensus about the evaluation of their group and of their membership of it. 3 Dabei seien, so die Autoren, die für die Gruppe charakteristischen Kategorien keine definitorischen Merkmale, vielmehr reiche es aus, dass sie von den Mitgliedern als Standards für gesellschaftliche Klassifikation und soziales Handeln betrachtet würden. Die Eigenidentität der Gruppenmitglieder leite sich daher aus der Gruppenidentität ab, nicht umgekehrt. 4 Eine vergleichbare Auffassung vertritt auch Searle im Rahmen seiner Theorie zur Ontologie sozialer Tatsachen. 5 Die Gruppe stellt somit die Konstituenten zur Verfügung, die von einem Individuum in Hinblick auf die von Ortner in dem hier vorgelegten Band referierten Faktoren der Identitätsbildung als maßgeblich betrachtet werden. Diese Gruppen und ihre Merkmale und Wertsetzungen dienen ihren Mitgliedern als identitätsstiftender Bezugsrahmen; ihr individuelles Denken und Handeln leitet sich aus dem Wertesystem der Bezugsgruppe ab, da zu starke Abweichungen zur sozialen Ausgrenzung führen würden. 6 Wie extremistische Ideologien mit totalitärem Geltungsanspruch im Allgemeinen 7 zeichnet sich das rechtsextreme Weltbild durch eine binäre und evaluative Konstituentenstruktur aus (vulgo: „ Schwarz-Weiß-Denken “ ), das sich auf sozialer Ebene in einem ausgeprägtem Freund-Feind-Schema niederschlägt. Die rechtsextreme Auffassung von gesellschaftlicher Gliederung lässt sich durch die in Tajfels (1974) und Tajfel/ Turners (1979) Sozialen Identitätstheorie angelegte Eigen-/ Fremdgruppen-Dichotomie daher gut und passend beschreiben. Soziale Gemeinschaften können diesem Ansatz zufolge mittels einer Komplementärstruktur beschrieben werden, die sich durch eine von ihren Mitgliedern positiv konnotierte Eigengruppe (Ingroup) und eine feindliche, negativ konnotierte Fremdgruppe (Outgroup) auszeichnet. Im Folgenden werden die Anhänger der rechtsextremen Ideologie als rechtsextreme Eigengruppe bezeichnet. Ihr werden alle diejenigen Mitglieder einer Gesellschaft zugerechnet, die den einschlägigen Konstituenten rechts- 3 Tajfel & Turner (1979: 40). Übersetzung durch mich, A. M.: „ Wir können uns eine Gruppe in diesem Sinne als eine Ansammlung von Individuen vorstellen, die sich selbst als Mitglieder derselben gesellschaftlichen Kategorie betrachten und sich dieser durch eine emotionale Beteiligung verbunden fühlen. Hinsichtlich der Wertsetzungen der Gruppe und hinsichtlich der Identifikation mit den gemeinsam geteilten Ansichten besteht bei den Gruppenmitgliedern ein hoher Grad an Zustimmung und Konsens. “ 4 Vgl. ebd. 5 Searle (2011: 34). 6 Vgl. Tajfel (1974) sowie Tajfel & Turner (1979). 7 Zur theoretischen Rahmenlegung von Ideologien vgl. Topitsch/ Salamun (1971). 96 Alexa Mathias Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [102] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur extremer Ideologie (Ideologeme des Rechtsextremismus) zustimmen, entsprechende Auffassungen bewusst vertreten und sich mit ihnen identifizieren. Dazu zählen grosso modo antiegalitäre Auffassungen in Bezug auf soziale Kategorien wie Ethnie, Nation oder biologistischer Rassevorstellungen, damit verbunden Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus/ Antijudaismus, Antipluralismus und chauvinistische Geschlechterrollenbilder. Des Weiteren zeichnet sich die rechtsextreme Eigengruppe i. d. R. durch ein revisionistisches Geschichtsbild aus sowie durch einen ausgeprägten Dogmatismus, daraus folgend ein autoritäres Missionsbewusstsein, absolute bis totalitäre Geltungsansprüche in Hinblick auf die eigene Ideologie bis hin zur Befürwortung einer totalitären Staatsstruktur. 8 Als Fremdgruppe müssen aus rechtsextremer Perspektive entsprechend alle diejenigen Menschen gelten, die einem Feindbild entsprechend der rechtsextremen Ideologie und ihrer Wertsetzungen angehören (z. B. Migranten, Dunkelhäutige, politisch links Stehende, Juden, Roma/ Sinti, Homosexuelle, aber auch ausgeprägt religiöse Menschen, Menschen mit sozialen Problemen, in jüngerer Zeit im Zuge der Übernahme und Adaption traditioneller linker Ideologeme in die rechte Ideologie auch Vertreter von Großkapital und Wirtschaftsmacht u. v. a. m.). 9 2.2 Die Funktion von Musikpräferenzen und Musikrezeption im Zusammenhang mit rechtsextremen Peer Groups Für den ersten Kontakt Jugendlicher mit der rechtsextremen Szene spielen lokale Peer Groups, die den Jugendlichen attraktiv erscheinen, eine wichtige Rolle, wie Interviews mit (ehemaligen) Mitgliedern der rechtsextremen Szene in Deutschland zeigen. 10 Hierbei stehen häufig gemeinsam geteilte Musikpräferenzen im Vordergrund. Die unterschiedlichen Musikstile verleihen dem Lebensgefühl der Jugendlichen und der verschiedenen Subkulturen, denen sie sich zugehörig fühlen, Ausdruck und sind für die Identitätskonstruktion der jeweiligen Peer Groups und ihrer Mitglieder von erheblicher Bedeutung. So resümiert Wörner-Schappert im Rahmen seiner Untersuchung zu rechtsextremen Jugendkulturen die Funktion rechtsextremer Musik bei der Konstitution sozialer Identitäten in jugendlichen Peergroups: Zusammen mit Dresscodes und Symbolik sind Musikstile elementarer Bestandteil jugendlicher Lebenswelten und Szenen. Sie bieten in der jugendlichen Orientierungsphase Identifikationsmöglichkeiten und ermöglichen sowohl den Ausdruck 8 Zum Rechtsextremismus und seinem Ideologemspektrum vgl. exemplarisch die Überblicksdarstellungen von Pfahl-Traughber ( 4 2006) sowie Jaschke (2006). 9 Eine umfassende Analyse von Feindbildern in rechtsextremen Liedtexten findet sich in Mathias 2014 (Publikation in Vorbereitung). 10 Vgl. hierzu Koch/ Pfeiffer (2009) oder auch Mathias/ Nehm (2007). „ Volk, Familie, Vaterland “ 97 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [103] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur eigener Identität als auch die Abgrenzung von der Erwachsenenwelt und anderen Gruppen. 11 Im Zusammenhang mit kollektiven Rezeptionssituationen rechtsextremer Musik durch junge Menschen unterstreicht Brunner „ die Anerkennung durch Gleichaltrige oder auch junge Erwachsene, hier [. . .] durch Bezugspersonen aus der rechten Szene, etwas für den Besuch von ‚ richtigen ‘ Konzerten oder das Hören entsprechender Musik “ . 12 In der rechtsextremen Szene hat sich das Spektrum musikalischer Stilrichtungen und der mit ihnen assoziierbaren Subkulturen in den letzten dreißig Jahren - ausgehend von ihren Wurzeln im politisch linksorientierten Punkrock der Siebzigerjahre und dessen Rechtsruck zum sogenannten „ Rechtsrock “ , der heute noch als Kollektivbezeichnung für rechtsextreme Musik fungiert - breit aufgefächert und deckt mittlerweile nahezu alle musikalischen Stilrichtungen und jugendlichen Subkulturen ab, die auch sonst in Gesellschaft und Populärmusik aufzufinden sind. Diese Auffächerung ist dem Umstand geschuldet, dass rechtsextreme Ideologie nicht mehr nur die augenscheinliche Domäne einer ausschließlich männlich geprägten neonazistischen Subkultur ist, welche ihr provokatives Auftreten durch das lautstarke Grölen (nach bundesdeutschem Recht strafbarer) rassistischer Hasstiraden, häufig unter dem Einfluss exzessiven Alkoholkonsums, und mittels einer Uniformierung mit einschlägiger Bekleidung und kahlrasiertem Schädel sowie durch eine demonstrative Bereitschaft zur Anwendung physischer Gewalt zur Schau trägt. Vielmehr hat sich eine bis dahin eher unterschwellige Prävalenz konstitutiver Elemente der rechtsextremen Ideologie in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Subkulturen dahingehend Bahn gebrochen, dass das Bekenntnis zu ihnen auch in anderen Subkulturen als der martialischen neonazistischen Skinhead-Bewegung zustimmungsfähig wurde. Die sogenannten „ Mitte-Studien “ , die in zweijährigen Abständen im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt werden, legen davon Zeugnis ab, dass rechtsextreme Ideologeme sogar in den Einstellungen der sogenannten bürgerlichen Mitte der Gesellschaft weit verbreitet sind. 13 Sie finden sich gleichermaßen unter Jugendlichen stilistisch ganz unterschiedlicher Subkulturen wieder. 14 Wie im Falle des frühen, politisch links orientierten Punkrock in den Siebzigerjahren, der später durch die neonazistische Skinhead-Bewegung genutzt wurde, findet man Vertreter rechtsextremer Gesinnung mittlerweile auch in zahlreichen anderen Subkulturen und ihren präferierten musikalischen Stilrichtungen, und dies sogar in Musikszenen, deren Genese den vertrauten Ideologemen des Rechtsextremismus auf den ersten Blick entgegenstehen, wie z. B. dem Reggae 11 Wörner-Schappert (2007: 98). 12 Brunner (2007: 4 f.). 13 Decker et al. (2005, 2008, 2010, 2012). 14 Vgl. hierzu Homm (2007), Klose et al. (2007). 98 Alexa Mathias Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [104] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur oder seit einigen Jahren dem HipHop als genuin karibisch bzw. afroamerikanischen Musikrichtungen. Jedoch auch „ gutbürgerliche “ Szenen, die ihren Ausdruck in Folk, Schlager oder volkstümlichen Balladen im Singer/ Songwriterstil finden, stellen einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der rechtsextremen Musikproduktion. 15 Das Spektrum von Angeboten zur Identitätsstiftung und zur Lebensgestaltung im Sinne rechtsextremer Ideologie ist folglich sehr breit aufgestellt. Die Ursache für diese Verbreiterung des subkulturellen Spektrums sehen Klose et al. darin, dass die Jugendlichen, die sich „ von rechtsextremen Inhalten angezogen fühlten, sich [. . .] nicht auf bestimmte [. . .] jugendkulturelle Ausdrucksformen festlegen lassen wollten “ . 16 Der Vorteil, den die rechtsextreme Propaganda aus dieser subkulturellen Diversifikation zieht, ist, dass die ideologischen Inhalte, die mithilfe der Texte kommuniziert werden, breiteren Schichten der jugendlichen Bevölkerung zugänglich gemacht werden können. Dies zeigte u. a. die kostenlose Verteilung der sogenannten „ Schulhof-CDs “ : Hierbei handelte es sich um Sampler mit Liedern ganz unterschiedlicher rechtsextremer Bands und Solo-Interpret/ innen, deren Texte die jugendliche Zielgruppe für rechtsextreme Inhalte interessieren sollten. Bei dieser „ PR-Maßnahme “ handelte es sich zunächst um die Eigeninitiative einer Freien Kameradschaft im Vorfeld der nordrhein-westfälischen Landtagswahlen 2004. Weitere Aktionen dieser Art hatten bereits die Unterstützung durch die NPD und richteten sich gezielt auf die Gewinnung der jungen Menschen als potentielle Jungwähler und Jungwählerinnen. 3 Korpuslinguistische Untersuchung rechtsextremer Liedtexte Unter anderem diese Verteilungsaktion gab den Anlass zu einem von 2006 bis 2010 von der DFG geförderten Forschungsprojekt an der Leibniz Universität Hannover. Unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Schlobinski und Prof. Dr. Michael Tewes wurde auf Basis der Datenbank Rechtsextremismus (DAREX) des Bundeskriminalamtes und des Paderborner Korpus ein Korpus aus gut 5500 Texten deutschsprachigen rechtsextremen und zumeist juristisch indizierten Liedgutes erstellt und systematisch zu unterschiedlichen Aspekten aus sprachwissenschaftlicher Perspektive mit korpuslinguistischen Metho- 15 Von den zahlreichen Untersuchungen zum Phänomen „ Rechtsrock “ , seinen stilistischen Ausprägungen und den Strategien seiner Vermarktung sei hier exemplarisch auf die einschlägigen Sammelbände von Farin/ Flad (2001) sowie Dornbusch/ Raabe (2002) verwiesen, die einen guten einführenden und umfassenden Überblick geben und als Standardwerke zu diesem Thema betrachtet werden können. 16 Klose et al. (2007: 2). „ Volk, Familie, Vaterland “ 99 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [105] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur den in Hinblick auf Lexik und Argumentationsstrukturen beforscht. 17 Die Texte dieses Hannoveraner Korpus „ Rechtsextremismus “ (HKR) liegen der weiter unten dargestellten Untersuchung zur Eigenidentität rechtsextremer Jugendsubkulturen und der von ihnen präferierten Musikszenen zugrunde. Auf Basis sprachlicher Äußerungen in den Liedtexten sollen Aspekte der jeweiligen Eigenidentität verschiedener Subkulturen innerhalb der rechtsextremen Musikszene eingehender betrachtet werden. Da dieser Analyseschwerpunkt noch am Anfang steht, müssen die hier vorgestellten Ergebnisse notwendigerweise vorläufig und exemplarisch bleiben. Der Schwerpunkt wird hier zunächst auf die Thematisierung 18 gruppenspezifischer Affektpräferenzen gelegt, wie sie aus den im Korpus belegten Texten ermittelbar sind und die als Elemente der Gruppenkonstitution fungieren. 19 Die Befunde wären in einem nachfolgenden Schritt einzubinden in entsprechende theoretische Rahmenlegungen zur Identitätskonstruktion, wobei aufgrund der sozialen Rahmenbedingungen (z. B. Rezeptionssituation u. a.), 20 sozialpsychologischen Momenten Vorrang vor individualpsychologischen Aspekten eingeräumt werden sollte. 21 Die oben referierte Unterscheidung zwischen rechtsextremer Eigengruppe und feindlicher Fremdgruppe entsprechend dem Tajfel ’ schen Paradigma kann als ein erstes Klassifikationsraster an das hier untersuchte Textkorpus angelegt werden, da sämtliche Liedtexte inhaltlich/ thematisch entweder der Darstellung der Eigengruppe und ihrer ideellen und lebensweltlichen Präferenzen oder aber der (i. d. R. verunglimpfenden) Darstellung der und evaluierenden Aussagen über die als feindlich betrachteten Fremdgruppe(n) zugeordnet werden können - in vielen Belegen werden auch beide Kategorien innerhalb ein und desselben Textes realisiert. Für die Darstellung der Feindbilder im HKR sei verwiesen auf die Publikationen von Mathias (2012, 2013, 2014). Die rechtsextreme Eigengruppe wird - bei aller stilistischer Binnendifferenzierung der Szene - zusammengehalten durch ein hohes Maß an Übereinstimmung hinsichtlich der Wertsetzungen rechtsextremer Ideologie. In ihrer internen Strukturierung weist sie jedoch das bereits oben dargestellte Spektrum gesellschaftlicher Gruppen bzw. Subkulturen und deren Lebensstile auf. Entsprechende Varianzen zeigen sich am Beispiel der Musikszenen durch die jeweils präferierten Musikstile, aber auch durch die Selbstdarstellung innerhalb der Liedtexte. Für die differenzierende Beschreibung 17 Vgl. u. a. Jäckel (2009), Mathias (2012, 2013, 2014), Mathias/ Schlobinski (2010). Zur Darstellung des methodischen Vorgehens siehe dort, ausführlich und detailliert v. a. in Mathias 2014 in der Einleitung zu Abschnitt III. 18 Vgl. Fiehler im vorliegenden Band. 19 Vgl. Beiträge von Fiehler bzw. Ortner im vorliegenden Band. 20 Vgl. hierzu Brunner (2007). 21 Hierzu vgl. ausführlicher Mathias (2014). 100 Alexa Mathias Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [106] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur dieser unterschiedlichen Einstellungen und Präferenzen lassen sich aus dem zugrunde liegenden Textkorpus „ HKR “ folgende induktiv ermittelte Kriterien ermitteln: - Gesellschaftliche Positionierung: hinsichtlich der Bereiche „ Staat & Politik “ , „ Umgebungsgesellschaft “ (inklusive Kultur und Brauchtum, Sozialkategorisierung sowie Genderaspekte: Frauenbild & Männlichkeitskonstrukte), „ Familie “ (mit Schnittstelle zum Unterpunkt „ Gender “ ), gesellschaftliche Handlungsoptionen. - Historische Bezugnahmen: hinsichtlich bestimmter Epochen der deutschen und europäischen Geschichte (z. B. germanische Frühzeit, Vormärz, Nationalsozialismus), die in unterschiedlichem Maße betont und bewertet werden. - Codes und Habitus: Subkulturtypische Nutzung von symbolischen und indexikalischen Repräsentationsmodi wie Kleidung, Körpergestaltung, Mythen, Musikstile, Lifestyle und Affektpräferenzen. Als ein weiterer Aspekt können ferner evaluative Stellungnahmen angesetzt werden, mittels derer die einzelnen Vertreter der jeweiligen Beschreibungskriterien durch die unterschiedlichen Subkulturen bewertet werden. Berücksichtigt werden muss zudem, dass die hier angelegten Klassifikationskriterien Schnittstellen untereinander bilden und bis auf Weiteres nur als erstes heuristisches Werkzeug dienen, welches im weiteren Verlauf der erst begonnenen Untersuchung zu diesem Forschungsaspekt in eine differenziertere und aus soziologischer Perspektive theoretisch stärker fundierte Kategorisierung überführt werden muss. Aus linguistischer Perspektive werden die für die rechtsextreme Eigengruppe konstitutiven Ideologeme lexikalisch repräsentiert. 22 Diese lexikalischen Repräsentanten können vor dem Hintergrund und unter Einbezug ihres Ko- und Kontextes in inhaltsbezogene, onomasiologisch strukturierte Wortfelder 23 gruppiert werden. Die so ermittelten Wortfelder enthalten nicht nur die sprachlichen Repräsentanten zentraler Schlüsselbegriffe des Rechtsextremismus (z. B. [deutsche] Nation, Vaterland, [deutsches] Volk), sondern auch Einheiten, die von der betreffenden Sprechergruppe als konstitutiv für ihr Selbstverständnis und ihre ideologieaffine Identität betrachtet werden (z. B. Deutscher, Ehre, weiß, Zusammenhalt). Für die semantische Beurteilung der im Korpus belegten Lexeme bzw. umfassenderer lexematischer Strukturen und ihrer Zuordnung zum Archifeld „ Selbstbild der rechtsextremen Eigengrup- 22 Das für die Beschreibung der Relation zwischen Weltbild und Lexik angelegte Schema siehe Mathias/ Schlobinski (2010: 81); erweiterte Version des Schemas in Mathias (Dissertation 2014; Publikation in Vorbereitung). 23 Die Klassifikation in Wortfelder orientiert sich methodisch an Dornseiff ( 8 2004) sowie an den Arbeiten von Hortzitz (1988 & 2005); zur ausführlichen Begründung dieses Verfahrens vgl. Mathias (2014, Abschnitt II.2.3.2) „ Volk, Familie, Vaterland “ 101 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [107] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur pe “ mit seinen taxonomisch untergeordneten Hypofeldern (z. B. unterschiedlichen Subkulturen) ist, wie schon erwähnt, die Betrachtung nicht nur des außersprachlichen - hier: ideologischen - Kontextes, sondern auch des sprachlichen Kotexts der lexematischen Einheiten zwingend erforderlich. So können die Farbadjektive rot und schwarz beispielsweise auf die Symbolik des politischen Feindes von links bzw. die Hautfarbe rassistisch motivierter Feindbilder verweisen oder aber als Konstituenten der Apposition schwarzweiß-rot fungieren, die auf die Fahne als Symbol der rechtsextremen Eigengruppe rekurriert. Für das substantivische Simplex Volk ist mit Blick auf kollozierte Adjektive oder anderweitige Attribute zu entscheiden, ob es beispielsweise auf das jüdische Volk bzw. das Volk der Juden als Feindbild oder auf das deutsche/ arische/ nordische Volk als eine identitätsbildende Konstituente des Selbstbild der rechtsextremen Eigengruppe referiert. Des Weiteren ist der Wortformenbestand des Korpus auf mögliche metaphorische Bezugnahmen zu untersuchen und entsprechend zu disambiguieren. 24 Im Zuge der Klassifikation des Wortformenbestands nach Maßgabe der weiter oben aufgeführten gesellschaftlich relevanten Kategorien kann festgestellt werden, dass nicht alle Einträge für die rechtsextreme Eigengruppe als eine homogene soziale Gruppe relevant sind, sondern auf ihre subkulturelle Heterogenität verweisen. Dies verweist auf das - nicht nur quantitativstatistisch zu lösende! - Problem, wie viel Abweichung von Kriterien, die für eine sozialen Gruppe (oder gar einer größeren Gemeinschaft) als konstitutiv erachtet werden, möglich ist, um soziale Einheiten auf der nächstniedrigen Stufe noch als dieser Gruppe/ Gemeinschaft zugehörend einzustufen oder eben nicht mehr. Da diesem Problem hier aus Platzgründen nicht erschöpfend nachgegangen werden kann, seien diejenigen Lexeme, die auf einschlägige und in der politischen Theorie ausschöpfend behandelte Ideologeme des Rechtsextremismus verweisen, als eine Minimalanforderung an Konstituenten einer rechtsextremen Eigengruppenidentität betrachtet, durch die alle subkulturellen Varianzen überdachend zusammengehalten werden. Hierbei handelt es sich um Wortfeldmitglieder wie z. B. deutsch, Blut, Heimat, Nation, Patriot, Rasse, rechtsextrem, Vaterland, Volk, weiß bzw. arisch u. a., die natürlich nicht vollzählig in jedem einzelnen Liedtext belegt sind oder auf deren Konzepte teilweise auch nur durch Synonyme zu diesen Lexemen referiert wird. Diese Feldeinträge entstammen zumeist der o. a. Kategorie „ Gesellschaftliche Positionierung “ ; in etwas geringerem Umfang auch den „ Historischen Bezugnahmen “ (denen nicht von allen rechtsextremen Gruppierungen in gleich hohem Maße lebensweltliche Bedeutung zugeschrieben wird). Neben diesen ideologematischen Einträgen sind im Korpus eine Vielzahl anderer konzeptueller Konstituenten lexikalisch belegt, die zu diesen einschlägigen Ideologemen hinzutreten und von Subkultur zu Subkultur variieren. Dies betrifft natürlich im Wesentlichen die Kategorie „ Codes 24 Vgl. Dissertation Mathias (2014, Publikation in Vorbereitung). 102 Alexa Mathias Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [108] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur und Habitus “ . Besonders klar tritt dies im Falle der Skinheadszene zutage. Zur Veranschaulichung des bis hier Gesagten seien einige Beispiele aus dem Textkorpus betrachtet, deren Interpreten (und entsprechend auch die meisten ihrer Rezipienten) aus zwei recht unterschiedlichen Subkulturen entstammen. Zunächst seien Textbeispiele aus der Skinheadszene präsentiert, im Anschluss werden einige Liedtexte erläutert, die identifikationsstiftende Elemente der immer größer werdenden Gruppe sehr bürgerlicher (teilweise ausgeprägt traditionalistischer) jugendlicher Rechtsextremer dokumentieren. 3.1 Beispiel 1: Die Subkultur der Skinheads Die Subkultur der Skinheads ist wohl diejenige Jugendkultur, die in der Öffentlichkeit am ehesten als geradezu prototypisch für Vertreter einer rechtsextremen Einstellung wahrgenommen wird. Liegen die Wurzeln dieser Subkultur und ihrer szenetypischen Codes wie „ Haarschnitt “ (nämlich Glatze) und Bekleidung (vor allem „ Boots and Braces “ - Springerstiefel und Hosenträger) ursprünglich in einer Jugendkultur der britischen Arbeiterklasse Mitte des 20. Jahrhunderts, 25 so wurden - wie häufig bei jugendlichen Subkulturen - die Ausdrucksformen dieser Jugendszene von neonazistischen Gruppen übernommen. Nicht zuletzt unter Einfluss der politischen Positionierung der Identifikationsfigur Ian Stuart Donaldson als Frontmann der britischen Band Skrewdriver prägten Selbstbild, Habitus und Ausdruckscodes der Skinheads lange Zeit die rechtsextremen Jugendszenen europa- und sogar weltweit (v. a. USA). In den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts war jugendlicher Rechtsextremismus weitgehend synonym mit der neonazistischen Einstellung der neuen Skinheadbewegung. Diese Szene hat sich zwar bis heute erhalten, ist vielfach noch in den sogenannten „ Freien Kameradschaften “ anzutreffen (außerparteilichen rechtsextremen Gruppen auf regionaler Ebene, mit zumeist straff hierarchischer und autoritärer Struktur, die viel für die politische Überzeugungsarbeit „ vor Ort “ leisten und sich nicht selten durch ein beträchtliches Maß an Gewaltbereitschaft auszeichnen), allerdings ist sie mittlerweile selbst innerhalb der rechtsextremen Bewegung nicht mehr mehrheitsfähig, da sich zunehmend die Einsicht durchsetzt, dass man mit provokantem, gewaltbereiten Auftreten keine politischen Erfolge erzielt. Dennoch existiert die neonazistische Skinheadszene auch weiterhin als eine Subkultur, die sich durch ein spezifisches soziales Konstrukt von Männlichkeit auszeichnet, in welchem identitätsbildende Konstituenten wie martialisches Auftreten, exzessiver Alkoholkonsum und eine ausgeprägt chauvinistische Einstellung gegenüber Frauen koexistieren mit Affektpräferenzen und ethischen Werten wie Stolz, Treue, Kameradschaftlichkeit, Nationalismus und einem nicht 25 Vgl. Darstellung in Clarke/ Hall/ Jefferson/ Roberts (1981). „ Volk, Familie, Vaterland “ 103 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [109] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur zuletzt gewaltbereiten Durchsetzungsanspruch dieser eigengruppenspezifischen Ideale. So stellt die Band Freikorps die wichtigsten Identitätskonstituenten ihrer Peer Group bereits im Titel ihres Liedes „ Deutsch und stolz “ vor und spezifiziert sie wiederholend im Refrain: „ Deutsche Jugend, deutsch und stolz “ . 26 Die Band Arbeiterklasse motiviert Szenemitglieder, bei denen möglicherweise Unsicherheit hinsichtlich der Eigenidentität besteht, durch die Kombination eines entsprechenden assertiven mit einem direktiven Sprechakt: „ Du bist ein Skinhead, du bist stolz! / Du bist ein Skinhead, schrei es heraus! “ . 27 Ergänzend fügen ihre Kollegen von Sprengkommando dem Set werte- und emotionsbezogener Identitätskonstituenten weitere Einträge hinzu: „ Treue und Ehre, so heißt das Gebot “ . 28 Die ihrer Ansicht nach „ wirklich wichtigen “ Dinge im Leben fasst Invisible Empire im Refrain ihres Liedes „ Ich bin so froh “ zusammen und bringt sie mit einer sinnlichkeitsbezogenen positiven Evaluation ( „ geil “ ) in Verbindung mit ihrem Heimatland: „ Die geilsten Partys, [. . .], Frau ’ n und Bier/ und mein deutsches Land, ich steh ‘ zu dir “ . 29 Die Betonung ausgeprägt archaisch-chauvinistischer Vorstellungen von Männlichkeit, vor allem im Hinblick auf den Aspekt Sexualität (und den Umgang mit Alkohol), findet sich in einer großen Anzahl von Textbelegen. So grenzt sich beispielsweise Kampfruf explizit von alternativen männlichen Selbstbildern ab: „ Alle Frauen lieben uns, weil wir wahre Männer sind, nicht wie diese [. . .] Schwuchteln [. . .]. Denn wir sind weiß und stolz und unschlagbar “ . 30 Vergleichbar fällt die Eigendarstellung der subkulturellen Bezugsgruppe bei der Band Bierpatrioten aus, die indes mit einer gewissen Einsicht feststellt: „ Wir saufen, ficken, hör ’ n Musik/ was jetzt noch fehlt, ist Politik “ . 31 Sie monieren angesichts der ständigen Gewaltexzesse im Rahmen von Konzerten selbstkritisch den Verlust des eigengruppenbezogener Wertes der Kameradschaftlichkeit: „ Wo bleibt denn der Zusammenhalt/ von dem ganz Deutschland spricht? “ 32 Nicht nur in diesem Lied positioniert sich die aus Sprecherperspektive positiv konnotierte Eigengruppe konfrontativ gegenüber den als feindlich betrachteten Fremdgruppen wie z. B. der Staatsgewalt ( „ Die Bullen sich die Hände reiben “ ) 33 oder im Text „ Kein Herz für Marxisten “ von Landser gegenüber dem politischen Gegner von links, mit klarer Kontrastierung der eigengruppenspezifischen - hier: rassistischen - 26 HKR, Freikorps: Deutsch und stolz. 27 HKR, Arbeiterklasse: Stolz. 28 HKR, Sprengkommando: Die wahre Macht. 29 HKR, Invisible Empire: Ich bin so froh. (Die Kennzeichnung „ [. . .] “ verweist hier und in einigen anderen Belegen auf nicht verständliche Teile der häufig nach Gehör verschrifteten Texte). 30 HKR, Kampfruf: Unschlagbar. 31 HKR, Bierpatrioten: Zusammenhalt. 32 Ebd. 33 Ebd. 104 Alexa Mathias Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [110] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Wertsetzungen: „ Ich hasse Kommunisten,/ fahrt zur Hölle, ihr verdammten Bolschewisten! / Die Parole heißt: ein Herz für Rassisten “ . 34 Diese Kontrastierung der Eigenmit der Fremdgruppe vollzieht sich nicht selten vor dem Hintergrund eines inszenierten Opferhabitus ’ der rechtsextremen Eigengruppe, die in diesem Text ihren Ausdruck findet als Handlungszuschreibung an die Fremdgruppe in den Zeilen „ Nationalisten jagen/ Skinheads zusammenschlagen “ 35 oder im vorangehend zitierten Textbeleg durch die Andeutung, die Polizisten (wörtlich: „ die Bullen “ ) „ steckt[en] den Knüppel wieder ein “ . 36 Die rechtsextreme Eigengruppe mit ihrer Selbstinszenierung als Opfer von Verfolgung, Bedrohung und sozialer Benachteiligung bildet in etlichen Texten ein soziales pars-pro-toto für das gesamte deutsche (im Sinne rechtsextremer Ideologie) Volk und meint als aggressive und gefährdende Entitäten die ideologiespezifisch als feindlich betrachteten Fremdgruppen wie die bereits erwähnten politischen Gegner, aber auch Migranten, Juden, Homosexuelle, „ Kapitalisten “ u. a. auszumachen. So barmt Tonstörung in ihrem Lied „ Wehrt Euch “ : „ Als Deutscher kann man nicht mehr ohne Angst/ nachts durch die Straßen geh ’ n “ 37 und behauptet, man würde nach und nach durch „ Türken, Zuhälter und Gesocks “ 38 aus Deutschland vertrieben. Zwar nahe Rettung in Gestalt der Skinheads, doch mangele es ihnen an allgemeiner Unterstützung: „ Überall kämpfen Skinheads allein “ . 39 Der Topos von Kampf und Krieg wird in der Skinheadszene ausgeprägt genutzt. Sehr häufig findet man ihn in Texten, in denen ein revanchistisches Geschichtsbild seinen Ausdruck in der (die historischen Fakten umdeutenden) Glorifizierung der historischen Wehrmacht und ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg findet. So werden die Ergebnisse geschichtswissenschaftlicher Forschung als beeinflusst betrachtet durch die politische Linke, Juden und die von ihnen angeblich infiltrierten Medien. Folglich werden sie als „ Lügen “ , „ Lügenmärchen “ oder „ Fotomontage “ 40 bezeichnet. Die Deutungshoheit der rechtsextremen Eigengruppe wird legitimiert durch den Bezug auf die Geschichtsdarstellung von Zeitzeugen als Referenzquelle (beliebter Topos: Großvater als Wehrmachtssoldat). 41 Jungsturm resümiert daher: „ Deshalb ist es unsere Pflicht, mit diesen Lügen aufzuräumen “ . 42 Dieses Geschichtsverständnis wird nicht selten parallelgeführt mit angestrebten Strategien der 34 HKR, Landser: Kein Herz für Marxisten. 35 Ebd. 36 HKR, Bierpatrioten: Zusammenhalt 37 HKR, Tonstörung: Wehrt Euch! 38 Ebd. 39 Ebd. 40 HKR, Jungsturm: Ausstellung der Lüge. 41 So z. B. in HKR, Normannen: Der Männer Ruhm: „ Auf Großvaters Schoß saß man stundenlang, von seinen Geschichten man nie genug bekam. “ 42 Ebd. Jungsturm: Ausstellung der Lüge. „ Volk, Familie, Vaterland “ 105 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [111] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Auseinandersetzung mit gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Situationen in der heutigen Bundesrepublik, wobei sich die Skinheadszene in der Nachfolge ihrer Heroen von 1939 - 45 sieht. 43 Für die Beispielgruppe 1, die neonazistischen Skinheadszene, kann die Thematisierung folgender Affektpräferenzen und die Verbalisierung von affektassoziierten Wertsetzungen in einem ersten Zwischenresümee festgehalten werden: Aus dem in Abschnitt 3 erläuterten Kriteriencluster Gesellschaftliche Positionierung ist ein spezifisches Männlichkeitskonstrukt festzustellen, das sich durch eine chauvinistische Einstellung gegenüber Frauen auszeichnet, jedoch auch einem gender- und gruppeninternem Solidarisierungsanspruch (Treue, Kameradschaftlichkeit, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit), der sich auch auf die gruppenkonstitutiven Aspekte Rasse (weiß, „ deutsch “ ) und Nation (Nation, Volk) bezieht, Rechnung trägt. Zur „ Rettung der Nation “ wird auf den Kriterienbereich historische Sachverhalte in einer Weise interpretierender Bezug genommen, die der Sicherung und Wahrung der von der neonazistischen Eigengruppe präferierten Werte und der eigengruppenspezifischen gesellschaftlichen Zielsetzungen dienlich sind. Der Cluster Codes und Habitus manifestiert sich auf emotionsthematisierender Ebene durch lexikalische Einträge aus Wortfeldern, die der sprachlichen Konstruktion und Präsentation des bereits erwähnten Männlichkeitsbildes zugerechnet werden können. Diese Einträge repräsentieren einerseits eine demonstrative Zurschaustellung von Stärke und Dominanzgebaren (Stolz, Ehre, Stärke), Kampfgeist und Gewaltbereitschaft andererseits einen durch Hedonismus und Triebbefriedigung geprägten Lebensstil (saufen, ficken, geil, Partys), der auch der Herstellung von Ingroupkohäsion und - solidarität dient. Bereits in dieser ersten, noch nicht exhaustiven Analyse zeigt sich, dass die in Abschnitt 3 a priori angelegten Kategorien Überschneidungen aufweisen, vor allem wenn man den Aspekt ihrer Funktionalität betrachtet (z. B. Kameradschaft, Kampfgeist und Identifikation mit traditionellen soldatischen Idealen wie Treue, Ehre, Stärke zur Herstellung erwünschter gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse). 3.2 Beispiel 2: Bürgerlichkeit als subkulturelles Konstituens Weitaus friedfertiger geben sich Rechtsextreme, deren Selbstbild sich aus traditionellen Werten der bürgerlichen Mitte konstituiert. Diese Subkultur spiegelt zum einen das gesellschaftliche Phänomen der letzten zwei Jahrzehnte wider, in dem eine große Zahl Jugendlicher und junger Erwachsener 43 So z. B. in Daniel Eggers/ Arisches Blut: Berlin in Not: „ Dann hinweg mit fremdem Pack nun, das Berlin mit Schmutz entstellt. [. . .] Es wehen dann die alten Zeichen, Soldaten dann marschieren. Im Glauben ans Reich und ans Sonnenzeichen [. . .] “ . (Sonnenzeichen = Hakenkreuz, Anm. d. Autorin). Auch in Sturm und Drang: Kinder Deutschlands: „ Ihr seid die Retter der Nation “ . 106 Alexa Mathias Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [112] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur sich von rebellischen Formen sozialen und politischen Engagements zurückzieht und sich stattdessen einer statuswahrenden oder -erlangenden Lebensgestaltung im Rahmen sozial akzeptierter gesellschaftlicher Mikrostrukturen (z. B. Familie) zuwendet. Verbindet man dieses soziale Anliegen mit den Wertsetzungen rechtsextremer Ideologie, kann man sich dem Zuspruch breiter - politisch unaufmerksamer oder desinteressierter - Bevölkerungskreise sicher sein, wie der Erfolg entsprechender rechtsextremer Aktivitäten in den letzten Jahren zunehmend zeigt (z. B. die Gestaltung dörflicher Kinderfeste, ehrenamtliches Engagement in Sportvereinen oder sozialen Beratungsstellen u. v. a. m.). Die gesellschaftliche Positionierung dieser gutbürgerlich ambitionierten Subkultur innerhalb der rechtsextremen Musikszene hört sich in Wort und Klang dann an wie im Lied „ Weißer Mann “ von Nordmacht: „ Er denkt an die Zukunft, an seine Lieben, an sein Heim/ an die Geschichte der weißen Kraft, Frau und Kind lässt er nie allein “ . 44 Auf den ersten Blick geradezu anrührend muten die ersten Verse von Spreegeschwaders „ Mein Kind “ an: „ Lang ersehnt und aus Liebe gewollt - jetzt bist du da “ . 45 Der Autor und Interpret präsentiert sich als hingebungsvoller Familienvater ( „ Du gibst mir Wärme, erhellst mein Sein “ bzw. „ Du bist das Wunderbarste in meinem Leben “ ), 46 dem indes die Nation mindestens in gleichem Maße am Herzen liegt: „ Ein deutscher Name soll ’ s für dich sein “ . 47 Spätestens in der folgenden Zeile wird jedoch klar, wie die Prioritäten verteilt sind: „ Die Zukunft des Landes, das bist du “ . 48 Die letzten Zweifel an der ethnisch-nationalistisch motivierten Instrumentalisierung des Nachwuchses werden in den vier abschließenden Zeilen endgültig ausgeräumt: „ Deutschland, dir hab ich geschworen/ mein Kind ist für dich geboren./ Deutschland, für dich ist mein Kind,/ für Dich und gut gesinnt “ . 49 Ein vergleichbares Bekenntnis legt auch Endlöser in „ Der Urkern des Volkes “ ab, wenn er sich einleitend äußert: „ Es gibt etwas für mich auf der Welt, dass für mich mehr als alles andere zählt./ Meine Familie, meine Frau und mein Kind, die stets zu mir halten . . . “ . 50 Zwar gelte es „ die heile Familie zu beschützen “ , 51 dies wird jedoch bei Weitem nicht als Selbstzweck betrachtet, sondern weil die Familie (unter Verwendung einer biologistischen Metapher, die in familienpolitischen Diskursen als solche durch den häufigen Gebrauch schon nahezu verblasst ist) „ die Zelle “ sei, „ aus der ein Volk besteht, die dafür sorgt, dass es 44 HKR, Nordmacht: Weißer Mann. 45 HKR, Spreegeschwader: Mein Kind. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 HKR, Endlöser: Der Urkern des Volkes. 51 Ebd. „ Volk, Familie, Vaterland “ 107 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [113] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur überlebt “ . 52 Entsprechend äußert sich auch Edelweiß: „ Aus einer Familie wird eine Nation “ . 53 Es mag etwas überraschen, wenn nicht gar bestürzen, dass eine aus dieser Vorstellung abgeleitete Anweisung an die Frau sogar aus dem Mund einer Frau geäußert wird, wie es die Sängerin Christine tut, wenn sie ihr weibliches Rollenverständnis wie folgt formuliert: „ Du deutsche Frau, vergiss nicht deine Pflicht/ steh ein für Familie, Volk und Land/ und über Deutschland brennt ein Licht “ . 54 Unter einer anderen funktionalen Perspektive ist der Bezug auf die Familie in Frank Rennickes Ballade „ Die Frucht vom Baum der Sieger “ zu betrachten. Hier geriert sich der Barde, der eine Schlüsselfigur der rechtsextremen Musikszene in Deutschland darstellt (nicht zuletzt aufgrund der - im Vergleich mit anderen Autoren der Szene - nicht unbeträchtlichen poetischen Kunstfertigkeit seiner Texte), als Wahrer einer traditionellen Sozialordnung, die von den feindlichen Fremdgruppen untergraben werde: „ Man schmäht die Familie, die Ordnung, die Ehre,/ als ob das die Welt aus dem Altertum wäre “ . 55 Diese Behauptung ist exemplarisch für die „ Neue Bürgerlichkeit “ innerhalb der rechtsextremen Szene in Deutschland und Teil ihres Erfolgs bei nicht wenigen Angehörigen der bürgerlichen Mittelschicht, die sich selbst zwar nicht als dem Rechtsextremismus nahe stehend betrachten, die zum Teil jedoch stereotype Vorstellungen und Vorurteile vertreten, wie sie für die rechtsextreme Ideologie konstitutiv sind, wie mehrere von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebene Studien erkennen lassen. 56 Nicht zuletzt in den Liedern und Balladen Frank Rennickes werden im Rahmen von Bezugnahmen auf historische Sachverhalte die Wehrmacht und ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg häufig in sehr emotionalisierter Weise thematisiert. Hier stehen die „ soldatischen Tugenden “ und die mit ihnen assoziierten Affekte jedoch stärker im Lichtschein bürgerlicher Tugenden und weniger als Ausweis für gewaltbereiten Kampfgeist. Der Dienst am Vaterland ist hier Ausdruck bürgerlichen Pflichtbewusstseins, andererseits aber auch Ausdruck einer männlichen Opferbereitschaft, die die Verteidigung der Nation sogar noch über die Aufgabe als Familienvater stellt: „ Wär ‘ heil ich daheim geblieben, ich hätte mir vieles erspart. Ich hätte Akten beschrieben und Haus und Kinder bewahrt “ . 57 Auch Rennicke stilisiert militärische Protagonisten aus der Zeit des Nationalsozialisten zu Ikonen rechtsextremer 52 Ebd. 53 HKR, Edelweiß: Der Kampf geht weiter. 54 HKR, Christine: Deutsche Frau. 55 HKR, Frank Rennicke: Die Frucht vom Baum der Sieger. 56 Vgl. hierzu die bereits erwähnten „ Mitte-Studien “ der FES, durchgeführt von Decker et al. (2005, 2008, 2010, 2012) oder die Darstellung der Studie von Homm in Glaser/ Pfeiffer (Hrsg. 2007). Seit Ende 2014 wird auch die neue populistische PEGIDA-Bewegung unter diesem Blickwinkel diskutiert (PEGIDA = Patriotische Europäer Gegen die Islamisierung Des Abendlandes). 57 HKR, Frank Rennicke: Der alte Soldat. 108 Alexa Mathias Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [114] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Gesinnung, deutet sie im Falle von Rudolf Hess gar - wie auch zahlreiche andere Textautoren und - interpreten - zu Boten des Friedens und der Freiheit um, die sich heldenhaft dem kriegslüsternen Feind (hier: England) entgegenstellen. 