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Sprachvergleich und Übersetzung

2017
978-3-8233-7982-9
Gunter Narr Verlag 
Wolfgang Dahmen
Günter Holtus
Johannes Kramer
Michael Metzeltin
Christina Ossenkop
Wolfgang Schweickard
Otto Winkelmann

Die Beiträge des vorliegenden Bandes fokussieren unterschiedliche Aspekte der kontrastiven Linguistik und der Übersetzungsäquivalenz mit Bezug auf sprachliche Variation und Substandard, Textsortenspezifik, Eigennamen und Syntax und ziehen dabei eine kritische Bilanz hinsichtlich der Beziehung zwischen Sprachvergleich und Übersetzung sowie der Grenzen der Übersetzbarkeit. Nicht zuletzt eröffnet die Diskussion der Rolle von Übersetzung und Sprachvergleich im Fremdsprachenunterricht eine Verbindung von linguistischer und fachdidaktischer Perspektive und zeigt damit die Aktualität des Themas auf.

TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Sprachvergleich und Übersetzung Die romanischen Sprachen im Kontrast zum Deutschen Romanistisches Kolloquium XXIX Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Christina Ossenkop, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachvergleich und Übersetzung Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 553 Wolfgang Dahmen, Günter Holtus, Johannes Kramer, Michael Metzeltin, Christina Ossenkop, Wolfgang Schweickard, Otto Winkelmann (Hrsg.) Sprachvergleich und Übersetzung Die romanischen Sprachen im Kontrast zum Deutschen Romanistisches Kolloquium XXIX Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-6982-0 Inhalt Einleitung …………………..……………………...……………….…...…. VII I. D IE Ü BERSETZUNG ALS G EGENSTAND TRANSLATO - RISCHER UND LINGUISTISCHER U NTERSUCHUNGEN Carsten Sinner, Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? .. 3 Magda Jeanrenaud, La traduction de l’intraduisible ……………….....…. 29 II. S PRACH - UND TEXT ( SORTEN ) SPEZIFISCHE P ROBLEME DER Ü BERSETZUNG Vera Neusius, Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache: Deutsche und französische Online-Werbeanzeigen der Telekommunikation und Unterhaltungselektronik im Vergleich ………..... 55 Michael Schreiber, La phrase unique: Die Ein-Satz-Struktur in Texten der Französischen Revolution und deren Übersetzungen ………….… 81 Désirée Cremer, Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit ………………….… 99 Georgia Veldre-Gerner, La Bovary, quelle meule usante c’est pour moi! Die Syntax Flauberts im Übersetzungsvergleich ………...…….. 127 Lisa Šumski, Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung am Beispiel der französischen und deutschen Fassung des Theaterstücks Yukonstyle von Sarah Berthiaume ………….....… 149 Judith Visser, Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur: Elena Poniatowskas Hasta no verte Jesús mío …………………………………………………..……………...… 173 III. Ü BERSETZUNGEN ALS K ORPUS FÜR SPRACHVERGLEI - CHENDE U NTERSUCHUNGEN Laura Sergo, Eine kontrastive Studie Französisch - Italienisch zur Wiedergabe von Konnektoren: en fait, de fait und en réalité …….…...… 201 Heidi Siller-Runggaldier, Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich: Deutsch - Ladinisch - Italienisch …………………………. 221 Eva Lavric, Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung: kontrastiv Deutsch - Französisch - Spanisch …...……………………….. 251 Werner Forner, „Als er sie welkgerochen hatte, ...“ Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen ……………………….... 283 Reinhard Kiesler (†), Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich …………………………...…...……………………….. 317 Holger Wochele, Interlinguale Allonymie und die Übersetzbarkeit von Eigennamen − ein Vergleich Romania vs. deutschsprachiger Raum … 347 IV. P OTENTIALE DER Ü BERSETZUNG FÜR DEN F REMD - SPRACHENUNTERRICHT Javier García Albero, Mínimo (común) paremiológico, traducción y enseñanza de lenguas: una propuesta para el uso de la traducción de refranes en el aula de ELE ……….........................................………………. 383 Aline Willems, Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland ……….................................…………………….………. 399 Einleitung Sprachvergleich und Übersetzung. Die romanischen Sprachen im Kontrast zum Deutschen war das Thema des XXIX. Romanistischen Kolloquiums, das vom 19. bis zum 21. Juni 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster stattgefunden hat. In 16 Vorträgen wurde die Beziehung zwischen kontrastiver Linguistik und Übersetzung aus translatorischer, linguistischer und fachdidaktischer Perspektive diskutiert und dabei insbesondere die Notwendigkeit einer interdisziplinären Herangehensweise herausgearbeitet, ein Desideratum, dem wir mit der Veröffentlichung des vorliegenden Sammelbandes Rechnung tragen wollen. Thematisch gliedert sich dieser Band in vier Teile: In den ersten beiden Beiträgen werden die Beziehung zwischen Sprachvergleich und Übersetzung aus translatorischer Perspektive kritisch reflektiert und Grenzen der Übersetzbarkeit diskutiert. Es folgen sechs Beiträge, die sich am Beispiel literarischer und nicht-literarischer Texte mit sprach- und text(sorten)spezifischen Problemen der Übersetzung befassen, und weitere sechs Beiträge, in denen Übersetzungen in und aus romanischen und nicht-romanischen Sprachen das Korpus für sprachvergleichende Untersuchungen bilden. Der Band schließt mit zwei Beiträgen, die sich mit dem Potential von Übersetzung und Sprachvergleich für den Fremdsprachenunterricht auseinandersetzen und damit eine Verbindung zwischen linguistischer und fachdidaktischer Perspektive herstellen. Der erste Teil dieses Bandes zur Übersetzung als Gegenstand translatorischer und linguistischer Untersuchungen wird durch einen Beitrag von Carsten Sinner eingeleitet, in dem sich der Autor aus übersetzungswissenschaftlicher Perspektive mit der Fragestellung auseinandersetzt, ob und inwieweit Übersetzungsvergleiche für Sprachvergleiche geeignet sind. Er vertritt darin die These, dass Übersetzungen im Vergleich zu Texten, die von Muttersprachlern verfasst wurden, als eigene Varietäten einzustufen seien und Besonderheiten der Übersetzung letztlich weniger auf die Ausgangssprache als vielmehr auf den Prozess des Übersetzens selbst sowie u.a. auf Vorgaben der Verlage zurückzuführen seien. Für kontrastive Untersuchungen auf der Basis von Übersetzungsvergleichen bedeute dies, dass die vorhandenen Wechselwirkungen im Übersetzungsprozess unbedingt mit zu berücksichtigen seien. VIII Magda Jeanrenaud widmet sich in ihrem Beitrag dem Spannungsfeld zwischen dem Übersetzbaren und dem Nicht-Übersetzbaren und stellt dabei die Intention des Ausgangstextes ins Zentrum ihres Aufsatzes. Ausgehend von Walter Benjamins Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“ untersucht sie die Übersetzung bzw. Nicht-Übersetzung von zwei in Benjamins Text angeführten Zitaten in rumänischen, englischen und französischen Translaten und diskutiert dabei besonders die Frage der „Übersetzbarkeit“ und „Nicht-Übersetzbarkeit“. Der zweite Teil des Bandes, in dessen Mittelpunkt sprach- und text- (sorten)spezifische Probleme der Übersetzung stehen, beginnt mit einem Beitrag von Vera Neusius, die auf der Grundlage von Online-Anzeigen der Corporate Websites dreier internationaler Firmen aus dem Bereich der Unterhaltungselektronik und Telekommunikation kontrastiv untersucht, wie sprachliche Besonderheiten englischer Produktwerbungen in deutschen und französischen werbesprachlichen Translaten übersetzt werden. Die Autorin geht darin auf zentrale Äquivalenzbeziehungen zwischen Ausgangs- und Zieltext ein und diskutiert dabei u.a. einzelsprachliche Restriktionen sowie spezifische Kommunikationsbedingungen der Werbesprache. Es schließt sich ein Beitrag von Michael Schreiber an, in dem der Autor Ein-Satz-Strukturen juristischer und administrativer französischer Gesetzestexte und Verordnungen aus der Zeit der Französischen Revolution sowie deren Übersetzungen in die Zielsprachen Italienisch, Spanisch, Deutsch und Niederländisch analysiert. Er geht in diesem Zusammenhang auf drei Phasen der Übersetzungspolitik zur Zeit der Französischen Revolution und der Ära Napoleons ein und greift aus den beiden letzten Phasen originalsprachliche Gesetzestexte und Verordnungen heraus, die er im Hinblick auf französische Ein-Satz-Strukturen mit den zielsprachlichen Übersetzungsresultaten kontrastiert. Désirée Cremer geht in ihrem Beitrag der Frage nach, wie Relationsadjektive aus Boethius‘ Consolatio Philosophiae in zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert entstandenen französischen und italienischen Übersetzungen wiedergegeben werden. Am Beispiel von divinus, fatalis und humanus arbeitet die Autorin zunächst die Bedeutung dieser Relationsadjektive im Werk Boethius‘ heraus und analysiert im Anschluss deren Wiedergabe in einem Korpus, das aus drei französischen und vier italienischen prosimetrischen Übersetzungen besteht. Sie geht dabei nicht nur auf die Übersetzung der Lexeme durch äquivalente Relationsadjektive, deren Stellung und deren Häufigkeitsverteilung ein, sondern auch auf andere zielsprachliche Übersetzungsvarianten und deren Vorkommen in den Texten. IX Drei weitere Beiträge befassen sich mit spezifischen Problemen literarischer Übersetzung. Georgia Veldre-Gerner untersucht am Beispiel von sieben zwischen 1858 und 2012 entstandenen deutschsprachigen Übersetzungen von Flauberts Roman Madame Bovary (1858), ob und wie Links- und Rechtsdislokationen ins Deutsche übertragen bzw. in welchen Fällen dafür alternative Konstruktionen verwendet werden. Dabei legt sie zunächst das Augenmerk auf die Bedeutung der sprachlich-stilistischen Intentionen des Autors, die aus seinem Briefwechsel und mittlerweile veröffentlichten Brouillons hervorgehen, bevor sie ausgewählten ausgangssprachlichen Textpassagen mit funktional verschiedenen Dislokationen unterschiedliche deutsche Übersetzungsvarianten gegenübergestellt und diese im Hinblick auf den jeweils vorliegenden funktionalen Aspekt des Ausgangstextes diskutiert. Probleme der Übersetzung sprachlicher Variation stehen im Zentrum des Beitrags von Lisa Šumski, die auf der Grundlage des Theaterstücks Yukonstyle von Sarah Berthiaume untersucht, wie Mündlichkeitsphänomene Quebecs im edierten französischen Dramentext literarisch abgebildet werden und wie die entsprechenden Textpassagen in der edierten deutschen Fassung übersetzt werden. Zunächst betrachtet die Autorin das Phänomen der literarischen Abbildung sprachlicher Variation im Allgemeinen sowie mit besonderem Bezug auf das frankokanadische Theater. Anschließend zeigt sie exemplarisch auf, welche Mündlichkeitsmerkmale in welcher Form in Sarah Berthiaumes Stück präsent sind und ob und wie diese bei der Übersetzung ins Deutsche übertragen werden. Einer ähnlichen Thematik ist der Beitrag von Judith Visser gewidmet, die am Beispiel des Romans Hasta no verte Jesús mío von Elena Poniatowska untersucht, wie Substandardelemente aus dem mexikanischen Spanisch ins Deutsche, Englische und Französische übersetzt werden. Sie zeigt darin u.a. die Problematik diasystematischer Sprachmarkierung vor dem Hintergrund sich herausbildender Regionalstandards innerhalb der spanischen Sprachgemeinschaft auf, die für Übersetzer insofern eine Herausforderung darstellt, als diese bei Abweichungen vom europäischen Standardspanischen zunächst überprüfen müssen, ob eine Variante dem mexikanischen Regionalstandard entspricht oder auch in Mexiko diatopisch markiert ist. Anhand des Romans arbeitet die Autorin die Bedeutung sozial markierten Substandards für das mexikanische Spanisch heraus und diskutiert am Beispiel dreier Übersetzungen des Werkes dessen mögliche Wiedergabe durch zielsprachliche Äquivalente im Deutschen, Englischen und Französischen. X Der dritte Teil des Bandes umfasst Beiträge, in denen Übersetzungen als Korpus für sprachvergleichende Untersuchungen dienen. Laura Sergo analysiert anhand politischer Zeitungskommentare aus Le monde diplomatique die Distributionen und Instruktionen der Reformulierungsmarker en fait, de fait und en réalité und stellt diese kontrastiv den italienischen (Teil-) Äquivalenten der Marker in italienischen Übersetzungen der Kommentare gegenüber. Zunächst arbeitet sie die semantischen und pragmatischen Merkmale der französischen und (teil-)äquivalenten italienischen Reformulierungsmarker heraus, bevor sie am Beispiel ausgewählter Übersetzungen aus dem Französischen ins Italienische diskutiert, wie die Marker in der Übersetzung wiedergegeben werden, inwieweit sich auch professionelle Übersetzer von den morphologischen Ähnlichkeiten zwischen beiden Sprachen beeinflussen lassen und welche Konsequenzen sich daraus auf pragmatischer Ebene ergeben. Um den Ausdruck von Kausalität im Deutschen, Ladinischen und Italienischen geht es im Beitrag von Heidi Siller-Runggaldier. Basierend auf Kausalfeldtypen arbeitet die Autorin Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den genannten Sprachen in Bezug auf Markierung und Perspektivierung sprachlicher Kausalität heraus. Ausgehend von einem ersten Verständnis sprachlicher Kausalität als URSACHE-WIRKUNG-Zusammenhang zeichnet sie wichtige Gedanken bei der Unterscheidung zwischen faktischer und inferentieller Kausalität nach und vertritt die Meinung, dass kausale Relationen letztlich kognitiver Art seien. Nach einem Überblick über unterschiedliche Konzeptualisierungsvarianten kausaler Relationen stellt die Autorin verschiedene Kausalfeldelemente vor, um anschließend die sich aus diesen zusammensetzenden kausalen Typen zu beschreiben. Am Beispiel der deutschen, ladinischen und italienischen Übersetzung eines Gleichnisses aus dem Matthäusevangelium werden abschließend Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen den drei Sprachen hinsichtlich der Markierung kausaler Zusammenhänge überprüft und im Hinblick auf die Textrezeption betrachtet. Eva Lavric nimmt in ihrem Beitrag eine kontrastive semantische Beschreibung von singularischen Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung - Totalisierern und Indefinita vor. Die Untergruppe der singularischen Determinanten mit Mehrzahlbedeutung eigne sich besonders gut, um aufzuzeigen, dass die semantische Opposition zwischen Singular und Plural von der entsprechenden morphologischen Opposition zu unterscheiden sei. Im Rahmen des Beitrags werden die jeweiligen Formen der beiden Gruppen auf der Grundlage von Übersetzungsvergleichen und Kommutationsproben analysiert und mit anderen Formen aus den glei- XI chen semantischen Feldern in Opposition gesetzt. Auf der Grundlage eines selbst entwickelten Referenzmodells grenzt die Autorin dabei zunächst Definitheit und Indefinitheit voneinander ab und geht ausführlich auf die Dimensionen ‘Distribution‘, ‘Zugriff‘, ‘Anzahl‘ und ‘Beliebigkeit‘ für die Kategorisierung von singularischen Determinanten ein. Werner Forner analysiert in seinem Beitrag, welchen semanto-syntaktischen Regeln die Biprädikation im Deutschen folgt und welche Übersetzungsmöglichkeiten sich dafür in den romanischen Sprachen bieten. Als Analysegrundlage dienen ihm der Roman Das Parfum von Patrick Süskind (1985) sowie dessen französische, italienische, portugiesische und spanische Übersetzung. Zunächst geht der Autor auf verschiedene Modalitäten der Biprädikation im Deutschen ein und bespricht unterschiedliche Relationen zwischen Resultat- und Modusprädikat, da sich diese unmittelbar auf den Übersetzungsprozess auswirkten. Anschließend diskutiert er, inwieweit die Biprädikation an morphologische Besonderheiten des Verbs gebunden ist, und arbeitet darauf basierend zwei Arten von Biprädikation heraus, die mit syntaktischen Parametern zusammenzuhängen scheinen. Weitere zentrale Themen sind erweiterte Valenzen, Richtungsangaben als Zweitprädikat sowie starke und schwache Resultativkonstruktionen, wobei die Übersetzung der genannten Phänomene in die romanischen Sprachen und die Abwägungsprozesse, denen sich die Übersetzer in diesen Fällen stellen müssen, aufschlussreiche Erkenntnisse liefern. Romanische Verbalkomplexe mit zwei bzw. drei Verbformen stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Reinhard Kiesler († 09.09.2015). Der Autor untersucht darin kontrastiv, welche Typen von Verbalkomplexen im Französischen, Italienischen und Spanischen möglich sind und welche deutschen Äquivalente für deren Wiedergabe zur Verfügung stehen. Dabei unterscheidet er zwischen insgesamt 34 Typen, die er in Abhängigkeit von den die Verbalkomplexe konstituierenden Komponenten in fünf Hauptgruppen unterteilt. Auf der Basis eines Korpus, bestehend aus drei Texten mit Französisch als Ausgangssprache (zwei Asterix-Bänden sowie Auszügen aus den Memoiren von Simone de Beauvoir) und einem spanischsprachigen Ausgangstext (dem Roman El Jarama), analysiert der Autor anschließend, wie die ausgangssprachlichen Verbalkomplexe in französischen, spanischen, italienischen oder deutschen Übersetzungen wiedergegeben werden, und gibt diesbezüglich Häufigkeitsverteilungen an. Dabei weist der Autor bezüglich des Problems der Übersetzungsäquivalenz darauf hin, dass bei der Übersetzung von Verbalkomplexen trotz XII denotativem Bedeutungserhalt entscheidende Nuancen verloren gehen können. Den Abschluss dieses Teils bildet der Beitrag von Holger Wochele, in dem der Autor am Beispiel der Übersetzbarkeit von Eigennamen der Frage nachgeht, wie Exonyme in ausgewählten deutschen, französischen, italienischen und spanischen schriftsprachlichen Kontexten verwendet werden. Dabei stellte der deutsche Exonymengebrauch für Mittel- und Osteuropa den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen dar, ergänzt um „konfliktive“ Gebiete aus dem Bereich der romanischen Sprachen. Im theoretischen Teil seines Beitrags arbeitet der Autor zunächst divergierende Auffassungen bezüglich der (Un-)Übersetzbarkeit von Eigennamen heraus und diskutiert die Vor- und Nachteile der Verwendung von Endonymen und Exonymen. Im Anschluss daran analysiert er institutionelle Webauftritte, Enzyklopädien und ein pressesprachliches Korpus in Bezug auf den Gebrauch von Endo- und Exonymen und diskutiert die Ergebnisse eines Akzeptanztests in Bezug auf den Endonymengebrauch in französisch- und italienischsprachigen Kontexten, woraus sich interessante Erkenntnisse ableiten lassen. Im letzten Teil dieses Bandes werden die Potentiale der Übersetzung für den Fremdsprachenunterricht erörtert. Zunächst spricht sich Javier García Albero für eine systematische und progressive Einbeziehung von Sprichwörtern und deren Übersetzungen in den spanischen Fremdsprachenunterricht (ELE) aus. Während die Arbeit mit Übersetzungen und Sprichwörtern lange Zeit kaum bis gar keine Berücksichtigung im Fremdsprachenunterricht gefunden habe, erhielten mit der Einführung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) sowohl die Übersetzung (in Form der Mediation) als auch Volksweisheiten wieder Eingang in die Sprachenlehre. Nach der Betrachtung einiger Vorteile in Bezug auf die Arbeit mit Sprichwörtern diskutiert der Autor anhand konkreter Beispiele verschiedene Techniken für deren Übersetzung. Indem er diese auf die unterschiedlichen Niveaustufen des GeR überträgt, entwickelt er anschließend ein Modell zur Integration von Sprichwörtern und deren Übersetzung in den Fremdsprachenunterricht. Den Abschluss dieses Bandes bildet der Beitrag von Aline Willems mit einer Erörterung der Frage, wie das Thema Höflichkeit inhaltlich und methodisch in den Spanischunterricht integriert werden kann. Diese Notwendigkeit ergibt sich, der Autorin zufolge, aus der Tatsache, dass zwar (Schlüssel-)Kompetenzen in den PISA-Studien sowie im Rahmen des DeSeCo-Projekts erarbeitet worden seien und dass mit dem GeR und den darauf basierenden Rahmenlehrplänen Kompetenzbeschreibungen vorlä- XIII gen, diese jedoch inhaltlich und methodisch nicht ausgeformt seien. Dem genannten Zielvorhaben nähert sich die Autorin interdisziplinär: Nach einer Auseinandersetzung mit zentralen Konzepten der linguistischen Höflichkeitsforschung und der Herausarbeitung eines sprachspezifischen Vergleichs zwischen deutschen und spanischen Höflichkeitskonventionen untersucht die Autorin die Bände 1 bis 5 des Lehrwerks ¡Apúntate! in Bezug auf die Einbeziehung sprachspezifischer Höflichkeitskonventionen und präsentiert anschließend einige Integrations- und Vertiefungsmöglichkeiten des Themas für den Spanischunterricht. Sie fordert insbesondere eine „gelenkte Bewusstmachung“ von Höflichkeitskonventionen, um langfristig im Sinne einer interkulturellen Kompetenz Selbstreflexionsprozesse sowie Fremdverstehen zu fördern und critical incidents zu minimieren. Wir hoffen, dass der vorliegende Sammelband zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Thema Sprachvergleich und Übersetzung anregt, dessen Relevanz, Aktualität und interdisziplinäre Verflechtungen in den unterschiedlichen Beiträgen zum Ausdruck kommen. Die Diskussion aktueller linguistischer Forschungsthemen ist seit dem ersten Romanistischen Kolloquium im WS 1984/ 85 erklärtes Ziel der Organisatoren und soll in dieser Form auch fortgeführt werden. Die bisherigen Organisatoren und Herausgeber der Kolloquiumsbeiträge werden ihre Aufgabe allerdings aus Altersgründen in den nächsten Jahren nach und nach in die Hände eines jüngeren Teams legen. So ist zum XXIX. Romanistischen Kolloquium Christina Ossenkop hinzugestoßen, die gemeinsam mit den sechs bewährten Herausgebern den vorliegenden Sammelband verantwortet. Für die Mithilfe bei der Organisation und Durchführung des XXIX. Romanistischen Kolloquiums danken wir Alexandra Degenhardt, Julia Hölscher und Anne Klenzendorf. Unser besonderer Dank gilt Rabea Fröhlich, in deren Händen, unterstützt durch Julia Grote und Franziska Schepers, die Herstellung der Druckvorlage lag, sowie Frau Kathrin Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag für die verlegerische Betreuung. Die Herausgeberin und Herausgeber die I. Die Übersetzung als Gegenstand translatorischer und linguistischer Untersuchungen Carsten Sinner Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 1 Einleitung In der Übersetzungswissenschaft war verstärkt seit den 1980er Jahren eine zunehmende Abkehr von sprachwissenschaftlichen Herangehensweisen und Methoden zu beobachten, und nun wird wieder vermehrt nach Herangehen aus linguistischer Perspektive verlangt (cf. Sinner/ Hernández Socas/ Hernández Arocha 2014 und House 2013). In der Sprachwissenschaft dagegen ist eine Sache unverändert geblieben: Die Berücksichtigung translationswissenschaftlicher Erkenntnisse ist praktisch immer noch die Ausnahme. 1 Bei Sprachvergleichen auf der Grundlage von Übersetzungsvergleichen wird in der Regel nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt, dass Übersetzung tendenziell die Übernahme von ausgangssprachlichen Strukturen befördert oder aber, als Ergebnis des bewussten Gegensteuerns gegen diese Übernahme, die Vermeidung von bestimmten Strukturen zur Folge haben kann. Der Umstand, dass übersetzte Texte gewissermaßen als eigene Varietät bzw. Varietäten neben von Muttersprachler_innen verfassten Texten anzusehen sind, wird in der Sprachwissenschaft nach wie vor nicht als methodologisches Problem angesehen. Der Beitrag setzt sich mit diesem grundsätzlichen methodologischen Problem auseinander. Anhand einschlägiger Beispiele soll aufgezeigt werden, dass Sprachvergleich aufgrund von Übersetzungsvergleichen in der Regel nur als sinnvoll anzusehen ist, wenn gleichzeitig ein Vergleich der Rezeption von Ausgangs- und Zieltext durch Muttersprachler_innen der jeweiligen Sprachen und ein Vergleich von Übersetzungen mit von Muttersprachler_innen der Zielsprache verfassten Texten der gleichen Textsorte und zum gleichen Thema vorgenommen wird. Nach der Aus einandersetzung mit dem Verhältnis von Sprach- und Übersetzungswissen- 1 Das gilt auch für nahestehende Disziplinen, derzeit etwa die Fremdsprachendidaktik, wo im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Sprachmittlung die Erkenntnisse der Translationswissenschaft wenn überhaupt nur teilweise rezipiert und praktisch durchgängig auf Grundlage überholter Positionen beurteilt wurden (cf. Sinner/ Wieland 2013). - Carsten Sinner 4 schaft bzw. mit der Nutzung von Übersetzungen und Übersetzungsvergleichen als Grundlage linguistischer Studien (cf. Kapitel 2) folgt eine Annäherung an übersetzte Texte als eigenständige Varietäten von Sprachen (cf. Kapitel 3). Anschließend wird die Anwendung von Übersetzungen und Übersetzungsvergleichen und sprachwissenschaftlichen Arbeiten anhand von mehreren besonders aussagekräftigen Phänomenen untersucht und kritisch diskutiert (cf. Kapitel 4), bevor dann abschließend eine kritische Einschätzung gegeben wird. 2 Übersetzungen als Analysematerial in der Sprachwissenschaft und Übersetzungsvergleich als linguistische Methode im Sprachvergleich In diesem Rahmen ist es nicht möglich, eine vollständige Zusammenschau der Einschätzungen der Validität von sprachwissenschaftlichen Analysen auf der Grundlage von Übersetzungen oder einen Überblick über die Positionen zur Adäquatheit von Übersetzungsvergleichen als linguistische Methode im Sprachvergleich zu geben. Auf Grundlage eines in vielen Studien betrachteten Teilbereichs - Ausdruck von Modalität, der Gebrauch von Abtönungsbzw. Modalpartikeln usw. - sollen jedoch die wesentlichen Positionen hinsichtlich der Rolle bzw. Eignung von Übersetzungen als Analysematerial illustriert werden. Sieht man einmal ab von den Arbeiten, die schlicht gar nichts zur Frage nach der Adäquatheit von Sprachvergleichen auf Grundlage von Übersetzungsvergleichen sagen - was wohl die Haupttendenz in derartigen Studien ist -, lassen sich mit einer solch begrenzten Sparte tatsächlich die wesentlichen explizit gemachten Perspektiven sehr gut illustrieren. Einerseits die durchweg positive Sicht: Universale nähesprachliche Merkmale schlagen sich also nicht nur in einzelsprachlich ähnlichen, sondern auch unterschiedlichen formalen Strukturen nieder, auch wenn es sich um Sprachen einer Sprachfamilie handelt. Diese Erkenntnis bestätigt sich des weiteren in der Tatsache, dass die einzelsprachliche formale Strukturierung des Funktionsbereichs ’Abtönung’ an sich, also nicht nur bezogen auf die Partikeln, bei einer zugrundegelegten gleichen kommunikativ-funktionalen Struktur sehr unterschiedlich ausfällt. Am deutlichsten wird dies wohl anhand eines Übersetzungsvergleichs. Die sprachmaterielle Grundlage bildet die Übersetzung des Fallada’schen Romans Kleiner Mann - was nun? ins Spanische (a = spanische und b = kubanische Variante) und teilweise auch ins Katalanische (c) (Knauer 1993: 92). Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 5 Andererseits finden wir die grundsätzlich positive, aber hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen doch abwägende Sicht: Der Übersetzungsvergleich, d.h. der Vergleich professioneller Translate, ist sowohl für die K[ontrastive]L[inguistik] als auch für die Übersetzungswissenschaft ein wertvolles Instrument der Erkenntnisfindung; vor verallgemeinernden Schlussfolgerungen aus Übersetzungsvergleichen ist jedoch Vorsicht geboten, da Texte - wie bereits erwähnt - durch „einmalige Situationsmerkmale“ (Sternemann 1983: 82) charakterisiert sind und da die Gefahr möglicher Interferenzen durch den Ausgangstext besteht. Eine andere wichtige Methode bei der Suche nach Übersetzungsäquivalenzen, bei der das Auftreten von Interferenzen ausgeschlossen ist, bildet die Ermittlung äquivalenter Textsegmente in Paralleltexten, d.h. in zielsprachlichen Texten mit einer dem Ausgangstext vergleichbaren Funktion, die jedoch keine Translate darstellen (Beerboom 1992: 96). Die Autorin ist sich zwar der Existenz von Grenzen der Methode des Übersetzungsvergleiches bewusst, weist aber auch darauf hin, dass er eine sehr effektive Methode zur Gewinnung bzw. Ermittlung äquivalenter sprachlicher Einheiten sei, wobei mit äquivalent hier das Auftreten im selben Kontext und mit derselben Funktion gemeint ist: Bei einer kontrastiven Untersuchung ist die Notwendigkeit eines Korpus m.E. noch dringlicher als bei einzelsprachlichen Analysen, da nicht für beide zu kontrastierenden Sprachen auf eine muttersprachliche Intuition zurückgegriffen werden kann und da ein Korpus aus Übersetzungsbeispielen der erfolgversprechendste Weg ist, um äquivalente sprachliche Einheiten zu ermitteln. Es ist jedoch nicht zu leugnen, dass die Methode des Übersetzungsvergleichs ihre Grenzen hat [...]. Gewisse subjektive Faktoren wie z.B. die Kompetenz und regionale Herkunft des Übersetzers, eine Beeinflussung durch den Ausgangstext oder persönliche Präferenzen für bestimmte Übersetzungsverfahren sind nicht ganz auszuschalten und relativieren das Ergebnis. Darüber hinaus ist gerade bei einem so schwierigen Phänomen wie den deutschen M[odal]P[artikel]n zu erwarten, dass es zu Fehlübersetzungen kommt. Selbst wenn das Korpus nur optimale Übersetzungen enthielte, wäre zu vermuten, dass diese nur einen Teil des theoretisch Möglichen darstellen (vgl. Albrecht 1973: 75). Schließlich erhebt sich stets die Frage, ob das untersuchte Material quantitativ und qualitativ als repräsentativ gelten kann. Aufgrund dieser Einschränkungen sind die Ergebnisse des Übersetzungsvergleichs nur bedingt aussagekräftig, aber durch ihren heuristischen Wert als Ausgangsbasis dennoch unverzichtbar. Die Nachteile dieser Methode lassen sich durch weitere komplementäre Untersuchungen, anhand derer die Ergebnisse des Übersetzungsvergleichs überprüft werden, weitgehend kompensieren. Deshalb soll in dieser Arbeit der nächste Schritt darin bestehen, die ermittelten spanischen Entsprechungen einzelsprachlich, d.h. unabhängig vom Deutschen zu analysieren. Da- Carsten Sinner 6 zu werden Grammatiken, Wörterbücher und Werke zur spanischen Umgangssprache herangezogen und Gesprächsaufzeichnungen daraufhin untersucht, wie die potentiellen Entsprechungen deutscher M[odal]P[artikel]n dort verwendet werden (Beerboom 1992: 113-114). Die Aussage, dass es nicht möglich sei, auf muttersprachliche Kompetenz zurückzugreifen, verstehe ich als Eingeständnis, dass eine Rezeptionsanalyse mit Muttersprachler_innen als zu aufwändig angesehen wird - möglich wäre sie aber. Der Hinweis auf subjektive Faktoren ist natürlich wichtig; neben der Kompetenz und der regionalen Herkunft, die auch in Originaltexten eine Rolle spielen können, werden aber mit dem Hinweis auf Beeinflussung durch den Ausgangstext und persönliche Präferenzen Probleme erwähnt, die nicht etwa, wie hier zu milde gesagt wird, „nicht ganz auszuschalten“ sind und das Ergebnis „relativieren“ können, sondern die in der Tat überhaupt nicht auszuschalten sind und das Ergebnis grundsätzlich relativieren müssen. Die Erwähnung der nur bedingten Aussagekraft - beispielsweise aufgrund von Fehlübersetzungen - macht die Autorin zu einer Ausnahme: In der Mehrzahl der Studien wird dieser Aspekt geflissentlich übergangen. Aber den heuristischen Wert, also den ‘Wert für das Auffinden von Erkenntnissen auf methodischem Weg‘, und den Glauben an die Unverzichtbarkeit, den Beerboom hier vertritt, möchte ich grundsätzlich abschwächen, denn genauso wie der Blick auf Übersetzungen möglicherweise die Aufmerksamkeit auf wirklich interessante Aspekte lenkt, wird zugleich immer wieder auch der Blick auf das Falsche gelenkt oder gar von den wirklich relevanten Aspekten ganz abgelenkt. Wie Beerboom auf die Möglichkeit der weitgehenden Kompensation kommt, wird nicht deutlich, denn weitgehend hieße hier ja eigentlich, dass diese Kompensation quantifizierbar, also messbar sei und entsprechend der Anteil der zutreffenden Werte bzw. Aussagen, die mithilfe dieser Methode ermittelt worden sind, durch quantitative Studien überprüft worden wäre. Wie hoch die Abweichung und wie hoch die Toleranz für Abweichung ist, wird aber nicht erläutert, sodass hier die Vagheit der Darstellung eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit den Aussagen der Autorin verhindert. Der Hinweis auf die Überprüfung derjenigen Elemente, die in den Übersetzungen als Äquivalente der deutschen Modalpartikeln bestimmt wurden, durch eine Analyse zielsprachlicher muttersprachlicher Texte offenbart m.E. ein wesentliches Problem dieses gestaffelten Vorgehens (also Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 7 Übersetzungsvergleich und dann einzelsprachliche Analyse von Originaltexten): Elemente, die in den Übersetzungen nicht erscheinen, werden nicht in Betracht gezogen. Es wird also nicht untersucht, wie das Spanische das ausdrückt, was im Deutschen durch Modalpartikeln ausgedrückt wird, sondern ob die in Übersetzungen verwendeten Elemente tatsächlich zum Ausdruck von dem gebraucht werden, was die Modalpartikeln aussagen oder an einer Aussage verändern. Damit fallen also alle möglichen Strukturen heraus, welche die Übersetzer_innen, aus welchen Gründen auch immer, im Spanischen nicht verwendet haben, auch wenn es Elemente sind, die von ihrer Funktion bzw. Wirkung her vielleicht genau dem entsprechen, was die Modalpartikeln ausdrücken. Die Frage ist also: Sind Übersetzungen in quantitativer und qualitativer Hinsicht wie Originale, oder besser gesagt, sind gute Übersetzungen in quantitativer und qualitativer Hinsicht wie Originale, findet man in Übersetzungen also z.B. dieselbe Breite an Ausdrucksformen wie in Originalen? Ein Blick in die übersetzungswissenschaftliche Literatur zeigt, dass dies nicht so sein muss (s.u.). Schließlich gibt es die - in einschlägigen Studien allerdings offenbar seltene - Überzeugung, dass Übersetzungsvergleiche nicht immer wirklich ideal sind. Fabricius-Hansen, die dem Gebrauch von Übersetzungen überhaupt nicht grundsätzlich abgeneigt ist, weil sie für die Analyse von Übersetzungsrelationen nützlich sein können, schreibt in einem Beitrag zum Gebrauch von Korpora von Paralleltexten: Übersetzungskorpora ermöglichen die Herausarbeitung von Übersetzungskorrelationen zwischen ausgangs- und zielsprachlichen Einheiten auf unterschiedlichen Ebenen (Lexikon, syntaktische Strukturen, Stilmerkmale, Textstruktur), allerdings in Abhängigkeit von dem Grad ihrer technischen Aufbereitung. [...] (Fabricius-Hansen 2004: 324). Die Autorin relativiert diese Aussage jedoch: Der Sprachgebrauch in Übersetzungen kann mehr oder weniger stark vom Ausgangstext beeinflusst sein. Ferner weisen Übersetzungen an sich, unabhängig von der jeweiligen Ausgangs- und Zielsprache, mögliche gemeinsame Stilzüge auf. Um solche Einflussfaktoren (sog. ‘translationese’) auszuschalten, müssen auf reinen Übersetzungskorpora basierende Untersuchungen, sofern sie nicht nur Übersetzungsmöglichkeiten und deren Bedingungen, sondern auch sprachliche Präferenzen abdecken wollen, ergänzt und eventuell korrigiert werden durch die Einbeziehung zielsprachlicher Originaltexte; nur Originaltexte können als Zeugen faktischer Tendenzen und Normen des Sprachgebrauchs gelten (Fabricius-Hansen 2004: 324). Carsten Sinner 8 Auch sie erwähnt also die Interferenzen, zudem aber auch unabhängig von ihnen zu findende Charakteristika von Übersetzungen. Das erwähnte translationese ist natürlich kein Faktor, der die Übersetzung beeinflusst, sondern eine Denomination für die Gesamtheit an Elementen, die eine Übersetzung als solche identifizierbar machen; aus meiner Sicht handelt es sich genau betrachtet um eine varietätenlinguistische Klassifikation übersetzter Texte. In einer einschlägigen Studie zu Modalpartikeln schließlich stellt Waltereit bezüglich des Übersetzungsvergleiches in Studien zu Modalpartikeln im Deutschen und zu der ihnen entsprechenden Abtönung in romanischen Sprachen fest, dass diese oft auf Grundlage literarischer Werke im Deutschen und ihrer romanischen Übersetzungen verglichen worden seien: Modalpartikeln wie ja, doch, eigentlich, halt usw. gelten seit langem als ein Spezifikum des Deutschen bzw. der festlandgermanischen Sprachen. Romanische Sprachen haben solche Modalpartikeln nicht. In der Forschung ist aber immer davon ausgegangen worden, dass der semantische und pragmatische Effekt der deutschen Partikeln - Abtönung - in den romanischen (und anderen) Sprachen durch andere Formtypen verschiedenster Art erreicht wird: [...]. Um dies zu belegen und um überhaupt diese Mittel herauszufinden, sind oft literarische deutsche Werke mit ihren romanischen Übersetzungen verglichen worden. Mit diesem Verfahren kann aber immer nur die Intuition und das Wissen des Übersetzers rekonstruiert werden. Einen Schritt weiter scheint mir die Frage zu gehen, warum die vom Übersetzer gewählten Formen in den romanischen Sprachen den gleichen Effekt hervorbringen können wie die deutschen Partikeln. Hierfür ist zunächst ein theoretisch-pragmatisches (vom Ausdruck unabhängiges) Kriterium dafür nötig, was Abtönung ist. Dies zu erarbeiten wird in dieser Arbeit unternommen. Gleichzeitig wird gezeigt, dass die deutschen Modalpartikeln mit ihren Äquivalenten anderer Sprachen nicht nur funktional, sondern auch formal etwas gemeinsam haben: sie entstehen diachron durch einen sehr spezifischen Sprachwandelkanal [...]. Die gewählte Perspektive bedingt also, dass auf Übersetzungsvergleiche verzichtet wird (Waltereit 2006: ix). Obwohl er davon überzeugt ist, dass mit Übersetzungsvergleichen „immer nur Intuition und das Wissen des Übersetzers“ rekonstruiert werden, rechtfertigt der Autor sein Vorgehen - Analyse ohne Übersetzungsvergleich - zusätzlich mit der von ihm gewählten Perspektive; es kann also doch herausgelesen werden, dass Übersetzungsvergleiche in anderen Ansätzen möglicherweise legitim sind. Waltereit versteht Übersetzungsvergleiche als Heuristik für Abtönungsformen: Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 9 1.4.2 Übersetzungsvergleiche als Heuristik für Abtönungsformen Die in 1.4.1 [...] aufgelisteten Abtönungsformen sind sehr unterschiedlicher Natur. Sie bilden kein formales Paradigma und scheinen wenig miteinander zu tun zu haben. Es stellt sich daher die Frage, wie man nicht-partikelartige Abtönungsformen überhaupt herausfinden kann. Die Forschung hat sich hier im Allgemeinen auf Übersetzungsvergleiche gestützt. In Übersetzungen deutscher (speziell epischer) Texte in andere Sprachen ohne Modalpartikeln wurde geprüft, wie der Übersetzer das Problem gelöst hat, den durch die deutsche Modalpartikel produzierten Effekt in der Zielsprache wiederzugeben. Linguistische Arbeiten in dieser Tradition sind z.B. für das Sprachenpaar Deutsch- Französisch Feyrer 1998, für Deutsch-Italienisch Helling 1983 und Masi 1996, für Deutsch-Spanisch Beerboom 1992, Prüfer 1995, Cárdenes Melian 1998 und Ferrer Mora 1999 (Waltereit 2006: 14). Tatsächlich wurde in diesen Studien jedoch praktisch durchweg nur untersucht, welche Formen in den Übersetzungen gewählt wurden, aber nicht empirisch überprüft, ob die Wirkung der gewählten Übersetzungen tatsächlich durchgehend der Wirkung der deutschen Modalpartikeln entspricht. 2 Der (wie oben gezeigt) von Beerboom (1992) als unmöglich angesehene Rückgriff auf muttersprachliche Kompetenz für beide Sprachen wäre für die Ermittlung der Wirkung durch Berücksichtigung der Kompetenz von Informant_innen beider verglichenen Sprachen durchaus machbar, wenngleich eine solche Rezeptionsanalyse, wenn man sich nicht auf eine stichprobenartige, allenfalls stützende Studie beschränkt, natürlich durchaus aufwändig sein kann. Bei übersetzungsbasierten Sprachvergleichen ist also zu ermitteln, ob die Übersetzungen jeweils überhaupt dieselbe Wirkung haben wie die Originale. Die Rolle der Rezipient_innen der Texte wird bis heute in der Übersetzungswissenschaft und auch in der Übersetzungspraxis viel zu wenig berücksichtigt. Dies wird deutlich, wenn 2 Cárdenes Melian (1998) befragt zwar vier zweisprachig aufgewachsene Personen sowie vier deutsche und vier spanische Muttersprachler_innen mit sehr guten Kenntnissen der jeweils anderen Sprache zur Adäquatheit der Übersetzungen, eine Wirkungsanalyse nimmt auch er nicht vor. Helling (1983) erwähnt zwar, für die Sammlung des Materials seien unter anderem „gezielte Befragungen von italienischen Informanten“ (1983: 11) vorgenommen worden, darauf wird jedoch später nicht weiter eingegangen und eine Perzeptionsstudie wurde offensichtlich nicht vorgenommen. Masi (1996) erwähnt zwar die Befragung von Muttersprachler_innen, um zu vermeiden, „daß der Übersetzer zu sehr von der Präsenz der M[odal]P[artikel]n im Ausgangstext beeinflußt wird und unbedingt eine direkte italienische Wiedergabe sucht“ (1996: 55), sie räumt aber ein, dass „[d]ie Befragung der Informanten [...] nicht systematisch vorgenommen [wurde], sondern nur in besonders interessanten Fällen“ (1996: 55). Auch hier handelt es sich also nicht um eine Perzeptionsstudie. Carsten Sinner 10 man die Debatten um die Bewertung von Übersetzungsleistungen bzw. die Einschätzung der Qualität übersetzter Texte betrachtet. Wirkungsanalysen bzw. Rezeptionsstudien sind aus translationswissenschaftlicher Perspektive noch immer ein Desiderat (Sinner/ Morales Tejada 2015). 3 Forderungen nach solchen Wirkungsanalysen finden sich in den Publikationen der Vertreter der Leipziger Schule, wenn sie wie etwa Neubert (1968 die Berücksichtigung der Wirkung auf die Empfänger bzw. die Rezeption als wesentlich ansahen (cf. Jung/ Sinner/ Batista 2013: 9). Zusätzlich zu einem Vergleich von Ausgangs- und Zieltext (oder auch stattdessen) ist ein Vergleich der Wirkung des Originals mit der Wirkung der Übersetzung für eine Bewertung einer Übersetzung hinsichtlich ihrer „Gelungenheit“ eigentlich unabdingbar. Das Problem ist, dass die Einschätzung der Wirkung in erster Linie ein Sprecherurteil ist. Genau wie die Einschätzung von nicht nur „objektiv“ feststellbaren, als „eindeutig“ geltenden Fehlern hängt auch die Bestimmung der Wirkung von der Beurteilung durch die bewertende Person ab. Bei einer über die Bestimmung von Fehlern hinausgehenden Einschätzung von Übersetzungen, etwa hinsichtlich ihrer Natürlichkeit bzw. Authentizität - und somit der Einschätzung ihrer Qualität bezüglich ihrer Wirkung - ist genau wie bei 3 Die Berücksichtigung gewissermaßen empirisch ermittelter Wirkung spielt implizit aber bereits eine bedeutende Rolle, wenn z.B. im interkulturell-kontrastiven Fachtextvergleich, einem wichtigen Forschungsbereich der Übersetzungswissenschaft, auf Erkenntnisse der Prototypensemantik verwiesen wird, die letztlich auf die Frage der generalisierbaren Wirkung bzw. Perzeption abzielt. Göpferich/ Schmitt (1996: 373-374) illustrieren die Existenz prototypischer Begriffe im technischen Bereich: „So sind z.B. die Benennungen dt. Hammer und engl. hammer insofern denotativ identisch, als die Begriffe in beiden Sprachen dieselben Merkmale haben - in beiden Fällen handelt es sich um Oberbegriffe (Hyperonyme) für Schlagwerkzeuge, bestehend aus Hammerstiel und Hammerkopf. Unterbegriffe (Hyponyme) zu ’Hammer’ bzw. ’hammer’ sind u.a. ’Schlosserhammer’, ’Klauenhammer’, ’Fäustel’, ’Schonhammer’ bzw. ’ball-peen hammer’, ’cross-peen hammer’, ’claw hammer’, ’drilling hammer’ und ’soft-face hammer’ [...]. Wenn man im Deutschen Hammer sagt, denkt man indessen normalerweise nicht an ’Hammer’ als Oberbegriff für ein ganzes Spektrum verschiedenster Hammerarten, sondern an einen bestimmten Hammertyp, nämlich den Schlosserhammer (das ist der ’prototypische Hammer’ im Deutschen). Im englischen Sprachraum ist dieser Hammertyp relativ unüblich: der ’prototypische Hammer’ im britischen/ amerikanischen Haushalt ist der claw hammer, in Autowerkstätten ist es der ball-peen hammer oder (seltener) der cross-peen hammer“. Neben dem Oberbegriff ist für Hammer im Deutschen als erste Bedeutung Hammer 1 ’Schlosserhammer‘, für hammer im Englischen hammer 1 ’claw hammer‘ anzusetzen, womit bei der Übersetzung die Deutung des zu verwendenden Ausdrucks durch die Durchschnittsrezipient_innen zu berücksichtigen ist - also die Wirkung auf sie. ) Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 11 Bewertungen sprachlicher Äußerungen per se fragwürdig, ob ein einzelnes Urteil überhaupt aussagekräftig sein kann: Es ist das zweifelhafte Erbe Chomskys, dass bis in die Gegenwart in Studien auf Grundlage von Übersetzungen die Autor_innen selbst immer wieder ihre eigenen (und einzigen) Informant_innen hinsichtlich der Wirkung sind. Das Vertrauen auf einzelne Sprecherurteile war schon früh einer der Hauptkritikpunkte an der Generativen Grammatik; diese erachtete sprachliche Variation als vernachlässigenswert. In überaus vereinfachender Weise wurde von einem idealen Sprecher und einem idealen - und das impliziert: variationsfreien - Sprachsystem ausgegangen (cf. Chomsky 1965). Die fehlende Berücksichtigung der diasystematischen Varietäten wurde sehr früh als Schwachpunkt von Chomskys Ansatz ausgemacht, denn die generativen Grammatiken von Einzelsprachen differenzieren weder unterschiedliche Niveaus noch berücksichtigen sie Registerunterschiede oder Unterschiede im Raum, die sich aber natürlich im Sprachgebrauch - und auch in Übersetzungen - widerspiegeln und zweifellos Konsequenz des sprachlichen Wissens bzw. der sprachlichen Kompetenz sind (Bondzio et al. 1980: 139; Martín 1988: 438; cf. Sinner 2014 passim). Klein wies schon in den 1970er Jahren darauf hin, dass die starke Homogenitätsannahme in der Generativen Grammatik genau wie die Annahme des idealen Sprecher-Hörers wesentliche und zum Teil gut erforschte Bereiche des sprachlichen Verhaltens als zweitrangig deklariert, zudem führe sie auch zu erheblichen Schwierigkeiten in der empirischen Arbeit, wie man sie z.B. symptomatisch an den stark schwankenden Urteilen über Grammatikalität, Synonymie und dergleichen sieht; in der Praxis führt dies dazu, daß jeder Linguist seinen Idiolekt beschreibt, besser gesagt das, was er dafür hält (Klein 1976: 30). Dieses Problem muss sich entsprechend auch dann stellen, wenn eine einzelne Person über die Adäquatheit einer Übersetzung urteilt bzw. darüber befindet, ob sie beispielsweise stilistisch als gelungen gelten kann. Bei Vergleichen von Original und Übersetzung wird dieses Problem darüber hinaus noch dadurch verschärft, dass eine Person sowohl über die Wirkung eines Ausgangstextes als auch über die Wirkung der Übersetzung dieses Ausgangstextes urteilt. Dies ist um so fragwürdiger, als eine Person, die beider Sprachen mächtig ist, schon aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in den meisten Kulturen weder mit durchschnittlichen Rezipient_innen des Ausgangstextes noch mit durchschnittlichen Rezipient_innen des Zietextes zu vergleichen ist. Carsten Sinner 12 Selbst die Autor_innen, die sich selbst nicht der Übersetzungsvergleiche bedienen, beziehen sich in ihren Studien, Forschungsberichten oder in der Darstellung der als bekannt anzunehmenden Aspekte mehr oder weniger alternativlos auf die Ergebnisse von Studien, in denen solche Vergleiche (auf Grundlage der eigenen Einschätzung) vorgenommen wurden. Damit perpetuieren sich Ergebnisse aus Studien, die aus translatologischer Perspektive methodologische Defekte aufweisen. Vieler dieser früheren Arbeiten sind in Zeiten entstanden, in denen man noch weniger über Mehrsprachigkeit und Interferenzen und insbesondere über Übersetzung bzw. Sprachmittlung wusste; heute aber hat man weitergehende Kenntnisse hierüber. 3 Übersetzte Texte als eigene Varietäten Von der Gabelentz verurteilte das Vertrauen auf Übersetzungen in sprachwissenschaftlichen Studien schon im 19. Jahrhundert und begründete seine Position sehr ausführlich: In der Lage des Nachahmers befinden wir uns auch der Sprache gegenüber, solange sie uns nicht zur zweiten Natur geworden ist. Nachahmung setzt Beobachtung voraus, und diese ist Sache des Grammatikers. Nun handhabt zwar ein Jeder seine Muttersprache in der Regel richtig, aber doch in einer besonderen, ihm eigenen Weise, bevorzugt unter den verschiedenen, sinnverwandten Ausdrücken (Wörtern, Formen, Redewendungen) die einen zum Nachtheile anderer, vielleicht zutreffenderer, bewegt sich lieber in kurzen als in längeren, lieber in abgerissenen als in verbundenen Sätzen, lieber in begründenden als in folgenden Gedankenreihen, macht häufigen oder auch gar keinen Gebrauch von rhetorischen Fragen u. dgl. mehr. Alles dies nenne ich seinen Stil; und in diesem Sinne rede ich auch vom Stile eines Schriftunkundigen, eines Kindes oder einer Bäuerin. Es ist derjenige Stil, von dem man sagt, er sei der Mensch. Er verhält sich zur nationalen Sprache, wie das Kleidungsstück, das einem Einzelnen auf den Leib geschneidert ist, zur nationalen Tracht, die ein solches Kleidungsstück verlangt oder erlaubt. Um im Bilde zu bleiben: die Nationaltracht verlangt, gestattet oder verpönt nicht nur gewisse Kleidungsstücke, sondern auch diesen oder jenen Schnitt, diese oder jene Farben. So sind auch der Stilfreiheit Grenzen gesetzt, Wege vorgezeichnet, jetzt durch den Geschmack, jetzt durch die Denkgewohnheiten, wohl auch durch das Verständnissvermögen des Volkes. Nicht Alles, was nach den Gesetzen und mit den Mitteln einer Sprache möglich ist, ist in ihrem Sinne gut, das heisst national, das heisst schliesslich doch richtig, auch im streng sprachlichen Sinne richtig. Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 13 Hier zeigt sich das Bedenkliche jener Übersetzungsliteratur, auf die wir so oft als einzige Quelle angewiesen sind. Da werden den Völkern aller Erdtheile und Farben in ihren Sprachen Dinge vorgetragen, die weit jenseits ihres geistigen Gesichtskreises liegen, Gedankenoperationen werden ihnen zugemuthet, an die sie nicht gewöhnt, zu denen sie vielleicht gar nicht befähigt sind. Ihre Sprache freilich giebt sich dazu her. Als man noch mit Gänsekielen schrieb, merkte man es bald, wenn Jemand eine fremde Feder führte: da pflegte die gemisshandelte zu schreien. Es giebt einen sprachwissenschaftlichen Instinct, der es schnell empfindet, wenn eine Sprache anders gehandhabt wird, als sie es gewöhnt ist. Das ist auch eine Misshandlung, und wo der Gänsekiel schreit, da zeigt dem Auge des feinsinnigen Beobachters die Sprache fratzenhafte Verzerrungen (Gabelentz 1901 [ 1 1891]: 104-105). Der deutsche Sprachwissenschaftler stellt hier der Originalliteratur in einer Sprache übersetzte Literatur bzw. Übersetzungsliteratur als eine Einheit gegenüber. So wie sich in der Übersetzungswissenschaft längst die Überzeugung durchgesetzt hat, dass es sich bei übersetzter Literatur um „ein eigenes System innerhalb des zielseitigen Polysystems“ handelt, wie Lukas (2008: 282) es im Zusammenhang mit den deutschen Übersetzungen der Werke von Adam Mickiewicz ausdrückt (und wie es die Polysystemtheorie allgemein darstellt, cf. Even-Zohar 1990), ist wohl grundsätzlich davon auszugehen, dass übersetzte Texte eine eigene Varietät einer Sprache bzw. einen eigenen Typ - kontaktbedingter - Varietäten von Sprachen darstellen können (cf. Sinner 2014: 255-256). Streng genommen wäre zwischen mindestens zwei Arten solcher Übersetzungsvarietäten zu unterscheiden: den von Muttersprachlern der Zielsprache in ihre Sprache übersetzten und den von Muttersprachlern der Ausgangssprache in die Zielsprache übersetzten Texten; eher ausnahmsweise kämen von Nichtmuttersprachlern beider Sprachen angefertigte Übersetzungen als dritter Typ der Übersetzungsvarietät dazu (Sinner 2014: 255-256). Es besteht heute kein Zweifel mehr daran, dass Übersetzen genau wie Dolmetschen einen besonderen Fall von Sprachkontakt darstellt, der an das übersetzende Individuum und seine Kompetenzen in zwei Sprachen geknüpft ist und eine mögliche Übernahme von Strukturen der Ausgangsin die Zielsprache impliziert (cf. Haßler 2001). Koller (2011: 217) postuliert für die Übersetzung: „Kennzeichnend ist ihre doppelte Bindung: die Bindung an den Ausgangstext und die Bindung an die empfängerseitigen Bedingungen und Voraussetzungen“. Diese Erkenntnis ist natürlich in der Übersetzungswissenschaft keineswegs neu. Auch in der Sprachwissenschaft finden sich vereinzelt kritische Hinweise auf das Problem der Relation der Übersetzung mit dem Original, und das in Carsten Sinner 14 Deutschland schon vor über 50 Jahren. In seiner Dissertation schreibt Bausch bereits 1963, dass der Originaltext eine Auswahl der in einer Sprachstruktur bzw. der in einem System bestehenden Möglichkeiten darbietet und dass diese Auswahl durch den Autor individuell geprägt ist. Dasselbe gelte auch für die Übersetzung eines Originaltextes, wobei aber die Übersetzungen nicht nur von der Auswahl der sprachlichen Mittel durch den Übersetzer aufgrund seiner individuellen Entscheidungen geprägt sind, sondern auch von den bei Verfassung des Ausgangstextes getroffenen Entscheidungen abhängen und durch diese mehr oder weniger stark beeinflusst werden. Entsprechend kommt Bausch zu dem Schluss, dass die Sprache einer Übersetzung „nie ganz die Sprache eines Originals“ (1963: 8) sei. Genau dieses Abhängigkeitsverhältnis der Auswahl bestimmter Strukturen erlaubt es normalerweise, eine Übersetzungsbeziehung zwischen einer Übersetzung und dem Original zu etablieren und beispielsweise auch festzustellen, ob eine Übersetzung direkt aus einem Original erfolgte oder ob eine Übersetzung in eine andere Sprache als Ausgangstext der Übersetzung diente bzw. bei der Übersetzung neben dem Original zur Orientierung zur Verfügung stand. Sonnenberg (2014) konnte dies etwa für die deutsche Übersetzung von Manuel Rivas’ O lapis do carpinteiro konstatieren: Die deutsche Übersetzerin, Elke Wehr, muss neben dem galicischen Ausgangstext definitiv auch die spanische Übersetzung herangezogen haben. Das sollte per se schon Warnung genug davor sein, bei Sprachvergleichen allein auf Übersetzungen zu vertrauen. Zunehmend setzt sich die Überlegung durch, dass die Beschaffenheit übersetzter Texte durch spezifische Aspekte charakterisiert ist (cf. hierzu etwa Hansen-Schirra 2003). Übersetzte Texte weisen in der Regel aber auch Erscheinungen auf, die nicht auf die jeweils beteiligten Sprachsysteme zurückgehen, sondern mit dem Translationsprozess und im Fall gewöhnlich stärker edierter Texte mit dem Prozess der Edition übersetzter Texte zu erklären sind: - höhere Explizitheit; - geringere Mehrdeutigkeit; - Vermeidung von Wiederholungen; - größere Standardnähe bzw. stärkere Tendenz zum Gebrauch von im Standard als grammatikalisch geltenden Strukturen; - stärkere Tendenz zum Gebrauch von als charakteristisch für die Zielsprache geltenden Strukturen (cf. Baker 1993: 243; Xiao 2010; Delae- Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 15 re/ De Sutter/ Plevoets 2012; Kruger 2012; cf. die Übersicht in Sinner 2014: 255-256). Delaere/ De Sutter/ Plevoets (2012) beispielsweise haben anhand von Messungen auf Grundlage eines Korpus von Originaltexten in belgischem Niederländisch und von ins belgische Niederländisch übersetzten Texten untersucht, ob übersetzte Sprache standardnäher ist als nichtübersetzte Sprache. Die Ergebnisse zeigen, dass es einen deutlichen Trend zur Standardisierung gibt, stärker edierte Textsorten standardnäher sind als weniger edierte Textsorten und die Unterschiede zwischen übersetzten Texten und Originaltexten von den Textsorten abhängig sind: The results of our analysis show that (i) in general, there is indeed a standardizing trend among translations and (ii) text types with a lot of editorial control (fiction, non-fiction and journalistic texts) contain more standard language than the less edited text types (administrative texts and external communication) which adds support for the idea that the differences between translated and non-translated texts are text type dependent (Delaere/ De Sutter/ Plevoets 2012: 203). Schon Baker (1993: 243) geht davon aus, dass einige Erscheinungen übersetzter Texte nicht auf die beiden jeweils betroffenen Sprachsysteme zurückgehen, sondern mit dem Translationsprozess an sich zu erklären sind. Übersetzte Texte seien expliziter, weniger mehrdeutig und besäßen eine Tendenz zum Gebrauch von Strukturen, die im Standard als grammatikalisch gelten, neigten zur Vermeidung von Wiederholungen und zum Gebrauch von Strukturen, die als charakteristisch für die Zielsprache gelten. Selbst in der Schreibung lassen sich zwischen Originaltexten und übersetzten Texten Unterschiede feststellen. Vom Standard divergierende Schreibung zur Wiedergabe von diastratischer oder diatopischer Variation ist in verschiedenen literarischen Traditionen unterschiedlich stark verankert bzw. üblich; Übersetzungen sind diesbezüglich oft konservativer als ihre Ausgangstexte bzw. als vergleichbare Originaltexte, die in dieser Sprache verfasst wurden (cf. in diesem Sinne die Beiträge in Brumme/ Espunya (eds.) (2012); cf. Brumme/ Espunya (2012: 21-22). Dank korpusbasierter Studien wie denen von Kruger (2012) zu edierten und nicht edierten Übersetzungen aus dem Afrikaans ins Englische und Originaltexten in englischer Sprache oder von Xiao (2010) zum Vergleich von chinesischen Originaltexten und chinesischen Übersetzungen gilt die Existenz von translation universals als Ergebnis des Übersetzungs- und Editionsprozesses inzwischen als gesichert. Der Nachweis solcher Universalien übersetzter Sprache lässt durchaus den Schluss zu, dass Carsten Sinner 16 Übersetzungen innerhalb einer Sprache eigene Varietäten darstellen können. Sprechen nun wie gesehen Autor_innen wie Fabricius-Hansen (2004) von der Existenz eines translationese - bei ihr aber, wohl zur Distanzierung, in Anführungszeichen - und Autor_innen wie Xiao (2010) von translation universals, so handelt es sich doch trotz aller entsprechender Tendenzen nicht um zwangsläufig auftretende Erscheinungen. Damit erscheint die Annahme derartiger Erscheinungen als Universalien nicht berechtigt, solange es sich nur um rein statistisch, mit hoher Wahrscheinlichkeit, aber nicht um zwangsläufig auftretende Erscheinungen handelt. Es kann hier von einem Kontinuum ausgegangen werden. An einem Pol dieses Kontinuums stehen übersetzte Texte, die sich Originaltexten weitestgehend annähern, die also keine oder sehr wenige auf den Übersetzungsprozess zurückgehende Erscheinungen aufweisen. Am anderen Pol stehen übersetzte Texte, die von ihrer „Wesensart“ her weit von Originalen entfernt sind, also viele auf den Übersetzungsprozess zurückgehende Erscheinungen aufweisen. Die Erscheinungen, die in übersetzten Texten mit hoher Wahrscheinlichkeit, aber nicht zwangsläufig auftreten, welche übersetzte Texte in ihrer Gesamtsicht jedoch charakterisieren, möchte ich als Translationeme bezeichnen. Dabei kann zwischen quantitativen und qualitativen Translationemen unterschieden werden bzw. zwischen syntaktischen, morphologischen, semantischen, pragmatischen usw. Translationemen. Ist man sich in der Übersetzungswissenschaft längst darüber im Klaren, dass Mehrsprachige nicht gleich gute Übersetzer_innen sind (Presas 1996: v.a. 225-232), so hat man in der Sprachwissenschaft bisher viel zu sehr auf übersetzende Mehrsprachige vertraut. Außer in Untersuchungen zur Beschreibung der Varietäten zweisprachiger Personen sind Zweisprachige aber sehr problematische Informant_innen. 4 Ebenso fragwürdig ist die Übersetzungsmethode zur Ermittlung von Informationen über die Struktur von Sprachen, etwa für typologische Untersuchungen. Dennoch werden Informant_innen noch immer Sätze vorgelegt, die sie für solche typologische Arbeiten in ihre Muttersprache übersetzen sollen. Man übersieht dabei die in der Übersetzungswissenschaft längst ermittelte Unfähigkeit von Laien, sich von der Struktur der Ausgangssprache zu lösen und nicht Wort für Wort und der Struktur der 4 Besonders folgenreich ist die fehlende Berücksichtigung solcher kontaktlinguistischer Erkenntnisse in der Dokumentation aussterbender Varietäten, cf. dazu Sinner (2014: 248). Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 17 Ausgangssprache folgend zu übersetzen, sondern einfach zu sagen, was sie selbst in einer bestimmten Situation sagen oder schreiben würden, um das auszudrücken, was ihnen vorgelegt wurde. Die dargestellten Probleme sollen nachfolgend mit einigen Beispielen genauer dargelegt werden. 4 Die Anwendung von Übersetzung und Übersetzungsvergleichen für sprachwissenschaftliche Anliegen als methodologisches Problem 4.1 Koreferenz in spanischen Übersetzungen aus dem Deutschen als Folge von Interferenz Als Beispiel zur Illustration der geringen Aussagekraft oder der Fehlleitung durch den Blick auf Übersetzungen soll zunächst das Phänomen der partiellen Koreferenz - manche Autoren sprechen auch von inklusiver Koreferenz - betrachtet werden. Als partielle Koreferenz bezeichnet man in der Sprachwissenschaft den Umstand, dass ein Nominalsyntagma im Plural einen Bestandteil beinhaltet, auf den ein anderes, im Singular stehendes Nominalsyntagma verweist. Koreferenz bedeutet also ‘Bezugnahme auf dasselbe‘. Zwei Ausdrücke in einer Äußerung, beispielsweise eine Nominalphrase und ein Pronomen, referieren auf dieselbe Entität; es handelt sich also um eine syntaktische Bindung. Syntaktisch gesehen hat die partielle Koreferenz zwei mögliche Formen, wie in den Beispielen (1) und (2) illustriert wird: (1) SINGULAR i PLURAL i+j(+…) → Ich i mache uns i+j(+…) einen Kaffee. (2) PLURAL i+j(+…) SINGULAR i → Wir i+j(+…) haben mich i angemeldet. Entsprechende Konstruktionen gelten im Spanischen mit einigen Ausnahmen (cf. Sinner 2010) als ungrammatikalisch, sind aber im Spanischen von zweisprachigen Personen, die eine germanische oder eine slawische Sprache, Französisch oder Griechisch sprechen, nachgewiesen worden bzw. werden von ihnen nicht als ungrammatikalisch zurückgewiesen. Seit 2008 habe ich jedes Jahr Studierende im vierten Studienjahr des Diplomstudiengangs Übersetzen bzw. im ersten Studienjahr des Masterstudiengangs Translatologie und seit 2010 einmal im Jahr chilenische Studierende der Universität Concepción derartige Strukturen ins Spanische übersetzen lassen, und zwar stets im Rahmen von Texten, nie isoliert. Über die Jahre hinweg habe ich auf diese Weise eine lange Reihe von Übersetzungen bekommen, in denen die deutsche Struktur genau so ins Spanische übertra- Carsten Sinner 18 gen wurde, und zwar durchgängig in jedem Jahr, in jeder Gruppe, und immer auch von Spanischmuttersprachler_innen: (3) Nos hago un café. (4) Nos preparo un café. Üblich wären Lösungen wie (5) bis (7): (5) Preparo un café. (6) Nos preparamos un café. (7) Preparo un café para nosotros. Bei Deutschmuttersprachler_innen, die Spanisch als Fremdsprache lernen, mag das nicht erstaunen, aber auch die mit Deutsch und Spanisch zweisprachig aufgewachsenen Studierenden und sogar einige Spanischmuttersprachler_innen, die Deutsch als Fremdsprache lernten, übersetzten die deutsche Koreferenz als entsprechende koreferentielle Struktur ins Spanische. In den Analysen der übersetzten Texte waren die Studierenden dann in der Regel erstaunt: Deutschmuttersprachler_innen und die meisten der Zweisprachigen fielen aus allen Wolken, weil sie nicht einmal wussten, dass diese Form der Koreferenz im Spanischen als ungrammatikalisch gilt, die einsprachigen Spanischmuttersprachler_innen hatten Erklärungsnot für ihre eigenen Übersetzungsentscheidungen. Bis auf zwei Ausnahmen in sieben Jahren, in denen Personen mit Spanisch als Muttersprache sagten, diese Struktur sei auch im Spanischen normal (was sie allen Untersuchungen zufolge definitiv nicht ist), haben alle Informant_innen angegeben, dass ihnen da wohl ein Fehler unterlaufen ist und sie wohl an der Struktur des Deutschen „geklebt“ haben. Tatsächlich findet man auch Belege für derartige Strukturen partieller Koreferenz in spanischen Übersetzungen aus diversen Sprachen, in denen die partielle Koreferenz üblich ist (cf. Sinner 2010). Das ist ein Indiz dafür, dass Texte von Zweisprachigen und Übersetzungen möglicherweise eher untauglich sind, um Aufschluss über den Sprachgebrauch durch die gesamte (vielerorts essentiell einsprachige) Gesellschaft zu bekommen. Dies soll auch das folgende Beispiel illustrieren. 4.2 Wiederholungen 4.2.1 Vermeidung von Wiederholung bei Übersetzung ins Deutsche Die Notwendigkeit der Analyse der Rezeption der Repetition im Englischen und Deutschen ist eigentlich die Vorbedingung für den Vergleich von Übersetzungen. Aus Übersetzungen aus dem Englischen etwas über Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 19 Repetition im Deutschen erfahren zu wollen, ist - aus translatologischer Sicht - für das Ziehen linguistischer Schlussfolgerungen gefährlich, wie das Beispiel der drei unterschiedlichen deutschen Übersetzungen (hier abgekürzt als ST, MO, HP) der Repetition in Achebes Things Fall Apart zeigt. Betrachten wir hierzu die Ergebnisse zur Übersetzung der von Achebe stilistisch eingesetzten Repetition bei Onken (2013: 38-39). Sie schreibt: Ein weiteres Beispiel für die Wiederholung als textgestalterisches Mittel des Romans stellt die Formulierung „the good fare and the good fellowship“ (TFA 4) dar. Es handelt sich hierbei um einen Parallelismus mit alliterativer Ausprägung. Auf inhaltlicher Ebene ist die Aussage Teil einer Beschreibung von Ereignissen, an denen der sehr musikalische Unoka Gefallen findet. Das Stilmittel unterstreicht die künstlerische und lebensfrohe Stimmung, die in der Passage vermittelt wird. Die direkte Wiederholung des Adjektives bleibt nur bei ST in seiner vollen Intensität erhalten („das gute Essen und die gute Gesellschaft“ ST 22, 23). Die Variationen bei MO („gutes Essen und lustige Gesellschaft“ MO 10) und bei HP („das gute Essen und das fröhliche Beisammensein“ HP 11) im Zuge des Spezialisierungsverfahrens [...] führt [sic] dazu, dass der Einklang von Form und Inhalt verloren geht. Der Leser rezipiert die Textstelle als einfache Aufzählung. Ähnlich verhält es sich bei den Übersetzungen von „[...] a very great man indeed. Okonkwo wanted his son to be a great farmer and a great man“ (TFA 31). Die repetitive Verwendung des Adjektivs „great“ wird bei MO und ST durch die Wiederholungen „ein großer Mann. [...] ein großer Mann und ein großer Bauer“ (MO 38; ST 51) im Deutschen aufrecht erhalten. Bei HP hingegen wird sie wahrscheinlich aufgrund der scheinbaren Simplizität und somit aus stilistischen Gründen durch die Variation „tüchtiger Mann. [...] großen Bauern und erfolgreichen Mann“ (HP 42) ersetzt. Es soll an dieser Stelle nicht untersucht werden, ob es sich bei der Wahl des deutschen Adjektivs „groß“ in den obigen Konstellationen um Interferenzen aus dem Englischen handelt. Die unterschiedlichen Übersetzungslösungen sind ausschließlich im Kontext der stilistischen Gestaltung der Erzählung relevant [...], die bei HP, wie an den obigen Beispielen deutlich wird, stark vom Original abweicht (Onken 2013: 38- 39). Bei allen Fragen der Repetitivität wäre eigentlich zu prüfen, wie üblich diese Wiederholungen in englischsprachiger Prosa sind und wie häufig sie im Deutschen in Originaltexten sind. Erst dann können über einen Übersetzungsvergleich weitere Aussagen, zum Beispiel zur sprachlichen Adäquatheit der Übersetzung im Hinblick auf die Häufigkeit von Wiederholungen, getroffen werden. Wollte man aber auf Grundlage von Übersetzungen etwas über Repetition im Deutschen erfahren, würde man je nach der analysierten Übersetzung unterschiedliche Resultate erzielen. Carsten Sinner 20 4.2.2 Vermeidung von Wiederholung bei Übersetzung aus dem Deutschen Die Wiederaufnahme von bereits eingeführten Aspekten durch wortwörtliche Wiederholung wird in einigen Sprachen aus stilistischen Gründen vermieden, was zu Gebrauch von Synonymen, Teilsynonymen oder von zumindest im jeweiligen Kontext synonymisch gebrauchten Elementen oder zum Gebrauch von Proformen usw. führt. Typisch für Texte in spanischer Sprache ist, dass in direkt aufeinanderfolgenden Teilen Wiederholung von gleichlautenden Silben (zur Vermeidung von Kakophonien) oder Wiederaufnahme von Lexemen vermieden wird. Das bedeutet aber auch, dass auch in Fachtexten eine solche Wiederaufnahme nach Möglichkeit umgangen wird, auch auf Kosten der Eindeutigkeit. Das widerspricht aus Sicht der deutschen Tradierung der Eindeutigkeit eines Textes, da man in deutschen fachsprachlichen Texten terminologische Eindeutigkeit anstrebt. Nicht nur die Terminologie ist betroffen, auch die Wiedergabe der Eigennamen usw. kann das betreffen. Findet sich in einem deutschen Vertrag eine Formulierung wie Die Niederschlesische Sparkasse Görlitz, nachfolgend die Bank, so heißt es dann danach im Text durchgehend die Bank. In spanischen Texten wäre hier der Normalfall die Vermeidung dieser Wiederholung und der Gebrauch von Synonymen, Teilsynonymen oder rein kontextuellen Synonymen: el banco, la casa de ahorro, ella, la entidad, nosotros, la empresa, el creyente usw. In Übersetzungen aus dem Deutschen finden sich immer wieder die für das Deutsche üblichen Wiederaufnahmen, die wir in spanischen Originalen nicht vorfinden, umgekehrt wird in deutschen Übersetzungen aus dem Spanischen die Variantenbreite vielfach nicht aufgelöst. Rein von der Frequenz her sind die Übersetzungen also anders, ebenso auch hinsichtlich der Eindeutigkeit. 4.3 Vorgaben für Übersetzer und für die Edition übersetzter Texte Im Zusammenhang mit der Klassifizierung von übersetzten Texten als eigene Varietäten von Sprachen wurde bereits auf das Problem der Edition übersetzter Texte hingewiesen und darauf, dass übersetzte Texte oft normnäher sind als die Ausgangstexte. Insbesondere aber gilt für viele Übersetzungen, dass die Übersetzer im Übersetzungsprozess bestimmte Anpassungen oder Eingriffe vornehmen (bzw. vornehmen müssen), weil es entsprechende Vorgaben der Auftraggeber bzw. der Verlage gibt. So gibt es beispielsweise in einigen Verlagen strikte Standards - die durch Stilvorgaben für Autor_innen, Übersetzer_innen, Lektor_innen durchgesetzt werden - zum Umgang mit (oder zur Vermeidung von) be- Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 21 stimmten kulturellen, politischen, religiösen, sexuellen Referenzen, Eigennamen, bestimmten Ausdrücken, Flüchen, Sexualwortschatz usw., die in Dialogen oder innerem Monolog zu finden sind und die fiktive Mündlichkeit ausmachen (so etwa in der Produktion von Liebesromanen in einigen deutschen Verlagen, cf. Sinner 2011, 2012). Insbesondere enthalten diese Vorgaben auch einige mitunter sehr deutliche Aussagen zum Umgang mit diversen grammatikalischen Aspekten, wie das folgende Beispiel aus den Vorgaben für Übersetzer des Hamburger CORA-Verlags zeigt: Sprachlich soll die erotische Atmosphäre unterstrichen werden. Ausdrücke wie Glied, Erektion, Orgasmus, Klimax, Gemächt, Samen, Scheide, Schamhaar, Schambein, Unterleib usw. dürfen nicht verwendet werden! Sie passen nicht in CORA-Romane und zerstören die erotische Atmosphäre! [...] Körperflüssigkeiten möglichst nicht ausdrücklich erwähnen. [...] In den erotischen Szenen ist es wichtig, dass starke Emotionen vermittelt werden, keinesfalls sollte jede sexuelle Handlung bis ins kleinste Detail und wie ein klinisches Ablaufprotokoll beschrieben werden. [...] Auch selbstständig handelnde Körperteile (z.B. „seine Hände suchten ...“, „ihre Lippen fuhren ...“) sollten auf ein Minimum reduziert werden, denn sie geben Liebesszenen immer etwas Mechanisches (CORA-Verlag 2010: s.p.). Wie der letzte Absatz - „selbstständig handelnde Körperteile [...] sollten auf ein Minimum reduziert werden“ - zeigt, wirken sich die Vorgaben auch direkt auf die grammatikalische Gestaltung des Textes aus. Die so übersetzten Texte stehen in keinem von den Leser_innen erwarteten Verhältnis zu den Originalen und erlauben auch keine Aussagen über die Ungrammatikalität oder niedrige Frequenz solcher Strukturen im Deutschen. Eine solche Schlussfolgerung wäre aber bei einem auf Grundlage dieser Texte erfolgten Übersetzungsvergleich zwangsläufig das Resultat. Es fragt sich also, ob seine Hände wanderten ihren Rücken hinunter im Deutschen wirklich weniger häufig ist als entsprechende Konstruktionen in den diversen Ausgangssprachen der CORA-Romane, und ob diese Struktur im Deutschen weniger normal ist als er bewegte seine Hand langsam an ihrem Rücken hinunter, nur weil letztere Struktur im Deutschen zumindest in CORA-Romanen überall dort auftritt, wo beispielsweise im Englischen „selbstbewegende“ Körperteile zu finden sind. Carsten Sinner 22 5 Abschließende Einschätzung Es ist bemerkenswert, dass trotz der offensichtlichen Prägung von übersetzten Texten durch die Ausgangssprachen und durch die Besonderheiten übersetzter Texte aufgrund des Übersetzungs- und Editionsprozesses immer wieder sehr unkritisch mit Übersetzungen als Grundlage für sprachwissenschaftliche Untersuchungen gearbeitet wird. Trotz aller Kritik an der Heranziehung von Übersetzungen zur Analyse von Sprachen ist z.B. Kaiser (2005: 80) der Auffassung, dass kein Zweifel daran bestehe, dass Bibelübersetzungen „eine hervorragende Grundlage für empirische Sprachwandeluntersuchungen bilden“. Gerade die Bibelübersetzung wird aber von Autoren, die sich gründlicher mit Übersetzung auseinandergesetzt haben, als Paradebeispiel für Übersetzungen angesehen, die durch die Struktur der Ausgangssprache und durch traditionell überlieferte, kanonische Übersetzungen beträchtlich beeinflusst sind. Ein Gegner der Heranziehung von Bibelübersetzungen für linguistische Studien war bereits Rodolfo Lenz, der sich vehement dagegen aussprach, allzu viel auf Schlussfolgerungen aus Übersetzungsvergleichen zu geben: I no basta, para juzgar de un idioma exótico, que se haya estudiado un poco una gramática. Mucho ménos cuando esta gramática quizá se funda solo en el análisis de unos cuantos testos traducidos de la Biblia u otros escritos relijiosos i cuando esa gramática está escrita segun un modelo de la latina, que no le cuadra en absoluto. Es preciso que el lingüista conozca la lengua en su uso vivo i natural, i que al ménos comprenda en la lectura sin mayor dificultad cualquier testo, de modo que a lo sumo le falte el sentido de ciertas palabras que se pueden buscar en el diccionario (si hay uno). Sin una posesion bastante completa del idioma no se puede apreciar ni la sintáxis ni el estilo, ni ménos el modo jeneral de pensar (Lenz 1914: 77-78). Man muss nun sicher fragen, was genau man sich auf Grundlage eines Übersetzungsvergleiches anschaut; eine pauschale Antwort auf die Aussage von Kaiser (2005) gibt es nicht. Stets muss geprüft werden, ob es in einer Studie um die Ermittlung von Aspekten geht, die etwas mit dem Prozess der Übersetzung zu tun haben, oder um die Analyse von Erscheinungen, die losgelöst davon Aussagen über die Existenz von Strukturen oder Formen in einer bestimmten Sprache erlauben. Tatsächlich kann der Gebrauch von Übersetzungen bzw. das Heranziehen von Übersetzungsvergleichen in der Linguistik sehr sinnvoll sein. Die Analyse von Übersetzungen kann in der Sprachwissenschaft unter bestimmten Prämissen gewinnbringend eingesetzt werden, etwa wenn man etwas über die Rolle von Übersetzungen für neologische Prozesse er- Sprachvergleich auf der Grundlage von Übersetzungen? 23 fahren will oder wenn man etwas über Sprachwandel aufgrund von Übersetzung erfahren möchte (cf. etwa Albrecht 2003; Koller 2 1998). So ist ohne Berücksichtigung des Entstehungsprozesses durch Übersetzung die Geschichte der spanischen Rechtsterminologie nicht nachvollziehbar. Als Resultat einiger fraglicher Übersetzungen - insbesondere aufgrund von wörtlichen Übersetzungen - aus dem Deutschen hat sich im Spanischen ein guter Teil der Terminologie im Strafrecht (Derecho Penal) herausgebildet. Bis in die 1950er Jahre gab es keine in spanischer Sprache geschriebenen Lehrwerke oder Handbücher im Gebiet Recht, sondern ausschließlich Übersetzungen solcher Werke aus dem Deutschen, was entsprechende Folgen hatte. 5 Beispiele sind etwa desvalor de la acción/ desvalor del resultado auf Grundlage von Handlungsunwert/ Erfolgsunwert; error de tipo von Tatbestandsirrtum sowie, nach dem Vorbild mit Todesfolge (etwa Körperverletzung mit Todesfolge oder Vergewaltigung mit Todesfolge), con resultado de muerte (cf. hierzu Tabares Plasencia/ Batista Rodríguez 2013). Bei der Berücksichtigung von Übersetzungen mit dem Ziel, Rückschlüsse auf eine Sprache zu ziehen, muss also grundsätzlich Vorsicht walten. Es geht dabei, kritisch gesehen, vor allem um die Frage, ob man sich von dem Zurückgreifen auf Übersetzungen lediglich erhofft, mit relativ gesehen geringerem Aufwand viele hinsichtlich ihrer Aussage und ihres Gebrauchskontextes „identische“ Realisierungen zu erfassen, oder ob es wirklich gute sachliche Gründe gibt, die für solche Analysen sprechen. Frequenzanalysen von Originalen braucht man, um die Qualität von Übersetzungen zu bestimmen. Erst ein Vergleich mit Originalen erlaubt eine Aussage über den Grad der „Einpassung“ oder „Anpassung“ einer Übersetzung an die Zielsprache. Daher muss der Versuch, auf Grundlage von Übersetzungen etwas über eine Sprache zu erfahren, oftmals fehlgeleitet erscheinen. Wenn man schon mit Übersetzungen arbeiten will, um über inhaltlich vergleichbares Material zu verfügen, so wird man wohl unbedingt mit guten Übersetzungen arbeiten wollen (obwohl auch diese, wie gezeigt, Besonderheiten aufweisen können, die nicht auf die Ausgangssprache, sondern auf den Prozess der Übersetzung oder die Edition zurückgehen). Es ist also ein Teufelskreis: Man weiß nur, ob eine Übersetzung gut ist, wenn man sie mit Originaltexten derselben Sprache vergleicht; diese Analyse bringt einen zusätzlichen Arbeitsschritt, was dem zuwiderläuft, was sich die Autor_innen durch Rückgriff auf Übersetzungsvergleiche in der Regel ja eigentlich erhoffen: weniger Arbeit. Somit beißt sich also der Fisch 5 Ich danke Encarnación Tabares Plasencia für diesen wertvollen Hinweis. Carsten Sinner 24 dann in den eigenen Schwanz, um hier zum Abschluss eine Struktur zu verwenden, die ich in einer studentischen Übersetzung aus dem Spanischen dokumentiert habe, wo man mit el pez que se muerde la cola genau dieses Bild hat, und die die Übersetzerin gebrauchte, obwohl sich im Deutschen die Katze in den eigenen Schwanz beißt (oder man eben von einem Teufelskreis spricht). Das Auftreten der Konstruktion in einer Übersetzung sagt ganz sicher weniger über das Deutsche als über das (fehlende) Sprachgefühl der angehenden Übersetzerin. Bibliographie Albrecht, Jörn (1973): Linguistik und Übersetzung, Tübingen, Niemeyer. Albrecht, Jörn (2003): „Können Diskurstraditionen auf dem Wege der Übersetzung Sprachwandel auslösen? “, in: Aschenberg Heidi/ Wilhelm, Raymund (eds.): Romanische Sprachgeschichte und Diskurstraditionen. Akten der gleichnamigen Sektion des XXVII. Deutschen Romanistentags, Tübingen, Narr, 37-53. Baker, Mona (1993): „Corpus Linguistics and Translation Studies. 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Magda Jeanrenaud La traduction de l’intraduisible 1 Reconnaître l’intentionnalité du texte à traduire… Il me semble que la traductologie, telle qu’elle s’est construite à partir des années ’70 du siècle passé, ainsi que la pratique traductive elle-même, ont eu beaucoup à gagner notamment en ce qui concerne la gestion du traduisible et de l’intraduisible, que ni le comparatisme ni le modèle linguistique n’ont ni pu ni su gérer, et ceci à la suite de l’assouplissement des rapports unissant le texte traduit au texte original, autrement dit de la pensée du rapport fidélité infidélité. Une première étape s’est produite dans les années ’70, quand la théorie littéraire d’inspiration structuraliste proclama, par la voix de Roland Barthes, „la mort de l’auteur“. On a ainsi mis en doute la pertinence même de l’ancienne notion „d’intention“, autrement dit le caractère théoriquement opérationnel du rapport texte auteur, ainsi que la „responsabilité“ de celui-ci vis-à-vis du sens et de la signification du texte. Ce qu’on a appelé, avec une formule lancée par le New Criticism américain, l’intentional fallacy, l’utopie de l’intentionnalité, ne pouvait que porter préjudice à la théorie littéraire; au fond, elle reflétait le conflit entre l’explication littéraire (l’examen des intentions de l’auteur, de ce qu’il a voulu dire dans son texte) et l’interprétation littéraire (visant la description des significations de l’œuvre indépendamment des intentions de l’auteur). L’exclusion de l’auteur aurait ainsi dû contribuer à l’autonomisation de la recherche littéraire par rapport à l’histoire et à la psychologie, en la situant, grâce aux postulats de la littérarité et de l’autotélisme, inspirés par le formalisme russe et par Roman Jakobson, sur des bases „internes“, „immanentes“, la littérarité résultant, comme une composante à part entière, des particularités mêmes de l’organisation du matériau qui sous-tend l’œuvre. Dépourvu „d’origine“, le texte explosait sous la pression d’une polysémie élevée au rang de principe constitutif, et il dévoilait enfin sa nature intertextuelle. Seule une nouvelle instance qui était en voie de se consolider en tant que concept théorique aurait pu lui conférer une cohérence en en reconstituant l’unité dispersée en un „tissu de citations“: le lecteur. L’herméneutique et l’esthétique de la réception allaient brillamment confirmer que la signification du texte déborde l’intentionnalité de l’au- Magda Jeanrenaud 30 teur, car elle accumule, de par son existence en diachronie, de nouvelles strates de sens, qui ne pouvaient être anticipées ni par son auteur et d’autant moins par ces premiers lecteurs; le sens d’un texte se coagule aussi selon la façon dont il est „interrogé“ par un sujet historiquement conditionné, lui-même préoccupé de déchiffrer y compris la „question“ à laquelle le texte a essayé de donner une réponse dans son propre contexte. Le texte n’est plus chargé seulement d’un sens (immuable et interprétable en tant que tel d’une réception à une autre), mais il possède en plus une signification, en raison de laquelle il s’articule sur une situation, en se contextualisant en fonction des coordonnées de chaque nouvelle réception. Si le sens assure la stabilité de la réception, la signification explique les variations dans la réception d’un texte: le sens est singulier, tandis que la signification est ouverte, plurielle, inépuisable et, à la limite, infinie. Mais si l’adéquation, la profondeur d’une interprétation dépendaient de sa capacité à mettre au jour la cohérence et la complexité d’un texte, alors le critère même de la cohérence, qui avait semblé en mesure de court-circuiter l’instance de l’auteur, ne pouvait être conçu sans le recours à ce qu’Antoine Compagnon (1998: 13-101) appelait la „présomption d’intentionnalité“, ou tout au plus de la probabilité d’une intention, prémisse sans laquelle luimême se vidait de toute pertinence conceptuelle. Ce n’est pas par un pur hasard qu’à une période qui avait semblé prête à accueillir les prétentions hégémoniques et scientistes de la linguistique, en les investissant des pouvoirs d’une méthode de connaissance exhaustive, vite détrônée par ceux qui ont attiré l’attention sur les dangers du „mirage linguistique“ (Pavel 1988), la pratique de la traduction s’est doublée d’une réflexion théorique toujours plus soutenue. Après avoir alimenté pour un moment les espoirs de la linguistique, qui y cherchait un banc d’essai voué à en illustrer les postulats, les limites d’un modèle exclusivement linguistique de la traduction sont devenues évidentes. La perspective saussurienne elle-même, qui voyait dans les langues des systèmes étanches, à l’intérieur desquels le signe se dotait d’une signification (valeur) coagulée exclusivement en vertu de sa mise en rapport avec les autres signes de la langue, fondait théoriquement l’aporie de l’intraduisibilité, creusant en même temps l’abîme entre la pratique traductive et son impossibilité théorique: les différences linguistiques entre les langues ne pouvaient que renforcer l’hypothèse de l’intraduisibilité, légitimée par Roman Jakobson lorsqu’il lançait la formule selon laquelle les langues se La traduction de l´intraduisible 31 distinguaient non pas par ce qu’elles pouvaient transmettre, mais par ce qu’elles devaient transmettre. 1 Au-delà de la perspective strictement linguistique, qui aurait accepté à contrecœur la possibilité de la traduction d’un même terme par toute une série d’équivalences dont la sélection se ferait en fonction de la conformité au contexte dans lequel s’insère celui-ci, la réflexion sur la traduction s’est ainsi de plus en plus déplacée vers une perspective „communicationnelle“ qui assimilait les significations verbales à des variables soumises à l’influence des facteurs extérieurs. Étant donné que le texte ne résulte pas de la seule action des mécanismes linguistiques, à ceux-ci vient s’ajouter tout un éventail d’éléments extralinguistiques qui font que la compétence linguistique s’associe à une compétence textuelle: la notion d’hypothèse de sens souligne l’idée que la compréhension de l’énoncé découle non seulement de la connaissance d’une langue, mais aussi de celle d’un monde. Le critère de la cohérence et de la complexité ne peut se justifier en dehors d’une intentionnalité sans laquelle l’œuvre apparaîtrait comme une simple conséquence du hasard (Compagnon 1998: 97): or, justement cette capacité à reconnaître l’intentionnalité-dans-la-cohérence semble poser des problèmes en matière de traduction et contribue souvent, par ricochet, à alimenter le fantasme de l’intraduisible. 2 Reste que le long du temps, et à toutes les époques, le verdict de l’intraduisibilité a porté tantôt sur la lettre (la forme), tantôt sur le sens (le contenu) et, au pire des cas, sur les deux: en fin de compte le très courageux Vocabulaire européen des philosophies élaboré par une équipe de chercheurs sous la direction de Barbara Cassin (2004) porte la marque de cette ambiguïté car il annonce, en soustitre, qu’il s’agit aussi d’un Dictionnaire des intraduisibles... 1 „Les langues diffèrent essentiellement par ce qu’elles doivent exprimer, et non par ce qu’elles peuvent exprimer“ (Jakobson 1963: 84). 2 À un Julien Green arguant que traduire the mystic moon dans un vers de Poe par la lune mystique ne saurait qu’aboutir à „un livret d’opéra sans la musique“, Georges Mounin rétorque que dire la lune mystique est juste une platitude, en plus doublée d’un contre-sens, car l’adjectif anglais de Poe est riche allusivement de toutes les nuances, différentes du sens français, qu’il possède en anglais, où il a gardé le sens propre du mot mystic emprunté directement du grec ancien: ‘secret’, ‘caché’. Loin d’être intraduisible, l’image est tout simplement... mal traduite. Il aurait fallu suggérer une attitude initiatique et c’est alors la lune sacrée qu’il aurait dû choisir ou „la lune secrète [...] et peut-être même la lune scellée (parce qu’il contient à la fois secrète et sacrée; parce qu’il offre de plus l’avantage d’être le mot le plus inattendu, créant l’image la plus forte)“ (Mounin 2 1994 [1955]: 52-53). Magda Jeanrenaud 32 2 ...sans tomber dans l’euphorie du „tout-est-traduisible“ Mais encore faudrait-il ne pas tomber dans l’euphorie du „tout-est-traduisible“, ce qui me semble tout aussi risqué qu’élever l’intraduisible au rang d’issue incontournable de la traduction. S’il est vrai que tout n’est pas traduisible, encore faudrait-il savoir reconnaître l’intraduisible là où il découle de l’intentionnalité même du texte à traduire, et se demander, en inversant une belle affirmation de Jacques Derrida, 3 s’il se laisse traduire comme traduisible. Je voudrais m’arrêter plus longuement au très célèbre texte de Walter Benjamin, intitulé Die Aufgabe des Übersetzers, et tout particulièrement à la façon dont les traducteurs français, anglais et roumain ont traité les deux citations données par Benjamin. Son essai a été traduit en roumain, où il existe en deux versions, presque identiques, signées par la même traductrice, Catrinel Pleșu, mais publiées par deux maisons d’éditions différentes, sous le titre Sarcina traduc ă torului (cf. Benjamin 2000b, 2002); je vais aussi me rapporter à la version française, intitulée La tâche du traducteur, signée par Maurice de Gandillac (cf. Benjamin 1971, 2000a), et à celle, plus récente, signée par Martine Broda (cf. Benjamin 1991); je vais aussi invoquer deux autres versions françaises, dont la traduction partielle qu’en fit Antoine Berman à l’occasion d’un séminaire de traductologie portant sur l’interprétation et le commentaire du texte benjaminien pendant l’hiver 1984-1985 (cf. Berman 2008); 4 enfin, deux versions anglaises, The Task of the Translator, signée par Harry Zohn (cf. Benjamin 1968), et The Translator’s Task, signée par Steven Rendall (cf. Benjamin 1997b, Rendall 1997a). Même s’il n’est pas enregistré dans le dictionnaire des termes intraduisibles coordonné par Barbara Cassin, le mot allemand Aufgabe semble disposer d’une sphère sémantique plus large que ses équivalents roumain, anglais et français, puisque Jacques Derrida associe son sens non seulement à une tâche, mais aussi à une mission, un devoir (dans les deux acceptions du mot roumain sarcină, ‘dette’ et ‘mission’), un engagement en vertu duquel le traducteur contracte une dette, sa tâche consistant à 3 En se demandant comment traduire un texte écrit en plusieurs langues, Jacques Derrida observait qu’„[o]n ne devrait jamais passer sous silence la question de la langue dans laquelle se pose la question de la langue et se traduit un discours sur la traduction“(Derrida 1998: 204). 4 Le séminaire fut donné au Collège international de philosophie et le texte a été reconstitué, après la mort de Berman, d’après ses notes et des enregistrements (cf. Berman: 2008: 5-7). La traduction de l´intraduisible 33 s’en libérer en faisant une donation (Derrida 1998: 211). S’inspirant du commentaire de Derrida, qui observait aussi que le verbe allemand aufgeben envoyait non seulement à une donation, mais aussi à un abandon (id.: 212), et profitant des ressources de la famille lexicale du terme français don, une retraduction plus récente du texte de Benjamin, signée par Alexis Nouss et Laurent Lamy, risque le titre de L’abandon du traducteur (cf. Lamy/ Nouss 1997) et actualise, tout au long du texte, la polysémie du mot Aufgabe, jouant sur le couple tâche abandon et lexicalisant ainsi le va-etvient du traduisible et de l’intraduisible, de la mission et de son échec, camouflés dans le noyau sémantique du mot Aufgabe, mais décelables dans l’intentionnalité même du texte source, dans sa cohérence qui fonctionne sur les deux parcours de sens. Dans le texte de Benjamin, il y a deux citations et c’est sur leur traduction en roumain, anglais et français (dans le cas de la deuxième) que va porter mon analyse. Vers la fin de son essai, Walter Benjamin cite une phrase de Mallarmé, qu’il donne en français, après avoir invoqué au début du paragraphe, en latin, l’ingenium (cf. Annexe I.1). Le mot latin est traduit par Harry Zohn en anglais (philosophical genius, cf. Annexe I.3) et par Gandillac (cf. Benjamin 1971, 2000a) ainsi que par Martine Broda (cf. Benjamin 1991: 155) en français (par génie): cette réticence à laisser le terme latin tel quel en dit long sur la distance qui nous sépare du temps où le latin était la langue incontournable de la science et de la philosophie... D’autre part, le choix des deux traducteurs français ouvre largement les portes à ce qu’on appelle la traduction ethnocentrique, naturalisante, puisqu’il va pousser le lecteur vers un concept franco-français, ce „montage idéologique“ 5 encore profondément infiltré dans les mentalités françaises, l’éloignant ainsi subrepticement du sens qu’il doit retenir, celui de ‘propriété innée de l’esprit philosophique’. La version roumaine, en revanche, suggère, en inversant par contresens les rapports de possession, que l’ingenium appartiendrait à la philosophie („ingenium al filosofiei“, cf. Annexe I.4 et 5): une chose est de dire qu’il existe un „philosophisches Ingenium“ (cf. Annexe I.1), une partie de notre esprit qui est philosophique, une autre que de déclarer que la philosophie en possède un... 5 Depuis le XVI e siècle, culminant avec le discours de Rivarol de 1782, la thèse du génie du français s’est progressivement consolidée, se transformant dans un poncif tenace, soutenu par deux piliers: la clarté et le principe de l’ordre „naturel“, qui débouchent sur le postulat de son universalité (cf. Meschonnic 1997: 227-240). Magda Jeanrenaud 34 Mais revenons à la citation de Mallarmé. Autour de cette citation qui n’est pas traduite dans le texte original se tissent beaucoup de choses: Les langues imparfaites en cela que plusieurs, manque la suprême: penser étant écrire sans accessoires, ni chuchotement mais tacite encore l’immortelle parole, la diversité, sur terre, des idiomes empêche personne de proférer les mots qui, sinon se trouveraient, par une frappe unique, elle-même matériellement la verité (cf. Annexe I.1). Walter Benjamin n’indique pas d’où est tirée cette citation. Laurent Lamy et Alexis Nouss donnent, dans les notes dont ils accompagnent leur traduction, la source: elle est extraite de „Crise de vers“, qui fait partie du recueil Igitur. Divagations. Un coup de dés (Mallarmé 1976: 244, cf. Lamy/ Nouss 1997: 23). Antoine Berman, qui l’avait trouvée avant Lamy et Nouss, s’étonnait, dans son séminaire, de ce que la citation ait été „tronquée, censurée“ (Berman 2008: 157)! 6 L’accusation fut sans doute excessive, mais il est vrai que Benjamin arrête la citation là où Mallarmé, poète, associait, sans surprise, la „pure langue“ au langage poétique, au vers, 7 qui lui seul „rémunère le défaut des langues“ (id.: 158): or, la pure langue de Benjamin, n’était pas celle-là. La décision de Benjamin de ne pas traduire cette phrase n’est pas passée inaperçue. Elle a provoqué l’étonnement, la curiosité, diverses interprétations et un ardent désir de compréhension chez tous ceux qui s’en sont occupés: Jacques Derrida, Antoine Berman, Alexis Nouss et Laurent Lamy, tous y ont vu, d’une façon ou d’une autre, une illustration éclatante de l’intraduisible qu’ils ont ensuite expliquée selon leurs points de vue respectifs... En principe, le geste de la non-traduction de la citation française devrait perdre toute sa valeur symbolique en traduction dans une seule langue: le français. Cependant, la version roumaine rend elle aussi le geste de Benjamin caduc, en traduisant la citation de Mallarmé, dans la première édition (cf. Benjamin 2000b: 51, Annexe I.4). Dans la deuxième, parue deux années plus tard, et qui ne revise pratiquement rien par rapport à la première version, la citation est cependant donnée en français dans le texte, mais on la traduit en roumain dans la seule note de bas de page qui accompagne cette version (cf. Benjamin 2002: 45, Annexe I.5). En 6 Et il répète, à la page suivante, l’accusation: „Benjamin l’a censuré“. 7 Mallarmé continue, quelques lignes après la phrase citée par Benjamin, ainsi: „Seulement, sachons n’existerait pas le vers: lui, philosophiquement rémunère le défaut des langues, complément supérieur“ (Mallarmé 1965: 364, cité d’après Berman 2008: 158). La traduction de l´intraduisible 35 ne précisant cependant pas que la note appartient au traducteur, on suggère implicitement qu’elle a pu être inspirée par un geste similaire de l’auteur du texte original. De toute façon, par ce même geste, la traductrice porte atteinte au plus profond du sens du texte benjaminien et, en plus, elle rend incompréhensibles tous les paratextes qui essaient d’en déchiffrer la symbolique, allant d’un Jacques Derrida à un Antoine Berman et passant par Alexis Nouss et Laurent Lamy! D’autant plus que le texte de Benjamin, on le sait, est une préface, une préface à sa propre traduction des Tableaux parisiens de Baudelaire. En renonçant à traduire la phrase de Mallarmé, en proclamant ainsi son intraduisibilité, en la laissant, avec la belle formule de Derrida (1998: 213), „briller comme la médaille d’un nom propre“ (le nom propre est intraduisible! ), Benjamin déclare implicitement que son sens n’est pas transportable dans une autre langue sans „dommages“ (ibid.), que sa restitution est par conséquent impossible et aussi que „l’effet de propriété intraduisible se lie moins à du nom ou à la vérité d’adéquation qu’à l’unique événement d’une force performative“ (ibid.). Par ce geste, Benjamin met aussi à mal le concept même de traduction et confirme en quelque sorte l’interprétation donnée par la traduction de Nouss et de Lamy qui voyaient dans Aufgabe plutôt un abandon qu’une tâche (ou même les deux). Mais il y a aussi autre chose: Antoine Berman s’est lui aussi demandé pourquoi Benjamin n’a pas traduit la phrase de Mallarmé, d’autant plus que, observait-il, elle n’est intraduisible ni du point de vue linguistique, ni stylistique, même si elle déploie une structure syntaxique „sinon absente, du moins étrangement raréfiée“ (Berman 2008: 158). Selon lui, la vraie raison de son refus de traduire doit être cherchée ailleurs, dans son sens même, que toute traduction, toute décision débouchant sur une traduction, aurait „ironiquement“ contredit, car la phrase de Mallarmé „a trait à l’imperfection des langues, c’est-à-dire à leur multiplicité, et donc à ce qui fonde à la fois la nécessité et l’impossibilité de la traduction“(ibid.). La décision de la traductrice roumaine détruit la cohérence même de l’essai benjaminien parce que traduire cette phrase qui se construit comme un écart par rapport à la norme reviendrait à traduire quelque chose qui, en quelque sorte, a déjà été traduit, et Derrida, entre autres, l’a bien compris: on ne traduit pas une traduction ou, en tout cas, on ne traduit pas un texte qui dit qu’on ne peut pas traduire. Si Benjamin n’a pas traduit cette citation c’est peut-être aussi parce qu’il la perçue comme étant déjà une traduction (Derrida 1998: 218)... Comme tous les autres traducteurs, Steven Rendall se demande lui aussi pourquoi Benjamin a donné cette citation d’un grand poète français Magda Jeanrenaud 36 sans la traduire dans une préface qui introduit sa propre traduction d’un autre grand poète français: il suggère, entre autres raisons possibles, qu’il n’y avait pas de raison de la traduire, puisqu’elle impliquait déjà une décontextualisation similaire au processus de la traduction (Rendall 1997b: 179). Traduire cette citation vient ainsi contredire l’intention, le vouloirdire de Benjamin et aucun des traducteurs des versions anglaises que j’ai consultées n’a cédé à cette „pulsion“. Il m’est cependant arrivé de tomber sur une traduction anglaise littérale de la phrase en question, qui transpose parfaitement sa syntaxe tronquée, dans l’ouvrage du philosophe américain Samuel Weber 8 portant sur Benjamin’s -abilities: Languages, imperfect insofar as many, lacking the highest: thinking being writing without accessories, neither whispering but silent still the immortal word, the diversity, on earth, of idioms prevents no one from offering the words which, if not, would find themselves, in a single stroke, itself materially the truth (Weber 2008: 75-76). On aurait peut-être pu accorder à la version roumaine une quelconque bonne intention „pédagogique“ pour accompagner les récepteurs roumains si elle avait pratiqué une transposition littérale de la phrase mallarméenne: 9 or, très loin d’être littérale, elle est traversée d’un bout à l’autre d’une intentionnalité en contresens total non seulement avec ce que la citation veut dire, mais aussi avec la visée du texte qui l’accueille et qui parle de la tâche du traducteur. Là où elle ne tombe pas dans le contresens, elle banalise, elle annule le laconisme du texte source, rationalise la syntaxe, introduisant des verbes là où il n’y en a pas dans le texte d’origine et pratiquant la coordination: l’imperfection des langues consiste dans leur pluralité et dans le manque de la suprême, ce qui est redondant. Enfin, elle allège massivement le registre négatif dans lequel se déroule celui-ci: manque („lipsa“, substantif), sans accessoires, ni chuchotement („fără accesorii și fără șoapte“, la coordination nivelle le rythme, le dédramatisant), empêche personne („împiedică pe toți“), sinon („altfel“); elle réorganise ainsi totalement le texte selon une conception linéaire, classique de la syntaxe et de l’ordre des mots. En plus, elle traduit par contresens tacite encore l’immortelle parole par „cuvîntul nemuritor ramîne încă subînțeles“ (‘le mot immortel reste encore sous-entendu’), en intercalant de nouveau un 8 Qui contribua décisivement à la réception de Theodor W. Adorno et de l’École de Francfort, ainsi que de Jacques Derrida et Jacques Lacan dans le monde anglophone. 9 Qui ne spécifie pas si elle est faite par la même traductrice ou extraite d’une traduction antérieure du texte mallarméen. La traduction de l´intraduisible 37 verbe, alors qu’il aurait fallu dire ‘silencieusement’. 10 Quant à la diversité, sur terre, des idiomes qui empêche personne de proférer les mots qui, sinon se trouveraient, par une frappe unique, elle-même matériellement la vérité, cette séquence est transposée en roumain par „diversitatea idiomurilor pe pamînt împiedică pe toți să profereze cuvinte care, altfel, la o atingere unică, s-ar materializa ca adevăr“ (‘la diversité des idiomes sur terre empêche tout un chacun de proférer des mots qui, autrement, à une unique atteinte, se matérialiseraient en tant que vérité’), ce qui est un non-sens: le texte français dit que la diversité des idiomes n’empêche personne de proférer les mots qui, si cette diversité n’existait pas, s’il n’y avait que la langue suprême, se trouveraient, par une frappe unique, elle-même matériellement la vérité. Si le texte de Mallarmé est intraduisible, dit encore Samuel Weber, ce n’est pas parce qu’on ne pourrait pas le transcoder, mais parce qu’en le traduisant, en cherchant d’en rendre fidèlement le sens, on rate l’essentiel, à savoir la façon dont le texte choisit de dire ce qu’il a à dire: il est construit sur trois interruptions de la norme grammaticale usuelle, l’ordre des mots est perturbé, la syntaxe aussi, il y a une apparence de désaccord entre le sujet et le verbe, la suprême est le sujet réel, les langues imparfaites, l’objet... Évidemment, rien de tout cela ne pourra jamais percer dans la version roumaine qui résulte d’un „impensé“ et dont le seul mérite est de solliciter une nouvelle version qui, elle, sache reconnaître l’intraduisible là où il est pour ainsi dire „prémédité”, inscrit dans le projet et non dans l’objet... 