58 Diese bürgerliche Variante des bereits weiter oben erwähnten Opferhabitus kann mit dem bekannten Schiller ’ schen Aphorismus zusammengefasst werden, der im Deutschen mittlerweile Sprichwortcharakter hat: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es seinem bösen Nachbarn nicht gefällt. Der Kriteriencluster Subkulturspezifische Codes und Habitus erweist sich in der „ gutbürgerlichen “ rechtsextremen Szene als weit weniger manifest distinktiv denn in beispielsweise der Skinheadszene. Er kann im Wesentlichen durch die Thematisierung einschlägiger Affektpräferenzen beschrieben werden, wie durch die bereits erwähnten Einstellungsmerkmale zur Schau getragener bürgerlicher Werte wie Familiensinn, Fürsorglichkeit, Liebe, Zuwendung, die bei dem lyrischen Ich Empfindungen wie Wärme, Sehnsucht und Licht ( „ erhellst “ ) hervorrufen 59 - ein solches Bekenntnis wäre in der Skinheadszene nicht vorstellbar. Eine weitere Gruppe positiv evaluierter und emotional aufgeladener Einstellungen betrifft traditionelle „ bürgerliche Tugenden “ wie Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, Sinn für Ordnung, aber auch Opferbereitschaft, und dies vor allem im Zusammenhang mit einem ausgeprägten Nationalgefühl. Die Auffassung der bürgerlichen Szene vom Heldentum zeichnet sich im Unterschied zur neonazistischen Skinheadszene weniger durch ein martialisches und dominanzorientiertes Konstrukt von Männlichkeit aus als durch einen notgedrungenen und aufopferungsvollen Dienst an Familie, Volk und Vaterland. 4 Fazit und Perspektiven Erste Ergebnisse einer korpusbasierten Untersuchung zur Darstellung bzw. Konstruktion rechtsextremer Eigengruppenidentität in unterschiedlichen Subkulturen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die nach Maßgabe der angelegten Beschreibungskategorien ermittelten deskriptiven Felder enthalten Einträge, welche für die jeweilige Subkultur typisch und weitgehend exklusiv sind und aufgrund derer sie von anderen Subkulturen abgegrenzt werden können. Andere Einträge sorgen für Überschneidungen zwischen den einzelnen Untergruppen der rechtsextremen Szene - zumeist handelt es sich bei diesen Einträgen jedoch um die lexikalischen Vertreter der rechts- 58 Vgl. HKR, Frank Rennicke: Damals im Mai (Rudolf Hess). 59 Vgl. die weiter oben zitierten Beispiele aus HKR, Nordmacht: Weißer Mann, mit emotionsanzeigenden und evaluierenden Einträgen wie „ lang ersehnt “ , „ aus Liebe gewollt “ , „ das Wunderbarste in meinem Leben “ , „ du gibst mir Wärme “ , „ erhellst mein Sein “ usw. „ Volk, Familie, Vaterland “ 109 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [115] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur extremen Ideologeme, die die subkulturellen Differenzierungen überdachen (z. B. deutsch, Nation, Volk). Für die neonazistische Skinheadszene können bei Betrachtung des Gesamtkorpus als prototypische Vertreter für identitätskonstituierende Elemente Bezugnahmen auf als „ typisch männlich “ und soldatisch-militärisch erachtete Tugenden wie Kameradschaft, Treue, Ehre, Stolz, Heldentum, Opferbereitschaft, Kampfgeist, aber auch Homophobie, eine chauvinistische, sexuell-aggressive Haltung gegenüber Frauen und Trinkfestigkeit ermittelt werden. Rassistische Einstellungen (weiße Hautfarbe, „ Ariertum “ ) spielen ebenfalls eine Rolle. An der Schnittstelle zu eher bürgerlich orientierten Kreisen der rechten Szene finden sich positiv-evaluative Stellungnahmen zu einem respektvollen Vater-Sohn-Verhältnis und die Ausrichtung auf die Sicherung der „ Zukunft der Nation “ . Diese wird unter Skinheads im Kampf, in der bürgerlichen Subkultur in Aufbau einer Familie gesehen. In letzterer Gruppe werden im Unterschied zu den Affektpräferenzen der Skinheadszene emotionale Komponenten wie Verantwortungsbewusstsein, Solidarität, Gemeinschaftssinn, Fürsorglichkeit und Liebe im Vordergrund sowie die Übernahme einer Schutzfunktion durch den pater familias. Dies gestaltet die Rolle des Mannes bei der Verteilung der Geschlechterrollen nicht weniger traditionell, setzt aber andere Schwerpunkte im sozialen Auftreten. In Hinblick auf die für diese erste Untersuchung angelegten heuristischen, außerlinguistischen Kategorien lässt sich feststellen, dass sie vor allem in Hinblick auf den Aspekt der Funktionalität Überschneidungen aufweisen: So können Einträge der Kategorie Codes und Habitus eine Funktion für die Positionierung der subkulturellen Eigengruppe im gesellschaftlichen Gesamtkontext besitzen. Dieser fällt bei stark abgrenzungswilligen bemühten Subkulturen wie den neonazistischen Skinheads stärker distinktiv aus als bei der um Zustimmung und politische Überzeugungskraft bemühten bürgerlichen Szene. Ähnliches gilt, wie oben ausgeführt, für die Kategorie des Geschichtsbildes, welches für die Legitimation der politischen und gesellschaftlichen Handlungsziele der Szene genutzt werden kann. In weiterführenden Untersuchungen wäre die angelegte Klassifikation unter exhaustiver Nutzung des Gesamtkorpus zu verfeinern, zu modifizieren und in Anbindung an theoretische Rahmenlegungen zur Emotionalität zu vertiefen, wobei sich das Augenmerk vor allem auf sozialpsychologische Faktoren richten sollte (zur Begründung siehe weiter oben). Die Musik in ihrer jeweiligen szenetypischen Stilrichtung fungiert dabei auf einer ersten, emotional stark markierten und leicht zugänglichen Ebene als ein identitätsstiftender Faktor für Jugendliche und der Peer Group, der sie angehören möchten und mit der sie sich identifizieren - das Schlagwort von der rechtsextremen Musik als „ Einstiegsdroge Nr. 1 “ ist inzwischen so weit verbreitet, dass der ursprüngliche Urheber rückblickend nicht mehr auszumachen ist. Durch die Grenzziehung zwischen spezifischen Charakteristika alternativer gesellschaftlicher Gruppen finden Jugendliche ein für sie 110 Alexa Mathias Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [116] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur relevantes Angebot zur Konstruktion ihrer Eigenidentität qua Gruppenzugehörigkeit, bei dem die alltagsweltlich geteilten Vorlieben wie z. B. gemeinsame Musikrezeption und Peer-Group-spezifische Attribute wie Stil, Kleidung und Habitus mit den Wertsetzungen rechtsextremer Ideologie aufgefüllt wird. Die subkulturelle Auffächerung der rechtsextremen Szene leistet insofern der Gefahr Vorschub, dass Jugendliche sich in einer ihrer Gruppen wiederfinden und ist bei Angeboten im Rahmen von pädagogischpräventiven Jugendarbeit, wie sie von Arbeitsstellen wie z. B. der ARUG 60 geleistet und auch für den schulischen Rahmen angeboten wird, zu berücksichtigen. Bibliographie Georg Brunner, Rezeption und Wirkung von Rechtsrock. Eine Annäherung, in: BPJM aktuell 1/ 2007, S. 3 - 18. John Clarke/ Stuart Hall/ Tony Jefferson/ Brian Roberts, Subkulturen, Kulturen und Klasse, in: Clarke, John et al. (Hrsg.), Jugendkultur als Widerstand, Frankfurt/ Main 1981, S. 39 - 131. Oliver Decker/ Elmar Brähler, Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, http: / / www.bpb.de/ themen/ TSP20B.html, Bonn 2005. 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Menschenverachtung mit Unterhaltungswert. Hintergründe - Methoden - Praxis der Prävention, Bonn 2007. HKR = Hannoveraner Korpus „ Rechtsextremismus “ , Hannover 2006 - 2010. Alle im Beitrag zitierten Liedtexte sind im Hannoveraner Korpus „ Rechtsextremismus “ (HKR) belegt. Quellenangaben im Beitrag erfolgen jeweils im Format „ HKR, Bandname: Liedtitel “ . Das Korpus ist aus juristischen Gründen und als Teil der Beforschungsvereinbarung mit dem Bundeskriminalamt nicht öffentlich zugänglich. Claus Homm, Fremdenfeindliche und rechtsextreme Orientierungen unter Hagener Schülerinnen und Schülern, in: Glaser/ Pfeiffer (Hrsg. 2007), S. 53 - 69. 60 Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt, Braunschweig. „ Volk, Familie, Vaterland “ 111 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [117] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Nicoline Hortzitz, Früh-Antisemitismus ‘ in Deutschland (1789 - 1871/ 72). 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Es kann nämlich angenommen werden, dass das Allgemeinwissen ausreichend ist, um sie - auch wenn nur intuitiv - erkennen und mindestens ansatzweise einordnen zu können. Sie werden außerhalb der Linguistik reichlich analysiert und systematisiert. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang z. B. auf das bekannte Buch von Paul Ekman (2003), ins Deutsche übersetzt als „ Gefühle lesen “ . Aber auch in der linguistischen Literatur 1 sind maßgebliche Analysen zu finden, in denen Emotionen hinsichtlich der (sprachlichen) Kommunikation thematisiert werden. Es reicht wohl, wenn in diesem Zusammenhang auf die Monographie von Reinhard Fiehler „ Kommunikation und Emotion “ (1990) hingewiesen wird. Was die Emotionen in der Sprache betrifft, nimmt die Zahl diesbezüglicher Analysen in den letzten Jahrzehnten wesentlich zu: Untersucht wird der Emotionsausdruck bezüglich der Lexik, der Syntax, oder sogar der Morphologie. Geht man über die linearen Sprachstrukturen hinaus, beispielsweise zum Text, dann sind solche Analysen noch häufiger. 2 1 Dass es zwischen solchen linguistischen und nicht-linguistischen Auffassungen offensichtlich Differenzen gibt, ist völlig verständlich, weniger nachvollziehbar ist es jedoch, dass es gewisse Unstimmigkeiten in der Beschreibung der Sprechwirklichkeit gibt, die ihre unterschiedliche Bewertung zur Folge haben können. 2 Außer den bereits genannten Autoren vgl. auch u. a. Hübler (2001), Duszak/ Pawlak (2003), Schwarz-Friesel (2007 oder 2011). Der letztgenannte Text erschien in einer Jubiläumsausgabe der Zeitschrift „ Germanistische Studien “ u. d. T. „ Sprache und Emotionen “ . Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [120] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Es unterliegt wohl auch keinem Zweifel, dass man - zumindest nach den Erfahrungen eines/ einer Wahrnehmenden - voller Überzeugung ist, dass die phonetische Ebene des sprachlichen Ausdrucks als diejenige gilt, die voll von emotionsgeladenen Phänomenen ist, die als potentielle Mittel der Identitätskonstituierung anhand der Sprache zumindest theoretisch betrachtet werden können. Was aber die Zahl von entsprechenden Analysen betrifft, ist sie in diesem Bereich erstaunlich gering. Wir meinen jetzt richtige Analysen und nicht methodologisch unverifizierte Überzeugungen, die oft und gern besonders von Nicht-Phonetikern verbreitet werden. Dieser Stand der Dinge ist einerseits ein Beweis für die Wichtigkeit der Präsenz von durch Emotionen determinierten Phänomenen in der lautlichen Manifestation der Sprache und zugleich eine Herausforderung für Phonetiker, Defizite in diesem Bereich mit systematischen Untersuchungen aufzuheben. Und auch in der Fremdsprachendidaktik wird seit einigen Jahrzehnten immer häufiger darauf hingewiesen, dass die Ausdrucksformen der Emotionen in der mündlichen Kommunikation von Sprache zu Sprache variieren und damit einerseits als Interferenzquelle zum fremdsprachendidaktischen Problem sowie andererseits zum weiteren identitätsbildenden Merkmal bzw. Merkmalskomplex innerhalb einer Sprache werden können. Mit der physikalischen Seite der mündlichen Kommunikation beschäftigt sich die Phonetik, die als sprachwissenschaftliche Subdisziplin, das alles zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht, was die lautliche Manifestationsform der Sprache konstituiert. Und phonetisch konstituiert man die Sprache auf vier Ebenen: auf der segmentalen, wo die Sprachlaute produziert also artikuliert werden; auf der intersegmentalen, wo sie in einer Sequenz einander beeinflussen also koartikuliert werden; auf der suprasegmentalen, wo einige von ihnen gegenüber den anderen hervorgehoben also punktuell betont werden; und auf der prosodischen, wo sich längere (aus vielen Sprachlauten bestehende) komplexere Ausdrücke mit linear ablaufenden Phänomenen (wie Rhythmus, Melodie usw.) manifestieren. 3 Dass besonders die segmentale Ebene mit kognitiv gefassten Strukturen der Sprache zusammengestellt wird, ist klar. Es wird z. B. angenommen, dass Morpheme aus in Form von Sprachlauten realisierten sogenannten Phonemen bestehen und so gelten Sprachlaute bzw. Phoneme als kleinste Einheiten der lautlichen Sprachstruktur. Es gibt aber auch Tendenzen beispielsweise in der Syntax der sogenannten Intonation besondere Aufgaben zuzuschreiben. Man spricht nämlich in einigen syntaktischen Analysen von der Intonation als von einem quasi distinktiven Merkmal, das zum Beispiel die syntaktische Funktion des 3 Die zwei letztgenannten Ebenen werden in der Fachliteratur terminologisch sehr unterschiedlich beschrieben und manchmal sogar als eine Ebene betrachtet. An dieser Stelle werden sie aber strikt auseinandergehalten: die punktuellen Wortbetonungen sind suprasegmentale Phänomene und die linear ablaufenden intonatorischen Konturen z. B. eines Satzes sind prosodische Phänomene (vgl. Tworek 2012: 46 f.). Prosodische Ausdrucksmittel der Emotionalität 115 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [121] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Subjekts bzw. des Objekts markiert, wenn die flexionsmorphologischen Marker des Nominativs und des Akkusativs zusammenfallen und in Sprachen wie Deutsch oder Polnisch (im Gegensatz zum Englischen) die Wortfolge in einem solchen Fall nicht bestimmend ist (das deutsche Paradebeispiel ist der Satz Ulrike liebt Ulrich). 4 Es gilt jedoch als experimentell bewiesen, 5 dass es keine solche Subjektbzw. Objektintonation gibt. Suprasegmental lassen sich bestimmte Sprachlaute (stimmhafte Silbengipfelträger) und prosodisch ganze Lexeme oder Phrasen in der Tat hervorheben. Aber die sogenannten Fokusakzente markieren im letzteren Fall nur die subjektive Wichtigkeit einer syntaktischen Einheit. Und wichtiger kann genauso gut ein Subjekt wie auch ein Objekt sein. Das ist ein Beweis dafür, dass in den Nicht-Tonsprachen 6 - das sind alle weiteren Untersuchungssprachen - jegliche prosodische Merkmale, die im konkreten mündlichen Sprechakt aktiviert werden,die aus dem komplexen Ausdruck resultierende, mit Lexemen, Phrasen, Kollokationen, Idiomen usw. markierte Information, nur ergänzen, sie gegebenenfalls erweitern; zusätzliche kommunikative Markierungen, Schattierungen, Stilisierungen usw. andeuten und nicht das lexikalisch-semantische Potential dieser Information beseitigen oder ändern. Es ist klar, dass es unter diesen zusätzlichen Markierungen auch diejenigen gibt oder mindestens geben kann, die zum Ausdruck der Emotionen dienen oder als Ausdruck der Emotionen gelten. Was sind das für Phänomene, was sind das für Mittel, die auf der prosodischen Ebene des phonetischen Ausdrucks aktiviert werden (können) und in Folge der auditiven Perzeption wahrgenommen werden sowie des Weiteren als Materialgrundlage für folgende Analysen dienen können? Wie bereits angedeutet, umfasst die prosodische Ausdrucksebene diejenigen auf komplexe Art und Weise manifestierten Phänomene, die den linearen Ablauf des Ausdrucks vor allem in Form von Sprechmelodie und -rhythmus gestalten. Die Melodie bestimmt die Richtung des linearen Ausdrucksablaufs als steigend, fallend usw. Der Rhythmus bestimmt die Innerstruktur des linearen Ausdrucksablaufs, der in erster Linie durch den Ansatz von Pausen sowie durch die Realisierung von Fokusakzenten oder (seltener) Kontrastakzenten strukturiert wird. Als wichtigste physikalische Parameter der prosodischen Manifestation gelten somit Tonhöhenverlauf, Pausensetzung, Sprechtempo, Lautstärke. Zu nennen sind auch die vom Standard abweichenden Realisierungen von segmentalen Phänomenen, die z. B. die artikulatorischen (in der Regel aber nicht die funktional distinktiven) Merkmale eines Sprachlauts intensivieren, reduzieren usw. oder die regelmäßig wieder- 4 Vgl. Bara ń ski (2011: 9). 5 Vgl. Tworek (2013). 6 In den Tonsprachen - z. B. Chinesisch - werden eben Töne sowohl auf der prosodischen (z. B. als systematische Kennzeichnung des Satzmodus) als auch auf der segmentalen (z. B. als Realisierungsformen einzelner vokalischen Segmente) Ebene zum distinktiven Merkmal. 116 Artur Tworek Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [122] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur holten suprasegmentalen Hervorhebungen, die damit bestimmte Konturen des gesamten Ausdrucks mitbestimmen können. Allerdings muss an dieser Stelle gleich bemerkt werden, dass man in diesem Bereich mit unterschiedlichen Stereotypen zu tun hat, die nicht selten in der Literatur dargestellt werden. So liest man beispielsweise in einigen Handbüchern der Rhetorik 7 unter vielen sinnvollen Ratschlägen auch von solchen, die kaum anwendbar sind. Die Analyse der Wahrnehmungseindrücke, die durch konkrete Frequenzwerte hervorgerufen und als positiv oder negativ empfunden werden, lässt beispielsweise erwarten, dass die gerundeten Vokale effektiver positive Emotionen beim Hörer wecken können als die gespreizten. Auch wenn das in Bezug auf absolute akustische Werte der Fall sein mag (in Form von in Inkulturationsprozessen ausgearbeiteten Empfindungsmustern), ist mit ihrer Übertragung auf die mit einer Sprache realisierten Kommunikat nicht zu rechnen. Der Stammvokal im deutschen lieben ist ein gespreiztes [i: ], in lügen dagegen ein gerundetes [y: ] und das lässt sich nicht ändern. Es wird auf der anderen Seite behauptet, 8 dass der Ausdruck von negativen Emotionen im Polnischen durch die Verwendung von Wörtern mit dem [r]-Laut intensiviert wird - wohl deswegen, da das bekannteste polnische Schimpfwort kurwa ein solches [r] im Inlaut hat. Dass das aber nicht ernst zu nehmen ist, zeigen die Listen von Lexemen, 9 die trotz der [r]-Absenz effektiv negativ geladene Emotionen semantisieren können. 2 Untersuchung Als Ausgangspunkt für die Wahl eines Untersuchungsmaterials könnte theoretisch angenommen werden, dass es emotionsgeladenes und nichtemotionsgeladenes Sprechen gibt, obwohl - ähnlich wie das z. B. bei der Modalität der Fall ist - eine Interpretation, dass wir immer mit Emotionen sprachlich agieren nicht unlogisch wäre. Aber unter diesen emotionsgeladenen lassen sich die Sprechakte des Weiteren unterschiedlich teilen, z. B. in individuelle und kollektive. Im letzteren Fall wird etwa parallel (z. B. in Gruppen, im Chor) etwas skandiert, deklamiert usw. Dies passiert unter anderen in Fußballstadien oder auch in Basketballhallen. Eine andere wichtige Einteilung beruht darauf, dass man unter Sprechakten unterscheiden kann, wo Emotionen unkontrolliert bzw. kontrolliert zum Ausdruck gebracht werden. Diese unkontrollierten - vielleicht natürlicheren - Emotionsmanifestationen sind nur zum Schein interessanter. Sie sind nämlich durchaus inzidentell und von diversen schwer nachvollziehbaren Faktoren determi- 7 Vgl. z. B. Allnach/ Rusch (1995). 8 Vgl. Sikorski (2003). 9 Aus „ ästhetischen “ Gründen verzichten wir an dieser Stelle darauf, eine Liste von polnischen Vulgarismen zu erstellen. Prosodische Ausdrucksmittel der Emotionalität 117 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [123] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur niert, weswegen sie allzu leicht jeglichen Systematisierungsversuchen entgehen. Im Fall der sogenannten kontrollierten Emotionsmanifestationen geht es dagegen darum, dass der Sprecher seine Emotionen zeigen will. Um dies zu tun, muss er nach bestimmten Mitteln greifen, das heißt nach Mitteln, die im jeweiligen Sprachusus befindlich sind. Sie müssen also konventionalisiert sein, denn erst dann können sie vom(n) Kommunikationspartner(n) effektiv - und das bedeutet: mit der Sprecherintention möglicherweise konform - wahrgenommen werden. Dieser Bezug auf den Hörer, auf seine Wahrnehmung ist in diesem Zusammenhang entscheidend und lässt das Material einigermaßen objektivieren und systematisieren. Das Untersuchungskorpus besteht also aus zwei Gruppen von Beispielen, in denen die sog. kontrollierten Emotionen manifestiert werden, indem bestimmte sozusagen „ künstliche “ Ausdrücke zu künstlerischen werden. Um erfolgreich zu sein, muss der künstlerische Ausdruck in jeder Hinsicht - auch was die Manifestation der Emotionen betrifft - hörerbezogen (bzw. zuschauerbezogen) sein, muss ihre - d. h. der Hörer bzw. Zuschauer - Wahrnehmungsgewohnheiten, -potentiale, -fähigkeiten, -muster unbedingt berücksichtigen. Da die beabsichtigte Analyse keinen unisondern bilateralen (bzw. multilateralen) vergleichenden Charakter hat, werden die deutschen Beispiele mit den polnischen und gegebenenfalls mit den englischen konfrontiert, was eventuelle Schlussfolgerungen hinsichtlich der sprachenunabhängigen Universalität festgestellter Phänomene ermöglichen könnte. Die erste Gruppe von Beispielen (1 bis 5) bilden kurze Auszüge aus dem zweiten Teil der „ Hobbit “ -Verfilmung. 10 Die vom Peter Jackson in den Jahren 2011 - 2013 gedrehte Filmtrilogie ist in der Originalfassung englischsprachig. Die jeweiligen Originalzitate haben den Buchstaben „ e “ neben der folgenden Beispielnummer. Die deutschen (Beispielnummer+d) und die polnischen (Beispielnummer+p) 11 Varianten werden von muttersprachlichen Synchronsprechern ausgesprochen und als Untertitel (Quelle aller Beispielsnotationen) auf dem Bildschirm notiert. Alle Beispiele stammen aus entsprechenden parallelen Stellen. (1 d) Drache! [ ə : : ]. (1 e) Dragon! [ ʌ : : ]. (1 p) To smok! [ ɔ : : ]. In den Beispielen (1) und (2) ist ein häufiges Mittel prosodischer Markierung zu sehen: die Vokalverlängerung. Eine solche prosodische Verlängerung ist nicht mit segmentalen Artikulationsregeln der Vokale (seltener der Konsonanten) 12 gleichzusetzen. Im letzteren Fall kann es sich um distinktives Merkmal handeln (z. B. im Deutschen), was eine prosodische Ausnutzung des 10 Englisch: „ The Hobbit. The desolation of Smaug “ , Deutsch: „ Der Hobbit. Smaugs Einöde “ , Polnisch: „ Hobbit. Pustkowie Smauga “ . 11 Die gleiche Notationsweise gilt für alle im vorliegenden Text angeführten Beispiele. 12 Im Polnischen gilt die Länge der konsonantischen Aussprache als fakultatives Merkmal von distinktiver Funktion, wenn mit der längeren Aussprache eines Konsonanten seine 118 Artur Tworek Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [124] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Phänomens zwar begrenzt, aber nicht ausschließt. Im Beispiel (1 d) wird das [ ə ]-Schwa morphologischer und phonologischer Regeln des Deutschen ungeachtet ausgedehnt. Im Englischen wird das potentielle Schwa in der Auslautssilbe (1 e) artikulatorisch zu [ ʌ ] etwa „ postdorsalisiert “ . Dieser im Englischen natürliche Prozess wird im Deutschen wegen hoher Vorkommensfrequenz des [ ə ] und damit verbundener Gewohnheit den Vokal mühelos zu produzieren nicht aktiviert. Auch das englische [ ʌ ] wird im segmentalen Vokalinventar dieser Sprache systematisch ohne Verlängerung ausgesprochen. Die polnischen Vokale sind als segmentale Einheiten immer als kurz zu interpretieren. In allen drei Sprachen in Beispielen (1) steht der jeweils analysierte Vokal in einer sog. präpausalen Stellung und in einer solchen auslautenden (egal ob im absoluten oder im konsonantisch abgeschlossenen Auslaut) Stellung werden Vokale natürlicherweise ausgedehnt, was eine übersprachliche Erscheinung ist, die im analysierten Fall zur Manifestation der Vorwarnung gut dienen kann. (2 d) Wenn du [u: : ] was? (2 e) When you ’ re [ ɽ : : ] what? (2 p) Kiedy[ ᵻ : : ] co? In Beispielen (2) dient die deutliche Vokalverlängerung der Fokusakzentsetzung. Im Gegensatz zur suprasegmentalen Wortbetonung, die in der Regel durch die Änderung der Grundtonfrequenz des Silbengipfelträgers (in analysierten Sprachen ausschließlich eines Vokals) akustisch markiert wird, erstrecken sich die Fokusakzente auf längere Einheiten und werden mit mehreren weiteren Mitteln zum Ausdruck gebracht. Ihr Zweck ist es, eine Einheit aus einer längeren Reihe auszusondern, ihre informative und textgestaltende Funktion zu unterstreichen. Im Deutschen (2 d) wird durch die [u]-Verlängerung direkt Bezug auf die Person genommen. Im Englischen (2 e) fallen das Pronomen und das Verb in eine intonatorische Phrase 13 zusammen, d. h. sie bilden im phonetischen Sinne so gut wie ein Lexem. Interessanterweise wird die nötige Verlängerung im englischen Beispiel durch den funktional konsonantischen/ r/ -Laut realisiert, der aber wegen seiner stark approximativen Artikulationsweise über deutliche vokalische Züge verfügt, die es ermöglichen, u. a. seine Quantität mühelos auszudehnen. Im Polnischen gibt es keinen Bezug auf das Personalpronomen, weil die Person im Vortext - wie es in slawischen Sprachen üblich ist - nicht pronominal, sondern durch Konjugationssuffix angeführt wird. In allen drei Sprachen wird mit jeweiligen Fokusakzenten in Form von Vokalverlängerung effektiv auf eine gewisse Ungeduld hingewiesen. umständliche Gemination ersetzt wird (z. B. rany ‚ Verletzungen ‘ vs. ranny u. a. ‚ verletzt ‘ ). 13 Unter einer intonatorischen Phrase (sie entspricht nicht immer einer Phrase im morphosyntaktischen Sinne) verstehen wir eine pausenlose Verbindung von mindestens zwei per se unbetonbaren Einsilbern in eine betonbare (weil aus mehr als einer Silbe bestehende) Einheit (vgl. Tworek 2012: 213 - 222). Prosodische Ausdrucksmittel der Emotionalität 119 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [125] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur (3 d) Nicht umgänglich? [ Ý ] Ich? [ ÝÝ ] Unfug [ ß ]. (3 e) Unsociable, me? [ Ý ] Nonsense [ ÝÝ ]. (3 p) Odludek, ja? [ Ý ] Bzdura [ ß ]. Mit Fokusakzenten, die diesmal der Manifestation einer ablehnenden Verwunderung dienen, haben wir auch in den Beispielen (3) zu tun. Obwohl begrenzte segmentale Verlängerung (im Deutschen des phonologisch kurzen [ ɪ ] in ich, im Englischen des anlautenden Sonanten [n] in nonsense und im Polnischen des [a] in ja ‚ ich ‘ ) und leichte Lautstärkeerhöhung wahrnehmbar sind, bleibt das steigende Tonmuster ([ Ý ] bzw. [ ÝÝ ]) der prägnanteste Marker innerhalb des Komplexes, mit dem das informativ Wichtigste in angegebenen Ausdrucksteilen mit Fokusakzenten angedeutet wird. Im Deutschen und im Englischen verläuft die Tonsteigerung graduell: sie beginnt vor dem Fokusakzent und erreicht an ihm ihren Extremwert. Im Deutschen und im Polnischen fällt zur Kontrastierung das Tonmuster ([ ß ]) im restlichen Ausdrucksteil direkt nach dem Fokusakzent. (4 d) Ah! [ Ý ] Helft uns! [ ÝÝ ]. (4 e) Ah! [ Ý ] Help us! [ ÝÝ ]. (4 p) Hej! [ Ý ] Na pomoc! [ ÝÝ ]. In den Beispielen (4 d), (4 e), (4 p) reicht allein das steigende Tonmuster (Lautstärke des ganzen Ausdrucks bleibt in allen Sprachen konstant), um den Hilferuf auszudrücken. Diese Tonverlaufkonturen sind in analysierten Beispielen völlig unabhängig von sprachspezifischen - wenn auch zum großen Teil (besonders im Englischen) instabilen - Eigentümlichkeiten. Die emotionsgeladene Tonkurve kann nämlich die sprachspezifischen Regeln des Tonkurvenverlaufs beispielsweise in Aussagesätzen tilgen. Zwischen Deutsch und Polnisch lassen sich in diesem intonatorischen Tonmusterverlauf Differenzen beobachten, denn der deutsche ist leicht steigend und der polnische leicht fallend. Im Polnischen kann eine solche Differenz intralinguale, regiolektale Missverständnisse provozieren: So wird die großpolnische Aussagemelodie im restlichen Polen als Frage wahrgenommen, weil ihre Tonkurve nach oben tendiert. Andererseits lässt sich interlingual beobachten, dass die diesmal für Kleinpolen charakteristische Tonkurvensenkung identisch ist mit dem Sächsischen Melodieverlauf. Dies zeigt schon, dass ein Phänomen wie Tonmusterverlauf nur über quantitativ begrenzte Realisierungsvarianz verfügt. Es gibt zu wenig Potential, als dass es zum sprachspezifischen Merkmal hätte werden können, und in seiner Gestaltung wird den von Sprachen unabhängigen Emotionen und nicht manchmal künstlich dekretierten sprachspezifischen Regeln Vorzug gegeben. (5 d) Versprich mir ein Auge auf sie zu haben, wenn ich [. . .] Wenn ich [. . .] Wenn ich [. . .]. (5 e) Make sure you keep an eye on her after I ’ m [. . .] I ’ m [. . .] I ’ m [. . .]. (5 p) Musisz j ą mie ć na oku kiedy ja [. . .] Kiedy ja [. . .] Mnie ju ż [. . .]. 120 Artur Tworek Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [126] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur In Beispielen (5) sehen wir deutliche, etwa überlange Pausen ([. . .]), die in allen Sprachen als geeignetes Mittel 14 zur Trauermanifestation gewählt worden sind. Die Emotion wird durch den mit Pausen gestalteten Rhythmus zum Ausdruck gebracht. Deswegen ist ihr Ansatz von lexikalischen - in den drei analysierten Sprachen nicht identischen - Mitteln völlig unabhängig. Die weiteren Beispiele (6 bis 10) stammen dagegen aus gesungenen Texten. Die bekannte deutsche Rockband „ Die Toten Hosen “ hat auf der Platte „ Kauf mich “ 1993 das Lied „ Alles aus Liebe “ veröffentlicht. Den ins Polnische (nach der Absprache mit deutschen Autoren) an manchen Stellen ziemlich locker übersetzten deutschen Text u. d. T. „ A wszystko to, bo ciebie kocham “ hat eine in Polen populäre Band „ Ich Troje “ 6 Jahre später aufgenommen. Grundlage für die analysierten Zitate sind jeweilige Plattenausgaben, obwohl die Vielzahl allgemein zugänglicher Live-Versionen das Untersuchungsmaterial um manche Phänomene verbreitet hat. Die polnischen Beispiele sind den zu dem deutschen Text parallelen Stellen entnommen, auch wenn der Text nicht immer wortwörtlich dem deutschen Original entspricht. Es ist bereits an den Titeln zu erkennen, dass die beiden Texte sehr intensiv emotionsgeladen sind. Es sind nämlich Liebeserklärungen, die mit der diese Liebe bestätigenden Selbstmordansage enden. Das erste Beispiel (6 d) gilt nur für die deutsche Sprache, weil das Phänomen der Aspiration im Polnischen kaum vorhanden ist. Es ist das zusätzliche Hauchgeräusch, das im Moment der Verschlusslösung durch den starken Phonationsstrom verursacht wird. Einen solchen starken Phonationsstrom gibt es nur bei den stimmlosen Konsonanten und nur bei den Verschlusslauten manifestiert er diese Behauchung separat (Engelaute generieren sonst eine Menge von Geräuschen). Aspiriert können also lediglich [p], [t] und [k] werden. Die Aspiration hat im Deutschen keinen phonologischen Status, kommt relativ instabil von diversen Faktoren bedingt (z. B. Distribution im Wort, individuelle Sprecherneigungen, kontextuell-konsituative Gegebenheiten) vor und wird in der Regel gegenüber dem Englischen oder Dänischen schwächer und seltener realisiert. Das alles verursacht, dass die deutlich starke Aspiration der beiden prävokalischen [k]-Laute 15 als Zeichen 14 Es ist allerdings an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Pausen sehr multifunktional sind und ihre Verwendung von diversen Faktoren determiniert werden kann. Pausen wurden bisher relativ oft zum Untersuchungsobjekt methodologisch verschiedener Analysen. Wir verweisen nur auf die online zugängliche Beschreibung der Pausen im Rahmen des vom Mannheimer Institut für Deutsche Sprache geleiteten Projekts „ Eurogr@mm “ , in dem die propädeutische Grammatik (inkl. Prosodie) des Deutschen aus der Sicht von fünf Kontrastsprachen (Französisch, Italienisch, Norwegisch, Polnisch, Ungarisch) analysiert worden ist (vgl. www1.ids-mannheim.de/ gra/ projekte/ eurogramm.html). 15 Nach Geert Lotzmann (1975), der die realen Vorkommensquoten der Aspiration in der Standardaussprache ausgewertet hat, werden lediglich etwa ein Drittel deutscher stimmloser Verschlusslaute inlautend aspiriert. Prosodische Ausdrucksmittel der Emotionalität 121 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [127] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur der zunehmenden Emotionalität 16 wahrgenommen wird: (6 d) Warum ich nur noch an dich denk[kh]en k[kh]ann. (7 d) Es ist die Eifers[z: ]ucht, die m[m: : ]ich auffrißt [LS++] 17 . Das ist der erste Ausdruck (7 d) im gesungenen Text, der deutlich lauter realisiert wird, was als Marker wachsender Emotionen zu interpretieren ist. Aus semantisch-pragmatischen Gründen werden auch zwei Fokusakzente gesetzt: in -sucht und in mich. Um den Verstoß gegen die Regeln der suprasegmentalen Betonung (Hauptbetonung auf Ei-) zu vermeiden, wird das [z] 18 verlängert. Konsequenterweise - nach dem Motto, dass wiederholte Impulse den Einfluss kumulieren - tut man das auch in mich, indem das [m] verlängert wird. 19 Keine Vokale werden in (7 d) ausgedehnt, weil die vorhandenen kurz 20 sind und ihre Verlängerung zu einem unnötigen Verstoß gegen die phonologischen Regeln führen könnte. Im parallelen polnischen, ebenfalls durch zunehmende Lautstärke gekennzeichneten Beispiel (7 p) werden Fokusakzente nach identischem Modus wie im deutschen (7 d) verteilt. Sie bleiben mit den susprasegmentalen Betonungsregeln des Polnischen konform und nutzen die gleichen Möglichkeiten einer segmentalen Ausspracheausdehnung aus. In unterschiedlichen Live-Versionen verlängert man in mnie noch zusätzlich das auslautende [ ɛ ]: (7 p) To tylko zaz[z: ]dro ść z ż era m[m: : ]nie/ mnie[ ɛ : : ] [LS+]. Ein paar Verse zuvor hat sich der Lautstärkepegel geändert und bleibt weiter konstant. Deswegen kann man an zwei Stellen Fokusakzente leicht durch das lautere Singen erkennen. Die kurzen Stammvokale der fokussierten Einheiten verstärken dabei die Intensität. Dass in der letzten Phase des Ausdrucks (ab aus) absichtlich nichts hervorgehoben werden soll, erkennt man zusätzlich durch das leicht fallende Tonmuster und Reduktion des auslautenden Schwa: (8 d) Ich bin kurz [LS+] davor durch [LS+] zudrehen [ Ý ] aus Angst dich zu verlieren [li: ɐ n] [ ß ] [LS=]. Das polnische Parallelbeispiel (8 b) stimmt aus lexikalisch-semantischer Sicht mit dem deutschen Ausgangstext wenig überein: (8 p) Oko w oko sta ń , co za twa[a: ]rz, no po[p h : ɔ j ]wiedz, boisz si ę ? 21 [ ß ] [LS=]. Im Verlauf prosodischer Ausdruckskontur ist aber die Übereinstimmigkeit durchaus vorhanden: weitgehend gleicher Ansatz der Lautstärke und 16 Wenn emotional gesprochen wird, verbraucht man das größere Luftvolumen und mehr Luft generiert die größere Stärke der Aspiration. 17 Die Abkürzung LS bedeutet Lautstärke und die daneben platzierten Pluszeichen ihre Intensität. 18 Bei den frikativen Engelauten wird der Phonationsstrom nicht gestoppt, was die Ausspracheausdehnung ermöglicht. 19 Bei den nasalen Sonanten entweicht der Phonationsstrom durch den Nasenraum, was ermöglicht, die Quantität eines solchen Lautes beliebig zu gestalten. 20 In die wird das potentiell lange [i: ] natürlicherweise proklitisch gekürzt. 21 Deutsch: ‚ Stell dich Auge ins Auge, was für ein Gesicht, sag mal, hast du Angst? ‘ . 122 Artur Tworek Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [128] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur des Tonmusters. Um die inhaltliche Grausamkeit zu unterstreichen wird einerseits die individuelle Prädestiniertheit des Sängers ausgenutzt, die Heiserkeit der eigenen Stimme hervorzurufen. Andererseits dienen dazu Modifikationen segmentaler Artikulation: die Verlängerung des gewöhnlich kurzen [a]-Stammvokals in twarz sowie stärkerer als gewöhnlich Luftdruck auf die verschlossenen Lippen bei anlautendem [p] in powiedz 22 und längere Haltung des Verschlusses, die zu einer gut wahrnehmbaren gewaltigeren Lösung des Verschlusses (in den Live-Versionen ist hier sogar leichte Aspiration zu hören) und des Weiteren zu leichter Entrundung des nachfolgenden [ ɔ ] führen, was - wie bereits angedeutet - konventionell als u. a. Grausamkeitsmarker interpretiert werden kann. Das progrediente Tonmuster ([ Þ ]) in der Anfangsphase des Beispiels (9 d) kontrastiert mit dem leicht steigenden in dem Teil ab dafür. Zusätzlich werden Kurzpausen in garantieren eingesetzt, die zusammen mit natürlichen Pausen zwischen vorangehenden Lexemen einen die nachfolgende inhaltliche Kulmination andeutenden Skandierungseffekt auslösen. Dazu dient auch die mit dem vorigen Beispiel (8 d) kontrastierende Realisierung des auslautenden Schwa als Vollvokal und leichte Erhöhung der Lautstärke: (9 d) Und dass uns jetzt kein Unglück geschieht [ Þ ], dafür kann ich nicht ga[.]ran[.]tieren[ti: ʀə n] [ Ý ] [LS+]. Die Verteilung der Tonmuster im polnischen Parallelbeispiel (9 p) ist identisch: zuerst progredient, ab b ę dzie steigend. Auch die Segmentierung als Folge der Pausensetzung ist da. Die gleich langen Pausen sind - ähnlich wie im deutschen Beispiel (9 d) - absolut gemessen überhaupt nicht lang (Eindruck der Verlängerung resultiert aus der Ausdehnung der präpausal stehenden Lauten), aber durch ihre Wiederholung wird der gewünschte Rhythmus gestaltet: (9 p) Za pó ź no ju ż , zwalam st ą d [ Þ ] b ę dzie lepiej jak zapom [m: ][.]nisz[.] mnie[ ɛ : ] [ Ý ]. In den beiden letzten Beispielen (10), (10 d) Komm, ich zeig dir, wie groß [ Ý ] meine Liebe ist [ ÝÝ ] Und bringe mich für dich um [ ßß ]. (10 p) Chod ź , poka żę ci, czym [ Ý ] moja mi ł o ść jest [ ÝÝ ] dla ciebie zabij ę [ ɛ ] si ę [ ɛ ] [ ßß ], den jeweils letzten Verse des Liedes, sind konsequente Steigerung des Tonmusters bis ist/ jest und kontrastierende Senkung ab und/ dla sehr deutlich wahrzunehmen. Obwohl die semantische Dramaturgie des Endfragments eskaliert, wirkt seine prosodische Kontur anscheinend beruhigend. Ein solches Mittel der künstlerischen Ausdrucksgestaltung wird oft verwendet. Wenn die inhaltliche Dramaturgie den Extrempol erreicht wird sie proso- 22 Aus semantisch-pragmatischer Sicht wäre in diesem Beispiel die Fokussierung auf das anlautende [b] in boisz sinnvoller. Gewünschte prosodische Effekte ließen sich dann aber nicht erreichen, denn das [b] ist stimmhaft, verfügt also über keine starke, weitere Phänomene auslösende Luft. Prosodische Ausdrucksmittel der Emotionalität 123 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [129] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur disch durch den Gegenpol verstärkt: Tonmustersenkung, langsameres Sprechtempo, geringere Lautstärke. Die lautliche Lässigkeit wird im Polnischen noch zusätzlich durch volle Denasalierung der zwei auslautenden potentiell (mindestens asynchron) nasalen [ ɛ ]-Vokale intensiviert. 3 Schlussfolgerungen Auch wenn die durchgeführte Analyse nur einen nicht allzu großen Teil unterschiedlicher mündlicher Ausdrucksformen der Sprache umfasst und damit auf keinen Fall als quantitativ (und infolgedessen qualitativ) vollständig gelten darf, können an dieser Stelle einige Schlussfolgerungen - allerdings nur vorsichtig - formuliert werden. Obwohl die erste als eine Naivität betrachtet werden kann, lohnt es sich sie anzuführen: Beim emotionalen Sprechen werden unterschiedliche prosodische Phänomene aktiviert. Nicht selten werden sie komplex 23 als ein Bündel von relativ kongruenten Mitteln manifestiert. Die zwei wichtigsten Faktoren, die die Auswahl von prosodischen, Emotionen manifestierenden Mitteln determinieren, sind: - Individuelle Neigungen des Sprechers - es ist denkbar, dass ein anderer Synchronsprecher bzw. Sänger andere Mittel aktivieren würde, um dasselbe Ziel zu erreichen. Eine unentbehrliche Voraussetzung für die effektive Wahrnehmung solcher Mittel ist, dass der Hörer den Sprecher mindestens einigermaßen kennt. Die individuellen Neigungen werden kaum konventionalisiert. - Konsituative (teilweise auch kontextuelle) Bedingungen - Mittel wie Sprechtempo oder Lautstärke sind in erster Linie nicht den konkreten Emotionen zuzuschreiben, sondern den bestimmten Sprechbedingungen. Sprache ist ein solcher Faktor nur hinsichtlich der spezifischen (intensivierten, reduzierten) Verwendung segmentaler Einheiten zu prosodischen Zwecken. Diese Verwendung ist dagegen gesteuert und begrenzt durch das jeweilige segmentale Sprachlautinventar und durch die phonologische Belastung dieser Sprachlaute bzw. ihrer einzelnen Merkmale. In Bezug auf das Deutsche konnte man im Zusammenhang damit z. B. die Intensivierung der Aspiration oder unterschiedliche Reduktionsstufen des [ ə ]-Schwa und im Polnischen unterschiedlichen Grad der vokalischen Nasalierung beobach- 23 Nicht selten kommt es - konsituativ bedingt - innerhalb einer komplex gestalteten Manifestation zur zusätzlichen Übertragung außerprosodischer Reize (z. B. Musik, Farben, Olfaktorik) auf die konkrete Wahrnehmung prosodischer Phänomene, die infolge von rein körperlichen Impulsen in die Phase der reinterpretatorischen Kognition übergeht. 124 Artur Tworek Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [130] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur ten. 24 In allen analysierten Sprachen sind die wichtigsten Marker prosodischer Ausdrucksgestaltung zu finden: Fokusakzente, Pausen, Tonmusterverlauf. Fokusakzente hängen von kommunikativen Intentionen ab und sind in der Regel nicht sprachspezifisch. Ihre effektivsten Manifestationsparameter - Lautstärke und Quantitätsausdehnung - verwendet man gleichermaßen im Deutschen und im Polnischen (ggf. auch im Englischen). Der Emotionsausdruck wird infolge der rhythmusgestaltenden Funktion der Pausensetzung intensiviert, die in allen analysierten Sprachen etwa parallel verwendet wird, was sie ebenfalls als sprachunabhängig interpretieren lässt. Interne sprachliche Regeln und/ oder Realisierungstendenzen hinsichtlich der Tonmuster scheinen auf ihren realen Verlauf weniger Einfluss zu haben. Der primäre, ihre Gestaltung determinierende Faktor ist die Dynamik des Emotionsausdrucks. In der Tat ist also der Tonmusterverlauf in den Nicht-Tonsprachen ein Phänomen natürlicher übersprachlicher Art und hängt mit - wiederum nicht sprachspezifischen - Sprechintentionen zusammen. Abschließend muss festegestellt werden, dass die prosodischen Merkmale eines emotionalen, mündlichen Ausdrucks in der lautlichen Manifestation einer Sprache absichtlich produziert werden können. Sie sind aber nicht im Stande die Sprachstrukturen systematisch zu konstituieren und infolgedessen als sprachspezifisch auditiv wahrgenommen zu werden. Ob sie von Sprache zu Sprache - vor allem in fremdsprachendidaktischen Prozessen - übertragbar sind, ist eher unwahrscheinlich. Denn das Sprechen in einer Zielsprache verliert oft zum wesentlichen Teil an Natürlichkeit und die Natürlichkeit ist für die Manifestation der Emotionen mit prosodischen Mitteln - auch wenn sie kontrolliert werden - eine unvermeidbare Voraussetzung. Emotionen können somit zur Identität des Sprechens im Allgemeinen bzw. der Sprecher im Einzelnen, weniger aber der Sprache(n) beitragen. Bibliographie Konstanze Allnach/ Karoline Rusch, Rhetorik. Erfolgreiche Gesprächsführung, Redetechnik und Körpersprache mit Übungen und Musterreden, München 1995. Jacek Bara ń ski, Wortfolge und Satzbedeutung. Zu ausgewählten Ambiguitäten (in) der Kommunikation kontrastiv Deutsch-Polnisch, in: Edyta B ł achut/ Adam Go łę biowski/ Artur Tworek (Hrsg.), Grammatik und Kommunikation: Ideen - Defizite - Deskription, Dresden, Wroc ł aw 2011, S. 7 - 18. Paul Ekman, Emotions Revealed. Understanding Faces and Feelings, London 2003. Reinhard Fiehler, Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Interaktion, Berlin, New York 1990. Axel Hübler, Das Konzept „ Körper “ in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften, Stuttgart 2001. Geert Lotzmann, Zur Aspiration der Explosivae im Deutschen, Göppingen 1975. 24 Im englischen Subkorpusteil kam in dieser Funktion die Verlängerung des/ r/ -Approximanten vor. Prosodische Ausdrucksmittel der Emotionalität 125 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [131] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Monika Schwarz-Friesel, Sprache und Emotion, Tübingen 2007. Monika Schwarz-Friesel, Dem Grauen einen Namen geben? Zur Verbalisierung der Emotionen in der Holocaust-Literatur - Prolegomena zu einer Kognitiven Linguistik der Opfersprache, in: Germanistische Studien (Jubiläumsausgabe 10: Sprache und Emotionen) 2011, S. 128 - 139. Janusz Sikorski, Fonetyczny wyk ł adnik gniewu. Uwagi z pogranicza kilku dyscyplin, in: Anna Duszak/ Nina Pawlak (Hrsg.), Anatomia gniewu. Emocje negatywne w j ę zykach i kulturach ś wiata, Warszawa 2003, S. 39 - 55. Artur Tworek, Einführung in die deutsch-polnische vergleichende Phonetik, Dresden, Wroc ł aw 2012. Artur Tworek, Subjekt- „ Intonation “ vs. Objekt- „ Intonation “ , in: Edyta B ł achut/ Adam Go łę biowski (Hrsg.), Sprache in Wissenschaft und Unterricht, Dresden, Wroc ł aw 2013, S. 149 - 158. 126 Artur Tworek Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [132] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć Identität und Emotionalität in Vázquez Montalbáns Carvalho Roman Los mares del sur und seinen deutschen Übersetzungen 1 1 Identität und Emotionalität Mit der Frage der Identität haben sich Wissenschaftler aus unterschiedlichen Bereichen, z. B. Soziologie, Psychologie, kulturellen Studien, Anthropologie befasst (z. B. Assmann/ Friese 1998, Wenger 1998, Wade 1999, Holliday 2010). Das Wort Identität entstammt dem lateinischen identitas, abgeleitet aus dem lateinischen idem / sbquo; derselbe ‘ . Es bezeichnet die „ Echtheit einer Person oder Sache; völlige Übereinstimmung mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird “ oder auch „ als »Selbst« erlebte innere Einheit der Person “ (DUW). 2 Laut Mead (1973) leben Menschen nicht nur in einer natürlichen, sondern auch in einer symbolischen Umgebung, d. h. Menschen erwerben Symbole aus der Gesellschaft ( ‚ symbolischer Interaktionismus ‘ ). Sprache ist eines dieser Symbole. Joseph 3 behauptet, das ganze Phänomen der Identität könne als ein linguistisches verstanden werden, denn was und wie jemand spricht, bestimmt in hohem Maße, wie wir eine Person wahrnehmen. Wie Croom 4 es erklärt, sind wir nämlich „ gegenüber dem empfindlich, wie wir kategorisiert werden, denn das beeinflusst, was die Anderen von uns erwarten und wie sie uns behandeln “ . 5 Dies beeinflusst auch die Strategien der Kommunikation und das Verhalten in persönlichen Kontakten. Joseph 6 sieht Kommunikation, Darstellung und Ausdruck als Funktionen der Sprache. Ausdruck verweist auf „ Gefühle, Emotionen und Leidenschaften, wie sie für Individuen, manchmal für die ganze Ethnizität oder das Geschlecht oder eine andere Gruppe typisch sind “ . Emotionalität ist ein wichtiger Teil der Kommunikation, besonders wenn Sprechpartner direkt 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projektes ValTrad (FFI2013 - 42 751-P) unter Leitung von Dr. Anna Espunya, teilweise finanziert vom Spanischen Ministerium für Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit. 2 Diese Abkürzung steht für Duden Deutsches Universalwörterbuch. 3 Joseph (2004: 12). 4 Croom (2013: 183 - 184). 5 Alle Übersetzungen im Text stammen von den Autorinnen. 6 Joseph (2004: 17). Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [133] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur kommunizieren, d. h. sich in kommunikativer Nähe befinden. 7 Produzent und Rezipient kommunizieren auf mehreren unterschiedlichen Beziehungsebenen: auf einer persönlichen, räumlichen und zeitlichen, emotionalen, gesellschaftlichen Ebene. 8 In täglichen gesellschaftlichen Kontakten tendiert eine Person „ die Muster der verbalen und nonverbalen Akte nachzuspielen, mit welchen sie ihre Sicht der Situation und dadurch die Bewertung der Beteiligten, besonders sich selbst, ausdrückt “ 9 , was darauf hinweist, dass „ Menschen emotional engagiert und auf Identitäten festgelegt sind, die sie den anderen in der Gesellschaft zeigen “ 10 . In diesem Beitrag befassen wir uns mit der Repräsentation der Identität durch emotional aufgeladene Ausdrücke, die wir im Rahmen der Bewertungstheorie (Appraisal Theory) bestimmen. Des Weiteren werden deutsche Übersetzungen dieser Ausdrücke analysiert. Das Korpus der Untersuchung bildet der Roman Los mares del sur des spanischen Autors Vázquez Montalbán. In weiteren Kapiteln wird die Arbeit Vázquez Montalbáns dargestellt, sowie die Bewertungstheorie. Danach folgt die Analyse mit der Schlussfolgerung. 2 Geschichte und Identität in Vázquez Montalbáns Carvalho Romanen Manuel Vázquez Montalbán (1939 - 2003) war Journalist und ein erfolgreicher Verfasser einer Fülle von Genres einschließlich Lyrik, verschiedener Formen der Erzählung, politischer Essays und Drama. Seine Eltern waren Immigranten, und er wuchs in Barcelona, der Hauptstadt von Katalonien, auf. Er studierte Philosophie und Geisteswissenschaften sowie Journalismus. Als junger Mann war er politisch aktiv, zuerst als Mitglied der Frente de Liberación Popular und ab 1961 der kommunistischen Partei PSUC (Partit Socialista Unificat de Catalunya). Wegen antifranqistischer Aktivitäten wurde er drei Jahre verhaftet. Seine journalistischen Texte wurden in den wichtigsten spanischen Zeitungen und Zeitschriften, sowie in französischen und italienischen Zeitungen veröffentlicht. Als Schriftsteller entwickelte er die Figur des Detektivs Pepe Carvalho in einer Serie von 24 Kriminalromanen, die zumeist in Barcelona spielen. Er wurde mit etlichen spanischen und internationalen literarischen Preisen ausgezeichnet, unter anderen mit dem International Grand Prix de Littérature Policière (1981) für Los mares del sur, Raymond Chandler award (1992) und Premio Nacional de Narrativa (1991) 7 Koch/ Oesterreicher (1990). 8 Vgl. Koch/ Oesterreicher (1990: 8). 9 Goffman (1967: 5). 10 Croom (2013: 184). 128 Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [134] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur sowie Premio Nacional de las Letras (1995). In seinen Werken zeigt sich sein großes Interesse an katalanischer und spanischer Küche. Laut Forschern, die sich mit Vázquez Montalbán befassen, liefern seine Kriminalromane eine Vielzahl von potentiellen Interpretationsebenen. So können sie als Chronik des Demokratieaufbaus in Spanien (als transición), als kritische Darstellung der katalanischen und spanischen Gesellschaft, insbesondere Barcelonas zu seiner Zeit, sowie als „ Analyse der politischen Ideologien oder des Aufbaus der persönlichen und gesellschaftlichen Identitäten “ 11 gelesen werden. Colmeiro 12 behauptet, dass „ die detektivische Recherche als Vorwand für seine Suche nach der eigenen Identität dient “ . 13 In Vázquez Montalbáns fiktionalen Werken, einschließlich der Carvalho- Serie, ist Identität ein wichtiges Thema, und zwar die nationale Identität, gesellschaftliche Identität (Klassenidentität), Geschlechtsidentität und sogar Altersidentität. Die Identität des Detektivs Pepe Carvalho ist nicht einfach zu charakterisieren. 14 Er steht zum Beispiel nicht für nationale Loyalität. Er lehnt die Benennung „ Galizisch “ oder „ Katalanisch “ ab, er verwendet die Benennungen mestizo und charnego 15 nicht für eine gemischt-ethnische Herkunft, sondern als Ausdruck für gemischt-biographische Tatsachen. Er wurde z. B. an einem Ort geboren und wuchs an einem anderen Ort auf, da seine Eltern Immigranten waren. Laut Santana 16 ist Carvalho dank seiner Herkunft ein Fremder in Barcelona. Die Carvalho-Serie wurde außerdem zu einer Zeit geschrieben, als der Diskurs zur kulturellen Identität in Katalonien und anderen Gebieten Spaniens an politischer Bedeutung gewann. Sie zeigte die Verachtung für nationalistische Ideale und Aufwertung der spanischen Gesellschaft zur Zeit der Immigration. Carvalho weist Eigenschaften anderer Gruppenidentitäten auf, z. B. die politische Identität als ehemaliges Mitglied der kommunistischen Partei und er praktiziert Klassensolidarität. Sein Büro befindet sich in einem verwahrlosten Stadtviertel, und seine Bekannten sind zumeist Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben oder nicht im Stande sind, ein normales, durch Arbeit und Familie bestimmtes Leben zu führen. Die Opfer in seinen Untersuchungen gehören oft der Bourgeoisie an. Durch Interviews mit den Angehörigen des Opferkreises wird dem Leser die gesellschaftliche Chronik der Stadt dargestellt. Die ökonomische Situation ist immer von Bedeutung, insbesondere die Beziehungen zu der lokalen oder staatlichen Regierungselite. Persönliche Geschichten stehen in einem größeren geschichtlichen 11 Santana (2000: 536). 12 Colmeiro (1994: 183). 13 Unsere Übersetzung von „ la encuesta policíaca sirve al investigador como excusa para la búsqueda de su propia identidad personal “ . 14 Vgl. King (2013: 29). 15 Siehe King 2013: 29). 16 Santana (2000: 542). Identität und Emotionalität in Übersetzungen 129 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [135] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Zusammenhang: falls die Figur alt genug ist, erfahren wir auch, welche Position sie im Bürgerkrieg vertrat und welchen Nutzen sie daraus zog. Carvalho selbst jedoch kann man politisch nicht identifizieren. Er arbeitete in den USA für die CIA und hat eine bürgerliche Vorliebe für Wein, Essen und Zigarren. Seine Bekannten sind von seiner Gewohnheit, Bücher als Zündungsmittel zu verwenden, schockiert. Carvalhos Identität wird durch seine eigene Chronologie deutlich. Er gehört zu der Nachkriegsgeneration, die in den schweren Jahren der Nahrungsrationierung, der autoritären Schule und der sexuellen Kontrolle durch die katholische Kirche aufwuchs. In seinem mittleren Alter ist er Mitglied der ‚ generación del desencanto ‘ , dessen bewusst, dass der spanische Übergang zur Demokratie zu viele politische Opfer verlangte. 3 Der Roman Los mares del Sur und seine zwei deutsche Übersetzungen Der Roman Los mares del sur wurde 1979 veröffentlicht und wurde mit dem Planeta-Preis 17 ausgezeichnet. Der Roman spielt im Jahre 1977, zwei Jahre nach Beginn des Demokratisierungsprozesses in Spanien. 18 Der Baumagnat und Lyrik-Liebhaber Carlos Stuart Pedrell wird auf einer Baustelle in Barcelona tot aufgefunden. Er war seit einem Jahr wie vom Erdboden verschluckt gewesen, und seine Familie und Freunde dachten, er sei in Polynesien in der Südsee. Seine Frau engagiert den Detektiv Pepe Carvalho, der Pedrells Kollegen, Familie, Freunde und Bekannte in San Magín befragt. Die deutsche Übersetzung erschien in zwei Ausgaben. Die erste Ausgabe wurde 1985 unter dem Titel Tahiti liegt bei Barcelona in der Übersetzung von Bernhard Straub beim Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg veröffentlicht. Die zweite Ausgabe ist ein E-Buch, veröffentlicht 2013 im Verlag Klaus Wagenbach Berlin unter dem Titel Die Meere des Südens, also mit der wörtlichen Übersetzung des spanischen Titels. Auch diese Ausgabe wurde von Bernhard Straub übersetzt und bearbeitet. Vázquez Montalbán wurde mehrmals mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, dem ältesten deutschen Krimipreis, der vom Bochumer Krimi- Archiv seit 1985 vergeben wird. Diesen Preis vergeben Literaturkritiker, 17 Planeta ist ein Verlagshaus. Laut Pluto Press ist dies der spanische “ Booker “ -Preis. 18 Nach Francos Tod im November 1975 kam es zu institutionellen Veränderungen, die zur Demokratieherstellung führten. Das Gesetz für die politische Reform (Ley para la reforma política) wurde im Januar 1977 verordnet. Die ersten demokratischen Wahlen fanden im Juni 1977 statt. Die neue Verfassung wurde mit dem Referendum im Dezember 1978 in Kraft gesetzt. Spanien wurde somit ein demokratischer Staat mit Nationalitäten wie Baskenland, Katalonien und Galizien. Im Jahre 1979 erhielt Katalonien das neue Statut der Autonomie, das Katalonisch neben dem Spanischen als die offizielle Sprache Kataloniens feststellte. 130 Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [136] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Literaturwissenschaftler und Buchhändler. Im Jahre 1986 erhielt Montalbán den dritten Platz mit dem Roman Carvalho und der Mord im Zentralkomitee; 1989 erhielt Montalbáns Roman El Balneario, „ Manche gehen baden “ , den zweiten Platz, ebenso wie Schuss aus dem Hinterhalt im Jahre 1991. 19 Der Übersetzer aller Werke Montalbáns ins Deutsche ist Bernhard Straub. Neben Los mares del sur übersetzte er folgende Werke: Carvalho und der Mord im Zentralkomitee (1986), Schuss aus dem Hinterhalt (1991), Carvalho und die tätowierte Leiche (1993), Carvalho und der einsame Manager. Ein Kriminalroman aus Barcelona (2013). 4 Der Rahmen für die Analyse der Emotionalität in der Fiktion Der Ausdruck von Emotionen ist eine der Hauptfunktionen der Sprache (emotive Funktion bei Jakobson 1960). Es ist logisch, dass fiktionale Werke diese Ebene auch enthalten. Es bestehen zahlreiche Ansätze zum linguistischen Ausdruck der Emotion, aber wir setzen unsere Forschung in den Rahmen, der Emotionen in das weite Bedeutungssystem integriert, das mit dem Begriff ‚ Attitude ‘ erfasst wird. Der Rahmen heißt Appraisal Theory (Bewertungstheorie, Martin and White 2005). Sie wurde entwickelt innerhalb von Hallidays systemisch-funktionaler Linguistik, einem theoretischen Ansatz, der die Sprache als gesellschaftlich-semiotisches Phänomen betrachtet. Die Bewertungstheorie konzentriert sich auf den Ausdruck der Bewertung als eine der Hauptfunktionen der Kommunikation. Einstellungsausdrücke können in drei Kategorien eingeteilt werden: Affekt, Urteil und Einschätzung. Der Affekt bezieht sich auf die emotionale Dimension der Bedeutung und positive und negative Gefühle. Das Urteil umfasst Einstellungen zum Verhalten, das wir bewundern, kritisieren, loben oder verachten. Die Einschätzung umfasst Bewertungen von semiotischen und natürlichen Phänomenen in Bezug darauf, wie sie im bestimmten Bereich evaluiert werden. Einstellungsausdrücke können negativ oder positiv sein, und sie können gestuft werden. Martin und White (2005) konzentrieren sich insbesondere auf den Wortschatz. Mit Hilfe von lexikalischen Einheiten unterschiedlicher Wortarten (Adjektive, Verben, Adverbien, Substantive) wird die Einstellung in den Text eingebettet. Die Bewertungstheorie bietet einen Weg, die textuelle Analyse zu systematisieren, so dass die Einstellung des Sprechers und die Leserposition identifiziert werden können. Die Untersuchung des Wortschatzes hinsichtlich der emotionalen Aufladung eines Textes ist die Methodologie, die Forscher aus Disziplinen mit 19 http: / / www.krimilexikon.de/ dkp/ index.html (5.11 2014) Identität und Emotionalität in Übersetzungen 131 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [137] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Interesse an Emotionen verwenden. In Psychologie und Psychiatrie wird das verbale Verhalten untersucht, um Emotion zu messen, zusammen mit z. B. physiologischen Veränderungen (Veränderungen im Nervensystem, Veränderungen im Muskelgewebe, Gesichtsausdrücken, usw.). Cohen (2011) schlägt ein Wörterbuch der Emotionswörter vor, das verwendet werden kann, um unterschiedliche psychologische Bedingungen festzustellen. Argaman (2010) testet emotionale Intensität unter experimentellen Bedingungen mit der Analyse einiger linguistischer Marker, unter ihnen auch des emotionalen Wortschatzes ( ‚ emotional lexicon ‘ ). Verglichen mit isolierten Listen der emotionsbezogenen Wörter liegt der Vorteil der Bewertungstheorie darin, dass Emotionalität, als Affekt verstanden, Teil eines größeren Systems der Bewertung ist. Bei unserer Analyse müssen wir beachten, dass emotionale Ausbrüche bei einem hartgesottenen Detektiv wie Carvalho nicht erwartet werden können. Auch wenn die Figur selten emotionsbezogene Wörter verwendet, kann Emotionalität implizit durch sein Urteil über Menschen und seine Einschätzung der Objekte um ihn erschlossen werden. Das Urteil über das Verhalten von anderen oder die Einschätzung der Dinge vermeiden die Äußerung eines Affekts, weil Bewertungen oft eine konventionalisierte Quelle haben. Carvalho kann diese Bewertungen entweder benutzen oder sie kritisch betrachten. Dies ist entscheidend für die Konstruktion der Identität durch Carvalhos Blick im Unterschied zur direkten Einbettung der Identitätsmerkmale. Wir werden versuchen zu zeigen, dass eine Beziehung zwischen Bewertung, Emotionalität und Identität besteht. 5 Emotionalität in zwei Abschnitten in Los mares del Sur Für die Analyse wurden zwei Abschnitte des Romans ausgewählt, da sie drei Aspekte kombinieren, die für uns von Interesse sind: Bewertung, Emotionalität und Identität. Der Inhalt des Romans bezieht sich auf das ärmliche Leben der Immigranten und auf die Nachkriegserinnerungen aus Carvalhos Kindheit. 5.1 Ausbruch von Ärger und Sarkasmus: Carvalhos Vorwurf gegen das gesellschaftliche Verbrechen von Stuart Pedrell Der Abschnitt, den wir als Muster für den emotionalen Ausbruch nehmen, handelt von der Identität und Bewertung der Immigranten und befindet sich im Mittelteil des Romans. Carvalho ist frustriert, weil es ihm nicht gelingt, aus seinen Befragungen von Personen, die Stuart Pedrell kannten - dessen Frau, der Tochter, seinen Freunden und Kollegen sowie ehemaligen Liebhaberinnen - einen Überblick zu erlangen. Seine Ermittlungen geraten ins Stocken 132 Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [138] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur und er sieht sich unfähig dazu, das Verbrechen aufzuklären. Nach dem Abendessen schläft Carvalho ein. Als er aufwacht, kommt ihm plötzlich eine Kette von Ideen in den Sinn. Demnach müsse der Ort, an dem der Leichnam gefunden wurde, aus der Sicht des Verbrechers der von der Mordstelle am weitesten entfernte Ort sein. Daraus schließt er, dass das Opfer nie die Südsee erreicht haben dürfte, sondern zum entferntesten Stadtteil geflüchtet sein müsse, nämlich in das Viertel San Magín. Wie Carvalho aus einem Buch über Stadtentwicklung erfährt, das er am Abend auf einer Dinnerparty geschenkt bekommen hat, war dieses Viertel von Pedrells Unternehmen für dessen Arbeiterschaft erbaut worden. Nach Darstellung der wichtigsten Inhalte und ohne graphische oder paratextuelle Mittel der Gliederung, erleben wir Carvalhos Reaktion auf diese Information in Form einer imaginären vorwurfsvollen Ansprache an das Opfer. Der Abschnitt lautet wie folgt: (1) AT San Magín fue poblado mayoritariamente por proletariado inmigrante. El alcantarillado no quedó totalmente instalado hasta cinco años después del funcionamiento del barrio. Falta total de servicios asistenciales. Reivindicación de un ambulatorio del seguro de enfermedad. De diez a doce mil habitantes. Menuda pieza estabas hecho, 20 Stuart Pedrell. ¿Iglesia? Sí. Se hizo una iglesia moderna al lado de la antigua ermita de San Magín. Todo el barrio sufre inundaciones cuando se desbordan las canalizaciones del Llobregat. El criminal vuelve al lugar del crimen, Stuart Pedrell. Tú te fuiste a San Magín a ver tu obra de cerca, a ver cómo vivían tus canacos en las cabañas que les habías preparado. ¿Un viaje de exploración? ¿Tal vez de búsqueda de la autenticidad popular? ¿Investigabas usos y costumbres charnegas? ¿La caída de la d en posición intervocálica? Stuart Pedrell, ¿qué coño fuiste a buscar a San Magín? En taxi. O en autobús. No. En metro. [2005, 107] Der emotionale Ausbruch fängt mit „ Menuda pieza estabas hecho, Stuart Pedrell “ an, der ein Ausrufesatz mit Missbilligung ist (obwohl da ein Satzzeichen fehlt). Carvalho nennt Stuart Pedrell menuda pieza und später criminal. Damit klagt er den Unternehmer eines gesellschaftlichen Verbrechens an, weil die Bauten, in denen Immigranten zumal unter schlechten Bedingungen leben, 21 von schlechter Qualität sind. Die linguistischen Mittel sind folgende: der Ausrufesatz hat eine nicht übliche syntaktische Struktur (Prädikativ ist vorangestellt). Das Adjektiv menudo, -a [wörtlich „ winzig “ ] vor dem Substantiv ist als Intensifikator im 20 Die Wörter wurden von Autorinnen hervorgehoben. 21 Später wird die Figur von Ana, Opfers Liebhaberin und eine sehr active Kämpferin für die soziale Gerechtigkeit, darauf hinweisen, dass Bedingungen viel besser in San Magín als in der Barackenstadt Somorrostro sind. Identität und Emotionalität in Übersetzungen 133 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [139] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Bewertungskontext verwendet, mit der Bedeutung eines übermäßigen Grades. Die lexikalische Auswahl ist auch bewertend, da das Substantiv pieza [wörtlich „ Stück “ ] ironisch verwendet ist, um jemanden zu bezeichnen, der schlau, scharfsinnig oder böse ist. Im Rahmen der Bewertungstheorie, ist es für das Urteil von +Fähigkeit (+capacity) aber - Ethik ( - ethics) verwendet. Die deutschen Übersetzungen des Abschnittes sind unten als ZT1 (Zieltext 1) und ZT2 (Zieltext 2) angegeben: (2) ZT1 San Magín wurde hauptsächlich von zugewanderten Arbeitern aus Südspanien bewohnt. Die Straßen waren erst fünf Jahre nach Fertigstellung der Siedlung vollständig asphaltiert worden. Soziale Einrichtungen fehlten ganz. Die Forderung nach einer Ambulanzklinik der Krankenkasse stand im Raum. 10 000 bis 12 000 Einwohner. Eine Kirche? Klar. Neben der alten Einsiedelei von San Magín wurde eine moderne Kirche gebaut. Der ganze Stadtteil steht unter Wasser, wenn die Kanalisation von Llobregat überläuft. Der Verbrecher kehrt an den Tatort zurück, Stuart Pedrell. Du bist nach San Magín gegangen, um dein Werk aus der Nähe zu betrachten, um zu sehen, wie die Kanaken in den Baracken hausen, die du ihnen gebaut hast. Eine Entdeckungsreise? Vielleicht die Suche nach der Ursprünglichkeit des Volkes? Wolltest du die Sitten und Gebräuche der Untermenschen erforschen? Den Ausfall des »d« in intervokalischer Position? Was zum Teufel hast du in San Magín gesucht? Der Alkohol verwandelte seine Venen in ein verzweigtes Netz aus Blei, und er schlief auf dem Sofa ein. (1985, 89/ 90) ZT2 San Magín wurde hauptsächlich von zugewanderten Proletariern aus Südspanien besiedelt. Erst fünf Jahre nach Fertigstellung waren die Straßen der Siedlung vollständig asphaltiert. Soziale Einrichtungen fehlten völlig. Die Forderung nach einer Ambulanzklinik der Krankenkasse stand im Raum. Zehnbis zwölftausend Einwohner. Warst ja ein sauberer Vogel, Stuart Pedrell. Eine Kirche? Klar. Neben der alten Einsiedelei von San Magín wurde eine moderne Kirche gebaut. Der ganze Stadtteil steht unter Wasser, wenn die Kanalisation von Llobregat überläuft. Der Verbrecher kehrt an den Tatort zurück, Stuart Pedrell. Du bist nach San Magín gegangen, um dein Werk aus der Nähe zu betrachten, um zu sehen, wie deine Südsee-Kanaken in den Hütten hausen, die du ihnen gebaut hast. Eine Forschungsreise? Vielleicht die Suche nach der Ursprünglichkeit des Volkes? Wolltest du die Sitten und Gebräuche der xarnegos erforschen? Den Ausfall des »d« in intervokalischer Position? Stuart Pedrell, was zum Teufel hast du in San Magín gesucht? Im Taxi? Oder mit dem Bus? Nein, mit der Metro. Bestimmt bist du mit der Metro gefahren, zwecks größerer Übereinstimmung zwischen Form und Hintergrund der weiten Reise in die Südsee. (2013, 95) 134 Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [140] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Neben emotional aufgeladenen Wörtern finden wir in der zweiten Übersetzung eine Veränderung in der syntaktisch-topologischen Struktur. In der ersten Ausgabe wird die Dauer der Asphaltierung 22 nicht hervorgehoben, während eben das in der zweiten Ausgabe als wichtige Information ins Vorfeld gerückt wird. Dies betont die schlechten Wohnverhältnisse in San Magín. In der ersten Übersetzung fehlt der missbilligende Ausruf und damit ein Teil von Urteil der Fähigkeit. In der zweiten Übersetzung wurde der Satz Warst ja ein sauberer Vogel, Stuart Pedrell benutzt, obwohl nicht mittels eines Ausrufesatzes markiert. Dieser Ausdruck ist im Gegenwartsdeutschen nicht geläufig (nicht belegt in Wörterbüchern), aber sauber kann mit der Bedeutung „ sich in Ablehnung, Verachtung hervorrufender Weise anderen gegenüber verhaltend; nicht anständig “ (DUW) ironisch verwendet werden. Es kann auch eine intensivierende Funktion in der Kombination mit dem Substantiv Vogel haben, oft eine außergewöhnliche Person im Jargon mit einer humorvollen Konnotation bezeichnend. Dieser elliptische Satz ohne das Subjekt du bildet Mündlichkeit und das umgangssprachliche Register nach. Die Modalpartikel ja ist in deklarativen und exklamativen Sätzen geläufig und hat die Funktion, eine Tatsache zu bestätigen, aber auch Ironie oder Überraschung anzudeuten. 23 Dieser Ausdruck kann als das funktionale Äquivalent zum Ausgangstext angesehen werden. Später bringt Carvalho in seiner Schimpftirade seine Identifikation mit den Immigranten in San Magín durch die Nutzung zweier Begriffe zum Ausdruck: canacos and charnegas. Da die lexikalische Auswahl von seinem Ärger beeinflusst ist, lohnt es sich, den Kontext im Ausgangstext und die translatorischen Lösungen zu untersuchen. Das Wort canacos [wörtlich „ Kanake “ ] ist im Spanischen - im Unterschied zum Deutschen - nicht abwertend: es bezeichnet einheimische Einwohner auf Tahiti und anderen Südsee-Inseln. Es wird hier von Carvalho metaphorisch gebraucht, da er den Bewohnern von San Magín die Exotik der Einheimischen in Polynesien zuschreibt. Die Metapher wird zudem durch den Begriff cabañas [wörtlich „ Hütten “ ] erweitert, eine bescheidene Behausung, die mit Bewohnern Polynesiens in Verbindung gebracht werden kann. Die Metapher ist an sich nicht abwertend, obwohl sie dem Bauherrn Stuart Pedrell emotionale gesellschaftliche Distanz verleiht. Aber Carvalho verwendet den Ausdruck ‚ canacos ‘ intertextuell, bezogen auf die frühere Referenz auf Gauguin und Mythos über Südsee. Die ‚ canacos ‘ verkörpern eine Gruppe von Menschen anders als Menschen von Stuart Pedrell. 22 Asphaltierung ist hier nicht die richtige Übersetzung. Das spanische Wort lautet ‚ alcantarillado ‘ und bedeutet Abwasserkanal. Es dauerte also fünf Jahre bis der Abwasserkanal angelegt wurde. 23 Vgl. DUW (2003). Identität und Emotionalität in Übersetzungen 135 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [141] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Die erste Übersetzung nutzte das Wort Kanaken, während die zweite Ausgabe das Wort Südsee-Kanaken verwendet. Das Wort Kanake kommt vom polynesischen kanaka ( „ Mensch “ in DUW). Im Deutschen bezeichnet es einen Polynesier oder jemanden, der von den Südseeinseln stammt. Die zweite Bedeutung ist ein diskriminierendes Schimpfwort, verwendet für fremde Arbeiter, vor allem Türken. Die dritte Verwendung des Wortes ist umgangssprachlich abwertend für jemanden, der für einen verächtlichen und verhassten Menschen gehalten wird. Der Übersetzer betont die geographische Abstammung der Fremden, sie kommen von der Südsee, und so verliert das Wort Kanaken seine abwertende Bedeutung. Jedoch ist das Wort Kanaken in der ersten Übersetzung semantisch reicher als das spanische Original; sein abwertender Gebrauch impliziert eine Bewertung und erhöht die emotionale Aufladung. In der Bewertungstheorie implizieren Pejorativa Einstellung. Obwohl Martin und White keine gesonderte Kategorie vorschlagen, finden wir es angebracht, Pejorativa in die Kategorie ‚ Urteil ‘ , insbesondere ‚ Normalität ‘ zu stellen, begründet durch die Tatsache, dass Stereotype Kategorisierungen aufgrund erkannter Unterschieds umfassen. Carvalho verwendet das Wort charnegas (er sieht sich übrigens selber auch als einen solchen), das auf zwei unterschiedlichen Ebenen fungiert: Erstens als die Stimme des toten Mannes, Mitglied des katalanischen Bürgertums, der das Wort vielleicht in seiner pejorativen Bedeutung benutzte, um auf die Immigranten - insbesondere aus den südlichen spanischen Gebieten Andalusien und Extremadura - zu verweisen; zweitens in der Verwendung, um die Würde der Gruppe zu verteidigen. In der ersten Übersetzung verlagert die Auswahl von Untermenschen für charnegas die Bewertung von Normalität auf Fähigkeit, während die negative Richtung erhalten bleibt. Was die Anwendung von xarnegos in der zweiten Übersetzung angeht, so ist es ein Lehnwort aus dem Katalanischen (erkennbar an der Schreibweise mit x statt ch). Das Wort ist im Text hervorgehoben und bietet einen hypertextuellen Zugang zu den Anmerkungen (Glossar) am Ende des Buches. Die Fußnote bietet die Denotation an: “ katalanisch für Immigranten aus Südspanien “ (S. 196), liefert aber keinen Verweis auf die abwertende Bedeutung, die dem deutschen Leser helfen würde, den Satz als Kritik am katalanischen Bürgertum zu verstehen. Das Lehnwort behält das fremde, originale Element und rückt die Identitätsfrage in den Vordergrund, obwohl Kenntnisse über die damalige Gesellschaft für das Verstehen erforderlich sind. 5.2 Erinnerung an den Ausflug aus der Kindheit Dieser Abschnitt schließt sich dem vorigen an und schildert die Episode aus Carvalhos Kindheit, einen Ausflug zum Stadtrand von Barcelona, in ein halbländliches Gebiet, auf dem später Stadtviertel wie das von San Magín entstanden. Diese Erinnerungen weben sich in seinen Gedankenstrang ein; der Leser erfährt von ihnen durch den Erzähler in der dritten Person. 136 Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [142] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Bezüglich der Theorie von Textwelten 24 schafft die Erinnerung einen neuen konzeptuellen Raum innerhalb der Textwelt von Carvalhos Gegenwart, d. h. eine ‚ Sub-Welt ‘ . Auf diese Weise entsteht eine eigenständige Situation, da sie die Realität außerhalb von Parametern der bestehenden Text-Welt schafft. 25 Carvalho erinnert sich daran, wie er seine Mutter auf dem Weg auf das Land und zurück in die Stadt begleitete, als sie Lebensmittel von Bauern kaufte. Der nostalgische Ton des Abschnitts trägt dazu bei, Carvalhos Identität als ein Mitglied der Nachkriegsgeneration zu konstituieren. Während der konzeptuelle, durch Fiktion erzeugte Raum auf individuelle Erinnerung des Lesers wirkt, könnte der Verweis auf gemeinsam geteilte Erfahrungen absichtlich gebraucht worden sein um die kollektive Erfahrung durch emotionale Identifikation zu verstärken. Depetris 26 zufolge liegt die Intention, den Diskurs über die Vergangenheit zu erneuern, darin, die Gegenwart der transición zu kritisieren. In diesem Abschnitt finden wir Evaluation der Dinge, die den Leser dazu veranlassen könnte, der Bewertung des Autors zuzustimmen. 27 Die tatsächliche Beschreibung beruht auf der Darstellung der wahrgenommenen Einzelheiten und poetischer Sprache. Auf diese Weise nehmen wir die kindliche Bewertung bescheidener Nahrung, Brot und Öl, wahr. Dies ist eine wichtige Episode dank der Bedeutung der Nahrung in Carvalhos Romanen: er nennt oft verschiedene Speisen, beschreibt, wie er kocht und achtet das Essen als eines der grundlegenden menschlichen Genüsse. Carvalhos Erfahrung enthält lebendige Einzelheiten und Farben — die grauen Stangen, das grüne Öl, das weiße Brot, malvenfarbige Radfahrer — sowie kinetische Qualität, Langsamkeit und Schwere. Sein Blick trennt einige Gegenstände, denen er auf dem Weg begegnet: die Stadt, das Öl, das Brot, die Pferde, die Radfahrer, die Straßen und die Villen. (3) AT La ciudad mellada de la posguerra, una ciudad delgada llena de palos grises y huecos. [2005, 108] ZT1 Aus der Ferne kam die Stadt auf sie zu, mit den Lücken, die der Krieg gerissen hatte, eine magere Stadt voll grauer Masten und Löcher. Warum gab es so viele graue Masten auf den Dächern? [1985, 90] ZT2 Aus der Ferne kam die Stadt auf sie zu, voller Lücken des Bürgerkriegs, eine magere Stadt mit vielen grauen Stangen und Löchern. Warum gab es so viele graue Stangen auf den Dächern? [2013, 96] 24 Werth (1999). 25 Simpson (2004: 91). 26 Depetris (2011: 107). 27 Martin und White (2005: 62). Identität und Emotionalität in Übersetzungen 137 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [143] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Die Stadt wird mit den Adjektiven mellada und delgada beschrieben. Das Adjektiv mellada [wörtlich „ lückenhaft “ ] enthält eine Bewertung, begründet auf Wahrnehmung, insbesondere der negativen Bewertung der Gestaltung der Stadt. Es kann den Schaden am Ruf, Krankheit usw. bezeichnen. In diesem Kontext kann es als Referenz auf leere Räume an Stelle von eingestürzten Gebäuden interpretiert werden (Einwirkung der vernichtenden Bombenangriffe). Das Erwähnen der grauen hohlen Stangen, wahrscheinlich bezogen auf hölzerne Schornsteine oder Kohleöfen, verbunden mit ärmlichen Heizungsmitteln, ist hauptsächlich das Beispiel der implizierten Bewertung durch die Konnotationen der grauen Farbe. In den Übersetzungen drückt das Substantiv ‚ Lücken ‘ den Sinn von mellada explizit aus: eine Bewertung wird durch die sachliche Feststellung der Ursachen abgegeben, nicht impliziert. Das Adjektiv delgada ist wörtlich als „ mager “ angegeben, womit die negative Beurteilung der Stadtgestaltung behalten wurde. Unmittelbar danach schildert der Autor das Einfließen von Öl in eine Flasche. (4) AT Cayó en el interior de la botella como un mercurio verde y lento. Esto sí que es aceite de verdad y no el de racionamiento. [2005, 108] ZT1 Es floß in die Flasche, grün und dick wie Quecksilber. Das ist echtes Olivenöl, nicht das, was man auf Marken bekommt. [1985, 90] ZT2 Es fiel ins Innere der Flasche wie grünes und langsames Quecksilber. Das ist richtiges Olivenöl, nicht jenes, das man auf Marken bekommt. [2013, 96] Der erwachsene Carvalho erinnert sich daran, wie das Öl in die Flasche einfloss und kehrt dann, signalisiert durch die Stimme seiner Mutter im Präsens, in die Vergangenheit zurück, um sich an die Auswirkung dieses Moments auf ihn zu erinnern. Die Phrase de verdad drückt die positive Bewertung aus. In der ersten Übersetzung drückt ‚ echtes ‘ die Reinheit (Beschaffenheit) aus, während sich ‚ richtiges ‘ auf die Bewertung wie im Ausgangstext bezieht. Die niedrige Viskosität des Öls wird durch ‚ lento ‘ ( „ langsam “ ) veranschaulicht, was ein Urteil der Fähigkeit mit positiver Ausrichtung ist. Die zweite Übersetzung behält ‚ langsames ‘ bei (was die Geschwindigkeit als den physischen Effekt der Viskosität in den Vordergrund stellt), während die Auswahl von ‚ dick ‘ in der ersten Übersetzung die Komposition des Materials in den Vordergrund rückt. Somit behält die Auswahl der Adjektive in der zweiten Übersetzung die Komponenten der Evaluation in größerem Ausmaß bei als die erste Übersetzung. 138 Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [144] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Später lesen wir von der Beschreibung des Brotes, das Mutter und Sohn von einem Bauern gekauft hatten. (5) AT En su bolsa de hule había cinco barras, cinco de pan blanco, blanquísimo, como de yeso. [2005, 108] ZT1 in der ersten Übersetzung nicht vorhanden [1985, 90] ZT2 In seiner Wachstuchtasche steckten fünf Stangen. Fünf Weißbrotstangen, sehr weiß, weiß wie Gips. [2013, 96] Zwei Wiederholungen, blanco, blanquísimo tragen unterschiedliche Bedeutungen bei; das erste Wort in pan blanco bezeichnet die Brotsorte (Brot aus feinem Mehl), während das zweite Wort blanquísimo die Farbe des Brotes bezeichnet und eine positive Bewertung hervorruft, intensiviert durch das Superlativmorphem -ísimo. In Nachkriegs-Spanien ist das weiße Brot eine positive Eigenschaft, da feines weißes Mehl die beliebteste Sorte war. Im Gegensatz dazu bekam man schwarzes Brot auf Coupons, oft mit Vollkornmehl aus Getreide, anders als Weizen im beliebten weißen Brot. Der Vergleich der weißen Brotfarbe mit der weißen Farbe der Kreide dient zusammen mit der positiven Reaktion um positive Bewertung hervorzurufen. Somit hängt der Gebrauch der Metapher mit dem Ausdruck der Emotionen zusammen. 