3 Re-connaître la poétique du texte à traduire Dans les soi-disant théories fonctionnalistes de la traduction, comme dans le débat concernant la critique et l’évaluation des traductions, on insiste depuis un certain temps et de plus en plus sur le type de texte à traduire, sur l’intentionnalité qu’il exprime, en y voyant la prémisse même de l’adéquation des techniques de traduction dans une équation d’où manque totalement la menace de l’intraduisible qui est géré comme une variable possible à isoler et évacuer du processus de la traduction. Ces typologies, centrées sur le critère de la fonction du texte, se prévalent implicitement de la conviction que tout processus traductif comporte des pertes incontournables: l’idéologie qui sous-tend les techniques de traduction semble obsédée par la „gestion” de l’impossibilité (théorique) de la 10 Soulignements en gras M.J. Magda Jeanrenaud 38 traduction et elle entraîne ainsi la mise au point de stratégies visant à limiter les pertes, considérées comme secondaires et, en tant que telles, acceptables à condition que l’acte de traduction soit centré sur la production d’un texte cible équivalent, en mesure de recomposer la fonction prédominante du texte source. L’orientation de la traduction vers la fonction dominante du texte à traduire est ainsi érigée en principe traductif de base: l’adéquation de la traduction ne se justifie plus par rapport au texte d’origine, mais à son skopos, qui dicte au traducteur les stratégies à suivre. 11 Le binôme fidelité trahison, tout comme la question de l’intraduisible, sont ainsi dédramatisés par une opération de déplacement: la fidélité ne rattache plus directement, comme un lien incontournable de filiation, le texte cible au texte d’origine, et la „trahison“ se voit justifiée par des techniques de traduction qui n’imposent plus la conformité directe à celui-ci. En échange, la position du récepteur est consolidée, dans la mesure où la fonction d’un texte est établie aussi compte tenu de son effet sur celui-ci. L’acte de la traduction du texte philosophique semble vouloir masquer une contradiction qui dissimule une sorte de „profanation“ de l’intentionnalité philosophique même du texte, à savoir la transmission de contenus universels. Lui-même traducteur de Jürgen Habermas et de Theodor W. Adorno, Jean-René Ladmiral voit dans la traduction de la philosophie un „scandale“, un geste presque obscène, qui porte atteinte à la Raison, puisque la possibilité même de la traduction implique des opérations qui dissocient les signifiés conceptuels de la philosophie (d’une philosophie? ) d’avec les signifiants de [la] langue de départ ou langue originale [...] afin d’en assurer ensuite la „réincarnation“ dans les signifiants autres, étrangers, de la langue d’arrivée ou langue-cible dans laquelle le texte est traduit (Ladmiral 1998: 990; cf. aussi Ladmiral 1989: 6). Le scandale serait même double: d’une part, ce discours, qui vise à exprimer une Raison universelle, ne peut éviter le „particularisme historique et culturel des traditions nationales“ et, d’autre part, il se voit obligé de s’incarner dans „les accidents linguistiques, justement appelés idiomatiques, des langues naturelles“ (id. 1998: 990). La traduction de ce type de texte met ainsi à nu, dans le registre du scandaleux et de la dérision, la tension interne du projet universalisant de la rationalité philosophique, contraint d’accepter à être transposé dans les signifiants d’une langue particulière. Le profil spécial de ce scandale dessine la spécificité du texte philoso- 11 Cf. la Skopostheorie élaborée par Katharina Reiss et Hans J. Vermeer (cf. Reiss/ Vermeer 1984; Reiss 2002; Reiss 2009). La traduction de l´intraduisible 39 phique et confirme la tension qui résulte des incertitudes qui planent sur la possibilité même de sa traduction, tension d’autant plus grande que, dans ce type de texte, „[l]a transparence rationnelle des signifiés conceptuels à laquelle tend le discours philosophique [...] s’en trouvera obscurcie par les ‘impuretés’ contingentes du signifiant linguistique […]“(id.: 983). Le texte philosophique est ainsi défini comme un texte centré sur le signifié et qui se remarque par la mise en valeur de la capacité du langage à acquérir le statut de métalangage; autrement dit, le référent du discours philosophique, c’est son propre signifié - de là le „scandale“ de la traduction de ce type de texte (id.: 988). Le texte philosophique peut être inclus dans la catégorie des textes littéraires au sens large, mais, par la „technicité du ’jargon’ philosophique“ (ibid.) qu’il utilise, il appartient en égale mesure aux textes techniques, dont il se sépare cependant tout de suite, puisque le sujet qui parle est omniprésent dans le texte. Visant à contourner l’intraduisible, nombreux sont ceux qui voient dans le texte philosophique une structure stratifiée, qui appellerait des techniques de traductions différentes: le discours de ce type apparaît, d’une part, comme une architectonique formée d’un palier constitué par un langage spécialisé et, de l’autre, comme une structure narrative, comme un récit qui s’apparente au texte de type littéraire. La traduction du texte philosophique constituerait ainsi un cas très spécial de combinaison des techniques de traduction littérales - pour la transposition des terminologies - et des procédés de traduction soi-disant „libres“, „idiomatiques“, pour la traduction du dispositif textuel. Le traducteur aurait ainsi la tâche de départager la langue utilisée dans le texte, c’est-à-dire ce qui tient du lexique usuel de la langue d’origine, de la parole de l’auteur, ce système d’indices qui laisse sur le texte l’empreinte d’une subjectivité particulière (Ladmiral 1994: 223). Une pareille vision sur la traduction du texte philosophique comporte cependant des risques, et non des moindres: l’idéologie dont elle découle privilégie le sens au détriment de la poétique du texte, des modalités de sa construction, et entraîne une somme de distorsions du texte cible, des déformations explicatives, des ajouts, des périet des paraphrases qui peuvent détruire la configuration d’origine. De là, l’impératif de traduire non la rhétorique du texte d’origine, mais surtout, avec la terminologie d’Henri Meschonnic, sa poétique (le traducteur est enclin à les confondre): La tâche du traducteur de Humboldt est de reconnaître cette poétique. De la reconnaître comme poétique. Non comme rhétorique. Le travail de la pensée fait une poétique s’il transforme les valeurs de la langue en valeurs du dis- Magda Jeanrenaud 40 cours, propres à son seul discours. Mais si les catégories de la langue restent des catégories de la langue, c’est le jeu de la rhétorique. Cette banalité, qu’on ne peut pas séparer une pensée de son écriture. Au traducteur de ne pas prendre la poétique pour une rhétorique, à tous les niveaux que distingue la linguistique traditionnelle (Meschonnic 1999: 350). Examinant les traductions françaises des textes de Humboldt, Meschonnic constate que la traduction différenciée du texte philosophique vu comme une superposition étanche de deux strates, d’un côté la terminologie, de l’autre leur textualisation formelle, comporte de graves périls: si la traduction de la terminologie s’est faite en respectant les correspondances, les opérateurs, le rythme logique, [...] sont traités comme un élément où la variation est sans importance. Le texte est respecté dans sa rigueur, mais cette rigueur est seulement substantive, conceptuelle. Par quoi paraît une certaine idée du texte philosophique: hors la technicité - qui suppose une confusion entre le concept et le mot - tout le reste est littérature. C’est-à-dire rhétorique. Cette conception du langage ne tient que du signe. Dans le primat du signifié identifié au signe (id.: 382). Cette méthode masque cependant une idéologie double (duplicitaire? ) de l’acte traductif; Henri Meschonnic le suggère lorsqu’il affirme que la traduction du lexique spécialisé par correspondances exprime en fin de compte la confusion entre le concept et le mot, dans la mesure où la garantie de la réussite de la traduction est ancrée dans la conviction que rendre le sens dépend de la possibilité de son maintien dans toutes les occurrences du texte source. Jean-René Ladmiral, dont les très connues théorèmes traductologiques (Ladmiral 1994) militent pour le droit de pratiquer „l’annexionisme“ en traduction, voit dans ce procédé le prolongement d’une „métaphysique substantialiste“ du langage, qui tend à sacraliser la langue source, à surévaluer ses valences expressives, avec, pour conséquence, la surdilatation du danger de tomber dans le piège de l’aporie traduisible intraduisible. La dramatisation de la solution de continuité entre ce qui est traduisible et ce qui ne l’est pas va ainsi miner, dans une mesure encore plus grande, l’entreprise de traduction du texte philosophique qui, de par sa nature, exprime, dans un registre tendu, une „’coïncidence de la singularité individuelle et de l’universalité’“(Ladmiral 1983: 254, cité d’après Brownlie 2002: 306). La traduction de l´intraduisible 41 4 Comment traduire une „traduction“? La deuxième citation donnée par Walter Benjamin est tirée cette fois de Die Krisis der europäischen Kultur de Rudolf Pannwitz (cf. Annexe II.1): de nouveau, nous avons affaire à un texte dont la syntaxe est bousculée, à quoi s’ajoute l’élimination de toute ponctuation et des majuscules pour les noms communs et pour les débuts de phrase, à la manière de Jakob Grimm ou Stefan George (Berman 2008: 159). La citation est formée de deux phrases qui se terminent avec un point, mais aucune ne commence par une majuscule. Plus d’un lien se tisse ainsi entre les deux citations, qui partagent une même structure formelle: ignorant la syntaxe, elles misent sur le mot, qui est arraché, libéré de ses potentiels réseaux syntaxiques. Le mot est ainsi élevé au rang de nom propre, dont la raison d’être est alors son rapport direct aux choses (Rendall 1997b: 179): 12 or, pour Benjamin aussi la traduction est une affaire de mots. C’est là qu’il faut chercher la raison du choix des deux citations: [...] l’allemand de Pannwitz, tout comme le français de Mallarmé subminent la structure linguistique du langage et surtout sa syntaxe - et ils peuvent ainsi être vus comme ayant accompli l’espèce de libération du mot que la traduction est censée réaliser (id.: 180, traduction M.J.). Rétablir, en traduisant les deux citations (dont l’une ne doit pas l’être), l’ordre syntaxique détruit non seulement leur visée, mais aussi leur raison d’être dans le texte de Benjamin. Je l’ai déjà dit: d’une certaine façon, les deux citations sont déjà des traductions (intralinguistiques), car elles violentent la syntaxe et libèrent le mot selon les mêmes principes traductifs que ceux prônés par Benjamin. À ce titre, elles sont intraduisibles, et Benjamin le dit clairement: „Les traductions, par contre, se révèlent intraduisibles, non pas à cause du poids que le sens fait peser sur elles, mais parce qu’il s’attache à elles de façon beaucoup trop fugitive“ (cf. Lamy/ Nouss 1997: 27), ou encore: „La traduction est une forme. Pour la saisir comme telle, il faut revenir à l’original“ (id.: 14). Des six traductions que j’ai consultées, une seule ose rendre la forme du texte de Pannwitz. Les autres essaient seulement de suggérer les particularités formelles dans des proportions diverses, mais elles finissent cependant par introduire, ça et là, des virgules et des points. Antoine Berman refait les phrases, qui commencent par des majuscules, mais n’intro- 12 Rendall se demande aussi pourquoi Benjamin avait choisi précisément cette citation de Pannwitz, lui qui aurait pu plus logiquement invoquer Schleiermacher ou Humboldt. Magda Jeanrenaud 42 duit aucune ponctuation à leur intérieur (cf. Annexe II.3, soulignage M.J.); Nouss et Lamy refont massivement la structure phrastique, multipliant les points finals des phrases et introduisant à deux reprises des points virgule, en échange ils suppriment les points de suspension du texte source (cf. Annexe II.2); enfin, la traduction de Gandillac (cf. Annexe II.3) refait toute la ponctuation et la structure phrastique; la traduction de Zohn (cf. Annexe II.4) et la version roumaine de Pleșu (cf. Annexe II.6) se plient totalement à la norme, restaurant absolument tous les écarts syntaxiques et orthographiques, la structure phrastique, les majuscules en début de proposition. Il n’y a que la version de Rendall (cf. Annexe II.5) qui ose traduire intégralement le texte de Pannwitz, c’est-à-dire sa forme aussi: mais il fait une omission particulièrement étonnante (il supprime le premier terme de la série wort bild ton). Mais lui non plus ne trouve cependant pas de solution pour transposer les minuscules des noms communs du texte source. Personne ne semble avoir pensé à la possibilité, pourtant envisageable, de rendre l’étrangeté des substantifs allemands écrits avec des minuscules, en procédant à l’inverse, en donnant, en anglais, français, roumain, les substantifs avec des majuscules. On pourrait évidemment objecter qu’une pareille décision, dans des langues où le nom commun s’écrit avec minuscule, leur associerait une valeur symbolique, allégorique, les personnifiant: mais si la technique s’appliquait à tous les substantifs et aux débuts de phrase, le lecteur se rendrait compte qu’il ne s’agit pas de pousser les noms dans le registre symbolique, mais bien d’autre chose. Reste qu’écrire, en allemand, les noms communs sans majuscules est une décision immédiatement perçue comme une violation d’une contrainte orthographique, tandis qu’écrire les substantifs avec majuscule en français, anglais ou roumain ne pourra jamais être perçu comme un écart à la norme. Certains traducteurs s’en excusent, ce qui veut dire que leur décision de normaliser en traduction leur provoque un malaise: Berman (2008: 179) retraduit partiellement la version de Gandillac, en essayant de garder son caractère oral, et affirme timidement qu’il faut, non pas la „peigner“, mais „lui laisser son aspect un peu échevelé“ (id.: 178); Nouss et Lamy, qui avaient cependant osé traduire par „L’abandon du traducteur“, semblent brusquement timorés, et ils reconnaissent dans une note, sans suffisamment justifier leur décision, ne pas être „assez“ fidèles au texte source, „puisque nous rétablissons une ponctuation dont l’omission nous semblerait mener à la confusion“ (Lamy/ Nouss 1997: 61, note 55). Or, la forme - reproduisant le registre oral - utilisée par Pannwitz a un rapport avec ce qu’il a à dire, et ce rapport ni Zohn ni la traductrice rou- La traduction de l´intraduisible 43 maine ne l’ont ni vu ni traduit: et par sa mise en forme et par son contenu, le texte de Pannwitz renvoie à l’essence orale de la langue, là „où mot, image, son se rejoignent“ (Berman 2008: 179) et la mention du „dialecte“ aurait sans doute dû attirer leur attention. Selon Antoine Berman, cette citation constitue une authentique „parole historique“ (id.: 178) sur la traduction, qui nous concerne de deux points de vue: d’un côté, par le „heurt“, la commotion des langues dont elle témoigne - sans essayer de l’instituer - et, de l’autre, par „la remontée aux ’éléments ultimes’ de la langue elle-même où mot, image, son se rejoignent - comme de dialecte à dialecte“ (id.: 179). 13 Le texte de Pannwitz nous envoie à l’essence „orale“ de la langue même: invoquer le dialecte ne tient pas d’un pur hasard: Car toutes les langues sont la langue dans la mesure où elles sont des dialectes. Il n’y a pas: le langage - les langues (de genre à espèces), mais la langue - les dialectes. L’espace où se joue la traduction comme visée de l’être-lettre de la langue est le dialecte. Français et chinois sont deux dialectes de la même langue (ibid.). Dans cette lecture, l’œuvre - qui remplace le mot dans une version anglaise et dans la version roumaine - débouche sur un terrible contresens: assimiler le mot au mot écrit là où l’on parle de dialecte, le transposer, par métonymie, dans œuvre, abolit, efface totalement la valeur et le sens de la triade mot-image-ton/ son. La version roumaine, comme l’anglaise d’ailleurs (pour ne rien dire de celle qui supprime totalement le wort), ne rendent 13 Berman ne rate pas l’occasion d’égratigner Meschonnic au passage, en s’étonnant de ce que celui-ci ait cité ce texte „comme étant de Benjamin lui-même“, avec une ironie très apuyée - „certes“, continue-t-il, „qui a lu Pannwitz? “ - et, pour mieux remuer le couteau dans la plaie, il ajoute: „Mais là aussi, il s’agit de paroles historiques sur la traduction“. Berman ne dit pas où et quand Meschonnic avait fait cette confusion. En lisant son observation malicieuse, dans un pemier temps je me suis dit que nous avions affaire à une confusion révélatrice et que peut-être l’erreur de Meschonnic démontrait d’autre part à quel point la citation et le texte même de Benjamin faisaient corps commun, combien l’une soutenait l’autre et que tous ses traducteurs se devaient de rendre cette fusion... J’ai eu cependant un doute et j’ai longuement cherché dans les ouvrages de Meschonnic et finalement j’ai trouvé. Dans Pour la poétique, Meschonnic dit: „Paraphrasant un passage cité par Benjamin, je dirais que, au lieu de franciser le sanscrit, le grec, l’anglais, il faut sanscritiser, hélleniser, angliciser le français“; ensuite, sept lignes plus bas, en parlant de la „dialectique des contradictions du traduire“, il affirme que celle-ci „mène à cette formulation de Benjamin“ et il donne la deuxième partie de la citation de Pannwitz: comme dans le cas de la citation de Mallarmé, Berman avait raison seulement à moitié et peut-être plus important aurait été d’observer non que Meschonnic mettait une partie du texte de Pannwitz sur le compte de Benjamin, mais qu’il omettait de mentionner qu’il citait ce que Gandillac, le traducteur, disait que Benjamin disait... (cf. Meschonnic 1973: 143). Magda Jeanrenaud 44 pas seulement inintelligible la citation et le texte de Benjamin, mais elles en détournent totalement le sens; la série „work, image and tone“/ „opera, imaginea și tonul“ (cf. Annexe II.4 et II.6), 14 dévie toute lecture vers la scripturalité, l’écriture, la détournant de l’essence même du dialectal, en occurrence de l’oralité dont parle Pannwitz. Enfin, le mot, l’image, le ton ne sont pas convergents comme chez Pleșu et Zohn (cf. ibid.): leur hypothèse de sens dévie massivement à cause de l’assimilation métonymique et inévitablement rhétorisante du mot à l’œuvre, et elle instaure une autre cohérence, 15 qui rend caduque l’oralité dialectale; le traducteur devrait désirer arriver là où se produit leur confluence, là où le mot, l’image, la tonalité se rencontrent, non là où elles convergent („converge“) et encore moins là où elles sont convergentes („sînt convergente“). Ce n’est qu’ainsi qu’il pourrait pénétrer dans les profondeurs de sa propre langue, la déplier, non par l’intermédiaire („by means of“/ „prin intermediul“), mais grâce à la langue étrangère. Les rapports qui se tissent entre la citation de Pannwitz et l’essai de Benjamin sont ainsi voués à rester à tout jamais obscurs aux lecteurs de Zohn, Rendall et Pleșu: mettant en valeur le dialectal, la citation ouvre la voie vers l’oralité de la Reine Sprache, la langue pure, qui serait ainsi le dialecte ou, plus exactement, „l’essence dialectale de la langue“ (Berman 2008: 181): „Qu’il s’agisse de la poésie, du théâtre, des livres pour enfants, du roman, de la psychanalyse, des textes religieux, du droit... la traduction des œuvres rencontre l’oralité“ (id.: 180), avertit Berman, l’écriture inclut l’oralité: „L’ecrit n’est jamais aussi écouté que quand l’oralité est inscrite en lui. La langue même, c’est la langue orale“ (ibid.). Or, la traduction est cet acte en mesure, le seul en mesure, de „libérer dans l’original écrit sa charge d’oralité“ (ibid.). À la fin de ce parcours, reste une question à laquelle je ne sais quelle réponse donner: pourquoi les traducteurs, qui ont compris l’enjeu de la citation de Pannwitz, qui l’ont interprétée et commentée si brillamment - Berman, Nouss, Lamy et Rendall -, n’ont-ils pas osé la traduire dans sa lettre et dans son esprit? Par le traitement infligé à la citation de Pannwitz, ils ont atteint le maximum de la trahison, car ils en ont trahi et la lettre et 14 Peut-être, en roumain, tonalitate? À remarquer l’hésitation des traducteurs entre ton et son. 15 Qui entretient un rapport avec la rationalisation du discours, avec son nivellement et avec les tendances déformantes théorisées par le même Berman. La traduction de l´intraduisible 45 le sens et, par ce même geste, ils ont trahi la cohérence même du texte où elle est insérée et qui parle de la tâche du traducteur. 16 Bibliographie Benjamin, Walter (1968): „The Task of the Translator“, in: id. (2007): Illuminations: Essays and Reflections, ed. 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Denn es gibt ein philosophisches Ingenium, dessen eigenstes die Sehnsucht nach jener Sprache ist, welche in der Übersetzung sich bekundet „Les langues imparfaites en cela que plusieurs, manque la suprême: penser étant écrire sans accessoires, ni chuchotement mais tacite encore l’immortelle parole, la diversité, sur terre, des idiomes empêche personne de proférer les mots qui, sinon se trouveraient, par une frappe unique, elle-même matériellement la verité“. Wenn, was in diesen Worten Mallarmé gedenkt, dem Philosophen streng ermeßbar ist, so steht mit ihren Keimen solcher Sprache die Übersetzung mitten zwischen Dichtung und der Lehre. Ihr Werk steht an Ausprägung diesen nach, doch es prägt sich nicht weniger tief ein in die Geschichte. I.2. Walter Benjamin (1997a): „L’abandon du traducteur” = Lamy, Laurent/ Nouss, Alexis (1997): „L’abandon du traducteur: prolégomènes à la traduction des ‘Tableaux parisiens’ de Charles Baudelaire“, in: TTR: traduction, terminologie, rédaction 10, 2, 23 (soulignage en gras M.J.). Car il existe un ingenium philosophique dont le trait le plus spécifique est la nostalgie de cette langue qui s’annonce dans les traductions. „Les langues imparfaites en cela que plusieurs, manque la suprême: penser étant écrire sans accessoires, ni chuchotement mais tacite encore l’immortelle parole, la diversité, sur terre, des idiomes empêche personne de proférer les mots qui, sinon se trouveraient, par une frappe unique, elle-même matériellement la vérité“. Si ce que pense Mallarmé en ces termes est applicable en toute rigueur au philosophe, alors la traduction, grosse des germes d’une telle langue, se tient au point médian entre l’œuvre poétique et la doctrine. Son action est moins marquée mais laisse une trace tout aussi profonde dans l’histoire. I.3. Walter Benjamin (1968): „The Task of the Translator“, in: id. (2007): Illuminations: Essays and Reflections, ed. Hannah Arendt, new preface by Leon Wieseltier, translated by Harry Zohn, New York, Schocken Books/ Random House [1968: New York, Harcourt, Brace & World], 77 (soulignage en gras M.J.). For there is a philosophical genius that is characterized by a yearning for that language which manifests itself in translations. „Les langues imparfaites en cela que plusieurs, manque la suprême: penser étant écrire sans accessoires, ni chuchotement mais tacite encore l’immortelle parole, la diversité, la terre, des Magda Jeanrenaud 48 idiomes empêche personne de proférer les mots qui, sinon se trouveraient, par une frappe unique, elle-même matériellement la vérité“. If what Mallarmé evokes here is fully fathomable to a philosopher, translation, with its rudiments of such a lunaguage, is midway between poetry and doctrine. Its products are less sharply defined, but it leaves no less of a mark on history. I.4. Walter Benjamin (2000): „Sarcina traducătorului“, in: id.: Iluminări, traduit de l’allemand par Catrinel Pleșu, Bucarest, Editură Univers, 51 (soulignage en gras M.J.). Căci exista un ingenium al filosofiei, care este caracterizat de nostalgia acestei limbi care se anunță în traduceri: „Imperfecțiunea limbilor constă în pluralitatea lor și in lipsa celei supreme: a gîndi înseamnă a scrie fără accesorii și fără șoapte, cuvîntul nemuritor rămîne încă subînțeles, diversitatea idiomurilor de pe pămînt împiedică pe toți să profereze cuvinte care, altfel, la o atingere unică, s-ar materializa ca adevăr“. Dacă ceea ce spune Mallarmé aici se poate aplica, cu toată rigoarea, filosofului, atunci traducerea, cu germenii acestei limbi pe care îi poartă în ea, este la jumătatea distanței dintre creația literară și teorie. Cu toate că operele ei sînt mai puțin riguros reliefate, nu lasă urme mai puțin adînci în istorie. I.5. Walter Benjamin (2002): „Sarcina traducătorului“, in: id.: Iluminări, traduit de l’allemand par Catrinel Pleșu, Cluj-Napoca, IDEA Design & Print Editură, 44-45 (soulignage en gras M.J.). Căci există un ingenium al filosofiei, care este caracterizat de nostalgia acestei limbi care se anunță în traduceri: „Les langues imparfaites en cela que plusieurs, manque la suprême: penser étant écrire sans accessoires, ni chuchotement mais tacite encore l’immortelle parole, la diversité, sur terre, des idiomes empêche personne de proférer les mots qui, sinon se trouveraient, par une frappe unique, elle-même matériellement la verité“.* Dacă ceea ce spune Mallarmé aici se poate aplica, cu toată rigoarea, filosofului, atunci traducerea, cu germenii acestei limbi pe care îi poartă în ea, este la jumătatea distanței dintre creația literară și teorie. Cu toate că operele ei sînt mai puțin riguros reliefate, nu lasă urme mai puțin adînci în istorie. (*Note de bas de page: „Imperfecțiunea limbilor constă în pluralitatea lor și în lipsa celei supreme: a gîndi înseamnă a scrie fără accesorii și fără șoapte, cuvîntul nemuritor ramîne încă subînțeles, diversitatea idiomurilor pe pamînt împiedică pe toți să profereze cuvinte care, altfel, la o atingere unică, s-ar materializa ca adevăr“.) La traduction de l´intraduisible 49 II. II.1 Walter Benjamin (1972): „Die Aufgabe des Übersetzers”, in: id.: Gesammelte Schriften, vol. IV, 1, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 20 (soulignage en gras M.J.). Dort heiß es: „unsre übertragungen auch die besten gehn von einem falschen grundsatz aus sie wollen das indische griechische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen. sie haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden werks ... der grundsätzliche irrtum des übertragenden ist dass er den zufalligen stand der eignen sprache festhält anstatt sie durch die fremde sprache gewaltig bewegen zu lassen. er muss zumal wenn er aus einer sehr fernen sprache überträgt auf die letzten elemente der sprache selbst wo wort bild ton in eins geht zurück dringen er muss seine sprache durch die fremde erweitern und vertiefen man hat keinen begriff in welchem masze das möglich ist bis zu welchem grade jede sprache sich verwandeln kann sprache von sprache fast nur wie mundart von mundart sich unterscheidet dieses aber nicht wenn man sie allzu leicht sondern gerade wenn man sie schwer genug nimmt“ (cf. Pannwitz 1917: 240). II.2 Walter Benjamin (1997a): „L’abandon du traducteur” = Lamy, Laurent/ Nouss, Alexis (1997): „L’abandon du traducteur: prolégomènes à la traduction des ‘Tableaux parisiens’ de Charles Baudelaire“, in: TTR: traduction, terminologie, rédaction 10, 2, 27 (soulignage en gras M.J.). On y lit: „nos traductions, et même les meilleures, partent d’un principe erroné si elles entendent germaniser l’indien, le grec, l’anglais, au lieu d’indianiser, gréciser, angliciser l’allemand. elles ont beaucoup plus de respect pour les usages de leur propre langue que pour l’esprit de l’œuvre étrangère. l’erreur fondamentale du traducteur est de s’en tenir à l’état aléatoire de sa propre langue, au lieu d’être animé par le mouvement puissant de la langue étrangère. surtout lorsqu’il traduit d’une langue très lointaine, il lui faut remonter aux éléments ultimes de la langue même, où mot, image et ton ne font qu’un; il doit élargir et approfondir sa langue grâce à la langue étrangère. on ne dispose d’aucun concept pour évaluer dans quelle mesure cela est possible, jusqu’à quel degré chaque langue peut se transformer; de langue à langue on observe pratiquement la même distance que de dialecte à dialecte, non quand on les prend trop légèrement, cependant, mais bien plutôt quand on les considère avec suffisamment de sérieux“. Magda Jeanrenaud 50 II.3 Antoine Berman (2008): L’âge de la traduction. „La tâche du traducteur“ de Walter Benjamin. Un commentaire, Paris, Presses Universitaires de Vincennes, 179 (soulignage en gras M.J.). [...] nos traductions même les meilleures partent d’un faux principe elles veulent germaniser l’indien le grec l’anglais au lieu d’indianiser de gréciser d’angliciser l’allemand. Elles ont bien plus de respect face aux usages propres de la langue que devant l’esprit de l’œuvre étrangère. [...] L’erreur fondamentale du traduisant est qu’il maintient l’état fortuit de sa propre langue au lieu de se laisser puissamment mouvoir par la langue étrangère [traduction d’Antoine Berman]. Surtout lorsqu’il traduit d’une langue très éloignée, il lui faut remonter aux éléments ultimes du langage même, là où se rejoignent mot, image, son; il lui faut élargir et approfondir sa propre langue grâce à la langue étrangère; on n’imagine pas à quel point la chose est possible; jusqu’à quel degré une langue peut se transformer; de langue à langue il n’y a guère plus de distance que de dialecte à dialecte, mais cela non point quand on le prend trop à la légère, bien plutôt quand on les prend assez au sérieux [traduction de Maurice de Gandillac, cf. Benjamin 1971 et Benjamin 2000a]. II.4 Walter Benjamin (1968): „The Task of the Translator“, in: id. (2007): Illuminations: Essays and Reflections, ed. Hannah Arendt, new preface by Leon Wieseltier, translated by Harry Zohn, New York, Schocken Books/ Random House [1968: New York, Harcourt, Brace & World], 80-81 (soulignage en gras M.J.). Pannwitz writes: „Our translations, even the best ones, proceed from a wrong premise. They want to turn Hindi, Greek, English into German instead of turning German into Hindi, Greek, English. Our translaters have a far greater reverence for the usage of their own language than for the spirit of the foreign works… The basic error of the translator is that he preserves the state in which his own language happens to be instead of allowing his language to be powerfully affected by the foreign tongue. Particularly when translating from a language very remote from his own he must go back to the primal elements of language itself and penetrate to the point where work, image, and tone converge. He must expand and deepen his language by means of the foreign language. It is not generally realized to what extend this is possible to what extend any language can be transformed, how language differs from dialect; however, this last is true only if one takes language seriously enough, not if one takes it lightly“. La traduction de l´intraduisible 51 II.5 Walter Benjamin (1997b): „The Translator’s Task“, translatet by Steven Rendall = Rendall, Steven (1997a): „The Translator’s Task, Walter Benjamin (Translation)“, in: TTR: traduction, terminologie, redaction 10, 2, 163s. (soulignage en gras M.J.). He writes: „our translations even the best start out from a false principle they want to germanize Indic Greek English instead of indicizing, graecizing, anglicizing German. they are far more awed by their own linguistic habits than by the spirit of the foreign work [...] the fundamental error of the translator is that he holds fast to the state in which his own language happens to be rather than allowing it to be put powerfully in movement by the foreign language. he must in particular when he is translating out of a language very distant from his own penetrate back to the ultimate elements of the language at that very point where image tone meld into one he must broaden and deepen his own language through the foreign one we have no notion how far this is possible to what degree each language can transform itself one language differentiates itself from another almost as one dialect from another but this happens not when they are considered all too lightly but only when they are considered with sufficient gravity“. II.6 Walter Benjamin (2000): „Sarcina traducătorului“, in: id.: Iluminări, traduit de l’allemand par Catrinel Pleșu, Bucarest, Editură Univers, 53-54; Walter Benjamin (2002): „Sarcina traducătorului“, in: id.: Iluminări, traduit de l’allemand par Catrinel Pleșu, Cluj-Napoca, IDEA Design & Print Editură, 47 (soulignage en gras M.J.). Pannwitz spune: „Chiar si cele mai bune traduceri ale noastre pornesc de la o premisă greșită. Ele vor sa germanizeze hindi, greaca, engleza, în loc să hindizeze, grecizeze și anglicizeze germana. Au un respect mult mai mare față de obiceiurile limbii lor decît față de spiritul operelor străine… Eroarea fundamentală a traducătorului constă în faptul că-și menține propria limba în starea în care se află întîmplător, în loc să-i permită să fie puternic afectată limba străină. Mai ales atunci cînd traduce dintr-o limbă care este foarte îndepărtată de a sa, trebuie să se întoarcă la elementele ultime ale limbii înseși, acolo unde opera, imaginea și tonul sînt convergente. Trebuie să extindă și să aprofundeze propria limba prin intermediul limbii străine. În general, nu se știe în ce măsură este posibil acest lucru, în ce măsură se poate transforma o limbă; distanța de la o limbă la alta nu este mai mare decît de la un dialect la altul, de aceea, limba nu trebuie tratată cu ușurință, ci luată în serios“. II. Sprach- und text(sorten)spezifische Probleme der Übersetzung Vera Neusius Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache: Deutsche und französische Online- Werbeanzeigen der Telekommunikation und Unterhaltungselektronik im Vergleich 1 Einführende Bemerkungen und Zielsetzung Werbung allgemein ist ein stets und überall präsentes, aber auch ebenso vielschichtiges internationales gesellschaftliches Phänomen. Dementsprechend repräsentiert der Bereich der Werbesprache - heute vor allem geprägt durch Technizität und medialen Wandel - einen komplexen und transdisziplinären Forschungsgegenstand. Mit dem Fokus auf einer sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit Werbesprache hat dieser Beitrag das Ziel, die sprachliche Form werbesprachlicher Translate in verschiedenen Sprachen deskriptiv zu untersuchen. Auf der Grundlage einer kontrastiven Analyse der Übersetzung englischer Produktwerbung aus den Bereichen der Telekommunikation und Unterhaltungselektronik in die entsprechenden deutschen und französischen Anzeigenformate soll auf sprachvergleichender Ebene ermittelt werden, inwieweit und in welcher Form ausgangssprachliche Charakteristika in den zielsprachlichen Texten bzw. Textelementen übersetzt werden. Zuvor ist jedoch auszuführen, welche theoretischen und methodischen Prämissen zu einer vergleichenden sprachwissenschaftlichen Betrachtung werbesprachlicher Übersetzungsformate zu beachten sind. 2 Linguistische Übersetzungswissenschaft und Kontrastive Linguistik Zu Beginn ist zunächst zu spezifizieren, an welcher Schnittstelle zur linguistischen Übersetzungswissenschaft sich die Fragestellung des vorliegenden Beitrags bewegt und welche konkrete Rolle dabei der Kontrastiven Linguistik zukommt. Vera Neusius 56 2.1 Übersetzung aus sprachwissenschaftlicher Perspektive In Hinblick auf das vorliegende Korpus wird der Terminus Übersetzung in seiner klassischen Bedeutung als „Resultat einer textverarbeitenden Aktivität“ (Koller 2008: 183) verstanden, in der eine übersetzungskonstituierende Äquivalenzrelation zwischen dem ausgangssprachlichen (AS) Text und den zielsprachlichen (ZS) Texten entsteht (cf. ibid.). Bei der Untersuchung einer solchen Äquivalenzrelation betont Koller, dass eine sprachwissenschaftliche Betrachtung des Verhältnisses Übersetzung - AS-Text obligatorisch ist, sofern die „Sprachlichkeit von Texten“ und die „Textualität von Sprache“ zentrale Kriterien der Untersuchung darstellen (ibid.). Im vorliegenden Korpus geht es dabei konkret um die Definition spezifischer sprachlich-textueller Aspekte der Textsorte Werbung, wobei [...] die linguistisch strukturellen Voraussetzungen bei einzelsprachspezifischen sprachlich-stilistischen Erscheinungen [von zentraler Bedeutung sind] (id.: 184). Baker (2011) präzisiert darüber hinaus fünf Bereiche möglicher Äquivalenzrelationen: equivalence at word level, equivalence above word level (collocations, idioms, fixed expressions), grammatical equivalence, textual equivalence und pragmatic equivalence, wobei im Rahmen dieses Beitrags der Schwerpunkt der Untersuchung auf den ersten drei Ebenen liegen wird. Jedoch stellt eine ausschließliche Fokussierung eines linguistischstrukturellen Ansatzes bei Werbetexten und deren Übersetzungen einen unzureichenden Untersuchungsansatz dar, da außersprachliche Faktoren gleichermaßen mit in die Untersuchung einzubeziehen sind. In Anlehnung an diese Forderung definiert Koller Übersetzung ferner als „sprachlich-textuelle Kulturtechnik“ (2008: 183), die [w]irtschaftliche und Marketing-Bedingungen, rechtliche Voraussetzungen, Werbetraditionen und Konventionen, soziale Normen und Tabus, spezielle landesspezifische Übersetzungskonventionen, etc. (id.: 184) berücksichtigt. Auf der Grundlage dieser Überlegungen beabsichtigt der vorliegende Beitrag, die Komponenten Sprache, Text und Kultur als werbesprachenkonstituierende Elemente zu betrachten, wodurch die Kombination eines systemorientierten, sprachformbezogenen Ansatzes der kontrastiven Linguistik mit der Methodik der sprachwissenschaftlichen Übersetzungsforschung zur Voraussetzung wird. So ist neben einer abstrakten Betrachtungsebene, auf der lexikalische, morphosyntaktische und textgrammatische Aspekte in AS-Text und ZS-Texten verglichen werden, gleicherma- Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 57 ßen konkret zu bedenken, wie Bedeutungen in die ZS-Texte übertragen werden (sog. functional loading; cf. id.: 183). Ein solch deskriptiver Ansatz, gekennzeichnet durch eine größere Nähe zur Übersetzungspraxis, impliziert auf methodischer Ebene folglich eine gleichwertige Relevanz von bottom-up- und top-down-Prozessen für die Übersetzung (cf. id.: 185), d.h. eine synchrone Betrachtung der „kommunikativen und kulturellen Situierung“ der Übersetzungen mit deren „sprachlich-stilistische[n] Erscheinungen“ (ibid.). Für diesen linguistisch-deskriptiven Ansatz der Übersetzungswissenschaft bleibt jedoch eine sich auf die Äquivalenzrelation der Übersetzung beziehende Restriktion, nämlich die ihrer „inhärent normative[n] Komponente“ (id.: 186) zu ergänzen: Je stärker die Übersetzungen von der Vorlage abweichen, desto schwieriger ist es, sie mit linguistischen Parametern zu erfassen (cf. id.: 188). Für die folgende Analyse ist also letztlich vor allem zu klären, ob die einzelnen Textelemente überhaupt eine Übersetzung bzw. Übersetzungslösung darstellen. 2.2 Übersetzungsvergleich und Sprachvergleich Wie oben bereits signalisiert, impliziert die Ausweitung des Untersuchungsgegenstands isolierter einzelsprachiger Übersetzungen auf die Ebene eines Sprachvergleichs deutscher und französischer Werbetranslate als weitere methodische Überlegung, dass ein Sprachvergleich auf Grundlage eines Übersetzungsvergleichs per se nicht unproblematisch ist (cf. Albrecht 1999; Blumenthal 2 1997). Neben den oben bereits angesprochenen kulturellen Spezifika repräsentieren die unterschiedlichen Sprachsysteme, Stilebenen und -traditionen sowie letztlich auch normative Vorgaben mögliche Faktoren, die das Ziehen eindeutiger Rückschlüsse auf Gemeinsamkeiten bzw. Gegensätze zwischen den Sprachen erschweren können, wobei grundsätzlich ein Übersetzungsvergleich innerhalb strukturell ähnlicher Sprachen aus sprachwissenschaftlicher Sicht zugänglicher ist als zwischen typologisch unterschiedlichen Sprachen (cf. Albrecht 1999: 18). Ferner weist Blumenthal ( 2 1997: 5) darauf hin, dass beschreibbare Gegensätze in der Regel auf pragmatischer Ebene weitaus ausgeprägter sind als auf lexikalischer oder grammatischer. Unter diesen Voraussetzungen kann im Rahmen der vorliegenden Fragestellung ein Übersetzungsvergleich demnach nur als Hilfsmittel angewendet werden. Vera Neusius 58 2.3 Werbesprache und Übersetzung Die ständige Weiterentwicklung und Diversifikation der Massenkommunikation und die vor allem werbetechnisch relevante Entstehung globaler Marketing-Konzepte beeinflussen den Bereich der Werbesprache maßgeblich. Diese Intensivierung des kommerziellen Handels bedingt konsequenterweise - und verstärkt durch die technischen Möglichkeiten des Web 2.0 - eine Vervielfältigung kommunikativer Prozesse, darunter werbesprachlicher Übersetzungen, deren Zahl stetig steigt: La masse de traductions publicitaires est déjà considérable, et ne cesse pas de s’amplifier. Elle suit en cela l’ouverture de nouvelles aires linguistiques au commerce international. Les supports sont de plus en plus diversifiés: presse, radio, télévision, internet (Guidère 2000: 6). Mit Rückblick auf die oben genannte Definition von Übersetzung als Ergebnis eines Textverarbeitungsprozesses, bei dem der Grad strukturelllinguistischer Äquivalenz zwischen AS und ZS fokussiert wird, schließt sich als zentrale Überlegung die Frage nach der generellen Übersetzbarkeit von Werbesprache an, d.h. ob Werbesprache überhaupt im Sinne einer möglichst äquivalenten Übertragung eines AS-Textes in ZS-Texte verstanden werden kann, oder ob allgemein eher von Adaption zu sprechen ist (cf. id.: 7). Begründet ist diese Frage nach Guidère primär durch den caractère opérationnel werbesprachlicher Übersetzungen, aus dem die grundlegende Schwierigkeit resultiert: „comment décrire la relation de deux systèmes de communication différents à une même réalité, à une même finalité? “ (id.: 46). Zu bedenken ist demnach der heute durch die internationale Funktionalisierung der sprachlichen Form erforderliche Ausbau klassischer binärer Ansätze bei der Übersetzung von Werbesprache (texte original/ texte traduit; langue source/ langue cible) sowie unterschiedlicher methodischer Ansätze (z.B. traduction de la lettre/ traduction de l’esprit) durch kontextuelle und situationelle und aus dem Sprachgebrauch resultierende Gegebenheiten (cf. ibid.) sowie die Definition des aus diesem Prozess hervorgehenden Translats als „multitexte publicitaire“ (id.: 50), der sprachlich und strukturell als heterogenes „produit médiatique protéiforme“ zu verstehen ist (id.: 51): Enfin au niveau traductionnel, le multitexte désigne le résultat communicationnel des différentes formes de transfert publicitaire: réécriture, adaptation, transposition ou encore simple transcodage. La diversité des démarches traduisantes ne doit pas masquer les points d’ancrage sur lesquels se fonde en Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 59 théorie le multitexte. Ceux-ci [...] sont perceptibles à la surface du texte: mise en page, iconographie, typographie, chromatisme, etc. (Guidère 2000: 51). Für eine kontrastive Untersuchung der ausgewählten deutschen und französischen Online-Werbeanzeigen ist aus diesem Grund der Begriff der „pluritraduction“ (id.: 54) hervorzuheben, der die verschiedenen interlinguistischen Übersetzungsvarianten einer einzelnen, auf einem „Ur- Text“ basierenden, international vertriebenen Werbebotschaft bezeichnet (id.: 56) und der die Annahme verschiedener vom Übersetzer beim Transfer eines Textes in die einzelnen Zielsprachen verwendeter Konzepte und Mechanismen sowie deren Realisation vor dem Hintergrund einzelsprachenspezifischer Standardisierungsrestriktionen voraussetzt. 3 Werbesprache als Gegenstand der Sprachwissenschaft Um Werbesprache als Gegenstand der Sprachwissenschaft einordnen zu können, ist es zunächst erforderlich, den Begriff Werbung für die angestrebte Untersuchung unter Hinzunahme folgender Definition abzugrenzen: Werbung wird die geplante, öffentliche Übermittlung von Nachrichten dann genannt, wenn die Nachricht das Urteilen und/ oder Handeln bestimmter Gruppen beeinflussen und damit einer Güter, Leistungen und Ideen produzierenden oder abgesetzten Gruppe oder Institutionen (vergrößernd, erhaltend oder bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben) dienen soll (Hoffmann 2 1981: 10). Für das zu untersuchende Korpus kann der Bereich der Werbung auf den der Wirtschaftswerbung eingeschränkt werden, denn bei den oben benannten „Gruppe[n] oder Institutionen“ handelt es sich um Wirtschaftsunternehmen aus den Bereichen der Telekommunikation und Unterhaltungsbranche. Weiterhin kann diese Zuordnung - wie an späterer Stelle die ausgewählten Belege zeigen werden - auf den Bereich der Absatzwerbung beschränkt werden, da die Werbeanzeigen jeweils sowohl auf eine Förderung des Absatzes als auch des gesamten Betriebs abzielen (cf. Schweiger/ Schrattenecker 8 2013: 92). Eine weitere Differenzierungsmöglichkeit erlauben die Kriterien der räumlichen Verbreitung sowie der Zielgruppe der Wirtschaftswerbung. „Werden [...] Anzeigen [...] in mehreren Ländern eingesetzt, so wird von internationaler Werbung gesprochen“ (Klink 2008: 5; Hervorhebung V.N.). Zu betonen ist dabei, dass die Werbemittel, also im vorliegenden Fall Online-Werbeanzeigen „mehr oder weniger auf die Eigenarten der Empfänger abgestimmt - also mehr oder weniger standardisiert - sein [kön- Vera Neusius 60 nen]“ (Dmoch 1997: 6), wobei eine vollständige Standardisierung nur dann vorliegt, wenn alle Elemente der ursprünglichen Werbeanzeige erhalten bleiben, d.h. wenn auch keine Übersetzung vorliegt (cf. Klink 2008: 5). Hinsichtlich der Subkategorie Absatzwerbung ist zusätzlich die Art der Markenführung relevant, d.h. ob Produkte oder Leistungen beworben werden, ob es sich - wenn Produkte vorliegen - um Verbrauchsgüter oder - wie bei den hier verwendeten Beispielen - langlebigere Gebrauchsgüter handelt und welchen Stellenwert bzw. welchen Verbreitungsgrad das Produkt in der Gesellschaf hat (cf. Janich 6 2013: 20ss.). Dabei ist grundsätzlich auch zu unterscheiden, ob und wie stark das beworbene Produkt mit einer Marke und einer Markenpositionierung zu verbinden ist, wobei bei Unternehmensmarken (sog. Dachmarken) auch die Darstellungsart der Marke (Bildmarke vs. Wortmarke oder Kombinationsformen) von Interesse ist (cf. id.: 21). 1 Maßgeblich ist außerdem die Betrachtung der Kommunikationspolitik der einzelnen Wirtschaftsunternehmen. Bruhn/ Martin/ Schnebelen (cf. 2014: 69) verwenden für deutschsprachige Unternehmen den Begriff der integrierten Kommunikation, die die Absicht hat „durch eine umfassende integrative Ausrichtung ihrer Kommunikationsaktivitäten einen abgestimmten und einheitlichen Kommunikationsauftritt sicherzustellen“. Dazu zählen hinsichtlich einer Betrachtung von Werbeanzeigen - internationale Formate eingeschlossen - sowohl Aspekte einer inhaltlichen (z.B. Slogans, Schlüsselbilder, Kernbotschaften) als auch einer formalen Integration (Logos, Typographie, Layout, Farben) (cf. ibid.). An diesen Punkt sind weitere Grundlagen der Werbekommunikation anzuschließen. Dabei ist generell vorwegzunehmen, dass es sich bei Werbesprache und -kommunikation stets um „inszenierte Formen der Kommunikation“ (cf. Janich 6 2013: 40) handelt. So ist bei einem sprachwissenschaftlichen Untersuchungsansatz generell zu bedenken, dass Werbung als Träger spezifischer Kommunikationsbedingungen anderen kommunikativen Gesetzen als Sach- oder Fachtexte unterliegt (cf. ibid.). Unter diesen spezifischen Kommunikationsbedingungen lassen sich folgende, hier kurz gefasste Faktoren subsumieren (cf. id.: 24ss.): 1 Auf den sog. Marketing-Mix als werbestrategisches Grundelement, das Konstituenten der Marktanalyse und der Markenpositionierung umfasst, sowie auf die daraus resultierenden Werbeinstrumente kann im Rahmen einer sprachwissenschaftlichen Fragestellung nicht weiter eingegangen werden (cf. dazu Janich 6 2013; Zollondz 4 2012; Zollondz 2011). Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 61 - angestrebte Werbeziele (Einführungswerbung, Expansionswerbung, Imagebildung etc.) - Bestimmung der Zielgruppe (Unterscheidung nach soziodemographischen, psychologischen, soziologischen Merkmalen und Konsumdaten) - verwendete Kommunikationsstrategie (vorrangig visuelle low-involvement-Anzeigen vs. vorrangig sprachliche high-involvement-Anzeigen) - Instrumente der Werbekommunikation (Werbemittel und Werbeträger) - Maßnahmenplanung (strategische und taktische Formen) Hinsichtlich des letztgenannten Punktes ist für Online-Werbeanzeigen das Prinzip der „Pull-Information“ (id.: 31) erwähnenswert, das die Möglichkeit einer individuellen Produktinformationssuche ermöglicht und somit einen signifikanten Unterschied zu anderen medialen Formen (Zeitung, Zeitschrift, Fernsehen), vor allem mit Blick auf die Richtung der Werbekommunikation, darstellt. 