28 In der ersten Übersetzung fehlt diese Bewertung der Brotsorte, was die Emotionalität beeinflusst. Im ersten Satz der zweiten Übersetzung bleibt unklar, dass es sich beim Inhalt der Tasche um Brotstangen handelt; sie werden nur als Stangen bezeichnet. Das Wort wird oft wiederholt, auch im zweiten Satz mit dem Bestimmungswort in der Zusammensetzung Weißbrotstangen. So werden Stangen in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet (graue Stangen und Brotstangen). Das könnte als Hinweis darauf verstanden werden, dass Brot hart war (vielleicht altes Brot, oder es gab keine Hefe, um es weich zu machen). In der Übersetzung wird das Adjektiv weiß dreimal wiederholt, zuerst in der Zusammensetzung, dann mit sehr intensiviert und zuletzt im Vergleich weiß wie Gips. Gegen Ende der Beschreibung nähern sich der Junge und seine Mutter der Stadt. Sie gehen auf den Straßen zusammen mit Zugpferden. 28 Vgl. Argamann 2010. Identität und Emotionalität in Übersetzungen 139 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [145] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur (6) AT Campos y campos, caminos pedregosos por los que pasaban ciclistas amalvados por el crepúsculo o carros movidos por percherones lentos y pesados como su mierda rotunda. [2005: 108] ZT1 in der ersten Übersetzung nicht vorhanden [1985, 90] ZT2 Felder, nichts als Felder, steinige Wege mit Radfahrern, die in der Dämmerung violett aussahen, und Karren, die von Ackergäulen gezogen wurden, ebenso langsam und schwer wie ihre runden Pferdeäpfel. [2013, 96] Die Zugpferde werden als lentos (wörtlich „ langsam “ ) beschrieben, womit ein negatives Urteil hinsichtlich ihrer Fähigkeit ausgedrückt wird. Ebenso sind sie als pesados (wörtlich „ schwer “ ) beschrieben und mittels einer Synekdoche mit ihren eigenen Fäkalien verglichen. Im Spanischen ist mierda ein Tabuwort, das möglicherweise auf Carvalhos Bindung an die Unterschicht hinweist. Rotunda verstehen wir als ‚ schwer ‘ oder ‚ reichlich ‘ und als negative Evaluation des Düngers. Die Kollokation von mierda mit rotunda ist nicht üblich, da das Adjektiv zur Bezeichnung des ganzen Körpers (abgerundet und stämmig) oder des Sprechaktes (una negativa rotunda, „ ein emphatisches ‚ Nein ‘“ ), nicht aber zur Bezeichnung eines großen Gegenstandes verwendet wird. Die Auswahl hilft die Prosodie 29 der Schwere und den Mangel an Liebreiz der überforderten Pferde zu behalten. Wie palos grises (graue Stangen) sind diese schweren Pferde Komponenten, welche die physische und emotionale Landschaft der Abendreise nach Hause abzubilden helfen. In der zweiten Übersetzung ist das Wort Felder mit nichts als Felder betont. Die Auswirkung von mierda rotunda ist abgeschwächt, da Kötel rund sind. Die Radfahrer sehen im Sonnenuntergang ‚ violett ‘ aus, ohne die Möglichkeit ein deutsches Äquivalent für den spanischen Neologismus amalvados zu bilden; die Wahl der Farbe violett betont wohl eher die Romantik als die Melancholie des Sonnenunterganges. Die Adjektive ‚ langsam ‘ und ‚ schwer ‘ rufen ein Urteil der Fähigkeit hervor. In diesem Abschnitt bietet der syntaktische Rahmen zusammen mit der Evokation spontaner Gedanken das Gerüst für lexikalische Mittel der Bewertung. Darunter ist Folgendes zu erwähnen: Wiederholungen (la ciudad . . . , una ciudad; cinco barras, cinco de pan blanco, blanquísimo, como de yeso), die Wiederholung mit asymmetrischer Koordination (campos y más campos) und die markierte Reihenfolge der Konstituenten zu Zwecken der Informationsstruktur (die kontrastive zweiteilige Struktur ‚ X y no Y ‘ ). Die zweite Übersetzung behält etwas von den expressiven syntaktischen Eigenschaften wie Wiederholungen (die Stadt auf sie zu, . . . eine magere 29 Prosodie bezieht sich hier darauf, dass ein Wort seine positive oder negative Aufladung durch den Gebrauch mit anderen Wörtern realisiert (vgl. Louw 1993). 140 Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [146] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Stadt mit . . . , fünf Stangen. Fünf Weißbrotstangen, sehr weiß, weiß; mit vielen grauen Stangen . . . soviele graue Stangen) und die markierte Reihe der Konstituenten zu Zwecken der Informationsstruktur ( ‚ X nichts als Y ‘ ) wie in „ Felder, nichts als Felder “ . Die Tatsache, dass Teile der Beschreibung in der ersten Ausgabe fehlen, weist darauf hin, dass der Roman auf den deutschen Markt als Kriminalroman mit der primären Betonung auf die Frage „ Who ’ s dunnit? “ eingeführt wurde. Unter dieser Fragestellung könnten Carvalhos Kindheitserinnerungen ausgelassen werden, die für die Hauptgeschichte nahezu irrelevant sind. Die Tatsache, dass die Übersetzung in der neueren Ausgabe dem Originaltext völlig äquivalent ist, weist darauf hin, dass die politischen, ideologischen und geschichtlichen Aspekte anders bewertet werden. 6 Fazit Beide Übersetzungen verfügen über das nötige syntaktische Gerüst für den Ausdruck von Ärger und der Nostalgie durch fingierte Mündlichkeit (Ausrufesätze, Wiederholungen, markierte Konstruktionen für die Informationsstruktur, usw.). Jedoch unterscheiden sich die beiden Übersetzungen in ihrer Herangehensweise zum Ausgangstext. Die Auslassung des textuellen Materials in der ersten Übersetzung (Urteil von Stuart Pedrell am Anfang der Schimpftirade, Bezüge auf Brot und Zugpferde im Abschnitt mit den Kindheitserinnerungen) deutet darauf hin, dass der Roman in der damaligen Herausgeberpraxis zuerst ein handlungsorientierter Detektivroman war. Die zweite Übersetzung zeigt ein größeres Bewusstsein der in den Werken von Vázquez Montalbán enthaltenen literarischen Werte, da sie das gesamte Textmaterial beibehält und in zahlreichen Aspekten dem Ausgangstext genauer folgt als die erste Ausgabe. Die Analyse der emotionalen Aufladung und Identitätsaspekte in den Texten im Rahmen der Bewertungstheorie hat sich als nützlich bei der Identifizierung von Ähnlichkeiten und Unterschiede erwiesen. Was die positive oder negative Orientierung angeht, bemerken wir beispielsweise, dass das übertragene, aber neutrale spanische Wort canacos mit dem im Deutschen negativ konnotierten Wort ‚ Kanaken ‘ in der ersten Ausgabe und mit dem um etwas mehr Neutralität bemühten Ausdruck ‚ Südsee-Kanaken ‘ in der zweiten Ausgabe wiedergegeben wird; das negative Konnotat von charnegas ist in der ersten Übersetzung als ‚ Untermenschen ‘ wiedergegeben, und es bleibt beim Lehnwort xarnegos unklar, was nur diejenigen mit Kenntnis über die Gesellschaft in Katalonien verstehen werden. Die Wiedergabe von charnegas ist besonders brisant, da das Wort nationale und soziale Identitäten verkörpert. Im nostalgischen deskriptiven Abschnitt ist die Orientierung recht allgemein gehalten. Doch wir haben Veränderungen in den Bewertungskategorien bemerkt, insbesondere in der ersten Übersetzung, verursacht durch Identität und Emotionalität in Übersetzungen 141 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [147] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur die Wahl der Lexik (von Urteil der Fähigkeit bei lento bis zur Bewertung der Stofflichkeit bei ‚ dick ‘ , von der Wirkung im Falle von rotunda bis zur evaluativen Fähigkeit von ‚ rund ‘ , von Normalität in charnegas bis zur Fähigkeit im Falle von ‚ Untermenschen ‘ ). Wir haben ferner Übersetzungen mit der sachlichen Paraphrase ( ‚ mellada ‘ als ‚ mit den Lücken ‘ und ‚ voller Lücken ‘ ) bemerkt. Die tatsächliche Information dient der Bewertung indirekt, durch Implikation. Die emotionale Reaktion sollte intensiv sein, mit expliziter Bewertung der lexikalischen Auswahl, und weniger intensiv mit sachlichen Paraphrasen. Was den Analyserahmen betrifft, war es allgemein möglich, die bestehende Ontologie zu verwenden, um Implikationen der Evaluation zu klassifizieren. Jedoch bestehen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Evaluation oder bei der Interpretation der bewertenden Absicht - und natürlich muss man sich auch der Subjektivität des Rezipienten bewusst sein. Ein Beispiel ist die Übersetzung von ‚ lento ‘ bei der Beschreibung von Olivenöl. Wir stellen fest, dass Langsamkeit ein Anzeichen der Ölqualität ist und daher dem Bereich der Evaluation angehört. Aber die Kategorie der Evaluation, wie Martin und White (2005) sie präsentieren, schließt die Eigenschaften von Gegenständen wie Langsamkeit oder Dichte der Flüssigkeit nicht ein. Der Gebrauch von Adjektiven als Mittel der Evaluation macht sie zum Teil des Bewertungssystems. In diesem Fall konstatieren wir, dass ‚ lento ‘ ein Urteil der Fähigkeit (Auswirkung der Qualität) ist, während ‚ dick ‘ eine Einschätzung der Beschaffenheit ist. 30 Da die Affektkategorie für die Zwecke der Abhandlungen über Identitäten notwendig ist, sollte die künftige Arbeit die Analyse auf weitere relevante Abschnitte dieses Werkes sowie anderer Romane und Serien erweitern. Bibliographie Primärliteratur Manuel Vázquez Montalbán, Los mares del sur. 2 Barcelona 2005. Manuel Vázquez Montalbán, Tahiti liegt bei Barcelona, Reinbek bei Hamburg 1985. Manuel Vázquez Montalbán, Carvalho und die Meere des Südens, Berlin 2013 (E-Book Ausgabe). Sekundärliteratur Osnat Argaman, Linguistic Markers and Emotional Intensity, in: Journal of Psycholinguistic Research, 39, 2010, S. 89 - 99. Aleida Assmann/ Heidrun Friese (Hrsg.), Identitäten. (Erinnerung, Geschichte, Identität 3), Frankfurt am Main 1998. 30 Diese Unterscheidungen sind etwas beliebig, und sie verlangen Koordination zwischen Teams, falls lange Texte analysiert werden sollten. Siehe Diskussion in Taboada/ Carretero/ Hinnell (2014). 142 Anna Espunya und Anita Pavi ć Pintari ć Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [148] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Shuki Cohen, Mesurement of negativity bias in personal narratives using corpus-based emotion dictionaries, in: Journal of Psycholinguistic Research, 40, 2011, S. 119 - 135. José F. Colmeiro, La novela policíaca española: teoría y crítica [Der spanische Thriller: Theorie und Kritik], Barcelona 1994. Adam M. Croom, How to do things with slurs: Studies in the way of derogatory words, in: Language & Communication 33/ 2013, S. 177 - 204. 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Unzählige Untersuchungen und Studien bringen immer neue Erkenntnisse, welche sich zwar möglicherweise unterscheiden, dennoch aber alle zu einem einheitlichen Ergebnis kommen (so auch der Psychoanalytiker Erik H. Erikson), 1 nämlich dass der Mensch nicht mit einer völlig herausgebildeten Identität auf die Welt kommt, sondern dass sich diese entwickelt, bzw. passend erstellt wird. Die Identitätsbildung ist demzufolge, ein lebenslanger „ subjektiver Konstruktionsprozess “ . 2 Es muss betont werden, dass die Identität jeder Person aus mehreren Bestandteilen besteht, die als sogenannte Teilidentitäten bezeichnet werden. Demnach formt die Gesamtheit all dieser Bestandteile, d. h. dieser Teilidentitäten, eine vollkommene Identität. Mögliche Aspekte einer Identität sind beispielsweise die kollektive Identität, die Identität und Erwerbstätigkeit und die Identität und Intimität. In diesem Beitrag sollen vor dem Hintergrund der Emotionalität, Identitätskonstruktionen des Protagonisten Walter Faber aus Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht untersucht werden. Eine solche Analyse des Romans ist von großer Relevanz, da heutzutage die Identitätsfrage besonders im Hinblick auf die Emotionalität aktueller ist denn je, wenn man bedenkt, wie zersplittert die Ich-Identität des heutigen Menschen sein kann. Die Ich-Identität zerbricht vor allem am alltäglichen Stress, zahlreichen Herausforderungen im beruflichen, aber auch im privaten Leben. Mit der gegenwärtig technisch ausgerichteten Welt identifizieren sich immer mehr Menschen, so ist die Analyse diverser Identitätskonstrukte am Beispiel Walter Fabers aktueller als je zuvor. Ähnlich wie Faber, wendet sich der berufliche Mensch heute dem technischen Fortschritt zu, was in einer emotionalen Abschottung vom sozialen Leben resultiert. Die dadurch verursachte Inkompetenz eine emotionale Beziehung zu den jeweiligen Mitmenschen aufzubauen und somit eine emotionale Identität zu entwickeln, führt nicht selten zum Scheitern (Identitätsverlust) oder letztendlich zum Suizid. Demnach kann durchaus hervorgehoben werden, dass Max Frischs Homo faber. Ein Bericht. ein Werk ist, das seiner Zeit voraus war und gegenwärtig gerade den Höhepunkt an Aktualität erreicht, weil es nicht wegzudenkende Fragen aufweist, die sich vor allem auf 1 Vgl. dazu Erik H. Erikson (1970). 2 Vgl. dazu Keupp (2008). Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [150] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur die Konstrukte der Identität beziehen, welche in dieser Arbeit hervorgehoben und anhand der emotiven Konstellation der Figur des Walter Faber herausgefiltert und herausgearbeitet werden sollen. Es geht hier um fünf mögliche Konstrukte: Identität und Emotionen, Identität und Erwerbstätigkeit, kollektive Identität, Identität und Intimität und Identitätskrise. Es soll exemplarisch anhand der (Un-)Fähigkeit des Protagonisten gezeigt werden, wie Emotionalität das Leben eines Menschen innerhalb einer Gesellschaft formt und wie ihn die Auffassung von Natur und Welt bestimmt und die genannten Identitätskonstrukte herausbildet. Bevor die eigentliche Analyse stattfindet, richtet sich das Augenmerk auf die relevante Begriffsklärung der Identität für diese Untersuchung. 1 Zur Begriffsbestimmung von Identität Identität, wie zahlreicher Sekundärliteratur zu entnehmen ist, ist ein soziales Konstrukt. 3 Sie entwickelt sich durch Beziehungen zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Diese sind insofern von großer Wichtigkeit für die Identitätsbildung, als dass sie dem Einzelnen durch Reaktionen und Rückmeldungen zeigen, wer er eigentlich ist und ihm so seine eigene Identität bewusst machen. 4 Demnach ist „ [der] Prozeß, aus dem heraus sich die Identität entwickelt, [. . .] ein gesellschaftlicher Prozeß [. . .] “ , 5 der im Rahmen der sozialen Interaktionen stattfindet. Diese Interaktionen, und damit verbunden auch das verwendete Sprachensystem, spielen laut George H. Mead (1973) die wichtigste Rolle bei der Bildung der Identität jedes einzelnen Individuums. 6 Durch die Sprache in den sozialen Interaktionen gibt das Individuum den Gesprächsteilnehmern seine Persönlichkeit preis, aber die Sprache hilft dem Einzelnen auch, die vorherrschenden Erwartungen der Gesellschaft zu ergründen und zu erfüllen. Das Ziel ist es nicht nur, seine eigene Identität zu entwickeln, sondern auch soziale Anerkennung und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zu erlangen. 7 2 Identität und Emotionen Generell betrachtet sind Emotionen von großer Bedeutung, denn sie stellen einen signifikanten Teil der Identität dar. Emotionen sind „ komplexe Phäno- 3 Vgl. dazu George H. Mead (1973). 4 Vgl. dazu Müller (2011: 27). 5 Mead (1973: 207). 6 Vgl. dazu Müller (2011: 36). 7 Vgl. dazu Keupp (2006: 28). Identitätskonstruktionen in Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht 145 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [151] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur mene “ 8 und können als die jeweilige Gefühlslage und Gefühlsäußerung einer Person definiert werden, jedoch ist zu beachten, dass sie nicht reflexartig und isoliert entstehen. Vielmehr entwickeln sie sich durch ihre Deutung und Interpretation des jeweiligen Subjekts unter Berücksichtigung verschiedener Komponenten. 9 Jürgen Gerhards (1988) zufolge werden somit Emotionen „ [. . .] als das Ergebnis des Zusammenspiels der Systeme Organismus, Persönlichkeit, Sozialstruktur und Kultur begriffen “ . 10 Zusätzlich muss betont werden, dass Emotionen in den erwähnten vier Ebenen vor allem durch das in sozialen Interaktionen verwendete Sprachsystem, hierbei ist sowohl die verbale als auch die nonverbale Kommunikation, d. h. mimisches Ausdrucksverhalten gemeint, vermittelt. Das Individuum lernt mit den eigenen Gefühlen umzugehen, sie in gewissen Situationen zuzulassen und zu zeigen oder sogar zu unterdrücken, aber auch Emotionen zu regulieren und in seine Identität zu integrieren. Die Emotionen verhelfen dem Einzelnen, seine persönliche Identität und somit auch sein Selbstbild zu konstruieren und zu konkretisieren. Emotionen bestimmen das Handeln und Verhalten und sie legen auch gewisse Zugehörigkeiten fest. Dabei geht es, weil das Individuum mithilfe seiner Emotionen mögliche Zugehörigkeiten erwägt, beurteilt und unterstützt, um die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen (gedacht sei hier an die Zugehörigkeit im Sinne von Nationalität, Religion und dergleichen). 11 Zwei weitere überaus wichtige Aspekte der Identität 12 für diese Arbeit, die im Folgenden geklärt werden sollen, sind die jeweilige Erwerbstätigkeit und die kollektive Identität. 3 Identität und Erwerbstätigkeit/ Erwerbsarbeit Die Erwerbsarbeit ist, wie Heiner Keupp (2006) anführt, einer der zentralsten und grundlegendsten Anhaltspunkte der Identitätsentwicklung. Sie ist nicht nur der Stützpfeiler der Identität, sondern ein sehr wichtiger Aspekt, der die soziale und gesellschaftliche Zugehörigkeit des Einzelnen ermöglicht. Zusätzlich ist der Beruf einer Person ausschlaggebend, wenn es darum geht, soziale Anerkennung zu erlangen, die eigene Zukunft zu planen und zu sichern und die persönliche Identität zu entwickeln. 13 Je nach Individuum, kann die Erwerbsarbeit der bedeutendste Bereich seines Lebens sein, höchste Priorität haben und dementsprechend auch großen Einfluss auf den Jeweiligen und seine Identität ausüben. Er kann sich unter idealen Umständen 8 Vgl. mehr dazu Steinfath (2001: 197). 9 Vgl. Gerhards (1988: 188). 10 Gerhards (1988: 187). 11 Vgl. Neuffer (2012: 9). 12 Vgl. dazu Keupp (2006). 13 Vgl. Keupp (2006: 44 ff.). 146 Petra Ž agar- Š o š tari ć und Anita Badurina Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [152] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur sogar mit ihr ‚ identifizieren ‘ . Für die Arbeit, die man ausübt, bekommt man zugleich den Großteil der sozialen Anerkennung, wie z. B. die Anerkennung für die Zuverlässigkeit oder Kontaktbereitschaft. 14 Der Beruf schließt soziale Isolation aus und ermöglicht dem Individuum, neben der bereits erwähnten sozialen Anerkennung, auch die Teilnahme an der Gesellschaft sowie die produktive Selbstverwirklichung, da man in der jeweiligen Erwerbstätigkeit im Idealfall seine persönlichen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen verwirklicht. 15 4 Kollektive Identität Die kollektive Identität, auch Wir-Identität genannt, bezeichnet dementsprechend die Identität einer Gruppe bzw. einer Gemeinschaft. Sie ist ein soziales Konstrukt, welches sich innerhalb einer Gesellschaft bildet und welches bei den Mitgliedern einer Gesellschaft ein Gemeinschaftsbewusstsein erzeugt. 16 Sie basiert auf einem gemeinsamen Gedächtnis, welches vor allem über eine einheitliche Sprache vermittelt wird. Es werden beispielsweise gewisse Werte, Normen und Erwartungen in den Interaktionen innerhalb einer Gesellschaft artikuliert, die u. a. auch durch gewisse Rituale, Tänze, Traditionen, Trachten, wie auch durch gewisse Bilder oder Musik und dergleichen übermittelt werden können. 17 Um allerdings eine kollektive Identität zu erlangen, muss sich das Individuum mit der jeweiligen Gemeinschaft ‚ identifizieren ‘ bzw. ‚ gleichsetzen ‘ können. Das Individuum muss die jeweilige Gesellschaft ‚ fühlen ‘ bzw. diese mit bestimmten ‚ Emotionen ‘ erleben können. Die Wir-Identität ist nämlich nicht einfach vorhanden, sondern entsteht nur, indem sich das Individuum zu ihr bekennt. Demnach ist sie entweder so stark oder aber so schwach ausgeprägt, wie sie im Bewusstsein eines Individuums vorhanden ist und sein Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst. 18 Abschließend soll an dieser Stelle noch hervorgehoben werden, dass die kollektive Identität ausgesprochen wichtig für die Entwicklung der individuellen Identität einer Person ist, da sie dem freigesetzten und unruhigen Ich einen festen Halt gibt und es ihm so ermöglicht, eine persönliche Identität herauszubilden. 19 14 Vgl. Keupp (2006: 125). 15 Vgl. Keupp (2006: 122 f.). 16 Vgl. Giesen (1999: 13). 17 Vgl. Assmann (2005: 139 f.). 18 Vgl. Assmann (2005: 132). 19 Vgl. Giesen (1999: 11). Identitätskonstruktionen in Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht 147 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [153] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 5 Identität und Intimität Auch die Intimität, bzw. jegliche Formen der zwischenmenschlichen Beziehungen sind äußerst wichtig für die Identitätsentwicklung. Nach Bernadette Müller (2011) wird das Individuum erst in einer Beziehung richtig mit sich selbst vertraut. Svjetlan Lacko Viduli ć (2003) ist der Meinung, dass gerade die „ Beziehung zum exklusiven Gegenüber: die Erfahrungswelt von Liebe und Intimität “ 20 den zentralen Punkt der persönlichen Identität ausmacht. Durch eine Beziehung, die ein Mensch zu einem anderen Menschen aus seinem jeweiligen sozialen Umfeld aufbaut, lernt er nicht nur die Persönlichkeit und Identität des Partners kennen, sondern wird sich somit auch seiner eigenen (persönlichen) Identität bewusst. Die Frage „ Wer bin ich? “ ist ein Frage, wie Lacko Viduli ć erklärt, die mit den Fragen des intimen Lebens der jeweiligen Person zu verknüpfen sind, d. h. sie steht eng im Zusammenhang mit den Fragen „ nach unseren engsten Vertrauensbeziehungen, unserer Geschlechtsidentität, unserem Sexualleben, unserer Einstellung zu Ehe und Familie “ . 21 Auch in diesem Konstrukt der Identität spielen Emotionen eine ausschlaggebende Rolle. Das Eingehen einer zwischenmenschlichen Beziehung und somit das Erleben der Intimität ist stark, ja sogar unumgänglich mit Emotionen verbunden. Nur durch entsprechende Gefühle, in diesem Fall kann von Liebe gesprochen werden, die nach Lacko Viduli ć die zentrale Rolle des Intimlebens trägt, 22 wird es dem Individuum erlaubt, ein Verhältnis zum jeweiligen Gegenüber aufzubauen. In einer solchen Beziehung formt und offenbart sich die jeweilige Person, indem sie dem Partner gegenüber sowohl ihre charakteristischen Eigenschaften, Wesenszüge, Gefühle und persönliche Weltansicht, als auch ihre ganze Persönlichkeit offen legt, somit also sämtliche Facetten ihrer eigenen Identität preisgibt, ihre eigene Identität. Dadurch erlangt der Einzelne nicht nur Bestätigung und Anerkennung bei dem Partner, indem er so akzeptiert wird, wie er ist, sondern entdeckt sich auf diese Weise auch selbst, d. h. er wird sich seines Ichs bewusst. 23 6 Identitätskrise Letztendlich soll an dieser Stelle die Identitätskrise erläutert werden, die u. a. auch einen nicht wegzudenkenden Bestandteil dieser Untersuchung ausmacht, da sie zur Veränderung der Identität einer Person einen erheblichen Beitrag leistet. Unter einer Identitätskrise kann man entweder den Verlust der gesamten Identität oder aber eine Krise in der Wahrnehmung der eigenen 20 Lacko Viduli ć (2003: 101). 21 Lacko Viduli ć (2003: 101). 22 Vgl. mehr dazu Lacko Viduli ć (2003: 102). 23 Vgl. hierzu Müller (2011: 189 f.). 148 Petra Ž agar- Š o š tari ć und Anita Badurina Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [154] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Identität verstehen. 24 Eine solche Störung der Identität kann ganz unterschiedliche Ursachen haben, wie zum Beispiel einen Berufswechsel, einen neuen Lebenspartner/ Ehebruch oder das Ende einer Liebesbeziehung, eine Veränderung der Lebenssituation, eine erhebliche Änderung der Gefühlsage oder einen traumatischer Schock, Krankheit oder Tod, wobei meist mehrere Faktoren gemeinsam eine solche Krise auslösen. Infolge einer Identitätskrise setzt sich das Individuum mit sich selbst und seiner Identität auseinander und denkt über sein Selbstbild nach, wobei anschließend eine sogenannte Selbstkorrektur erfolgt, bei der das Individuum, sein Selbstverständnis zu revidieren sucht. Die Revidierung des Ichs erfolgt, indem das Individuum neue Werte und Normen aufnimmt oder aber bestehende Werte auf eine neue Art und Weise zu interpretieren sucht. 25 7 Rationalität und Emotionalität: Walter Fabers unterschiedliche Identitätskonstrukte Unter Berücksichtigung der in dieser Arbeit bereits angeführten Aspekte der Identität soll im Weiteren nun die Hauptfigur des Romans Homo faber. Ein Bericht. vor dem Hintergrund seiner Rationalität vor allem aber seiner Emotionalität darauf hin untersucht werden. Aufgrund der angeführten Identitätskonstruktionen richtet sich nun das Augenmerk auf die Emotionen und das Leben Walter Fabers. Walter Faber, um kurz sein Leben darzustellen und es zu veranschaulichen, ist ein 50-jähriger Schweizer, der seit über zehn Jahren in New York lebt und arbeitet. Er ist Techniker bzw. Ingenieur von Beruf und arbeitet bei der UNESCO als technischer Helfer für unterentwickelte Völker. Ohne jeglichen Zweifel ist die Erwerbsarbeit für Walter Faber der absolute Stützpfeiler seiner Identität. Der Beruf des Technikers ist der signifikanteste Bestandteil seines Lebens und hat dementsprechend höchste Priorität. Zusätzlich bestimmt seine Arbeit nicht nur sein komplettes Leben, sondern auch sein Verhalten, Empfinden, seine Denkweise und überhaupt die gesamten Einstellungen bezüglich seiner Wertvorstellungen und sein gesamtes Weltbild. Er identifiziert sich vollkommen mit seiner Erwerbstätigkeit, was seine Aussage: „ Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind “ , 26 bekräftigt. Diese Aussage beschreibt kurz und knapp seine Persönlichkeit, sein gesamtes Verhalten, Denken und Auftreten. Er kann mit dem, was unter Natur, Kunst oder Religion/ Gott zu verstehen ist, nichts anfangen, d. h. er glaubt weder an Schicksal noch an Fügung. 24 Vgl. auch Stangl (2011). 25 Vgl. dazu weiter Debelt (2003: 4). 26 Frisch (1977: 24). Identitätskonstruktionen in Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht 149 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [155] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Walter Faber betrachtet den Alltag nüchtern mit den Augen eines Technikers, indem es ihm Mathematik und Wahrscheinlichkeitsrechnungen ermöglichen, die Welt an sich zu erklären. Die Rationalität und Gefühllosigkeit des Technikers Walter Fabers wird vor allem mittels seiner Sprache deutlich. Im Nominalstil angelegte Verkürzungen, die im Berichtsstil, Zeit- und Ortsangaben verdeutlichen, zudem auch englische, spanische oder auch französische Einzelwörter und Fachbegriffe, welche Faber meist in einem unpersönlichem Stil verwendet, spiegeln sein Bewusstsein, seinen Blick auf die Welt und Menschen, seine Rationalität wider, aber sie spiegeln gleicherweise auch seinen Seelenbzw. Gefühlszustand wider. Dem Leser erscheint er aus diesem Grund als ein überaus rationaler, emotionsloser und sachlicher Mensch. Folgendes Beispiel veranschaulicht es: Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas - klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis? 27 Um die Kultur, die Menschen, ein Kollektiv aber auch die Natur zu perzipieren, sind Emotionen besonders notwendig, denn sie helfen dem Individuum in der Wahrnehmung des Umfeldes bzw. der Welt wie sie gesehen, erstrebt und emotiv empfunden wird. 28 Zusätzlich werden mithilfe der Emotionen dem Einzelnen neue Dimensionen eröffnet. Diese erscheinen Faber jedoch als äußerst unbekannt und unsicher, was seine Weltansicht und bisherige Denkweise erheblich erschüttern könnte. Aus Angst sein bisher erschaffenes Selbstbild zu verlieren, sieht er die Natur nicht und nimmt sie nicht wahr. Naturereignisse, wie in dem oben zitierten Beispiel die Schönheit des Mondes, begeistern ihn in keinster Weise. Der Vollmond, der im Zeichen der Gefühle, der Kunst, des Traumes, der Schönheit und Romantik steht, ist für Walter Faber nur ein logisches Phänomen der Natur. In Sätzen, die meist parataktisch und asyndetisch in einer schlichten, fast schnodderigen Alltagssprache angelegt sind, werden dem Leser Informationen vermittelt, die Fabers an Emotionen beraubte Weltansicht unterstreichen. Faber ist kein Träumer, demnach auch kein Romantiker. Ganz im Gegenteil, sein Hang zum Überrationalen und Sachlichen kommt schon zu Anfang des Romans zum Ausdruck, als das Flugzeug mit einem Motorschaden notlanden muss. Trotz einer gefährlichen Notlandung erscheint Faber, im Gegenteil zu den in Panik ausgebrochenen Passagieren, ruhig und emotionslos: „ Es war der Motor links, der die Panne hatte; ein Propeller als starres Kreuz im wolkenlosen Himmel - das war alles. “ 29 Auch in allen anderen Lebenssituationen zeigt sich der Protagonist sehr sachlich und fast unangebracht rational, weil er für das ‚ Unwahrscheinliche ‘ , ganz im Sinne eines Technikers, ebenso eine plausible 27 Frisch (1977: 24). 28 Vgl. dazu Steinfath (2001: 205). 29 Frisch (1977: 16). 150 Petra Ž agar- Š o š tari ć und Anita Badurina Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [156] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Erklärung parat hat. Die angeführten Beispiele verdeutlichen unter Berücksichtigung seiner Emotionen in Krisensituationen und bei Eintreten faszinierender Naturereignisse, wie stark er sich mit seinem Beruf identifiziert, um sich von möglichen Emotionen, die beim Anblick der Natur (des Mondes über der Wüste) und lebensbedrohlichen Krisensituationen (der Flugzeugabsturz) hervortreten könnten, zu distanzieren. Jegliche Formen von Emotionen werden durch möglichst professionelle und objektive Fokussierung einfach sachlich abgeblockt. Er schirmt sich ab und schützt sich vor subjektiven Erlebnissen. Vor allem aber schützt er sich vor dem Aufkommen eigener Emotionen, indem er durch seine äußerst einseitigen Einstellungen und Ansichten die Welt und das Leben (hinsichtlich der Zeit und des Raumes) objektiv mit seiner Filmkamera festzuhalten und zu erklären sucht. Die Kamera dient ihm als ‚ Filter ‘ , als ein ‚ emotionaler Schutz ‘ , bzw. es ist für ihn eine Art technische Absorption eigener ‚ bedrohlicher ‘ Gefühle und Eindrücke, die ihn und sein technisches Weltbild aufstören, verstören oder letztendlich auch zerstören könnten. 30 Man nehme nur die Situation, wo Faber die Leiche seines ehemaligen Jugendfreundes findet und diese filmt in Betracht: Hier kann man schlussfolgern, dass er beim Anblick seines erhängten Jugendfreundes keinerlei Gefühle der Trauer, des Schocks oder dergleichen empfindet. Er durchlebt diese Extremsituation regelrecht mit Gleichgültigkeit. Nüchtern gibt er zu, dass er den schon halbverwesten Leichnam seines Freundes nicht erkennt und macht sich im weiteren Handlungsablauf Gedanken über die Stromversorgung in der Baracke, in der sich Joachim erhängte mit folgenden Worten: Es wunderte mich, woher sein Radio, das wir sofort abstellten, den elektrischen Strom bezieht [. . .]. 31 Auch hier dient die Kamera zur Absorption jeglicher Emotionen. 32 Nele Awad-Poppendiek (2010) erklärt es mit folgenden Worten: Indem das Objektiv der Kamera stets zwischen ihm und der Welt steht, ist er blind für die äußere Schönheit des Lebens sowie die innere Welt der menschlichen Emotionen. 33 30 Gansel (2012) spricht von drei Kategorien von Störung, die je nach Raum und Zeit zu beachten sind. Es geht dabei um folgende Kategorien: 1. Nach ihrer Intensität a) „ Aufstörung “ (27) im Sinne von Aufmerksamkeit erregen, integrierbar/ restitutiv b) „ Verstörung “ (27) im Sinne einer tiefgreifenden Irritation, reparierbar/ regenerativ c) „ Zerstörung “ (27) im Sinne nachhaltiger Umwälzung, nicht integrierbar/ irreversibel. 2. „ Ist nach dem Raum den ‚ Ort ‘ zu fragen, an bzw. in dem eine Störung stattfindet. Es geht um die Topizität “ (27) 3. Die Zeit des Auftretens der Störung, also die Temporalität. Vgl. dazu weiter Gansel (2012: 26 ff.) und Ž agar- Š o š tari ć (2012: 446ff.) 31 Frisch (1977: 55). 32 Vgl. Awad-Poppendiek (2010: 139). 33 Awad-Poppendiek (2010: 139). Identitätskonstruktionen in Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht 151 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [157] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Seine konstante ja fast forcierte Nüchternheit in jeglichen Lebenssituationen ermöglicht ihm, den benötigten Abstand zu bewahren, um in keinster Weise verletzt zu werden und nicht von seiner bisherigen Lebensart abzuweichen. Daher ist er stets darauf bedacht, Emotionen abprallen zu lassen und sich somit vor unerwartet aufkommenden Gefühlen zu schützen. Was seine Sprache und Redensart anbelangt, so steht auch sie, um es nochmals zu betonen, im Zeichen eines Technikers. Die wahrheitsgerechte und akkurate Übermittlung der Ereignisse steht im Mittelpunkt seines Berichts: „ Unser Aufenthalt in der Wüste von Tamaulipas, Mexico, dauerte vier Tage und drei Nächte, total 85 Stunden, worüber es wenig zu berichten gibt [. . .] “ . 34 Er meidet nicht nur Ausschmückungen, sondern bemüht sich vor allem konkrete Angaben zu Ort und Zeit zu geben. Desöfteren greift er auf das Englische zurück, um dem Sachverhalt und den Ereignissen den Ausdruck von Präzision und mathematischer Genauigkeit zu verleihen, wie aus folgendem Zitat zu entnehmen ist: „ All passengers for Mexico-Guatemala- Panama, dazwischen Motorlärm, kindly requested, Motorlärm, gate number five, thank you “ . 35 Seine Schilderungen unterbricht Faber jedoch häufig durch eingefügte subjektive Kommentare, Überlegungen und Gedanken, die vor allem dazu dienen, eine Welt ohne jegliche Dimensionen von Emotionen zu erstellen. 36 Sprachliche Aspekte, die eventuelle Gefühlszustände andeuten könnten, werden durch die ‚ trockene ‘ und fast kaltherzige Ausdrucksweise des Protagonisten vermieden. Diese nüchterne Ausdrucksweise Fabers, veranlasst Hanna, seine ehemalige Jugendliebe, ihn immer wieder als Homo Faber, oder wie Gerhard Kaiser (1987) anführt „ [. . .] das Urbild des technischen Menschen [. . .] “ , 37 zu bezeichnen. In dieser Hinsicht kann Fabers doch sehr einseitige Identität ausschließlich über die Rolle des Technikers 38 definiert werden, denn er sieht sich, wie Awad-Poppendiek (2010) anführt: [. . .] als Mann, der dank der eigenen Vernunftleistung mit allen Tatsachen fertig wird, der keinen anderen Menschen braucht, niemals von Emotionen überwältigt wird und physisch und psychisch ‚ funktioniert ‘ , wie eine Maschine. 39 Seine Sicht auf die Welt, sein Leben und seine Person sind in seinem Sprachstil und in seiner Arbeit als Ingenieur verankert. Mit und durch seinen Beruf erlangt und sichert sich Walter Faber zwar eine gewisse Zugehörigkeit in der amerikanischen Gesellschaft, doch ein Gemeinschaftsgefühl lässt sich doch nicht spüren. Es bedeutet weiterhin, dass Faber keine kollektive Identität zu entwickeln vermag. 34 Frisch (1977: 22). 35 Frisch (1977: 11). 36 Vgl. Bicknese (1969: 53). 37 Kaiser (1987: 208). 38 Vgl. Jammer (2011: 52). 39 Awad-Poppendiek (2010: 138). 152 Petra Ž agar- Š o š tari ć und Anita Badurina Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [158] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Die Tatsache, dass er stets jeglichen Kontakt zu anderen Menschen zu meiden versucht, lieber allein sein möchte und generell keine Gesellschaft verträgt, steht nicht im Zeichen einer kollektiven Identität. Er hält u. a. nichts von den gesellschaftlichen Vorstellungen einer Familie. Er glaubt nicht an die Ehe und möchte nie heiraten. Tradition und Konvention kommen für ihn nicht in Frage. Von anderen Menschen unterscheidet sich Faber grundsätzlich durch die Wahrnehmung seines Welt- und Selbstbildes: denn der Mensch ist, wie anhand des folgenden Beispiels gezeigt wird, als emotives Wesen nutzlos und durch gefühlslose Roboter ersetzbar: [. . .] die Maschine erlebt nichts, sie hat keine Angst und keine Hoffnung, die nur stören, keine Wünsche in bezug auf das Ergebnis, sie arbeitet nach der reinen Logik der Wahrscheinlichkeit, darum behaupte ich: Der Roboter erkennt genauer als der Mensch, er weiß mehr von der Zukunft als wir, denn er errechnet sie, er spekuliert nicht und träumt nicht [. . .]. 40 Faber geht, wie bereits erwähnt, keinen Traditionen geschweige denn Ritualen nach, die u. a. zum Bestandteil der kollektiven Identität gehören. Im Gegenteil, Tradition und Sitte empfindet er als primitiv, unsinnig und er macht sich ebenfalls „ [. . .] nichts aus Folklore “ . 41 Auch traditionelle Musik, die bei solchen Anlässen gespielt wird, findet er grauenhaft. Deutlich wird seine Einstellung beispielsweise an der Stelle, als die Einheimischen in Palenque eine Feier veranstalten, zu der sie traditionelle Tänze und Rituale mit der entsprechenden Musik vermischen, die er als „ [. . .] Geklimper einer altertümlichen Marimba, Gehämmer ohne Klang, eine fürchterliche Musik, geradezu epileptisch “ 42 empfindet. In diesem Zusammenhang soll hervorgehoben werden, dass Faber auch keiner ethnischen Gemeinschaft angehört, denn: „ Hanna wusste genau, dass ich mit Gott nichts anfangen kann [. . .] “ . 43 Er ist also nicht nur der Traditionen und Religionen gegenüber abgeneigt, sondern die Kultur einer Gesellschaft allgemein oder überhaupt die Gemeinschaft ist für ihn von nebensächlicher Bedeutung. Gerade diese beiden Bereiche sind nach Jan Assmann (2005) „ [. . .] Grundstrukturen, d. h. irreduzible Grundbedingungen des Menschseins überhaupt “ . 44 Ohne Kultur und Gemeinschaft ist ein Dasein als Mensch mit vollkommener Identität nicht möglich. Durch seine Emotionslosigkeit entwickelt Faber demnach kein Gemeinschaftsbewusstsein. Er kann sich weder als Mitglied einer gewissen Gemeinschaft identifizieren, noch nimmt er die gesellschaftlichen Normen, Werte und gewisse Weltanschauungen in seine Identität auf. Auch weigert er sich, das als kulturspezifisch als an- 40 Frisch (1977: 75). 41 Frisch (1977: 45). 42 Frisch (1977: 45). 43 Frisch (1977: 144). 44 Assmann (2005: 133). Identitätskonstruktionen in Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht 153 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [159] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur gemessen definierte Empfinden/ Fühlen und Gefühlsausdruck in den oben geschilderten Situationen, wie Traditionen, Ritualen und Konventionen, in sein Selbstbild mit aufzunehmen. 45 Durch diese einseitige Fixierung (auf Arbeit) kann er dementsprechend auch keine kollektive Identität entwickeln, was, wie bereits zu Beginn dieses Beitrags erwähnt wurde, zu Schwierigkeiten bei der persönlichen Identitätsbildung führt. Walter Faber bietet durch seine unangefochtene Ausrichtung auf seine Erwerbstätigkeit, anderen Aspekten des menschlichen Daseins, wie z. B. sozialen Kontakten, Freundschaften und eine mögliche Familiengründung, keinen Platz in seinem Leben. Beziehungen zu anderen Menschen, in Form von Bekanntschaften, Freundschaften oder auch Liebesbeziehungen, sind eher unbedeutend, denn „ [. . .] Menschen sind anstrengend “ . 46 Für ihn kommen längere Liebesbeziehungen keineswegs in Betracht, geschweige denn eine Ehe. Diese starke Abwehr gegen jegliche Form der zwischenmenschlichen Beziehung weist auf eine Schwäche seiner Identität hin. Die nach Erikson (1973) überaus wichtige Identifikation mit der eigenen Geschlechtsrolle, die die Grundvoraussetzung für das Eingehen einer Beziehung ist und auf diese Weise eine gelingende Identität hervorruft, 47 scheint bei Faber nicht erfolgreich verlaufen zu sein. Sein Ich ist mit seinem Körper nicht im Einklang, was zur Folge hat, dass er versucht Geschlechtsverkehr, Zärtlichkeit und jegliche andere Formen der Intimität so gut wie möglich zu umgehen. 48 Er selbst betrachtet diese als Ermüdungserscheinungen, denn: „ [. . .] Gefühle, so habe ich [Walter Faber] festgestellt, sind Ermüdungserscheinungen, nichts weiter, jedenfalls bei mir “ . 49 Seine extreme Abneigung gegen den Geschlechtsverkehr wird besonders in seiner Beziehung zu dem Model Ivy deutlich: Es kam genau, wie ich ’ s nicht wollte. [. . .] es ekelte mich ihre Zärtlichkeit, ihre Hand auf meinem Knie, ihre Hand auf meiner Hand, ihr Arm auf meiner Schulter [. . .]. 50 45 Vgl. mehr dazu Gerhards (1988: 196). 46 Frisch (1977: 8). 47 Erikson vertritt die Ansicht, dass zu einer gelingenden Identität die sexuelle Identität, die sich vor allem in der Adoleszenz entwickelt, als fester Bestandteil dazugehört. Setzt sich das Individuum nicht ausreichend mit dieser Krise, d. h. mit seiner Sexualität und Geschlechterrolle, in dieser Phase des Lebens auseinander, so kann es zu Schwierigkeiten in den nächsten Phasen und Entwicklungsaufgaben kommen. Als Folge kann es die Identität enorm schwächen und es für den Einzelnen unmöglich machen, Beziehungen einzugehen, da er sich über seine eigene Identität unsicher ist. Es folgt eine absolute Isolierung und eine Zurückstellung der Intimität hinter anderen Lebensbereichen, wie z. B. hinter den beruflichen Bereichen. Vgl. dazu Keupp (2006: 136 f.). 48 Vgl. Balle (1994: 135). 49 Frisch (1977: 92). 50 Frisch (1977: 62). 154 Petra Ž agar- Š o š tari ć und Anita Badurina Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [160] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Aber auch in allen anderen intimeren Situationen ist Faber mehr als abwesend: Wenn ich Ivy umarme und dabei denke: Ich sollte meine Filme entwickeln lassen, Williams anrufen! Ich könnte im Kopf irgendein Schach-Problem lösen, während Ivy sagt: I ’ m happy, o Dear, so happy, o Dear, o Dear! Ich spüre ihre zehn Finger um meinen Hinterkopf, sehe ihren epileptisch-glücklichen Mund und das Bild an der Wand, das wieder schief hängt, [. . .] ich überlege mir, welches Datum wir heute haben, ich höre ihre Frage: You ’ re happy? 51 Faber nimmt Ivy u. a. nicht ernst. Sie ist nicht nur zu jung und bereits verheiratet, sondern ist ihm auch in intellektueller Hinsicht nicht gewachsen. Dies veranlasst ihn, die Beziehung zu Ivy, als eine kurze Affäre ohne jegliche Zukunftspläne, zu betrachten, die ihm zugleich die Möglichkeit bietet, emotionalen Abstand zu wahren, d. h. keine „ ungewünschten “ Gefühle zu entwickeln, 52 die er als Gefährdung seines Ichs ansieht. 53 Diese Einstellung kann als Auslöser einer neuen Beziehung zu Sabeth, seiner Tochter, gesehen werden. Aufgrund des großen Altersunterschieds erscheint ihm die Beziehung zu Sabeth als kurzzeitig und unverbindlich. 54 Jegliche Anzeichen dafür, dass Sabeth seine leibliche Tochter sein könnte, sind seinerseits auf Grund von Wahrscheinlichkeitsrechnungen ausgeschlossen: Ich rechnete im stillen [. . .] pausenlos, bis die Rechnung aufging, wie ich es wollte: Sie konnte nur das Kind von Joachim sein! Wie ich ’ s rechnete, weiß ich nicht; ich legte mir die Daten zurecht, bis die Rechnung wirklich stimmte [. . .] 55 Seine „ Blindheit “ 56 und einseitige Denkweise eines Technikers, führen ihn zum Inzest. Die Ablehnung, Beziehungen jeglicher Art einzugehen und Gefühle nicht nur zu zeigen, sondern auch zuzulassen, führen bei Faber zu einer geschwächten Identität. Durch fehlende Beziehungen bleibt es ihm verwehrt, sich seines Selbst bewusst zu werden und seine Identität in diesen Aspekten erfolgreich zu entwickeln. Dieses resultiert in einer vollkommenen Isolation und dem Fernhalten der Menschen aus seinem sozialen Umfeld. 57 Das allerdings eine solche, durchaus einseitige Ausrichtung auf den Beruf und komplette Ablehnung jeglicher Gefühle und zwischenmenschlichen Beziehungen falsch ist und dementsprechend eine unharmonische Identität hervorruft, wird selbst Walter Faber bewusst. Zur Folge hat dieses eine Identitätskrise. Diese bahnt sich schon zu Beginn des Romans an, wo Faber anfängt, sich für Dinge (wie Kunst aber auch Natur) zu interessieren, die 51 Frisch (1977: 94). 52 Vgl. Balle (1994: 137). 53 Vgl. mehr dazu Lacko Viduli ć (2003: 103). 54 Vgl. hierzu Jammer (2011: 52). 55 Frisch (1977: 121). 56 Vgl. mehr dazu Awad-Poppendiek (2010: 142). 57 Vgl. Keupp (2006: 137). Identitätskonstruktionen in Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht 155 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [161] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur bisher keinen Stellenwert in seinem Leben hatten. Er nimmt allmählich Gefühle wahr, lässt ihnen freien Lauf, zeigt sie offen und gesteht sich selbst: Ich war glücklich wie noch nie in diesem Paris und wartete auf den Kellner, um zu zahlen, um gehen zu können - hinüber zu dem Mädchen, das auf mich wartet! [. . .] Ich [Faber] konnte nie glücklicher sein als jetzt. 58 Die Auszeit von der Arbeit, die er sich nimmt, um mit Sabeth zu reisen, eröffnet ihm neue, bisher unterdrückte Weltansichten. Die/ Seine Identitätskrise kommt jedoch letztendlich durch Sabeths Tod zum Vorschein. Zu einem Zeitpunkt also, wo er sich gewiss wird, ihr leiblicher Vater gewesen zu sein. Dieses spiegelt sich vor allem in seinem viertägigen Aufenthalt in Habana wider. Dort nimmt er zum ersten Mal sein Umfeld emotiv wahr und lässt sich von der für ihn einst unbedeutenden Natur begeistern. Die emotiven Veränderungen, die durch den Tod Sabeths hervorgerufen wurden, nämlich emotiv sein Lebensumfeld wahrnehmen zu dürfen, werden auch in der Veränderung seines Sprachgebrauchs reflektiert. 59 Er genießt letztendlich die Nähe und Schönheit der Menschen, was er mit folgenden Worten ausdrückt: [. . .] lauter schöne Mädchen, auch die Männer sehr schön, lauter wunderbare Menschen, [. . .] ich komme nicht aus dem Gaffen heraus [. . .]. 60 Die Veränderung seiner Sprache zeichnet seinen emotiven ´Entwicklungsprozess´ aus, ohne welchen die hier angeführten Identitätskonstrukte nicht vorzustellen und zu analysieren wären. Sein einst verachtetes und gemiedenes sexuelles Leben, verändert Faber. Er erlebt regelrecht Gefühlsausbrüche: er weint, lacht, liebt, hasst, ist glücklich und zornig. Unbekannte, unterdrückte Gefühle werden jetzt, vor allem ausgelöst durch Sabeths Tod, zum Teil seiner Identität. Die Wut, die er neben Glücksgefühlen verspürt, richtet sich vor allem auf sich selbst, sein bisheriges Leben und auf die amerikanische Gesellschaft, in der er lange lebte. Er verachtet den „ American Way of Life “ , 61 aber vor allem verachtet er seine bisherige Lebensweise und beschließt deswegen, ein neues Leben mit Hanna als seiner Lebensgefährtin in Athen zu führen. Er kündigt die Arbeit eines Technikers und setzt sich, wie folgendes Beispiel es veranschaulicht, mit seiner möglichen lebensbedrohlichen Magenkrankheit auseinander: Ich hänge an diesem Leben wie noch nie, und wenn es nur noch ein Jahr ist, ein elendes, ein Vierteljahr, zwei Monate (das wären September und Oktober), ich werde hoffen, obschon ich weiß, daß ich verloren bin. Aber ich bin nicht allein, Hanna ist mein Freund, und ich bin nicht allein. 62 58 Frisch (1977: 104 f.). 59 Sabbeth nennt Faber zuerst „ das Mädchen “ , mehrfach auch „ das Kind “ . Am Ende des Romans nennt er sie aber „ unsere Tochter “ . Vgl. Frisch (1977: 121 - 147). 60 Frisch (1977: 173). 61 Frisch (1977: 175). 62 Frisch (1977: 198). 156 Petra Ž agar- Š o š tari ć und Anita Badurina Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [162] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Die überwundene Identitätskrise führt zur ‚ Selbstkorrektur seiner Identität ‘ , indem Faber sein Verhalten, seine Denkweise und Einstellungen gegenüber den Menschen, der Gesellschaft, der Institution Ehe und Liebesbeziehungen zu revidieren sucht. Das Zeigen eigener Gefühlszustände wird zum Bestandteil seiner Identität. Dennoch bleibt fraglich, inwiefern er seine Entscheidungen und Entschlüsse tatsächlich umzusetzen vermag. 8 Schlussbemerkung Es kann letztendlich festgestellt werden, dass die Identitätsbildung jeder Person, wie in dieser Untersuchung am Beispiel des Protagonisten Walter Fabers gezeigt wurde, ein lebenslanger und nicht enden wollender Prozess ist, der sich vor allem, durch sprachliche, soziale und somit auch Emotionen übermittelnde Interaktionen innerhalb einer Gesellschaft entwickelt. Die Identität einer Person besteht, wie hier an Hand verschiedener Beispiele ausführlich veranschaulicht wurde, aus Bereichen, die nur gemeinsam eine vollkommene und harmonische Identität konstruieren können. Die Erwerbstätigkeit und die Intimität (dazu auch ein hoher Grad an Emotionalität) eines Menschen machen letztendlich den wesentlichsten Bestandteil seiner Identität aus. Diese sind wiederum dadurch gekennzeichnet, dass sich das Individuum bei der Arbeit und in einer Beziehung nicht nur seines eigenen Ichs bewusst wird, sondern sich auch in ihnen verwirklicht. Eine solche Selbstverwirklichung ist jedoch nur dann möglich, wenn das Individuum fähig ist Emotionen aufkommen zu lassen, situationsbedingt zu regulieren und zu zeigen. Hervorzuheben sei an dieser Stelle, dass Emotionen einen unausweichlichen Bestandteil der Identitätsbildung ausmachen, da sie dem Einzelnen bei der Konstituierung seines Selbstbildes verhelfen. Die kollektive Identität, die dem Individuum den nötigen gesellschaftlichen Halt gibt, um sowohl ein Zugehörigkeitsgefühl als auch ein Gemeinschaftsbewusstsein zu und in einer Gemeinschaft entwickeln zu können, verhilft der individuellen Identität sich auszubilden. Ohne Identitätskrisen, die meist, wie am Werk Homo Faber gezeigt, durch Krankheit, den Tod einer geliebten Person, ausgelöst werden, wären subjektive Konstruktionsprozesse der Identität kaum möglich. Krisen der Identität führen, wie bei Walter Faber, dazu, dass das Individuum seine Identität überdenkt und eine sogenannte Selbstkorrektur vornimmt. Durch Fabers einseitige, d. h. emotionslose Ausrichtung auf die Technik, bzw. auf seine Erwerbstätigkeit, die dem Leser vor allem mithilfe sprachlicher Mittel (Einreihung elliptischer verkürzter Sätze, Nominalstil, Telegrammstil, Jargon, Anglizismen, Markenbezeichnungen, Alltagsfloskeln etc.) veranschaulicht wird, kann er, weder zu sich noch zu seiner eigenen Persönlichkeit finden oder eine vollkommene Identität entwickeln. Von daher kann abschließend gesagt werden: „ Der Fachmann Faber Identitätskonstruktionen in Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht 157 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [163] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur scheitert gerade als Homo faber “ 63 Gerade heutzutage, wo der Mensch mehr als je zuvor auf Identitätssuche bzw. auf der Suche nach Identitäten ist, scheitert er nicht selten aufgrund der Emotionslosigkeit gegenüber seiner Umwelt, den Mitmenschen, der Natur und Kultur als Homo faber. Die tägliche Ordnung des Alltags und der vor allem durch Technik geformten Arbeit, erscheinen ihm wichtiger, als seine emotive Teilnahme am Leben anderer Menschen. Der immer höher werdende Grad an Emotionslosigkeit verursacht Hilflosigkeit und das Scheitern am eigenen Ich. Bibliographie Primärliteratur Max Frisch, Homo Faber, Frankfurt am Main 1977. Sekundärliteratur Aleida Assmann/ Heidrun Friese (Hrsg.), Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität, Frankfurt am Main 1998. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 5 2005. Martin Balle, Sich selbst schreiben - Literatur als Psychoanalyse. Annäherung an Max Frischs Romane „ Stiller “ , „ Homo faber “ und „ Mein Name sei Gantenbein “ aus psychoanalytischer Sicht, München 1994. Günther Bicknese, Zur Rolle Amerikas in Max Frischs Homo faber, in: The German Quarterly 1/ 1969, S. 52 - 64. Caroline Debelt, Individuum, Identität und Gesellschaft, Universität Karlsruhe, Studienarbeit, Karlsruhe 2003. Carsten Gansel/ Pawel Zimniak (Hrsg.), Störungen im Raum - Raum der Störungen, Heidelberg 2012. Carsten Gansel, „ Feenhaft und wunderbar, aber keck ins gewöhnliche, alltägliche Leben tretend “ - Störungen „ im romantischen Raum und die Phantastik “ , in: Carsten Gansel/ Pawel Zimniak (Hrsg.), Störungen im Raum - Raum der Störungen, Heidelberg 2012, S. 15 - 41, hier S. 26 ff. Jürgen Gerhards, Die sozialen Bedingungen der Enstehung von Emotionen. Eine Modellskizze, in: Zeitschrift für Soziologie 3/ 1988, S. 187 - 202. Bernhard Giesen, Kollektive Identität, Frankfurt am Main 1999. Anne Hamker, Emotionen und ästhetische Erfahrungen. Zur Rezeptionsästhetik der Videoinstallation Burried Secrets von Bill Viola, Münster 2003. Anna Lena Jammer, Schuldproblematik und Gesellschaftskritik in der Literatur der fünfziger Jahre: Eine Untersuchung am Beispiel von Max Frischs Stiller und Homo faber sowie Martin Walsers Ehen in Philippsburg und Halbzeit, Universität Bergen, Masterarbeit, Bergen 2011. Gerhard Kaiser, Max Frischs Homo Faber, in: Walter Schmitz (Hrsg.), Max Frisch, Frankfurt am Main 1987, S. 200 - 213. Heiner Keupp (Hrsg.), Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbeck bei Hamburg 3 2006. Hans Mayer, Zur deutschen Literatur der Zeit: Zusammenhänge, Schriftsteller, Bücher, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 189 - 213, hier S. 202. 63 Mayer (1967: 202). 158 Petra Ž agar- Š o š tari ć und Anita Badurina Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [164] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt am Main 1973. Lothar Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart 5 2005. Svjetlan Lacko Viduli ć , Geschlechter- und Liebesdiskurs in der österreichischen Literatur Ende des 19. und Ende des 20. Jahrhunderts, Dissertation, Zagreb 2003, S. 77 - 107. Bernadette Müller, Empirische Identitätsforschung. Personale, soziale und kulturelle Dimensionen der Selbstverortung, Wiesbaden 2011. Konrad Neuffer, Emotion und Identität - Die neoliberale Subjektivierung als „ Sorge um sich “ ? Universität Leipzig, Bachelorarbeit, Leipzig 2012. Nele Awad-Poppendiek, Die Problematik der Identitätsfindung im Werk Max Frischs, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Dissertation, Heidelberg 2010. Holmer Steinfath, Gefühle und Werte, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 2/ 2001, S. 196 - 220. Petra Ž agar- Š o š tari ć , Das Dazwischensein als Störung im Roman „ Hotel Zagorje “ von Ivana Simi ć Bodro ž i ć , in: Carsten Gansel/ Pawel Zimniak (Hrsg.), Störungen im Raum - Raum der Störungen, Heidelberg 2012, S. 441 - 459, hier S. 446 ff. Internetquelle Werner Stangl, Identitätskrise. Lexikon Online für Psychologie und Pädagogik (04. 02. 2011). Unter: http: / / lexikon.stangl.eu/ 1941/ identitaetskrise/ (letzer Abruf 13. 09. 2013). Identitätskonstruktionen in Max Frischs Roman Homo faber. Ein Bericht 159 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [165] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Katharina Adeline Engler Das Zurückbleiben des Eigentlichen. Theodor Fontanes Effi Briest und die Selbstbeherrschung 1 Einleitung Die Selbstbeherrschung der Figuren in Theodor Fontanes Roman Effi Briest 1 funktioniert nicht nur als Affektkontrolle, sondern ruft ihrerseits eine bestimmte Art von Emotionalität hervor und wirkt dabei identitätsstiftend: Innstetten erscheint als rationaler, gefestigter Charakter, während Effi leicht zu beeindrucken und ‚ weich ‘ ist. Als Definitionsmerkmal des Charakters stabilisiert Emotionalität die soziale Interaktion, auch und gerade in Szenen der Selbstbeherrschung. Effi gelingt es mittels affektiven Ausdrucks, Selbstbeherrschung zu üben. Damit sind Affektivität und Selbstbeherrschung einander nicht gegensätzlich, sondern gleichermaßen konstitutiv für Effis „ weichen Charakter “ . Diese ‚ Identität ‘ kann aber nicht als ein ‚ authentischer ‘ , ursprünglicher Wesenskern verstanden werden, vielmehr wird sie in Technologien des Selbst, deren eine die Selbstbeherrschung ist, erst konstituiert. 2 Im Folgenden wird Selbstbeherrschung als eine Reaktion auf eine Affizierung durch einen sozialen Kontext verstanden, bei der der körperliche und sprachliche Affektausdruck von dieser als ursprünglich gedachten Affizierung abweichen. Selbstbeherrschung ist dann immer auch Selbstdarstellung. Dabei tritt sie aber nicht nur punktuell auf; gerade im realistischen Roman erscheint sie als Charaktereigenschaft eines in vielfache soziale Zusammenhänge einbezogenen und durch sie konstituierten Individuums. Die „ Identitätsbildung “ der Figuren ist durch den Umgang mit sozialen Rollen bestimmt. 3 Dieser Umgang ist nicht nur restriktiv, sondern kann auch aktiv 1 Fontane (1963). Der Roman erschien zunächst in sechs Folgen von Oktober 1894 bis März 1895 in der Deutschen Rundschau (Jg. 21) und erst 1896 als Einzelausgabe. 2 Selbstbeherrschung ist als sozialer und ästhetischer Prozess den Foucaultschen Techniken des Selbst, wie zum Beispiel der Askese, verwandt. Michel Foucault (1993). 3 Vgl. „ Effis Identitätsbildung vollzieht sich von Anfang an als unauflösliches Ineinander von Zurichtung auf vorgegebene Rollenmuster und mehr oder weniger scheiternden Versuchen des Ausweichens vor ihnen “ (Mecklenburg 1998: 269). Ich stimme Mecklenburg in dieser Feststellung grundsätzlich zu, verstehe das Ausweichen vor und das Annehmen von Rollen jedoch weniger passiv als er. Gerhard Neumann spricht von einer „ Identitätskarriere “ und betont, es gehe im Roman nicht „ um sozialen Zwang [. . .], dem Effi unterworfen würde “ , sondern sie entscheide „ aus Wünschen über ihr Leben [. . .], die weder authentisch sind, noch mit starkem Willen verfolgt werden, die also Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [166] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Verhaltensspielräume offenhalten, gerade wenn Selbstbilder und Identitätszuschreibungen in der sozialen Interaktion abgerufen werden können. Im Gespräch zwischen den Eheleuten Effi und Geert von Innstetten kann die Identifikation mit Charakterzuschreibungen wie dem weichen Charakter und dem rationalen Beamten Konfliktpotenzial eingrenzen. Beispielsweise sind es gerade diejenigen Aussagen Effis, in denen sie sich als ängstliche, gefühlvolle und impulsive Frau darstellt, die es ihr erlauben, die Affäre zu verheimlichen. Dies bedeutet aber, dass sich ausgesprochene Gefühle nicht ohne weiteres mit authentischem Fühlen gleichsetzen lassen, sondern einer vorsichtigen Interpretation bedürfen. Jene Unbestimmtheit dem emotionalen Bestand gegenüber gilt auch für die Beschreibung von Charakterzügen. Selbstbeherrschung ist ein Akt der Darstellung eines verkörperten Selbstbildes und stellt damit im sprachlichen und mimisch-gestischen Ausdruck Identität auch ‚ äußerlich ‘ aus. Diese Performanz von Identität ermöglicht Lesbarkeit innerhalb eines sozialen Codes. Insofern die Selbstbeherrschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts sowohl eine Tätigkeit als auch eine Charaktereigenschaft darstellt, ist auch die in ihr verhandelte Identität ein Akt der Darstellung und Ergebnis eines Subjektivierungsprozesses. Die sozialen Rollen und die Gender-Identität der Figuren erscheinen im Text klar umrissen und trotzdem bleibt den Figuren ein Deutungs- und Verhaltensspielraum, der beispielsweise Innstetten zwingt zu hinterfragen, ob das Duell angebracht ist oder nicht. Selbst das „ Naturkind “ Effi erscheint rückblickend nicht mehr so unbefangen, spricht sie doch manches „ mit kluger Berechnung “ . 4 Besonders das direkte Ausspielen von sozialen Rollen im Gespräch lässt personale Identität schillern - zwischen fluidem Rollenspiel und unhintergehbarem Wesenskern. Gerade bei dieser Unbestimmbarkeit also setzt Selbstbeherrschung an. Diese ‚ produktive ‘ Seite der Selbstdarstellung soll im Folgenden betrachtet werden. 2 Feste Grundsätze und weicher Charakter Innstettens Identität, die Rolle, die ihm auferlegt ist, ist wesentlich davon bestimmt, kühl und rational aufzutreten und Gefühle nur im geregelten Rahmen der Ehe und in gemäßigter Form zu zeigen. Sein Selbstbild richtet sich an einem Arbeitsethos, an der Pflicht aus. Erfolgreich in Beruf, Gesellschaft und Politik ist nur, wer sich zu beherrschen weiß, kühl und gelassen durchweg als fremdgezündet sich erweisen “ . Ihm erscheint daher bemerkenswert, „ daß ihr Leben aus einem Repertoire ungeprüfter und unerlebter Klischees erwächst, also ihre ‚ Identitätskarriere ‚ nichts weiter ist als Imitation, Replik, ‚ Fake ‘ eines abwesenden Originals [. . .] “ (Neumann 2009: 226). Diese Uneigentlichkeit erweist sich als konstitutiv für den Roman und seine Figuren, nicht nur für Effi. 4 Fontane (1963: 27). Das Zurückbleiben des Eigentlichen 161 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [167] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur auftritt. Man scheitert im Leben „ [i]mmer nur an der Wärme “ . 5 So assoziiert Innstetten Männlichkeit mit „ Zusammennehmen “ und „ Zusammennehmen “ mit dem Ort Ministerium. 6 Sein beruflicher und sozialer Erfolg wird damit zum Prüfstein dieses Selbstentwurfes und so bedenkt Innstetten die öffentliche Meinung immer mit. Gerade im letzten Drittel des Romans ist ihm das Ineinandergreifen von Gesellschaft und Identität schmerzlich deutlich, wenn er sich vom „ tyrannisierende[n] Gesellschafts-Etwas “ 7 gezwungen sieht, um seiner Ehre willen Crampas zum Duell zu fordern und Effi zu verstoßen. 8 Doch auch schon früher im Roman orientiert sich sein Identitätsentwurf an einer internalisierten öffentlichen Meinung: beispielsweise, wenn er sich aus Rücksicht auf das Gerede der Bürger weigert, umzuziehen. 9 Um bei aller Rationalität und Gefühlskontrolle nicht langweilig zu wirken, was für sein Ansehen und seine politische Karriere fatal wäre, hat er Strategien entwickelt, die unter anderem darauf zielen, eine emotionale Reaktion seiner Umwelt zu erwirken: Zum einen hat er schon zu Militärzeiten durch das Erzählen von Spukgeschichten seine adelige Herkunft betont; 10 zum anderen heiratet er die junge und unbefangen wirkende Effi und präsentiert sie zuweilen als seine reizende, kleine Frau. Gerade als Politiker hofft er, aktiv Einfluss auf das „ Geschnatter “ 11 der Leute zu nehmen, beispielsweise, wenn er Effi fragt, „ Wirst du populär werden und mir die Majorität sichern, wenn ich in den Reichstag will? “ 12 oder wenn er es genießt, dass Effi in einer Theateraufführung zu Wohltätigkeitszwecken „ allen die Köpfe verdreht “ , einschließlich Crampas. 13 Frei nach dem Motto „ Ungewöhnlichkeiten [empfehlen] nach oben “ 14 fordert Innstetten auch von Effi einen „ adeligen Spukstolz “ , 15 um sich vom Bürgertum zu distinguieren. 16 5 Fontane (1963: 36). 6 Fontane (1963: 181). 7 Fontane (1963: 236). 8 Zum Begriff von „ Ehre “ in Effi Briest siehe Stefan Greif (1992). Zum Duell siehe Frevert (1991). 9 Fontane (1963: 80). „ Ich kann hier in der Stadt die Leute nicht sagen lassen, Landrat Innstetten verkauft sein Haus, weil seine Frau den aufgeklebten Chinesen als Spuk an ihrem Bette gesehen hat. Dann bin ich verloren, Effi. Von solcher Lächerlichkeit kann man sich nicht wieder erholen. “ 10 Fontane (1963: 131 - 132). 11 Fontane (1963: 146). 12 Fontane (1963: 68). 13 Fontane (1963: 154 - 156). 14 Fontane (1963: 131). 15 Fontane (1963: 80). 16 Zum Begriff der Distinktion siehe Bourdieu 2013. Bourdieu beschreibt in seiner „ Critique sociale du jugement “ wie soziale Differenzierung über kulturelle Muster manifest wird. Anwendung auf die Romane Fontanes findet der Begriff der Distinktion v. a. bei Norbert Mecklenburg und Gerhard Neumann. Mecklenburg argumentiert, dass die Romane die „ Determination des Individuums “ und den „ Mechanismus der Distinktion “ beleuchteten und dabei „ auch den Freiheitsspielraum des Individuums “ 162 Katharina Adeline Engler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [168] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Selbstbeherrschung sichert den Respekt der Bürger 17 und ermöglicht ein gelungenes Sozialleben. Um aber interessant zu bleiben und Karriere zu machen, aktiviert Innstetten neben diesen bürgerlichen Idealen auch militärisch-adelige: Er tritt militärisch schneidig 18 auf und inszeniert das Aparte, wie die Ausritte seiner Frau und die Rede vom Spuk. In seinem Identitätsentwurf gilt es also, die richtige Mitte zwischen Pflichterfüllung und rationaler Kälte und dem Ausgefallenen zu finden, das ihn über das Mittelmaß erhebt. Effis unbefangener und impulsiver Charakter ist also konstitutiv für Innstettens Selbstbild. Dass diese Spontaneität und Emotionalität Teil der an die junge Frau gestellten sozialen Erwartungen sind, wird deutlich, wenn ihre Mutter sie „ erhitzt von der Aufregung des Spiels “ Innstetten präsentiert und meint es käme darauf an, dass sie „ unvorbereitet “ aussieht. 19 Von Anfang an erscheint sie als ein Gegenpol zu Innstettens rationalem und kontrolliertem Verhalten: Innstettens Charakter wird oft als gefestigt beschrieben: Er habe Grundsätze, Prinzipien, sei mit sich in Ordnung. 20 Effis Charakter hingegen ist „ weich “ : Sie behauptet von sich selbst keine Prinzipien zu haben und sie wird als unbefangen und spontan beschrieben. Ein „ weicher Charakter “ wird Effi immer wieder von unterschiedlichen Figuren zugeschrieben, besonders von ihrer Mutter und Innstetten. Er entspricht aber auch ihrem Selbstzeugnis. Zum Beispiel erklärt sie Johanna, die ihr „ seidenweich[es] “ Haar bewundert: „ Aber das ist nicht gut, Johanna. Wie das Haar ist der Charakter. “ 21 Sie behauptet, keine Grundsätze zu haben 22 und „ leicht Eindrücken hingegeben “ zu sein. 23 Als Innstettens „ entzückende[n], kleine[n] Frau “ 24 fällt Effi die Aufgabe zu, sich „ unbefangen und heiter “ zu geben, so dass Innstetten „ ganz seinem Dienst abbildeten. Mecklenburg (1999: 181 - 182). Neumann argumentiert, dass in der spätbürgerlichen Gesellschaft, entzweit zwischen Fortschritt und Dekadenz, „ Orientierungswissen nur noch durch Akte ausgefeiltester Distinktion “ entstehe, so dass die „ Romane [Fontanes] kaum ein anderes Thema haben als [. . .] die Erkundung der Produktion sozialer Bedeutung, sozialer Werte, sozialer Differenzierung und Unterscheidung “ (Neumann 2009: 9 - 10). 17 Innstetten ist für die Kessiner „ die Respektperson “ (Fontane 1963: 52). 18 z. B. Fontane (1963: 13 und 26). 19 Fontane (1963: 17). „ Es ist am Ende das beste, du bleibst wie du bist [statt sich für den Besuch des Barons von Innstetten umzuziehen und zurechtzumachen - Anm. d. Verf.]. [. . .] Du siehst gerade sehr gut aus. Und wenn es auch nicht wäre, Du siehst so unvorbereitet aus, so gar nicht zurechtgemacht, und darauf kommt es in diesem Augenblicke an. “ 20 Beispielsweise Fontane (1963: 35). „ Ja, der Baron! Das ist ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien. “ 21 Fontane (1963: 73). 22 Fontane (1963: 35). 23 Fontane (1963: 93). 24 Fontane (1963: 145). Das Zurückbleiben des Eigentlichen 163 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [169] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur und seinem Haus “ 25 leben kann. Die Privatsphäre wird damit zum Raum der Emotionalität, jedoch auch hier im normierten Raster. Als gute Gattin soll Effi eine bestimmte emotionale Disposition ausstellen: Mal gibt sie den Part, mal identifiziert sie sich mit der Rolle der Kindfrau. Dass es sich bei dieser Rolle, um eine komplexe Konstruktion handelt, wird deutlich, wenn Innstetten von Effi fordert, unbefangen zu sein, aber dabei Charakter, Festigkeit und eine reine Seele zu haben. Sie müsse „ nur in Ordnung sein und sich nicht zu fürchten brauchen “ . 26 Er impliziert dabei jedoch, dass sie nicht „ in Ordnung sei “ , denn er reagiert damit auf ihre Klage ein paar Zeilen vorher, den Spuk zu hören und sich zu fürchten. Und ein wenig später wirft er ihr vor: „ Festigkeit ist nicht gerade deine Spezialität “ . 27 Unbefangen könne sie also nur sein, wenn sie mit sich im Reinen sei und Charakterfestigkeit besäße, gerade dies wird ihr aber abgesprochen. Umgekehrt kann dann der überzeugende Anschein echter Ausgelassenheit und spontaner Emotionalität zum Zeichen werden, dass sie mit sich im Reinen sei und nichts zu verbergen habe. Wenn Innstetten sie also solchermaßen tadelt, so kann er dies über ihren weichen Charakter legitimieren und sich selbst als den rationaleren und prinzipientreuen, das heißt gefestigten Mann darstellen, der dies beurteilen kann. Männliche Dominanz wird also über die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zur Rationalität legitimiert. Effi hingegen identifiziert sich mit der ihr zugeschriebenen Rolle als emotionale Frau. Aber gerade weil Unbefangenheit und Emotionalität zum Zeichen von Aufrichtigkeit werden, können ihre Selbstbeherrschungsstrategien aus dieser gender-Identität schöpfen. So bedeutet Selbstbeherrschung für sie nicht immer Mäßigung des affektiven Ausdrucks, sondern die Produktion eines angemessenen und sanktionierten affektiven Ausdrucks, der sich unbefangen und offen gibt. Die Anzeichen dieser Offenheit sind sowohl körperlicher als auch sprachlicher Natur. 3 Spuk Besonders deutlich wird dieses Moment des Zusammenfallens von Zurückhaltung und Offenheit, von Verbergen und Selbstdarstellung im 21. Kapitel des Romans, in dem Effi den Grund ihrer Erleichterung, Kessin zu verlassen, verheimlichen muss: Innstetten berichtet Effi von seiner Versetzung nach Berlin, woraufhin Effi die Beherrschung zu verlieren droht, wenn sie ihm in ihrer großen Erleichterung zu Füßen sinkt und „ wie wenn sie betete “ sagt: „ Gott sei Dank! “ 25 „ Innstetten lebte ganz seinem Dienst und seinem Haus. Er war glücklicher als vordem in Kessin, weil ihm nicht entging, daß Effi sich unbefangener und heiterer gab “ (Fontane 1963: 206 - 207). 26 Fontane (1963: 147). 27 Fontane (1963: 164). 164 Katharina Adeline Engler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [170] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Effi sagte kein Wort, und nur ihre Augen wurden immer größer; um ihre Mundwinkel war ein nervöses Zucken, und ihr ganzer zarter Körper zitterte. Mit einem Male aber glitt sie von ihrem Sitz vor Innstetten nieder, umklammerte seine Knie und sagte in einem Ton, wie wenn sie betete: „ Gott sei Dank! “ 28 Ihr ganzer Körper ist vom Affekt ergriffen und droht ihre Schuld zu verraten. Ihre und des Erzählers ganze Aufmerksamkeit richtet sich nun auf Innstetten; der Text fokalisiert durch sie: Innstetten verfärbte sich. Was war das? Etwas, was seit Wochen flüchtig, aber doch immer sich erneuernd über ihn kam, war wieder da und sprach so deutlich aus seinem Auge, daß Effi davor erschrak. Sie hatte sich durch ein schönes Gefühl, das nicht viel was andres als ein Bekenntnis ihrer Schuld war, hinreißen lassen und dabei mehr gesagt, als sie sagen durfte. Sie mußte das wieder ausgleichen, mußte was finden, irgendeinen Ausweg, es koste, was es wolle. 29 Zu viel gesagt hat sie, aber nicht mit Worten - „ Gott sei Dank! “ kann schwerlich als „ Bekenntnis ihrer Schuld “ gelten - wohl aber mit Ihrer Erregung, ihrem körperlichen Ausdruck. Dieser spricht aber nicht unmittelbar, ist nicht direkter Ausdruck der Seele wie in der klassischen Ästhetik, sondern er muss gelesen werden. Genauso wie sie ihrerseits, das deuten muss, „ was seit Wochen flüchtig [. . .] über ihn kam “ und „ deutlich aus seinem Auge [sprach] “ . Diese Mittelbarkeit jedes körperlichen Ausdrucks und jedes sprachlichen Zeichens macht sich Effi nun zunutze, indem sie Deutungshoheit über ihre Erleichterung beansprucht und erklärt, dass sie sich befreit fühle, Kessin hinter sich zu lassen, weil sie sich vor dem Chinesen fürchte, der angeblich im Haus spuke. Indem sie vom Spuk spricht und sich in dieser Rede mit der Identität der furchtsamen Frau identifiziert, kann sie den eigentlichen Grund ihrer emotionalen Entgleisung verheimlichen - selbst für den Leser wird die Ursache ihrer Erleichterung im Text nicht explizit benannt. Dass das Sprechen vom Spuk hier eine Funktion erfüllt, bedeutet allerdings nicht notwendigerweise, dass Effi sich nicht auch vor dem spukenden Chinesen fürchtet. Tatsächlich lässt sich ein letzter Zweifel, ob Spuk in der diegetischen Welt von Effi Briest möglich ist, nicht völlig ausräumen. Naheliegender ist es jedoch, den Spuk als eine Anekdote von Innstetten und den Hausangestellten zu verstehen, die für Effi eine (vielleicht unterbewusste) Projektion bietet, in der ihre Langeweile und ihre Einsamkeit, 30 ihr Gewissen oder „ Angst vor den eigenen Triebwünschen “ 31 Ausdruck finden. 32 Man muss indes feststellen, dass Effi den Spuk bereits mehrmals im Laufe des Romans 28 Fontane (1963: 182). 29 Fontane (1963: 182). 30 Becker (2003: 248). 31 Küpper (2008: 141). 32 Für einen guten Überblick über die unzähligen Interpretationen des Spuks siehe Baker (2009: 175 - 203). Das Zurückbleiben des Eigentlichen 165 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [171] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur erwähnt hat und zwar vor allem in Momenten, wenn sie Fehlverhalten entschuldigen wollte, wie zu langes Schlafen, 33 oder wenn sie ein bestimmtes Verhalten Innstettens erwirken wollte, beispielsweise mehr Aufmerksamkeit. 34 Die Rede vom Spuk erfüllt also durchaus auch ganz konkrete Funktionen: Hier ermöglicht sie es, die Reaktion auf die Nachricht vom baldigen Umzug der Familie mit der Erleichterung, das Spukhaus zu verlassen, zu erklären. Der Umgang mit der Spukgeschichte scheint also annähernd bewusst zu sein. Dennoch ist er keine freie Entscheidung, keine kühle Berechnung: Dies wird hier schon an der Not deutlich, die in der Dopplung des „ mußte “ in der erlebten Rede und der idiomatischen Wendung „ es koste, was wolle “ ihren Ausdruck findet; auch die Reihung der Satzsegmente suggeriert das verzweifelte Suchen nach einem Ausweg: „ Sie mußte das wieder ausgleichen, mußte was finden, irgendeinen Ausweg, es koste, was es wolle. “ 35 Effi bemüht sich um einen Ausgleich des ersten Ausdrucks: Ein Gefühl wird also herangezogen, um ein anderes emotionales Moment zu verbergen, das im Bewusstseinsbericht beschrieben wird als „ ein schönes Gefühl, das nicht viel was andres als ein Bekenntnis ihrer Schuld war “ . Jenes „ schöne[. . .] Gefühl “ , dessen Ausdruck Effis soziale Position bedrohen könnte, wird nur vage benannt; das Gefühl hingegen, das zum Ausgleichen dieses ersten Ausdruckes herangezogen wird, ist von Effi ausdrücklich angegeben: „ Angst “ vor dem Spuk 36 - ein legitime Erklärung im Rahmen von Effis Identität als leicht zu beeindruckende Frau. 4 Mise-en-scène des weichen Charakters Diese Erklärung, die an sich schon genügt, um die Erleichterung zu begründen, fällt allerdings nicht sachlich aus, sondern wird durch ihre sprachliche und mimisch-gestische Gestaltung noch akzentuiert. Um Ausgleich des Eindrucks bemüht, den die erste unbeherrschte Reaktion hinterlassen hat, setzt Effi den Spuk und ihre Emotionalität in Szene: Effi erhob sich rasch. Aber sie nahm ihren Platz auf dem Sofa nicht wieder ein, sondern schob einen Stuhl mit hoher Lehne heran, augenscheinlich weil sie nicht Kraft genug fühlte, sich ohne Stütze zu halten. „ Was hast du? “ wiederholte Innstetten. „ Ich dachte, du hättest hier glückliche Tage verlebt. Und nun rufst du ‚ Gott sei Dank ‘ , als ob dir hier alles nur ein Schrecknis gewesen wäre. War ich dir ein Schrecknis? Oder war es was andres? Sprich? “ 33 Fontane (1963: 53). 34 Fontane (1963: 78). 35 Fontane (1963: 182). 36 Fontane (1963: 182). 166 Katharina Adeline Engler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [172] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur „ Daß du noch fragen kannst, Geert “ , sagte sie, während sie mit einer äußersten Anstrengung das Zittern ihrer Stimme zu bezwingen suchte. „ Glückliche Tage! Ja, gewiß, glückliche Tage, aber doch auch andre. Nie bin ich die Angst hier ganz losgeworden, nie. Noch keine vierzehn Tage, daß es mir wieder über die Schulter sah, dasselbe Gesicht, derselbe fahle Teint. Und diese letzten Nächte, wo du fort warst, war es auch wieder da, nicht das Gesicht, aber es schlurrte wieder, und Rollo schlug wieder an, und Roswitha, die ’ s auch gehört, kam an mein Bett und setzte sich zu mir, und erst, als es schon dämmerte, schliefen wir wieder ein. Es ist ein Spukhaus, und ich hab es auch glauben sollen, das mit dem Spuk - denn du bist ein Erzieher. Ja, Geert, das bist du. Aber laß es sein, wie's will, soviel weiß ich, ich habe mich ein ganzes Jahr lang und länger in diesem Hause gefürchtet, und wenn ich von hier fortkomme, so wird es, denke ich, von mir abfallen, und ich werde wieder frei sein. “ 37 In dieser mise-en-scène des Spuks gelingt es ihr, sich selbst wieder Spielraum zu verschaffen: Anstatt „ ihren Platz auf dem Sofa “ 38 einzunehmen, verzichtet sie auf das Sofa der „ gnädigen Frau “ mit seinen „ Fährlichkeiten “ , wie die Sängerin Marietta Tripelli in einem früheren Kapitel Gieshüblers Sofa beschrieb. 39 Genau wie die Bühnenkünstlerin damals zieht sie nun einen Stuhl mit hoher Lehne heran und stellt die Rollen klar, die hier gespielt werden sollen: Innstetten ist der unaufmerksame, verständnislose Ehemann ( „ Daß du noch fragen kannst, Geert “ ), der Erzieher; sie übernimmt den Part der vom Spuk geplagten Frau mit dem weichen, leicht zu beeinflussenden Gemüt ( „ und ich hab es auch glauben sollen “ ). Sie geht also gerade dadurch in die Offensive, dass sie sich zur sensiblen, leicht zu beeindruckenden Ehefrau, dem Opfer ihres Mannes, stilisiert und die nötigen Anzeichen von Emotionalität produziert, die dieser Identität gebühren: Schwach ist sie, kann sich kaum ohne Stütze halten, ihre Stimme zittert und sie artikuliert unter Anstrengung. Auch ihre Sprache ist geprägt von Ausrufezeichen, emphatischen Wiederholungen und einem parataktischen Stil, die ihre Erregung zu bezeugen scheinen. So groß ist ihre Furcht, dass sie den Spuk zumeist nur vage als „ es “ benennen kann. Emotionsmarker konstituieren hier die dargestellte Identität. Neben der Dringlichkeit, mit der Effi nach einer Erklärung für ihre Erleichterung sucht, erlauben es auch weitere Details des Textes, Effis Verhalten hier als eine mise-en-scène der Spukgeschichte zu lesen. Trotzdem stellt 37 Fontane (1963: 182 - 183). 38 Fontane (1963: 182). 39 Vgl. Fontane (1963: 90). „ Die Trippelli, Anfang der Dreißig, stark männlich und von ausgesprochen humoristischem Typus, hatte bis zu dem Momente der Vorstellung den Sofaehrenplatz innegehabt. Nach der Vorstellung aber sagte sie, während sie auf einen in der Nähe stehenden Stuhl mit hoher Lehne zuschritt: ‚ Ich bitte Sie nunmehro, gnäd'ge Frau, die Bürden und Fährlichkeiten Ihres Amtes auf sich nehmen zu wollen. Denn von ‚ Fährlichkeiten ‘‘ - und sie wies auf das Sofa - ‚ wird sich in diesem Falle wohl sprechen lassen. [. . .] ‘“ Das Zurückbleiben des Eigentlichen 167 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [173] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur dieses Kapitel nicht einfach eine offensichtliche Verstellung 40 Effis dar. Denn Effi lügt hier nicht: Kurz zuvor im selben Kapitel sieht sie - in den Spiegel blickend - das Gesicht des Chinesen über ihrer Schulter, identifiziert es aber sofort als ihr Gewissen. 