2 3.1 Kulturelle Aspekte internationaler Werbung Wie bereits oben (cf. 2.) angedeutet, fordert ein einzelsprachenübergreifender Ansatz eine Reflexion der Umsetzung kultureller Spezifika in internationaler Werbung und Werbesprache, deren Spezifik „[…] in der Komplexität der betreffenden Märkte und der Vielfalt der absatzrelevanten Einflussgrößen [liegt]“ (Klink 2008: 18). Klink (id.: 19s.) weist hinsichtlich der verschiedenen Globalisierungs- und Internationalisierungsprozesse, die Werbung beeinflussen, auf die Standardisierungsdebatte hin, die sich en gros in eine Konvergenz- und eine Divergenzthese einteilen lässt. Die Konvergenzthese (Levitt 1983; cf. Klink 2008: 19) geht von einer weltweiten politischen und wirtschaftlichen Annäherung der Länder und Märkte aus und sieht den Ursprung der schnellen Verbreitung internationaler Werbung in der Homogenisierung des Kaufverhaltens und in der Standardisierung der Werbekonzepte. Die Divergenzthese „[...] geht im Gegenteil davon aus, dass die Unterschiede zwischen Konsumenten aus 2 Auf eine detaillierte Beschreibung kommunikativer und pragmatischer Funktionen von Werbesprache im Sinne einer massenmedialen Kommunikationsform sowie der Rolle weiterer möglicher Kommunikationsbedingungen (Inszenierung von Varietäten durch Funktio- und Soziolekte, schriftliche und mündliche Konzeptformen, cf. z.B. Janich 6 2013: 42ss.) muss in Hinblick auf die oben genannten Schwerpunkte der Analyse verzichtet werden. Vera Neusius 62 verschiedenen Ländern und Kulturen weiter bestehen und im Extremfall sogar zunehmen“ (Klink 2008: 22), wobei darüber hinaus die These besteht, dass gerade durch Standardisierungsbestrebungen eine zunehmende Nachfragedifferenzierung ausgelöst wird (cf. ibid.). Auch wenn also universalistische Tendenzen im Konsumverhalten beobachtbar sind, so werden Divergenzen dennoch durch jeweils landespezifische, kulturelle Faktoren wie „Bedürfnisstrukturen, Werte, soziale Institutionen, Riten, Gewohnheiten“ (id.: 23) sowie ferner durch den „wirtschaftlichen Entwicklungsstand, rechtliche Verfügbarkeit sowie unterschiedliche Verfügbarkeit der Medien“ (ibid.) bedingt. Dmoch (1997: 15) weist hingegen darauf hin, dass in der Praxis eher Mischformen beider Thesen dominieren und die Standardisierung von Werbeanzeigen in Abhängigkeit der jeweiligen Werbesituation und -strategie steht. Die letztgenannten Strategien zur Umsetzung eines globalen Konzepts werden von Klink (2008: 33) als Internationalisierungsstrategien bezeichnet, die weiter unterteilt werden können in international einheitliche Kampagnen, internationale Dachkampagnen und international differenzierte Kampagnen (cf. ibid.). Umgekehrt steht in zentraler Abhängigkeit zu diesen Strategien der heterogene Terminus Kultur, der als Einflussfaktor standardisierter Werbeanzeigen folgende handlungstheoretische und semiotische Komponente beinhaltet: Ein Artefakt in Form einer Werbeanzeige (Text) wird verschiedenen Zeichenbenutzern (Individuen) vorgelegt, die unterschiedlich sozialisiert worden sind und demzufolge über andere Kodes verfügen. Diese Kodes manifestieren sich im Handeln der Individuen als typische Kulturstandards, Normen und Werte, mit deren Hilfe sie Signifikanten Signifikate zuordnen können. Dem gleichen Signifikant (Text-Anzeige) wird aufgrund verschiedener Kodes eine andere Bedeutung zugeschrieben (Extremfall), oder diese Bedeutung differiert zumindest in Teilbereichen. Das Ergebnis ist im schlechtesten Falle eine Nichtzuordnung, also ein Nichtverstehen oder eine Fehlinterpretation (Hennecke 1999: 43). Hinsichtlich einer anzunehmenden Relevanz des Kulturtransfers in der Werbetextübersetzung können also für die Übersetzerpraxis folgende Grundüberlegungen festgehalten werden: Da Werbesprache als zielorientierte und operative Textsorte einzustufen ist, steht bei der Betrachtung von Anzeigenformaten vor allem die Übertragung der Funktion des AS- Textes auf den Text in der Zielkultur im Vordergrund (cf. Klink 2008: 54). Diese „interkulturelle Translation“ muss sowohl auf „innersprachlicher Ebene des Textes (lexikalische, grammatikalische und stilistische Elemen- Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 63 te)“ als auch nach „kulturellen außersprachlichen Determinanten“ (Ortsbezug, Zeitbezug und Mentalität der Zielgruppe) erfolgen (ibid.). Als abschließende Überlegung ist die Abhängigkeit der Übersetzung kultureller Faktoren von der jeweiligen gesellschaftlich-sprachlichen Situation 3 anzuführen: La découverte de la composante culturelle de la traduction a été en premier lieu une réaction contre une conception par trop ‘linguistique’: la traduction étant plus qu’un phénomène linguistique, il a bien fallu reconnaître ses aspects ‘culturels’. Or, le facteur ‘société’ met en évidence, à l’intérieur des cultures, le facteur ‘institutionnel’: c’est en tant qu’institutions que les sociétés orientent l’organisation des cultures, et notamment des communications, des langues, et donc des traductions (Lambert 2008: 69). Die sprachlich-institutionelle Wirkungskraft in den Gesellschaften ist im Zuge der Globalisierung und Mediatisierung, vor allem durch das Internet, immer weiter multilingualen Tendenzen gewichen (cf. id.: 74), die sich entsprechend auch auf den Bereich der Übersetzung auswirken: Une série de procédés particuliers trahissent plus aisément l’origine étrangère du texte et du discours importé: les calques lexicaux, ou les calques de structure [...] le slang des genres internationaux, à fortiori les allusions culturelles dans les genres textuels [...] (id.: 75). 3.2 Zur sprachlichen Form von Werbeanzeigen Neben der Einschränkung, dass die hier angestrebte exemplarische Untersuchung im Bereich der Werbesprache nur unter Vorbehalt allgemeingültige sprachlich-strukturelle Muster zu interpretieren vermag, verweist Janich ( 6 2013: 113) zudem auf die häufig gegebene Schwierigkeit einer systemorientierten Beschreibung von Anzeigensprache im Sinne einer nur an statistischen Werten orientierten Messung bestimmter lexikalischer, syntaktischer und textgrammatischer Merkmale. Durch den hier gewählten sprachvergleichenden Ansatz wird der Beleg einer textsortenspezifischen Systemhaftigkeit  sofern diese für Werbetexte überhaupt geltend gemacht werden kann  natürlich weiter erschwert. Insofern sind die im fol- 3 Lambert (cf. 2008: 73) bezieht seine Ausführungen auf „monolinguale Gesellschaft[en]“ im Sinne von Nationalstaaten mit Tendenz zu sprachlichem Reduktionismus („réductionnisme linguistique“), der vor allem durch die Institutionalisierung der jeweiligen Standardsprache sowie in Form sprachpolitischer Restriktionen zum Ausdruck kommt (cf. ibid.: „l’impact de l’institution politique est plus frappant dans certains pays que dans d’autres“). Vera Neusius 64 genden Abschnitt dargestellten „sprachlichen Trends“ (Janich 2012: XV) sowie spätere Ergebnisse der Korpusanalyse als Tendenzen zu verstehen. 3.2.1 Lexik Auf Wortschatzebene sind nach Römer (cf. 2012: 33s.) folgende Überlegungen hervorzuheben: Wenn generell ein spezifischer Werbewortschatz angenommen wird, welche Differenzierungen können dann für den Bereich der Absatzwerbung festgestellt werden und welche lexikalischen Besonderheiten liegen in den einzelnen Textsorten der kommerziellen Werbung vor? Unter Annahme der Werbekommunikation als Menge „spezifische[r] lexikalische[r] Zeichenfunktionen“ (id.: 34ss.) ergeben sich somit u.a. folgende lexikalische Analysekategorien: Verständlichkeit vs. Unverständlichkeit, Mehrdeutigkeit und Vagheit, Usualität vs. Neuartigkeit, Stilschichtenmarkierungen und Stilfärbungen, Fachsprachlichkeit, internationale Markierung, Motiviertheit vs. Unmotiviertheit, Beziehungen zwischen Wörtern sowie wertende und emotive, zeitliche und regionale Markierung. Weitere Untersuchungskategorien bilden ferner Schlüsselwörter, d.h. „Wörter, die eine Schlüsselstellung im Gedanken- und Produktfeld der Werbung einnehmen“ und in der Regel in aktuelle, häufig gebrauchte semantische Felder eingebunden sind (cf. id.: 37), Hochwertwörter und Plastikwörter (cf. Janich 6 2013: 169). Hochwertwörter bezeichnen eine Gruppe aller Wörter, die „ohne die grammatische Struktur eines Komparativs oder Superlativs geeignet sind, das damit Bezeichnete (bei Substantiven) oder näher Bestimmte/ Prädizierte (bei Adjektiven) aufgrund ihrer sehr positiven Inhaltsseite aufzuwerten“ (Janich 6 2013: 169). Plastikwörter (cf. Pörksen 6 2004: 19) sind auf die wissenschaftliche Durchdringung des Alltags zurückzuführen und meinen populäre und umgangssprachlich verwendete Wörter, die allgemeingültige ‘Wahrheiten’ vermitteln (wie z.B. Entwicklung, Fortschritt, Struktur, Substanz). Weiterhin entscheidend für die emotive Funktion der Werbesprache sind Gefühls-, Affekt- und Bedeutungswörter, die auf denotativer Grundlage vor allem psychologisch verankert sind (cf. Römer 2012: 38). Bei einem einzelsprachenübergreifenden Ansatz sind in einem weiteren Schritt die jeweilige Wortartenverteilung sowie die verwendeten Wortbildungsmuster zu vergleichen. Hinsichtlich der Wortartenfrequenz konstatiert Janich ( 6 2013: 150ss.) für die deutsche Werbesprache eine klare, zumeist auf die Präferenz des Nominalstils sowie ihren referentiellen und autosemantischen Charakter zurückgeführte Dominanz der Substantive, gefolgt von Adjektiven. Bei den Verben ist trotz des werbesprachentypischen elliptischen Charakters auf die relativ hohe Zahl an Vollverben Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 65 hinzuweisen, die Dynamik, Vorgänge, Zustände etc. auszudrücken vermögen. Hinsichtlich der Wortbildung ist auf die Verwendung und Beschaffenheit der in den Einzelsprachen verwendeten Komposita und Derivata zu achten, wobei hier besonders Neologismen und Ad-Hoc- Bildungen von Interesse sind, da sie den spontanen und innovativen Charakter der Werbesprache stützen (cf. id.: 153). Für die deutsche Sprache kann diesbezüglich festgestellt werden, dass innerhalb beider Wortbildungsverfahren die Komposition aus Gründen der Sprachökonomie das häufiger vorliegende Wortbildungsverfahren repräsentiert (cf. ibid.). An letzter Stelle ist  gerade bei einem Sprachvergleich  der Gebrauch fremdsprachiger lexikalischer Elemente zu beachten, innerhalb dessen vor allem der Bereich der Anglizismen ein bereits viel behandeltes Phänomen darstellt. Bei den hier ausgewählten technischen Werbeanzeigen wird diesbezüglich zu klären sein, ob ein direkter Einfluss anglophonen Wortschatzes  mitunter hervorgehend aus den AS-Anzeigen  vorliegt, ob eine bestimmte Lehngutform dominiert und eventuell Rückschlüsse bezüglich Häufigkeit und funktionaler Unterschiede beim Gebrauch des Lehnguts in Abhängigkeit von der Wahl des Werbemittels gezogen werden können (cf. id.: 158). 3.2.2 Syntax und Textlinguistik In der Werbesprachenforschung liegt der Schwerpunkt im Bereich der Syntax auf der Sloganforschung (cf. Janich 6 2013: 181). Im Vordergrund stehen hierbei die verwendeten Satzarten und -formen sowie die Satzlänge. Insgesamt wird die Satzlehre im Bereich der Werbesprache aber gegenüber den übrigen sprachwissenschaftlichen Feldern vernachlässigt, da ihr strukturalistischer Ansatz zunächst nur wenig Aufschluss über funktionale Aspekte geben kann (cf. ibid.). Thim-Mabrey (2012: 108) weist darauf hin, dass für die Werbung im Allgemeinen als auch für die Anzeigenwerbung im Besonderen kein allgemeingültiges syntaktisches Profil existiert: Die Suche nach einer möglicherweise spezifischen werbesprachlichen Syntax kann freilich bestenfalls nur auf charakteristische Frequenzprofile abzielen, also auf eine typische Verbindung von auffälligen Häufigkeiten im Auftreten bestimmter sprachlicher Merkmale, wie z.B. einfacher statt komplexer oder kurzer statt langer Sätze und satzwertiger Einheiten, parataktischer statt hypotaktischer Verknüpfung, elliptischer Strukturen, prädikatloser Phrasen und Vera Neusius 66 verschiedener Formen der Aufforderung. Eine Werbeanzeige kann allerdings ebenso auch sehr wenige von diesen Merkmalen enthalten [...]. 4 Zusammenfassend können also für die Kategorien Syntax und Textlinguistik folgende Untersuchungskriterien aufgestellt werden: Auf struktureller Ebene gilt es, die „Satzform im weitesten Sinne“ zu untersuchen (Satzlänge, Satzkomplexität, Komplexität einzelner syntaktischer Kategorien, Ellipsen, aktive vs. passive Konstruktionen, Tempus- und Moduswahl, Stilfiguren, nähebzw. distanzsprachliche Markierungen, Thema- Rhema-Strukturen, mise en relief) (cf. id.: 110). Auf pragmatischer und funktionaler Ebene ist es Ziel, Satzarten (Ausrufe-, Aufforderungs- und Fragesätze) und ihre Formen, Anredeformen, Satzgliedstellungen sowie die Verwendung von Konnektoren zu ermitteln, um diese mit der jeweiligen Äußerungsfunktion der Anzeige in Verbindung zu setzen (cf. id.: 111s.). Einzuwenden ist jedoch, dass eine ausschließliche Untersuchung auf Satzebene gerade bei werbesprachlichen Texten nicht ausreichend ist. Aus textlinguistischer Sicht ist bei Werbeanzeigen vor allem die Beziehung zwischen Text und Bild mit in Betracht zu ziehen, zumal „der visuelle Kode in der heutigen Anzeigenwerbung den sprachlichen zunehmend in den Hintergrund drängt“ (Klink 2008: 78), da über Bilder eine schnellere und eindringlichere Informationsübermittlung realisiert werden kann. Werbeanzeigen sind also mehrfach kodiert (cf. id.: 84), mit dem Ziel, dass Bild und Text sich möglichst passend ergänzen: „Das visuelle Bild und der sprachliche Kommentar bilden nicht einfach eine Summe semiotischer Elemente, sondern stehen in einer Interrelation, die zu einer neuen textuellen Gesamtheit führt“ (Nöth 1985: 416, zit. in: Klink 2008: 84). Demnach ist eine textlinguistische Perspektive zu ergänzen, mit dem Ziel, verschiedene Bausteine von Werbeanzeigen zu identifizieren und in den einzelsprachlichen Werbekommunikaten zu vergleichen. Adamzik (cf. 2012: 128) betont hierbei allerdings, dass in der aktuellen Werbung des 21. Jahrhunderts  wozu gerade Online-Werbeanzeigen zu zählen sind  die klassische Untergliederung in Schlagzeile, Fließtext, Slogan und Produktname (cf. z.B. Janich 6 2013) mitunter oft nicht mehr möglich ist. 4 Die Korpusanalyse wird sich an diesen Parametern orientieren, wobei der Schwerpunkt auf der Beschreibung und dem Vergleich der syntaktischen Konstituenten in den einzelnen Sprachen liegt. Signifikante Aussagen bzgl. der Auswirkungen gewählter Werbemittel auf einzelsprachliche syntaktische Strukturen (z.B. gesprochene vs. geschriebene Sprache) können im gegebenen Rahmen nicht geleistet werden. Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 67 3.2.3 Textgrammatik Die letzte Analysekategorie umfasst textgrammatische Aspekte. Wie bereits oben beschrieben, besteht in der Werbesprache - hervorgerufen durch elliptischen Satzbau und Unregelmäßigkeiten in Interpunktion und Orthographie - ein grundlegendes Problem hinsichtlich der Satzdefinition, weshalb Janich anstelle von Sätzen den Terminus der „textgrammatischen Analyseeinheiten“ (cf. 6 2013: 185) vorschlägt. Auf der Grundlage eines solchen Verständnisses werden in der Korpusanalyse die zentralen textgrammatischen Funktionsmittel, Kohärenz und Kohäsion, anhand folgender Vertextungsmittel kontrastiv betrachtet: Rekurrenz (explizit vs. implizit), Deixis, Konnexion und Isotopie. Das letztgenannte Kriterium wird dabei als „eine Verknüpfung auf der semantischen Ebene durch die Rekurrenz semantischer Merkmale“ verstanden (id.: 187) und ist somit per definitionem mit den lexikalischen Komponenten der Anzeigenformate verwoben, da isotopische Strukturen sowohl die Aufmerksamkeit des Rezipienten wecken als auch inhaltliche Schwerpunkte setzten und positive Produkteigenschaften betonen. 3.2.4 Kulturelle Spezifika und kulturkontrastive Ansätze In Anschluss an die oben angeführten theoretischen Überlegungen zur Bedeutung kultureller Aspekte in der Werbesprache dient dieser Absatz der Illustration möglicher methodischer Ansatzpunkte. Nielsen (cf. 2012: 306) betont eine praxisbezogene Relevanz kulturübergreifender Untersuchungen der Werbesprache sowohl hinsichtlich der Adaption interkultureller Unterschiede durch die werbenden Unternehmen selbst als auch in Bezug auf die Forschung im Bereich Werbesprache, die nur ansatzweise über kulturkontrastive Ansätze, z.B. im Bereich der Disziplin Cross- Cultural-Communication verfügt. In Anlehnung an diese Disziplin sind die Frage nach den operationellen Erfassungsmöglichkeiten kultureller Kontraste, die damit verbundene Auswahl von Analysekategorien sowie die Frage nach der Beschaffenheit des Untersuchungsgegenstands hier von fundamentalem Interesse. Was den Untersuchungsgegenstand angeht, unterscheidet Nielsen zwischen syntagmatischen und paradigmatischen Korpora (cf. ibid.). Nach dieser Differenzierung ist das hier gewählte Korpus als paradigmatisch einzustufen, da stets dasselbe Werbemedium und dementsprechend auch gewissermaßen dieselbe Textsorte  sofern Werbetexte auf eine Textsorte reduzierbar sind  gewählt wurde. Im heterogenen und vielschichtigen Kulturbegriff selbst begründet liegt die Vielzahl möglicher methodischer Ansätze, worunter der gewählte linguistisch- Vera Neusius 68 übersetzungstheoretische Ansatz auf Grundlage einer kontrastiven Textanalyse nur eine Möglichkeit (z.B. neben marketingtheoretischen und interkulturellen Perspektiven) darstellt (cf. id.: 307). Als enger gefassten Begriff für den sprachwissenschaftlichen Ansatz verweist Spillner (1981: 243, zit. in: ibid.) auf die Methode der kontrastiven Textologie „die die Charakteristika von Textsorten auf allen Sprachebenen interlingual vergleicht [...]“. Hinsichtlich einer analytischen Erfassungsmöglichkeit kultureller Elemente in Werbetexten schlägt Nielsen als Grundlage (cf. 2012: 308ss.) das Modell der kumulativen Fachtextanalyse (Hoffmann 2 1985; 1987) aus der Fachsprachenforschung vor, bei dem zwei übergeordnete Kategorien erfasst werden: eine textinterne Kategorie zur Erfassung struktureller, linguistischer Merkmale und eine textexterne Kategorie, die funktionelle und kommunikative Merkmale erfasst. Die folgende Tabelle zeigt eine Zusammenstellung ausgewählter, bei Nielsen (cf. 2012: 310) aufgeführter externer und interner Analysekategorien, die später als Analyseraster verwendet werden. Die internen Kategorien ergeben sich gleichermaßen aus den oben beschriebenen sprachwissenschaftlichen Untersuchungsfeldern. 5 Textexterne kulturaffine Analysekategorien Textinterne kulturaffine Analysekategorien Marktsituation Makrostruktur Marketingstrategie Visuelle Komponenten Marke Lexik und Morphologie Unternehmen Syntax und Textlinguistik Produktklasse Textgrammatik Produkt Pragmatik gesellschaftlich-sprachliche Situation Tabelle 1: Textexterne und -interne kulturaffine Analysekategorien 3.2.5 Spezifika von Online-Werbeanzeigen Im Vergleich zu den klassischen Werbeformaten (Printanzeigen, Plakatwerbung) stellt das Internet eine neue und mittlerweile viel genutzte 5 Die tabellarischen Unterpunkte in der Klammer können im Rahmen dieses Beitrags nicht bzw. nur in Ansätzen berücksichtigt werden. Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 69 Werbemöglichkeit dar (cf. Runkehl in Janich 6 2013: 95). Trotz seines Potentials weisen Lühken/ Winkelmann (cf. 2008: 300) dennoch auf seine prinzipiell geringe Reichweite im Vergleich zur Hörfunk- und Fernsehwerbung hin, wobei auch diesbezüglich eine schnelle Weiterentwicklung und Optimierung angenommen werden kann (s. aktuelle Zahlen unten). Obwohl die Zahl der Haushalte mit Internetanschluss stetig steigt, ist die Verbreitung in Abhängigkeit von Altersklasse und Bevölkerungsschicht immer noch geringer als die der klassischen Medien (cf. ibid.). Unterschiede hinsichtlich der flächendeckenden Nutzung des Internets ergeben sich auch für die einzelnen Länder, wobei sich hier die Werte immer weiter annähern: Laut der aktuell verfügbaren Statistik des INSEE (April 2010) beläuft sich die Zahl französischer Haushalte mit Internetanschluss auf 64% (unter einem Anstieg von 52% innerhalb der vergangenen zehn Jahre). Wiederum 24% dieser zwei Drittel der Gesamtbevölkerung verfügen über einen mobilen Internetanschluss. Die Zahl deutscher Nutzer ab dem zehnten Lebensjahr lag im vergangenen Jahr nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei 79%. Hinsichtlich der Altersklasse repräsentiert in beiden Ländern die Altersgruppe der 15bis 30-Jährigen den stärksten Nutzeranteil (zwischen 80% und 98%). Diesen Angaben ist zu entnehmen, dass die Nutzung des Internets sich vorwiegend auf einen jungen Zielmarkt mit vergleichsweise hoher Zugänglichkeit zu den entsprechenden Kommunikationskanälen konzentriert. Lühken/ Winkelmann (ibid.) ergänzen diesbezüglich, dass [i]m Internet platzierte Werbebotschaften ihren Zweck [nur] dann erfüllen, wenn die Zielgruppe der beworbenen Produkte dem durchschnittlichen Internetnutzer ungefähr entspricht. Eine solch positive Konstellation ist bei Gebrauchsgütern aus dem technischen Bereich (Handys, Smartphones, Tablets, Computer und Computerzubehör, Laptops, Fernseher etc.) gegeben, sodass die Segmentierung durch die werbetreibenden Unternehmen im Bereich der Zielmarktfestlegung (targeting) und der Markenpositionierung (positioning) (cf. Schweiger/ Schrattenecker 8 2013: 55) auf günstige Voraussetzungen trifft. Auf der Ebene des Mikrokosmos von Internet-Formaten ergeben sich weitere Unterschiede zu den klassischen Werbetechniken: Online-Werbeanzeigen können in Form von Bannern, Pop Up Ads, Microsites etc. auf fremden Websites, die als Werbeträger fungieren, platziert werden. Diese multimediale Gestaltungsmöglichkeit hat natürlich den Vorteil, dass eine möglichst breite, aber dennoch auch spezifische Konsumentengruppe erreicht werden kann (cf. id.: 148). Bei Integration in die Unternehmensweb- Vera Neusius 70 sites jedoch muss die Produktwerbung erst einmal vom Rezipienten gefunden werden (über Suchmaschinen, intermediale Verweise, Link-Listen), bevor eine Weiterleitung auf die Firmenwebsite (Corporate Website, cf. ibid.) möglich ist. Aus dieser Vielzahl an „Online-Kommunikationsinstrumenten“ (cf. id.: 146) ergeben sich folgende Charakteristika für Werbeanzeigen aus dem Internet (cf. Runkehl in Janich 6 2013: 95ss.): - Hypertextualität (als Alleinstellungsmerkmal für Internet-Werbung) - Multimedialität und daraus resultierende Interaktivität (Komplexität der Wahlmöglichkeiten) - ‘Weg des Nutzers zur Information’ - Rückantwortmöglichkeit und Nutzeraktivitäten - potenzielle Möglichkeit des Systems zur Überwachung der Informationsnutzung - Suchfunktionen - interpersonale Kommunikation Noch an letzter Stelle zu ergänzen bleibt das im Rahmen des Web 2.0 erhöhte und „veränderte Teilhabepotenzial an Möglichkeiten des Netzes“ (Gerhards/ Klingler/ Trump 2008: 139, zit. in: Janich 6 2013: 103), woraus sich neue, interaktive Formen der Werbung hinführend zum Phänomen des Social Commerce ergeben. 4 Exemplarische Korpusanalyse Als Korpus wurden im Juni 2014 stichprobenartig Online-Werbeanzeigen internationaler Global Player-Unternehmen (Blackberry, Samsung, Apple) aus der Branche Telekommunikation und Unterhaltungselektronik ausgewählt. Alle Werbeanzeigen entstammen den Corporate Websites der einzelnen Firmen und wurden dementsprechend aktiv dort aufgerufen. Dieser aktiven Informationssuche ist in der Regel eine hoch involvierte (highinvolvement-) Nutzergruppe  sogenannte Seeker  zuzuordnen, die aus Überzeugung markentreu ist und sich in der Entscheidungsphase über die Produktqualität, den Preis und direkt verbundene Verkaufsoptionen informieren will (cf. Schweiger/ Schrattenecker 8 2013: 233, 286). Untersucht wurde die Makro- und Mikrostruktur der Anzeigen anhand der oben tabellarisch dargestellten texinternen und -externen Faktoren (cf. Tabelle 1), mit dem Ziel, Merkmale und Grad der Übersetzungsäquiva- Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 71 lenz der englischsprachigen Ur-Anzeigen 6 in den deutsch- und französischsprachigen Formaten zu definieren. Beispielhaft wurden für diesen Beitrag die landesspezifischen Start-Anzeigen des Unternehmens Black- Berry ausgewählt. 4.1 Makrostruktur und visuelle Komponenten Die Makrostruktur der Anzeige ist auf allen drei Websites absolut äquivalent. Im Vordergrund steht jeweils die Funktion der Marke BlackBerry. Beworben wird hierbei in erster Linie der Markenwert des gesamten Unternehmens mit einem Verständnis der „Marke als eigenständiges, für sich abgrenzbares Assoziationsgeflecht in den Köpfen der Konsumenten“ (Schweiger et al. 1999: 34, in: Schweiger/ Schrattenecker 8 2013: 90). Neben der reinen Identifikationsfunktion steht bei den Anzeigen das Bewerben des Unternehmensimages in Abhängigkeit einer bestimmten Markenfunktion aus Sicht des Verbrauchers im Vordergrund (cf. Schweiger/ Schrattenecker 8 2013: 91). Der Slogan Purpose built for security/ Von Anfang an sicher. Blackberry/ Conçu pour une sécurité optimale impliziert eine markengebundene Qualitätsgarantie mit der Intention, beim Käufer Sicherheit zu schaffen und ein mit dem Kauf verbundenes Risiko auszuschließen (cf. ibid.). Abbildung 1: Startwerbung des Unternehmens Blackberry (United Kingdom) 6 Begriff und Untersuchungsansatz beruhen auf der Annahme, dass die beworbenen Produkte zuerst im englischsprachigen Raum vermarktet werden. Vera Neusius 72 Abbildung 2: Startwerbung des Unternehmens Blackberry (Deutschland) Abbildung 3: Startwerbung des Unternehmens Blackberry (France) Die Zielgruppe, die bereits oben im Rahmen der textexternen Faktoren grob skizziert wurde, wird in allen drei Anzeigen explizit im Werbetext unter dem Slogan auf den Bereich enterprise/ Unternehmen/ entreprise beschränkt, wodurch aus rhetorischer Sicht die Verwendung einer rationalen Argumentation (Logos) als hier verwendete spezifische Form der Konsumentenansprache (cf. id.: 261) zu erklären ist: BlackBerry-Produkte  in der Anzeige emblematisch repräsentiert durch ein nicht betiteltes Mobiltelefon oder Smartphone , bieten maximale Sicherheit für Unternehmen, indem Sie eine sichere Datenübertragung im Netz gewährleisten. Mora- Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 73 lische (Ethos) und emotionale (Pathos) Überzeugungsstrategien sind der Marke also nicht zuzuordnen. Dieser Form entsprechend zeichnet sich das Gesamtkonzept der Website ab, das die in den Anzeigen oben links abgebildete Wort-Bild-Marke von BlackBerry mit der Methode der „integrierten Kommunikation“, 7 die auf formalen und optischen Gestaltungsprinzipien mit Wiedererkennungswert (Corporate Design) beruht, verbindet. Durch eine typographisch gleiche und immer ausreichend große Schrift sowie durch den starken, in allen drei Anzeigen hervorstechenden Hell-Dunkel-Kontrast werden den Internet-Nutzern das Lesen sowie die Orientierung auf der Website erleichtert. Die Textkurzform ermöglicht eine höhere Informationsdichte durch geringere Informationsbreite (cf. id.: 290). Hinzu kommen die am rechten Rand der Anzeigen platzierten Social-Mediasowie links unten Informations-Icons, die den Nutzer bei Bedarf zu interaktiven Kommunikationsformen, detaillierteren Informationsangaben und Service-Bereichen weiterleiten. 4.2 Lexik und Morphologie Zu betrachten ist hier an erster Stelle der Slogan der Anzeigen. Das Schlüsselwort der englischen Ur-Anzeige security wird in der deutschen Anzeige von der Wortart des AS-Textes abweichend durch das Adjektiv sicher, in der französischen Variante wiederum substantivisch durch sécurité wiedergegeben, wobei aber insgesamt dennoch eine semantisch vollständige Äquivalenz erzielt wird. Auf Verbebene ist die Wortartäquivalenz ebenfalls zwischen der englischen und französischen Übersetzung durch die Verwendung der perfektivischen Partizipien built und conçu gegeben, wohingegen das Verb in der deutschen Anzeige ganz ausgelassen wird. Aus der Bindung an das jeweilige Partizip ergibt sich grammatikalisch der beiderseits präpositionale Anschluss an die Substantive in der englischen und französischen Anzeige: (1) built for security (2) conçu pour une sécurité 7 „Unter integrierter Kommunikation versteht man einen Managementprozess ..., der darauf ausgerichtet ist, aus den differenzierten Quellen der Kommunikation für ein Unternehmen oder eine Marke eine Einheit herzustellen, um ein für die Zielgruppen der Kommunikation konsistentes Erscheinungsbild vom Unternehmen oder der Marke zu vermitteln“ (Schweiger/ Schrattenecker 8 2013: 165). Vera Neusius 74 Das formal durch das Vergangenheitstempus der Partizipien ausgedrückte Konzept, dass Blackberry-Produkte bis zum jetzigen Zeitpunkt mit dem Ziel maximaler technischer Sicherheit entwickelt wurden, wird zwar nicht gleichermaßen ins Deutsche übersetzt, aber konzeptuell äquivalent in Form einer zweigliedrigen temporalen Präposition adaptiert. Die temporale Konnotation der Partizipien wird demnach explizit verbalisiert: (3) von Anfang an sicher Entscheidende Abweichungen in den ZS-Slogans sind in der deutschen Anzeige die nachgestellte Nennung des Markennamens BlackBerry anstelle des in der englischen Anzeige verwendeten neutralen Subjekts purpose. Im französischen Slogan fehlt das Subjekt gänzlich. Einen möglichen Erklärungsansatz für die explizite Nennung bzw. Auslassung des Markennamens liefert mit Sicherheit der Zusammenhang zwischen unternehmerischer Markenpolitik und dem Verbraucherverhalten im Zielland, wie z.B. Markentreue, -präferenz und -bewusstsein, der aber an dieser Stelle nicht ausgeführt werden kann. Ferner verwendet die französische Fassung das superlativische Adjektiv optimale, was allerdings als einfache Übertragung aus dem unter dem Slogan stehenden Kurzwerbetext zu verstehen ist. Dort finden sich in der englischen Version der Superlativ best (security) sowie auch in der deutschen Fassung die äquivalente Form beste (Sicherheit). In der französischen Variante wurde die Form schlicht in den Slogan integriert und im anschließenden Kurztext ausgelassen. Bei Betrachtung des Werbetextes ist für die englische Ausgangsanzeige hinsichtlich der Wortartfrequenz zunächst ein werbetexttypisch starker Anteil an Substantiven zu vermerken. Im deutschen und französischen Translat ist dieser Anteil minimal geringer, sodass  auch mit Blick auf die sprachenspezifische Gesamtwortzahl  zunächst keine signifikanten Aussagen zur den Äquivalenzrelationen gemacht werden können. Gleiches gilt für die Feststellung einer in allen drei Formaten konsequenterweise geringen Dichte an Verben. Übersetzungstechnisch aufschlussreicher hingegen ist der Blick auf die konkreten Verbformen. Der englische Text verwendet die Verlaufsform, wobei explizit weder eine genaue personale noch temporale Präzisierung vorgenommen wird, jedoch eine präsentische Verlaufsform in der dritten Person Singular mit Bezug auf purpose als Subjekt des Slogans angenommen werden kann: (4) leading enterprise security, delivering the best protection In der französischen Anzeige wurde eine nach Möglichkeit des Verbalparadigmas äquivalente dritte Person Singular Präsens gewählt, Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 75 (5) assure la sécurité, protège toutes vos données wohingegen die deutsche Fassung nur eine der Verbalphrasen adaptiert, die zudem durch die Verwendung der ersten Person Plural deutlich vom Ur-Text abweicht: (6) Beste Sicherheit für Unternehmen V=. Wir schützen Ihre Daten Die an die Verbform gebundene Verwendung des Personalpronomens wir dient dabei sowohl der Identifikation des Unternehmens BlackBerry als Personengruppe (Sender) als auch der diametralen Kontrastierung zum Possessivpronomen des direkten Objekts des Satzes, das die Konsumentengruppe (Empfänger) anspricht, wodurch gleichzeitig eine interpersonelle Relation zwischen Unternehmer und Verbraucher etabliert wird: (7) Wir schützen Ihre Daten Derartige Personalisierungsstrategien fehlen im englischsprachigen ZS- Text. In der französischen Anzeige erfolgt ebenfalls vom Ur-Text abweichend die Produktadressierung an die Käufergruppe mittels der entsprechenden adjectifs possesifs: (8) la sécurité de votre entreprise, protège toutes vos données Auf Ebene der Semantik kann für den Werbetext eine insgesamt hohe Übersetzungsäquivalenz konstatiert werden: (9) enterprise security/ Sicherheit für Unternehmen/ sécurité de votre entreprise (10) protection for work content/ schützen Ihre Daten/ protège toutes vos données sensibles (11) on device and in transit/ auch während der Übertragung im Netz/ sur le terminal et pendant leur transmission Beleg (11) zeigt deutlich, dass trotz der Auslassung einer wörtlichen Übersetzung des englischen on device dennoch eine inhaltliche Adaption durch die Restriktion auch während erfolgt, da kognitiv die folgende Bedeutungskonstruktion beim Rezipienten ausgelöst wird: (12)  scil. nicht nur auf dem Gerät, sondern auch während der Übertragung im Netz Morphologische oder wortbildungsbezogene Besonderheiten konnten beim Übersetzungsvergleich dieser Anzeige nicht festgestellt werden. Vera Neusius 76 4.3 Syntax, Textlinguistik und Textgrammatik Bei den Slogans kann aus syntaktischer und textlinguistischer Sicht eine hohe Ähnlichkeit der ZS-Texte zum AS-Text hinsichtlich der Satzlänge und Satzart festgestellt werden, da jeweils eine Konstruktion als kurzer, stark elliptischer Aussagesatz vorliegt. Bei Betrachten der Satzform ist im englischen und französischen Slogan durch das Partizip Perfekt sowohl durch die passivische Färbung eine Äquivalenz der Syntax gegeben als auch derselbe, durch Anschluss der Präpositionen for und für an die Partizipien eingeleitete, finale Aspekt. Der deutsche Slogan, abweichend durch die Präposition von ... an, ist hingegen temporal gefärbt. Der kurze Werbetext unter dem Slogan ist in allen Anzeigen als Parataxe realisiert. Auch hier besteht wieder ein hoher Äquivalenzgrad zwischen der englischen Anzeige und der französischen Übersetzung durch die jeweils asyndetische Reihung. Der deutsche Werbetext weist durch die Verwendung des Gedankenstrichs eine andere Interpunktion auf, die in Verbindung mit der starken pronominalen Personalisierung als Element der gesprochenen Sprache zu wirken vermag. Aus textgrammatischer Sicht besteht vollständige Äquivalenz bei den explizit verwendeten semantisch-syntaktischen Rekurrenzen, die durch die Wiederholungen des Schlüsselworts security/ Sicherheit/ sécurité entstehen. Die Relevanz textlinguistischer Faktoren liegt, wie oben (cf. 3.2.2) beschrieben, bei Werbeanzeigen in erster Linie in der Text-Bild-Relation begründet. Eine gleichermaßen vorgenommene Mehrfach-Kodierung der Anzeige ist am vorliegenden Beispiel deutlich zu erkennen. So ist beispielsweise das Schlüssellexem enterprise/ Unternehmen/ entreprise explizit im Werbetext verankert, aber durch die Abbildung des Gerätedisplays mit deutlich erkennbaren fiktiven Geschäftskundenkontakten, persönlichen Kontakten, einem Produktkatalog oder einer Arbeitsgruppendatei visuell verstärkt: (13) Industry Trends (14) Marketingprüfung, Ziele für Q2 (15) Étude marketing objectifs S2 In allen drei Anzeigen entsteht folglich eine funktional identische textuelle Gesamtheit, die über die Nutzung verschiedener Codes eine eindringliche Vermittlung sowohl der Unternehmen als primär adressierter Werbezielgruppe als auch der technischen Legitimation der beworbenen Produkte sowie der werbetreibenden Marke BlackBerry ermöglicht. Sprachspezifische Übersetzung und Form in der Werbesprache 77 5 Fazit Neben den Ergebnissen des hier gezeigten Anzeigenbeispiels konnte auch für die übrigen Anzeigen ein insgesamt hoher Äquivalenzgrad bei den textinternen Analysekategorien festgestellt werden. Vor allem die Makrostruktur der Werbeanzeigen unterliegt einer deutlich erkennbaren Standardisierung. Sofern geringfügige Differenzen auftreten, ist anzunehmen, dass diese größtenteils auf sprachlich-kulturelle oder marketingbedingte Anpassungsmechanismen zurückzuführen sind. Insgesamt kann also bei den hier ausgewählten englischen Anzeigen sowie den französischen und deutschen Translaten von einer international standardisierten Werbesprache gesprochen werden. Die Äquivalenzrelation zwischen der englischen Werbung und den deutschen und französischen Re-Kreationen zeichnet sich dabei vor allem durch eine relativ starke Homogenität einer insgesamt werbesprachentypisch eindringlichen Lexik sowie einer stark elliptisch-parataktischen Syntax aus. Bei den syntaktischen Strukturen sind  neben der hier untersuchten BlackBerry-Anzeige  zuweilen auch heterogenere Tendenzen erkennbar, wobei derartige Divergenzen in den Einzelsprachen  zumindest auf der Grundlage eines kleinen Korpus  zunächst auch als Auswirkung sprachsystemischer oder -stilistischer Besonderheiten zu werten sind. Aufgrund dieser Ergebnisse kann die Hypothese aufgestellt werden, dass die Übersetzung von Werbesprache einem sprachenübergreifenden und interkulturell operationalisierten Konzept unterliegt, das die jeweiligen gesellschaftlich-sprachlichen Tendenzen und auch Restriktionen zu großen Teilen überlagert. So sind zuweilen bei französischen Translaten nur noch selten die verbraucherschutztypischen, sprachgesetzlich verankerten Kennzeichnungen der französischen Übersetzung, wie z.B. unten beim Slogan des Smartphones Galaxy Note 3 + Gear, in den Werbeanzeigen zu finden: (16) Design your life* (17) *Inventez chaque jour Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wäre eine Ausweitung der Untersuchung verschiedener Adaptions- und Translationsformen internationaler Werbetexte auf weitere Sprachen und Branchen wünschenswert. An erster Stelle wäre zunächst der Standardisierungsbzw. Differenzierungsgrad der Anzeigen in Abhängigkeit der jeweiligen Kampagnen und Marketingstrategien genauer zu prüfen, um dann an zweiter Stelle die Rolle des Translators, der in solch weit dimensionierten Werbekontexten eine anonyme Position einnimmt, näher zu beleuchten. Vera Neusius 78 Bibliographie Korpus http: / / uk.blackberry.com/ 07.06.2014. http: / / de.blackberry.com/ 07.06.2014. http: / / fr.blackberry.com/ ? DID=blackberry.fr 07.06.2014. http: / / www.samsung.com/ fr/ consumer/ mobile-phones/ smartphones/ galaxynote/ SM-N9005ZWEXEF 12.06.2014. Sekundärliteratur Adamzik, Kirsten (2012): „Werbekommunikation textlinguistisch“, in: Janich, Nina (ed.): Handbuch Werbekommunikation. Sprachwissenschaftliche und interdisziplinäre Zugänge, Tübingen, Francke, 107-120. Albrecht, Jörn (1999): „Übersetzungsvergleich und ‘Paralleltextvergleich‘ als Hilfsmittel der konfrontativen Sprachwissenschaft und der Übersetzungsforschung“, in: Reinart, Sylvia/ Schreiber, Michael (eds.): Sprachvergleich und Übersetzen: Französisch und Deutsch. Akten der gleichnamigen Sektion des ersten Kongresses des Franko-Romanistenverbandes, Bonn, Romanistischer Verlag, 9-32. Baker, Mona (2011): In other words. A coursebook on translation, London, Routledge. 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Michael Schreiber La phrase unique: Die Ein-Satz-Struktur in Texten der Französischen Revolution und deren Übersetzungen 1 Einleitung Ich möchte in meinem Beitrag auf eine Textsortenkonvention französischer Rechtstexte eingehen, die zur Zeit der Französischen Revolution normiert wurde: die so genannte phrase unique, d.h. die Tradition, einen ganzen Rechtstext oder einen Teiltext in einem komplexen Satz zu formulieren. Beschrieben wurde diese Tradition bisher vor allem am Beispiel französischer Gerichtsurteile, die mit dem Gericht als Subjekt beginnen und die folgende syntaktische Struktur aufweisen: Das Hauptverb der ‘phrase unique‘ steht erst am Schluss, nämlich im Dispositiv, und die einzelnen Argumente zu dessen Begründung werden in konjunktionalen Nebensätzen mit ‘attendu que‘ und ‘considérant que‘ aufgeführt, die manchmal durch Adverbien ergänzt werden (z.B. ‘attendu toutefois que‘); auf anwendbare Normen wird durch das Partizip ‘vu‘ verwiesen. Das Abschlusssignal für die Begründung lautet ‘par ces motifs‘ (Ballansat 2000: 4). Die angeführten Gründe werden als motifs bezeichnet und der Verweis auf anwendbare Rechtsnormen als visa. Als juristische Grundlage für das begründete Gerichtsurteil in Frankreich gibt Krefeld (1985: 88) die Justizreform der Französischen Revolution vom August 1790 an, als der Aufbau von Gerichtsurteilen festgelegt wurde. Als historisches Vorbild diente der römische Formularprozess. Neu war für die französische Rechtsprechung die obligatorische Angabe von Gründen für die Entscheidung. Obwohl es bereits im 13. Jahrhundert erste Ansätze für begründete Entscheidungen gegeben hatte, setzte sich vom 14. Jahrhundert bis zum Ende des Ancien Régime das begründungslose Urteil durch: „Einmal etabliert, sollte das jugement nonmotivé die gesamte Rechtsprechung des Ancien Régime beherrschen“ (Krefeld 1985: 81). Und dies galt nicht nur für die Begründungserwägungen, sondern auch für den Verweis auf die anwendbaren Rechtsnormen: Michael Schreiber 82 Il n’y a pas de visa de textes appliqués. Une formule brève sert de transition. Le tout joint et considéré, disent les parlements; ouï le rapport et tout considéré disent la cour des aides et le conseil du roi. Une sentence non motivée termine tout cela (Sauvel 1955: 30). Der Wille zur Konzision blieb auch nach der Einführung des Begründungszwangs erhalten. Die Ein-Satz-Struktur als konzise Form des begründeten Urteils wurde mit der Gründung der Cour de Cassation im November 1790 in die französische Rechtsprechung eingeführt. Die Cour de Cassation diente dabei als Vorbild für andere Gerichte: Les jugements de cassation offraient un modèle qui devait inciter progressivement les juges ordinaires à mieux motiver leurs décisions, en attendant que la codification du droit civil rende véritablement possible l’énonciation des termes de la loi appliquée (Halpérin 1996: 255). Die Urteile des Kassationshofes werden noch immer nach dem Muster der phrase unique verfasst, wobei die motifs heute stets durch die Form attendu que eingeleitet werden, die das ältere considérant que abgelöst hat: Au début de leur institution, les tribunaux de cassation et les tribunaux d’appel, puis les cours impériales, ont dit indifféremment attendu que et considérant que. Par la suite, la Cour de cassation a abandonné considérant que [...] (Mimin 1962: 196). Die erst- und zweitinstanzlichen Gerichte bieten heute ein uneinheitliches Bild: Einige richten sich nach der traditionellen Ein-Satz-Form, andere nach dem so genannten style nouveau, der 1977 in einem Rundschreiben des französischen Justizministeriums empfohlen wurde. Im style nouveau werden unstreitige Tatsachen und der Prozessverlauf nicht mehr im Stil der phrase unique formuliert (Lashöfer 1992: 63). Bei denjenigen Gerichten, die ganz oder teilweise an der traditionellen Struktur festhalten, werden heute zur Einleitung der motifs sowohl attendu que als auch considérant que verwendet (cf. Griebel 2013: 239). Eine vom Conseil d’État eingesetzte Arbeitsgruppe kommt in einem 2012 veröffentlichen Bericht zu der Empfehlung, auf der Ebene der Zivilgerichtsbarkeit ganz auf die phrase unique zu verzichten, und empfiehlt nunmehr den so genannten style direct, d.h. kurze Hauptsätze ohne einleitende Konjunktionen: „Remplacer la phrase unique et ses nombreuses subordonnées introduites par le terme ‘considérant‘ et séparées de pointsvirgules par des phrases courtes, ponctuées de points“ (Conseil d’État 2012: 42). Als Argumente zugunsten des style direct werden eine bessere Verständlichkeit durch juristische Laien sowie eine leichtere Übersetzbarkeit in andere Sprachen genannt (Conseil d’État 2012: 39ss.). 83 Der übersetzerische Umgang mit dem französischen Urteilsstil ist bisher uneinheitlich: Ballansat empfiehlt, die französische Syntax bei einer Übersetzung ins Deutsche nachzuahmen: Der für französische Gerichtsurteile übliche Aufbau [...] soll nicht durch den [sic] in deutschen Gerichtsurteilen verwendete Gliederung ersetzt werden. Die kennzeichnende Syntax des französischen Gerichtsurteils (‘phrase unique‘ im ganzen Urteil oder in einem Teil des Urteils [...]) soll übernommen werden. Die Lektüre der Übersetzung wird zwar dadurch erschwert, doch ist gewährleistet, dass die innere Logik des Textes und die Themenentfaltung erhalten bleiben. Dem Adressaten, nämlich dem ausländischen Richter, wird dies wichtiger sein als leichte Lesbarkeit (Ballansat 2000: 7). Dagegen plädieren Schlichting und Oellers-Frahm dafür, im Deutschen mehrere Sätze zu verwenden, und begründen dies ebenfalls mit der Zielgruppe: En traduisant des décisions judiciaires françaises il faut faire attention au fait que le juriste allemand n’est pas habitué à des décisions constitant [sic] en une seule phrase. Il faut donc les adapter au modèle allemand (Schlichting/ Oellers-Frahm 2002: 176). Grundsätzlich ist dabei zu bedenken, dass die Übersetzungsmethode letztlich vom Übersetzungszweck abhängt: Rechtsübersetzungen zu informativen Zwecken sind in der Regel verfremdend formuliert, d.h. ausgangssprachlich orientiert, performative Übersetzungen, welche in der Zielsprache rechtsgültig sein sollen, sind dagegen eher einbürgernd formuliert, d.h. zielsprachlich orientiert (cf. Wiesmann 2009: 280). Übersetzungen von Gerichtsurteilen sind meist informativ. Aufgrund der Expansion des juristischen Modells Frankreichs im Zeitalter der Französischen Revolution und der Napoleonischen Epoche (cf. Soleil 2014) finden sich seit dieser Zeit Gerichtsurteile nach französischem Muster auch in anderen europäischen Ländern. Der Rechtshistoriker Gino Gorla (1968, vol. 1: 22-24) nennt als Beispiele Belgien und Italien, weist aber darauf hin, dass die syntaktische Struktur der phrase unique in Italien nicht immer konsequent angewandt werde: Senonché, a parte qualche eccezione, non sembra che i giudici italiani del secolo XIX abbiano compreso la portata del ‘atteso che‘ o ‘considerato che‘, nel quadro del jugement phrase unique. La frase è tutt’altro che unica! (Gorla 1968, vol. 1: 23) Filippo Ranieri verweist in diesem Kontext auf den Hang der Richter zu ausführlicheren Begründungen in Italien, ebenso wie in Spanien und Portugal: La phrase unique Michael Schreiber 84 Il est significatif que les juges italiens n’aient jamais adopté le style concis français et ce même pendant la période napoléonienne. [...] On retrouve en Espagne et au Portugal la même construction élaborée des motivations d’un jugement, axées non point sur le résultat mais sur les moyens invoqués par les parties (Ranieri 1996: 189). In Bezug auf die aktuelle Situation an Verwaltungsgerichten hat die bereits erwähnte Arbeitsgruppe des Conseil d’État Umfragen in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern durchgeführt. Die Arbeitsgruppe kommt zu dem Schluss, dass in den meisten untersuchten Ländern keine oder nur vereinzelt Ein-Satz-Strukturen verwendet werden. Als Sonderfälle werden wiederum Italien und Belgien erwähnt: „à l’exception de certaines décisions belges et italiennes, l’emploi du style direct est généralisé“ (Conseil d’État 2012: 97). Als weitere Ausnahmen, die aber nicht Gegenstand der Umfrage waren, werden Griechenland sowie verschiedene frankophone afrikanische Staaten genannt: „La rédaction en style de considérants est utilisée également en Grèce et dans un bon nombre d’États africains francophones“ (Conseil d’État 2012: 98). Auf supranationaler Ebene hat sich das französische Modell auch auf die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ausgewirkt: „Von Beginn seiner Tätigkeit an ist die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften [...] deutlich vom französischen Urteilsstil geprägt“ (Lashöfer 1992: 130s.). Seit 1979 hat allerdings der bereits erwähnte style nouveau auch dort nach und nach Einzug gehalten (cf. Lashöfer 1992: 141), wenn auch immer noch EU-Rechtstexte oder Teile davon in traditionellem Stil verfasst sind. Bei Übersetzungen von solchen EU-Rechtstexten finden sich auch in anderen Sprachen ähnliche Strukturen, allerdings weniger stereotyp als im Französischen. Für den Konnektor vu in EU-Richtlinien gibt es z.B. keine einheitliche Wiedergabe im Deutschen, sondern je nach Kontext unterschiedliche Formulierungen, z.B.: vu le traité - gestützt auf den Vertrag vu la proposition - auf Vorschlag vu l’avis - nach Stellungnahme (cf. Griebel 2013: 241) In der Sekundärliteratur zur phrase unique ist vor allem von Gerichtsurteilen die Rede. Im Zentrum meiner Untersuchung stehen jedoch andere juristische und administrative Textsorten, die während der Französischen Revolution ganz oder teilweise nach diesem Muster verfasst wurden, nämlich Gesetze und Verordnungen. Die terminologische Differenzie- 85 rung dieser Textsorten ist zur Zeit der Französischen Revolution fließend, denn die Abgrenzung zwischen loi und décret schwankt in verschiedenen Perioden der Revolutionszeit und verschiedenen Publikationsorganen (cf. Delecourt 1995: 86s.). Während der Französischen Revolution und der Napoleonischen Ära haben sich Form und Inhalt französischer Rechts- und Verwaltungstexte auch auf andere Länder und Regionen ausgewirkt, die von Frankreich annektiert waren oder unter dem Einfluss Frankreichs standen, insbesondere nach Einführung des Code civil in verschiedenen europäischen Ländern (cf. Grilli 2012). Die Rolle, die Übersetzungen in diesem Prozess gespielt haben, ist bisher wenig beachtet worden. Daher möchte ich in meiner Untersuchung Übersetzungen von Texten der Französischen Revolution und der Napoleonischen Zeit in den Blick nehmen. Die Zielsprachen der untersuchten Übersetzungen sind Niederländisch, Italienisch, Spanisch und Deutsch, wobei mir zum Niederländischen (bzw. Flämischen) und Italienischen aufgrund eigener Archivstudien mehr Material vorliegt als zu den anderen Sprachen. 2 Zur Übersetzungspolitik der Französischen Revolution und der Napoleonischen Ära Doch bevor ich mich den Textbeispielen zuwende, muss ich einige Worte zur Übersetzungspolitik der Französischen Revolution verlieren. Nach der opinio communis ist die Übersetzungspolitik eine frühe Phase der Sprachpolitik (1790-1792), auf die in den Jahren 1793 und 1794 eine rigorose Einsprachigkeitspolitik folgte (cf. etwa Schlieben-Lange 1980: 43). Diese Darstellung kann ich nach Auswertung der entsprechenden Forschungsliteratur (cf. Schreiber 2012) sowie eigenen Untersuchungen nicht bestätigen. Eine staatliche Übersetzungspolitik existierte kontinuierlich bis zum Ende der Napoleonischen Zeit. Dabei kann man mehrere Phasen unterscheiden: 1. Phase: Nach der Darstellung von Brunot (1967: 25) beginnt die Übersetzungspolitik der Revolutionszeit mit dem Dekret vom 14. Januar 1790, das auf einen Vorschlag eines Abgeordneten aus Französisch- Flandern (F.-J. Bouchette) zurückgeht und in dem die Übersetzung der nationalen Gesetze und Dekrete in die in Frankreich gesprochenen Regionalsprachen gefordert wurde. Dieses Dekret wurde zwar nicht flächendeckend umgesetzt, es sind jedoch eine Reihe von Übersetzungen in verschiedene Regionalsprachen erhalten. Brigitte Schlieben-Lange (1996: 65) erwähnt Übersetzungen ins Baskische, Bretonische, Deutsche, Flämische, La phrase unique Michael Schreiber 86 Italienische und Okzitanische. Angefertigt wurden diese Übersetzungen vor allem von regionalen Übersetzern oder Übersetzungsbüros, wie dem Übersetzungsbüro Dugas für Okzitanisch (cf. Schlieben-Lange 1979). Schlieben-Lange beschreibt die Funktion dieser Übersetzungen folgendermaßen: Man kann davon ausgehen, daß kein dezidierter sprachpolitischer Wille die Übersetzungsgesetzgebung leitete. Es ging nicht etwa positiv um eine egalitäre Behandlung der nicht-französischen Sprachen. Die Zielsetzung war politisch, ohne Implikation einer besonderen Sprachpolitik: Die Absichten der Revolutionäre, die Verfassung, die die Revolution gebracht hatte, und die Gesetze, die zur Durchführung ihrer Ziele notwendig waren, sollten auch im nicht-französischen Gebiet bekannt werden, und zwar durch autorisierte Übersetzungen, bevor interessierte Gruppen sie den Bewohnern falsch auslegen könnten (Schlieben-Lange 1979: 522). Dennoch erhielten die Zielsprachen dieser Übersetzungen de facto eine semi-offizielle Funktion, auch wenn nur der französische Wortlaut Gesetzesgültigkeit hatte: „[...] tout en voulant supprimer les langues régionales, la Révolution, pendant quelque temps au moins, leur octroyait indirectement un statut semi-officiel“ (Abalain 2007: 111). Was den Beginn dieser ersten Phase der Übersetzungspolitik angeht, so kann dieser aufgrund der bereits erwähnten Archivstudien noch etwas vorverlegt werden: Die erste Übersetzung eines Revolutionsgesetzes, die mir vorliegt, stammt aus dem Dezember 1789. Es handelt sich um eine Übersetzung ins Italienische, die für Korsika bestimmt war. Auch das Ende dieser Phase muss - zumindest für einzelne Sprachen - revidiert werden: Auf Korsika gab es Übersetzungen von Gesetzen und Dekreten ins Italienische bis weit in die Napoleonische Zeit hinein (cf. Reinke/ Schreiber 2015). Ähnliches gilt für Übersetzungen ins Deutsche im Elsass (cf. Schreiber 2013). 