41 Auch kann sie sehr wohl die schleifenden Geräusche der zu langen Vorhänge im oberen Stockwerk gehört haben. Aber, obwohl sie nicht lügt und obwohl sie den Anschein völliger Offenheit in ihrer augenscheinlichen Erregung erweckt, enthält sie Innstetten hier etwas vor, sie übt geradezu Zurückhaltung im Ausdruck von Offenheit und durch das Aufrufen von Affektivität. Wenn die Frage, was Effi fühlt und ob sie sich tatsächlich fürchtet, unbeantwortet bleiben muss, so steht damit auch die Authentizität ihres „ weichen Charakter “ in Frage, denn diese Identität bezieht sich vor allem auf ihre Emotionalität. Selbstdarstellung und Zurückhaltung fallen hier zusammen, sodass sich nicht abschließend sagen ließe, was hier ‚ authentischer ‘ wäre. Effi inszeniert sich als furchtsame, impulsive Frau und ist sie gleichermaßen. 5 Augenschein Diese Konvergenz von Offenheit und Zurückhaltung wird durch die Erzählhaltung ermöglicht: Wurde zuvor noch Effis Suchen nach einem Ausweg durch ihr Bewusstsein fokalisiert, so erfolgt nun ihre Erklärung in direkter Rede und die sie einleitenden Sätzen sind extern fokalisiert: Die Leserinnen und Leser erfahren hier alles - wie Innstetten - nur dem Augenschein nach: „ [A]ugenscheinlich “ fehlt Effi hier die Kraft, sich aufrecht zu halten und kurz darauf bedarf es anscheinend ihrer „ äußersten Anstrengung[,] das Zittern ihrer Stimme zu bezwingen “ . 42 Durch die geschickte Moderation der Erzählhaltungen bleibt die Frage, ob die ausgesprochene Angst gefühlt ist oder nicht, im Suspens. Die Authentizität des Gefühls spielt keine Rolle für das Vorhaben einen Ausgleich des Ausdrucks zu erreichen. ‚ Authentizität ‘ kann nur von den Leserinnen und Lesern eines solchen augenscheinlichen Ausdrucks hergestellt werden, indem sie ihn deuten. Ein Leser ist hier zunächst einmal in Innstetten figuriert. 40 Zumindest handelt es sich hierbei um keine Verstellung, bei der sich noch zwischen dem Dargestellten und dem Eigentlichen, das verborgen wird, potenziell unterscheiden ließe, wie in der barocken dissimulatio oder noch in der Verstellung bei Schopenhauer und Nietzsche. Joachim Küpper zeigt, inwiefern gerade das „ Modernitäts-Potenzial “ dieses Romans unter anderem darin begründet liegt, dass sein „ Weltmodell [. . .] nicht darin auf[geht], daß uns Lesern hinter der wahrnehmbaren Oberfläche der Dinge das wahre Wesen der Welt enthüllt würde - der Fontane-Text zieht in Zweifel, ob es jenes ‚ wahre Wesen ‘ der Welt als wißbares überhaupt gibt. “ (Küpper 2008: 144). Dies gilt m. E. auch für die Subjektkonstitution der Figuren. 41 Fontane (1963: 169). 42 Fontane (1963: 182). 168 Katharina Adeline Engler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [174] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Innstetten hatte kein Auge von ihr gelassen und war jedem Worte gefolgt. [. . .] Was war das alles? Wo kam das her? Und er fühlte seinen leisen Argwohn sich wieder regen und fester einnisten. Aber er hatte lange genug gelebt, um zu wissen, daß alle Zeichen trügen und daß wir in unsrer Eifersucht, trotz ihrer hundert Augen, oft noch mehr in die Irre gehen als in der Blindheit unseres Vertrauens. Es konnte ja so sein, wie sie sagte. Und wenn es so war, warum sollte sie nicht ausrufen: „ Gott sei Dank! “ Und so, rasch alle Möglichkeiten ins Auge fassend, wurde er seines Argwohns wieder Herr [. . .]. “ 43 Innstetten bleibt nach Effis Rede mit mehr Fragen als Antworten zurück. Statt unter dieser Ungewissheit aber zu leiden, schöpft er gerade aus dieser Uneigentlichkeit des Ausdrucks und der Mittelbarkeit jeder sprachlichen Äußerung neues Vertrauen. Die Unzuverlässigkeit jeder Äußerung beruhigt ihn. So gelingt es ihm seiner selbst und seines Argwohns seiner Frau gegenüber „ Herr zu werden “ , gerade indem er der Diskrepanz von sprachlichen und körperlichen Zeichen auf der einen und deren Deutung auf der anderen Seite eingedenk bleibt. Die Entscheidung, Effis Erklärung Glauben zu schenken, beruht auf keiner Gewissheit und keiner Überzeugung, sie basiert lediglich auf der Möglichkeit der Erklärung und dem Wissen um die Mittelbarkeit jedes Zeichens. 44 In dieser kurzen Passage gibt es also zwei Arten von Selbstbeherrschung, die sich der Mittelbarkeit von körperlichem wie verbalem Ausdruck verdanken: Zum einen beherrscht Innstetten sich in der oben besprochenen Passage selbst, indem er die Polyvalenz der Zeichen zu überblicken glaubt ( „ alle Möglichkeiten ins Auge fassend “ ) und sich aufgrund der Möglichkeit von Effis Ausführungen ( „ Es konnte ja so sein, wie sie sagte. “ ) dafür entscheidet, „ blind “ gegenüber den anderen möglichen Lesarten der Zeichen zu bleiben, die weniger schmeichelhaft für ihn wären und seine Identität als guter Ehemann und prinzipientreuer Beamter bedrohten. Zum anderen hat Effi die Zeichen umgedeutet, Selbstbeherrschung geübt, indem sie Deutungshoheit über ihren Affektausdruck reklamiert hat. Wenn sich Innerlichkeit nicht unmittelbar ausdrückt, zumal im Roman, dann lässt sich zwischen ergreifendem Affekt und ausgesprochenem Fühlen, zwischen Schein und Sein, nicht einfach unterscheiden. Aber diese Diskrepanz ist der Ort, aus dem personale Identität erwachsen kann: Effi nutzt ihre persona der gefühlvollen Kind-Frau mit dem weichen Charakter und der großen kindlichen Phantasie. Zu behaupten, dass Effi diese, ihre persona nutze, bedeutet aber nicht, zu leugnen, dass sie jene Frau gleichermaßen ‚ ist ‘ . Die Uneigentlichkeit des Ausdrucks eröffnet Spielräume, die Selbstdarstellung als eine 43 Fontane (1963: 183). 44 Joachim Küpper hat diese Stelle zum Anlass genommen, den Konflikt zwischen rationaler Analyse und Vertrauen auf die Phänomene aufzuzeigen und überzeugend in eine Kritik des postmodernen Hinnehmens eines Nicht-Wissen-Könnens zu wenden (Küpper 2008: 146 - 150). Das Zurückbleiben des Eigentlichen 169 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [175] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Praxis der Selbstbeherrschung ermöglichen und in denen Identität performativ gesetzt wird und dabei fluide bleibt. Die Arbitrarität körperlicher und sprachlicher Zeichen selbst im Kontext von Emotionalität, ermöglicht es also Effi, als weicher Charakter zu erscheinen und Innstetten, Effis Erklärung zu glauben und ihre Identität als weicher Charakter hier zu verifizieren. Dabei liegt die Antwort auf die Frage, ob Effis Selbstbeherrschung gelingt, ob sie ein „ weicher Charakter “ ist oder nicht, nicht in ihr selbst, in einer ‚ ursprünglichen ‘ Identität begründet, sondern im Urteil des Betrachters: Innstetten glaubt ihr. Ähnliches gilt für den Text: Die Fragen, ob Effi sich tatsächlich fürchtet, wer und wie Effi ist, bleiben dem Urteil der Leserinnen und Leser überlassen, die wie Innstetten, die Zeichen deuten müssen. 6 „ Das Eigentliche bleibt doch zurück “ Die konstitutive Unsicherheit der Figuren gegenüber den Zeichen ihrer Umwelt, das Bedürfnis physiologischen und linguistischen Ausdruck zu deuten, zwingt zur genauen Beobachtung des Gegenübers. Diese schlägt sich im Roman vielerorts in Wendungen wie der oben zitierten wieder: „ Innstetten hatte kein Auge von ihr gelassen und war jedem Worte gefolgt. “ Aber auch der Gebrauch von Bewusstseinsberichten und interner Fokalisierung spiegelt oft jene Konzentration auf den Gesprächspartner wieder, beispielsweise wenn „ etwas “ im obigen Zitat aus Innstettens Augen zu Effi spricht und der Erzähler für sie fragt: „ Was war das? “ Dieses Bedürfnis, im körperlichen Ausdruck und der Rede des anderen zu lesen 45 und die Unsicherheit der Deutung, wird auch von den Figuren selbst reflektiert: Innstettens Misstrauen allen Zeichen gegenüber fand schon Erwähnung. Und auch Effis Mutter klagt im 24. Kapitel, als ihr Mann von ihr wissen möchte, ob Effi glücklich sei: [. . .] und immer bist du wieder da mit deinem Alleswissenwollen und fragst dabei so schrecklich naiv, als ob ich in alle Tiefen sähe. [. . .] Glaubst du, daß das alles so plan daliegt? Oder daß ich ein Orakel bin [. . .] oder daß ich die Wahrheit sofort klipp und klar in den Händen halte, wenn mir Effi ihr Herz ausgeschüttet hat? Oder was man wenigstens so nennt. Denn was heißt ausschütten? Das Eigentliche bleibt doch zurück. 46 Das Eigentliche - Innerlichkeit und Gefühl oder Identität - liegt nicht „ plan “ zu tage, sondern ist in einer Tiefe verborgen, es ist nicht mit Händen greifbar, sondern muss hermeneutisch erschlossen werden. Selbst im Herz-Ausschütten, einem Sprechakt, der vorgibt nicht nur die Wahrheit zu sagen, sondern 45 Gerhard Neumann betont, die Bedeutung des Wahrnehmungsaktes für den ‚ Realismus ‘ des Romans: „ das Horchen auf die Botschaft der Zeichen, die aus dem Beobachteten kommen [. . . wird] exemplifiziert durch den Roman Effi Briest “ (Neumann 2011: 19). 46 Fontane (1963: 215). 170 Katharina Adeline Engler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [176] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur alles zu sagen und alles zu zeigen, besonders den Gefühlsbestand, bleibt das Eigentliche unausgesprochen. Die Feststellung einer Unsagbarkeit des Eigentlichen - und was könnte eigentlicher sein als die eigene Identität und die eigenen Gefühle? - trifft nicht nur auf den Austausch zwischen den Figuren zu, sondern auch auf die Lesbarkeit jedes literarischen Texts. Der Roman Effi Briest im Besonderen ist von dieser Unhintergehbarkeit sprachlichen Ausdrucks betroffen. Nicht nur betont die Erzählhaltung jene Deutungsunsicherheit auf der Figurenebene, sie öffnet auch Interpretationsspielräume für die Leserinnen und Leser. Gerade dieses die Sprache konstituierende Defizit entpuppt sich also als Fülle. Keine Interpretation kann Effi Briest genügen, und der Text weiß um dieses Ungenügen und spielt mit ihm: Im Roman bleibt etwas zurück, das Eigentliche sogar! 47 Gerade darin liegt aber die Lust am Text. Bibliographie Theodor Fontane, Effi Briest, in: Theodor Fontane, Sämtliche Werke, hg. v. Walter Keitel, München 1963, Abt. I, Bd. 4, S. 7 - 296. Geoffrey Baker, Realism's empire. Empiricism and enchantment in the nineteenthcentury novel, Columbus 2009. Sabina Becker, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848 - 1900, Tübingen 2003. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 23 2013. Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt am Main 3 1993. Stefan Greif, Ehre als Bürgerlichkeit in den Zeitromanen Theodor Fontanes, Paderborn 1992. Joachim Küpper, Moderne, Romantik, Postmoderne. Bemerkungen zu Fontanes Effi Briest, in: Literaturstrasse. Chinesisch-deutsches Jahrbuch für Sprache, Literatur und Kultur 9/ 2008, S. 127 - 150. Norbert Mecklenburg, Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit, Frankfurt am Main 1998. Norbert Mecklenburg, Erzählkunst der feinen Unterschiede. Kleine Kommentare zu zwei Romanen und einem Novellenentwurf, in: Roland Berbig (Hrsg.), Theodorus victor. Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine Sammlung von Beiträgen, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Wien, 1999. 47 Siehe auch Neumann, der ebenfalls die Figurationen des Uneigentlichen hervorhebt, indem er die Sprachfloskeln und Klischees des Textes betrachtet. Diesbezüglich stellt er sehr richtig fest: „ Das Wichtigste hierbei scheint mir zu sein, daß Fontane diese Struktur der Uneigentlichkeit nicht ablehnt oder gar denunziert, sondern als notwendige Bedingung seiner von ihm in den Romanen dargestellten spätbürgerlichen Kultur vorsichtig und skeptisch bejaht. [. . .] Es gibt nichts anderes [. . .] als das Simulakrum, als das gefälschte Bild, als die stehende Redewendung, als das geflügelte Wort, als die stereotype Formel - aber es ist doch Leben, das durch sie spricht “ (Neumann 2009: 240). Das Zurückbleiben des Eigentlichen 171 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [177] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Gerhard Neumann, „ Eigentlich war es doch ein Musterpaar “ . Die trübe Passion der Effi Briest, in: Karl Heinz Götze, Ingrid Haag, Gerhard Neumann, Gert Sautermeister (Hrsg.), Zur Literaturgeschichte der Liebe, Würzburg 2009. Gerhard Neumann, Theodor Fontane. Romankunst als Gespräch, Freiburg im Breisgau 2011. 172 Katharina Adeline Engler Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [178] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Sebastian Seyferth Wort- und Textbausteine als Emotionsträger innerhalb einer Beschwerdeschrift Johann Geilers von Kaysersberg Zum juridischen Selbstverständnis im Spätmittelalter 1 Für J. Einleitung Sich aus sprachhistorischer Perspektive mit einem der wirkmächtigsten Prediger nach Berthold von Regensburg zu beschäftigen, heißt, sich mit der religiösen Textsortenüberlieferung auseinanderzusetzen. Der in der Mitte des 15. Jahrhunderts geborene Theologe widmete sich zeitlebens dem Predigen. Der Kleriker steht in seinem Denken dem Nominalismus nahe. 2 Geilers Schaffen ist breitgefächert und reicht von Texten wie den Beichtgedichten, Gerson-Übersetzungen oder diversen Predigtformen 3 - in der Rezeption uns als Lesepredigt 4 bzw. Predigtnachschrift bekannt - bis zu Klagebzw. Beschwerdeschriften säkular-religiösen Charakters wie im folgenden Beitrag. Dieser untersucht den Stil und die Textualität Geilers Sprache, nämlich derjenigen in seiner rechtsordnungskritischen Beschwerdeschrift von 1501: den 21 Artikeln. 5 Es handelt sich hierbei um eine Abbzw. Nachschrift, die aber - wie Werner Schröder meint - vom Autor selbst formuliert sein dürfte. 6 Geilers Text ist in drei Handschriften überliefert, 7 lag jedoch erst 1877 gedruckt vor. Zudem hat Kaysersberg diesen Text mündlich vor dem obersten städtischen Verwaltungsgremium, dem Straßburger Rat, vorgetra- 1 Ein thematisch ähnlicher Aufsatz mit erweiterten Beispielen, basierend auf demselben Primärtext, wird voraussichtlich 2015 in der Breslauer Schriftenreihe Studia Linguistica erscheinen. 2 Vgl. Kraume [VL] (1980: 1148). Auf die Debatte der geistesgeschichtlichen Verortung gehe ich an dieser Stelle nicht ein. vgl. dazu Voltmer (2005: 50 ff.). 3 Zur Predigtkonzeption Geilers vgl. Voltmer (2005: 66 ff.). 4 Zu Lesepredigten vgl. Williams-Krapp (2012: 11 ff.). 5 Vgl. die Edition von Bauer (1989). 6 Vgl. Schröder (1985: 35). 7 Vgl. dazu Bauer (1989: 517 ff.), Handschrift a, b, c. Der Erstdruck bzw. die Werkedition Bauers folgt Handschrift a. Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [179] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur gen. 8 Zu fragen bleibt, ob sich hierin Elemente der Mündlichkeit freilegen lassen. Dem gegebenen Rahmen entsprechend, werde ich die Themenfelder der Identität sowie Emotionalität anhand von Textmerkmalen untersuchen, um danach die Funktionalität, Situierung, Texttyp und Textwirkung näher zu beleuchten. Ziel der Untersuchung wird es sein, lexikalisch-textuelle Stilbesonderheiten herauszuarbeiten. Methodisch bediene ich mich dazu dreier linguistischer Bereiche. Zuerst analysiere ich unter stilistisch-semantischer Blickrichtung die juridisch-religiöse Lexik. Daran anschließend werden textgrammatische Besonderheiten herausgearbeitet. Schließlich soll unter sprechakttheoretischem Blick das makrostilistische Argumentationschema innerhalb der Artikel herausgestellt werden. Zunächst einige Bemerkungen zur textuellen Situierung und historischen Einbettung. Die 21 Artikel zielen darauf ab, Ungerechtigkeiten sowie Gesetzesüberschreitungen innerhalb des Straßburger Stadtrechtes zu kritisieren und damit indirekt die urbane Rechtsordnung zu reformieren, was Geiler späterhin auch teilweise gelingen sollte. Obwohl seine Prädikatur von angesehenen Bürgern, z. B. dem Ammeister Peter Schott d. Ä. mitinitiiert und finanziell unterstützt wurde, 9 war der Geistliche weder dem Magistrat noch dem Rat weisungsgebunden, sondern seinem Bistum verpflichtet. Der populäre Stadtprediger führte Beschwerde über rechtliche Bestimmungen der Stadt Straßburg, die nach seinem Verständnis christlichen Normen bzw. der allgemeinen Rechtsausübung, insbesondere zivilrechtlichen, aber auch innerstädtischen Rechtsangelegenheiten zuwiderliefen. Gleichsam forderte er die Unterlassung dieser weltlichen Rechtsbräuche, da er um der Bürger Seelenheil fürchtete. Konkret ging es ihm um von der Stadt ungerecht geregelte Erbangelegenheiten von Klerikern aber auch Laien, Spiel- und Gewerbeordnungen oder Krankenfürsorgeregelungen. Formal unterteilt sich die Klageschrift in 21 Artikel, was neben der makrostrukturellen Einteilung eine Anspielung auf das oberste Regierungs- und Verwaltungsgremium Straßburgs, 10 dem Rat und die Einundzwanzig, nahelegt. Textsortenspezifisch ähnelt sie einer „ Satzung “ , jedoch ohne rechtsgültige Verfügungskraft. Diese Warnschrift enthält ein Vorwort und Nachwort, welche nicht gesondert durch Überschriften kenntlich gemacht sind. Nun zum Analytischen: 8 Recitatum coram senatu Anno 1501. feria quarta die sancti Johannis Crisostomi hora octava usque ad decimam <per me Joannem Geyler de Keysersbergg in propria persona>, Bauer (1989: 200). 9 Vgl. dazu Israel (1997: 181). 10 Vgl. dazu Israel (1997: 182). 174 Sebastian Seyferth Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [180] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 1 a) Juridisch-religiöse Lexik Betrachtet man den Sprachtypus ganz allgemein, so meint Werner Schröder, Geiler bediene sich generell des urkunden- und kanzleisprachlichen Stils. 11 Zur Kanzleisprache zählen wir z. B. Rechtswörter im engeren und weiteren Sinn, zweigliedrige Formeln, Antithesen oder auch Alliterationen. 12 Im untersuchten Text stoßen wir auf nämliche Elemente, so z. B. auf zahlreiche zweigliedrige Formen (Zwillingsformeln), die nicht allein auf diesen spätmhd. bzw. frnhd. Texttypus beschränkt bleiben: 13 schad oder schmoch (199,21), schirmer oder furmuvnder (175,16), gemech 14 oder testament (174,5), gebruch und statut (162,21-22), der armen und durfftigen (163,20), gewonheit und alt harkummen (164,10), glori und rum (196,31-32) oder auch die Alliteration gesatz und gebot (199,6). Eng damit verbunden ist die Frage, ob einerseits die rechtssprachliche oder anderseits die religiöse Lexik überwiegt, woraus sich dann die Charakteristik bzw. die Textfunktion ableiten lässt. Wir treffen auf beides. Quantitativ auffällig ist der Nominalbereich. Die Nomina der ersten beiden folgenden Beispiele stellen gleichsam zentrale Textgegenstände dar: Statutenn, (ge)bruch, Artickel. Die Beispiele mögen das illustrieren: 1) Diß sindt die Artickel der gewonheiten Statutenn und bruchs der stat Straßburg (155,3-2). 2) Bebstliche recht verbannent alle die do solliche statut machend oder haltend wider frijheit der kilchen als im ersten artickel berurt ist (168,29-30; 169,1). 3) wider christeliche gaesatz und gottes gebotte (155,8-9). Aber auch Abstrakta wie Bevogtung der witwen (175,26), gemeyner nuvtz (160,33), testamentarien (165,24) 15 , pfrunden (192,17), oder Konkreta wie regierer (155,9), regenten (159,12), underthonen (172,27) determinieren juridische Wortfelder. Darüber hinaus ist ebenso religiöser Wortschatz zu vermerken. Diese Wortgruppen beschreiben hauptsächlich religiöse Orte bzw. religiös motivierte Tätigkeiten: Uff der Cantzlen (156,23), Sprach der her im ewangelio (176,27), Priesterschafft (192,15), gots dienst oder gotshuser stifften (157,12- 13) oder meß hoeren (181,1-2). 11 Vgl. Schröder (1985: 36). 12 Zu Merkmalen der Kanzleisprachen vgl. Bentzinger (2000: 1665 - 1673). 13 Alle in Klammern angegebenen Textbelege der hier untersuchten Schrift beziehen sich auf die Edition von Bauer (1989). Die Fettmarkierungen und Unterstreichungen stammen von mir. 14 Im mhd. Wörterbuch wird unter obigem Lemma testament oder vertrag angegeben, vgl. Lexer (1992: 60). 15 Im Glossarium Latino-Germanicum finden sich unter obigem Lemma volkssprachliche Rechtsbegriffe wie testamentum, saczung. Diefenbach (1997: 581). Emotionsträger in einer Beschwerdeschrift Johann Geilers von Kaysersberg 175 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [181] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 1 b) Expressiv emotional segmentierte Lexik Die folgenden Textbeispiele gehören dem allgemeinen Wortfeld der Kritik an, gleichsam intentional als Anklage intendiert. Das gemeinsame semantische Merkmal kann man unter der Phrase Mißachtung der Gottesordnung zusammenfassen. Mit diesen stark emotional wertenden Lexemen verurteilt Geiler städtische Gesetze, die in seinen Augen gottesverachtend sind. Interessanterweise äußert er nicht allein persönliche Werturteile, sondern bezieht die christliche Gemeinde identitätsstiftend mit ein. Zu den Wertwörtern zählen vornehmlich Substantive, Adverbien, aber auch Adjektive in prädikativer und attributiver Funktion. Eindringlich wirken diese Sätze nicht allein ihres Inhalts wegen, sind es doch auch oft phonetisch volltönende Vokalketten, die Kaysersberg hier gekonnt setzt: 4) Es ist ein grusel in christlichen oren zu hoeren (157,8) 5) Diß statut als ein lerer schrijbt ist nit allein wider der kirchen frijheit sunder ouch wider goetliche er und wider merung des gots dienstes/ und (das gruselich ist zu hoeren) gestattet nit das eins muege von synem gut got uff opffernn/ und gestattet aber das es dem tuffel durch uppige vertuegung geopfert wird/ (159,7-12) 6) Ein sollich schimpfflich urteil wart gefellet allem rechtenn (166,6-7) 7) Sollich gewonheitenn oder statut werden verworffen als schedlich (193,16-17) 8) Ist spotlich und eyner stat schedlich (175,14) 9) Es ist ein spot das erloubt ist eynem guder das sin alles sammen uppiglich zum dienst des tuffels zu verthun/ und eyner frummen person verbotten/ das ir alles umb gotz willen zu geben (176,14-17) 10) Das ist der houbtgifft eins disser stat/ und ein verderbniß/ und so lang das nit abgethon wurt So mag disse stat nummerme begruonen/ ursach ist/ so vijll grosses ubels das dar uß erwachset (178,24-27). 11) Darumb so ist es ein grosse hertikeit 16 die weder vor got noch der welt verantwurdet mag werden. (183,5-7). 2) Textgrammatisches Will man Vertextungsprinzipien untersuchen, stößt man unweigerlich auf die Kohärenz, welche größtenteils auf der Rekurrenz bzw. Koreferenz basiert. 17 Innerhalb der lexematischen Ebene wiederholen sich hierbei auf unterschiedliche Weise Texteinheiten, deren Beschaffenheit es gilt, zu bestimmen. Ein 16 Im kleinen frnhd. Lexikon finden sich folgende Sememe: Härte, Mühsal, Baufeld (1996: 126). 17 Erinnert sei hier an die textlinguistischen Untersuchungen Albrecht Greules in frnhd. Texten, insbesondere zu den Textsorten Satzung oder Gebetsbuch. Vgl. dazu Greule (2011: 23 - 32). Albrecht Greule, Das Gebetbuch der National- und Universitätsbibliothek Ljubljana, MS 224 als Gegenstand der Textlinguistik, in: Marija Bri š ki Javor, Mira Miladinovi ć Zalaznik, Stojan Bra č i č (Hrsg.), Sprache und Literatur durch das Prisma der Interkulturalität und Diachronizität, Ljubljana 2009, S. 363 - 368. 176 Sebastian Seyferth Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [182] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur ebenso wichtiger Punkt für das Textverstehen ist das semantische Prinzip der Isotopie. Hierbei werden Klasseme, also wiederkehrende Bedeutungsmerkmale, benannt, damit eine Isotopieebene entsteht. Sememe von Sprachausdrücken konfigurieren diese Klasseme. Geiler benutzt vielfältige Vertextungsmittel. 2 a) Rekurrenz und Textdeixis Wiederaufgenommen wird nachfolgend das Nomen. Das Demonstrativpronomen verweist hierbei auf größere Texteinheiten und übernimmt somit Spezifizierungsfunktion. 12) ein Statut (157,3) [. . .] Diß statut (157,31). Ebenso wird das Indefinitpronomen man rekurrent verwendet: 13) Man verkoufft brot (180,25). 2 b) Wiederaufnahme durch Proformen Das Personalpronomen ir nimmt im Beispiel 14 das vorausgehende Nomen die gemeyn (die Gemeinde) auf: 14) Darumb ist die gemeyn so arm/ noetig/ und nit haben/ Wenn durch die stuben do man zert spilt und versuvmpt/ erwachst ir schad/ und stot still ir gewin (179,5-8). 2 c) Metakommunikativa Der folgende Verbalsatz gibt dem Leser Informationen über die Kommunikationsumstände, nicht aber über inhaltliche Aspekte: 15) Es ist als ich bericht wurd gewonheit [. . .] (195,21). Nicht nur innerhalb der Kleintexte, also der Artikel, lassen sich Kohärenzen herausarbeiten, sondern auch im artikelübergreifenden Großtext. Explizite Zusammenhänge zwischen den Kleintexten werden durch folgende Metakommunikativa realisiert: Spezifischer Vorverweis im 5. Artikel auf den 6. Artikel: 16) als vor im nechsten artickel geseit ist (171,25-26). Unspezifischer Rückverweis im 6. Artikel: 17) Es stat uff andernn puncten wie vor geseit ist (176,3). Emotionsträger in einer Beschwerdeschrift Johann Geilers von Kaysersberg 177 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [183] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 2 d) additive Konnektoren Der Konnektor Item (181,12) wirkt satzübergreifend, gedankenweiterführend und reihenbildend, dergestalt, dass dieser jeweils einen neuen, aber inhaltskonformen Sachverhalt verhandelt. 2 e) Kontiguität Unter diesem Phänomen wird die semantische Nähe von nicht referenzidentischen Lexemen verstanden. Im Einleitungsteil berichtet Geiler von der Textgenese, wovon eingangs die Rede war. Das Lexem die Räth (155,14) und die Lexemeinheiten Peter Arg und Obrecht Armbroster (155,20-21) verhalten sich zueinander kontiguitiv, da beide Ratsmitglieder sind. Gleichsam kann diese Relation als metonymisch beschrieben werden. 3) Makrostilistisches Argumentationschema Den 21 artickeln ist eine variable, jedoch schematisch iterative logische Argumentationsstruktur inhärent. Die Kleintexte setzen mit einer aktuellen Rechtsstatutenbeschreibung ein, woran sich mitunter eine anschauliche Situationsschilderung der momentanen Stadtrechtslage anschließt. Hierbei schwächt Geiler passivisch seine Behauptungen in manchen Passagen ab, in denen er mitteilt, ihm seien bestimmte Umstände zugetragen worden. Danach folgt ein anklagender Wertungssatz, bezogen auf den beschriebenen Rechtsumstand, indem er sich auf Keiserliches bzw. Kirchliches Recht beruft. Hier werden der wirtschaftliche, aber auch moralische Schaden für die Stadt bzw. die Kirche sowie Gebotsübertretungen deutlich gemacht. An manchen Stellen begründet Kaysersberg sein Urteil, indem er lateinische Rechtsquellen anzitiert als Autorität und so Beweis führt bzw. Argumente liefert. Diese untermauert Geiler meist mittels leicht verständlicher Bibelzitate. Wie eng die Verzahnung und Interdependenz zwischen geistlichem und weltlichem Recht war, zeigt folgender Beleg: 18) Der babst in geistlichen rechten xix. q<uestione> iij. c<apitulo> quia ingredientibus et c<apitulo> si qua Spricht das selb wie der keiser/ wan die geistlichen recht am selben ort sind gezogen uß keiserlichen rechten/ und nit als etlich meynen von den pfaffen uffgericht Sunder von keysernn der kilchen frijheit geben. (158,10-15). Betrachtet man den appellativen Text sprechakttheoretisch, sind es auf der Illokutionsebene hauptsächlich Verben der Repräsentativa, die mitteilen und berichten, und Direktiva, die bitten und raten. Aber auch Expressiva finden sich, nämlich dort, wo er warnt oder beklagt. Dabei ist Kaysersberg der Sender und in erster Linie der Stadtrat, aber auch die Bürger sind die 178 Sebastian Seyferth Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [184] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Empfänger. Geiler bekennt seine Schreibabsicht gegen Textende, versöhnlich, aber klar in der Sache: 19) Disse artickel hab ich geschriben nit beschlussig aber warnlich (199,15-16) [. . .] das ich disse ding nit geschriben hab zu iemans schad oder schmoch Sunder uff anbringen und begird eins erbernn radts disser stat Straßburg (199,20-23). Fazit Geiler von Kaysersberg ist sich seines durchstrukturierten Textes an den Rat Straßburg ’ s und dessen rhetorischer Wirkung bewusst, sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen. Seine Sprache bewegt sich jenseits des manchmal etwas spröde anmutenden Kanzleistils. Lexikalisch greift der Autor besonders auf wertende Begrifflichkeiten zurück, wodurch er anklagt, warnt, spottet, aber auch vermittelt oder konstruktiv vorschlägt. Mittels emotional aufgeladener Lexik auf der Bedeutungsseite mahnt er die Ratsleute die Statuten zu ändern. Er setzt dies um durch z. B. fingierte Dialogizität, biblische Vergleiche oder Beispielgeschichten. Zur Verständlichkeit tragen diverse Kohärenzmuster bei (Rekurrenz, Proformen, Koreferenz, Kontiguität etc.). In zivilrechtlichen, aber auch in lebenspraktischen Dingen trennt Geiler nicht das Säkulare vom Klerikalen und bezieht durch seinen eindringlichen und nachvollziehbaren Argumentationsgang geschickt die religiöse Gemeinschaft ein. Ferner appelliert er an die religiöse Redlichkeit des über die Stadt entscheidenden Rates und schafft damit eine breite Identifikationsbasis für alle. Bibliographie Albrecht Greule, Das Gebetbuch der National- und Universitätsbibliothek Ljubljana, MS 224 als Gegenstand der Textlinguistik, in: Marija Bri š ki Javor, Mira Miladinovi ć Zalaznik, Stojan Bra č i č (Hrsg.), Sprache und Literatur durch das Prisma der Interkulturalität und Diachronizität, Ljubljana 2009, S. 363 - 368. Ders., Beobachtungen zur Textgrammatik des Frühneuhochdeutschen in der Ostslowakei am Beispiel der Satzung des Rates der Stadt Kaschau (Ko š ice) von 1404, in: Michaela Ková č ová, Jörg Meier, Ingrid Puchalová (Hrsg.), Deutsch-Slawische Kontakte. Geschichte und Kultur, Ko š ice 2011, S. 23 - 32. Johannes Geiler von Kaysersberg, Sämtliche Werke, in: Gerhard Bauer (Hrsg.), Die Deutschen Schriften./ Bd. 1, Berlin, New York 1989. Christa Baufeld, Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Tübingen 1996. Rudolf Bentzinger, Die Kanzleisprachen, in: Werner Besch (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung/ Bd. 2, Berlin, New York 2 2000, S. 1665 - 1673. Lorenz Diefenbach, Novum glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis, Darmstadt (1857) 1997. Emotionsträger in einer Beschwerdeschrift Johann Geilers von Kaysersberg 179 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [185] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Uwe Israel, Johannes Geiler von Kaysersberg (1445 - 1510). Der Straßburger Münsterprediger als Rechtsreformer, Berlin 1997. Kraume Herbert [VL], Johannes Geiler von Kaysersberg, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Bd., Berlin, New York 1980, S. 1141 - 1152. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Stuttgart 38 1992. Werner Schröder, Auxiliar-Ellipsen bei Geiler von Kaysersberg und bei Luther. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen/ 5, Mainz, Stuttgart 1985. Rita Voltmer, Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt - Johannes Geiler von Kaysersberg (1445 - 1510) und Straßburg (4), Trier 2005. Werner Williams-Krapp; Kristina von Freienhagen-Baumgardt, Katrin Stegherr (Hrsg.), Geistliche Literatur des späten Mittelalters. Kleine Schriften (64), Tübingen 2012. 180 Sebastian Seyferth Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [186] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Zaneta Sambunjak Dekonstruktion der Identität durch verletzte Ehre 1 Einleitung Bei der Dekonstruktion der Identität durch verletzte Ehre spielen das Haar und die Bartbehaarung eine wichtige Rolle. Vom Rasieren zum Kräuseln, vom Verhüllen zum Enthüllen, zeigen das Haar und der Bart einen breiten Aspekt des Umgangs mit ihnen. Sie zeugen von den Unterschieden im Status, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, sprechen von einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit, zeugen von der Annahme oder Ablehnung der bestehenden sozialen, politischen und religiösen Normen. In einigen Gesellschaften wird ihnen symbolische Bedeutung zugeschrieben, und darüber hinaus, offenbaren sie die Beziehungen zwischen freiwilligen sozialen Verhaltensweisen und kulturellen und traditionellen Praktiken. 1 Im Rahmen dieser Fragestellung wird man hier auf folgende Punkte eingehen: Das Haareschneiden oder Rasieren in der mittelalterlichen Literatur weist auf die verletzte Ehre und die Dekonstruktion der Identität hin. Auch in der kroatischen Literatur der Renaissance ist eine ähnliche Erniedrigung bekannt. Am Beispiel von Gottfrieds von Straßburg Tristan (um 1210), Wolframs von Eschenbach Parzival (vermutlich im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts), Konrads von Würzburg Heinrich von Kempten (in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts), Petar Hektorovi ć s Brief an Vincenzo Vanetti (1561) und Marin Dr ž i ć s Novela od Stanca (1550) werden die Grade der Beleidigung durch das erzwungene Rasieren und Haareschneiden kompariert, um die Funktion der beleidigten Ehre in der älteren Literatur zu erklären. Es werden auch die Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Konsequenzen für die Identität der Hauptakteure gedeutet. Die motivisch-thematische Verbindungen in diesem moralischen Komplex werden untersucht: Die Beleidigung der Ehre durch das Entstellen des körperlichen Aussehens trägt die Spuren des Mythos von der Aufopferung des alten Königs in sich, weist auf den Mythos von dem zyklischen Tod und der Auferstehung der Fruchtbarkeitsgottheiten hin, erläutert aber auch das Initiationsritual: die Erfahrung der Entehrung, der Erniedrigung, initiiert den Jungen zum Mann. In dem Akt des Rasierens und Haareschneidens erkennt man auch den Kult von der Wiederbelebung der Natur, des Lebens und der Herrschaft. 1 Bromberger (2008). Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [187] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 2 Mittelalter Die Analyse des Themas des Haareschneidens in der mittelalterlichen Literatur, am Beispiel von Tristan und Parzival, zeigt, dass ihr heterosexuelles Verlassen der Kindheitsjahre viele männliche Eigenschaften erfordert und dass das Schneiden ihres Haares tatsächlich ein Versuch der Entmännlichung ist. In kunstvoll verzahnten Handlungssträngen einer Doppelromanstruktur von Wolframs Parzival wird die Entwicklung des Titelhelden vom Unwissenden im Narrenkleid zum Gralskönig erzählt. Parzivals Mutter erniedrigt ihren Sohn mit dem hässlichen Haarschnitt und der Kleidung eines Narren, um ihm seinen Weg zur Reife zu erschweren, so dass die Umgebung, die Gesellschaft, ihn verspottet und für verrückt hält. Sie wollte damit seinen Wunsch zerstören, ein ritterliches Leben zu führen, um ihn bei ihr, in geschützten Lebensbedingungen, zu behalten, obwohl die Aufnahme Parzivals in die Tafelrunde des mythischen britannischen Königs Artus nur eine Durchgangsstation auf seiner Gralsuche ist. 2 Ähnliches geschieht auch in Gottfrieds Tristan, einem homogenen, vieldeutigen, poetologisch eigenständigen und an der Figurenpsychologie interessierten Liebesroman, wenn Tristan sich vor der Königin Isolde mit den rasierten Haaren und in der Kleidung eines Narren zeigt und sie ihn nicht erkennt. Es ist ein Moment in der Handlung des Ritterromans, in dem Tristan noch nicht sicher ist, was mit seiner Beziehung zur Königin Isolde und zum König Marke zu tun sei. 3 Daraus können wir folgern, dass ein Haarschnitt, mit dem sich die Hauptgestalten erniedrigt fühlen, ein Zeichen dessen ist, dass sie noch nicht männliche Eigenschaften verdient haben. Zu diesen Eigenschaften zu gelangen sind die Taten erforderlich, mit denen sie durch den Prozess der Intiation zu Männern werden. In diesem Fall kann ein Haarschnitt auch als eine Form der Kastration erscheinen. 4 Herzeloyde gibt ihrem Sohn Parzival Ratschläge, wie man sich gegenüber Frauen verhalten soll, aber er denkt nur daran, ein Ritter zu werden, was seine Mutter dazu veranlasst, ihn mit dem Haareschneiden zu erniedrigen. 5 Tristan könnte seine Wünsche, die die Königin Isolde betrafen, nicht erfüllen, weil sie die Ehegattinn von dem eifersüchtigen König Marke ist. 6 Die metaphorische Kastration durch das Haareschneiden deutet auf den Austausch von Leistungen in den Machtbeziehungen, dessen Folge das Fehlen oder die Unfähigkeit in der Verwirklichung der sexuellen Begierde ist. Die Beseitigung der Haare durch das Schneiden setzt sich ein klares Ziel: die Maßnahmen/ Taten/ Aktionen vorzuschlagen, die in sich Selbstbewusstsein beinhalten, und indirekt belehrt das Haareschneiden, 2 Wolfram (1998). 3 Gottfried (1968). 4 Tracy (2013) vgl. auch Sheehan (2005). 5 Wolfram (1998). 6 Gottfried (1968). 182 Zaneta Sambunjak Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [188] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur wie man sich in der sozialen Interaktion verhalten soll. Zur gleichen Zeit scheint die Konzentration auf die Haare der Hauptfiguren kein Zeichen der Missachtung dieser Gestalten zu sein, was man auf den ersten Blick denken könnte. Ihre Beziehung zum Haar verkörpert die emotionale Interaktion, die Gegenseitigkeit, die Reziprozität der Liebe und bedeutet paradoxerweise die Kraft und die Zerbrechlichkeit der Beziehung zwischen Mutter und Sohn und zwischen zwei unglücklichen Liebhabern. 7 Die Tristan-Geschichte rückt unser Interesse zwangsläufig auf Konrad von Würzburg und sein Werk Heinrich von Kempten. Das Werk ist eine mittelhochdeutsche Verserzählung, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfasst wurde. In dem ersten Teil wird die Verbannung des Ritters Heinrich vom Hofe des Kaisers Otto erzählt und im zweiten Teil die Zurückgewinnung der kaiserlichen Gnade. In Heinrich von Kempten ist Königs Otto Barthaar ein Symbol der Männlichkeit, Autorität, fast ein Symbol der Heiligkeit. Sein Barthaar wird als ein Teil seines einzigartigen, furchterregenden Identitätsbildes betrachtet. Der Angriff des Ritters auf den König und seinen Bart, die Aggressivität dem Königsbart gegenüber, durch den die Königsbrutalität dargestellt wird, hat eine didaktische und politische Funktion und zeigt gewisse Opposition gegen den status quo. Der rebellische Ritter definiert sich und seinen Wirkungsbereich. Den König setzt er in die Sphäre des barbarischen „ Fremden, Anderen “ und identifiziert ihn mit seinem aber auch mit dem eigenen Gegner. 8 Im Mittelalter wird das Barthaar mit den prominentesten Ausländern im europäischen Denken verbunden - mit den Muslimen und Juden, die als bärtig geschildert wurden. 9 Interessant ist zu sehen, dass im Text des hohen Mittelalters der König, der Sieger und Eroberer, als bärtig dargestellt wird, was ansonsten zusammen mit der weißen Gesichtsfarbe eine Charakteristik der Darstellung der europäischen Konquistadoren ist. Das Bild des rotbärtigen Königs wird zum semiotischen Wendepunkt in der Darstellung der europäischen Identität und Kultur im weitesten Sinne. 10 Der Konflikt des rotbärtigen Königs mit dem Ritter und die Reaktion des Königs, die der Tod sein sollte, endete aber mit einem Kompromiss. Jede Seite bewaffnete sich, um selbstständig zu bleiben, sie versuchten sich gegenseitig zu unterwerfen, den Konflikt mit Gewalt zu lösen, aber als ihnen das nicht gelang, schlossen sie eine Vereinbarung, die sich bei der ersten Gelegenheit in einen Bund, eine Allianz verwandelte. Sie haben die Regionen, Zonen bestimmt, in denen sie sich bewegen könnten und in denen sie Einfluss ausüben könnten, ohne dass man einander im Weg steht oder im Blick hat. 11 Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung zeugt von den Konfliktsituationen in den Werken des Mittelalters, die wegen einer strukturellen Begrenzung 7 Dobranski (2010). 8 Tracy (2012). 9 Horowitz (1997). 10 Horowitz (1997). 