2. Phase: Brunot erwähnt noch eine zweite Phase der Übersetzungspolitik. Dabei bezieht er sich auf mehrere Berichte und Dekrete zwischen November 1792 und Dezember 1793 (cf. Brunot 1967: 158ss.). Wie Archivstudien belegen, wurde in dieser Zeit ein Übersetzungsbüro in der Convention nationale eingerichtet, das dem Comité de Salut public unterstellt war und das Übersetzungen in verschiedene Sprachen erstellte: Deutsch, Englisch, Italienisch, Niederländisch, Polnisch, Russisch, Schwedisch, Spanisch und zeitweise sogar Arabisch (cf. Schreiber 2015). Die Übersetzungspolitik richtete sich nun also auf verschiedene europäische und teilweise auch außereuropäische Länder, darunter auch solche, mit denen Frankreich in Konflikt war. Die Übersetzungen hatten vor allem eine pro- 87 pagandistische Funktion, wie aus einem zeitgenössischen Bericht hervorgeht: L’impression des traductions allemandes, italiennes et même anglaises pour les Décrets et rapports d’un intérêt majeur est encore nécessaire soit pour les faire pénétrer dans les camps ennemis soit pour en répandre la connaissance chez les peuples dont nos armées occupent les territoires (Archives nationales: C/ 356). Als Ende der zweiten Phase der Übersetzungspolitik gilt im Allgemeinen der Beginn der auf Einsprachigkeit ausgerichteten Schulpolitik im Januar 1794 (Entsendung von Französischlehrern in die Départements, in denen Regionalsprachen gesprochen werden). So scheibt Wunder (2001: 72): „Der Konvent hatte schon am 27. Januar 1794 die seit 1790 übliche Übersetzung der Beschlüsse der Nationalversammlung eingestellt“. Erhaltene Übersetzungen und andere Dokumente, z.B. Gehaltslisten, aus Archivbeständen belegen jedoch eine kontinuierliche Übersetzungstätigkeit des erwähnten Übersetzungsbüros bis Oktober 1795. Als Übersetzer fungierten meist Muttersprachler, die an einer französischen Universität studiert hatten (cf. Schreiber 2015). 3. Phase: Für die Übersetzungen ins Deutsche, Italienische und Niederländische können wir ab Ende 1793 eine dritte Phase der Übersetzungspolitik postulieren, die sich zeitlich mit der zweiten überschneidet. Die dritte Phase betrifft Übersetzungen des 1793 begründeten Amtsblattes Bulletin des lois für einige Länder und Regionen, die von Frankreich besetzt waren oder unter französischem Einfluss standen. Diese Übersetzungen wurden von einem Übersetzungsbüro im Justizministerium angefertigt, und zwar im Bureau de l’envoi des lois. Die übersetzten Ausgaben erschienen in zweisprachiger Form mit dem französischen Ausgangstext auf der linken Seite und der Übersetzung auf der rechten Seite, um den Lesern den Zugang zum französischen Ausgangstext zu erleichtern. Nach Angaben von Wolfgang Schulz existierte das französisch-italienische Bollettino delle leggi von 1793 bis 1811 und das französisch-deutsche Gesetzregister der Fränkischen Republik von 1797 bis 1811 (cf. Schulz 1997: 33, 39). Bei den Übersetzungen ins Niederländische kann man sogar zwei Varianten des Bulletins unterscheiden: Von 1797 bis 1813 erschien das Bulletin der wetten in einer französisch-flämischen Ausgabe („Bulletin flamand“) für das annektierte Belgien. Diese Übersetzung war notwendig geworden, da sich der ursprünglich gehegte Plan einer einsprachigen französischen Verwaltung in den flämischsprachigen Départements nicht umsetzen ließ (cf. D’hulst/ Schreiber 2014). Ab 1810, nach der Annexion La phrase unique Michael Schreiber 88 der Niederlande, erschien zusätzlich ein „Bulletin hollandais“, das in der nordniederländischen Varietät verfasst war (cf. D’hulst 2015). Zur Funktion und den Auswirkungen der zweisprachigen Ausgaben des Bulletin des lois schreibt Schulz mit Bezug auf die Übersetzungen ins Deutsche: Le Bureau de l’envoi des lois est l’exemple type d’une politique linguistique initialement nationaliste, capitulant devant la langue scientifiquement mûrie du pays conquis, et qui adopta cette langue étrangère pour assurer sa domination. De ces simples traductions pratiques destinées aux territoires annexés est née une terminologie juridique franco-allemande dont les effets sont toujours d’actualité (Schulz 1997: 41). Empirische Untersuchungen zu den Auswirkungen der Übersetzungen auf die Entwicklung der juristischen Fachsprache in den jeweiligen Zielsprachen liegen meines Wissens bisher nicht vor. Neben den in Paris erstellten Übersetzungen des Bulletin des lois gab es in den verschiedenen annektierten Gebieten kontinuierlich Übersetzungen administrativer Texte auf regionaler und kommunaler Ebene (cf. D’hulst/ Schreiber 2014, zu Belgien; Reinke/ Schreiber 2015, zum Piemont). 3 Die phrase unique in Übersetzungen Die Übersetzungen meines Korpus stammen überwiegend aus der zweiten und dritten Phase der Übersetzungspolitik. Aus der zweiten Phase möchte ich einen Text aus der Convention nationale zitieren, von dem Übersetzungen ins Italienische, Spanische und Niederländische erhalten sind. Der Text stammt vom 18. Vendémiaire III (09.10.1794). Es handelt sich um eine Botschaft dreier Ausschüsse (Wohlfahrtsausschuss, Sicherheitsausschuss und Gesetzgebungsausschuss) an das französische Volk mit einem Aufruf zur Verteidigung der Republik gegen feindliche Kräfte. Der Text mündet in ein Dekret, das die Verbreitung der Botschaft betrifft und in einer Ein-Satz-Struktur verfasst ist: 1 1 In allen zitierten Beispielen wurde die ursprüngliche Orthographie beibehalten. 89 D É C R E T . L A CONVENTION NATIONALE , après avoir entendu la lecture de l’adresse qui lui a été présentée par ses comités de salut publique, de sûreté générale et de législation réunis, en exécution du décret du 11 de ce mois, et l’avoir approuvée à l’unanimité, DECRÈTE, Qu’elle sera imprimée, envoyée à toutes les administrations de département et de district, aux municipalités, aux comités de section, aux armées et aux sociétés populaires; Qu’elle sera publiée par les municipalités, affichée dans les salles décadaires, et lue dans les assemblées de communes et de sections; Qu’elle sera distribuée à chacun de ses membres, au nombre de six exemplaires, et traduite dans toutes les langues; Que les administrations de district la feront réimprimer, et que les agens nationaux l’enverront aux instituteurs pour en faire lecture à leurs élèves. L E G G E . L A C ONVENZION NAZIONALE , intesa la lettura del discorso che le fu presentato da’ suoi comitati di salvezza pubblica, di sicurezza generale e di legislazione riuniti, in virtù del decreto degli 11 di questo mese, ed approvatolo all’unanimità, DECRETA che sarà stampato, spedito a tutte le amministrazioni dei dipartimenti e dei distretti, alle municipalità, ai comitati delle sezioni, agli eserciti ed alle società popolari; Che sarà pubblicato dalle municipalità: affisso nelle sale decadarie e letto nelle assemblee dei comuni e delle sezioni; Che sarà distribuito a ciascuno de’ suoi membri nel numero di sei copie, e tradotto in tutte le lingue; Che le amministrazioni di distretto lo faranno ristampare, e gli agenti nazionali lo manderanno agl’istitutori, per farne lettura agli allievi loro. D E C R E T O . L A C ONVENCION NACIONAL , despues de oida la lectura de la proclamacion que le ha sido presentada por los comitados de salud publica, de seguridad general y de legislacion unidos, en execucion del decreto del dia 11 de este mes, y despues de aprobada á la unanimidad, decreta: Que sera impreza, embiada a todas las administraciones de departamento y de distrito, á las municipalidades, á los comitados de las secciones, á los exercitos y á las sociedades populares; Que sera publicada por las municipalidades, fixada en las salas decadarias y leida en las asambleas de las comunes y de las secciones; Que sera distribuida á cada uno de sus miembros al numero de seis exemplares, y traducida en todos los idiomas; Que las administraciones de distrito la haran reimprimir, y que los agentes nacionales la embiaran á los institutores para que la lean á sus discipulos. La phrase unique Michael Schreiber 90 D E K R E E T . D E VOLKSVERGADERING , na aanhooring van de voorleezing van het adres, dat haar door haare comités van algemeen welzyn, algemeene zekerheid en wetgeeving, zaamvereenigd, is voorgedraagen, in uitvoering van het dekreet van den 11 den deezer, en na hetzelve éénstemmig te hebben goedgekeurd, DEKRETEERT: Dat hetzelve adres zal gedrukt en toegezonden worden aan alle bestuuringen van departement en distrikt, aan alle municipaliteiten, comités van sectiën, legers en volksbyeenkomsten. Dat het zal afgekondigd worden door de municipaliteiten, aangeplakt in de tiendaags-vergaderzaalen en voorgeleezen in de communes en sectieën. Dat aan elk der leeden zes afdrukken daar van zullen uitgedeeld en het zelve in alle taalen zal overgezet worden. Dat de distrikt-bestuuringen het zullen doen herdrukken, en dat de nationale agenten het aan alle onderwyzers zullen toezenden om het hunne leerlingen voor te leezen. (Archives nationales: AD/ XVIIIc/ 247 und 275) Die Ein-Satz-Struktur betrifft hier vor allem die einleitende Erläuterung der Umstände (narratio) sowie den Tenor: Die verschiedenen Artikel des Dekrets im Tenor wurden durch konjunktionale Nebensätze ausgedrückt. Diese Struktur wurde in den Übersetzungen beibehalten. Kleinere syntaktische Abweichungen finden sich in der narratio: Im Französischen finden sich zwei Partizipien (entendu, approuvée), die in den romanischen Sprachen durchweg als Partizipien wiedergegeben werden (intesa, oida; approvato, aprobada). In der niederländischen Fassung wird nur das zweite Partizip wörtlich wiedergegeben (goedgekeurt), das erste wird nominal übersetzt (aanhooring). Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass die zwischen Subjekt und Prädikat eingeschobene Partizipialkonstruktion der niederländischen Syntax größere Probleme bereitet als der romanischen. Zwei kurze Anmerkungen noch zur Terminologie und zum Inhalt: 1. Die Wiedergabe von décret durch legge im Italienischen ist ein Indiz für die bereits erwähnte unscharfe Abgrenzung zwischen Gesetz und Dekret. 2. Mit den im vorletzten Konjunktionalsatz erwähnten Sprachen („toutes les langues“) sind die Sprachen gemeint, die vom Übersetzungsbüro des Konvents abgedeckt wurden (cf. Schreiber 2015). 91 Das zweite Textbeispiel, das ich zitieren möchte, unterscheidet sich in mehrerlei Hinsicht von dem ersten Beispiel. Es handelt sich um eine regionale Übersetzung aus der dritten Phase, und zwar um eine zweisprachige Verwaltungsverordnung (arrêté) der zentralen Verwaltung des flämischen Départements Escaut (Schelde) mit Sitz in Gent vom 21. Messidor VII (09.07.1799): Ich zitiere die Rechtsgrundlagen und die Begründung sowie die ersten beiden der fünfzehn Artikel der Verordnung: L’ADMINISTRATION CENTRALE du Département de l’Escaut, Vu l’Arrêté du Directoire exécutif du 14 de ce mois, que lui a fait passer le Ministre des Finances, par lequel il est prescrit aux Administrations centrales des mesures pour parvenir à l’apurement des Contributions directes avant le premier Vendémiaire prochain, & à la prompte confection des Rôles définitifs de l’an 7; Considérant que les motifs sur lesquels est basé cet Arrêté sont de la part du Directoire un grand désir de voir établir l’ordre dans la comptabilité des Contributions, & de maintenir dans les recouvremens cette ponctualité si nécessaire à l’entretien & la subsistance des Armées, au maintien de l’ordre public & celui du crédit général & particulier; Considérant que tous les amis de la chose publique ne peuvent qu’applaudir aux mesures qui peuvent tendre à un tel ordre de chose, & que c’est pour cette Administration centrale un devoir bien cher, d’adopter celles qui doivent remplir ce but; Revu ses diverses Circulaires aux Administrations de Canton, & les Arrêtés ayant pour objet le recouvrement des Contributions & la confection des Rôles définitifs de l’an 7, Sur le rapport de son premier Bureau, & le Commissaire du Directoire exécutif entendu, ARRÊTE: A R T I C L E P R E M I E R . L’Arrêté du Directoire exécutif du 14 Messidor sera imprimé dans les deux langues & envoyé aux Administrations de Canton, pour y être publié & affiché. II. Les Commissaires répartiteurs de chaque Commune & nommés en exécution de la Loi du 3 Frimaire dernier, seront convoqués par l’Agent particulier des Contributions de leur Canton, qui leur signifiera l’Arrêté du Directoire ci-dessus mentionné, & particulièrement l’article II qui les oblige à s’assembler tous les jours pour s’occuper au moins pendant six heures de la rédaction des Matrices des Rôles des Contributions directes de l’an 7, ou des états de mutation. [...] La phrase unique Michael Schreiber 92 DE CENTRAELE ADMINISTRATIE van het Departement van de Schelde, Gezien het Besluyt van het uytwerkende Directorie van den 14 dezer maend aen haer door den Minister der Finantien behandigt, in welke aen de Centraele Administratien maetregelen worden voorgeschreven, ten eynde van voor den eersten Vendemiaire aenstaende de volle afkwyting der directe Contributien en het volmaeken der definitive Rollen van het jaer 7 te bekomen; In aendagt nemende dat de beweegredenen op welke dit Besluyt is gevestigt, uytwyzen hoedaenig het Directorie begeert van een order te zien invoeren in de comptabiliteyt der Contributien en in deszelfs inzaemelingen te zien handhaven die nouwlettentheyd zoo noodig voor het onderhoud en de noodwendigheden der Legers en voor de standhouding van het publiek order en van het generael en het bezonder crediet; Overwegende dat alle de vrienden van het gemeyne-best maer konnen toejuychen aen de maetregelen die tot dusdaenigen staet van zaeken strekken, en dat het voor deze Administratie eene wel aengenaeme pligt is van werkstellig te maeken de gene die dit oogwit konnen bereyken; Op nieuws gezien haere verscheyde Circulairen geschreven aen de Cantons-Administratien en haere Besluyten, voor oogmerk hebbende de inzaemeling der belastingen en het opmaeken der definitieve Rollen van het jaer 7, Op het Rapport van haeren eersten Bureau en den Commissaris van de uytwerkende Magt gehoort, BESLUYT: E E R S T E N A R T I K E L . Het Besluyt van het uytwerkende Directorie van den 14 Messidor zal gedrukt in de twee taelen, toegezonden worden aen de Cantons-Administratien, om er afgekondigt en aengeplakt te zyn. II. De Commmissarissen-Repartiteurs van elke Commune benoemt ingevolge de Wet van den 3 Frimaire laestleden, zullen byeen geroepen worden door den bezonderen Agent der Contributien van hun Canton, den welken hun kennis zal geven van het voorengemeld Besluyt van het Directorie, en wel bezonderlyk van den II artikel, die hun beveelt van dagelyks te vergaederen en ten minsten geduerende zes uren te werken aen het opmaeken der vorms van de Rollen of van de staeten van mutatie. [...] (Archives nationales: F/ 1a/ 409) Im Unterschied zu dem weiter oben zitierten Beispiel werden die Artikel der Verordnung hier nicht durch konjunktionale Nebensätze, sondern durch eigene Hauptsätze ausgedrückt. Rechtsgrundlagen und Begründung sind dagegen in einer Ein-Satz-Struktur verfasst, wie wir sie auch von Gerichtsurteilen kennen: Die Rechtsgrundlagen werden im Ausgangstext durch vu eingeleitet, die Begründungserwägungen durch considérant que. Die Übersetzung, die aufgrund der Graphie als flämisch erkennbar ist (z.B. <ae> statt <aa> oder [langes] <a>, <uy> statt <ui>), übernimmt die Struktur des Ausgangstextes mit geringen Variationen: So 93 gibt es für considérant que zwei verschiedene Entsprechungen: in aendagt nemende und overwegende. Diese beiden Formen (mit graphischen Varianten) finden sich auch in anderen niederländischen Übersetzungen des Korpus. Als Beleg für eine regionale italienische Übersetzung möchte ich ein Beispiel aus dem Piemont aus der Zeit der französischen Besatzung zitieren. Es handelt sich um den Anfang einer Verordnung des Generalverwalters General Jourdan vom 19. Frimaire X (10.12.1801) aus dem Bulletin des Actes de l’Administration générale de la 27 e Division militaire: LE GÉNÉRAL JOURDAN, ADMINISTRATEUR GÉNÉRAL de la 27 e Division Militaire, Vu la lettre du Général Le-Grand, Commandant de la 27 e Division Militaire, en date du 12 frimaire, qui lui dénonce l’insurrection qui a eu lieu le 13 brumaire dans la commune de Masio, département de Marengo, contre la Brigade de Gendarmerie de Felissano, chargée de faire patrouille dans ladite Commune, Vu les différens procès-verbaux sur le même objet, et qui lui ont été transmis par ledit Général de Division Le-Grand; Considérant, que dans cette circonstance les habitans de la Commune de Masio se sont rendus coupables de rébellion contre le Gouvernement, et l’autorité publique, et ont encouru les peines portées par la loi du dix vendémiaire an 4 sur la police des Communes; ARRÊTE: 1. Le Préfet du Département de Marengo fera exécuter les dispositions de la loi du dix vendémiaire an 4 contre la Commune de Masio. [...] 3. Le présent arrêté sera inséré au Bulletin des Actes de l’Administration générale, imprimé dans les deux langues, publié et affiché dans toutes les communes de la 27 e Division Militaire. [...] IL GENERALE JOURDAN, AMMINISTRATORE GENERALE della 27 a Divisione Militare, Veduta la lettera del Generale Le-Grand Comandante la 27 a Divisione Militare, in data de’ 12 frimajo, che gli denunzia l’insurrezione accaduta li 13 brumajo nel Comune di Masio, Dipartimento di Marengo, contro la Brigata di Gendarmeria di Felizzano, incaricata di battere la pattuglia in detto Comune; Veduti li diversi processi-verbali sullo stesso oggetto inviatigli dal suddetto Generale di Divisione Le-Grand; Considerando, che in tale circostanza gli abitanti del Comune di Masio si sono resi colpevoli di rivolta contro il Governo, e l’Autorità pubblica, ed La phrase unique Michael Schreiber 94 hanno con ciò incorso le pene inflitte dalla Legge de’ 10 vendemmiajo anno 4 relativa alle pulizia de’ Comuni; DECRETA: 1. Il Prefetto del Dipartimento di Marengo farà eseguire il disposto della Legge de’ 10 vendemmiajo anno 4 contro il Comune di Masio. [...] 3. Il presente Decreto sarà inserito nel Bollettino degli Atti dell’Amministrazione Generale, stampato nelle due lingue, pubblicato, ed affisso in tutt’i Comuni della 27 a Divisione Militare. [...] (Archivio di Stato di Torino: Carte di epoca francese II/ 49) Die Struktur der Verordnung ähnelt der Verordnung aus Gent: Rechtsgrundlagen und Begründung sind als phrase unique formuliert, der Tenor aus eigenen Hauptsätzen. Die Textsortenbezeichnung arrêté wird hier mit decreto wiedergegeben, wodurch die Abgrenzung zwischen Rechts- und Verwaltungsverordnung verwischt wird (die Form arresto wird in den Übersetzungen aus dem Piemont nicht verwendet, cf. Reinke/ Scheiber 2015, 702). Considérant wird, wie in allen untersuchten italienischen Übersetzungen, wörtlich mit considerando wiedergegeben. Eine Besonderheit des Italienischen zeigt sich bei der Wiedergabe von vu. Diese Form ist im Französischen unveränderlich und daher formal als grammatikalisierte Präposition zu erkennen: Die italienischen Entsprechungen veduto und visto (beide Formen konkurrieren in den Übersetzungen miteinander) sind dagegen veränderlich und daher sichtbar als Partizipien markiert. Eine Parallele zu dem oben zitierten Text aus Gent ist die Formulierung „dans les deux langues“ (ohne Nennung der Sprachen), die als Indiz für die Alltäglichkeit der administrativen Zweisprachigkeit in den von Frankreich besetzten Gebieten angesehen werden kann. Zum Abschluss möchte ich ein Beispiel aus dem Elsass zitieren. Um den Richtern und Verwaltungsbeamten die korrekte Form bestimmter Rechts- und Verwaltungstexte nahezubringen, gab es eine Reihe von Anleitungen. Ein Beispiel hierfür aus dem Sprachenpaar Französisch- Deutsch ist das 1797 in Straßburg erschienene Gesetzbuch für die Friedensrichter, das neben einer Sammlung von Gesetzen, die für Friedensrichter relevant waren, Muster für verschiedene Textsorten enthält, mit denen ein Friedensrichter zu tun hat. Diese sind meist als Ein-Satz-Struktur formuliert. Zur Illustration sei ein Vorladungsschreiben zitiert: 95 Cédule de Citation. Sur ce qui nous a été exposé par Pierre Gérard, cultivateur à Longchamp, que, dans la journée de jeudi dernier, Antoine Leroux, en labourant sa pièce dite des Ormes, a anticipé de 5 raies de terre sur la pièce voisine, appartenant à l’exposant, et qu’il le soupçonne d’être celui qui a enlevé la borne qui marquoit la séparation des deux héritages, etc. Pourquoi, Pierre Gérard demande qu’Antoine Leroux soit tenu de lui restituer les 5 raies de terre usurpées sur sa pièce, et de lui payer la somme de 100 livres pour réparation du dommage causé à son blé. Nous citons Antoine Leroux, demeurant à Montreuil, à comparoître devant nous, lundi prochain 4 du présent mois, à dix heures du matin, en notre demeure à Villiers. Donné par nous Juge de Paix du canton de Villiers, ce vendredi 1. er mars 1791. (Signature du Juge de Paix). Vorladungs-Zedul. Auf das, was uns durch Peter Gerard, dem Ackersmann von Longchamp, vorgetragen worden, wie daß letzten Donnerstag Anton Leroux, indem er sein Grundstück, des Ormes genannt, gepflügt, von dem benachbarten Stück, welches dem Kläger zuständig, fünf Furchen abgepflügt habe, und daß er argwohne, daß er der nämliche seye, welcher den Markstein, der die Scheidung der beyden Güter bezeichne, weggeschafft, u.s.w. Weswegen Peter Gerard begehrt, daß Anton Leroux gehalten seyn solle, ihm die fünf von seinem Stück abgerissenen Furchen zurückzugeben und ihm die Summe von 100 Livres für Ersetzung des seiner Frucht zugefügten Schadens zu bezahlen: Laden wir Anton Leroux vor, künftigen Montag vierten des gegenwärtigen Monats um zehn Uhr Morgens vor Uns in unserer Behausung in Villiers zu erscheinen. Gegeben durch uns Friedensrichter des Cantons von Villiers, Freytags den 1sten März 1791. (Unterschrift des Friedensrichters). (Gesetzbuch für die Friedensrichter: 30s.) In dieser Übersetzung wurde nicht nur die Ein-Satz-Struktur nachgeahmt, es wurden auch die textsortenspezifischen Gliederungssignale (sur ce; pourquoi), wörtlich wieder gegeben (cf. Schreiber 2013). Die deutsche Syntax gerät dabei insbesondere im ersten Absatz an die Grenzen der Verständlichkeit, vor allem wenn man bedenkt, dass es sich um einen Text handelt, der sich nicht an einen Juristen richtet, sondern an einen juristischen Laien. La phrase unique Michael Schreiber 96 4 Schlussbemerkungen Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Übersetzungen von Ein-Satz-Strukturen in den analysierten juristischen und administrativen Texten aus dem Französischen stets relativ wörtlich sind. Die Übersetzer bemühen sich um eine Nachahmung der syntaktischen Struktur, was in romanischen Zielsprachen (Italienisch, Spanisch) leichter möglich ist als in germanischen (Deutsch, Niederländisch). Bisher noch nicht untersucht sind die Auswirkungen dieser Übersetzungen auf die juristische Fachkommunikation in den jeweiligen Zielsprachen. Insbesondere in Belgien und Italien, wo noch heute juristische Texte mit Ein-Satz-Strukturen zu finden sind, liegt ein solcher Einfluss nahe. Fragen wie diesen möchte ich in zwei Forschungsprojekten nachgehen, die sich mit der Übersetzung amtlicher Texte in Belgien und Italien während der Französischen Revolution und der Napoleonischen Ära befassen. Bibliographie Quellen Archives nationales. 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Désirée Cremer Relationsadjektive in romanischen Boethius- Übersetzungen aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit 1 Ansatz Bekanntheitsgrad und Ansehen des um 480 n. Chr. in Rom geborenen Anicius Manlius Severinus Boethius resultieren nicht allein aus seinem politischen Erfolg oder seiner wegweisenden Beschäftigung mit der Logik, sondern gründen insbesondere in seinem zuletzt verfassten Werk, der Consolatio Philosophiae. 1 Die aus fünf Büchern bestehende Trostschrift, in der „Boethius“ 2 in einen fiktiven Dialog mit der Dame „Philosophie“ tritt, die ihn in therapeutischer Weise aus seinem Unglück befreit und zur vollkommenen Glückseligkeit hinführt, entsteht um 524 während Boethius’ Gefangenschaft in Pavia infolge der Festnahme auf Geheiß Theoderichs. Genoss Boethius zunächst vollstes Vertrauen und größte Achtung des Ostgotenkönigs, fällt er aufgrund des Verdachts, er sei an einer Verschwörung mit Ostrom gegen den arianischen Herrscher beteiligt, in dessen Ungnade und wird schließlich von ihm zum Tod verurteilt. Die prosimetrische Consolatio nimmt als beeindruckende Synthese persönlicher, philosophischer und literarischer Ambitionen einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die mittelalterliche europäische Geistesgeschichte und bestimmt in dieser Weise auch nachfolgende Epochen. Da sie nicht nur Ausgangspunkt einer reichen Kommentartradition, sondern auch einer regen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Übersetzungs- 1 Boethius wirkte unter Theoderich als Konsul (510) und magister officiorum (522). Seine wissenschaftliche Karriere spiegelt sich eindrücklich in seiner Rolle als Begründer des Quadriviums - er übersetzte Pythagoras, Ptolemäus, Nikomachos und Euklid - in seinen Opuscula Sacra und zahlreichen Übersetzungen und Kommentaren zu Werken der griechischen Philosophie wider. Einen Überblick über das Leben und Wirken Boethius’ gibt zuletzt Kaylor, Jr. (2012). Einen umfassenden Einstieg in die Consolatio Philosophiae liefert der Kommentar von Gruber ( 2 2006). 2 Damit bezeichne ich die literarische Figur, die von dem Autor unterschieden werden muss. Désirée Cremer 100 praxis ist, 3 eignet sie sich in besonderem Maße für diachrone und sprachvergleichende Studien. 4 Das Interesse des vorliegenden Beitrags gilt der Wiedergabe von Relationsadjektiven in französischen und italienischen Consolatio-Versionen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. 5 Da die desubstantivischen Adjektive, die aufgrund ihrer sprachlichen Ökonomie insbesondere der Fachsprache zugeschrieben werden, grundlegend an der Sinnkonstituierung der Consolatio beteiligt sind, erweist sich ihre Wiedergabe bezüglich translatologischer Aspekte als ergiebig. Die individuellen Übersetzungslösungen werden auf mögliche Sinnverschiebungen sowie texttraditionelle Verknüpfungen überprüft. Im Hinblick auf eine angemessene Auswertung muss zunächst der hohe Sinngehalt, den die Relationsadjektive innerhalb der Consolatio besitzen, ermittelt werden. Die Analysen setzen folglich - anknüpfend an Coseriu (z.B. 4 2007; 2 2007) - primär auf der individuellen Ebene des Sprechens als Ort der textuellen Sinnstiftung und des diskursiven Wissens an. 6 2 Relationsadjektive als Sinnkonstituenten in Boethius’ Consolatio Die Betrachtung der lateinischen Trostschrift zeigt - gemäß ihrer fachsprachlichen Ausrichtung - eine Fülle an Relationsadjektiven, die auch sprachhistorisch nachvollziehbar ist: Im klassischen Latein werden generell viele Relationsadjektive gebildet, in der nachklassischen Epoche entstehen insbesondere im Kirchenlatein zahlreiche Neubildungen (cf. Schmidt 1972: 1). Die tragende Rolle von Relationsadjektiven in der Consolatio lässt sich eindrücklich an der gehäuften Verwendung in folgendem 3 Einen Überblick über die lateinischen Kommentare im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gibt Nauta (2009). Zur volkssprachlichen Übersetzungstradition cf. Cropp (2007) und Glei/ Kaminski/ Lebsanft (2010a). 4 Meine Dissertation (= Cremer 2015b) beispielsweise behandelt die französische Übersetzungstradition im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. 5 Zu den italienischen und französischen Übersetzungen cf. zuletzt die Beiträge von Brancato (2012) und Cropp (2012). 6 Ich möchte an dieser Stelle den Diskutanten des Kolloquiums danken, deren Anregungen dem Beitrag zugutegekommen sind. Über die Verortung der Textbzw. Diskurstradition im Drei-Ebenen-Modell des Sprechens herrscht in der Forschung Uneinigkeit (cf. zuletzt z.B. Koch 2008 u. Lebsanft 2015). Basierend auf der in Cremer (2013; 2015b) dargelegten Argumentation liegt diesem Beitrag die Annahme zugrunde, dass texttraditionelle Bezüge und ihre virtuellen diskursiven Vernetzungen - parallel zu dem „expressiven Wissen“ oder der „Textkompetenz“ Coserius’ ( 2 2007: 158ss.) - Phänomene der individuellen Ebene sind. Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 101 Textausschnitt demonstrieren, der als zentraler Passus den Unterschied zwischen Providentia und Fatum, d.h. zwischen Vorsehung und Schicksal, auf dem die boethianische Konzeption der Weltordnung beruht, thematisiert: Providentia namque cuncta pariter quamvis diversa quamvis infinita complectitur, fatum vero singula digerit in motum locis, formis ac temporibus distributa, ut haec temporalis ordinis explicatio, in divinae mentis adunata prospectum, providentia sit, eadem vero adunatio, digesta atque explicata temporibus, fatum vocetur. Quae licet diversa sint, alterum tamen pendet ex altero; ordo namque fatalis ex providentiae simplicitate procedit. Sicut enim artifex faciendae rei formam mente praecipiens movet operis effectum et, quod simpliciter praesentarieque prospexerat, per temporales ordines ducit, ita deus providentia quidem singulariter stabiliterque facienda disponit, fato vero haec ipsa quae disposuit multipliciter ac temporaliter administrat. Sive igitur famulantibus quibusdam providentiae divinis spiritibus fatum exercetur, seu anima seu tota inserviente natura seu caelestibus siderum motibus seu angelica virtute seu daemonum varia sollertia seu aliquibus horum seu omnibus fatalis series texitur, illud certe manifestum est, immobilem simplicemque gerendarum formam rerum esse providentiam, fatum vero eorum quae divina simplicitas gerenda disposuit, mobilem nexum atque ordinem temporalem (Consolatio, 7 IV 6p, 10-13; Hh.v.Vf.). 8 7 Im Folgenden wird bei Zitaten aus der lateinischen Consolatio auf die Titelnennung verzichtet; es werden nur Buch und Prosa bzw. Metrum angegeben. 8 In der deutschen Übersetzung von Gegenschatz/ Gigon (2004: 205, 207) lautet die Passage folgendermaßen: „Die Vorsehung umfaßt nämlich alles gleichmäßig, wie verschieden, wie unbegrenzt es sei, das Schicksal aber setzt das einzelne in trennende Bewegung, das dann nach Ort, Form, Zeit verteilt ist, so daß diese Entwicklung der zeitlichen Ordnung, im Überblick des göttlichen Geistes vereinigt, Vorsehung ist, eben diese Vereinigung aber, in der Zeit verteilt und entwickelt, Schicksal genannt wird. Wenn die beiden also auch verschieden sind, hängt doch das eine vom andern ab. Denn die Schicksalsordnung geht hervor aus der Einfachheit der Vorsehung. So wie der Künstler zuerst die Form seines Werkes im Geiste umfaßt, dann das Werk wirklich ausführt und, was er einfach und gegenwärtig vor sich erblickt hat, dann in zeitlicher Ordnung durchführt, so ordnet Gott durch die Vorsehung einheitlich und fest, was geschehen soll; durch das Schicksal aber verwaltet er gerade das, was er geordnet hat, vielfältig in der Zeit. Mag nun durch irgendwelche göttliche, der Vorsehung dienende Geister das Schicksal ausgeübt werden, mag die Schicksalsfolge durch eine Seele oder durch die ganze dienende Natur oder durch die himmlische Bewegung der Gestirne oder durch die Kraft von Engeln oder durch mannigfache List von Dämonen, durch einiges hiervon oder durch alles zusammen gewoben werden, das ist gewiß offenbar, daß die Vorsehung die unbewegte und einfache Form der sich vollziehenden Dinge ist, das Schicksal aber die bewegte Ver- Désirée Cremer 102 Die in der Passage befindlichen Relationsadjektive - temporalis, divinus, fatalis, caelestis, angelicus - dienen Boethius neben vielen weiteren (z.B. corporeus, humanus, mundanus, naturalis, popularis, rationalis, terrenus, universalis) dazu, in kosmogonischer Tradition ein philosophisch und christlich legitimiertes Universum zu entwerfen, in dem der vernunftbegabte Mensch, der in seiner irdischen Lebenswelt von Schicksalsinstanzen beeinflusst wird, im Hinblick auf die ewige Glückseligkeit des allgegenwärtigen Gottes ein tröstliches Ende finden kann. Da eine kontrastive Analyse der Übersetzungslösungen aller Relationsadjektive in der Consolatio im Rahmen dieses Beitrags nicht zu leisten ist, stehen im Folgenden drei für die Sinnkonstitution besonders wichtige, da unmittelbar und gemeinsam an der Entwicklung des boethianischen Weltbilds beteiligte Adjektive im Zentrum des Interesses: divinus, fatalis und humanus. Ihr sinnstiftender Charakter entfaltet sich vollends in dem bereits erwähnten Verhältnis von Providentia und Fatum: Boethius überwindet die scheinbare Unvereinbarkeit von göttlicher Vorsehung und heidnischem Schicksal, indem er providentia als zeitlose und unbewegte Erkenntnis der göttlichen Ordnung, fatum hingegen als die in Bewegung gebrachte, sich auf Erden in Zeit und Raum vollziehende Realisierung dieses Plans konzipiert (cf. IV 6p, 7ss.). In der boethianischen Konstellation ist folglich das Göttliche mit dem Menschlichen durch die sich als irdische Entfaltung des ewigen göttlichen Geistes verwirklichende Schicksalsordnung miteinander verbunden: Abbildung 1: Die Schicksalskette als Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem flechtung und die zeitliche Ordnung dessen, was die göttliche Einfachheit zum Vollzug geordnet hat“. Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 103 Die Bereiche des Menschlichen und Göttlichen stehen in einem Verhältnis konträrer Antonymie: 9 je stärker die Teilhabe des Menschen am göttlichen Geist, desto größer seine Freiheit von den Fängen des Schicksals (cf. dazu IV 6p, 14-15). 3 Korpus Angesichts des qualitativ geleiteten Forschungsziels - die exemplarische Erfassung individueller Übersetzungsstrategien vor dem Hintergrund textueller Sinnverschiebungen und diskursiver Bezüge - kann nur ein Ausschnitt der komplexen romanischen Consolatio-Tradition Berücksichtigung finden. Untersucht werden insgesamt vier französische und drei italienische prosimetrische Übersetzungen, die zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert entstanden sind. 10 Die formale Invariante des Prosimetrums, die auf einen stärker ausgeprägten Treueanspruch als in anderen zeitgenössischen Übersetzungen in reiner Prosa- oder Versform hindeutet, gewährleistet eine ausreichende Vergleichbarkeit. Aufgrund der einzelsprachlichen und zeitlichen Variation lassen sich synchron-interlinguale und diachron-intralinguale Übertragungsphänomene und -tendenzen offenlegen. Bei der frühesten französischen prosimetrischen Übersetzung, die unter dem Titel Boeces: De Consolacion in kritischer Edition von Atkinson (1996) verfügbar ist, handelt es sich um eine anonyme, im Mittelalter kaum verbreitete Version. Die wenigen Manuskripte (sechs, davon nur zwei vollständig) legen nahe, dass die Übersetzung zwischen 1320 und 1330 im Osten Frankreichs von einem lothringischen Bettelmönch erstellt wurde (cf. Atkinson 1996: 1, 4s., 43). Das konzise Werk, das auf narrative und erläuternde Hinzufügungen verzichtet und die Gedichte in achtsilbigen Paarreimen wiedergibt, fungiert als Quelle für die sehr erfolgreiche zweite französische prosimetrische Übersetzung (Edition Cropp 2006) sowie für die 1336 verfasste Versübersetzung von Renaut de Louhans (unveröffentlichte Edition Atherton 1994) (cf. Atkinson/ Cropp 1985). Um dieselbe Zeit entsteht in Italien - allerdings in einem ganz anderen, nämlich weltlichen Umfeld - die erste prosimetrische Consolatio-Ver- 9 Aus sprachhistorischer Sicht ist dieses Faktum interessant, da die meisten Relationsadjektive kein direktes Antonym evozieren (cf. Schmidt 1972: 22s.). 10 Eine umfassende Beschreibung der französischen prosimetrischen Consolatio-Übersetzungen - bezüglich des historischen Umfelds, der Textstruktur und einzelner Wiedergabeverfahren - findet sich in Cremer (2015b). Désirée Cremer 104 sion: Der florentinische Jurist Alberto della Piagentina verfasst die Übersetzung Della Filosofica consolazione zwischen 1322 und 1332 in einem venezianischen Gefängnis, in dem er nach zehnjähriger Gefangenschaft stirbt. In Parallelität zu Boethius beklagt der Verfasser seine als Unrecht empfundene Gefangenschaft und verspricht sich durch die Übersetzung der Trostschrift Linderung seines Leids. Della Piagentina greift wie sein französischer Zeitgenosse kaum in die Textstruktur des lateinischen Ausgangswerks ein; die Verspartien überträgt er in danteske Terzinen (cf. Ricklin 1997: insb. 274s.). 11 An der Schwelle zur Frühen Neuzeit entsteht das anonym verfasste Liure de boece de consolation de phylosophye, das 1477 von Colard Mansion in Brügge als Inkunabeldruck herausgegeben wird. 12 Die Übersetzung, die 1494 von dem erfolgreichen Pariser Drucker Anthoine Vérard neu veröffentlicht wird, ist mit einem umfangreichen paratextuellen Apparat ausgestattet, der auf dem spirituell motivierten, lateinischen Kommentar des Reinerus von Sankt Truiden aus dem Jahre 1381 beruht. Neben der Bemühung um starke semantische und formale Äquivalenz zum Ausgangstext in der sprachlichen Struktur zeichnet sich die Übersetzung insbesondere dadurch aus, dass sie die lateinische Polymetrie anhand variationsreicher Versmaße und Reimschemata nachahmt. Diese Tendenz wird sich fortan in der französischen Tradition festigen. Als italienischer Repräsentant des 16. Jahrhunderts dient die erstmals 1551 in Florenz gedruckte Version Della Consolazione della Filosofia von Benedetto Varchi (ca. 1503-1565), der zu den wichtigsten Gelehrten des Cinquecento zählt und postum insbesondere für seine von Cosimo I. in Auftrag gegebene Storia Fiorentina (1721) 13 und seinen Beitrag zur Questione della lingua mit dem unvollendeten Dialog L’Ercolano (1570) bekannt ist. Seine in 15 Editionen weit verbreitete Boethius-Übersetzung entsteht aus Anlass eines Wettstreits, den Cosimo I. 1549 infolge der Bitte Karls V. um eine italienische Consolatio-Version ins Leben ruft, und kann sich als 11 Zur texttraditionellen Vorreiterrolle dieser Übersetzung cf. Albesano (2006: 175-186), Carrai (2003) und Cremer (2012). 12 Eine kritische Edition der Übersetzung wird von Franz Lebsanft vorbereitet, der mit mehreren Aufsätzen (u.a. 2010 u. 2011) einen großen Beitrag zu ihrer Erschließung geleistet hat. Zur texttraditionellen Beschaffenheit der Übersetzung cf. Cremer (2015a). 13 Die Brisanz dieses Texts geht nicht nur aus dem späten Veröffentlichungsdatum hervor, sondern insbesondere aus der Verlagsinformation: „in Colonia […] appresso Pietro Martello“. Zur Rolle des fingierten Herausgebers Pietro Martello (auch Pierre Marteau oder Peter Hammer) cf. beispielsweise Hausmann (1994). Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 105 Sieger gegen die konkurrierenden Versionen von Lodovico Domenichi (1550, insgesamt drei Editionen) und Cosimo Bartoli (einzige Edition 1552) durchsetzen. Die mit Widmung an Cosimo I. ausgestattete Übersetzung behält als erstes italienisches volgarizzamento die Polymetrie des lateinischen Ausgangstexts bei (cf. Brancato 2003: 87s., 90). 14 Aus Frankreich ist im 16. Jahrhundert nur eine einzige Consolatio- Version bekannt: Die Übersetzung eines Sieur de Malaßis de Mente alias Charles Le Ber wird 1578 in Paris gedruckt und 1597 neu veröffentlicht. Als bezeichnend für ihren Entstehungskontext erweist sich, dass Le Ber außerdem die erste französische Übersetzung der Politica (Leiden 1589) des Neostoizisten Lipsius anfertigt, die 1590 nur ein Jahr nach dem Original in der reformatorischen Stadt La Rochelle erscheint. In Anbetracht dieses Umfelds offenbart die Consolatio-Übersetzung bereits vornehmlich sozialpolitische und überkonfessionelle Anliegen. Die erstmals 1636 in Reims veröffentlichte Übersetzung René de Ceriziers’ (1603-1662) positioniert sich hingegen eindeutig auf katholischer Seite. Der Verfasser ist Angehöriger des Jesuitenordens, der seit seiner Gründung an der gegenreformatorischen Instrumentalisierung des Boethius beteiligt ist (cf. Kaminski 2010: 284). 15 Mit elf Ausgaben erzielt die Übersetzung, der in zahlreichen Editionen eine von Ceriziers selbst verfasste religiöse Trostschrift, die Consolation de la Théologie (1639), beigegeben ist, den größten kommerziellen Erfolg innerhalb der französischen Tradition. Ihr Bekanntheitsgrad ist nicht zuletzt den engen Kontakten des Verfassers zum französischen Königshaus geschuldet. Die das Korpus schließende italienische Version aus dem 17. Jahrhundert entstammt ebenfalls der Feder eines Jesuiten: Ihr Verfasser Tommaso Tamburini (1591-1675) aus Caltanissetta (Sizilien) ist u.a. als Philosophie- und Theologielehrer, Rektor mehrerer Schulen sowie als Berater und Zensor am sizilianischen Inquisitionsgericht tätig, gilt darüber hinaus als wichtigster Kasualist der probabilistischen Schule des 17. Jahrhunderts (cf. Kohls 2 2003). Seine Übersetzung Del Conforto della Filosofia wird 1657 in Palermo publiziert. 14 Zur Genese der Übersetzung, ihrer Glossen und sprachlichen Struktur cf. Brancato (2007: insb. 115ss.). 15 Da Boethius’ Hinrichtung auf Befehl des Arianers Theoderich erfolgt, geht er - trotz der eigentlich politischen Gründe - in die Geschichte als christlicher Märtyrer ein (cf. Glei/ Kaminski/ Lebsanft 2010b: 3). Désirée Cremer 106 14. Jh. Fr. anonym, 1320-1330 It. Della Piagentina, 1322-1332 15. Jh. Fr. Mansion, 1477 16. Jh. It. Varchi, 1551 Fr. Le Ber, 1578 17. Jh. Fr. Ceriziers, 1636 It. Tamburini, 1657 Tabelle 1: Korpusüberblick 4 Analyse: Wiedergabe der Relationsadjektive in den Übersetzungen Ausgehend von Coserius ( 2 2007: 69ss.) Theorie und Modellierung dreier Ebenen des Sprechens werden die Übersetzungsverfahren im Umgang mit den Relationsadjektiven als individuelle Entscheidungen zur Sinnkonstitution des Texts aufgefasst. Die Beschaffenheit der Texttradition des Ausgangswerks ist für die Wahl von Übersetzungsverfahren ausschlaggebend. Für ältere Epochen erweist sich eine strikte Trennung zwischen den Diskursuniversen Wissenschaft und schöne Literatur bekanntlich als inadäquat. 16 Dies gilt insbesondere für die Consolatio, die in harmonischer Weise informative und expressive Funktionen vereint: Aus ihrem wissenschaftlichen Gehalt einerseits resultiert die Notwendigkeit einer Nomenklatur, die auf Monoreferenzialität beruht und sich durch einen extremen Differenzierungsgrad auszeichnet. Die Relationsadjektive fungieren als wichtige Komponenten dieser fachsprachlichen Ausrichtung. Andererseits ist der poetisch-ästhetische Wert des Texts an Stilideale wie die variatio gebunden. In Bezug auf die Übersetzungen erscheint die Frage interessant, ob sie dem doppelten Anspruch von Wahrheit und Ästhetik gerecht werden oder ob einer der beiden Priorität erhält und somit zur dominanten Invariante erhoben wird. Eine angemessene Bewertung des auf Textebene zu ermittelnden Umgangs mit den drei sinnkonstituierenden Relationsadjektiven divinus, fatalis und humanus ist notwendigerweise unter 16 Zu dieser Doppelfunktionalität beispielsweise cf. Gipper (2002), der die literarischen Strategien wissenschaftlicher Vulgarisierungstexte im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts untersucht. Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 107 Berücksichtigung einzelsprachlicher Möglichkeiten und Entwicklungen zu leisten, sodass die Analyse sekundär die historische Ebene des Coseriu’schen Modells tangiert. In dieser Hinsicht ist jeweils zu überprüfen, ob die einzelsprachlichen Systeme des Französischen und Italienischen über sprachliche Zeichen verfügen, die formale und inhaltliche Äquivalente der lateinischen Adjektive darstellen. 17 4.1 Divinus Das lateinische desubstantivische Adjektiv divinus 18 ist polysem; I) zeigt den relationalen, II) den qualifizierenden Gehalt an: dīvīnus, a, um, Adi. m. Compar. u. Superl. (divus), I) ‘göttlich, Gott gehörig, ihm zukommend, auf ihn sich beziehend, von ihm herrührend‘, [...] II) übtr.: A) ‘von göttlicher od. höherer Eingebung erfüllt, inspiriert, weissagerisch, ahnend‘, [...] B) ‘göttlich, gottähnlich‘, a) = ‘himmlisch, unvergleichlich, bewundernswürdig, außerordentlich, vortrefflich, herrlich‘ [...] b) ‘gottähnlich, erhaben‘ (Georges I, 2252-2253). Der zitierte Eintrag verweist auf bestehende Komparativ- und Superlativformen, die Relationsadjektiven üblicherweise abgesprochen werden. 19 Die Graduierbarkeit der göttlichen Substanz innerhalb der Consolatio wurde bereits anhand der konträren Antonymie zwischen divinus und humanus (cf. Kap. 2) indirekt als essentieller Bestandteil der Sinnkonstituierung herausgestellt. Sowohl im Italienischen als auch im Französischen wird das lateinische Adjektiv DĪVĪNU ( M ) früh entlehnt. Im Italienischen ist divino schon im 13. Jahrhundert vermehrt in der relationalen Bedeutung ‘che si riferisce a Dio o agli dei‘, vereinzelt aber auch in der qualifizierenden Bedeutung ‘eccelente, straordinario‘ belegt, die sich im darauffolgenden Jahrhundert festigen wird (cf. TLIO, s.v. divino). Im Cinquecento erreicht der Gebrauch des Adjektivs seinen Höhepunkt (cf. Migliorini 1983: 298). Im Französischen ist divin ‘qui appartient à Dieu‘ bereits auf ca. 1050 datiert, mit sekundärer Bedeutung ‘beau, excellent‘ erst Mitte des 16. Jahrhunderts bei 17 Zum lateinischen und romanischen Relationsadjektiv als Resultat der Wortbildung, nämlich einer Attributtransposition, cf. Lüdtke (2005: 218ss.), der den Prozess aus inhaltlicher und diachroner Sicht beleuchtet. 18 Das Suffix -inus leistet die Ableitung von Personenbezeichnungen (cf. Lüdtke 2005: 225). 19 Zumindest in den romanischen Sprachen, cf. Lüdtke (2005: 219); Dardano/ Trifone ( 5 2001: 198); Renzi/ Salvi/ Cardinaletti ( 2 2001: 333); Geckeler (1976: 110); Riegel/ Pellat/ Rioul ( 7 2009: 633). Désirée Cremer 108 Ronsard belegt (cf. DHLF I, 1055a-b). Auf historischer Ebene besteht in lexikalisch-semantischer Sicht folglich eine hohe Übereinstimmung zwischen den lateinischen und romanischen Möglichkeiten. Die folgende Tabelle gibt Aufschluss darüber, inwiefern die Consolatio-Übersetzer diese in ihren individuellen Translationsprozessen nutzen, indem sie darstellt, wie viele der Belege des lateinischen Relationsadjektivs divinus insgesamt (= I) in den italienischen und französischen Versionen mit der jeweiligen Entsprechung wiedergegeben werden. Darüber hinaus gibt sie an, ob das Adjektiv nach- (= N) oder vorangestellt (= V) wird und ob ein elliptischer (= E), substantivierter (= S) oder prädikativer (= P) Gebrauch vorliegt: 14. Jh. 15. Jh. 16. Jh. 17. Jh. Lat. Fr. It. Fr. It. Fr. Fr. It. I 49 8 48 45 42 38 14 26 N 7 5 24 23 32 22 10 10 V 39 2 23 22 7 13 2 15 E 1 0 1 0 1 1 2 0 S 1 0 0 0 0 0 0 0 P 1 1 0 0 2 2 0 1 Tabelle 2: Die Wiedergabe von lat. divinus durch it. divino und fr. divin Das lateinische Adjektiv wird in der Consolatio insgesamt 49-mal verwendet. Die Wiedergabe in den Übersetzungen ist - trotz relativ homogener einzelsprachlicher Bedingungen - weder in synchron-interlingualer noch in diachron-intralingualer Hinsicht homogen. In der italienischen Tradition zeichnet sich ein kontinuierliches Sinken in der Verwendung des Adjektivs ab: Während vom 14. bis zum 16. Jahrhundert nur ein schwacher Rückgang erkennbar ist, fällt die Zahl mit der Übersetzung von Tamburini aus dem 17. Jahrhundert drastisch. Die Beobachtung deckt sich mit der Information von Migliorini (1983: 398s.), dass divino Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts im Überfluss verwendet werde, mit der Gegenreformation hingegen einen rasanten Rückgang erfahre. In der französischen Tradition divergieren die Zahlen noch deutlicher: Obwohl das entlehnte Adjektiv im Französischen sogar früher als im Italienischen belegt ist, macht der erste Übersetzer nur sparsamen Gebrauch davon. Der quantitative Höhepunkt wird erst im 15. Jahrhundert erreicht, danach Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 109 sinkt der Gebrauch, besonders stark wie im Italienischen im 17. Jahrhundert. Im Hinblick auf die Stellung dominiert im lateinischen Text deutlich der pränominale Gebrauch. Die Beobachtung Marouzeaus (1953: 1), dass im Lateinischen trotz syntaktischer Freiheit attributive Adjektive der „qualification“ zur Voranstellung, solche mit Funktion der „discrimination“ - hierzu zählt der Relationswert - hingegen zur Nachstellung tendieren, lässt sich im Korpus folglich nicht verifizieren. Marouzeau (id.: 7- 9) weist aber auf eine Reihe von Inversionen der „üblichen“ Stellung zur Hervorhebung hin. Wydler (1956: 259) stellt darüber hinaus die hohe Frequenz der Voranstellung der Determinativa - hierzu zählen die Relationsadjektive - in literarischen Texten des Spätlateins heraus. 20 In den französischen und italienischen Übersetzungen lässt sich erkennen, dass die gegenwärtige Blockierung der präsubstantivischen Position von Relationsadjektiven 21 für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Sprachepoche nicht gilt. In den französischen Übersetzungen ist die Nachstellung des Adjektivs zwar durchgängig häufiger, aber diese Dominanz scheint erst seit dem 16. Jahrhundert an Normativität zu gewinnen. Angesichts sprachhistorischer Entwicklungen, innerhalb derer die Nachstellung des Relationsadjektivs im Mittelfranzösischen die unmarkierte Variante darstellt, 22 sticht besonders die Übersetzung Mansions (1477) durch die häufige Voranstellung, die den ohnehin latinisierenden Charakter der Version noch verstärkt, heraus. In den drei italienischen Übersetzungen lassen sich ganz verschiedene Lösungen erkennen: Während die frühe Version von Alberto della Piagentina mit 24 nach- und 23 vorangestellten Belegen ein sehr ausgeglichenes Verhältnis aufweist, wählt Varchi als dominante Position die Nachstellung, Tamburini die Voranstellung. Laut Wydler (1956: 261s.) setzte sich die postsubstantivische Adjektivposition im Italienischen nie so weit durch wie im Französischen, sodass sich Determinativa 20 Cf. auch die Auseinandersetzung mit der Stellung des Adjektivs beim Übergang vom Lateinischen zum Romanischen bei Ledgeway (2012: 50-52). 21 Z.B. *une mentale maladie, *l’artistico patrimonio; cf. dazu Lüdtke (2005: 220); Geckeler (1976: 110); Riegel/ Pellat/ Rioul ( 7 2009: 633); Dardano/ Trifone ( 5 2001: 198); Renzi/ Salvi/ Cardinaletti ( 2 2001: 333). 22 Laut Buridant (2000: 213s., §172) ist die Voranstellung der Relationsadjektive im Altfranzösischen zwar zeitlich zuerst vertreten, wird aber bald durch den dominanten postsubstantivischen Gebrauch verdrängt. Marchello-Nizia (1997: 398) stellt für das Französische des 14. und 15. Jahrhunderts fest, dass die Adjektive divin und humain meist postsubstantivisch erscheinen. Désirée Cremer 110 durchaus auch in neuitalienischen Texten mit latinisierender Tendenz in präsubstantivischer Stellung finden. 23 Bezüglich translatologischer Prozesse lassen sich weiterhin folgende Feststellungen machen: Während der elliptische Gebrauch des Adjektivs zumindest in vier Übersetzungen nachgeahmt wird, erfährt die einmalige substantivische Verwendung (V 6p, 25: „divini speculator“) in keiner der romanischen Versionen Berücksichtigung. Der prädikative Gebrauch in IV 1p, 2 („O, inquam, veri praevia luminis, quae usque adhuc tua fudit oratio cum sui speculatione divina tum tuis rationibus invicta patuerunt“) wird immerhin von vier Übersetzern imitiert: Anonym: „O guierresse de vraie lumiere, ces choses que tu as dites jusques ci sont toutes apparenz que elles soient divines par leur contemplacion et tres certainnes par tes raisons“. Varchi: „ò guida, & mostratice del vero lume; le cose, le quali infin qui hà il tuo parlare mandate fuori, si sono manifestamente dimostre non meno diuine per la propia specolazione loro, che inuitte, & certissime per le ragioni allegate da te“. Le Ber: „O guide & chemin de la vraye lumiere, ce que vous auez iusques à ceste heure dit, & les propos que vous auez tenuz, ne sont moins diuins pour le grand bien que l’on en peut tirer, en les biens considerant, qu’ils sont certains, & asseurez pour les belles raisons que vous auez alleguees“. Tamburini: „O chiara, e fida scorta delle pure verità, quelle, che fin hora hai proferite, parmi che siano abbastanza (se la loro Natura si contempla) dimostrate, e non meno certe, e salde, che, del tutto, diuine, se le ragioni da te allegate si pesano [...]