11 Konrad (2004). Dekonstruktion der Identität durch verletzte Ehre 183 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [189] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur vorkommen, nämlich wegen der dauerhaften Abwesenheit einer zentralen Autorität. 12 Das Fehlen einer einheitlichen Autorität wird mit dem Rasieren des königlichen Bartes dargestellt, wobei die königliche Autorität zum Schwanken gebracht wurde, und seine Entscheidungen in Frage gestellt wurden. Gleichzeitig erkennt man in einer solchen Situation die Spuren des Mythos von der Aufopferung des alten Königs und was im Mittelalter jung und männlich zu sein bedeutet: Gültige Wertevorstellungen und Normen ablehnen, rebellieren, die Mächtigen herabsetzen. Es wird eine Generation von Männern erzogen, die sich zornig und wütend fühlten. Der Held im Werk hat seine soziale Identität (seinen Status) erkämpft. Er suchte nach dem Platz in der Gesellschaft, und die Gesellschaft hat ihm seine Grenzen gezeigt. Aber das Leben des alten Königs hängt von den Entscheidungen des Ritters ab, und der Ritter besitzt die Fähigkeiten, mit denen er den König entthronen kann. Allerdings leitet der Kaiser Otto Rotbart zu einer der brutalsten Verbrecherfiguren in der englischen Literatur, dem Blaubart. 13 Als die Quelle für das Entstehen des Charakters der Blaubart-Figur wird Conomor angenommen, der frühbritische König, der mit Tristan in Bezug gebracht werden kann. Conomor (fl. c. 540+), bekannt auch als Conomerus, regierte in Britannien im frühen Mittelalter. Sein Name bedeutet „ der große Hund “ , kann aber auch „ Hai “ bedeuten. Conomors Brutalität ist in der britischen Kultur bekannt. Der Historiker Léon Fleuriot behauptet, dass Conomor ein Romano-Britte war: ein Präfekt (praefectus) und Tyrann, wie die Chronik vom Hl. Brieuc es besagt: „ Comorus tyrannus, praefectus Francorum regis. “ Eine Inschrift in Cornwall, die die Namen von Conomor und Tristan beinhaltet, brachte die Wissenschaftler dazu, Conomor als die mögliche Quelle für die Figur des Königs Marke in der Legende vom Tristan zu betrachten. Die Inschrift lautet „ Drustanus hic jacit cunomori filius “ (hier liegt Tristan, Conomors Sohn). Die Vita des Hl. Paulus erwähnt einen König Mark oder einen „ princeps Marc “ oder mit dem vollen Namen Marcus Quonomorius. 14 In seinem Das Herzmaere hat Konrad von Würzburg als den Leser Gottfried von Straßburg und sein Epos Tristan und Isolde impliziert. 15 Daraus kann man folgern, dass Konrad auch in seinem Heinrich von Kempten den rotbärtigen König als den brutalen König Conomor, den König Marke, Tristans Onkel, darstellen wollte. Daraus ist es auch zu beschließen, dass der Blaubart, bevor er zum Blaubart wurde, der Rotbart sein könnte. In diesem Fall impliziert das Barthaareschneiden des Königs das Nachdenken über die politische Integrität, Identität und Autorität. Dabei erkennt man einen Sprung im Typ der politischen Frage, die zu betrachten sei: Hat die Autorität die Macht Entscheidungen zu treffen und hat die Autorität die 12 Fischer (1992). 13 Hermansson (2009). 14 Fleuriot (1982: 189). 15 Konrad (2004: 66). 184 Zaneta Sambunjak Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [190] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Legitimität Entscheidungen zu treffen? Solche Fragen sind sehr wichtig beim Erklären der Rolle des Ritters in den politischen Begebenheiten des mittelalterlichen Ritterromans. Das könnte auch auf die wichtigere Position der individuellen Identität in der Gesellschaft hinweisen, das heißt, das könnte die Wiederentdeckung der Individualität im Mittelalter bedeuten, aber könnte auch impliziren, dass das Individuum im Konflikt mit der Gesellschaft war. Die Helden dieser Geschichten werden als die narrative Grundlage für das Nachdenken über die Natur und Grenzen der Formation der aggressiven Identität verwendet. Der Held wird als eine Ergänzung der Gesellschaft betrachtet, weil beide, der Held und die Gesellschaft, eine perfekte Verkörperung ihrer Wertevorstellungen sind, aber beim Bemühen des Helden seine Identität zu gewinnen, begrenzt die Gesellschaft die Mechanismen der Identitätsformation, wobei auch die Reziprozität, die ansonsten die Gesellschaft verstärken soll, den gegenseitigen Nutzen des Helden und der Gesellschaft begrenzt. Die Identität des Helden, der Gesellschaft, der er zugehört und der Feinde/ der Gegner, bzw. eines jeden von ihnen, hängt von den anderen beiden ab. 16 3 Renaissance In der kroatischen Literatur der Renaissance, in Novela od Stanca von Marin Dr ž i ć (1508 - 1567) gibt es einen Handlungsteil, in dem die körperliche Transformation eines alten Mannes in einen Jungen durch Haarausfall und Hautwechsel erfolgt. Die Komödie des Schriftstellers der Renaissance, Marin Dr ž i ć aus Dubrovnik, wurde als ein Einakter mit sieben Szenen geschrieben. Das Thema stammt aus dem Portfolio der Kömodien mit den Motiven des Karnevals und beinhaltet die Elemente der Farce. Es wurde im Jahr 1550 für das Hochzeitsfest eines Adligen, Martolica D ž amanji ć , geschrieben. Der Begriff der Novelle im Titel des Wekes bedeutet einen Witz, einen Streich, und bezieht sich somit auf die Handlung selbst und nicht auf einen Kurzprosatext, der heute in der Theorie der Literatur als die Novelle bekannt ist. In der Kömodie erzählt D ž ivo dem alten Stanac, wie er einmal nachts mit den Feen getanzt hat und am Morgen jung aufgewacht ist. Er erzählt ihm, wie ihn danach seine Frau nicht erkannt hat, über ihn geschimpft hat, von ihm weggelaufen ist, nicht mit ihm im gleichen Bett schlafen wollte, mit der Erklärung er sei nicht mehr derjenige, der er früher gewesen war. Im Ablauf der Handlung erfährt der Leser, dass D ž ivo dem Alten eine Geschichte erzählt, mit der er den Betrug und Diebstahl seiner Ziege vorbereitet. Alles geschiet zur Zeit des Karnevals und die Maskierten bändigen Stanac und 16 Cowell (2007). Dekonstruktion der Identität durch verletzte Ehre 185 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [191] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur rasieren ihn. 17 Es muss betont werden, dass was auch immer für negative Implikationen eine solche Darstellung von D ž ivo und Stanac in der kroatischen Renaissance in sich tragen (alt vs. jung, Hirten vs. Bürger, gebildet vs. ungebildet, intelligent vs. dumm usw.), bleibt es immer ein Lesevergnügen und die Evokation der Begeisterung für das Zeremoniell, die Tradition und Unterhaltung. Eine Mögliche Erklärung für diesenBetrug sind Angst und Anziehungskraft, die man mit dem Maskieren und dem Wechsel im Aussehen verbindet. Die Veränderung an den Körpereigenschaften, die Vergänglichkeit des Körpers, beinhaltet den Wunsch nach dem Aufhalten des Alterungprozesses und Bewahren des jungen Körpers und der körperlichen Kraft, manchmal geschieht es auch drastisch, impliziert aber auch die Angst vor den Veränderungen. Bei einer Maskerade werden die Schönen hässlich, die Hässlichen schön, die Männer werden Frauen, die Frauen werden Männer, die Alten werden jung, die Jungen alt und Ähnliches. D ž ivo hat den alten Stanac mit den üblichen Ritualen und Zeremonien betrogen, in diesem Fall bediente er sich des Enthüllens und Maskierens, was Stanac, mit seinen eigenen Wünschen und Frustrationen geblendet, nicht erkannt hat. Im Mittelalter verlangte man von der Hofelite bei Zeremonien und Ritualen wie zum Beispiel beim Ritterturnier oder Maskenball ihre Identität durch die Bewegung, Sprache oder das Kostüm klar zum Ausdruck zu bringen. Solche Ereignisse gingen davon aus, dass die Performance identitätsstifend ist, was im Gegensatz zu dem modernen Glauben steht, dass die Identität vor den sozialen Perfomancen steht und dass die Performance die Wahrheit, das innere Selbst, verfälscht. 18 Am Beispiel der kroatischen Novela od Stanca ist hervorzuheben, dass die vom Betrüger verwendete Robe und Sprache zur Zeit des Karnevals seiner wahren Identität eines jungen, intelligenten, gebildeten Mannes entsprechen, der zu allem bereit ist, um den Hirten zu betrügen. Der Hirte hat sich seinerseits mit seinem natürlichen weißen Bart als ein weiser Alter maskiert, so dass das Rasieren seines Barthaares ihn demaskiert, ihn auf den entsprechenden Platz in der Gesellschaft stellt. Hinzu erscheint noch in der Novela die Voraussetzung, dass die reale, eigentliche Identität eine der Masken ist und die wirkliche Wahrheit über die Person entdeckt. Das entspricht der variabilen und widersprüchlichen Natur der Mentalität der Renaissance, die die Kunst und das Leben als abstoßend und als anziehend beobachtet, alternativ aber zur gleichen Zeit als wohlwollend und leistungsstark. Des Weiteren setzt Gesichtsbehaarung in der Renaissance Maskulinität voraus: der Bart macht den Mann. Die Bedeutung des Bartes lässt sich im Theater und an den Portraits erkennen. Die porträtierten Männer in der Zeitspanne von der Mitte des 16. Jhs bis zur Mitte des 17. Jhs stellt man mit 17 Dr ž i ć URL: http: / / klub.posluh.hr/ lektira/ stanac.htm 18 Crane (2011). 186 Zaneta Sambunjak Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [192] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur x-beliebiger Form des Bartes dar. Der Bart also ist in der Renaissance üblich und dient nicht nur als ein Mittel der Unterscheidung der Männer von den Frauen sondern auch der Männer von den Jungen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Voraussetzung, dass die Jungen von den Männern als ein anderes Geschlecht zu unterscheiden sind. Dabei ist zu betonen, dass der Bart als ein wichtiges Mittel der Materialisation der Maskulinität gedient hat, was auch dazu führt, dass der Bart und die Maskulinität ständig bewiesen werden mussten, weil sie auch falsch sein könnten. 19 Genau das passiert in der kroatischen Novela od Stanca: einerseits diejenigen ohne Bart, und vorausgesetzt ohne Männlichkeit, zerstören die männliche Identität derjenigen mit Bart und beweisen gewaltsam, dass sie den Bart und damit auch die männliche Identität verdienen. Andererseits ist dies die Art und Weise, mit der die Reputation und die Unabhängigkeit von dem vorherrschenden Autoritätsverständnis zu gewinnen ist. Die Ehre wird zu einer Frage der Moral und die Maskerade lässt sich als Gelegenheit nutzen, das Individuum und die Gesellschaft über die Autorität zu belehren. Die vorherrschende Autorität wird in Frage gestellt. Es geschieht durch das Kritisieren eines übermäßigen Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten, eines übermäßigen Verlangens nach der körperlichen Lust, des Vermeidens der geistigen Arbeit, der Leichtgläubigkeit, Eitelkeit, Sehnsucht nach dem Status, nach Fähigkeiten, Position und Charaktereigenschaften der anderen Menschen, Wahl der Wut statt Liebe. Nachdem ihm der Betrug an dem alten Stanac gelungen ist, nimmt D ž ivo die Ziege, gibt aber dem Alten das Geld. Bei dieser Gelegenheit ist auch Petar Hektorovi ć s Brief an einen Arzt namens Vincenzo Vanetti zu bearbeiten. 20 Petar Hektorovi ć (1487 - 1572) ist der kroatische Dichter und Gelehrte der Renaissance, der im Jahre 1561 an einen italienischen Arzt Vincenzo Vanetti einen umfangreichen Brief schreibt, in dem ein poetischer Weg zum Parnass beschrieben wird. Der Brief wurde in der ersten Ausgabe des Werkes von Hektorovi ć Ribanje i ribarsko prigovaranje aus dem Jahr 1568 veröffentlicht. Der Autor hat den Brief nicht datiert, aber die Chronologie dieses Briefes lässt sich rekonstruieren und es lässt sich schließen, dass der Brief in den ersten Tagen des Monats Februar im Jahre 1561 geschrieben wurde. 21 Der venezianische Arzt Vanetti war ein literarischer Dilettant und verlangte von Hektorovi ć , die Meinung über die im Brief vorgelegten Sonette zu äußern. Aus den bisherigen Untersuchungen zum Thema ging hervor, dass die Epistel an Vanetti weniger mit dieser Person und ihrem dichterischen Schaffen zu tun hat, und mehr mit Hektorovi ć und seinem Dichten. Der Brief an Vanetti lässt sich als die Meinung über das eigene dichterische Schaffen erläutern. 22 Es geht eigentlich um die Debatte 19 Fisher (2001). 20 Hektorovi ć (1976). 21 Frani ć Tomi ć (2012: 117). 22 Sambunjak/ Sambunjak (2009: 48). Dekonstruktion der Identität durch verletzte Ehre 187 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [193] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur zwischen Stift und Schere und ihre relative Übermacht und Superiorität als Schreibinstrumente. 23 Die literarische Struktur des Briefes über ein Sonett und der Inhalt des gesamten Briefes suggerieren eine Interpretation, die mit den strukturellen Motiven zu verbinden ist, wie dem Fehlen der Sprechmöglichkeit, angeblich feindlich gesinnter Umgebung der Feen, angeblicher Kontradiktion, die darin besteht, dass ein Dichter erst nach dem Rasieren seines Schnurrbartes zum Mann wird. Der Dichter befindet sich, nach dem Inhalt des Briefes, im Schlaf, im Moment des Übergangs von Schlafen zu Wachen und ist dessen unbewusst, ob er sein Werk gut schreibt oder nicht. Die Frage nach dem ständigen Überprüfen, ob er ein Sklave oder der Herr seiner Arbeit ist, rückt in den Vordergrund. Die Schere verbessert seinen Charakter, indem sie den Dichter symbolisch zurück in die Zeit der Unschuld und Ehrlichkeit schickt, wo die Instinkte herrschen und nicht die Vernunft und er genug Zeit zum Nachdenken hatte und nicht von der Erfahrung verdorben wurde. Es ist die Zeit, in der er seine dichterische Identität formte. Diese Erkenntnis lässt ihn sprachlos, was ihm später ermöglicht noch besser zu dichten und einen Preis in Form eines Lorbeerkranzes zu erringen. Mit dem Kranz gelang er in die Tradition derjenigen, die am Helicon gepriesen wurden. Die Feen mit der Schere erfüllen die Rolle von Mentorinnen in der dualen Welt der Poesie und Instinke. Dem Dichter bietet sich die Gelegenheit an, selbst aktiv zu werden und durch das Adaptieren seiner Vorgänger eine neue Position unter den Dichtern einzunehmen. Seine Identität wird nur scheinbar mit der Schere zerstört. Das aber lässt erkennen, dass sich die dichterische Identität ändern und ausleihen kann je nach den Umständen oder Anregungen. Eine solche Identität kann auch multipliziert werden, wobei die Überarbeitung und Traditionen der Vorgänger eine wichtige Rolle spielen. Und noch dazu besteht bei jedem Definieren der eigenen Identität die Gefahr der Verfälschung oder des Verfehlens. Das Rasieren wird zu einer rhetorischen Strategie. Die scheinbare Empörung und Gewalt in der Geste des Schnurrbartrasierens zeugen von den Möglichkeiten, die dem Dichter beim Theoretisieren der Probleme der Wahrheit, Ehre, Reputation, Suche nach den Lösungen und des damit verbundenen Zweifels zur Verfügung stehen. Es geht auch um den Kodex des poetischen Gewissens, das sich mit der Zeit und Umgebung verändert, wovon der Dichter im Schlaf träumt. Das, was die Feen kritisieren, ist das Verhalten des Dichters, der sich in den Schnurrbart verkleidet und seine Rhetorik den sozialen Bedingungen angepasst hat, um seine Stellung zu stärken, seine eigenen Interessen zu schützen. Mit dem Oberlippenbart wollte er seine Ehre und Glaubwürdigkeit demonstrieren, seine Fehler verstecken, aber es waren die Feen mit der Schere, und dem symbolischen Entblössen, die den Dichter in die Situation versetzen, wo er an einem Wettbewerb teilnehmen muss. Die Lorbeerkränze werden nur 23 Einbinder (1994). 188 Zaneta Sambunjak Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [194] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur den Besten vergeben und damit zwangen die Feen den Dichter seinen poetischen Rang unter anderen Dichtern zu artikulieren und zu verteidigen. Die Feen haben im Schlaf des Dichters mit der transaktionellen (manipulativen) Natur der Beleidigung die Moralwerte in der Gesellschaft, in der der Dichter wirkte, verkündet. Der Moment, in dem der Dichter die Gabe der Sprache verloren hat, war der Moment, in dem er seine Anpassung an die Lage in der Gesellschaft und seine Feigheit das zu zeigen, was er wirklich ist und was er wirklich denkt, erkannt hat. Deswegen schämte er sich vor Feen und fühlte eine gewisse Demütigung. Die Feen haben die Rolle der übernatürlichen Wesen erfüllt. Hektorovi ć evoziert ihre wundertätige Beteiligung an den für ihn unverständlichen Ereignissen und erinnert an die Manifestation der Magie. Er bedient sich dabei des Mythos von dem zyklischen Tod und der Erneuerung des Lebens, der Natur und der Herrschaft, wobei er an die Wiederbelebung von Gedanken und Ideen aus einem poetischen Werk in das andere denkt. Die Feen/ Musen / Göttinnen am Helicon verdeutlichen die ewige Wiederkehr der fruchtbaren poetischen Ideen. 4 Fazit Zusammenfassend zeigen die oben besprochenen Beispiele des Haar-und Bartschneides und Rasierens in den Werken der mittelalterlichen und Renaissance-Literatur, dass es erstens: verschiedene Stufen in der Entwicklung dieses variablen Systems der Ehre gibt. Zweitens: Der mittelalterliche Ehrenkodex der Ritter mit der Betonung der Hierarchie und Gewalt hat sich in der Renaissance in den Ehren- und Gewissenskodex entwickelt. Drittens: Haar- und Bartschneiden und Rasieren ist eine Frage der Moral und Ehre und betont das individuelle Gewissen und Engagement in der Gesellschaft. Das Haar-und Bartschneiden und Rasieren werden zu den sprachlich-stilistischen Mitteln, die darauf hinweisen, dass es eines Gefühls für Ehre bedarf, wobei die verletzte Ehre (die Scham) eine soziale Funktion spielt, durch die auch die derzeitige Identität der Hauptakteure in den Werken dekonstruiert werden kann. Es ist eine Chance, die Identität weiterzuentwickeln, eine Chance für das Konstruieren einer neuen Identität. Die Identität wird dann durch die Emotionen besonders herausgefordert. Bibliographie Primärliteratur Marin Dr ž i ć , Novela od Stanca, Online-Version 2015 abrufbar unter URL: http: / / klub. posluh.hr/ lektira/ stanac.htm (Zugriff am 15. April 2014) Wolfram von Eschenbach, Parzival, Berlin, New York 1998. Petar Hektorovi ć , Izvrsnomu umjetnosti i medicine doktoru g. Vincencu Vanettiju moje najdublje po š tovanje, in: Mladen Nikolanci, Petra Hektorovi ć a ‚ Inojezi č ne sitnice ‘ , in: Hvarski zbornik, IV/ 1976, S. 345 - 355. Dekonstruktion der Identität durch verletzte Ehre 189 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [195] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, Dublin, Zürich 1968. Konrad von Würzburg, Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmaere, Stuttgart 2004. Sekundärliteratur Christian Bromberger, Hair. From the West to the Middle East through the Mediterranean, in: The Journal of American Folklore, 121(482)/ 2008, S. 379 - 399. Andrew Cowell, The Medieval Warrior Aristocracy. Gifts, Violence, Performance and the Sacred, Cambridge 2007. Susan Crane, The Performance of Self. Ritual, Clothing, and Identity During the Hundred Years War, Philadelphia 2011. Stephen B. Dobranski, Clustering and Curling Locks. The Matter of Hair in Paradise Lost, 125(2)/ 2010, S. 337 - 353. Susan L. Einbinder, Pen and Scissors. A Medieval Debate, in: Hebrew Union College Annual, 65/ 1994, S. 261 - 276. 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Vor allem um zu sehen, wie Emotion, Sprache und Identität miteinander verbunden sind, muss man zuerst eine möglichst klare philosophische Interpretation des Subjekts darlegen, d. h. einen anthropologischen Entwurf vorstellen. Cassirers anthropologisches Programm animal symbolicum öffnet den Zugang zu der Erkenntnis, dass die Begriffe Symbol und symbolische Form sowie Basisphänomene für die Entstehung des Bewusstseins (insbesondere des religiösen Bewusstseins) und für die Erläuterung der Rolle der Emotionen und Sprache in diesem Prozess entscheidend sind. Die Fruchtbarkeit dieser Grundbegriffe soll sich in zwei letzten Kapiteln „ Entstehung und Entwicklung des Religionsbewusstseins und der Identität durch Emotion und Sprache “ und „ Der Einfluss der Kultur auf die Entwicklung des religiösen Bewusstseins und der religiösen Identität “ zeigen. 2 Cassirers 1 philosophische Anthropologie: animal symbolicum Was ist der Mensch? Das ist die Frage, deren Beantwortung nach Cassirer der höchste Zweck der philosophischen Untersuchung 2 sei. Das Problem der philosophischen Anthropologie im 19. und 20. Jahrhundert war mit dem Verlust eines intellektuellen und organisatorischen Zentrums verknüpft. Ohne dieses Zentrum bleiben die Bemühungen darum, die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu vereinen, erfolglos. Um ein solches Zentrum zu 1 Ernst Cassirer (*28. 7. 1874 in Breslau - † 13. 4. 1945 in Columbia/ USA). 2 Vgl. Cassirer (1967: 1). Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [197] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur finden, setzte Cassirer die Analyse der erfahrungsgemäßen Modi durch und verbindet die eigene Art und Weise des Philosophierens mit den Wissenschaften und ihren Methoden, aber ohne die Annahmen des naturalistischen und sozio-teleologischen Determinismus. 3 Diesem Weg folgend, widmet Cassirer dem Darwinismus besondere Aufmerksamkeit, weil sich das organische Leben in diesem Zusammenhang als ein Produkt des Zufalls herausstellt, so dass sich der Mensch (vom organischen Gesichtspunkt aus betrachtet) nicht mehr im Zentrum des Universums befindet. Daraus folgt, dass man den Menschen nur dann begreifen kann, wenn man ihm von Angesicht zu Angesicht 4 gegenübertritt. Das bedeutet, man soll den Menschen nur unter dem Aspekt seiner Arbeit oder seines kulturellen Bereichs betrachten. Der Mensch steht nicht mehr reiner Realität von Angesicht zu Angesicht gegenüber, da ihm die ganze Wirklichkeit durch Symbole gegeben ist. Er hat keine direkte Erkenntnis von den Sachen selbst, sondern er begreift durch diese künstliche Vermittlung. Die klassische Definition des Menschen als animal rationale erweist sich in diesem Rahmen als zu eng, um das menschliche Individuum und sein Spezifikum zu erfassen, weil die Rationalität nur eine der verschiedenen menschlichen Mächte und nicht sein ganzes Wesen ist. 5 Deshalb bietet Cassirer als Antwort auf die Frage „ Was ist der Mensch? “ , das Syntagma animal symbolicum an (der Mensch ist animal symbolicum), das eine Zusammenfassung von Cassirers Anthropologie darstellt. Cassirer betont, dass man den Menschen weder biologisch noch ontologisch bestimmen kann, stattdessen soll er vom kulturellen Gesichtspunkt aus verstanden werden. 6 Nach dem Wesen des Menschen kulturphilosophisch zu fragen, bedeutet in erster Linie eine Reflexion über jene humanspezifischen Konstanten anzustrengen, die in Bezug auf die Gesamtheit der kulturellen Formen und symbolischen Welten invariant sind und ebenso zu allen Zeiten und Epochen der pluralen Weltbilder ihre Gültigkeit unter Beweis stellen. 7 Die Definition animal symbolicum könnte man dann nicht als Definition im eigentlichen Sinne des Wortes betrachten, sondern sie sei eher ein vorläufiger Weg, auf dem man in einer angemessenen Weise an das Problem des Menschen heran treten sollte. In diesem Rahmen von Cassirers Anthropologie fällt es leichter seine Schlussfolgerung zu verstehen: Der Mensch hat keine Natur; das, was er hat, ist eine Geschichte. 8 Das menschliche Leben ist kein Ding und deshalb ist der Mensch „ nicht als feste Größe zu verstehen “ . 9 Natürlich ergibt sich aus 3 Vgl. Scherer (1996: 143). 4 Vgl. Cassirer (1967: 5). 5 Vgl. Scherer (1996: 151). 6 Vgl. Cassirer (1967: 171). 7 Vgl. Scherer (1996: 139). 8 Vgl. Cassirer (1967: 172). 9 Orth (2004: 213). 192 Dra ž en Volk Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [198] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur diesem Zusammenhang die Konsequenz, dass Cassirer nicht mehr von einer ontologischen oder transzendentalen Subjektivität reden kann. 10 Diesem Gedanken nachgehend kann man sagen, dass das allgemeine Problem des Subjekts auf das Problem des Bewusstseins reduziert wird. Um den Begriff des Bewusstseins im Rahmen von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen zu verstehen, ist es vorrangig nötig die Begriffe Symbol und symbolische Form kurz zu erläutern. 3 Symbol und Symbolische Form Eine der einfachsten Definitionen des Symbols in Cassirers System ist folgende: Ein Symbol ist eine Struktur bestehend aus zwei Elementen: aus einem materiellen Zeichen und einem geistigen Inhalt. 11 Die Vertiefung dieser Definition ist nicht von der Analyse der beiden Elemente zu erwarten, weil nach Cassirer dieser Unterschied zwischen Form und Materie nur eine distinctio rationis ist, die nicht die absolute Existenz beider Elemente impliziert. 12 Ein vollständiges Verständnis des Symbols kann man nur gewinnen, wenn man die verschiedenen Funktionen klärt, die das Symbol 10 Cassirer lehnt Kants Tendenz ab, die Erfahrung als Produkt der psychischen Realität oder der seelischen Grundkräfte (d. h. als Produkt der Rezeptivität, Spontaneität, Sinnlichkeit und des Verstands) zu betrachten, weil damit der Sinn des Transzendentalen und auch der Sinn des von Kant genannten synthesis a priori (vgl. Cassirer 1996: 194) aufgehoben wäre. Deswegen stellt er die Frage: „ [. . .] denn hatte nicht Kant selbst diesen Sinn derart bestimmt, daß die transzendentale Frage sich ‚ nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnis von Gegenständen überhaupt ‘ beschäftigen sollte, sofern diese a priori möglich sein soll? Und hatte er nicht fort und fort betont, daß es sich für ihn nicht um eine Erklärung der Entstehung der Erfahrung, sondern um die Zergliederung ihres reinen Bestandes handle? “ (Cassirer 1982: 226). Wenn man in dieser Richtung weiterzugehen versuchte, das konnte zur solchen Rechfertigung der objektiven Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe bringen, „ daß man sie aus einem an sich bestehenden ‚ transzendentalen Subjekt ‘ , als dem ‚ Urheber ‘ dieser Gültigkeit, hervorgehen ließe. Aber damit wäre freilich dem kritischphänomenologischen Problem ein ontisches - der rein funktionalen Betrachtung eine substantiale untergeschoben. Der ‚ Verstand ‘ erschiene gleich einem Zauberer oder Nekromanten, der die ‚ tote ‘ Empfindung beseelt, der sie zum Leben des Bewusstseins erweckt “ (ebd. 227). Auch wenn solche Behauptungen die Existenz des transzendentalen Subjekts nicht explizit verleugnen, erlauben sie keine Rede darüber im Rahmen der transzendentalen Methode (vgl. Rudolph 1995: 92 f.). Daraus kann man die Folgerung ziehen, dass innerhalb Cassirers Denkart das allgemeine Problem des Subjekts auf die Ebene des Bewusstseins verschoben wird. „ Nun darf man dieses Bewußtsein, dessen funktionale Strukturen zwar herauszuarbeiten sind, nicht abstrakt - als Bewußtsein überhaupt - hypostasieren. Dieses Bewußtsein ist [. . .] das animal symbolicum [. . .] Und dieser Mensch ist mit Leib und Seele ein lebendiges Bedeutungs-Tier “ (Orth 2004: 160). 11 Vgl. van Heusden (2003: 120). 12 Vgl. Cassirer (1956: 217). Identitätsentfaltung in der Philosophie Ernst Cassirers 193 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [199] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur im Cassirers System ausübt. Zunächst soll man drei Bereiche angeben, in denen diese Funktionen des Symbols identifizierbar sind: Erkenntnis, Bewusstsein und Anthropologie. Für unser Thema der Identitätsentfaltung ist der Bereich des Bewusstseins von besonderer Bedeutung. Was diese Gebiete der Philosophie mit dem Symbol verbindet, ist auch eine symbolische Funktion, die Symbol und symbolische Form in Beziehung setzt. Cassirer nennt diese Funktion Repräsentationsfunktion, 13 wobei hier die Repräsentation die Darstellung eines Inhalts in einem Anderen und durch einen Anderen besagt. 14 In jeder symbolischen Form kann nach Cassirer trotz aller Unterschiede eine bestimmte Richtung der Gestaltung befolgt werden, also ein Modus des Fortschritts von den Grundzuständen zu komplexeren Zuständen. 15 Hier geht es um die Analyse der Art und Weise, wie sich eine Form auf die Welt bezieht, nämlich um die Qualität des Bedeutungzuteilens. In diesem Sinne führt Cassirer eine Diversifizierung in der symbolischen Formung ein, wobei er drei Dimensionen derselben Symbolfunktion unterscheidet. 16 Ausdruck, Darstellung und Bedeutung. Diese Aufteilung wird auf alle symbolischen Formen angewendet, damit sich in ihnen die dialektische Entwicklung derselben symbolischen Funktion zeigt. 17 In dieser geistigen Trias ist der Terminus Ausdruck nur für die elementarste, ursprünglichste Funktion reserviert, durch die sich das menschliche vom tierischen Leben zu scheiden beginnt, und die Cassirer Ausdruckswahrnehmung nennt. In dem scheinbar ideenlosen, bloßen sinnlich-emotionalen Leben blitzt bereits eine ideelle Formung auf, die den Begriff des Ausdrucks allererst legitimiert. Wir haben es nicht mit scheinbar rein sinnlichem Erleben also nicht mit einem „ gestaltlosen Chaos “ zu tun, sondern bereits mit einer eigenen Weise der geistigen Formung. 18 „ Die Form des Ausdrucks ist in eigentümlicher Weise unbestimmt: der Ausdruck liegt jenseits der Stabilisierung durch die Unterscheidung in Subjekt-Objekt, Innen-Außen, Ich-Du, und diesseits der Sprache “ . 19 Der „ Ausdruckssinn “ eines Ausdrucksphänomens wird grundsätzlich unmittelbar erfahren, muss also nicht nachträglich gedeutet oder erklärt werden. Deshalb ist für Cassirer die Ausdruckswahrnehmung „ in ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit “ zugleich „ ein Leben im Sinn “ . 20 Da der Ausdruck als 13 Vgl. Ihmig (1993: 194). 14 Vgl. Cassirer (1988: 41). 15 Vgl. Cassirer (1985: 8). 16 Vgl. ebd.: 9. 17 Vgl. Richter (2000: 8). Dennoch ist die Feststellung die drei Dimensionen der symbolischen Funktion in allen Formen nur als gewünschtes Ziel geblieben, weil es Cassirer nicht gelang, für jede Form es zu zeigen (vgl. ebd.: 13 f.). 18 Möckel (2005: 192 f.). 19 Stoellger (2000: 110). 20 Möckel (2005: 193). 194 Dra ž en Volk Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [200] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Anfangsdimension einer symbolischen Funktion gedeutet wird, stellt er gleichfalls einen rudimentären Bewusstseinszustand dar. Mit dem Gebrauch und der Entwicklung der Sprache wird die symbolische Funktion des Ausdrucks in die Funktion der sprachlichen Repräsentation oder Darstellung transformiert, und zugleich wird das Selbstbewusstsein in das Bewusstsein eingebaut. Im Denken, das sich durch die Funktion der Darstellung entwickelt, die in der symbolischen Form der Sprache überlegen ist, wird die Welt durch die Kategorien der Zahl, des Raumes und der Zeit erkannt. Die Sprache neigt dazu, die Zusammenhänge und logischen Bestimmungen von den Bildern zu erfassen, die sie aus der unmittelbar-anschaulichen Sphäre zieht. 21 Obwohl die Sprache sich anstrengt, sich in den Bereich der reinen Bedeutung zu versetzen, bleibt die Form der sprachlichen Darstellung in die Sphäre des Sinnlichen eingetaucht. 22 Die symbolische Funktion der Bedeutung, die zu der reinen Erkenntnis gehört, bedient sich der Darstellungsfunktion und sie verwandelt sich in dieser Anwendung, so dass eine lingua universalis entsteht, die in der Mathematik und in der symbolischen Logik vorhanden ist. 23 Oben haben wir erwähnt, dass Cassirer die drei Dimensionen von derselben Symbolfunktion auf alle symbolischen Formen anzuwenden versucht. Aber was ist eine symbolische Form? Die Tatsache, dass Wahrnehmungen kategorial gebildet werden, zeigt die Vielgestaltigkeit der Erfahrung, und Cassirer versucht diesen Moment mit Hilfe des Begriff von der symbolischen Form zu erfassen. Die Formen gehören zur inneren Struktur des Geistes und durch sie baut er die objektive Wirklichkeit auf, nämlich die menschliche kulturelle Welt. Zusammenfassend können die symbolischen Formen als die Bedingung der Möglichkeit von jeder Aussage über irgendein Objekt definiert werden. Sie sind Mittel und Wege, durch welche wir diese Objekte begreifen. Jede Aussage über ein Objekt muss daher Teil einer symbolischen Form sein. Cassirer bezieht Mythos, Religion, Sprache, Geschichte, Kunst und Wissenschaft in die Reihe der symbolischen Formen ein. Diese symbolische Formen ahmen die Wirklichkeit nicht nach, sondern sie sind die „ Organe “ des Geistes und nur durch sie können wir die Wirklichkeit wahrnehmen und diese Wahrnehmung als Erfahrung verstehen. 24 Nur durch die Formen kann unserem Verstand etwas als Objekt gegeben sein und deshalb ist die Frage irrelevant, was die Wirklichkeit abgesehen von den Formen sei. 25 21 Vgl. Cassirer (1985: 13). 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. ebd.: 14. 24 Vgl. Cassirer (1953: 8). 25 „ Instead of taking them as mere copies of something else, we must see in each of these spiritual forms a spontaneous law of generation; an original way and tendency of expression which is more than a mere record of something initially given in fixed categories of real existence. “ (ebd.). Identitätsentfaltung in der Philosophie Ernst Cassirers 195 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [201] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur 4 Entstehung des Bewusstseins durch die Symbolisierungsprozesse Das Problem der Identität im Rahmen Cassirers Philosophie kann man nicht auf dem Ebene der Untersuchung über das Wesen des Ichs erörtern, weil das Ich, oder in anderen Worten, das Subjekt des Tuns „ nicht mehr als bloßes Ding unter Dingen, oder Inhalt unter Inhalten, erscheinen “ 26 kann. Die Vorstellung des Ichs ist die ärmste unter allen Vorstellungen. Es ist der lebendige Kraftmittelpunkt „ von dem die Handlung beginnt und von dem sie ihre Richtung empfängt “ . 27 Im zweiten Kapitel hat man hervorgehobt, dass man, nach Cassirer, den Menschen vom kulturellen Gesichtspunkt aus verstanden werden soll, oder vom Gesichtspunkt seiner kulturellen Handlung. Das bedeutet, dass die Frage der Identität mit der Entstehung des Bewusstseins verbunden ist, weil im Bewusstsein jede kulturelle Handlung eigene Form bekommt. Das Bewusstsein entsteht im Moment, in dem der Mensch sich von seinem Zustand erhebt, in dem er nur ein Teil der Welt ist. Er beginnt dann diese Welt zum Ausdruck zu bringen und darzustellen. Demnach entwickelt sich das Selbstbewusstsein parallel mit dem Bewusstsein des Objekts, 28 und dieser symbolisch-formative Prozess ist eng mit der Sprache und mit der symbolischen Funktion von Darstellung verknüpft. Hier stellt sich die Frage: Wie kommt diese Gestaltung im Bewusstsein zustande? Cassirer stellt fest, dass jeder geistige Inhalt unbedingt mit der Form des Bewusstseins, die von Zeitlichkeit charakterisiert ist, verknüpft ist. 29 Aber wie kann eine geistige und allgemeine Bedeutung durch einen individuellen Inhalt des Bewusstseins erscheinen? Diese Lücke zwischen dem Individuellen und dem Universellen wird überschritten, wenn das Bewusstsein, anstatt sich mit dem Besitz eines sensorischen Inhaltes zufrieden zu geben, universelle Bedeutung durch sich selbst erzeugt in dem Sinne, dass der reine Wahrnehmungsinhalt in einen symbolischen Gehalt umgewandelt wird. Dieser Prozess der Symbolisierung ereignet sich in den symbolischen Formen, welche die verschiedenen generativen Modi des Bewusstseins sind. 30 Diese Theorie umfasst aber nicht die Erfahrung des Ichs und des Du, oder sie erklärt nicht, wie wir die Erfahrung von uns selbst und von einer anderen Person zuwege bringen können, da Ich und Du keine Objekte sind. Auch lässt sich aus dieser Theorie die Entstehung des Selbstbewusstseins in der Religion nicht erklären, weil hier das Ich sich selbst nicht mit Hilfe der Objekte bewusst 26 Cassirer (1988: 232). 27 Ebd. Später hat Cassirer das Ich als erstes Basisphänomen und die Erfahrungsquelle bezeichnet, aber darüber wird mehr im nächsten Kapitell gesprochen werden. 28 Vgl. Cassirer (1996: 66). 29 Vgl. Cassirer (1956: 176 f.). 30 Vgl. Cassirer (1982: 235 f.); auch Vogl (1999: 42). 196 Dra ž en Volk Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [202] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur wird, sondern dies geschieht durch die Bezugnahme auf das Göttliche in der Innerlichkeit des Ichs. Deshalb hat Cassirer in seinen späteren Werken besonders im vierten Teil der Philosophie der symbolischen Formen die Theorie der Basisphänomene entwickelt, die jedoch nur ein Entwurf geblieben ist. 5 Basisphänomene Mit der Theorie der Basisphänomene beschreibt Cassirer die Erfahrungsquellen, besonders die der Kultur- oder Geisteswissenschaften, die man nicht mehr weiter begründen kann, weil der Prozess der Begründung nicht ins Unendliche fortfahren darf. Die symbolischen Formen sind diejenigen, die dem Strom der Eindrücke eine geordnete Form und demzufolge eine bestimmte Bedeutung geben. Die Basisphänomene sind die Erfahrungsquellen dieses Prozesses. 31 Cassirer führt vier symbolische Formen auf, wo alle Basisphänomene erkennbar sind - Mythos (und damit Religion), Kunst und Sprache. Die Basisphänomene bedeuten das Fundament und die notwendige Voraussetzung für diese Formen. 32 Welche Basisphänomene zählt also Cassirer auf? Es sind: Ich, Du (oder Andere, oder Aktion) und das Werk. Für unser Thema sind das erste und das zweite Basisphänomen, also Ich und Du, wichtig. Das erste Merkmal des Ich-Basisphänomens ist die Bewegung, 33 d. h. es ist wie ein stream of consciousness (Bewusstseinsstrom) zu verstehen. Das erste Basisphänomen als die Quelle der Erfahrung stellt die Basis für experience of self (Selbsterfahrung) 34 dar. Was hier erfahren wird, ist kein Ich im Sinne einer festen und dauerhaften Substanz. Die erste Manifestation des Basisphänomens ist mit dem Gefühl (oder Emotion) verbunden. Man gewinnt die Erfahrung von sich selbst durch ein Gefühl von sich selbst. Die Gefühle begründen das Ich. 35 Um das zweite Basisphänomen zu beschreiben, benutzt Cassirer eine Maxime von Goethe, wo er es als lebenden und bewegenden Eingriff der Monade in dessen Umwelt bezeichnet. 36 Zu dieser Beschreibung fügt Cassirer weitere 31 „ Cassirer says, there emerges, as the fundamental feature of all human existence, the fact that man is not lost within the welter of his external impressions, that he learns to control this sea [diese Fülle] of impressions by giving it ordered form, which, as such, stems in the final analysis from himself, from his own thinking, feeling, and willing. ‘ Ordered form corresponds to symbolic form, and thinking, feeling, and willing correspond to the three basis phenomena» (Bayer 2001: 148). 32 Vgl. ebd. 33 Vgl.ebd.: 130. 34 Vgl. ebd.: 131. 35 Vgl. ebd.: 149. 36 Vgl. Bayer (2001: 131). Identitätsentfaltung in der Philosophie Ernst Cassirers 197 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [203] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Begriffe hinzu wie Handlung (oder Wirken), Moral (oder Ethik), Wille, Du, Anderer. Aus Goethes Maxime folgt, dass das Phänomen des Wirkens für das zweite Basisphänomen zentral ist, weil unser Handlungbewusstsein in ihm einbegriffen ist. Der Mensch befindet sich immer in der Situation, in der er agieren und reagieren muss, im Sinne, dass er mit den Anderen durch Aktion und Reaktion verbunden ist. 37 Während dieser Aktion erleben wir nicht uns selbst, sondern wir sind mit jemandem Anderen konfrontiert, der uns gegenübersteht. 38 Da sich unsere Handlung an den Anderen richtet, wird das zweite Basisphänomen auch als Du oder als das Phänomen des Anderen, des sogenannten „ Fremdpsychischen “ , bestimmt. 39 Infolgedessen ist das zweite Basisphänomen zwangsläufig auch mit der Ethik verbunden. Die Normativität für die ethische Handlung gehört jedoch zu der Sphäre des dritten Basisphänomens. 