“. In den Übersetzungen von Le Ber und Varchi 24 lässt sich jeweils ein weiterer prädikativer Gebrauch nachweisen, und zwar zur Wiedergabe von II 5p, 25: „quello animale, lo quale [...] è diuino“, „cest animal qui est diuin“. Sprachhistorisch sind diese Beispiele von Relevanz, da sie die gängige Regel, Relationsadjektive könnten nicht prädikativ verwendet werden, 25 23 Die Information von Renzi/ Salvi (2010: 605), dass Relationsadjektive im Italienischen des Duecento und Trecento voran- oder nachgestellt, im italiano moderno hingegen immer postsubstantivisch verwendet würden, erscheint in Anbetracht dieses Korpus zu undifferenziert. 24 Die in den zitierten Passagen von Varchi und Le Ber präsenten Konstruktionen non meno ... che bzw. ne ... moins ... que bewirken an dieser Stelle keine Graduierung des Relationsadjektivs; sie tragen vielmehr die Bedeutung ‘sowohl ... als auch‘. 25 Z.B. *la compagnie est pétrolière, *l’anno è finaziario; cf. Lüdtke (2005: 219); Geckeler (1976: 110); Riegel/ Pellat/ Rioul ( 7 2009: 633); Dardano/ Trifone ( 5 2001: 198); Renzi/ Salvi/ Cardinaletti ( 2 2001: 332). Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 111 infrage stellen. Auf Textebene lässt sich schließlich ermitteln, dass die Adjektive in den angeführten Passagen trotz prädikativer Verwendung durchaus relational interpretiert werden können. Da häufig von der Übersetzung durch ein äquivalentes Relationsadjektiv abgesehen wird, erscheint die Frage wichtig, welche anderen Lösungen zur Wiedergabe der lateinischen Belege gewählt werden: 14. Jh. 15. Jh. 16. Jh. 17. Jh. Fr. It. Fr. It. Fr. Fr. It. Dieu als complément absolu 4 0 0 0 0 0 0 Subst. + de Dieu/ di Dio 25 0 1 4 7 14 (2 pl.) 13 Paraphrase mit Dieu/ Dio 6 0 2 2 1 5 3 son, sa... (‘de Dieu‘) + Subst. 2 0 0 0 0 3 0 Paraphrase mit divinité/ divinità 1 0 0 1 1 1 1 Adverbialisierung des RA 0 0 0 0 1 0 0 Verwendung eines anderen RA 0 0 0 0 0 1 1 Andere Lösung 3 1 1 0 1 11 5 Tabelle 3: Andere Wiedergabelösungen für lat. divinus Die Verwendung eines complément déterminatif absolu postposé (auch complément absolu), d.h. eines Genitivattributs ohne Präposition, ist ein typisches Merkmal des Altfranzösischen (cf. Buridant 2000: 91-100, §59-66) 26 und wird dementsprechend nur von dem anonymen mittelalterlichen Übersetzer genutzt, z.B. „divini humanique praesentis“ (V 6p, 20) > „de la presence du regart Dieu et d’omme“, „divinae iudicium mentis [...] divinae [...] menti“ (V 5p, 11) > „le jugement de l’entendement Dieu [...] l’en- 26 Marchello-Nizia (1997: 398-402) führt aus, dass die absolute Konstruktion - insbesondere bei Dieu - auch noch im Mittelfranzösischen gebräuchlich sei. Im Altitalienischen existiert sie nicht. Das di des Genitivs fällt nur bei festen Wendungen mit Eigennamen weg (cf. Renzi/ Salvi 2010: 277s.). Désirée Cremer 112 tendement de Dieu“. Aus dem letzten Beispiel geht die völlig parallele Verwendungsweise zur Nominalgruppe mit de hervor, die in der frühen französischen Version sogar 25-mal vertreten ist. Auch die Übersetzer des 17. Jahrhunderts machen von der Konstruktion Substantiv + de Dieu/ di Dio regen Gebrauch, wobei Ceriziers zweimal durch die pluralische Verwendung eine Sinnverschiebung vornimmt, die bezeichnenderweise nicht christianisierend, sondern antikisierend ausfällt: „divinum praesidium“ (III 9p, 32) > „l’assistance des Dieux“, „in divinam condicionem“ (IV 3p, 21) > „à la condition des Dieux“. Besonders hingewiesen sei auf die Wiedergabe des Relationsadjektivs divinus durch eine Paraphrase mit divinité oder divinità, die außer in den extrem wortgetreuen Versionen von Alberto della Piagentina und Mansion in allen Übersetzungen verwendet wird. In der französischen Tradition findet sich diese Lösung bei dem frühen anonymen Verfasser (III 12p, 30: „divinae simplicitatis“ > „de la simple nature de divinité“), bei Le Ber (V 5p, 4: „generis divini“ > „à la diuinité“) und Ceriziers (IV 6p, 13: „divinis spiritibus“ > „de quelque Diuinité“). In der italienischen Tradition wird das Substantiv zur Wiedergabe von IV 6p, 32 („de divina profunditate“) von Varchi („della profonda diuinità“) und Tamburini („del profondo abisso della Diuinità“) eingesetzt. Die Passagen weisen keine gravierende Sinnverschiebung auf; vielmehr transportieren die aus dem deadjektivischen Substantiv divinitas erfolgten Entlehnungen divinité (12. Jahrhundert, cf. FEW III, 109a) und divinità (13. Jahrhundert, cf. DELI II, 357a; TLIO, s.v. divinità) das Konzept einer abstrakten göttlichen Einheit oder Substanz und können aufgrund ihrer semantischen Nähe zum Relationsadjektiv und dessen Basis synonym mit Gott oder dem Göttlichen verwendet werden. 27 Die Beobachtung erweist sich wiederum von sprachhistorischem Interesse, da Relationsadjektive i.d.R. als blockiert für weitere Wortbildungsverfahren gelten (cf. Lüdtke 2005: 219). 28 Ähnliches lässt sich in Bezug auf die Adverbialisierung des Relationsadjektivs in der französischen Übersetzung aus dem 16. Jahrhundert sagen: „divini humanique praesentis“ (V 6p, 20) > „ce qui est diuinement present auec l’humain“. Entgegen der weitverbreiteten, wenn auch umstrittenen These, dass bei adverbialem Gebrauch der relationale Gehalt 27 Laut DHLF (I, 1055b) wird fr. divinité, dessen Etymon im christlichen Latein synonym zu ‘Dieu‘ verwendet wurde, zunächst als ‘théologie‘ (12. Jahrhundert), dann als ‘l’essence, la nature divine‘ (13. Jahrhundert) und schließlich als ‘l’être divin, Dieu‘ (1501) gebraucht. 28 Cf. diesbezüglich auch Schmidt (1972: 13): z.B. *administrativité, *universitarité, la popularité des masses ≠ les masses populaires. Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 113 verloren gehe, 29 darf divinement im Hinblick auf Sinnäquivalenz an dieser Stelle nicht als adverbe de manière mit der qualifizierenden Bedeutung ‘merveilleusement‘ interpretiert werden; 30 Le Ber aktiviert es vielmehr als adverbe de cadrage mit der durchaus relationalen Bedeutung ‘dans le domaine de Dieu‘. 31 Während in den bisherigen Wiedergabelösungen lediglich eine Veränderung der grammatischen Struktur bei Beibehaltung der lexikalischen Information zu Tage trat, gestehen sich erst die Übersetzer aus dem 17. Jahrhundert größeren Freiraum im lexikalischen Inventar zu, wie sich in der Tabelle insbesondere an den elf „anderen Lösungen“ Ceriziers’ abzeichnet: Er tendiert zu Begriffen, die in metonymischer Verbindung zum Göttlichen stehen oder Periphrasen von Gott darstellen, z.B. Prouidence, pre(science), intelligence, l’éternité, premier et souverain Être. Die größere lexikalische Unabhängigkeit der Übersetzer des 17. Jahrhunderts zeigt sich außerdem, wenn sie an jeweils einer Stelle zur Wiedergabe von divinus ein anderes Relationsadjektiv wählen. Ceriziers bleibt mit der Wiedergabe von „supernis divinisque substantiis“ (V 2p, 7) als „Essences toutes pures & celestes“ dem Sinn des Ausgangstexts dennoch sehr nah. 32 Auch in Tamburinis Übersetzung der „curae divinae“ (I 6p, 5) durch „questa cura paterna“ zeichnet sich zwar eine konkretisierende und christianisierende Tendenz, jedoch keine gravierende Sinnverschiebung ab. 4.2 Fatalis Das lateinische Relationsadjektiv fatalis 33 ‘zum Schicksal gehörig‘ nimmt wie divinus sekundär auch qualifizierende Bedeutung an: fātālis, e (fatum), ‘zum Schicksal-, zum Verhängnis gehörig, Schicksals-‘, I) im allg., [...] II) insbes., im üblen Sinne, wie ‘verhängnisvoll‘ = ‘Verderben bringend, verderblich, tödlich‘ (Georges I, 2697-2698). 29 Die These findet sich beispielsweise noch bei Riegel/ Pellat/ Rioul ( 7 2009: 634) und Lüdtke (2005: 166). Zu der Kontroverse cf. Hunnius (2010: 236s.). 30 Die deadjektivische Ableitung divinement ist erstmals 1327 belegt und wird mit der Bedeutung ‘par l’action de Dieu‘ verwendet. Die qualifizierende und im Neufranzösischen dominante Bedeutung ‘merveilleusement‘ ist erstmals 1540 belegt (cf. DHLF I, 1055b; TLF VII, 352). 31 Zu den adverbes de point de vue bzw. de cadrage cf. Hunnius (2010). 32 Hingewiesen sei auf die kopulative Koordination von qualifizierendem und relationalem Adjektiv, die im modernen Französisch als blockiert gilt, z.B. *un parc immense et municipal (cf. Geckeler 1976: 110s.; Riegel/ Pellat/ Rioul 7 2009: 634). 33 Das Suffix -alis wird zur Ableitung von Dingbezeichnungen verwendet (cf. Lüdtke 2005: 225). Désirée Cremer 114 Im Italienischen ist die Entlehnung aus lat. FĀTĀLE ( M ) seit dem späten 13. Jahrhundert (Bono Giamboni, vor 1292) belegt. Während zunächst die relationale Bedeutung ‘stabilito dal fato, dal destino‘ überwiegt, entfaltet fatale in den nachfolgenden Jahrhunderten qualifizierenden Gehalt: In Petrarcas Canzoniere (vor 1374) erscheint es in Bezug auf die geliebte Frau in der Bedeutung ‘che suscita ardente passione‘ (cf. TLIO, s.v. fatale). 34 1533 verwendet Teofilo Folengo es in der Bedeutung ‘che arreca danno, provoca morte, funesto‘ (cf. DELI II, 420a). Auch die französische Entlehnung fatal übernimmt das semantische Spektrum des lateinischen Adjektivs. In der Bedeutung ‘que le destin rend inévitable‘ ist es seit dem 14. Jahrhundert belegt; im Mittel- und Neufranzösischen etabliert es sich insbesondere als ‘qui entraîne inévitablement la ruine‘ (cf. FEW III, 434a). In der lateinischen Consolatio wird das Relationsadjektiv fatalis sechsmal ausschließlich attributiv verwendet, erneut hauptsächlich in präsubstantivischer Position: 14. Jh. 15. Jh. 16. Jh. 17. Jh. Lat. Fr. It. Fr. It. Fr. Fr. It. I 6 0 6 5 6 4 1 2 N 1 0 3 4 5 2 0 1 V 5 0 3 1 1 2 1 1 Tabelle 4: Die Wiedergabe von lat. fatalis durch it. fatale und fr. fatal Im Französischen steht das Adjektiv dem mittelalterlichen Übersetzer noch nicht zur Verfügung; Mansion und Le Ber machen dann aber überwiegend Gebrauch davon. In der italienischen Tradition setzen Alberto della Piagentina und Varchi das Adjektiv fatale konsequent zur Übersetzung des lateinischen Äquivalents ein. Der häufigere Gebrauch des Relationsadjektivs im Italienischen lässt sich insbesondere damit begründen, dass dort bereits das entsprechende Substantiv fato existiert (seit 1304, cf. DELI II, 420a) und in den Übersetzungen zur Wiedergabe von fatum fungiert. Im Französischen hat die Ablehnung des heidnischen Schicksalskonzepts im christlichen Mittelalter hingegen zur Folge, dass es sprachhistorisch keine semantisch äquivalenten Fortführer von lat. fatum 34 DELI (II, 420a) gibt für die Bedeutung ‘dotato di irresistibile fascino‘ erst eine Verwendung von Giuseppe Rovani aus dem Jahr 1869 an. Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 115 ‘Schicksal‘ gibt (cf. FEW III, 436a-b; FEW XII, 125b). Die französischen Übersetzer verzichten somit gezwungenermaßen auf die formal-lexikalischen Informationen des Ausgangsworts, indem sie fatum mit destinée bzw. destin wiedergeben. 35 Aus der Verwendung des Relationsadjektivs würde eine Verschiebung textinterner Zeichenrelationen resultiren, denn die wortfamiliär bedingte Zusammengehörigkeit ginge verloren: fatum - fatalis : destinée - fatal. Erst Mansion, der zur Übersetzung von IV 6p, 10 an einer Stelle fatum entlehnt und mit destinée gleichsetzt, kann im Anschluss das entsprechende Relationsadjektiv verwenden (Mansion 1477, cf. 224v a: „Et celle meismes adunation digeste et explicque es choses temporeles est appelle fatum“). 36 Die Übersetzungen im 17. Jahrhundert dokumentieren - wie schon bei divinus - einen auffälligen Rückgang in der Verwendung des jeweiligen Relationsadjektivs, obwohl die Entlehnungen über die semantische Reichweite des lateinischen Etymons verfügen und bereits in den vorherigen Versionen verwendet werden. Vielsagend erscheint diesbezüglich das Urteil von Vaugelas. In einer Remarque zu fatal heißt es: Ce mot le plus souvent se prend en mauvaise part, comme le jour fatal, l’heure fatale, le tison fatal, le cheveu fatal, fatal à la République, Scipion fatal à l’Afrique, Hannibal fatal à l’Italie. Mais il ne laisse pas de se prendre quelquefois en bonne part, comme M. de Malherbe a dit dans le fatal accouplement, un autre, et c’estoit une chose fatale à la race de Brutus de delivrer la Republique (Vaugelas, Remarques, R 464, 718s.). Unter vollständiger Ausblendung des Relationsgehalts (‘Schicksals-‘) stellt Vaugelas die bevorzugte Verwendung des Adjektivs in negativer qualifizierender Bedeutung (‘unheilvoll‘) heraus. Angesichts der sprachnormierenden Wirkungskraft seiner Remarques (1549) lässt sich die Ablehnung der Übersetzer damit begründen, dass sie den Begriff in erster Linie nicht als philosophischen Terminus (und Relationsadjektiv) verstehen, sondern als in der Literatur verbreiteteres Negativ-Konzept. Andere Übersetzungslösungen treten nur in den französischen Versionen und der Tamburinis auf: 35 Cf. diesbezüglich die ausführliche Studie zur Wiedergabe von fatum und fortuna in den französischen Übersetzungen in Cremer (2015b). 36 Es handelt sich dabei um den - lexikographisch noch nicht erfassten (DHLF I, 1322a, datiert die Entlehnung auf das späte 16. Jahrhundert) - Erstbeleg von fr. fatum. Désirée Cremer 116 14. Jh. 15. Jh. 16. Jh. 17. Jh. Fr. It. Fr. It. Fr. Fr. It. Subst. + de destinée 5 0 1 0 0 0 0 Subst. + du destin/ del Fato 0 0 0 0 1 2 3 Paraphrase mit destin 0 0 0 0 1 1 0 Andere Lösung 1 0 0 0 0 2 1 Tabelle 5: Andere Wiedergabelösungen für lat. fatalis Die Konstruktion mit de destinée ist auf das französische Mittelalter beschränkt und wird ab dem 16. Jahrhundert durch das Genitivattribut mit bestimmtem Artikel (du destin) ersetzt. Durch die italienische Variante del Fato, die mit dem lexikalischen Gehalt des Relationsadjektivs übereinstimmt, entsteht eine größere Sinnschnittmenge zum Ausgangstext als im Französischen durch den attributiven Zusatz mit destinée oder destin. 4.3 Humanus Wie die beiden bereits thematisierten Adjektive existiert humanus 37 im Lateinischen in relationaler und weiteren qualifizierenden Bedeutungen: Lat. hūmānus, a, um (homo), ‘menschlich‘, I) im allg., II) insbes.: A) ‘menschlich‘ = ‘menschenfreundlich‘ (Ggstz. inhumanus, superbus), B) ‘von feiner Bildung, fein gebildet‘, C) ‘menschlich, dem Menschen angemessen‘ (Georges I, 3092- 3093). Im Italienischen wird lat. hūmānu(m) in der relationalen Bedeutung ‘di uomo, proprio dell’uomo‘ im 13. oder 14. Jahrhundert entlehnt, die qualifizierende Bedeutung ‘pieno di umanità‘ ist erst im 16. Jahrhundert belegt (cf. DELI V, 1394a). Im Französischen beinhaltet das schon im 12. Jahrhundert entlehnte Adjektiv humain von Beginn an zwei Bedeutungen, und zwar die relationale ‘qui regarde l’homme, qui appartient à l’homme‘ sowie die qualifizierende ‘bon, bienveillant‘. Mit dem Humanismus 37 Lüdtke (2005: 225) führt das Suffix -anus nicht als Auslöser für die Ableitung von Personenbezeichnungen, sondern für Ortbezeichnungen wie urbanus auf. Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 117 kommt es seit Mitte des 16. Jahrhunderts in der Formel lettres humaines ‘les humanités‘ - cf. auch im Italienischen umane lettere (cf. Zingarelli 2475b) - zum Ausdruck. In diesem semantischen Zusammenhang entsteht die auf 1636 datierte Bedeutung ‘cultivé‘ (cf. FEW IV, 507b-509b). In der lateinischen Consolatio wird das Adjektiv insgesamt 35-mal verwendet, und zwar erneut mit großem Übergewicht des präsubstantivischen Gebrauchs: 14. Jh. 15. Jh. 16. Jh. 17. Jh. Lat. Fr. It. Fr. It. Fr. Fr. It. I 35 20 35 32 31 21 6 15 N 9 17 25 24 25 13 6 7 V 26 3 7 8 4 7 0 8 E 1 0 3 0 2 0 0 0 S 0 0 0 0 0 1 0 0 Tabelle 6: Die Wiedergabe von lat. humanus durch it. umano und fr. humain Es lässt sich erkennen, dass nur Alberto della Piagentina alle Belege von humanus durch das äquivalente Adjektiv in der Volkssprache wiedergibt und dass die französischen Übersetzer generell - Mansion ausgenommen - mehr Vorbehalte gegenüber dem Relationsadjektiv haben. Darüber hinaus ist erneut im 17. Jahrhundert ein drastischer Rückgang in der Verwendung zu vermerken, was angesichts der diskursiven Verschiebung des Begriffs durch den aufkommenden Humanismus - cf. z.B. die Begriffsprägung von umanista und humaniste im 16. Jahrhundert (cf. DELI V, 1394a; DHLF II, 1657b) - plausibel erscheint. Wie im Umgang mit divino ist Tamburini der einzige, der etwas häufiger die Voranstellung des Relationsadjektivs wählt und somit zu einer latinisierenden Syntax tendiert. 38 In allen anderen Übersetzungen dominiert eindeutig die postnominale Position. 38 Diatopische Gründe für die Sonderstellung - Tamburini stammt nicht wie die anderen Übersetzer aus der Toskana, sondern aus Sizilien - erweisen sich als unwahrscheinlich, da in Süditalien ein noch häufigerer Gebrauch der postnominalen Adjektivstellung zu beobachten ist als im Norden (cf. Rohlfs 1954: 217). Désirée Cremer 118 Die von Le Ber vorgenommene Substantivierung des Relationsadjektivs (V 6p, 20: „divini humanique praesentis“ > „ce qui est diuinement present auec l’humain“) erweist sich hinsichtlich des Textsinns als unproblematisch. Der Übersetzer könnte an der Bedeutungsprägung des durch Konversion entstandenen Substantivs humain ‘la nature humaine‘ beteiligt sein, denn lexikographisch ist erst D’Aubignés (1550-1630) Gebrauch dokumentiert (cf. FEW IV, 507b). Ein Blick auf die anderen Wiedergabelösungen für lat. humanus zeigt, dass die typischen Genitivattribute und Paraphrasierungen mit homme und uomo nahezu überall vertreten sind: 14. Jh. 15. Jh. 16. Jh. 17. Jh. Fr. It. Fr. It. Fr. Fr. It. Subst. + d’homme/ di uomo 6 0 0 0 0 0 0 Subst. + de l’homme/ des hommes/ dell’uomo/ degli uomini 2 (pl.) 0 1 (pl.) 1 (pl.) 6 (5 pl.) 9 (5 pl.) 6 (1 pl.) Paraphrase mit homme/ hommes/ uomo/ uomini 2 0 1 (pl.) 1 4 (3 pl.) 2 (1 pl.) 5 son, sa/ suo, sue (‘de l’homme/ dell‘uomo‘) + Subst. 0 0 0 0 0 1 2 notre + Subst. 0 0 0 0 0 4 0 Verwendung eines anderen RA 0 0 1 1 0 0 0 Andere Lösung 5 0 0 1 4 13 7 Tabelle 7: Andere Wiedergabelösungen für lat. humanus Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 119 Im Französischen dominiert die pluralische Verwendung. Die daraus resultierende Konkretisierung erweist sich im Bereich des Menschlichen im Gegensatz zu dem des Göttlichen als weitgehend unproblematisch. Auch der zweimal gesichtete Gebrauch eines anderen Relationsadjektivs bewirkt keine Sinnverschiebung: „humanis rebus“ (II 3p, 12) > „es choses mondaines“ (Mansion) und „humana [...] imperia“ (III 5p, 4) > „gl’imperii mondani“ (Varchi). Eine leichte Diskrepanz entsteht allerdings bei Ceriziers, der neben zahlreichen paraphrasierenden Lösungen mehrfach auf das Possessivum notre zurückgreift (z.B. IV 6p, 32: „ratio [...] humana“ > „notre raison“), obwohl alle Verwendungen aus der Rede der „Philosophie“ stammen, welche die Sphäre des Menschlichen zweifellos übersteigt. Darüber hinaus greift er wieder verstärkt (13-mal) zu eigenständigen Lösungen, indem er Paraphrasen mit Lexemen wählt, die in enger Verbindung mit dem Menschlichen stehen, z.B. Fortune, monde, temps etc. 5 Fazit Bevor sinnrelevante Modifikationen der Consolatio im Übertragungsprozess ausgehend von divinus, fatalis und humanus ermittelt werden konnten, erwies sich eine Betrachtung ihrer französischen und italienischen Entsprechungen auf System- und Normebene als notwendig. Es wurde sichtbar, dass alle drei lateinischen Relationsadjektive in ausreichendem semantischen Umfang ins Italienische und Französische entlehnt wurden. Aufgrund der genetischen Ähnlichkeit stellt die Übersetzung von lateinischen Relationsadjektiven in die romanischen Sprachen folglich kein grundlegendes Problem dar. 39 Zwischeneinzelsprachliche Differenzen lassen sich jedoch bezüglich der Verankerung in der Norm annehmen, da die italienischen Übersetzer aus dem Korpus grundsätzlich häufiger zu den Relationsadjektiven greifen als ihre französischen Zeitgenossen. In französischer Tradition ragt nur die Version von Mansion, die generell große Nähe zum lateinischen Text aufweist, durch die dominante Wiedergabe mit den entsprechenden Relationsadjektiven heraus. Da an anderer Stelle (cf. Cremer 2015a u. b) starke Ähnlichkeiten der Übersetzung zu poetischen und sprachlichen Techniken der grands rhétoriqueurs ermittelt werden konnten, erweist es sich als interessant, dass zumindest zwei prominente Vertreter dieser literarischen Texttradition, nämlich Jean Molinet und Jean Lemaire de Belges, in ihren Werken zahlreiche latinisierende 39 Eine größere Schwierigkeit liefert hingegen beispielsweise die Übersetzung französischer Relationsadjektive ins Deutsche (cf. Forner 2000: 228s.). Désirée Cremer 120 Relationsadjektive verwenden (cf. Schmidt 1972: 2). Allerdings kann nicht nur der Entscheidung für, sondern insbesondere auch gegen die Wiedergabe durch ein entsprechendes Relationsadjektiv diskursive Bedeutung zugesprochen werden. Die in der frühesten französischen Version sowie in den Übersetzungen des 17. Jahrhunderts häufig gewählten Genitivattribute verändern aufgrund der Referenzidentität (z.B. divin ≙ de Dieu, fatale ≙ del Fato, umano ≙ dell’uomo) zwar nicht die inhaltliche Sinnkonstitution des Ausgangstexts - ein Relationsadjektiv kann semantisch schließlich sowohl dem genitivus subiectivus (I 6p, 5: „curae divinae“ > Della Piagentina: „cura divina“, Varchi: „cura di Dio“) als auch dem genitivus possessivus (IV 6p, 10: „divinae mentis“ > anonym: „l’entendement de Dieu“, Le Ber: „l’intellect diuin“) entsprechen -, 40 modifizieren durch die Aufgabe eines typisch fachlich - hier philosophisch - markierten Sprachmittels jedoch die texttraditionelle Grundausrichtung der Consolatio. Während derartige Tendenzen im Mittelalter aufgrund des Fehlens entsprechender Texttraditionen in der Volkssprache wenig überraschen, sticht die bewusste Ablehnung der Relationsadjektive bei Ceriziers und Tamburini besonders hervor: Der markante Rückgang vom 16. zum 17. Jahrhundert in der Verwendung der Relationsadjektive mag sprachhistorisch darin gründen, dass sich die qualifizierenden Bedeutungen der Adjektive (z.B. fr. divin ‘ausgezeichnet‘, it. fatale ‘verführerisch, betörend; unheilvoll‘, fr. humain ‘gutmütig; gebildet‘) immer stärker in der Norm etablieren. Darüber hinaus lässt er sich mit bestimmten Texttraditionen in Verbindung bringen: Die von Frankreich ausgehende literarische Tradition der belles infidèles verzichtet auf die im Humanismus entstandenen philologischen Äquivalenzansprüche und erhebt stattdessen die stilistische Verschönerung des Ausgangstexts zur Prämisse eines jeden Übertragungsprozesses. Zwar ist Ceriziers nicht dem sich der einbürgernden Übersetzungsmethode verschriebenen Zirkel der embellisseurs, als dessen dezidiertester Verfechter Nicolas Perrot d’Ablancourt gilt, zuzuordnen, doch gehen die von der Académie française ausstrahlenden klassischen Stilideale keinesfalls spurlos an ihm vorüber. Die einen fachsprachlichen Duktus suggerierenden Relationsadjektive verlieren in einer Epoche, in welcher der wissenschaftliche Anspruch zugunsten poetisch-ästhetischer Wirkung zurückgestellt wird, an Prestige. Gemäß den zeitgenössischen li- 40 Zu den semantischen Parallelen zwischen Relationsadjektiv und Genitivattribut im Lateinischen cf. Maurel (1993: 25s.). Zur syntaktischen Funktion von französischen Relationsadjektiven cf. Geckeler (1976: 111ss.), der syntaktische Analysen aus vorherigen Forschungen zusammenträgt. Relationsadjektive in romanischen Boethius-Übersetzungen 121 terarischen Maßstäben setzt Ceriziers sie nur mit großer Zurückhaltung ein und gibt auf diese Weise eine philosophische Nomenklatur zugunsten der variatio im Ausdruck auf. Angesichts der Zugehörigkeit Ceriziers’ sowie Tamburinis zum Jesuitenorden erscheint weiterhin wichtig, dass in ihrem klerikalen Umfeld und insbesondere im Zuge der Gegenreformation Begriffe der antiken Philosophie wie fatalis und divinus, das in antiken Schriften immer wieder humanus gegenübergestellt wird (cf. Georges I, 2252s.), gemieden werden (cf. Migliorini 1983: 398s., 430). Die Geltungskraft dieser ausgehend von translatologischen Aspekten hergestellten diskursiven Bezüge lässt sich anhand weiterer Korpusuntersuchungen überprüfen. Zu diesem Zweck müssen jedoch auch sprachhistorische Fakten eingehender erfasst werden. 41 Die individuellen Übersetzungslösungen zeigen nämlich, dass die seit Bally (1932: 105s.) gängigen Beschreibungsmuster der morphosyntaktischen Besonderheiten von Relationsadjektiven zumindest in Bezug auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit hinfällig sind. So lässt sich die Blockierung der postsubstantivischen Position, der Wortbildungsverfahren, der kopulativen Koordinierung mit qualifizierendem Adjektiv, des prädikativen und adverbialen Gebrauchs durch die Wiedergabetechniken der Consolatio-Übersetzer infrage stellen. Im Hinblick auf eine umfassende Darstellung textueller Sinnverschiebungen erweist sich folglich eine differenzierte diachrone Deskription der Relationsadjektive innerhalb ihres einzelsprachlichen Gefüges als unverzichtbar. Bibliographie Quellen Anonym = Atkinson, J. Keith (ed.) (1996): Boeces: De Consolacion. Édition critique d’après le manuscrit Paris, Bibl. nationale, fr. 1096, avec Introduction, Variantes, Notes et Glossaires, Tübingen, Niemeyer. Atherton, Béatrice M. (ed.) (1994): Édition critique de la version longue du ‘Roman de Fortune et Felicité‘ de Renaut de Louhans, traduction en vers de la ‘consolatio philosophiae‘ de Boèce, vol. 2, The University of Queensland, unveröffentlichte Diss. 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Will man mehrere Übersetzungen eines literarischen Textes, die über einen längeren Zeitraum entstanden sind, vergleichen, liegt die Wahl des wohl bekanntesten Werkes von Flaubert nahe. Zwar wurde fast jeder Aspekt des Textes schon beleuchtet, die Übersetzungen ins Deutsche waren jedoch bisher nicht Gegenstand systematischer linguistischer Untersuchungen. Bisher wurde Bovary 28-mal ins Deutsche übertragen. Für die vorliegende Analyse wurden 7 Übersetzungen ausgewählt, die unter 5. vorgestellt werden. Das meistbeachtete und -diskutierte Werk Flauberts bietet sich auch deshalb an, weil aus verschiedenen Quellen, wie z.B. dem Briefwechsel Flauberts, vieles über generelle sprachliche und stilistische Absichten des Autors bekannt ist. Es ist davon auszugehen, dass diese auch die Wahl besonderer syntaktischer Mittel in Bovary bestimmten. Ein weiteres Argument für die Wahl dieses Textes sind aktuelle Zeugnisse übersetzerischer und übersetzungskritischer Reflexionen hinsichtlich des Deutschen als ZS (cf. Edl 2012). 1 Der Titel meines Beitrags geht auf ein Zitat Flauberts aus dem Briefwechsel mit seiner Freundin Louise Colet zurück (Flaubert 1927: 334). Der Inhalt des Zitats lässt sich auf die Mühen der Übersetzung übertragen, die seit über 150 Jahren in den verschiedenen deutschen Versionen des Textes dokumentiert sind. Georgia Veldre-Gerner 128 Vor dem Hintergrund der heute graduell verstandenen Beziehung zwischen verfremdendem und einbürgerndem Übersetzen versteht sich dieser Beitrag als Plädoyer für die Suche nach maximaler Annäherung in der Übersetzung, die allerdings einen möglichen „Verlust“ gegenüber dem AT nicht als Indiz für ein gescheitertes, sondern eher für ein unabgeschlossenes Projekt akzeptiert (Thorpe 2014: 245 und allgemein Lönker 1992). Die Analyse eines syntaktischen Bereiches im Vergleich Französisch- Deutsch bietet gegenüber anderen Bereichen der Sprache scheinbar „objektive“, da kategoriell fassbare Kriterien und ermöglicht auf den ersten Blick die Konzentration auf den Aspekt der formalen Äquivalenz zwischen Ausgangssprache (AS) und ZS. Einer empirischen Überprüfung hält diese Annahme nicht stand, da in der Übersetzung eine rein syntaktische Ebene nicht existiert. 2 Dislokationen im Französischen Als Dislokationen gelten syntaktische Konstruktionen, bei denen ein Satzglied durch ein Pronomen repräsentiert und außerhalb des Satzrahmens am rechten oder linken Rand nochmals verbalisiert wird. Je nach Position des Elements am linken oder rechten Satzende spricht man von Links- (LD) oder Rechtsdislokationen (RD). Das Pronomen kann unterschiedliche Satzglieder repräsentieren, wobei für beide Dislokationsarten Subjekte dominieren (cf. Blasco-Dulbecco 1999; Huber 2007; Veldre-Gerner 2014a und b). Das folgende Beispiel aus Bovary illustriert die beiden Dislokationstypen: (1) Je ferai savoir qui vous êtes. Je dirai à mon mari ... - Eh bien, moi, je lui montrerai quelque chose à votre mari! (Flaubert 2004: 344). 2 Moi, je ist eine pronominale LD und à mon mari eine nominale RD. Die Dislokationen betreffen hier die direkte Rede, was für die meisten Dislokationen in Bovary gilt. Dies legt nahe, die Dislokation im literarischen Text primär als expressives Mittel zur Abbildung von Mündlichkeit zu sehen. Tendenziell werden Dislokationen als kennzeichnend für mündliche Kommunikation angesehen und wurden bisher für das Französische bevorzugt in diesem Rahmen empirisch untersucht (Lecercle 2001; Pekarek- Doehler/ Stoenica 2012; Waltereit 1996; Honnigfort 1993). Gleichzeitig ist 2 In den Beispielen erscheinen die dislozierten Elemente und die jeweiligen sie aufnehmenden Pronomina kursiv. Die Syntax Flauberts im Übersetzungsvergleich 129 die Dislokation kontinuierlich seit der altfranzösischen Periode Teil der Schriftlichkeit und war in diesem Zusammenhang bereits Gegenstand einiger diachroner Studien (Pagani-Naudet 2005; Blasco-Dulbecco 1999). Die Dislokation als Stilmittel bei einzelnen frankophonen Autoren wurde darüber hinaus von Härmä (1993), Helkkula (2009), Spitzer (1935), Susini (2009) und Blank (1991) untersucht. Die Parallelität zur Mündlichkeit gilt grundsätzlich auch in der Literatur als definitorisches Merkmal der Dislokation: La dislocation est précisément l’un des procédés par lesquels l’écrit supplée à l’absence d’éléments aussi fondamentaux que l’intonation. Elle structure l’énoncé de telle sorte qu’elle lui confère automatiquement une mélodie caractéristique (Pagani-Naudet 2005: 132). Gleichzeitig sei die Dislokation im literarischen Text ein „procédé authentique de l’écrit“ und damit „fort éloignée de la structure orale dont elle s’inspire“ (Pagani-Naudet 2005: 266). Da die Dislokation in der Literatur auch außerhalb der direkten Rede erscheint, muss man von einer übergreifenden expressiven Funktion ausgehen, die über diejenige in authentischer Mündlichkeit hinausgeht und auch die Erzählerrede einschließt. 3 Insgesamt findet man in der gedruckten Ausgabe von Bovary 68 Dislokationen, davon 36 RD und 32 LD. 4 Der relativ hohe Anteil an RD ist generell ein kennzeichnendes Merkmal literarischer Texte gegenüber einem deutlichen Übergewicht der LD in der Mündlichkeit (cf. Veldre-Gerner 2014b). Mit 51 Dislokationen überwiegt der Bereich der direkten Rede. Dislozierte Elemente im Satz sind an das Merkmal ’thematisch’ gebunden, das als Verfügbarkeit des jeweiligen Referenten durch sprachliche oder außersprachliche Informationen interpretiert werden kann (cf. Lambrecht 2001: 1076; Pellet 1994: 43; Blasco-Dulbecco 1999: 182). Neben dem gemeinsamen Merkmal ‘thematisch‘ gibt es auch grundlegende Unter- 3 Unter Erzählerrede sollen hier vereinfachend alle Diskursformen verstanden werden, die nicht die eindeutig durch typographische oder lexikalische Mittel gekennzeichnete dialogische (oder monologische) Figurenrede wiedergeben, also auch der Bereich der erlebten Rede (cf. Buffard-Moret 2007: 20ss.). 4 Mit der Identifizierung der Dislokationen stellt sich das Problem der funktionalen Eingrenzung. Funktional benachbarte Appositionen und strukturell ähnliche Inversionsfragen werden hier in einem engen Verständnis zwar von den LD abgegrenzt, dagegen sollen sogenannte Afterthought-Konstruktionen und „eigentliche“ RD nicht unterschieden werden, da dieser Unterschied nur in der Oralität intonatorisch zum Tragen kommt und die typische Interpunktion in der Schriftlichkeit kein notwendiges Kriterium für Dislokationen darstellt. Cf. zur RD Averintseva-Klisch (2008), zur graphischen Markierung in der Schriftlichkeit auch Huber (2007: 338). Georgia Veldre-Gerner 130 schiede zwischen RD und LD. Die LD gilt als typisches Phänomen nähesprachlicher, d.h. tendenziell dialogischer und spontaner Kommunikation. Es geht dabei um die Setzung eines Referenten als initiales Thema, das erst im Nachhinein Gegenstand einer Aussage wird. Die LD ist in spontaner Kommunikation eine Art „thematisches Vorauskommando“, das danach durch ein Pronomen syntaktisch integriert wird und sich nur graduell vom Mechanismus des ‘freien Themas‘, bei dem die pronominale Integration fehlt, unterscheidet (cf. Auer 1991: 139s.; Veldre-Gerner 2014b: 225). Als zentrale Funktionen der LD gelten die Einleitung eines thematischen Wechsels, die referenzielle Disambiguierung und der Ausdruck eines Kontrasts (Blasco-Dulbecco 1999: 71ss., 182). In der Gesprächsorganisation leitet eine LD häufig als Signal einer emotionalen Komponente einen Sprecherwechsel ein (Likhacheva 2010). Diese Merkmale weisen je nach Satzglied auf eine Tendenz der LD zu diskontinuierlichen Referenten hin. Im Französischen ist die häufigste Variante der LD das satzinitiale moi, je. Diese pronominale LD ist aus mehreren Gründen ein Sonderfall. Blasco-Dulbecco nennt als wichtigste Merkmale gegenüber anderen LD den „caractère soudé“ beider Pronomen und die Verbindung mit bestimmten verba dicendi sowie außerdem den Fall, in dem initiales moi separat einen Äußerungsrahmen setzt (Blasco-Dulbecco 2004: 134s., 142). Die RD im Französischen ist dagegen ein zeitlicher Nachtrag zu einem pronominalen Ausdruck im selben Satz. Die Besonderheit gegenüber der LD ist der strukturell zwingende Bezug eines rechtsdislozierten Ausdrucks auf nicht nur thematische, sondern auch unmittelbar vorerwähnte, also im Bewusstsein von Sprecher und Adressat generell ‘aktive‘ Referenten (Chafe 1994: 53ss.). Für die Rechtsdislokation nennt Ashby (1994: 130) als zentrale Funktionen auf der Textebene „turn closing“, „topicshift“ und - analog zu Lambrecht (2001: 1076) - die adressatenorientierte Disambiguierung der Referenz. Es ist davon auszugehen, dass diese Funktionen genuin mündlicher Kommunikation auch im literarischen Text eine Rolle spielen allerdings in einer durch den Autor bewusst produzierten Form. Obwohl die Spontaneität fehlt, ist die Dislokation im literarischen Text in ihrer Wirkung ebenso nähesprachlich wie in der Mündlichkeit, wenn auch vermittelt durch die Intentionen des Autors. Die Syntax Flauberts im Übersetzungsvergleich 131 3 Syntaktische Variation in den Fassungen von Bovary Dass Dislokationen in der literarischen Schriftlichkeit keine Verschriftlichung von Mündlichkeit sind, spiegelt sich nicht nur im Verhältnis von LD und RD wider, sondern auch in deren Funktionen. Die Funktion der Dislokation ist im Kontext der narrativen Struktur des Textes zu sehen, die in Abhängigkeit vom Redetyp die Distanzgrade von Erzähler, Figuren und Leser im Text festlegt. In Bovary überwiegen die Dislokationen in Belegen direkter Rede gegenüber denen in Erzählerrede. Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung nach Dislokationstyp in Bovary: Erzählerrede direkte Rede Linksdislokationen 9 23 Rechtsdislokationen 8 28 Gesamt 17 51 Tabelle 1: Verteilung der Dislokationen in Bovary Von den 32 LD repräsentieren 17 Belege initiale Personalpronomen in Subjektposition, allein das initiale moi, je erscheint 11-mal. Die RD verteilt sich auf 17 Personalpronomen, 3 Demonstrativa und 16 Nominalphrasen (NP). Hinsichtlich der Funktionen der Dislokation in Bovary ist zunächst zwischen direkter Rede und Erzählerrede zu unterscheiden. In der direkten Rede wird zwar Mündlichkeit abgebildet, jedoch steht die Authentizität nicht an erster Stelle. Man muss bei Flaubert auch an eine Ebene des Rhythmus denken, die er immer wieder zur Sprache bringt. Flauberts Anspruch hinsichtlich der Sprache in Bovary wird exemplarisch durch das folgende Zitat aus seinem Briefwechsel deutlich: Quelle chienne de chose que la prose! [...] Une bonne phrase de prose doit être comme un bon vers, inchangeable, aussi rythmée, aussi sonore. Voilà du moins mon ambition (il y a une chose dont je suis sûr, c’est que personne n’a jamais eu en tête un type de prose plus parfait que moi; mais quant à l’exécution, que de faiblesses, que de faiblesses mon Dieu! ) (Flaubert, Correspondance, 1851 - juillet 1852: 468, z.n. FRANTEXT). Flauberts Ringen um die stilistische Qualität in den Passagen direkter Rede soll an einer ausgewählten Textstelle dargestellt werden, die in der endgültigen Fassung des Textes eine RD in direkter Rede enthält: Georgia Veldre-Gerner 132 (2a) Alors elle le regarda comme on contemple un voyageur qui a passé par des pays extraordinaires, et elle reprit: - Nous n’avons pas même cette distraction, nous autres pauvres femmes! (Flaubert 2004: 172s.) Die seit einigen Jahren online verfügbaren Brouillons zu Bovary zeigen verschiedene vorläufige Varianten dieser Passage, darunter die drei folgenden, von denen hier aus typographischen Gründen nur der zentrale Teil ohne die Randbemerkungen wiedergegeben wird: (2b) [„]- Car enfin“ disait Emma „nous autres pauvres femmes nous n’avons pas même ces distractions bruyantes[“] (Flaubert, II, chap. 8: Intelligence des [sic, G.V.] campagne/ „devoir“ - Brouillons, vol. 3, folios 138 et 171, z.n. flaubert.univ-rouen.fr). (2c) „Mais nous autres, pauvres femmes[“], - „nous n’avons pas même cette distraction[“] (Flaubert, II, chap. 8: Les Comices agricoles - Brouillons, vol. 3, folio 147, z.n. flaubert.univ-rouen.fr). (2d) - & on le peut pas toujours reprit-elle - c’est une ressource qui nous manque à nous autres pauvres femmes (Flaubert, II, chap. 8: Les Comices agricoles - Brouillons, vol. 3, folio 148, z.n. flaubert.univ-rouen.fr). Das Beispiel zeigt Flauberts Ringen um Satzrhythmus und Stil. Das Beispiel (2d) ist zwar syntaktisch, anders als die Variante (2c), eine RD, diese wird aber von Flaubert nicht intonatorisch als typische RD gesetzt, da (wie sehr oft) die Interpunktion erst in der endgültigen Fassung erscheint. In der Erzählerrede hat die Dislokation in Bovary eine eigenständige Funktion. Sie trägt neben den anderen, u.a. von Edl (2012: 646s.) beschriebenen Mechanismen und Mitteln des style indirect libre zu der sehr feinen Dosierung der Erzählerpräsenz bei, indem z.B. in der RD eine nachträgliche referenzielle Information (im folgenden Beispiel eine Disambiguierung eines externen „Sprechers“) die Beibehaltung der internen Figurenperspektive ermöglicht: (3a) Ou, d’autres fois, brûlée plus fort par cette flamme intime que l’adultère avivait, haletante, émue, tout en désir, elle ouvrait sa fenêtre, aspirait l’air froid, éparpillait au vent sa chevelure trop lourde, et, regardant les étoiles, souhaitait des amours de prince. Elle pensait à lui, à Léon. Elle eût alors tout donné pour un seul de ces rendez-vous, qui la rassasiaient. C’était ses jours de gala. Elle les voulait splendides! (Flaubert 2004: 338s.). Neben den bisher dargestellten Fällen syntaktischer Variation im Entstehungsprozess von Bovary ist es außerdem interessant, die in den Brouil- Die Syntax Flauberts im Übersetzungsvergleich 133 lons dokumentierten Belege anzusehen, die Flauberts Wechsel zwischen RD und LD dokumentieren: (3b) Toi, tu me quitteras (Flaubert, III, chap. 5: Conversation Léon-Emma - Brouillons, vol. 5, folio 215, z.n. flaubert.univ-rouen.fr). (3c) Tu me quitteras, toi ... (Flaubert 2011 [ 1 1857]: 379). (4a) mais vous, vous m’oublierez (Flaubert, II, chap. 9: Les Comices agricoles - Brouillons, vol. 3, folio 184, z.n. flaubert.univ-rouen.fr). (4b) - Mais vous m’oublierez, j’aurai passé comme une ombre (Flaubert 2011 [ 1 1857]: 210). (3b) und (3c) zeigen den Wechsel von der LD in den Brouillons zur RD in der von Flaubert autorisierten Endversion, und in 4b ist offensichtlich eine LD vom Verleger gestrichen worden, die in den Brouillons (cf. 4a) noch vorhanden ist. Soweit dies ersichtlich ist, sind es immer LD, die entweder eliminiert oder in RD umgewandelt werden, während der umgekehrte Fall nicht nachweisbar ist. Das trifft sich durchaus mit dem Bild der LD in der normativen Grammatik, die als stilistisches Mittel in der Literatur stärker als die RD seit dem 17. Jh. kritisch bewertet wurde (Pagani-Naudet 2005: 193s.). Während zunächst beide Typen seit dem Mittelfranzösischen in der Prosa etabliert waren, stigmatisierte die Grammatikographie ab dem 17. Jh. vor allem die Linksdislokation des Subjekts als „superflu“ (Chiflet 1973 [1659]: 39, z.n. Pagani-Naudet 2005: 179). Die Rechtsdislokation wurde dagegen kontinuierlich als nähesprachliches Stilmittel in der Literatur gebraucht (Pagani-Naudet 2005: 193, 264; Veldre-Gerner 2014a; zum Mittelfranzösischen auch Härmä 1993). 4 Die Dislokation im Sprachvergleich In diesem Abschnitt soll kurz auf die Syntax des Deutschen im Vergleich mit dem Französischen eingegangen werden. Eine der als gesichert geltenden Erkenntnisse ist die der größeren Bedeutung einer syntaktischen Markierung der thematischen Struktur im Französischen gegenüber dem Deutschen, die, wie Blumenthal herausstellt, auch zu einer unterschiedlichen Bewertung der Dislokation in den jeweiligen Philologien führt (Blumenthal 1983: 52s.; Bally 1909: 313). RD und LD sind bekanntlich als Konstruktionen im Deutschen und im Französischen gleichermaßen vorhanden. Die Funktionen verhalten sich Georgia Veldre-Gerner 134 mit ihrer Bindung an die Nähesprache grundsätzlich parallel. Auch im Deutschen sind Dislokationen Ausdruck geringeren Planungsgrades und mit einer bestimmten Intonation verbunden, die definitorisch von Bedeutung ist (Altmann 1981: v.a. 341s.; Auer 1991). Im Vergleich beider Sprachen stechen jedoch zwei Unterschiede heraus: Zum einen erscheint im Französischen die LD des Personalpronomens moi in der Nähesprache sehr häufig und erfüllt seit dem frühen Französisch eigenständige diskursive Funktionen (cf. Blasco-Dulbecco 1999: 180s. und 2004). Dabei sind pronominale LD im Französischen wie moi, je und auch die analogen RD (je ..., moi) nicht ohne Probleme ins Deutsche zu übertragen. Es gibt mindestens stilistische Restriktionen im Deutschen hinsichtlich der Doppelung von Personalpronomina, sodass man hier nicht von formaler Äquivalenz zum Französischen sprechen kann. So werden Er, er, und Ich, ich am Satzanfang in der Forschungsliteratur als nur schwer oder kaum akzeptiert beschrieben (Altmann 1981: 216s.). Ein zweiter Aspekt betrifft die pragmatischen Vorteile der Dislokation im Französischen. Hier gleichen beide Dislokationen bekanntlich bestimmte Zwänge der Wortstellung aus, die der thematischen Struktur entgegenstehen können. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn es darum geht, für direkte oder indirekte Objekte die Position des betonten Rhemas nach dem Verb zu vermeiden, wie es in Beispiel (1) (unter 2.) der Fall ist. Die lexikalische LD im Französischen wird je nach Satzglied uneinheitlich bewertet: Während bei linksdislozierten Subjekten (Le N, il) kein informationsstruktureller „Umbau“ gegenüber einer sogenannten unmarkierten Struktur erfolgt, ist dies bei linksdislozierten Objekten wie in Beispiel (5) der Fall, das zugleich einer der raren Belege einer rechtsdislozierten NP in Bovary ist: (5) Charles revint donc encore une fois sur cette question du piano. Emma répondit avec aigreur qu’il valait mieux le vendre. Ce pauvre piano, qui lui avait causé tant de vaniteuses satisfactions, le voir s’en aller, c’était pour Bovary comme l’indéfinissable suicide d’une partie d’elle-même! (Flaubert 2004: 306s.) Linksdislozierte Objekte sind in Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Französischen deutlich seltener als linksdislozierte Subjekte und erreichen nur etwa ein Achtel der Häufigkeit von Subjekt-NPs in der LD (Huber 2007: 276). Gleichzeitig dominieren laut Blasco-Dulbecco (1999: 92) bei linksdislozierten Objekten, anders als bei Subjekten, im parlé und im écrit lexikalische NPs gegenüber Pronomen. Diese unterscheiden sich von Pronomen durch ihren referenziell diskontinuierlichen Charakter und erfordern Die Syntax Flauberts im Übersetzungsvergleich 135 einen höheren Planungsgrad als die Subjekt-LD, was auch ihre positive Einordnung in der normativen Grammatik bestimmt (cf. Gadet 1991). Dieser kursorische Blick auf einige Besonderheiten der Dislokation im Sprachvergleich lässt vermuten, dass der Übersetzer von Bovary für französische Dislokationen öfter (vermeintliche) formale Äquivalente im Deutschen vorfindet, dass aber mit Blick auf die Funktion oder stilistische Anforderungen auch andere Lösungen denkbar sind. 5 Die deutschen Übersetzungen von Bovary Bisher liegen für Bovary 28 deutsche Übersetzungen vor. Die erste stammt aus dem Jahr 1858, die letzte aus dem Jahr 2012. Neben vielen wohl nicht nur aus heutiger Sicht brachialen, lustlosen und nicht zuletzt repetitiven Versionen gibt es mindestens eine ältere mit anerkannt literarischem Anspruch: Die des zweisprachigen deutsch-französischen Schriftstellers und Übersetzers René Schickele (1883 -1940). Für die vorliegende Analyse wurden 7 Übersetzungen ausgewählt. Kriterien der Auswahl waren die zeitliche Streuung und die Verfügbarkeit. - Flaubert, Gustave (1858): Madame Bovary oder: eine Französin in der Provinz. Übersetzung von Legné, Pest et al., Hartlebens Verlags-Expedition. - Flaubert, Gustave ( 3 1978 [ 1 1911]): Madame Bovary. In der revidierten Übersetzung von Arthur Schurig, Ulm, Suhrkamp Taschenbuch. - Flaubert, Gustave (1948): Madame Bovary. Übersetzung von Georg Carl Lehmann, Berlin, Deutsche Buch-Gemeinschaft. - Flaubert, Gustave (2009 [ 1 1965]): Madame Bovary. Aus dem Französischen von Wolfgang Techtmeier, Berlin, Aufbau Verlag. - Flaubert, Gustave (1979): Madame Bovary. Sitten der Provinz. Aus dem Französischen von René Schickele und Irene Riesen, Zürich, Diogenes. 5 - Flaubert, Gustave (2009 [ 1 2001]): Madame Bovary. Sitten in der Provinz. Aus dem Französischen neu übersetzt von Caroline Vollmann, Frankfurt am Main, Fischer. - Flaubert, Gustave (2012): Madame Bovary. Sitten in der Provinz. Übersetzung von Elisabeth Edl, München, Carl Hanser. 5 Die hier verwendete bearbeitete Übersetzung entspricht in den behandelten Beispielen der Übersetzung von René Schickele (1907). Georgia Veldre-Gerner 136 Die Auswahl enthält die erste und die bisher letzte Übersetzung. Die Übersetzungen unterscheiden sich erwartungsgemäß hinsichtlich der Neigung zu Verfremdung oder Einbürgerung. Während im späten 19. Jh. v.a. einbürgernde Tendenzen mit Streichungen und Hinzufügungen des Übersetzers dominieren, nehmen diese im Laufe des 20. Jhs. kontinuierlich ab, wobei diese Tendenzen v.a. in der Lexik und in der Behandlung von Eigennamen erkennbar sind (Fabricius-Hansen 2000: 65; zum 18. Jh. auch Graeber 1992). Was die Umsetzung dialogischer Sprache betrifft, so kann man ein zunehmendes Bemühen um „natürliche“ gegenüber einer zunächst vorherrschenden deklamatorisch-bühnenrhetorischen Sprache feststellen. Eine weitere interessante Besonderheit in der Übersetzungsgeschichte von Bovary besteht darin, dass die bisher letzte Übersetzerin, die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Edl, die Werke ihrer Vorgänger mit der eigenen Leistung explizit und an konkreten Beispielen vergleicht. Sie formuliert ihren Anspruch höchst deutlich: Keine einzige Übersetzung scheint sich der Herausforderung überhaupt bewusst zu sein. Selbstverständlich finden sich unter diesen 27 Versionen auch solche, die den Roman flüssig und in geläufiger deutscher Sprache wiedergeben; es gibt allerdings erstaunlich viele Stellen, die allein sachlich noch niemals richtig übersetzt wurden. Aber auch die besten unter ihnen verfehlen die spezifische Qualität ganz und gar; gerade auch die berühmte und oft gelobte Übersetzung von René Schickele ist eher eine schöne, freie Nacherzählung als eine Übersetzung Flauberts (Edl 2012: 644). Als Ziel einer Neuübersetzung formuliert Edl: Der ganze Roman muss Satz für Satz auf seine verschiedenen Bedeutungsebenen hin durchgehört werden; Satz für Satz muss entschieden werden, was den künstlerischen Sinn gerade hier, in jedem Einzelfall, trägt: Bedeutung, Wort- und Satzklang, Wort- und Satzrhythmus, Wortwahl, Sprachregister und so weiter (id.: 650). Für Edl gibt es ein klares Ziel der Übersetzung, das darin besteht, mit lexikalischen und grammatischen Lösungen dem jeweiligen „künstlerischen Sinn“ des Satzes zu entsprechen. Sie nimmt offenbar an, dass eine solche von Flaubert „gemeinte“ einheitliche Metaebene gegeben sei und dass man diese 150 Jahre später in das heutige Deutsch umsetzen könnte und sollte. Dieser Anspruch ist zu diskutieren, wenn man bedenkt, in welcher Weise der Originaltext bis zur vollständigen Publikation nicht nur im Sinne Flauberts, aber zum Teil mit seiner Billigung verändert wurde. Diese Änderungen, zum Teil initiiert durch Flauberts Freund Maxime du Camp, betreffen auch die Syntax (cf. z.B. Du Camp 1978: 207-218). Die Syntax Flauberts im Übersetzungsvergleich 137 Grundsätzlich kann man Edls minutiöse Arbeit an einzelnen, bis dahin inhaltlich falsch oder ungenau übersetzten Textstellen, etwa bei der Frage der „Holzpantinen und Lederstiefelchen“ nicht hoch genug schätzen in einem Metier, für das zu oft eher Zeit als Qualität Geld ist. Zur Bedeutung von Flauberts „Arbeitsweise der unendlichen Überarbeitungen“ (Edl 2012: 652) für die Übersetzungspraxis ist ihr unbedingt zuzustimmen: Es hat sich herausgestellt, dass der Blick auf die vorausgehenden Varianten in vielen Fällen ein klares Licht auf das wirft, was Flaubert mit einem Wort, einem Satz oder einem Absatz beabsichtigt hat. Und wenn der Übersetzer erkennt, an welchem Detail, an welcher Betonung oder welchem Rhythmus der Autor ausdauernd gefeilt hat, zeigt es auch, wo der Schwerpunkt für die Übersetzung zu liegen hat (ibid.). Dass es aber für eine ZS die eine, als „die Lösung“ zu bezeichnende Übersetzung für eine konkrete Textstelle geben soll, scheint mir weniger realistisch als die Aussage von Adam Thorpe, des (vorerst) letzten Übersetzers von Bovary ins Englische, „that translation ist the endless, chronic making of choices“ (Thorpe 2014: 242). Edl geht in ihrem Nachwort auch auf die Anforderungen der Übersetzung im Bereich der Syntax ein: Die Stellung der Wörter hat bei Flaubert immer einen sehr genauen, am Inhalt ebenso wie am Satzrhythmus orientierten Sinn. In einem Satz sind also Anfang, Verlauf und Ende immer bewusst gestaltet, und wenn ein solcher Satz z.B. auf ein wichtiges, betontes Substantiv oder Verb hin geschrieben ist, darf er auf deutsch (sic, G.V.G.) nicht mit zufälligen Hilfsverben oder nachklappernden Präfixen enden (Edl 2012: 644s.). Daraus lässt sich die Forderung nach einer möglichst starken syntaktischen Orientierung am AT ableiten. Die Umsetzung des „künstlerischen Sinns“ im Sinne Edls erscheint mir aber in der Syntax aus zwei Gründen diskutabel. Erstens setzen Unterschiede in Syntax und Wortstellung der beiden Sprachen klare Grenzen, sodass eine starke Orientierung am AT mit stilistisch gewagten oder sogar aus Sicht des heutigen Lesers „schrägen“ Ergebnissen erkauft wird (cf. die kritische Argumentation in Steinfeld 2012; dagegen Isenschmid 2012). Zweitens kann niemand, auch kein maximal qualifizierter Übersetzer, sich von der eigenen stilistischen und sprachlichen Prägung in seiner Zeit lösen, die gezwungenermaßen eine Wahrnehmung Bovarys als „classic from the past“ bedingt (Thorpe 2014: 242). Diese historische Distanz muss Georgia Veldre-Gerner 138 der Übersetzer zwar in der Ergründung des „Gemeinten“ überwinden, er muss dann jedoch den sprachlichen Kompromiss eingehen, der zur Akzeptanz durch seine Zeitgenossen führt. Unterschiede in den Übersetzungen dokumentieren neben unterschiedlichen Graden an Aufwand und Können auch einen bestimmten stilistischen „Geschmack“ und nicht zuletzt auch, über 150 Jahre, den Wandel der deutschen Sprache. Folgende Fragen sollen im Folgenden an Textbelegen aus Bovary und mehreren deutschen Übersetzungen diskutiert werden: 1. Welche Dislokationen werden mit analogen Konstruktionen im Deutschen übersetzt, welche Alternativen werden gewählt? 