40 Aus der Theorie der Basisphänomene (die sich auf die beiden ersten Phänomene bezieht) ergibt sich, dass man von zwei Typen des Bewusstseins reden kann, Selbst- und Handlungsbewusstsein, die dann gemeinsam Identität formen. 41 6 Die Emotionen als Ausgangspunkte in der Entwicklung von Mythos und Religion Die Philosophie der symbolischen Formen erörtert den Mythos vom Standpunkt der transzendentalen Kritik aus und versucht die Bedingungen der Möglichkeit des Mythos als symbolische Form aufzuklären. Die Anwendung der transzendentalen Kritik bedeutet, dass man die Einheit des geistigen Prinzips, das in jeder Form des mythischen Bewusstseins (wo es sich als spezifische Art und Weise der menschlichen Erfahrung erweist) vorherrschend ist, untersuchen soll. Der Ausgangspunkt der kritischen Analyse des Mythos befindet sich dann in der Klärung der Verknüpfung, die den Ausdruck und den Mythos miteinander verbindet. Cassirers Untersuchung zeigt auf, dass der Mythos als die Vorstufe der Ausdrucksentwicklung und als der erstmals in die Praxis umgesetzte Ausdrucksraum zu betrachten ist. 42 37 Vgl. Cassirer (1996: 140). 38 „ . . . something with a stubborness of its own and a will of its own, something that limits and disputes the space of our action “ (ebd.). Der Begriff space „ here is not that of physical or outside space but that of communal and volitional space “ (Bayer 2001: 132). 39 Vgl. Cassirer (1996: 142). 40 Vgl. ebd: 189; Bayer (2001: 189). 41 Natürlich, das dritte Basisphänomen hat in dieser Identitätsformung eigene Rolle, aber um dies zu erörtern, wären mehrere Seiten erforderlich als dieser Aufsatz darbieten kann. 42 Vgl. Möckel (2005: 196); Schwemmer (2002: 98). 198 Dra ž en Volk Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [204] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Auf der anderen Seite ist der Mythos in der Schicht des ursprünglichen Lebensgefühls verwurzelt, d. h., er stammt aus der Schicht der Ausdrucksphänomene, die als urgeistige Schicht bezeichnet werden können. 43 Aus der Verbindung zwischen dem Leben und dem Ausdruck ergibt sich auch die Zusammenfügung zwischen dem Leben und dem Mythos, so dass der Mythos als eine Lebensform definiert werden kann. 44 Das gesamte mythische Denken wie alle seine Wahrnehmungen und Erscheinungen sind in einem ursprünglichen Grundgefühl verwurzelt, so dass Cassirer den Mythos als eine Grundform unserer stärksten Gefühle schildert. 45 Das ursprüngliche Grundgefühl kann man auch als das Gefühl der Lebensganzheit definieren, und es ist mit der magischen und natürlichen Kontinuität des Lebens verbunden. Hier kreuzen sich die Bereiche der Träume und der Wirklichkeit. Folglich misst das Ich dem Du im Mythos sein Gefühl bei, aber das Ich ist noch nicht fähig die Unterscheidung zwischen sich selbst und den Anderen zu treffen, im Sinne dass das Ich nicht im Stande ist, sich selbst und das Du als verschiedene Elemente in einem Ganzen zu verstehen. 46 „ Wie die Grenze zwischen den Naturformen, so ist die Grenze zwischen ‚ Ich ‘ und ‚ Du ‘ eine durchaus fließende. “ 47 Die Gefühle des Ichs sind durch das Tabusystem und die damit verbundene Angst charakterisiert, und „ fear knows only how to forbid, not how to direct “ . 48 Trotzdem ist der Mythos ein Mutterboden, auf dem alle anderen Formen sich entwickeln. 49 Im Grunde bleibt er ein dialektisches und transitorisches Phänomen, das nicht ganz getilgt wird. 50 Seine Dialektik bringt ihn zur Metamorphose, so dass er sich auf eine neue Form richtet, d. h. auf die Religion. In den monotheistischen Religionen wandelt sich das Gefühl der Lebensganzheit in eine universale ethische Sympathie um. 51 Wie sich das 43 Vgl. Möckel (2005: 195). 44 Vgl. Cassirer (1996: 19). 45 „ Im Mythos, so kann man sagen, wird der bloß gefühlten Weltsituation des Menschen, so wie sie sich in seinem emotionalen Erfassen und Erfasstwerden ereignet, eine expressive Form gegeben. Diese expressive Form ist eine ‚ elementare Ausdrucksbewegung ‘ , mit der das Reich der symbolischen Formen, mit der die Kultur als Reich des Geistigen, geboren wird “ (Schwemmer 2002: 99). 46 Vgl. Cassirer (1982: 95). 47 Ebd. 83. 48 Cassirer (1967: 107). 49 Ebd. 50 Vgl. Schwemmer (2002: 100). 51 „ . . . in the development of religion, this feeling of oneness remains and is expressed in the highest ethical perceptions and commandments [. . .] Religion, says Cassirer, is distinguished, by its preoccupation with the moral relationship of man to man in a universe that is characterized by oneness “ (Arnett 1955: 164). Möckel interpretiert diesen Punkt in der folgenden Weise: „ In den monotheistischen Religionen trägt die ‚ Form einer uni- Identitätsentfaltung in der Philosophie Ernst Cassirers 199 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [205] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur religiöse Bewusstsein und die entsprechende Identität aus dem Gefühl der ethischen Sympathie entwickeln, wird im Kapitel „ Entstehung und Entwicklung des Religionsbewusstseins und der Identität durch Emotion und Sprache “ weiter behandelt. 7 Dynamische Entfaltungseinheit von Religion und Sprache Der geistige Anfangszustand der Menschheit beginnt, nach Cassirer, mit der Benennung der Götter im Mythos und in der mimetischen Phase der Sprache. 52 Die zweite Etappe des geistigen Fortgangs realisiert sich in der Religion und gleichzeitig in der analogischen Phase der Sprache. Die Ausdrucksfunktion des Mythos transformiert sich in die Ausdrucksfunktion der Religion an dem Punkt, wo die unvermittelt gegebene Wirklichkeit der Dinge sich in die Welt der Symbole umwandelt. „ Kein Ding und kein Ereignis bedeutet mehr schlechthin sich selbst, sondern es ist zum Hinweis auf ein ‚ Anderes ‘ , ‚ Jenseitiges ‘ geworden. “ 53 Bei diesem Prozess des Hinweisens wird die Korrelation zwischen Gott und Ich zustande gebracht. Aber in dieser Korrelation kann das Ich über sein „ Objekt “ (d. h., Gott) nur mithilfe der Welt der Phänomene denken. 54 Die Religion, wie auch die Sprache, stellt Subjekt und „ Objekt “ gegenüber, und in dieser Gegenüberstellung werden die Symbole als Spiegelbild einer subsistierenden „ Objektivität “ angesehen. „ Sprache und Religion sind dadurch aufeinander bezogen und aufs innigste miteinander verknüpft, daß sie sich aus ein und derselben geistigen Wurzel herleiten. “ 55 In der Religion, wie auch in der Sprache, zeichnet sich die gleiche Tendenz zu der Überwindung des Sinnlichen ab. Diese Tendenz zielt in der Religion auf die Offenbarung des Zentrums im religiösen Prozesses, das heißt auf die Offenbarung des Verhältnisses zwischen Gott und Ich, wobei das Sinnliche versalen ethischen Sympathie ‘ schließlich den ‚ Sieg über das primitive Gefühl für die natürliche oder magische Solidarität des Lebendigen ‘ davon “ (Möckel 2005: 356). 52 „ In einem Falle sind es die Worte, im anderen Falle die Götter: in beiden Fallen sind es Benennungen. Es ist dieser Vorgang - der Vorgang der Neuschöpfung einer Gattung, in die hinein die Übertragung erfolgt - , der Cassirer veranlaßt, von einer gemeinsamen metaphorischen Wurzel von Mythos und Sprache, von einer ‚ radikalen ‘ Metaphorik zu sprechen “ (Rudolph 2000: 85). 53 Cassirer (1987: 301). 54 „ . . . so wird hier die gesamte Schöpfung, so wird alles natürliche, wie alles geistiggeschichtliche Geschehen zu einer fortlaufenden Rede des Schöpfers an die Kreatur durch die Kreatur. “ (ebd.: 302). 55 Ebd. 303. 200 Dra ž en Volk Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [206] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur kein angemessener Ausdruck des Göttlichen und ebenso der reinen religiösen Subjektivität mehr sein kann. 56 Cassirer bringt auf den Punkt, dass die Sprache durch die Begriffe von Sein und Ich das Ankommen ins Zentrum des religiösen Prozesses vorbereitet und ermöglicht. 57 Unter dem Begriff von Sein werden dann alle anderen Attribute Gottes subsumiert und damit hat die Religion in ihrem Nachdenken über das Göttliche den Bereich der echten Allgemeinheit erreicht. 58 Als die Religion Gott mit dem Wort Ich benannte, dann ist das Ich oder das Selbst der enzige „ Name “ für Gott geblieben. Mit diesem „ Namen “ ist auch eine Umformung im religiösen Denken geschehen, und zwar in dem Sinne, dass das religiöse Denken aufgehört hat, über die Gottheit als objektive Existenz zu reflektieren. Gott ist jetzt als subjektives Sein bezeichnet, und mit dieser Umformung ist die Gottheit wirklich in den absoluten Bereich erhöht, in einen Zustand, der nicht durch eine Analogie mit den Dingen oder den Namen der Dinge zum Ausdruck gebracht werden kann. 59 Das allmähliche Verschwinden des Sinnlichen hebt „ eine neue Form der Gestaltung: die Gestaltung im Willen und in der Tat heraus “ . 60 Mit anderen Worten, wenn der Entwicklungsprozess der symbolischen Form der Religion in seinem Zentrum ankommt, ist der sich sukzessiv formende religiöse Prozess mit dem Willen und der Handlung verknüpft, so dass die Religion zu einer Form der Handlung wird. Cassirer stellt heraus, dass es auch in der Sprache bestimmte sprachliche Phänomene gibt, die die Intuition der persönlichen und kollektiven Handlung widerspiegeln. 61 Diese Tendenzen sind ferner mit der Überwindung der substanziellen Auffassung der Subjektivität verbunden, und dies lässt sich an den Reflexivverben erkennen, wo Ich, eher als eine „ Substanz “ verstanden und in Beziehung zu der Handlung gesetzt wird. 62 In diesem Sinne werden „ die [sprachlichen? ] Formen des Daseins auf die des Tuns, die Formen des Tuns auf die des Daseins bezogen und beide miteinander zu einer geistigen Ausdruckseinheit verschmolzen “ . 63 Von daher ist es erkennbar, warum Cassirer Religion und Sprache „ aufs innigste miteinander verknüpft “ ansieht. Die Erklärung der einen und derselben geistigen Wurzel, von der sie sich herleiten, ist mit dem zweiten Basisphänomen verbunden. 56 Nach Cassirer ist es die Mystik, die zum Zentrum des religiösen Prozesses ankommt. Davon wird im Kapitel „ Entstehung und Entwicklung des Religionsbewusstseins und der Identität durch Emotion und Sprache “ Rede sein. 57 Vgl. Cassirer (1953: 74). 58 Vgl. ebd. 74 f. 59 Vgl. ebd. 77. 60 Cassirer (1987: 295). 61 Cassirer (1988: 222 ff.). 62 Vgl. Kajon (1984: 133). 63 Cassirer (1988: 225). Identitätsentfaltung in der Philosophie Ernst Cassirers 201 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [207] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Die Entwicklung der Relation zwischen Ich und Du und der entsprechende Moralhandlung, sowie die weitere Entfaltung der religiösen Identität, hängt von den spezifischen Eigenschaften der symbolischen Form der Religion ab, weil Ich und Du sich konstituieren, je nach der symbolischen Form, in der ihr Verhältnis sich verwirklicht. 64 Das bedeutet, dass die Entwicklung des religiösen Handlungbewusstseins eng mit der Entwicklung des religiösen Sprache und der entsprechenden symbolischen Funktion der Darstellung verknüpft ist. Für die nachfolgende Erläuterung der Beziehung zwischen Religion und Sprache bietet Cassirers Philosophie keine angemessenen Elemente mehr, aber man könnte mit Hilfe von Sprach- und Handlungstheorien darüber weiter nachdenken. 8 Entstehung und Entwicklung des religiösen Bewusstseins und der Identität durch Emotion und Sprache Für die Erläuterung unseres Themas durch die Anwendung der oben gezeichneten Einstellungen sind folgende Begriffe von Cassirers Philosophie wichtig: symbolische Form der Religion, symbolische Funktion des Ausdrucks und Ausdruckswahrnehmung, das erste und das zweite Basisphänomen (Ich und Du) und Bewusstsein. Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass die Beziehung zwischen Gott und Ich der Mittelpunkt der symbolischen Form der Religion darstellt. 65 Dementsprechend erhält die Ausdruckwahrnehmung in der symbolischen Form der Religion seine spezifische Struktur, und die Entwicklung der symbolischen Funktion innerhalb dieser Form ist daraufhin ausgerichtet, sich in einer großen Dyade der Beziehung zwischen Gott und Ich zu verjüngen; all dies geschieht in der Innerlichkeit des Ichs. 66 Laut Cassirer markiert die Mystik die Ankunft in der Mitte des religiösen Prozesses. Er hat die Probleme herausgestellt, die mit der Mystik verbunden sind. Cassirer betrachtet den Prozess, der zu Mystik führt, als die Tätigkeit des Intellekts, die der Dialektik von Symbolen folgt. Die Mystik ist gezwungen, alle Kreationen von Kultur zu negieren. Nach Cassirer verlangt sie von uns Entsagung und Zerstörung von jedem Symbol. 67 Sie tut dies ohne Hoffnung, dass es auf diese Weise möglich ist, das Wesen der Gottheit zu erkennen. Der Mystiker weiß und er ist zutiefst davon überzeugt, dass alle Erkenntnis immer nur in der Sphäre der Symbole geschehen kann. 64 Vgl. Cassirer (1979: 46); Martirano (1997: 404 - 406). 65 Vgl. dazu, Cassirer (1987: 289 294). 66 Vgl. Margreiter (2002: 208); auch vgl. Cassirer (1979: 101). 67 Cassirer (1979: 101). 202 Dra ž en Volk Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [208] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Die christliche Mystik folgt auch dieser Logik und Cassirer fügt hinzu: „ In ihr wirkt sich die reine Dynamik des religiösen Gefühls aus, die alle starre und äußere Gegebenheiten abzustreifen und aufzulösen bestrebt ist. “ 68 Hier ist das Syntagma „ die reine Dynamik des religiösen Gefühls “ hervorzuheben. Das bedeutet, dass nach Cassirer das Wesen der Gottheit nur gefühlt werden kann, weil es nicht erkannt werden kann. 69 Infolgedessen kann man sagen, dass das religiöse Gefühl im Bereich von Mystik erfahren wird. Folglich meint Cassirer, „ die Menschwerdung Gottes soll nicht länger als ein, sei es mythisches, sei es geschichtliches Faktum gefaßt werden: sie wird als Prozeß gefaßt, der sich immer aufs Neue im menschlichen Bewußtsein vollzieht “ . 70 Für die weitere Entwicklung des Gedankens über Natur und Herkunft des Gefühls von ethischer Sympathie (die für Religion charakteristisch ist) und über den Aufbau des Ichs aus diesem Gefühl, bietet Cassirers Theorie keine Elemente mehr. Meiner Meinung nach könnte die Theorie von Dietrich Korsch, Professor für systematische Theologie an der Philips Universität Marburg, Cassirers Entwurf ergänzen. Er schlägt einen anderen Zugang zum Problem der Subjektivität vor, wo sich zwei Kategorien auszeichnen: Bewusstsein und Gefühl. 71 Diese Richtung folgend versteht Korsch die Subjektivität als Selbstvollzug des Bewusstseins, in dem es sich seines eigenen Grundes bewusst wird. Dies geschieht, wenn sich das Bewusstsein im Medium des Gefühls auf sich selbst bezieht. Die Selbstbeziehung ist in Korschs Interpretation keine apriorische Synthesis, sondern bei aller Basalität aposteriorisch, selber nicht in vorzeitlicher Synthesis autonom gesetzt, sondern geworden. 72 Dies bedeutet, dass das Bewusstsein sich selbst bewusst wahrnimmt, wenn es seinen eigenen Selbstvollzug zu thematisieren anfängt, d. h., wenn es über sein eigenes Fundament zu reflektieren beginnt. Dieses Fundament ist das Gefühl. Man kann sagen, dass das Bewusstsein dann im Medium des 68 Cassirer (1987: 298). 69 Vgl. Margreiter (2002: 210). Über solche die religiöse Identität begründenden Gefühle kann man in den Texten der christlichen russischen orthodoxen Mystiker lesen, und einer von denen beschreibt dieses Gefühl als eine sehr starke Emotion, wobei der Mystiker dessen bewusst ist, dass dieses Gefühl nicht von ihm selbst produziert ist, sondern von einer anderen Realität verursacht wird ( Š pidlík 2005: 188). Diese Erfahrung findet im Rahmen der Psyche des Menschen statt, und ein solches Erlebnis hatte auch Dostojewski (vgl. ebd.). 70 Cassirer (1987: 298). 71 Ich benutze hier eine Synthese von Korschs Theorie, die von I. U. Dalferth und Ph. Stoellger dargeboten wurde (vgl. Dalferth - Stoellger 2005: IX - XXXI), weil sie klar die Elemente hervorhebt, die für diesen Beitrag wichtig sind. 72 Das Gefühl ist auch die Bedingung der Möglichkeit, dass im Bewusstsein ein Bild oder eine absolute Metapher entsteht, die sich auf Gott bezieht. „ Bild (oder genauer eine absolute Metapher) ist das, weil ‚ für diese Instanz keine begrifflichen Bestimmungen im harten Sinne gegeben werden können ‘“ (ebd: XX). Identitätsentfaltung in der Philosophie Ernst Cassirers 203 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [209] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Gefühls reflektiert. Reflexivität im Medium des Gefühls heißt Selbstbeziehung in einem mehrdimensionalen Sinne (statt allein seiner selbst bewusst zu sein). 73 In dieser Sicht sollen das Selbst nicht als Erzeuger des Gefühls und das Gefühl nicht als von Selbst Gemachtes angesehen werden. Da das Selbst kein Erzeuger, keine transzendentale Konstitutionsinstanz ist, und das Gefühl ohne sein Zutun entsteht, ist es ein Beispiel passiver Synthesis. 74 Der Vollzug des Bewusstseins und seines Werdens im Medium des Gefühls ist nicht ort- und zeitlos, sondern er geschieht unter geschichtlichen Umständen, die als solche nicht wählbar sind. Diese geschichtlichen Umstände nennt Korsch „ Rahmenbedingungen “ . 75 Das Verhältnis zwischen dem Selbstvollzug des Bewusstseins und den Rahmenbedingungen bestimmt sich so, dass der Selbstvollzug eine Funktion von den Rahmenbedingungen ist, wobei „‚ Funktion ‘ allerdings im Sinne Cassirers (bzw. Leibniz) als Funktionsrelation zu verstehen ist, nach der dieser Vollzug durch seine ‚ Rahmenbedingungen ‘‚ bestimmt ist “ . 76 Die Rahmenbedingungen stellen sich nicht abstrakt dar, sondern sie bestimmen sich durch die kulturellen Formen. Meiner Meinung nach kann man anstelle vom Begriff kulturelle Formen ohne Bedenken den Begriff symbolische Formen im Sinne Cassierers benutzen. Wenn wir alles, was wir bisher gesagt haben, auf das Problem der religiösen Identitätsentfaltung anwenden, kommen wir zur folgenden Schlussfolgerung: Im Moment, da sich das Bewusstsein durch das obenbeschriebene religiöse Gefühl in der Sphäre der symbolischen Form der Religion auf sich selbst bezieht, beginnt es den eigenen Selbstvollzug zu erreichen und wird so zum religiösen Bewusstsein. Die ständige Bezugnahme des Bewusstseins auf das Gefühl bewirkt die regelmäßige Erneuerung des Prozesses, in dem der Mensch seine eigene religiöse Identität entfaltet, und diese Erneuerung ist die unabdingbare Voraussetzung für die Kreativität im Rahmen der Religion. Sobald der Entwicklungsprozess der symbolischen Form der Religion an seinem Zentrum ankommt, ist der sich sukzessiv formende religiöse Prozess 73 Vgl. ebd. 74 Ebd. Mit dem Ausdruck „ Synthesis “ wird dabei allerdings keine Synthesisleistung des Selbst bezeichnet, sondern das Gefühl wird in passiver Genesis. In diesem Punkt ist Korschs Theorie nahe der Cassirers Interpretation von Kants transzendentaler Methode und mit ihr verbundenem Problem der Erfahrung, wo er behauptet „ daß es sich für ihn [Kant] nicht um eine Erklärung der Entstehung der Erfahrung, sondern um die Zergliederung ihres reinen Bestandes handle “ (Cassirer 1982: 226) und die objektive Gültigkeit der Erfahrung sollte man nicht so rechtfertigen, „ daß man sie aus einem an sich bestehenden ‚ transzendentalen Subjekt ‚ , als dem ‚ Urheber ‘ dieser Gültigkeit, hervorgehen ließe “ (ebd. 227; vgl. oben die Fußnote 10). Auf dieselbe Weise, könnte man sagen, dass es in Korschs Theorie nicht um die Erklärung von Entstehung des Gefühls gehe. Die Gültigkeit des Gefühls sollte dann nicht aus dem Selbst gerechtfertigt werden. 75 Vgl. ebd. XXI. 76 Ebd. 204 Dra ž en Volk Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [210] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur mit dem Willen und der Handlung verknüpft, und das öffnet den Zugang zu neuen Erfahrungsquellen, d. h. zum zweiten Basisphänomen - dem Du. Dieser Prozess ist eng mit der Entwicklung von Sprache und moralischem Handlungbewusstsein verbunden. Das religiöse Selbst- und Handlungbewusstsein integrieren sich in der religiösen Identität durch die Bezugnahme auf das Zentrum der symbolischen Form der Religion. In der bisherigen Darstellung der religiösen Identität und der Rolle der Gefühle und Sprache in deren Entwicklung im Rahmen von Cassirers Philosophie wurde es die allgemeine Struktur des Religiösenbewusstsein zu präsentieren versucht. Die Frage, die sich aufdrängt, ist: Wie entwickelt sich das konkrete individuelle reiligöse Bewusstsein? 77 Cassirer gliedert die Entwicklung des religiösen Bewusstseins unter den Bedingungen der dialektischen Struktur des kulturellen Bewusstseins ein, das zwischen den Polen von individueller Seele und den überindividuellen Kulturgütern verläuft. Diese Dialektik beeinflusst die Religion so, dass Cassirer das religiöse Bewusstsein als unversöhntes Bewusstsein, das sich zwischen der individuellen Religiosität und der objektiven Symbolwelt der Religion entwickelt, bestimmt. 78 Diese Unversöhntheit ist nicht negativ zu betrachten, weil „ das Individuum, sich selbst gar nicht anders haben [kann], als indem es über sich selbst hinaus in die Welt der Formen eingeht, sich an sie hingiebt. Diese Entsagung gegenüber der überpersönlichen Form ist das, worin es sich selbst erst gewinnen kann. “ 79 Wenn das Individuum sich der Form der Religion hingibt, geschieht eine neue Synthese, zwischen seiner eigenen Religiosität (die auch seine religösen Gefühle einschliesst) und die konkreten vorhandenen symbolischen Form der Religion, wobei das Individuum in seiner Kreativität etwas Neues zu dieser Form hinzugeben kann. Mit Hilfe der symbolischen Welt der Religion kann das Individuum seine innere Erfahrungen „ lesen “ und verstehen. Für die Aneignung der einzigen symbolischen Formen, und so auch der Religion, von der Seite des Individuums, ist die Sprache unersetzlich, weil diese Aneignung sich nur durch die Kommunikation mit anderen Individuen ereignet. Cassirer betont, dass die Kommunikation eine Gemeinsamkeit in bestimmten Prozessen nicht nur eine Übereinstimmung zwischen den Produkten erfordert. 80 Die dauerhaften Werke der symbolischen Formen, in denen sich der Prozess der symbolischen Formung verfestigt, sind die Brücke zwischen Ich und Du, aber nicht nur in dem Sinne, dass die Werke den faktischen Inhalt von dem Einen auf den Anderen übertragen, sondern die Tätigkeit des Einen wird durch die Werke von der Tätigkeit des Anderen verursacht. Mit anderen Worten, der Eine muss erlauben, dass die Werke in 77 Cassirer benutzt manchmal auch den Begriff der individuellen Seele, um das individuelle Bewusstsein zu bezeichnen (vgl. Voigt, 1995: 181). 78 Vgl. ebd. 79 Cassirer (1995: 218 f.). Das Zitat wurde von Voigt (1995: 190) übernommen. 80 Vgl. Cassirer (1979: 102). Identitätsentfaltung in der Philosophie Ernst Cassirers 205 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [211] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur ihm dieselben symbolischen Prozessen provozieren, die schon im Anderen tätig sind. Deshalb ist die Sprache das Mittel par excellence für die Kommunikation. Obwohl Cassirer wegen seiner erkenntnisstheoretischen und ethischen Interessen auf die Auslösung der symbolischen Prozessen, die mit dem Weltverstehen und der Erkenntnis verknüpft sind, Wert legt, kann man auch im Rahmen seiner Philosophie über die Wichtigkeit der Gefühle oder der sprachlichen Mittel, die Gefühle vermitteln, für die Auslösung der religiösen symbolischen Prozesse in einem Individuum weiterdenken. Dies ist möglich, wie schon in diesem Kapitel hingewiesen wurde, da das religiöse Bewusstsein sich selbst wahrnimmt, wenn es über sein eigenes Fundament zu reflektieren beginnt und dieses Fundament ist das Gefühl; man kann sagen, dass das Bewusstsein dann im Medium des Gefühls reflektiert. Das individuelle Bewusstsein versucht auf der Ebene des ersten Basisphänomens die Worte und die sprachlichen Figuren, die die Emotionalität ausdrücken, mit dem Grundgefühl, das die Beziehung zwischen Gott und Ich bezeichnet, zu verbinden. Die Rolle der emotionellen Ausdrucksmittel auf der Ebene des zweiten Basisphänomens besteht darin, dass sie die Motivation für die ethische Handlung verstärken. Aus der Analyse, die untersuchen soll, wie viel die Worte und die sprachlichen Figuren, die die Emotionalität ausdrücken, für die Entwicklung des allgemeinen und individuellen religiösen Bewusstseins und der entsprechenden Identität entscheidend sind, könnte man besondere Kriterien ausarbeiten, die für die Religionswissenschaft hilfreich wären. Oben wurde schon erwähnt, dass die Entwicklung des religiösen Bewusstseins nicht ort- und zeitlos ist, und das bringt uns zum nächsten Problem, nämlich, zum Verhältnis zwischen Religion und Kultur. 9 Der Einfluss der Kultur auf die Entwicklung des Religionsbewusstseins und der Identität Der Begriff der Kultur im System der Philosophie der symbolischen Formen ist nicht ganz klar bestimmbar, 81 aber man kann ihn aus der Definition: Der Mensch is anymal symbolicum, erarbeiten. Aus dieser Definition folgt, dass der Mensch das Wesen ist, das sich der Umwelt nicht passiv unterordnet, sondern er formt es durch die Tätigkeit seines Geistes, d. h. durch die Aktivität der symbolischen Formen, um. Die Auswirkung dieser Umformung ist die Tatsache, dass der Mensch in gewissem Sinne fortlaufend den Dialog mit sich selbst, d. h. mit eigenen Kulturproduktenn, und nicht mehr direkt mit der physichen Wirklichkeit führt. 82 81 Vgl. Freudenberger (2003: 259). 82 Vgl. Cassirer (1967: 25). 206 Dra ž en Volk Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [212] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Jedes Element der Wirklichkeit, das von Menschen thematisiert wird, wird immer von Menschen umgeformt, und deshalb kann man sagen, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, nämlich, die kulturelle Wirklichkeit. 83 In dieser Hinsicht wird dann auch der Dualismus zwischen Natur und Kultur eliminiert, weil auch das Objekt, das wir Natur benennen und das wir analysieren, ein kulturelles Objekt an sich ist. 84 Darauf folgt es, dass Cassirer die These vom Kultur-Monismus verfechtet, 85 und somit wird der Begriff der Kultur zum Totalitätsbegriff, „ der alle möglichen Themen der Philosophie umfaßt und jede denkbare Methode letztlich in sich einschließt “ . 86 Das bedeutet auch, dass die Kultur nicht mehr vom Standpunkt der einzelnen Werke oder der Individuen sondern vom Standpunkt der eigenen symbolischen Formen betrachtet wird. 87 Die Kultur ist wie ein Bedeutungsdepot, wo alle Formen die eigenen Werke mit zugehörigen Bedeutungen aufbewahren. Durch die Tätigkeit des Bewusstseins und seiner symbolischen Formen können die aufbewahrten Bedeutungen erneut belebt werden. Die Formen teilen die Kultur in dementsprechende Erfahrungsbereiche, wobei der intermediäre Bereich zur Sprache gehört. Da sie [die Sprache] universelle Objektivierungsform ist, muß sie prinzipiell mit allen anderen symbolischen Formen zugleich bestehen können bzw. die Sinnbezüge der anderen symbolischen Formen müssen zumindest partiell in die Sprache transponierbar sein [. . .] die Sprache ist unerläßlich für die Erschließung aller geistig-kultureller Bereiche des Menschen. 88 Wir können diese Behauptung fortentwickeln und behaupten, dass die Sprache gemeinsames Kulturbewusstsein eines Volkes, einer Gruppe usw., bildet. Wenn es um das menschliche Wissen handelt, äußert Cassirer sich auf folgende Weise: 89 die modernen Theorien 90 des Menschen haben ihr geistiges Zentrum verloren; in vorigen Zeiten gab es auch viele verschiedene Meinungen und Theorien über den Menschen, aber es blieb wenigstens eine allgemeine Orientierung, ein Bezugnahmens-rahmen, auf den alle einzelnen Unterscheidungen Bezug nehmen konnten; Metaphysik, Theologie, Mathematik und Biologie 91 nahmen nacheinander die Führung des Nachdenkens 83 Vgl. Orth (2004: 195). 84 Vgl. ebd. 211. 85 Vgl. Lütterfelds (2000: 49). 86 Orth (2004: 193). 87 Vgl. Cassirer (1979: 46). 88 Göller (1991: 233). 89 Vgl. Cassirer (1967: 21). 90 Cassirer meint hier die Theorien des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. 91 Metaphysik, Theologie, Mathematik und Biologie sind mit bestimmten symbolischen Formen verbunden. Identitätsentfaltung in der Philosophie Ernst Cassirers 207 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [213] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur über das Problem der Menschen über und bestimmten die Linie der Untersuchung. Meiner Meinung nach können wir diese Gedanken weiterentwickeln und sagen, dass in verschiedenen geschichtlichen Epochen einzelnen symbolischen Formen den Haupteinfluss auf die Entwicklung des gemeinsamen Kulturbewusstseins, des Weltverstehens und des Wissens über den Menschen hatten und damit auch geistiges Zentrum darstellten. Nach diesen Erläuterungen können wir besser das Verhältniss zwischen Kultur und Religion erleuchten. Weil die Sprache, d. h. das Kulturbewusstsein, unerläßlich für die Erschließung aller geistig-kulturellen Bereiche des Menschen ist, dann hängt die Entwicklung des religiösen Bewusstseins auch vom aktuellen Zustand des Kulturbewusstseins ab, im Sinne, dass das Kulturbewusstsein dieser Entwicklung hilft, sie erschwert oder sie hindert. Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, wie Cassirer behauptet, herrschte „ a complete anarchy of thought “ . 92 Aber allmählich in erster Hälfte dieses Jahrhunderts durch die politischen Mythen, die vom Nationalsozialismus benutzt wurden, wurde Kulturbewusstsein als eine Art vom mythischen Bewusstsein geformt. 93 Cassirer weist hin, dass die Nationalsozialisten durch die Propaganda Folgendes machten: Neue Worte sind geprägt worden; und selbst die alten sind in einem neuen Sinne verwendet; sie haben einen tiefen Bedeutungswandel durchgemacht. Dieser Bedeutungswandel folgt aus der Tatsache, daß jene Worte, die früher in beschreibendem, logischem oder semantischem Sinne gebraucht wurden, jetzt als magische Worte gebraucht werden, die bestimmt sind, gewisse Wirkungen hervorzubringen und gewisse Affekte aufzurühren. Unsere gewöhnlichen Worte sind mit Bedeutungen geladen; aber diese neugeformten Worte sind mit Gefühlen und heftigen Leidenschaften geladen. 94 In dieser Periode, um das Kulturbewusstsein ideologisch zu formen, führte man ein neues Instrument ein. Cassirer beschreibt es: Für diesen Zweck bedurfte es eines frischen Instruments - eines Instruments nicht nur des Denkens, sonder auch des Handelns. Eine neue Technik mußte entwickelt werden [. . .] Sie beschleunigte alle Reaktionen und gab ihnen ihre volle Wirkung. Während der Boden für den Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts lange vorher bereitet worden war, hätte er seine Früchte nicht ohne geschickten Gebrauch der neuen technischen Mittel tragen können. 95 92 Cassirer (1967: 21). 93 Cassirer analysiert im letzten Kapitel seines Buches „ Vom Mythus des Staates “ namens „ Die Technik der Modernen politischen Mythen “ die Techniken des Nationalsozialismus, mit denen Bewusstsein einzelner Menschen sowie Kulturbewusstsein geformt werden sollten. 94 Cassirer (2002: 369). 95 Ebd. 360. 208 Dra ž en Volk Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [214] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Der Gebrauch der Technik in der Formung des Kulturbewusstseins ist nicht mit dem Ende des zweiten Weltkriegs beendet. Ein anderer Denker, Umberto Galimberti, 96 hat eine Analyse der Konsequenzen der übermäßigen Anwendung der Technik in allen Bereichen menschlichen Lebens ausgeführt. Aus seiner Analyse kann man klar erkennen, dass den Haupteinfluss auf das Kulturbewusstsein die Technik und dementschprechendes ökonomisches System hat. Eine von den Folgerungen einer solchen Situtation ist der vorhandene Nihilismus, der radikaler als der Nihilismus, den die Philosophie beschrieben hat, ist. 97 In solchem Zustand der Kultur ist es verstehbar, warum sich heute schwer ein religiöses Bewusstsein entwickeln kann. Aber nicht nur Religion, sondern auch menschliche Psyche und Seele ist in Gefahr, weil, wie Galimberti behauptet, der Nihilismus auch die Gedrücktheit der Gefühle bringt. 98 10 Fazit Die durchgeführte Auslegung hat die Fruchtbarkeit der Philosophie Ernst Cassirers für die Darstellung der Entstehung des religiösen Bewusstseins und der Identität gezeigt. Die Sprache und die Emotionen haben sich auf verschiedene Weise als sehr wichtig für die Entwicklung des religiösen Bewusstseins erwiesen. Im heutigen Zustand der Kultur ist nicht nur die Religion in Gefahr, sondern alle humanisierenden Kräfte der Menschheit und somit auch die Sprache und ausbildende Gefühle. Deshalb sind alle, die im Bereich der humanistischen Wissenschaften arbeiten, für die Pflege der Sprache und für ihre Beschirmung gegen die technische Dehumanisierung und Entleerung verantwortlich. Bibliographie Willard E.Arnett, Ernst Cassirer and The Epistemological Values of Religion, in: The Journal of Religion 3/ 1955, S. 160 - 167. Thora Ilin Bayer, Cassirer ’ s Metaphysics of Symbolic Forms. A Philosophical Commentary, New Haven, London 2001. Ernst Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven, London 17 1967. Ernst Cassirer, Language and Myth, New York 1953. 96 Umberto Galimberti hat in seinem Buch „ Psiche e techne. L'uomo nell ’ ettà della tecnica “ (Mailand, 2002) an über 700 Seiten eine ausführliche antropologische, psychologische, soziologische und fenomenologische Analyse der Konsequenzen des übermäßigen Gebrauchs von Technik durchgeführt. 97 Vgl. ebd. 703 - 710. 98 Vgl. ebd. 666 - 673. Identitätsentfaltung in der Philosophie Ernst Cassirers 209 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [215] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. von K. Chr. Köhnke/ J. M. Krois/ O. Schwemmer, Bd. 1, Hamburg 1995. Ernst Cassirer, Philosophie der Symbolischen Formen. I. Die Sprache, Darmstadt 9 1988. Ernst Cassirer, Philosophie der Symbolischen Formen. II. Das mythische Denken, Darmstadt 8 1987. Ernst Cassirer, Philosophie der Symbolischen Formen. III. Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 8 1982. Ernst Cassirer, The Philosophy of Symbolic Forms. IV. 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Friedrich Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Freie Universität Berlin Habelschwerdter Allee 45 14 195 Berlin katharina.adeline.engler@fu-berlin.de Dr. Anna Espunya Departament de Traducció i Ciències del Llenguatge Universitat Pompeu Fabra C/ Roc Boronat 138 08 018 Barcelona anna.espunya@upf.edu http: / / www.upf.edu/ pdi/ anna_espunya/ Prof. Dr. Reinhard Fiehler Institut für Deutsche Sprache Postfach 10 16 21 D-68 016 Mannheim fiehler@ids-mannheim.de http: / / www1.ids-mannheim.de/ gra/ personal/ fiehler.html Nikolina Mileti ć Abteilung für Germanistik Universität Zadar Obala kralja Petra Kre š imira IV/ 2 23 000 Zadar, Kroatien nmiletic2@unizd.hr Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [219] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Mag. Dr. Heike Ortner Institut für Germanistik Universität Innsbruck Innrain 52 A-6020 Innsbruck heike.ortner@uibk.ac.at http: / / www.uibk.ac.at/ germanistik/ mitarbeiter/ ortner_heike/ Univ.-Doz. Dr. Anita Pavi ć Pintari ć Odjel za germanistiku Sveu č ili š te u Zadru Obala kralja Petra Kre š imira IV/ 2 23 000 Zadar, Kroatien apintari@unizd.hr https: / / sites.google.com/ site/ appintaric/ Univ.-Doz. Dr. Mirjana Pehar Abteilung für Germanistik Universität Zadar Obala kralja Petra Kre š imira IV/ 2 23 000 Zadar, Kroatien mpehar@unizd.hr Dr. Elisabeth Piirainen Dumte 32 D-48 565 Steinfurt, Deutschland elisabeth.piirainen@outlook.com http: / / www.widespread-idioms.uni-trier.de Mag. Milan Pi š l, Ph.D. Lehrstuhl für Germanistik Philosophische Fakultät Universität Ostrava milan.pisl@osu.cz http: / / ff.osu.eu/ index.php? idc=7804 Ž aklina Rado š Abteilung für Germanistik Universität Zadar Obala kralja Petra Kre š imira IV/ 2 23 000 Zadar, Kroatien zarados@unizd.hr 214 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [220] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Univ.-Doz. Dr. Zaneta Sambunjak Sveu č ili š te u Zadru Odjel za germanistiku Obala kralja Petra Kre š imira IV/ 2 HR-23 000 Zadar, Kroatien zsamb@unizd.hr Prof. Dr. Sebastian Seyferth Fakultät Management- und Kulturwissenschaften Hochschule Zittau/ Görlitz sebastian.seyferth@hszg.de Prof. Dr. Bernd F. W. Springer Departament de Filologia Anglesa i de Germanística Universitat Autònoma de Barcelona, Campus Carrer Fortuna, Edifici B, Despatx 104 08 193 Bellaterra (Barcelona), Spanien bernd.springer@uab.cat http: / / blogs.uab.cat/ berndspringer/ Dr. habil. Artur Tworek Uniwersytet Wroc ł awski, Instytut Filologii Germa ń skiej PL-50 - 140 Wroc ł aw, pl. Nankiera 15 b. atworek@uni.wroc.pl Univ.-Doz. Dr. Dra ž en Volk Jordanovac 110 HR - 10 000 Zagreb, Kroatien d.volk@ffdi.hr Univ.-Doz. Dr. Tomislav Zeli ć Sveu č ili š te u Zadru Odjel za germanistiku Obala kralja Petra Kre š imira IV/ 2 HR-23 000 Zadar, Kroatien tzelic@unizd.hr Univ.-Doz. Dr. Petra Ž agar- Š o š tari ć Philosophische Fakultät Universität Rijeka Sveu č ili š na avenija 51 000 Rijeka" Kroatien pzagar@ffri.hr Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 215 Pavic_SprachlicheKonstituierung_AK_4 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [221] 221 , 2015/ 11/ 27, 11: 10 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 4. Korrektur Heike Ortner Text und Emotion Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse Europäische Studien zur Textlinguistik 15 2014, X, 485 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6910-3 Der Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion wird in der Linguistik aus vielen verschiedenen Perspektiven untersucht. Dieser Band dient als Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zu dem komplexen Thema. Berücksichtigt werden Erkenntnisse aus verschiedenen Teildisziplinen, z.B. Semiotik, Lexikologie, Pragmatik, Kognitive Linguistik und Textlinguistik. Im methodischen Teil wird gezeigt, wie eine emotionslinguistische Analyse emotive Strukturen in Texten offenlegt, wobei die vorgeschlagene Methode leicht an verschiedene Fragestellungen angepasst werden kann. Ihre Anwendung und empirische Überprüfung findet an sehr unterschiedlichen Textkorpora statt: Briefe von Franz Kafka als Beispiel für einen Individualstil sowie Nachrichtenartikel von verschiedenen Online-Plattformen als Beispiel für Medientexte. Forschende, Lehrende und Studierende finden hier sowohl einen umfassenden Überblick über theoretische Grundlagen als auch Anregungen für die Anwendung in der eigenen Forschung und Lehre. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 97 97-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Stand: Oktober 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! JETZT BESTELLEN! ISBN 978-3-8233-6950-9 Dieser Sammelband untersucht die Bestimmung unterschiedlicher Aspekte der Emotionalität in Bezug auf die Konstituierung von Identität. Das Hauptinteresse liegt auf der Kodierung der Emotionalität in Texten, d. h. auf sprachlichen Einheiten, die bei der Konstituierung von Identität relevant sind, auf der Bewertung sowie der Realisation von Identität durch Emotionalität in Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Der Band beschäftigt sich mit den Aspekten der Emotionsforschung in Sprach- und Literaturwissenschaft, z. B. in der Emotionslinguistik, der kontrastiven Linguistik, der Translatologie und der Gesprächsforschung sowie der Literaturgeschichte und -theorie.