2. Ist eine französische Dislokation ins Deutsche am besten als Dislokation zu übersetzen? Die Analyse verzichtet aufgrund der willkürlichen Auswahl der Übersetzungen auf quantitative Aussagen. 6 Dislokationen in Bovary und ihre Übersetzungen Von den in Bovary vorhandenen 68 Dislokationen ist der häufigste Typ die pronominale LD in direkter Rede. Allein die pronominalen Formen der ersten Person (moi, je bzw. je, ... moi) (11 LD und 11 RD) machen fast ein Drittel aller Belege aus. Es lassen sich für die pronominale LD in Bovary zwei zentrale Funktionen erkennen, analog zur spontanen Mündlichkeit: der referenzielle Kontrast und der Ausdruck von emotionaler Präsenz des Sprechers im Dialog bei einem Sprecherwechsel. Welche Funktion jeweils zutrifft, ist nur aus dem Ko-text erkennbar. Interessant ist die Frage, ob die Kontrastfunktion in der Übersetzung anders behandelt wird als der Ausdruck von Sprecherpräsenz. 6.1 Die Dislokation als Mittel eines referenziellen Kontrastes Der referenzielle Kontrast ist immer an betonte Elemente gebunden, wobei dies im Fall der LD das initiale Pronomen ist. Im Korpus finden sich hierfür 15 Belege mit linksdislozierten Personalpronomina, diese betreffen überwiegend die direkte Rede. 6 Eine Übersetzung ins Deutsche sollte diesen Kontrast wiedergeben. 6 Auch in erlebter Rede geht es um die emotionale Präsenz nicht des Erzählers, sondern der Figur. Die Syntax Flauberts im Übersetzungsvergleich 139 Ein typisches Beispiel für diesen Fall ist (6a), das aus dem Gespräch Emma-Rodolphe vor der geplanten gemeinsamen Flucht stammt: (6a) Est-ce de t’en aller? reprit-elle, de quitter tes affections, ta vie? Ah! je comprends ... Mais, moi, je n’ai rien au monde! tu es tout pour moi (Flaubert 2004: 235s.). Hier ist eine eindeutig kontrastive Bedeutung von moi, je verstärkt durch mais in einem emotionalen Kontext erkennbar. Im Folgenden werden die Übersetzungen angegeben, die jeweils neue Varianten enthalten. Unter (a) steht jeweils der französische Satz. Die Übersetzungen sind danach angeordnet, wie gelungen sie aus meiner Sicht sind, wobei das inhaltliche Kriterium der wiedergegebene Kontrast ist. Alle Übersetzer entscheiden sich in Beispiel (6) für eine Dislokation im Deutschen mit Dopplung des Personalpronomens. Variationen ergeben sich dadurch, wo das Wort aber positioniert wird. Mir erscheint hier Edl (2012) am gelungensten, da durch das initiale aber die Dopplung des Personalpronomens akzeptabel ist und gleichzeitig die direkte Rede so nah wie möglich am Original ist. Sie stimmt darin mit Vollmann (cf. Flaubert 2009 [ 1 2001]) überein: (6b) „Ist es, weil du fortgehst? “, drängte sie weiter, „deine Bindungen aufgibst, dein Leben? Oh! Ich versteh dich ... Aber ich, ich habe nichts auf der Welt! du bist alles für mich“ (Übers. Edl, cf. Flaubert 2012: 259). Schickele vermeidet die Dopplung von ich, und das Resultat wirkt auch durch den Einschub siehst du für den heutigen Leser deutlich weniger emotional als Edl: (6c) „Ist es, weil du fort sollst? “ fragte sie, „weil du das, woran du hängst, hinter dir lassen mußt, dein gewohntes Leben? Oh! ich verstehe das ... Aber ich, siehst du, ich habe nichts auf der Welt! Du bist mir alles“ (Übers. Schickele/ Riesen, cf. Flaubert 1979: 232). Legné (1858) mit der Variante ich aber, ich ist ein Beispiel für die aus heutiger Sicht stark „bühnenrhetorische“ Sprache, die heute kennzeichnend für die frühen, unbekümmert zu Werke gehenden Übersetzer ist: (6d) „Betrübt es Dich“, fragte Sie, „von hier fortzugehen, deiner jetzigen Lebensweise und dem, was Dir hier lieb ist, Lebewohl sagen zu müssen? Ich kann das recht gut begreifen; ich aber, ich habe nichts auf dieser Welt, Dich ausgenommen, der mir Alles ist“ (Übers. Legné, cf. Flaubert 1858, vol. I: 114). Georgia Veldre-Gerner 140 Diese Variante greifen auch Lehmann (cf. Flaubert 1948) und Techtmeier (cf. Flaubert 2009 [ 1 1965]) auf. Bei diesem Satz würde das aber im Deutschen auch ohne die LD des Personalpronomens ausreichen, um mit einem einfachen ich den Kontrast auszudrücken. Die Übersetzer orientieren sich hier formal am AT. Der referenzielle Kontrast ist nicht an die LD gebunden, er kann auch in einer RD auftreten, allerdings bleibt er hier implizit, da die intonatorische Exposition fehlt. Anders als bei der LD liegt der Satzfokus immer auf der Information direkt vor der RD. Hierfür steht das folgende Beispiel aus der Sterbeszene von Emma und dem letzten Gespräch mit ihrem Mann: (7a) J’ai fait tout ce que j’ai pu, pourtant! - Oui ..., c’est vrai ..., tu es bon, toi! (Flaubert 2004: 371) Hier erscheint das Personalpronomen (PP) toi in einer RD. Diese Form wird von Flaubert von Anfang an gewählt. Hier sind Emotion und Kontrast ebenfalls kombiniert, wenn auch der Kontrast, aus der Logik der Handlung, etwas implizit bleibt. Im Deutschen hat die Wiederholung eines PP in der RD einen stark vokativischen Effekt. Dieser ist aber hier durch den klar definierten Kontext eigentlich ausgeschlossen. In den Übersetzungen dieses Beispiels finden sich RD und LD, wiederum verzichtet kein Übersetzer auf eine Dislokation. Bei Legné ergibt eine Wiederholung des PP eine zumindest stilistisch akzeptable Variante. Schurig entscheidet sich für die strukturelle Nähe zum AT: (7b) „Ich habe doch gethan, was ich nur immer konnte! “„Ja, das ist wahr - Du - Du bist gut“ (Übers. Legné, cf. Flaubert 1858, vol. I: 114). (7c) „Ich habe dir doch alles zuliebe getan, was ich konnte! “ „Ja ... freilich ... Du bist gut ... du! “ (Übers. Schurig, cf. Flaubert 1978 [ 1 1911]: 419). Die RD in (7c) wirkt zwar etwas verunglückt durch die Dopplung des du. Abhilfe schafft die Pausenmarkierung. Edls Variante erscheint mir nicht optimal, sie wählt die direkte LD analog zu Techtmeier (cf. Flaubert 2009 [ 1 1965]) und Vollmann (cf. Flaubert 2009 [ 1 2001]): (7d) „Ist es meine Schuld? Ich habe doch alles getan, was ich konnte! “ „Ja ..., das stimmt ... du, du bist gut! “ (Übers. Edl, cf. Flaubert 2012: 411). Das doppelte du übersetzt aus meiner Sicht den Kontrast, was aber gleichzeitig konfrontativ und repetitiv wirkt. Diese Variante scheint dem Zwang geschuldet, die französische Struktur unter Vermeidung der RD Die Syntax Flauberts im Übersetzungsvergleich 141 über eine Doppelung zu retten, was aber einen Stotter- oder Stammel- Effekt erzeugt, der im AT (wenn auch denkbar) nicht gegeben ist. Auch hier stellt sich die Frage, ob der Verzicht auf eine Wiederholung des Pronomens im Deutschen funktional die bessere Wahl wäre. 6.2 Moi, je als Ausdruck der Sprecherpräsenz Flaubert setzt moi, je mehrfach in dialogischen Passagen ein, ohne dass ein Kontrast erkennbar ist. In diesem Fall steht die LD oft in Verbindung mit verschiedenen verba dicendi. Ein solcher Fall ist Beispiel (8): (8a) Moi, je trouve, dit M. Lheureux (s’adressant au pharmacien, qui passait pour gagner sa place), que l’on aurait dû planter là deux mâts vénitiens: avec quelque chose d’un peu sévère et de riche comme nouveautés, c’eût été d’un fort joli coup d’œil (Flaubert 2004: 170s.). Es ist anzumerken, dass in den Brouillons hier zuerst „je trouve“ steht. Das moi fügt Flaubert später ein (cf. z.B. Flaubert, II, chap. 8: Comices - Brouillons, vol. 3, folio 128v, z.n. flaubert.univ-rouen.fr). Interessant ist, wie dieser Fall in den deutschen Versionen umgesetzt wird. Kein Übersetzer entscheidet sich hier für eine Dislokation. Am besten trifft aus meiner Sicht die Variante von Edl den aus der Situation ersichtlichen, beiläufigen Ton. Sie verwendet analog zu Techtmeier (2009 [ 1 1965]) die Modalpartikel ja: (8b) „Ich finde ja“, sagte Monsieur Lheureux (sich an den Apotheker wendend, der gerade vorbeikam und zu seinem Platz wollte), „man hätte zwei venezianische Masten hier aufpflanzen sollen: mit ein bisschen Strenge und Prunk als Neuheit, eine Augenweide wär das gewesen“ (Übers. Edl, cf. Flaubert 2012: 188s.). Auch die Variante ohne Partikel erscheint mir akzeptabel, die Legné (cf. Flaubert 1858), Schurig (cf. Flaubert 1978 [ 1 1911]) und Schickele (cf. Flaubert 1907) wählen: (8c) „Ich finde“, sagte Monsieur Lheureux (er wandte sich an den Apotheker, der zu seinem Platz ging), „man hätte dort zwei venezianische Masten aufrichten müssen, als Neuheit, mit einem strengen und doch reichen Schmuck. Das wäre etwas fürs Auge gewesen“ (Übers. Schickele/ Riesen, cf. Flaubert 1979: 167). Vollmann versucht den gesprächsinitiierenden Ton mit der Wendung ich für mein Teil auszudrücken, was stilistisch deutlich formaler wirkt: Georgia Veldre-Gerner 142 (8d) „Ich für mein Teil finde sagte Monsieur Lheureux (er wandte sich an den Apotheker, der vorbeikam, um zu seinem Platz zu gelangen), man hätte hier zwei venezianische Masten aufstellen sollen; mit etwas Strengem, Prunkvollem als originelle Neuheit, das wäre ein hübscher Anblick gewesen“ (Übers. Vollmann, cf. Flaubert 2009 [ 1 2001]: 176s.). Eine LD wäre im Deutschen hier aus meiner Sicht keinesfalls passend, was alle Übersetzer ebenfalls so sehen. Die Variante mit der Modalpartikel ja ist funktional als „modernisierend“ im Sinne der heutigen Nähesprache anzusehen und wird auch in Übersetzungen aktueller französischer Literatur häufig als Äquivalent von Dislokationen im Französischen gewählt (Veldre-Gerner 2014c: 243). 6.3 Die Rechtsdislokation als Mittel der Textkohäsion Ein weiterer in Bovary vorhandener Typ der Dislokation ist die RD als kohäsives Verfahren. Es geht um eine Funktion, die über den einzelnen Satz hinausgeht und die Textebene betrifft. Dieser Typ ist sowohl in der direkten Rede als auch in der Erzählerrede anzutreffen. Kennzeichnend ist, dass es sich dabei immer um dislozierte NP handelt. In (9a) geht es um ein Beispiel in direkter Rede: (9a) Puis, d’une voix plus douce: - Eh! vous la retrouverez, votre casquette; on ne vous l’a pas volée! (Flaubert 2004: 12). Es ist die erste Dislokation zu Beginn des Romans. Von der casquette ist vorher mehrfach die Rede, jedoch nicht direkt davor. Gleichzeitig wird sie das letzte Mal erwähnt, was der typische Fall für eine nominale RD ist. Rhematisch ist hier das Prädikat, das dislozierte Element ist dagegen unbetont und thematisch. Außerdem entsteht ein Eindruck von Nähesprache durch vorangestelltes Eh im Original. Eine deutsche Übersetzung muss möglichst alle diese Merkmale enthalten, v.a. die Betonung des Prädikates und die thematische finalisierende Setzung der NP sind wichtig. Nur einige Übersetzer haben sich für eine Dislokation entschieden. Am besten trifft den Ton aus meiner Sicht die Variante von Techtmeier, der die genannten Bedingungen über die normale deutsche Wortstellung erfüllt: (9b) Mit sanfterer Stimme sagte er dann: „Na, du wirst deine Mütze schon wiederfinden; die hat dir keiner gestohlen! “ (Übers. Techtmeier, cf. Flaubert 2009 [ 1 1965]: 8). Auch die Variante von Schickele (cf. Flaubert 1907) kommt ohne Dislokation aus, da im Deutschen Objekte problemlos am Anfang stehen können: Die Syntax Flauberts im Übersetzungsvergleich 143 (9c) Mit mehr Milde setzte er hinzu: „Deine Mütze wirst du schon wiederfinden, die hat man dir nicht gestohlen“ (Übers. Schickele/ Riesen, cf. Flaubert 1979: 11s.). Vollmann und Edl entscheiden sich für eine RD und folgen damit dem AT. Während Vollmann das Personalpronomen sie wählt (cf. 9d), steht bei Edl das Demonstrativum Die (cf. 9e): (9d) „Na! Sie werden sie schon wiederfinden, Ihre Mütze; man hat sie Ihnen sicher nicht gestohlen! “ (Übers. Vollmann, cf. Flaubert 2009 [ 1 2001]: 13s.). (9e) „Na! Die finden Sie schon wieder, Ihre Mütze; die ist nicht gestohlen! “ (Übers. Edl, cf. Flaubert 2012: 13). Edls Variante wirkt umgangssprachlicher als die anderen Varianten, was kein Nachteil ist. Dagegen irritiert den deutschen Leser ein satzinitiales Die, wenn es nicht Subjekt, sondern, wie hier, Objekt ist. Mir erschließt sich diese Übersetzungswahl nur in dem offenbar beabsichtigten verfremdenden Kontext, der die formale Äquivalenz im Blick hat. Da der deutsche Hauptsatz die Struktur des AT per se nicht formal wiedergeben kann, scheint mir dies ein unnötiger Kompromiss zu sein. 6.4 Die RD als impliziter Erzählerkommentar Flaubert verwendet die RD, anders als die LD, auch öfter in der Erzählerrede, die zum Teil den Übergang zur Figurenrede bildet. Hier geht es um eine separate literarische Verwendung, die in spontaner Sprache nicht anzutreffen ist. Dieser Fall ist in Beispiel (10a) illustriert. Der Satz steht direkt am Kapitelanfang: (10a) Ils arrivèrent, en effet, ces fameux Comices! Dès le matin de la solennité, tous les habitants, sur leurs portes, s’entretenaient des préparatifs; […] (Flaubert 2004: 159). Die comices sind zwei Sätze vorher erwähnt. Nach dem Satz geht es über Seiten um dieses Ereignis. Das ist der typische Fall für eine RD im literarischen Text, die ein wesentliches Erzählthema ankündigt. Interessant sind die Kombination mit dem wertenden Adjektiv fameux und das Demonstrativum, das einen präsenten Referenten voraussetzt (Veldre-Gerner 2014a: 116). Die Quelle der Bewertung bleibt unklar, und aufgrund des ces und des rückverweisenden en effet steht die Aussage zwischen Figuren- und Erzählerrede. Georgia Veldre-Gerner 144 Wie wird diese RD nun im Deutschen realisiert? Fast alle Übersetzer, ausgenommen Techtmeier, übernehmen die RD ins Deutsche. Die narrative Funktion der RD lässt sich durchaus analog auch im Deutschen darstellen. Hier scheint mir die Variante von Edl am besten zu sein, da die RD die gemeinte rückwärtige Kontextbindung herstellt und sie auf ein Demonstrativum als formales Äquivalent zugunsten der deutschen Idiomatik verzichtet. Auch die Übersetzung von fameux durch große ist plausibel: (10b) Und sie kam tatsächlich, die große Landwirtschaftsausstellung! Bereits am Morgen der Feierlichkeit unterhielten sich die Dorfbewohner auf ihrer Türschwelle über die Vorbereitungen; […] (Übers. Edl, cf. Flaubert 2012: 177). Interessant ist aus meiner Sicht auch die Lösung von Techtmeier, wo das Demonstrativum am Satzanfang einen anaphorischen Effekt hat und inhaltlich durchaus stimmig ist. Der Unterschied zu einer RD zeigt sich aber in der hier fehlenden narrativen „Ankündigungsfunktion“: (10c) Dieses berühmte Treffen der Landwirtschaftsvereine kam tatsächlich! Schon am Morgen der Festlichkeit unterhielten sich alle Einwohner vor ihren Türen über die Vorbereitungen; […] (Übers. Techtmeier, cf. Flaubert 2009 [ 1 1965]: 152). Diskutabel ist aus meiner Sicht die Variante von Vollmann (ähnlich Schickele), die ein häufiges Problem im Vergleich Deutsch-Französisch demonstriert: Oft entspricht dem französischen Demonstrativum ce/ cette im Deutschen funktional eher der definite Artikel, der auch Edls Variante kennzeichnet. In der RD ergibt sich mit dem deutschen Demonstrativum eine stark subjektive, geradezu bewertende Komponente, die im AT nicht unbedingt vorhanden ist, aber auch, v.a. mit dem Adjektiv fameux hier nicht völlig, im Sinne erzählerischer Präsenz, auszuschließen ist: (10d) Und dann fand sie tatsächlich statt, diese berühmte Jahresversammlung! Schon am frühen Morgen des Festtags unterhielten sich alle Einwohner Yonvilles vor ihren Häusern über die Vorbereitungen; […] (Übers. Vollmann, cf. Flaubert 2009 [ 1 2001]: 166). Nur zur Illustration des stilistischen Geschmacks zu Flauberts Zeit sei auch die Variante von Legné notiert, die sicher vor 150 Jahren dem üblichen Ton entsprach: Die Syntax Flauberts im Übersetzungsvergleich 145 (10e) Sie waren nun wirklich herbeigekommen, die famosen landwirtschaftlichen Comitien! Am Tage der Solennität konnte man schon am frühen Morgen die Ortsbewohner sehen, wie sie sich vor den Hausthüren über die festlichen Vorbereitungen besprachen […] (Übers. Legné, cf. Flaubert 1858, vol. II: 15). 7 Fazit An dem überschaubaren Bereich der Dislokation in Bovary lässt sich exemplarisch zeigen, wie detailreich der Kampf um das Optimum in der Übersetzung und um ihre Bewertung geführt werden muss. Die Dislokation wird von Flaubert zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt, wobei die Authentizität der Figurenrede im Sinne einer Abbildung von Mündlichkeit nicht im Vordergrund steht. Zentraler Bereich der Dislokation ist die direkte Rede, während die Belege der Erzählerrede im weiteren Sinne Flauberts impliziter Erzählerpräsenz dienen. Die deutschen Übersetzungen zeigen in der Chronologie ein ansteigendes Bemühen um einen nähesprachlichen Stil. Die Analyse der einzelnen Dislokationstypen ergibt, dass die formale Entfernung vom AT auch in der Syntax ihren Wert im Sinne einer stilistischen Annäherung an das Deutsche der Gegenwart hat, selbst wenn es eine formal äquivalente Konstruktion in der ZS gibt. Aber - wenn man auch, wie Edl (2012: 650) meint, den AT „Satz für Satz durchhören (muss)“ - letztlich sollte am Ende aller translatorischen Durchgänge ein Ergebnis stehen, durch das der Übersetzer seinen lesenden Zeitgenossen Zugang zu einem literarischen Werk in ihrer Muttersprache, nicht aber zu einem Translat verschafft. Dieser Gewinn auf Seiten der ZS erfordert und gestattet immer auch „Verluste“ gegenüber dem AT. Die Kunst besteht hinsichtlich eines Textes wie Bovary darin, dem unweigerlichen Verlust durch die sprachliche und chronologische Distanz einen Gewinn durch Präzision und das Bemühen um stilistische Ebenbürtigkeit entgegenzusetzen. Der Maßstab hierfür wird immer wieder neu zu formulieren sein. Georgia Veldre-Gerner 146 Bibliographie Die untersuchten Ausgaben und Übersetzungen Centre Flaubert, http: / / flaubert.univ-rouen.fr [30.11.2016]. Flaubert, Gustave (2012): Madame Bovary. Sitten in der Provinz. Übersetzung von Elisabeth Edl, München, Carl Hanser. 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Der Titel des Stücks bezieht sich auf den Ort der Handlung, Yukon, ein Territorium im Nordwesten Kanadas, das an Alaska, die Nordwest-Territorien und an die Provinz British Columbia grenzt. 1 Dort lässt die Autorin vier Hauptfiguren aufeinandertreffen: Die Japanerin Yuko ist nach Yukon eingewandert: „J’ai émigré“. — „OK, mais pourquoi ici? “ — „J’ai checké sur Internet la place au monde où c’est qu’il y avait le moins de Japonais. C’était ici“ (13s.). 2 Ihr Mitbewohner Garin, dessen Mutter „einem der ’First Nation’-Indianervölker des Yukon [entstammt]“ (4), aber verschwunden ist, liebt Yuko heimlich. Dritter im Quartett ist Garins Vater Dad’s, ein Alkoholiker, dessen Beziehung zu seinem Sohn kompliziert ist. Und hinzu tritt Kate, ein Mädchen, das von zuhause weggelaufen ist, durch Kanada trampt und auf Yukos Initiative hin und gegen Garins Willen mit in deren gemeinsame Wohnung einzieht. Sarah Berthiaumes schwarzhumoriges Stück handelt davon, wie diese Figuren, denen ihre Einsamkeit und eine schwierige Ver- 1 „[L]a pièce contient [donc] un certain déplacement, c’est un territoire anglophone et j’ai écrit la pièce en français. J’ai donc mis la langue québécoise dans la bouche de ces personnages qui sont normalement anglophones“ (Berthiaume 2014). 2 Die Ziffern in Klammern hinter französischem Text geben im vorliegenden Beitrag Seitenzahlen aus Berthiaume 2013 an, diejenigen hinter deutschem Text Seitenzahlen aus Berthiaume 2012. Lisa Šumski 150 gangenheit gemeinsam ist, in einem „abgelegenen Mikrokosmos“ „zu sich selbst und schließlich zueinander [finden]“ (Verlag der Autoren, s.a.). Gemeinsam ist den vier Hauptfiguren in ihren Dialogen zudem eine Sprachform, die einen deutlichen frankokanadischen und englischen Einschlag aufweist und Elemente eines alltagssprachlichen und niedrigen Registers enthält. Diese Figurenrede kontrastiert mit regelmäßig in den Dramentext eingestreuten standardnäheren Passagen, die von der Autorin bewusst als stilistisches Gegengewicht eingesetzt werden: „[J]’ai aussi voulu des passages narratifs qui serviraient de contrepoids à la rudesse des dialogues et à la pauvreté de la langue des personnages“ (Berthiaume 2013: Vorwort). Der Autorenintention nach bilden die Passagen in niedrigem Register eine generationengebundene Alltagssprache aus dem heutigen Quebec ab, die keine artifizielle, für das Theater geschaffene Kunstsprache sei: „[hors Québec,] ça a l’air d’être quelque chose de travaillé, d’un matériau théâtral complexe mais pour le public québécois c’est une langue assez quotidienne, parlée par une certaine génération. [...] Et c’est ma langue québécoise presque montréalaise“ (Berthiaume 2014). Das Théâtre Le Public Bruxelles hat die Sprache der französischen Fassung von Yukonstyle als „langage [...] truffé d’anglicismes et de ’québécismes‘“ bezeichnet (Berthiaume 2014). Es ist klar, dass weder die Autorenintention, eine lokal markierte Alltagssprache des heutigen Quebecs abzubilden, noch eine entsprechende Wahrnehmung der Sprache des Stücks durch die Rezipienten noch die Sprache des Stücks selbst mit der Authentizität sprachlicher Variation gleichgesetzt werden können. Denn auch wenn „Figurenrede bzw. -interaktion in literarischen, fiktionalen Dialogen [...] authentisches Sprechen bzw. authentische Interaktion je nach Epoche und Autor durchaus zu einem gewissen Grad reflektieren [mag]“ (Thielemann 2010: 66), so bleibt die literarische Abbildung sprachlicher Variation in geschriebenen Theatertexten stets eine stilisierte Repräsentation der langue parlée im code graphique (cf. Söll 3 1985: 17, 20) oder der „konzeptionelle[n] Mündlichkeit im Medium der Schrift“ (Blank 1991: 9). 3 Im vorliegenden Beitrag werden daher der eigentlichen Analyse einige Überlegungen zur literarischen Abbildung sprachlicher Variation im Allgemeinen und im Besonderen im frankokanadischen Theater vorangestellt. In einem zweiten Schritt folgt eine 3 Cf. auch Gauger (1991: XIV): „das Schreiben [...] kann Mündlichkeit fingieren. [...] Es geht da um Imitation. [...] das Geschriebene, das sich wie ein Sprechen vernimmt, ist etwas ganz anderes als Sprechen. Das tatsächliche Sprechen kann literarisch nicht wirklich hereingeholt werden“. Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung 151 exemplarische Beschreibung der literarischen Abbildung sprachlicher Variation in der französischen Fassung von Yukonstyle. In einem dritten Schritt wird dann anhand der bereits in Innsbruck und Heidelberg aufgeführten deutschen Fassung von Christa Müller und Frank Weigand (Berthiaume 2012) vorgestellt, wie mit den literarischen Elementen sprachlicher Variation in Quebec bei einer Übersetzung ins Deutsche umgegangen werden kann. Zugrunde gelegt werden dabei der edierte französische Dramentext sowie die edierte deutsche Fassung und nicht die Sprachformen konkreter Aufführungssituationen. 2 Literarische Abbildung sprachlicher Variation und frankokanadisches Theater Die literarische Abbildung sprachlicher Variation als stilisierte konzeptionelle Mündlichkeit im Medium der Schrift stellt im Jahr 2013 kein Novum mehr dar. Der Einsatz von gesprochener Sprache als literarisches Mittel findet sich bereits bei Villon, Rabelais, Balzac, Hugo sowie bei etlichen weiteren Schriftstellern und gehörte im Realismus und Naturalismus zum Programm (cf. Kemmner 1972: 70; Prüßmann-Zemper 1990: 836b; Gauger 1991: XVs.). Zum Themenkomplex der literarischen Abbildung von Mündlichkeit existieren daher zahlreiche Untersuchungen, mit oder ohne Bezug zu Fragen der Übersetzung und Übersetzbarkeit, so beispielsweise Untersuchungen zu Stil und Konzeption von Célines „Voyage au bout de la nuit“ (Holtus 1972), Literarisierung von Mündlichkeit (Blank 1991) oder Literarische Mündlichkeit und Übersetzung (Freunek 2007). In der Diskurstradition des frankokanadischen Theaters ist der Einsatz von gesprochener Sprache als literarisches Mittel aufgrund der besonderen sozialen und politischen Situation eng an Fragen der Identität und der Ideologie gebunden (cf. Dargnat 2008: 18). 4 Ab dem Ende der 50er und bis zum Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts erscheint der joual als nicht-normative Sprachform der „classe populaire“ in Quebec auf der Bühne (cf. Dargnat 2008: 18-20). Michel Tremblay gilt mit seinem Werk Les belles-sœurs von 1968 als der bekannteste Vertreter dieser Bewegung, die den joual als Zeichen einer sozialen, ideologischen und politischen Haltung bühnenfähig machte (cf. Dargnat 2008: 19-20). Die Sprache Tremblays wurde aus sprachwissenschaftlicher Perspektive unter anderem von Dietzel (2001) und Dargnat (2006, 2008) untersucht. Insbesondere 4 Cf. für einen historischen Überblick zum Thema Französisch in Quebec bspw. Plourde (2003). Lisa Šumski 152 die Arbeiten von Dargnat, die die literarische Darstellung von Mündlichkeit im Theater Tremblays im Vergleich mit entsprechenden authentischen Sprachdaten zum „français parlé au Québec“ 5 analysiert, lieferten wichtige Vorarbeiten für den vorliegenden Beitrag: Zum einen durch eine auf früheren Forschungsarbeiten basierende Zusammenstellung sprachlicher Phänomene, die als repräsentativ für das français parlé, das français populaire und das français québécois wahrgenommen werden und deren tatsächliche Verwendung von Dargnat mithilfe authentischer Sprachdaten verifiziert wurde (cf. Dargnat 2008: 21), sodass reale und literarische Verwendung zueinander in Bezug gesetzt werden. Zum anderen durch theoretische Überlegungen zur Verwendung des français oral, populaire et québécois in Dramentexten. Literarische Texte, die Mündlichkeit abbilden, lassen sich mit Blank (1991: 14) als „hochgradig geplante[...], aber möglichst nähesprachliche [...] Texte [...]“ beschreiben. Dabei gilt für Dramentexte ebenso wie für Erzähltexte, auf die sich Koch/ Oesterreicher beziehen, in der externen Kommunikationssituation un détachement actionnel et référentiel par rapport à la situation, une attitude essentiellement monologique et une certaine fixation thématique [...], bref, des conditions communicatives qui définissent la distance (2001: 592b). Der reale Autor wählt dabei auf der Basis seiner eigenen Sprachkompetenz und -wahrnehmung gewisse Sprachformen im Hinblick auf seine stilistische Intention aus (cf. Dargnat 2008: 16-17). Die Funktionen mündlicher Phänomene im Sinne von bewussten Abweichungen von einer standardnahen, normorientierten Sprache, welche in niedergeschriebenen französischen literarischen Texten häufiger erwartet und verwendet wird 5 Dargnat verwendet hierfür Auszüge aus den unveröffentlichten Korpora Sankoff-Cedergren (1971 von Gillian Sankoff und Henrietta Cedergren erstellt) und Montréal 84 (1984 von Pierrette Thibault und Diane Vincent erstellt), die im Laboratoire d’ethnolinguistique der Université de Montréal konsultierbar sind (cf. Dargnat 2006: 127), mir aber im Rahmen dieser Arbeit nicht zugänglich waren. Aus den Korpora, deren Ziel es war, das „français parlé au Québec“ der frankophonen Bevölkerung des Montrealer Ballungsraums mithilfe von Fragebögen in halb-gelenkten Interviews von je mindestens einer Stunde in seiner soziolinguistischen Breite abzubilden (cf. Dargnat 2006: 127), wählte Dargnat nach den folgenden Kriterien ihre Vergleichssprecher aus: „parité des sexes, ’cote de marché linguistique’ [= „perception sociale intuitive de ces locuteurs sur la base de leur production linguistique lors des entretiens“ (Dargnat 2006: 19, Fußnote 4)] basse [...] correspondant à l’image du populaire (classe ouvrière urbaine peu scolarisée), résidence à Montréal et origine de Montréal dans les quartiers dits populaires de l’époque, francophones de langue maternelle, représentativité des classes d’âge et des deux corpus“ (Dargnat 2006: 128). Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung 153 (Dargnat 2008: 12), 6 reichen von einer realistischen Wirkung über die Figurencharakterisierung (cf. Thielemann 2010: 66) bis hin zu einem erhöhten Identifikationspotential und „humoristischer oder satirischer“ Wirkung (Freunek 2007: 27), etc. Bei der Wahl der eingesetzten sprachlichen Merkmale spielt deren stilistische Wirksamkeit eine Rolle: Gewählt wird, was als besonders typisches Merkmal hervorsticht bzw. vom Autor als besonders typisch wahrgenommen wird (cf. Dargnat 2008: 20). Den Gegenpol dazu bilden die Lesbarkeit und die Verständlichkeit (cf. Dargnat 2008: 20). Literarische Abbildungen von Mündlichkeit unterscheiden sich in der Regel deutlich von auf realen Kommunikationssituationen basierenden Transkriptionen (cf. Dargnat 2008: 16), da ein grundlegendes Verständnis der Sprachformen auf Seiten der Rezipienten zumeist gesichert werden soll. Dieser Aspekt ist insbesondere für Dramentexte relevant, da diese den Gattungskonventionen gemäß zur Aufführung bestimmt sind. Der lineare Ablauf der Handlung auf der Bühne kann nicht unterbrochen werden, um nicht unmittelbar verstandene Sprachformen zu erläutern oder nachzuschlagen. Gattungskonstitutiv für das Drama ist zudem die Figurenrede als Träger der Handlung (cf. Dargnat 2008: 15). Das Theater ist als Gattung ganz grundsätzlich an mündliches Sprechen gebunden, doch kann die Figurenrede selbst, die im vorliegenden Beitrag im Zentrum des Interesses steht, in der Terminologie von Söll ( 3 1985: 20) mehr oder weniger starke Elemente der langue parlée aufweisen, d.h. mehr oder weniger ausgeprägte Züge des unmittelbaren, subjektiven, intimen, spontanen Sprechens in informeller, privater, dialogischer, direkter Kommunikationssituation nachahmen (cf. Koch/ Oesterreicher 2001: 586). Jede Beschäftigung mit dem Typ literarischer Mündlichkeit, den man als oralité populaire québécoise (cf. Dargnat 2006: 15) bezeichnen kann, setzt zudem die folgende Präzisierung voraus: Im vorliegenden Beitrag wird die oralité populaire québécoise mit Dargnat (2008: 15) und Barme (2012: 93) als eine diatopische Varietät des Französischen verstanden, für die der Sprachkontakt, vor allem mit dem Englischen, eine zentrale Rolle spielt, auch wenn 6 Cf. auch Dargnat (2008: 12): „Pour le système du français, l’oral est généralement perçu comme plus sensible aux variations que l’écrit, ce qui a comme conséquence de faire a priori de l’écrit un usage plus standardisé et plus normé que l’oral“. Lisa Šumski 154 im Hinblick auf die Sprachstruktur sowie den Status des québécois zu betonen [ist], dass diese Varietät eine vergleichsweise große Anzahl von Abweichungen vom hexagonalen Französisch bietet und einige Sprachwissenschaftler sogar so weit gehen, von einem eigenen Regionalstandard zu sprechen, was folglich die Annahme eines eigenen Varietätenraums impliziert (Barme 2012: 93). 7 Ausgehend von dieser heuristischen Vorannahme lässt sich der im Folgenden analysierte Typ literarischer Mündlichkeit dann wie folgt beschreiben: l’oralité soit globalement définie comme tout ce qui dévie du modèle canonique que représente le français standard (de France), lui-même mis en rapport avec l’écrit normé. D’une certaine manière, faire oral en littérature revient donc à produire du non-standard (Dargnat 2008: 13). 3 Literarische Abbildung sprachlicher Variation in der französischen Fassung von Yukonstyle Die französische Fassung von Yukonstyle weist in den Passagen, deren Ziel es laut Autorenintention ist, eine Figurenrede in alltagssprachlichem und niedrigem Register abzubilden, zahlreiche Elemente sprachlicher Variation auf, die beim Leser den Eindruck hervorrufen, sich in der diaphasischen Dimension einer konzeptionell mündlichen Alltagssprache zu befinden, die in der diastratischen Dimension des populaire an eine bestimmte soziale Gruppe und Altersgruppe und in der diatopischen Dimension an Quebec gebunden ist. Die im Folgenden vorgestellten exemplarischen Beispiele aus den Bereichen „an der phonetischen Realität orientierte Schreibweisen“ (3.1.), Morphosyntax und Textpragmatik (3.2.) und Lexik (3.3.) stellen eine Auswahl der in der Figurenrede dargestellten sprachlichen Variation dar. Es sei noch vorausgeschickt, dass die Kategorisierung eines Merkmals als „oral“, „populaire“ oder „québécois“ manchmal nicht trennscharf möglich ist und dass eine Klassifikation als „frankokanadisch“ nicht ausschließt, dass ein bestimmtes Phänomen nicht in einer anderen regionalen Varietät des Französischen ebenfalls verbreitet ist oder war (cf. auch Dargnat 2008: 22; 33). 7 Mir ist bewusst, dass diese heuristische Vorannahme eine Simplifizierung der tatsächlichen Sachlage darstellt (cf. bspw. Bigot 2011; Martel/ Cajolet-Laganière 2003; Schafroth 2008) und dass eine endgültige Wahl und wissenschaftliche Beschreibung dieser Thematik noch zu verhandeln sein wird. Die im vorliegenden Beitrag gewählte Option dient in erster Linie einer besseren Operationalisierbarkeit der Analyse. Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung 155 3.1 An der phonetischen Realität orientierte Schreibweisen Lautliche Phänomene, die vom français standard contemporain abweichen, werden in der Schriftfassung von Yukonstyle durch an der phonetischen Realität orientierte Schreibweisen abgebildet. Diese Technik zur Abbildung konzeptionell mündlicher Sprache im Medium der Schrift, die bereits andere Schriftsteller wie Céline (cf. Blank 1991: 121ss.) und Queneau (cf. Blank 1991: 207ss.) und im frankokanadischen Theater insbesondere Tremblay (cf. Dargnat 2008: 22ss.) nutzten, wurde von Anis — bezogen auf die französische Chatsprache — als der Einsatz von graphies phonétisantes (1999: 87) bezeichnet. Wie im Werk Tremblays (cf. Dargnat 2008: 22) werden dabei auch in Yukonstyle die üblichen Wortgrenzen in der Regel eingehalten. Zu den graphies phonétisantes zählt in der französischen Fassung von Yukonstyle unter anderem die Graphie <a> für <e> vor <r>, die bereits von Tremblay verwendet wurde (cf. Dargnat 2008: 23), um die Öffnung von [ ɛ ] vor [R] 8 im Schriftbild darzustellen. Dieses phonetische Merkmal wird oft als typisch für das français québécois angeführt (so bspw. von Bollée 1990: 747a), stellt jedoch kein Alleinstellungsmerkmal dar: Le phénomène est fréquent en français québécois mais n’est pas spécifique. Sa représentation [littéraire] tend plutôt à produire un effet diastratique dévalorisant, populaire ou paysan (Dargnat 2008: 23). Nach Dumas handelt es sich hierbei um einen trait stigmatisé, dessen Gebrauch heutzutage „un fort effet de décalage, et de réprobation“ hervorruft (zit. n. Martel/ Cajolet-Laganière 2003: 382). Während dieses phonetische Merkmal im Werk Tremblays regelmäßig und in unterschiedlichen Wörtern literarisch abgebildet wird (cf. Dargnat 2008: 23), ist es in Yukonstyle selten. Systematisch wird jedoch marde, die „prononc. pop. de ’merde’“ (Meney 1999: 1099, s.v. marde) verwendet, die in Berthiaumes Theaterstück wohl aufgrund ihrer Bekanntheit als stilistisch besonders 8 Da sich die konkrete phonetische Realisation des <r> nicht aus dem geschriebenen Dramentext ablesen lässt, wurde für die phonetische Schreibweise hier das [R] gewählt: „La norme contemporaine de la prononciation [...] a retenu [...] la généralisation du [R] postérieur au détriment du [r] antérieur roulé“ (Dumas 2015: s.p.; Martel/ Cajolet-Laganière 2003: 382), die auch vom Quebecer Wörterbuch Usito verwendet wird. Ebenso möglich gewesen wären [r], das seit dem Ende der 1940er Jahre und bis heute im français montréalais mit der „classe populaire“ assoziiert wird (Laforest 2002: 84), oder das ebenfalls in Quebec verwendete [ʁ], das sich jedoch laut Martin (2013: 15) „plus fréquemment [...] dans le discours des jeunes universitaires francophones de Montréal“ wiederfindet. Lisa Šumski 156 wirksam eingestuft werden kann: „Je pense que c’est une idée de marde“ (27), „C‘est mon enfance de marde qui fait ça“ (35), „se mettre dans la marde“ (43), mit weiteren Beispielen auf den Seiten 12, 34, 37 und 46. Unverändert erscheinen hingegen z.B. avertir (34, 63), nerveux (13), merci (20, 23, 49), personne (17, 43, 47, 48, etc.), servir (34), etc. Hier zeigt sich deutlich die im vorherigen Kapitel beschriebene Differenz zwischen authentischer sprachlicher Variation, bei der ein phonetisches Merkmal in der Regel nicht nur in einem Wort realisiert wird, und deren literarischen Abbildung. Für die Graphie <oi>, der im français standard contemporain zumeist die phonetische Realisierung [wa] entspricht, gibt es in Quebec mehrere Realisierungsvarianten: [we], [wɛ], [wɑ] oder [wɔ], [e], [ɛ], [ɔ] (cf. Dargnat 2008: 23s.; Bollée 1990: 747a; Barme 2012: 94). In Yukonstyle findet sich in der Figurenrede in niedrigem Register das Adjektiv frette (22, 41) neben der Form froid (62); in den standardnäheren Passagen wird stets froid verwendet. Die Form frette kann aufgrund ihrer Bekanntheit ebenfalls als stilistisch hochrentabel eingestuft werden. Sie ist zudem lexikographisch in der Bedeutung ’froid [souv. avec une idée d’intensité par rapport à ’froid’]’ erfasst (Meney 1999: 869, s.v. fret 2 ) und könnte daher auch den lexikalischen Phänomenen (3.3) zugeordnet werden. Ähnliches gilt für das Adjektiv effouaré (effoiré) hier in der Bedeutung ’écrasé’ (cf. Meney 1999: 727s., s.v. effoiré; s.v. s’effoirer 3°) in „je veux [...] devenir un Mama Burger effouaré“ (40). Belegt ist auch enweille (61), eine von Meney (1999: 760, s.v. envoye! ) noch nicht verzeichnete Schreibweise für die prononciation populaire von envoie, „impératif pour inciter qqn à faire qqch., à se dépêcher“ mit den Bedeutungsäquivalenten ’vas-y! ’, ’grouille-toi! ’, ’magne-toi! ’ (cf. PR, s.v. grouiller, mod. fam. se grouiller ’se dépêcher, se hâter’, und PR, s.v. fam. manier, se magner ’se remuer, se dépêcher’). Die für das Frühwerk Tremblays charakteristischen Graphien <moé>, <toé> für ’moi’, ’toi’ (cf. Dargnat 2008: 23) fehlen in Yukonstyle vollkommen, wo stets <moi> und <toi> zum Einsatz kommen. In der Figurenrede in niedrigem Register wird das Adverb puis durchgängig durch pis ersetzt, z.B. in „Elle pisse pis elle s’en va“ (12), „ils rient, pis ils s’en vont“ (34), „On avait bu pis elle voulait me montrer ses seins refaits pis [...]“ (20), wobei die Reduktion von [ɥi] zu [i] zwar oft als typisch québécois verzeichnet wird, nicht aber auf Quebec beschränkt ist (cf. Bollée 1990: 747b; Boulanger 1994: 226) und pis von Meney (1999: 1307, s.v. pis) als prononciation populaire von puis verzeichnet wird. In den Regieanweisungen hingegen findet sich stets puis: „Elle rit. Puis, elle pleure [...] Elle le regarde. Puis, elle ferme les yeux“ (63). Hier wird erneut deutlich, dass Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung 157 in Yukonstyle die Darstellung von typischen Merkmalen des français québécois parlé populaire eng an die stilistische Intention gebunden ist, die Figurenrede als solche zu kennzeichnen, während die Regieanweisungen standardnah formuliert sind. Des Weiteren findet sich die im français parlé informel québécois hochfrequente Realisierungsvariante chus (20) für je suis (cf. Auger 1995: 26s.), die nicht nur die Reduktion von [ɥi] zu [y] aufweist (cf. Bollée 1990: 747b), sondern in der amalgamierten Form auch die für das français oral populaire québécois typische Desonorisierung von [ʒ] zu [ʃ] (cf. Dargnat 2008: 25). Jedoch dominiert die standardnahe Form je suis auch in der Figurenrede in niedrigem Register eindeutig. Auch der Wandel des Zentralvokals [ə] zu [e], der im français québécois parlé populaire erscheinen kann (cf. Dargnat 2008: 24), findet sich in Yukonstyle graphisch nur einmal in „regarde-lé“ (36) (regarde-le) abgebildet. Konsonantengruppen werden in Yukonstyle, wie auch im français québécois oral populaire, zum Teil vereinfacht (cf. Dargnat 2008: 25), so „on l’a pus“ (46, ebenso 12, 18) neben „plus“ (54, 58, 60, etc.). Sarah Berthiaume bildet in Yukonstyle zudem die für das québécois typische, aber nicht spezifische „Bewahrung von auslautendem -t“ (Bollée 1990: 747b; Dargnat 2006: 183; 2008: 25; Bigot 2011: 7) ab, die sozial gesehen als prononciation populaire gilt (Dargnat 2008: 25): „Je veux pas, c’est toute“ (13), „un boutte de papier“ (68, zwei weitere Belege für boutte finden sich auf den Seiten 49 und 55). Ebenso verwendet Berthiaume das charakteristische „icitte“ (12, 23) für ici, dem ein auslautendes -t hinzugefügt wird. Die Schreibweisen auf -t(t)e, wie auch die anderen Beispiele für graphies phonétisantes, bedienen sich üblicher Graphem-Phonem-Korrespondenzen, um die prononciation québécoise/ orale/ populaire der Wörter abzubilden. Letztere sind zum Teil bereits lexikographisch unter den standardnahen Lemmata erfasst, so bspw. Meney (1999: 274, s.v. bout): „les graphies ’boute’ et ’boutte’ rendent compte de la prononc. pop. du mot ’bout’ en québécois“, oder werden als separate Lemmata erfasst, wie toute (Meney 1999: 1756, s.v. toute). Der Apostroph signalisiert auch in Yukonstyle, wie bspw. bei Céline (cf. Blank 1991: 121) und in der Nachfolge einer weitverbreiteten literarischen Technik zur Abbildung von Mündlichkeit (cf. Dargnat 2008: 26), teilweise in Kombination mit einer graphie phonétisante, den Ausfall von Lauten oder Silben und bildet somit das allgemeine Phänomen ab, dass „[i]m phonischen Code [...] bei kommunikativer Nähe eine nachlässige Artikulation begünstigt [wird], während die Sprecher bei kommunikativer Distanz auf eine möglichst exakte Produktion der Lautkörper achten“ Lisa Šumski 158 (Barme 2012: 66). So finden sich in Yukonstyle Apokopen („coloc’“ (13) für colocataire), Aphäresen („S’cuse“ (21) für excuse) und insbesondere bei den Subjektpersonalpronomina Allegro-/ Prestoformen: „J’m’habille“ (14), „t’es habillée“ (14), „t’sais“ (17, 21, 23, etc.), „T’étais où? “ (19). Vergleichbares gilt für die Objektpronomina: „il va t’haïr encore plus“ (25), „Il m’haït? “ (25). Die Subjektpersonalpronomina der 3. Person, die „im gesprochenen hexagonalen Französisch [...] überwiegend als [i] [...], vor Vokal als [il] […] [und] im français parlé québécois durchgängig [als] [i] [realisiert werden]“ (Barme 2012: 94), erscheinen in Yukonstyle graphisch sowohl als <il(s)> als auch als <y’>: „Le gars, y’est pas là? “ (25), „y’avait l’air fin, en même temps, y’avait quelque chose de mean dans lui, t’sais“ (29), „Y’est encore là, vois-tu? Y’est caché“ (36), „Y’avaient passé la nuit à essayer de m’appeler“ (62s.). Berthiaume nutzt hier bereits existierende Schreibweisen für die literarische Darstellung mündlicher Phänomene: „Certaines habitudes de transcription existent, en particulier pour le il, le plus souvent graphié y“ (Dargnat 2008: 27). Und nicht zuletzt finden sich in Yukonstyle einige wenige amalgamierte Formen, „composées de plusieurs mots [...] qui se sont figées dans leur forme néographique et dans leur usage, au point d’être devenues lexicalement autonomes“ (Dargnat 2008: 28), wie coudonc (20), das auf écoute-donc zurückgeht (cf. Meney 1999: 553, s.v. coudon), astheure (30, 61), zusammengezogen aus à cette heure (cf. Meney 1999: 116, s.v. asteur) oder das bereits erwähnte chus (cf. Meney 1999: 445, s.v. chus). Sie können als stilistisch besonders wirksam gelten, da sie als typisch für das français québécois familier et populaire wahrgenommen werden (cf. Dargnat 2008: 28). 3.2 Literarische Abbildung sprachlicher Variation auf der morphosyntaktischen und textpragmatischen Ebene Sarah Berthiaume bildet in Yukonstyle wiederholt literarisch Phänomene ab, die charakteristisch für mündliche Spontankommunikationen im Allgemeinen sind. Mit allgemeinen Merkmalen sind Phänomene gemeint, die aus den spezifischen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien resultieren, die die phonische Nähesprache auszeichnen (Barme 2012: 37). So finden sich in der Figurenrede neben zahlreichen Dislokationen z.B. auch Wiederholungen, Wiederaufnahmen, Selbstkorrekturen und Pausen (im Schriftbild durch „...“ symbolisiert) (cf. Barme 2012: 42, 43, 57; Dargnat 2008: 29): „Mais t’sais, un moment donné ... un gars a besoin de faire ce qu’il a à faire. Je veux dire ... Un moment donné, être tu-seul, ça devient Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung 159 ... ça devient impossible, ici. Y a trop d’espace, dehors. Trop de vide, partout, autour“ (47). Ebenso werden die für die Sprechsprache typischen Satzabbrüche (cf. Barme 2012, 3) im Schriftbild häufig durch „/ “ abgebildet: „comme ça a été long, je/ “ (36), „Comment tu peux/ “ (43), „C‘est correct, fille, c’est pas/ “ (55). Auf textpragmatischer Ebene finden sich zudem zahlreiche Anfangssignale wie ben (13, 26, 64, etc.), pis (26, 30, 33, etc.), coudonc (20), Sprechersignale wie das wiederholt eingestreute t’sais, Hörersignale wie hen? (21, 27, 33, etc.) und Gliederungssignale in nähesprachlicher Funktion. Letztere zeigen wie im folgenden Textbeispiel nicht eine präzise Abfolge von Diskursabschnitten an, sondern markieren lediglich deren Beginn oder Ende (cf. Barme 2012: 37, 38, 40): „Pis ça a adonné que c’était elle qui était là. Au bar. Avec sa doudoune pis ses bottes pis son Seven up. Elle était là. Pis j’étais là moi aussi. Pis je venais d’avoir ma paye. Pis c’est ça“ (47). Auch wenn bei dieser literarischen Abbildung morphosyntaktischer und textpragmatischer Mündlichkeitsphänomene Formen verwendet werden, die als typisch für das français québécois wahrgenommen werden, so ist ihre Funktion der Abbildung allgemeiner und nicht historisch-kontingenter Merkmale der phonischen Nähesprache zuzuordnen (cf. Dargnat 2008: 30). Von den für das français parlé québécois charakteristischen morphosyntaktischen Phänomenen, die in Yukonstyle literarisch abgebildet werden, sollen im Folgenden einige exemplarisch herausgegriffen und vorgestellt werden. An erster Stelle ist hier die in Yukonstyle häufig eingesetzte Fragepartikel -tu zu nennen wie beispielsweise in „C’est-tu grave, ou...? “ (50) — „Es sieht schlecht aus, oder ...? “ (47), „Il fait-tu ben frette? “ (22) — „Ist es richtig kalt? “ (23), „Je disais-tu ce qu’elle faisait? “ (45) — „Hab ich gesagt, was sie gemacht hat? “ (43). Die Fragepartikel -tu, die in authentischen Korpora häufig vertreten ist, wird als für das français parlé québécois typisch wahrgenommen, obwohl sie regiolektal auch in Frankreich in der Form -ti belegt ist (cf. Dargnat 2008: 31). Sie ist daher literarisch sehr wirksam und wurde auch im dramatischen Werk Tremblays verstärkt eingesetzt (cf. Dargnat 2008: 31). Typisch für das français québécois parlé ist auf morphosyntaktischer Ebene auch der frequente Ausfall des Subjektpersonalpronomens il, vor allem bei y avoir (cf. Bollée 1990: 748a). Laut Barme besteht zwischen dem français québécois parlé und dem français parlé de France allgemein ein Unterschied in der Ausfallfrequenz der unbetonten Formen aller Personen. Letztere entfallen im kanadischen Französisch öfter, „wobei jedoch auch im québécois die Setzung des Pronomens gegenüber der Auslassung über- Lisa Šumski 160 wiegt“ (2012: 94). Hinzu kommt ein distributioneller Unterschied: Im hexagonalen Französisch entfallen die Subjektpersonalpronomina hauptsächlich vor „unpersönlichen Verben, wie etwa il faut, il y a, il paraît etc., [...] was für das québécois nicht gilt“ (Barme 2012: 94). Auch dieses Phänomen wird in Yukonstyle literarisch abgebildet, und zwar sowohl vor dem unpersönlichen Verbum il y a in „Qu’est-ce qu’y a ? “ (21), „Y a un médecin“ (26) als auch vor anderen Verben wie in „’Est où la fille? “ (16), „’Sont où vos toilettes? “ (12). Jedoch fallen die Subjektpersonalpronomina in Yukonstyle nicht systematisch aus. Die Negationspartikel ne, die in Yukonstyle in den standardnäheren Passagen gesetzt wird, entfällt in der Figurenrede in niedrigem Register systematisch, so beispielsweise in „Je veux pas qu’elle reparte“ (12), „Elle fera pas de marde“ (12), „Tu bouges pas“ (50). Hier zeigt sich erneut die Autorenintention, zwei Sprachformen kontrastiv gegenüberzustellen. Dies gelingt aufgrund der literarischen Abbildung eines Phänomens, das auch im français parlé de France auftritt, wobei die Ausfallfrequenz der Negationspartikel ne im français parlé québécois laut Barme (2012: 78) die bereits sehr hohe Ausfallfrequenz im hexagonalen ƒrançais parlé noch übersteigt: Im kanadischen Französisch kann von einer „fast vollständige[n] Grammatikalisierung der verbalen Negation ohne ne“ (Barme 2012: 94) gesprochen werden. Darüber hinaus finden sich die betonten Formen des Personalpronomens der 1. und 3. Person Plural des oral québécois „nous autres“ (13), „eux-autres“ (58) (cf. Dargnat 2008: 27) neben standardnahen Formen sowie „y für Personen“ wie in „Pis le cash que tu y donnes, ça vient d’où? “ (33), wobei es sich hierbei „auch um eine phonetische Variante von lui handeln [kann]“ (Bollée 1990: 748a). Die sprachliche Realität in Quebec wird auch durch die Verwendung des weiblichen Artikels bei dem Wort job (16, 22, 23) abgebildet, das im français standard maskulin ist (cf. Meney 1999: 1009, s.v. job). 3.3 Literarische Abbildung sprachlicher Variation auf der lexikalischen Ebene Sarah Berthiaume bildet in Yukonstyle sprachliche Variation literarisch auch durch den Einsatz zahlreicher lexikalischer Formen ab, die vom français standard abweichen. Die folgende auf das français québécois bezogene Aussage von Martel/ Cajolet-Laganière (2003: 385), „C’est dans le domaine du lexique que se trouve le plus grand nombre de spécificités québécoises“, gilt auch für dessen Abbildung in Yukonstyle. Die im Folgenden vorgestellten exemplarischen Beispiele wurden mithilfe von Studien und Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung 161 Wörterbüchern zum français québécois und vornehmlich mithilfe des Dictionnaire québécois-français (DQF) 9 (Meney 1999) klassifiziert. Erklärtes Ziel dieses Wörterbuchs ist es, ausgehend von Quebecer Literatur- und Pressetexten unter Rückgriff auf Referenzwerke zum français québécois, zum français standard und zur französisch-englischen Lexikographie sowie im Vergleich mit einem Korpus aus standardfranzösischen Presse-, Radio- und Fernsehbeiträgen (cf. Meney 1999: VII) die folgenden Aspekte sprachlicher Variation lexikographisch zu erfassen: ce qui relève des différences [...] entre la langue parlée et la langue écrite, des différences de niveaux de langue (neutre, familier, populaire ou vulgaire), [...] du passé de la langue ou de l’interférence réelle ou supposée de l’anglais, [...] [mais aussi] ce qui est commun avec le français standard [...] et ce qui appartient en propre au québécois (Meney 1999: V). Als besonders typisch für das français québécois parlé populaire gelten die sogenannten sacres, also Fluchwörter und Interjektionen, die auf Lexeme aus dem Bereich der katholischen Religion zurückgehen. Ihr literarischer Einsatz kann daher effektvoll zur Markierung eines lokalen und niedrigen Sprachregisters genutzt werden (cf. Dargnat 2008: 34; Meney 1999: XXII; Bollée 1990: 749a). In Yukonstyle kommen die sacres in der Figurenrede in niedrigem Register häufig vor: Sechs Mal ostie (12, 13, 33, 45, 46), stets in dieser auch von Meney (1999: 962, s.v. hostie) verzeichneten Graphie, wie beispielsweise in „Arrête, ostie! “ (46) oder in „T’étais mauve, ostie! “ (45). Acht Mal crisse (24, 37, 41, 51, 61, 63), wie in „Crisse. T’es gelée“ (41), ein als Interjektion verwendeter juron, der von Meney (1999: 590, s.v. crisse! ) als très familier klassifiziert wird. Darüber hinaus finden sich zwei Ableitungen von crisse: se crisser de, ’se foutre de (fam.)’ (Meney 1999: 592, s.v. crisser), wie in „Mais ça, tu t’en crisses, right? “ (46), und 9 Meney geht bei der Redaktion seines Wörterbuchs ebenfalls von einer norme exogéniste aus (cf. Schafroth 2008: 200). Der DQF „a été sévèrement critiqué, surtout par les lexicographes et les métalexicographes québécois de renom“ (Schafroth 2008: 202). „La caractérisation comme ’recueil de particularismes’ (Cormier et Francœur, 2002, p. 62) est encore une des plus favorables“ (Schafroth 2008: 202, Fußnote 8). Laut Schafroth (2008: 221) ruft Meney bei den Quebecer Nutzern seines Wörterbuchs „par le recours continuel au ’français standard’ [...] le sentiment de l’insuffisance ou du marqué de la forme québécoise“ hervor. Schafroths (2008: 221) Meinung, dass „[d]’un point de vue strictement descriptiviste, on est tenté de justifier la pratique adoptée dans le DQF“, schließen wir uns an. Der DQF ist im Rahmen des vorliegenden Beitrags ein geeignetes Referenzwerk: „cet ouvrage est très riche d’attestations et d’emplois authentiques (pas toujours approuvés par les lexicographes québécois) et offre une vaste gamme d’usages non normatifs [...] [mis] en relation avec le français standard“ (Schafroth 2008: 230). Lisa Šumski 162 crissement als verstärkendes Adverb in „C’était froid, mais c’était crissement beau“ (62). Der juron câlisse, der von Meney (1999: 331, s.v. câlice! ) ebenfalls als très familier verzeichnet wird, wird zweimal eingesetzt, so in „Câlisse. J’ai ... J’aurais pu ...“ (61) und auf Seite 60. Die ebenfalls als familier eingestufte Ableitung se câlisser de (35, 63) in der Bedeutung ’se foutre de’ (Meney 1999: 332, s.v. câlicer) wird insgesamt viermal eingesetzt, so beispielsweise in „Pis je m’en câlisse de la prospérité, je sais même pas vraiment c’est quoi“ (64). Dreimal kommt sacrer (27, 40, 47) in der Bedeutung ’jeter, lancer’ (Meney 1999: 1519, s.v. sacrer) zum Einsatz, wie in „je te sacre mon poing sur la gueule“ (47). Bei der Zuordnung lexikalischer französischer Formen, die vom français standard abweichen, zu einer spezifischen Dimension sprachlicher Variation muss im Hinblick auf das français parlé québécois die besondere historische Situation und Beziehung zwischen den beiden Ausprägungen der französischen Sprache berücksichtigt werden. So gibt es im français québécois Formen, die im français standard unbekannt sind, Formen, die im français standard eine andere Bedeutung oder eine andere Gebrauchsfrequenz haben, oder Formen, die in Quebec häufig aus sprachpuristischer Sicht kritisiert werden, aber in Frankreich verbreitet sind (cf. Meney 1999: VI). Zu den zahlreichen literarisch abgebildeten lexikalischen Formen des français québécois, die von den Referenzwörterbüchern nicht dem français standard zugerechnet werden, zählt beispielsweise die verbale Wendung faire du pouce in „Je veux faire du pouce mais y a personne“ (40), die anstelle des im Französischen Frankreichs üblichen faire de l’autostop eingesetzt wird (cf. Meney 1999: 1350, s.v. pouce; PR, s.v. pouce). Ebenso das Verb accoter sur ’appuyer sur’ („je l’accote sur le bord“ (40, auch 59)), mit dem Unterschied, dass es im français standard als vieux betrachtet wird (cf. Meney 1999: 21, s.v. accoter; PR, s.v. accoter). Weitere Beispiele für die Abbildung sprachlicher Variation auf lexikalischer Ebene lassen sich leicht zusammentragen: so wird in „Une petite baveuse qui trouvait toujours le moyen de se mettre dans la marde“ (43) das Adjektiv baveux in der Bedeutung ’arrogant, effronté, fanfaron’ verwendet, die Meney (1999: 192, s.v. baveux) für das québécois verzeichnet, während das Adjektiv im français standard die Bedeutung ’qui bave’ trägt oder familier eine Person bezeichnen kann ’qui parle beaucoup’ (cf. Meney 1999: 192, s.v. baveux; PR, s.v. baveux). Dem français québécois familier zugehörig sind auch die Wörter bobettes (40) ’sous-vêtement masculin ou féminin qui couvre le bassin’ (PR, s.v. bobettes n. f. pl.; cf. Meney 1999: 239, s.v. bobettes), boucane (66) ’fumée’ (PR, s.v. boucane n. f.), das auf das Wort boucan zurückgeht, das „[e]n cré- Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung 163 ole martiniquais, […] désigne un grand feu sur lequel on fait cuire des aliments“ (Meney 1999: 264s., s.v. boucane), oder bouette (47, 48, 51) ’sorte de boue’, ’bouillasse’, ’gadoue’ (cf. Meney 1999: 266, s.v. bouette 1 n. fém.; PR, s.v. 2. bouette). Ein Frequenzunterschied im Gebrauch besteht nach Meney bei cellulaire (62) ’téléphone portable’, ’téléphone cellulaire’: En français standard, l’expr. ’téléphone cellulaire’ (techn.). s’emploie beaucoup plus rarement qu’en québécois (On ne l’utilise que lorsqu’on parle de la technologie de radiocommunication cellulaire); comme objet d’utilisation cour., on parle de ’téléphone portable’ et surtout de ’portable’ (Meney 1999: 386, s.v. cellulaire n. masc.; cf. PR, s.v. cellulaire). Belegt sind auch char (58, 59, 60) in der für das français canadien typischen Bedeutung ’voiture’, ’automobile’ (cf. Meney 1999: 407, s.v. char; PR, s.v. char) und chaufferette (51) in der frankokanadischen Bedeutung ’dispositif de chauffage (d’une automobile)’ (Meney 1999: 418, s.v. chaufferette n. fém.; PR, s.v. chaufferette), während [e]n français standard, le mot ’chaufferette’ désigne a) un appareil dans lequel on mettait des braises pour se chauffer les pieds, b) un petit réchaud de table, c) un appareil pour lutter contre les gelées dans les vignes (par ex. dans la région de Chablis, en Champagne) et les vergers, d) un appareil pour se chauffer les pieds et les mains (Meney 1999: 418, s.v. chaufferette). Häufig wird in Yukonstyle das oben bereits erwähnte Adverb icitte in der Bedeutung ’ici’ eingesetzt, so in „Elle dort pas icitte“ (12). Meney (1999: 970, s.v. icitte) erfasst icitte als eigenes Lemma neben ici, das Dictionnaire québécois d’aujourd’hui ordnet icitte als Quebecer Variante von ici ein: „La variante icitte [isit] est fréquente et elle appartient au registre familier“ (Boulanger/ Rey 1992: 591b, s.v. ici). Diese Realisierungsvariante, die nicht auf das français québécois beschränkt ist (cf. Meney 1999: 970, s.v. icitte; FEW 4, 423b), wird in Yukonstyle lediglich von zwei verwandten Figuren, von Garin und von seinem Vater Dad’s, in der Figurenrede in niedrigem Register verwendet, während die anderen Figuren stets ici nutzen. Auch das Adverb astheure in der Bedeutung ’maintenant’, das sowohl im français québécois, als auch in einigen ländlichen Gegenden in Frankreich und in der Wallonnie noch verwendet wird (cf. Meney 1999: 116, s.v. asteur), wird in der Figurenrede eingesetzt: „qu’est-ce que tu vas faire, astheure? “ (30), „Ça va mieux aller astheure“ (61). Im Gegensatz dazu erscheint maintenant nur in einem Zitat des Ave Maria: „Marie mère de Dieu priez pour nous pauvres pécheurs maintenant et à l’heure de notre mort amen“ (51). Lisa Šumski 164 Die Sprachkontaktsituation mit dem Englischen führt in Quebec zu Entlehnungen und Interferenzen, die angesichts der historischen Entwicklungen oft als negativ bewertet werden und mit dem parler populaire assoziiert werden (cf. Dargnat 2008: 34). Der Einsatz von Anglizismen stellt daher ein wirksames literarisches Mittel zur Abbildung des parler populaire québécois dar: „Pour un écrivain soucieux de rendre compte du parler populaire de Montréal et désireux de bousculer les habitudes classiques et traditionnelles de son milieu culturel, l’utilisation d’anglicismes est inévitable“ (Dargnat 2008: 34). Diese Entlehnungen englischer Herkunft (cf. Barme 2012: 95; Schweickard 1998: 291b) lassen sich unterteilen in a) Anglizismen, die auch in Frankreich gebraucht werden und die von Referenzwörterbüchern des français standard verzeichnet werden (cf. Dargnat 2008: 34). Hierbei handelt es sich zumeist auch um Internationalismen. Zu dieser Gruppe gehören in Yukonstyle beispielsweise die folgenden integralen Entlehnungen, die „in der entlehnenden Sprache nur lautlich und (zum Teil) graphisch angepaßt werden“ (Schweickard 1998: 293a): Das Adjektiv trash, das im PR als anglicisme familier verzeichnet wird, z.B. in „quelque chose de trash“ (17, 40), „un porte-bonheur trash“ (40); das Adjektiv cool, das im PR als familier und zur Jugendsprache zugehörig aufgeführt wird, wie in „C’est cool“ (27), und das adverbial gebrauchte loser in „Sinon, je trouve ça trop loser de se suicider pour rien“ (64), das vom PR als anglicisme familier gekennzeichnet wird. Für cool und loser finden sich in der Banque de dépannage linguistique (BDL) des Office québécois de la langue française (OQLF) 10 Ersetzungsvorschläge französischer Äquivalente (so beispiels- 10 Die Aufgaben des OQLF umfassen ausgehend von der Charte de la langue française adoptée par l’Assemblée nationale du Québec en 1977 et modifiée le 12 juin 2002 unter anderem „de veiller à ce que le français soit la langue habituelle et normale du travail, des communications, du commerce et des affaires dans l’Administration et les entreprises; d’aider à définir et à élaborer les programmes de francisation prévus par la loi et en suivre l’application. [...] Parmi ses pouvoirs, l’Office peut: [...] assister et informer l’Administration, les entreprises, les individus et les groupes en ce qui concerne la correction et l’enrichissement de la langue française“ (cf. http: / / www.oqlf. gouv.qc.ca/ office/ mission.html [01.02.2015]). Hierzu dient unter anderem die BDL „qui propose des réponses claires aux questions les plus fréquentes portant sur la grammaire, l’orthographe, la syntaxe, le vocabulaire, les anglicismes, la ponctuation, la prononciation, la typographie, les noms propres, les sigles, abréviations et symboles, la rédaction et la communication“ (cf. http: / / www.oqlf.gouv.qc.ca/ ressour ces/ bdl.html [01.02.2015]). Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung 165 weise raté, perdant, minable für loser 11 oder vraiment chouette für cool 12 ), ohne dass jedoch der Gebrauch dieser Anglizismen als „fautif“ gekennzeichnet würde. Anglizismen des Typs a) bilden in Yukonstyle somit eine familiäre und mit der Jugendsprache assoziierte Sprachform ab, die nicht primär an Quebec gebunden ist. Darüber hinaus finden sich in Yukonstyle auch b) integrale Entlehnungen aus dem Englischen, die im français de France nicht gebraucht und daher auch nicht von den entsprechenden Referenzwerken verzeichnet werden (cf. Dargnat 2008: 35), jedoch im DQF lexikographisch erfasst sind und somit eine Form sprachlicher Variation abbilden, die in der diatopischen Dimension an Quebec gebunden ist. Zu diesen Anglizismen des Typs b) zählen beispielsweise die folgenden direkten Entlehnungen aus dem semantischen Bereich des Automobilzubehörs: whipers 13 (51), Plural eines Wortes, das Meney (1999: 1856, s.v. wiper n. masc.) mit der Bedeutung ’essuie-glace’ erfasst, und exhaust (10), im Text metonymisch für die Auspuffgase verwendet und von Meney (1999: 789, s.v. exhaust n. masc.) mit den Bedeutungen ’pot d’échappement’ und ’tuyau d’échappement’ verzeichnet; oder die direkten Entlehnungen cute in „T’étais cute“ (48) (cf. Meney 1999: 611, s.v. cute) und balloune (40) ’ballon en caoutchouc gonflé à l’hélium’, das direkt aus englisch balloon entlehnt ist (cf. Meney 1999: 157-159, s.v. balloune). Eine Art Zwischenstatus nehmen die in Yukonstyle ebenfalls frequent literarisch abgebildeten englischen Fluchwörter und Interjektionen ein. So sind beispielsweise fuck! (17, 42, 43, 60), holy fuck! (23, 37) und shit! (28) nicht im PR erfasst. Doch wird fuck! als direkte Entlehnung aus dem Englischen in jüngerer Zeit ebenfalls im français de France der „jeunes des cités“ verwendet (cf. Meney 1999: 874, s.v. fuck! ), während shit im PR als anglicisme familier mit der Bedeutung ’haschisch’ verzeichnet wird, nicht aber in seiner Funktion als Fluchwort oder Interjektion. Und nicht zuletzt weist Yukonstyle c) etliche morphologisch angepasste Entlehnungen auf, bei denen die lexikalische Basis aus dem Englischen stammt, während angehängte Flexions- oder Derivationsmorpheme aus dem Französischen stammen (cf. Schweickard 1998: 294b; Dargnat 2008: 35), und die das OQLF als anglicismes hybrides verzeichnet. 14 In 11 Cf. OQLF: BDL: http: / / 66.46.185.79/ bdl/ gabarit_bdl.asp? T1=loser&T3.x=0&T3.y=0 [01.02.2015]. 12 Cf. OQLF: BDL: http: / / bdl.oqlf.gouv.qc.ca/ bdl/ gabarit_bdl.asp? Th=2&t1=&id=2643 [01.02.2015]. 13 Die Graphie mit h, die es im Englischen nicht gibt und die Meney (s.v.) nicht verzeichnet, scheint in Quebec im Gebrauch zu sein, so bspw. Tremblay (1993: 181) oder in Verkaufsanzeigen im Internet. 14 Cf. OQLF: http: / / 66.46.185.79/ bdl/ gabarit_bdl.asp? Th=2&t1=&id=4063 [01.02.2015]. Lisa Šumski 166 Yukonstyle liest man beispielsweise in „parce que tu peux pas truster ça, des Indiens“ (17) das Verb truster, bei dem an die englische Basis to trust ein französisches Flexionsmorphem angehängt wird. Hierbei besteht zwischen dem français québécois und dem français de France lediglich ein Bedeutungsunterschied: truster trägt im français québécois die Bedeutung ’faire confiance à qqn; avoir confiance en qqn’, während der PR für das français de France die Bedeutung ’accaparer, monopoliser, comme le font les trusts’ verzeichnet (Meney 1999: 1788, s.v. truster; PR, s.v. truster). Das zugehörige Adjektiv trustable (17) in der Bedeutung ’digne de confiance’ (Meney 1999: 1788, s.v. trustable) hingegen wird nur im DQF lexikographisch erfasst. In dieselbe Kategorie von Entlehnungen gehören shaker ’trembler’ (Meney 1999: 1573, s.v. shaker) von englisch to shake in „T’étais mauve pis tu shakais pis tu gueulais à des corbeaux qui dansaient sur le divan“ (45 sowie 36), flasher ’clignoter’ (Meney 1999: 837, s.v. flasher 2 ) von englisch to flash in „Une van qui ralentit en flashant“ (50) sowie flusher von Englisch to flush in „la toilette flushe pus“ (12, 31), das vom OQLF als „fautif“ verzeichnet wird, wobei zum folgenden Ersetzungsäquivalent geraten wird: „Tout d’abord, flusher, et plus particulièrement flusher la toilette, est employé avec le sens de ’tirer la chasse d’eau’; on remplacera cet emprunt par les locutions tirer ou actionner la chasse (d’eau)“. 15 4 Literarische Abbildung sprachlicher Variation in Yukonstyle und ihre Übersetzung ins Deutsche Ein literarischer Text wie Yukonstyle, der auf unterschiedlichen linguistischen Ebenen und in verschiedenen variationellen Dimensionen Mündlichkeitsphänomene abbildet, stellt Übersetzer und Übersetzerinnen vor Herausforderungen. Die Grundproblematik besteht darin, dass universell als literarische Mittel einsetzbare stilistische Phänomene wie Umgangssprache, regionale Spezifika etc. in den Einzelsprachen unterschiedlich repräsentiert werden. Schreiber spricht von „Unterschiede[n] im Bereich der ’Architektur’ von AS [Ausgangssprache] und ZS [Zielsprache], d.h. [von] Unterschiede[n] hinsichtlich der Gliederung in verschiedene Varietäten“ (Schreiber 2001: 138a). Die Kunst der Übersetzung liegt also darin, sich den Stilebenen des Originals durch mehr oder weniger ähnliche sprachliche Gestaltung mit den Mitteln der Zielsprache möglichst weit anzunähern. Dies gelingt in der Übersetzung von Müller/ Weigand durch 15 Cf. OQLF: BDL: http: / / 66.46.185.79/ bdl/ gabarit_bdl.asp? id=4663 [01.02.2015]. Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung 167 den konstanten Einsatz von allgemeinen Merkmalen der langue parlée wie Wiederholungen, Selbstkorrekturen, Satzabbrüchen usw. Gleichzeitig gehen notwendigerweise diejenigen Elemente in der Übersetzung verloren, die auf der lautlichen, morphosyntaktischen und lexikalischen Ebene für das kanadische Französisch typisch sind, da keine regionale Varietät des Deutschen dasselbe Verhältnis „übersetzen“ kann, das zwischen dem français québécois und dem français de France in seiner soziohistorisch gewachsenen Besonderheit besteht. Der Verlust der diatopischen Markierung in der Übersetzung lässt sich insofern nicht umgehen, weil regionale Varietäten allgemein kaum adäquat in einen anderen Sprachraum übertragen werden können, da die jeweiligen diatopischen Varietätengefüge jeweils spezifische, historisch gewachsene Systeme mit bestimmten Ausprägungen und innersystematischen Zusammenhängen darstellen. So geht in Yukonstyle die lautliche Besonderheit in „Je veux pas, c’est toute“ (13) in der Übersetzung mit „Ich will nicht, das ist alles“ (14) verloren, ebenso die Fragepartikel -tu in „Il fait-tu ben frette? “ (22) in der Übersetzung mit „Ist es richtig kalt? “ (23) und die lexikalische Besonderheit des Verbs flusher in der Übersetzung von „la toilette flushe pus“ (12) mit „Die Klospülung geht nicht“ (14). Die lexikalische Vielfalt der frankokanadischen sacres reduziert sich im Deutschen auf scheiße und verdammt: „Crisse, Dad’s“ (24) — „Verdammt, Dad’s“ (25); „Crisse. T’es gelée“ (41) — „Scheiße. Du bist eiskalt“; — „Câlisse. J’ai ... J’aurais pu ... Crisse. Tu m’as fait peur“ — „Scheiße. Ich hab ... Ich hätte beinah ... Scheiße. Du hast mir Angst gemacht“ (57). Auch funktional äquivalente Wörter wie bei der Übersetzung von „C’est fucké“ (25) in der Bedeutung ’c’est dingue’ (Meney 1999: 875, s.v. fucké) mit „Krass“ (26) bilden zwar eine ähnliche Dimension mündlicher Umgangssprache ab, nicht aber die diatopische Markierung des Originals. Ähnliches gilt natürlich auch für Übertragungen im Bereich der Lexik, die semantisch nah am Originaltext bleiben, wenn beispielsweise das frankokanadische „faire du pouce“ mit „den Daumen raushalten“ übersetzt wird. Eine größere Äquivalenz zwischen Original und Übersetzung scheint auf den ersten Blick im Bereich derjenigen Entlehnungen aus dem Englischen zu entstehen, die als Internationalismen auch im Deutschen verwendet werden. So wird „dans sa robe de lolita trash“ (10) zu „in einem trashigen Lolita-Kleid“ (14); „Mais quelque chose de trash, là“ (17) zu „Aber echt, so richtig trashig“ (18); „Anyway, je m’en fous“ (13) zu „Anyway, ist mir wurscht“ (14); „T-shirt“ (14) zu „T-Shirt“ (16); „pick-Up“ (15) zu „Pick-Up“ (16) und „Fuck! “ (17) zu „Fuck! “ (18). Doch kann auch hier nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass diese Internationalismen in den beiden Sprachen exakt denselben Lisa Šumski 168 oder auch nur einen ähnlichen Stellenwert haben. Was bei Gegenständen wie T-Shirt und Pick-Up noch als wahrscheinlich gelten könnte, driftet bei der Verwendung und v.a. der Markierung der Interjektion „Fuck! “ sicherlich schon weit auseinander und insbesondere ist die Sprachkontaktsituation mit dem Englischen in Quebec eine grundsätzlich andere als in Deutschland. 5 Schlussbemerkung Die Analyse der französischen Fassung von Yukonstyle im Hinblick auf die literarische Abbildung der langue parlée hat gezeigt, dass das Theaterstück von Sarah Berthiaume nicht nur bezogen auf die sprachliche Situation in Quebec, sondern auch bezogen auf allgemeine Phänomene literarischer Mündlichkeit einen lohnenswerten Untersuchungsgegenstand darstellt. Das Theaterstück bildet auf der lautlichen, morphosyntaktischen, textpragmatischen und lexikalischen Ebene sowohl Merkmale des français québécois parlé populaire als auch des français parlé ab, und dies in einem deutlich höheren Ausmaß, als es im Rahmen des vorliegenden Beitrags dargestellt werden konnte. Der besondere Reiz des Stückes besteht darin, dass die französische und die deutsche Fassung es schaffen, die Illusion einer „realen“ aktuellen Alltagssprache einer bestimmten sozialen Schicht auf der Bühne zu erzeugen. Diese Wirkung entsteht sicherlich zum Großteil durch den Einsatz einer zum Teil recht ungeschliffenen Alltagssprache, deren deutsches Äquivalent auch in der Übersetzung erreicht wird. Abschließend möchte ich drei Aspekte nennen, denen sich weitergehende Untersuchungen mit Gewinn widmen könnten: Erstens wäre es interessant, Frequenz- und Phänomenunterschiede zwischen authentischen Korpora und der literarischen Abbildung von Mündlichkeit in Yukonstyle verstärkt herauszuarbeiten. Dies könnte beispielsweise in Anlehnung an Dargnat geschehen, die eine solche Analyse bezogen auf fünf Theaterstücke Tremblays bereits durchgeführt hat. Zweitens könnte man für einen multilateralen Vergleich der Übersetzungsstrategien neben der deutschen Fassung von Yukonstyle von Christa Müller und Frank Weigand auch die englische Übersetzung von Nadine Desrochers sowie die spanische und katalanische Übersetzung von Alberto Arribas heranziehen. Drittens könnte man ausgehend von Videoaufnahmen der Theaterstücke analysieren, in welcher Form und bis zu welchem Grad tatsächliche Aufführungen die Merkmale der literarisch im geschriebenen Theatertext abgebildeten Mündlichkeit umsetzen. Dies wäre interessant, weil sich natürlich jede Sprachliche Variation in Quebec und Möglichkeiten der Übersetzung 169 konkrete Aufführungssituation von dem geschriebenen Theatertext hinsichtlich der tatsächlichen sprachlichen Realisierung unterscheidet. Manche Phänomene des mündlichen Sprechens, wie Akzent und Intonation, werden in Schriftfassungen von Theaterstücken in der Regel nicht angegeben (cf. Freunek 2007: 27). Die Schauspieler passen sich zudem ihrem jeweiligen Zielpublikum immer auch sprachlich an und haben gewisse Freiheiten in der Umsetzung auf der Bühne: so weisen beispielsweise Mitschnitte von Yukonstyle-Aufführungen aus Montréal, die auf Youtube konsultierbar sind, noch zahlreiche weitere phonetische Merkmale des frankokanadischen Französisch auf, die keine Entsprechung in der schriftlichen Textfassung haben. Bibliographie Primärquellen Berthiaume, Sarah (2012): Yukonstyle. 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Sie ist zehn Jahre alt, als ihre Familie vor dem Nationalsozialismus nach Mexiko flieht. Sie wird Journalistin und erwirbt sich mit ihrem ironischen und respektlosen Stil einen Namen. Trotz ihrer gesellschaftlichen Abstammung setzt sie sich thematisch zunehmend mit dem Leben der Marginalisierten und politisch Unterdrückten, mit Frauenrechten und sozialer Gerechtigkeit auseinander. Bei der Verleihung des Premio Cervantes im April 2014 betitelt El País Poniatowska unter Bezugnahme auf ihre Preisrede als „Sancho Panza para los sin tierra“ (Sabogal: 24.04.2014), ein Zitat, das auf sehr blumige Weise ihr gesellschaftspolitisches Engagement widerspiegelt. Als eines ihrer bekanntesten Werke gilt La noche de Tlatelolco (1970), das die blutige Niederschlagung der Studentenproteste von 1968 zum Gegenstand hat. Im Jahre 1969 publiziert sie das romanartige Werk Hasta no verte Jesús mío, für das sie 1970 mit dem Premio Mazatlán ausgezeichnet wird. Der Roman, sofern er dieses Etikett aufgrund seiner hybriden, interviewartigen Erzählstruktur verdient (Jörgensen 1994: 28), basiert im Wesentlichen auf der Lebensgeschichte einer Bäuerin - sie heißt im Text Jesusa Palancares -, einer Frau aus dem armen Süden Mexikos, die während der mexikanischen Revolution als Soldatin dient und nach einem Leben voller Entbehrungen, Gewalt und Ungerechtigkeiten schließlich als Dienstmädchen in Mexiko City endet. Poniatowska zeichnet in ihrem Werk durch die Wahl der sprachlichen Mittel die Interviewsituation nach, auf der der Text zu beruhen scheint; die Person des Interviewenden wird aber nur insofern sichtbar, als die 1 Zu biographischen Informationen cf. Navascués (2007: 436ss.). Judith Visser 174 Hauptperson in ihren Ausführungen gelegentlich durch Kontaktsignale wie mire deren Präsenz in Erinnerung ruft: (1) No me acuerdo si fue esta mano la que levanté pero la tengo señalada, la izquierda; me entró el machetazo en la espalda. Mire, me abrió [hier und bei den nachfolgenden Beispielen: eigene Kursivsetzung, J.V.] (Poniatowska 1969/ 42 2007: 98). Bei der „Wiedergabe“ der Erzählungen Jesusas - das Setzen von Anführungszeichen ist beabsichtigt, weil nicht eindeutig geklärt ist, in welchem Ausmaß der Roman tatsächlich die Lebensgeschichte der Vorlage, Josefina Bórquez, wiedergibt (Jörgensen 1994: 28) 2 - bedient sich Poniatowska verschiedener Strategien der Literarisierung von Mündlichkeit, die in der Romanistik spätestens seit der Studie von Andreas Blank (1991) zu Louis- Ferdinand Céline und Raymond Queneau besondere Beachtung gefunden haben. So enthält Beispielsatz (2) drei Elemente, die Mündlichkeit und eine informelle Kommunikationssituation suggerieren: (2) Bueno, pa que veas, pásame unos chaparritos [...] (Poniatowska 1969/ 42 2007: 92), und zwar das Gliederungsbzw. Anfangssignal bueno, die Allegroform (Oesterreicher 2012: 143) pa (statt para) sowie die Diminutivbildung chaparritos, bei der es sich nach Angaben des Diccionario de americanismos der ASALE (2010) um eine Metapher für Personen kleiner Statur handelt, deren Gebrauch in der Schriftsprache als popular gilt, also in bestimmten Kontexten sozial markiert ist: adj./ sust. Mx, Gu, Ho, ES, Ni, Pa, PR, Bo, pop + cult  espon; CR, p.u. Referido a una persona, de baja estatura [eigene Fettdrucksetzung, J.V.] (ASALE 2010, s.v. chaparro, a). Auf eine derartige sozial markierte Sprachverwendung soll mit dem Terminus Substandard bzw. substandardsprachlich referiert werden. Die Literarisierung der Mündlichkeit in Hasta no verte Jesús mío ordnet Borsò in einer Studie von 1997 dem realismo testimonial bzw. naturalismo mexicano zu, der sich dem Ziel verschrieben habe, den Marginalisierten eine Stimme zu geben und das kollektive Gedächtnis des Landes in Aufruhr zu setzen: 2 „Based in part on the testimony of an elderly laundrywoman who Poniatowska met in the early 1960s, this novel has sparked an ongoing debate over the status of authorship and referentiality in a literary text which blends the documentary and the fictional into a seamless narrative” (Jörgensen 1994: xvi). Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 175 Es propiamente para perturbar la memoria - o desmemoria - colectiva basada sobre el mito de la revolución, la mitomanía general y mestizofilia nacionalista de la cultura oficial mexicana que surgió, a partir del 68, un florilegio de textos de crónicas, cuyo discurso es modulado según la lógica aleatórica del habla oral. La historia de la literatura menciona este tipo de textos bajo el concepto de realismo testimonial - o de naturalismo mexicano (Mempo Giardinelli). De hecho, los textos introducen testimonios, en forma de simulación de grabaciones o en forma de transcripción de grabaciones reales orales como en el caso de Hasta no verte Jesús mío de Elena Poniatowska. Con el habla oral se introduce la perspectiva marginalizada (Borsò 1997: 129). Von besonderer Bedeutung erscheint der Schluss des Zitats, der ausdrücklich darauf verweist, dass „[d]urch die Mündlichkeit [...] die Perspektive der Marginalisierten eingeführt [eigene Kursivsetzung und Übersetzung, J.V.]“ wird. Die Hauptperson, Jesusa Palancares, gehört zum Rande der Gesellschaft. Sie ist analphabetische Mestizin (Jörgensen 1994: 30), kommt als Soldatin und Arbeiterin weit in Mexiko herum und führt ein Leben inmitten des Abschaums der Gesellschaft, umgeben von gewalttätigen Prostituierten, Trinkern, Transvestiten und Bettlern. Poniatowskas Werk enthält viele Textstellen, die diese soziale Herkunft nicht nur durch die Mimesis von Mündlichkeit sprachlich widerspiegeln: Die Autorin lässt ihre der mexikanischen Unterschicht zugehörigen Protagonisten zahlreiche Konstruktionen verwenden, die dem español mexicano popular, also einem potentiell, d.h. je nach kommunikativem Kontext, sozial stigmatisierten Substandard zuzuordnen sind. Nicht nur die Literarisierung von Mündlichkeit, sondern auch diejenige von Substandard dient also offensichtlich der Figurencharakterisierung (Czennia 2004: 509) und dürfte somit als zentrales Element des Romans gewertet werden. Hasta no verte Jesús mío ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden: 1980 erscheint es im Französischen mit dem Titel Vie de Jésusa (Übersetzer: Michel Sarre), 1982 im Deutschen unter dem Titel Allem zum Trotz... Das Leben der Jesusa (Übersetzerin: Karin Schmidt), 2001 im Englischen, Here’s to You, Jesusa! (Übersetzerin: Deanna Heikinnen). Die Wiedergabe von Varietäten bzw. von „Texten [mit] großer sozio-stilistischer Variabilität“ (Albrecht 1981) ist für Übersetzer eine Herausforderung, weil die Diasysteme der verschiedenen Sprachen unterschiedlich ausgeprägt sind und die Akzeptanz gegenüber z.B. diatopisch oder diastratisch markierten Elementen in der Literatur in den verschiedenen Kulturen differiert. 3 3 Für diesen Hinweis danke ich Carsten Sinner. Judith Visser 176 Als anspruchsvoll und bislang noch wenig erforscht dürfte die Übersetzung von Werken aus der spanischsprachigen Romania Nova eingestuft werden, weil sich hispanoamerikanische Varietätengefüge durch besondere Charakteristika auszeichnen und es auch im 21. Jahrhundert nach wie vor an sprachnormativen Werken und systematischen varietätenlinguistischen Überblicksdarstellungen zum hispanoamerikanischen Spanisch mangelt. Anhand eines repräsentativen Kapitels aus Hasta no verte Jesús mío soll durch einen Übersetzungsvergleich erstens illustriert werden, worin die Herausforderungen und Probleme bei Übersetzungen aus dem mexikanischen Spanisch bestehen bzw. bestehen könnten, um zweitens aufzuzeigen, in welcher Weise sich die Übersetzer diesen stellen. Die Analyse, der eine kurze Einführung in Spezifika des mexikanischen Spanisch und in das Normengefüge der hispanophonen Welt vorangestellt wird, konzentriert sich neben der französischen Übersetzung von 1980 und der deutschen von 1982 deshalb auch auf die englische von 2001, weil diese ca. 20 Jahre später erschienen ist als die anderen und damit möglicherweise erlaubt, bestimmte Hypothesen an neueren Zieltexten zu überprüfen. Probleme bei der Übersetzung von Varietäten werden in der Forschung erst seit wenigen Jahrzehnten umfassender und einzelwerkübergreifend diskutiert (Greiner 2004: 902), sodass denkbar ist, dass Zieltexte aus unterschiedlichen Zeiträumen Einblicke in einen möglichen Wandel im Umgang mit Varietäten geben. 2 Substandardsprachliche Elemente in Hasta no verte Jesus mío 2.1 Das mexikanische Spanisch Als Basis für die Analyse der Übersetzungen erscheint zunächst ein Überblick über ausgewählte Charakteristika des mexikanischen Spanisch sinnvoll. Um zu demonstrieren, in welchem Maß Poniatowska eine Literarisierung von Mündlichkeit und Substandard betreibt, konzentriert sich dieser auf die im untersuchten Roman vorkommenden sprachlichen Merkmale. Das Spanische Mexikos, des bevölkerungsreichsten hispanophonen Landes der Erde, gilt im Vergleich mit vielen anderen Gebieten Hispanoamerikas als relativ gut erforscht (Visser 2010: 57). Der habla culta der Hauptstadt weicht nur in einigen wenigen Elementen von der europäischen Norm ab (Gugenberger 2012: 109). Substantieller sind dagegen die Unterschiede zwischen dem gesprochenen Mexikanischen und dem euro- Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 177 päischen Spanisch (ibid.), also dem gesprochenen Spanisch, das Poniatowska in ihrem Werk nachzuahmen versucht. Mit einigen wenigen Ausnahmen erweist es sich als schwierig, sprachliche Charakteristika, die das mexikanische Spanisch vom europäischen unterscheiden, eindeutig Mexiko zuzuordnen; i.d.R. handelt es sich um Merkmalsausprägungen, die in vielen anderen hispanophonen Ländern ebenfalls präsent sind. Auf lautlicher Ebene zeichnet sich das mexikanische Spanisch u.a. durch eine Tendenz zur Diphthongierung der Hiate / ea/ , / eo/ , / oa/ und / oe/ aus (Gugenberger 2012: 110). In Beispiel (3) tritt im indefinido der Diphthong [ja] an die Stelle des Hiats [ea], die Verbformen lauten standardsprachlich se volteó bzw. se voltearon: (3) Éste fue el más grave porque la máquina se voltió y se voltiaron como seis o siete carros (Poniatowska 1969/ 42 2007: 95). Im morphosyntaktischen Bereich gelten mit dem Verb ir gebildete Gerundivperiphrasen des Typs (4) Los pelotones de soldados más torpes son los de cinco para que entiendan mejor, y hay que cuidarlos porque no saben ni a qué le van tirando... (Poniatowska 1969/ 42 2007: 93), die sehr verschiedene aspektuelle Bedeutungen aufweisen, als mexikanische Besonderheit (Gugenberger 2012: 112). Weitere morphosyntaktische Charakteristika sind die Verbindung des „Enklitikon[s] le in Verbindung mit Verben im Imperativ […]“(ibid.): (5) „Camina, chencha, ándele“ (Poniatowska 1969/ 42 2007: 97), die Verwendung des Verbs entrar mit der Präposition a: (6) Cuando nos quedábamos en alguna estación que se bajaba la caballada uno podía entrar a los carros y tres o cuatro oficiales se metían con sus mujeres; cada quien agarraba su lugar, pero a Pedro no le gustaba el asunto ése de que los demás se dieran cuenta y nunca me llamó (Poniatowska 1969/ 42 2007: 96), einige spezifische Genusformen (Vaquero de Ramírez 2 1998: 11; Visser 2010: 189, 261), die stärker als in Europa in der Norm akzeptiert sind, in Beispiel (7) z.B. der Gebrauch des maskulinen Artikels bei radio: (7) Tampoco les creí cuando salió allí en el radio que tenía su mujer y sus hijas, puras mentiras pues qué (Poniatowska 1969/ 42 2007: 95s.), Judith Visser 178 und die aus normativer Sicht falsche Pluralkongruenz bei Pronominalkonstruktionen des Typs se lo (z.B. Company Company 1992; DeMello 1992, 1997; Rivarola 1985): (8) Tampoco les creí cuando salió allí en el radio que tenía su mujer y sus hijas, puras mentiras pues qué. ¿Cuál familia? Eso no se los creo yo ni porque me arrastren de lengua... (Poniatowska 1969/ 42 2007: 95s.). In (8) verweist das direkte Pronomen lo eigentlich auf die Gesamtaussage, nämlich die Behauptung, der von der Protagonistin nicht zuletzt wegen seines Umgangs mit Frauen verhasste Freiheitskämpfer Pancho Villa habe eine Familie gehabt, es müsste also im Singular stehen. Der Pluralmarker wird an lo angefügt, obwohl das unveränderliche indirekte Pronomen se für eine Gruppe an Personen steht, und dies offenbar deshalb, weil der Sprecher das Bedürfnis zu verspüren scheint, den Plural wiederzugeben. Das Beispiel enthält ein weiteres mexikanisches Charakteristikum, nämlich die aus europäischer Sicht archaische Tendenz zur Verwendung des Interrogativpronomens cuál statt qué (Visser 2010: 442s.). Der Anteil der Indigenismen ist im Standard relativ gering, wenn man von notwendigen Entlehnungen z.B. aus den Bereichen Flora und Fauna absieht. Mit sinkendem Bildungsniveau und stärkerer diatopischer Einfärbung wächst die Zahl der Lehnwörter aus den zahlreichen indigenen Sprachen (Gugenberger 2012: 112s.): (9) [...] cuándo no andan culeando, se meten al chichichaque, al chimiscolee, a ver a quién arruinan con sus embrollos: [...] (Poniatowska 1969/ 42 2007: 100). Die Substantive chichichaque und chimiscolee verweisen auf indigene Basen. Chimiscolee steht wohl in Bezug zu dem Substantiv chimiscol, das auf das Nahua-Wort xim-ixcolli ‘toma un trago‘ zurückgeht (ASALE 2010, s.v. chimiscol); den Ausführungen des Diccionario de mejicanismos von Santamaría folgend dürfte es in etwa mit ‘meterse en casa ajena‘, ‘sich in fremde Angelegenheiten einmischen‘ wiedergegeben werden ( 3 1978, s.v. chimiscol, chimiscolear, chimoscoleo). Chichichaque ist in gängigen Wörterbüchern zu Mexikanismen und Amerikanismen nicht verzeichnet. Vermutlich besteht ein Zusammenhang mit chichicaste, einer aztekischen Bezeichnung für eine Brennnesselart, die metaphorisch für eine zur Ironie neigende, die Konfrontation suchende Person verwendet werden kann: fig. fam. Dícese de la persona mordaz, ironista, sangrienta en la burla y en la sátira. También se aplica al colérico, irritable, de pocas pulgas (Santamaría 3 1978, s.v.). Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 179 Typisch für das gesprochene amerikanische Spanisch allgemein ist auch der hohe Anteil an Diminutiv- und Augmentativformen, der sogar bei Adverbien und Partizipien belegt ist: (10) Los chiquitos, los jovencitos, como no comprendían, se metían adelante, total, allí se quedaban tirados y ya (Poniatowska 1969/ 42 2007: 92). (11) Y el otro, sin tanates, como tenía que obececer mandó corriendito el dinero... (Poniatowska 1969/ 42 2007: 133). (12) Y de esa enterrada se abrieron los carros y murieron muchos caballos y bastantita gente (Poniatowska 1969/ 42 2007: 95). (13) Juan Espinosa y Córdoba era un indio negro, estaba feo el viejo, altote y gordo (Poniatowska 1969/ 42 2007: 93). Charakteristisch für Mexiko und viele andere hispanoamerikanische Sprachräume, bei denen es sich der Terminologie Coserius (z.B. 1988) folgend nicht um so genannte primäre Dialekte handelt, ist die Tatsache, dass sich keine klaren diatopischen Zuordnungen sprachlicher Phänomene vornehmen lassen (Gleßgen 2003; Visser 2010). Gerade grammatikalische Charakteristika des Substandards sind daher in Mexiko i.d.R. im gesamten Land dokumentiert. Dies unterscheidet das mexikanische Spanisch vom Deutschen, das nach Schreiber (2006: 107) „eine immer noch relativ stark diatopisch gegliederte Sprache ist, die nicht über eine vollständig überregionale Umgangssprache verfügt“. Es ergeben sich folglich Probleme, wenn ein Werk aus einer „eher diastratisch-diaphasisch gegliederten Sprache“ (ibid.), also z.B. das Buch eines mexikanischen Autors, in das Deutsche übersetzt werden muss. Schreiber erachtet es in solchen Fällen als „nahezu unmöglich, im Substandard verfasste Texte stilistisch adäquat zu übertragen“ (ibid.). Diese Problematik dürfte darin münden, dass die Übersetzer versuchen, die Stilebene beizubehalten, indem sie auf regional markierte Elemente zurückgreifen, oder dass sie auf die Standardsprache ausweichen (ibid.). 2.2 Mexikanische Norm - europäische Norm - panhispanische Norm? Beim mexikanischen Spanisch ist der Übersetzer aber nicht nur mit dem Problem konfrontiert, wie er Substandard übersetzt, sondern auch, wie er ihn überhaupt erst als solchen identifiziert, und nicht zuletzt, wie er Substandard von anderen Varietätendimensionen abgrenzt bzw. mit der Tatsache umgeht, dass die „Varietätensysteme verschiedener Sprachen nicht deckungsgleich ausfallen“ (Greiner 2004: 903). Judith Visser 180 Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts setzt sich in der Forschung zunehmend die Erkenntnis durch, dass es sich beim Spanischen um eine so genannte plurizentrische Sprache handelt (cf. Lara 2004; Lebsanft 1998, 2004, 2007; Oesterreicher 2001; Visser 2010: 156ss.). Unter dieser Plurizentrik versteht man die Tatsache, dass der heutige Varietätenraum des Spanischen nicht monolithisch mit dem des europäischen Spanisch zusammenfällt, sondern [...] mehrere Regionalstandards kennt, die nicht als diatopische Varietäten definierbar sind, sondern selbst den Bezugspunkt für die Markierungen im jeweiligen Varietätenraum darstellen [kursiv i. Orig.] (Oesterreicher 2012: 143). Das Spanische verfügt also nicht über einen einzelnen Bezugspunkt für die sprachliche Norm, sondern über verschiedene normative Zentren, eine Erkenntnis, die sich inzwischen auch in der traditionell von der Real Academia Española dominierten Lexiko- und Grammatikographie durchsetzt. Aus dieser Beobachtung ist abzuleiten, dass ein Übersetzer, der einen literarischen Text aus dem mexikanischen Sprachraum ins Deutsche, Französische oder Englische übertragen muss, all diejenigen Formen, die nur in eurozentrischer Perspektive eine diatopische oder diastratische Markierung aufweisen, in der Zielsprache durch ein unmarkiertes Äquivalent wiederzugeben hat, weil im mexikanischen Originaltext die entsprechende sprachliche Form eben nicht als Regionalismus oder Substandard wahrgenommen wird. Trifft ein Übersetzer in einem mexikanischen Text beispielsweise auf das Lexem guajolote, dem im europäischen Spanisch pavo entspricht, ist im Zieltext das im Deutschen diatopisch nicht markierte Äquivalent Truthahn zu wählen, weil guajolote in der mexikanischen Norm etabliert ist (Visser 2010: 231s.). Wird er jedoch mit einem Terminus konfrontiert, der auch innerhalb Mexikos als Regionalismus wahrgenommen wird - für Truthahn wären hier u.a. jolote, tuna, chompipa o.Ä. zu nennen (Alvar 1969: 181; Visser 2010: 231s.; ALMex, Karte 482) - muss er sehr wohl darüber nachdenken, welche Funktion dieser Regionalismus im Text erfüllt und ob diese Funktion im Übersetzungsprozess berücksichtigt werden sollte. Im lexikalischen Bereich kann der Übersetzer bei Entscheidungen dieser Art auf Referenzwerke zurückgreifen: Dank Luis Fernando Lara (DEUM 2 2002) liegt für Mexiko im Gegensatz zu vielen anderen hispanoamerikanischen Ländern ein Wörterbuch vor, das die Norm im Bereich des Lexikons definiert. In der Grammatik ist dies jedoch nicht der Fall. Dies wird auch durch die Ende 2009 erschienene, panhispanisch und plurizentrisch konzipierte Nueva Gramática de la Lengua Española der Asociación de Academias de la Lengua Española (NGRAE 2009) allenfalls in Ansätzen kompensiert. Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 181 Das Problem kann anhand eines substandardsprachlich markierten Beispiels aus Hasta no verte Jesús mío illustriert werden: Poniatowska lässt ihre Protagonistin mehrfach eine grammatikalische Konstruktion verwenden, die im mexikanischen Spanisch weit verbreitet ist, und zwar die Generalisierung des Reflexivpronomens sí für alle Personen des Verbalparadigmas im Syntagma volver en sí (Visser 2010: 416, 421ss.; Kany 1969: 153): (14) Cuando volví en sí estaba en el carro del ferrocarril donde vivíamos y toda deshecha del lomo. Entonces me preguntaron las muchachas: [...] (Poniatowska 1969/ 42 2007: 98). Grammatikalisch korrekt wäre die Verwendung des Pronomens mí; die Auswertung der entsprechenden Karte des morphosyntaktischen Bandes des mexikanischen Sprachatlas (Visser 2010: 424) zeigt, dass die Form mit sí in den 70er Jahren, in denen die Befragungen für den Atlas stattfanden, von 83% der Befragten benutzt wurde, also im Usus absolut verankert war und vermutlich noch ist. Differenziert man dieses Ergebnis nach Bildungsniveaus, stellt man jedoch fest, dass mehr als die Hälfte der gebildeten Sprecher die Variante mit mí bevorzugt. Legende: C = culto; SC = semiculto; M = de cultura media; SA = semianalfabeto; A = analfabeto Abbildung 1: Der Gebrauch des Syntagmas volví en sí in Abhängigkeit vom Bildungsniveau Auch wenn volví en sí gerade im gesprochenen Mexikanischen zweifellos sehr weit verbreitet und üblich zu sein scheint, existiert folglich offenbar trotzdem ein Bewusstsein dafür, dass es sich hierbei um eine sprachliche Judith Visser 182 Form handelt, die aus dem español popular Eingang ins Standardmexikanische gehalten hat, aber nach wie vor eine gewisse Stigmatisierung aufweist. Der Übersetzer muss also hier die Entscheidung treffen, ob er versucht, diesen Umstand im Zieltext wiederzugeben oder nicht. Dies dürfte davon abhängig sein, ob er glaubt, dass die Autorin die Konstruktion bewusst wählt, um das Analphabetentum ihrer Protagonistin hervorzuheben. 2.3 Mexikanischer Substandard: Übersetzungsstrategien Betrachtet man die Konstruktion im Übersetzungsvergleich, stellt man fest, dass weder die deutsche noch die englische Übersetzerin die substandardsprachliche Konnotation der Äußerung wiederzugeben scheinen: (14) (a) Cuando volví en sí estaba en el carro del ferrocaril donde vivíamos y toda deshecha del lomo (Poniatowska 1969/ 42 2007: 98). (b) Als ich wieder zu mir kam, lag ich in dem Eisenbahnwaggon, in dem wir untergebracht waren, und mein ganzer Rücken war zerschunden (Poniatowska 1982: 114). (c) Quand je suis revenue à moi, j‘étais dans le wagon de chemin de fer que nous habitions, le dos en compote (Poniatowska 1980: 122). (d) When I came to, I was in the railroad car where we lived and my back was all cut up (Poniatowska 2001: 97). Selbstverständlich kann der Übersetzer gewöhnlich in der Zielsprache nicht auf eine grammatikalische 1: 1-Entsprechung zurückgreifen. Dem Konzept der versetzten Äquivalenz folgend (Albrecht 1981: 326) kann er entweder andere substandardsprachlich markierte Konstruktionen wählen, wie es der französische Übersetzer tut, wenn er sich für die locution familiale „le dos en compote“ (PRob 2001, s.v. compote) entscheidet, oder, wenn er den Gebrauch von volví en sí lediglich als Ausdruck einer Literarisierung von Mündlichkeit und nicht als Versuch der sozialen Charakterisierung der Protagonistin interpretiert, zumindest auf diaphasisch markierte Elemente zurückgreifen. Bei dem hier betrachteten Beispiel ist dies im Deutschen und Englischen jedoch - zumindest im unmittelbaren Satzkontext - nicht der Fall; im Gegenteil: Die deutsche Übersetzerin wählt durch die Verwendung des Verbs zerschunden im zweiten Teil des Satzes Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 183 sogar eher eine gehobene Stilebene. 4 In diesen Übersetzungen geht also verloren, dass Poniatowska ihre Protagonistin als ungehobelte Analphabetin aus dem Volk zeichnet. Weitere Textbelege stützen den Eindruck: In (15) wird im Text beim Substantiv hacha, bei dem aus morphonologischen Gründen im Spanischen standardsprachlich der Artikel el steht (NGRAE 2009: §2.1e), die feminine Form la verwendet: (15) (a) Parecía hecho con el mocho de la hacha (Poniatowska 1969/ 42 2007: 93). (b) Er schien mit der stumpfen Seite der Axt geschnitzt worden zu sein (Poniatowska 1982: 109). (c) Il avait l’air taillé avec une hache ébréchée (Poniatowska 1980: 115). (d) He looked like he’d been carved with the blunt end of an ax (Poniatowska 2001: 92). Diese ist, wie Auswertungen zum mexikanischen Sprachatlas zeigen (AL- Mex, Karte 463; Visser 2010: 215), besonders in den niedrigen Bildungsschichten weit verbreitet, aber nicht die im Land quantitativ dominierende Form. Wieder fehlen in den Übersetzungen im unmittelbaren Satzkontext Äquivalente für diese sozial markierte Sprachverwendung. Im gleichen Abschnitt des Kapitels wird das Adjektiv güera in diminuierter Form gebraucht: (16) (a) [...] tenía una mujer bonita, bonita y güerita [...] (Poniatowska 1969/ 42 2007: 93). (b) [...] er hatte eine schöne Frau, schön und blond [...] (Poniatowska 1982: 109). (c) [...] il avait une jolie femme, une jolie petite blonde [...] (Poniatowska 1980: 115). (d) He did have a pretty blond wife [...] (Poniatowska 2001: 92). Güera ist eine amerikanische Variante von rubia und wird der habla popular bzw. espontánea zugeordnet: güero, a. I.1. adj/ sust. Mx, Ho. Referido a persona, que tiene los cabellos rubios. pop + cult  espon. [...] (ASALE 2010, s.v.). 4 Sofern nicht angemerkt, findet sich in den als nicht substandardsprachlich identifizierten Übersetzungen auch im größeren Kontext kein Äquivalent für die markierte Sprachverwendung der Protagonistin. Judith Visser 184 Der Substandard spiegelt sich in der französischen und englischen Übersetzung durch die Verwendung von gueule bzw. old guy wesentlich deutlicher wider als in der deutschen, die zwar mit der „Rechtsherausstellung“ (Schwitalla 2012: 114) bei „sehr jung noch, die Kleine“ Mündlichkeit nachahmt, aber nicht zuletzt mit „beleibt“ und „arger Schreihals“ abermals ein eher gehobenes Stilniveau wählt: 5 (16) (b) Juan Espinosa y Córdoba war ein Indio, dunkelhäutig, alt und häßlich, sehr groß und beleibt. Er schien mit der stumpfen Seite der Axt geschnitzt worden zu sein. Eins muß man ihm lassen, er hatte eine schöne Frau, schön und blond, die er aus Chilpancingo mitgebracht hatte, sehr jung noch, die Kleine. Espinosa y Córdoba hatte einen spitz zulaufenden Mund, und wir nannten ihn deshalb auch „der Gerüsselte“. Er war ein arger Schreihals: [...] (Poniatowska 1982: 109). (c) Juan Espinosa y Córdoba était un Indien noiraud, il était laid et vieux, très grand et gros. Il avait l’air taillé avec une hache ébréchée. ça, il avait une jolie femme, une jolie petite blonde qu’il s’était ramenée de Chilpancingo, toute jeune la petite. Espinosa y Córdoba avait la bouche étirée vers l’avant et on l’appelait aussi „le tapir”. C’était une grande gueule (Poniatowska 1980: 115). (d) Juan Espinosa y Córdoba was a dark-skinned Indian. The old guy was ugly, very tall and fat. He looked like he’d been carved with the blunt end of an ax. He did have a pretty blond wife that he brought with him from Chilpancingo, quite a young girl. Espinosa y Córdoba had a pointed mouth and we also called him El Trompudo, or Big Snout. He was a yeller: [...] (Poniatowska 2001: 92). In Beispiel (3) und (17) geht es um die einführend angesprochene Tendenz, im mexikanischen Spanisch den Hiat <ea> in den Diphthong <ia> zu verwandeln, ein Phänomen, dessen Grad an Markiertheit nicht zufriedenstellend geklärt ist, das aber ebenfalls als typisch für den Sprachgebrauch niedriger Bildungsschichten betrachtet werden kann. Auch hier spiegelt sich die substandardsprachliche Ausdrucksweise der Protagonistin in den Übersetzungen wenig oder gar nicht wider: In Beispiel (3) ent- 5 Auch die Übersetzung der „Gerüsselte” für El Trompudo erscheint zu literarisch. Interessant ist, dass der französische Übersetzer hier auf eine Tiermetapher zurückgreift, um das Aussehen des Generals anschaulich in einem Spitznamen widerzuspiegeln. Cf. dazu auch die Definition im Diccionario der Real Academia Española: „Mamífero de Asia y América del Sur, del orden de los Perisodáctilos, del tamaño de un jabalí, con cuatro dedos en las patas anteriores y tres en las posteriores, y la nariz prolongada en forma de pequeña trompa [eigene Kursivsetzung, J.V.]“ (DLE, s.v. tapir). Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 185 scheidet sich der französische Übersetzer immerhin für das im Petit Robert als fam. markierte bobine (‘figure, tête‘, 2001, s.v.): (3) (a) A Santa Rosalía nos tocó un descarillamiento que hasta se nos telespearon los carretes del espinazo. Éste fue el más grave porque la máquina se voltió y se voltiaron como seis o siete carros (Poniatowska 1969/ 42 2007: 95). (b) In Santa Rosalía erlebten wir eine jener Entgleisungen, die einem die Wirbelsäule ineinanderstauchen. Das war die schwerste, denn die Lokomotive überschlug sich, und mit ihr sechs oder sieben Waggons (Poniatowska 1982: 110s.). (c) A Santa Rosalía, on s’est payé un de ces déraillements à vous en télescoper les bobines de la colonne vertébrale. Ç’a été le plus grave car la machine a fait la pirouette et, avec elle, au moins six ou sept voitures (Poniatowska 1980: 118). (d) In Santa Rosalia we had a derailment that even crammed peoples’ backbones together like an accordion. That was the worst one because the engine rolled over and so did six or even seven cars; [...] (Poniatowska 2001: 94). (17) (a) Me golpió hasta que se le hizo bueno (Poniatowska 1969/ 42 2007: 98). (b) Er hat mich nach Herzenslust verprügelt (Poniatowska 1982: 114). (c) Il m’a battue tout son saoul (Poniatowska 1980: 121). (d) He hit me until he’d had enough (Poniatowska 2001: 97). Auch im Fall der Konstruktion entrar a los carros (s.o.) wird in den Zieltexten die niedrige Bildungszugehörigkeit der Protagonistin nur unzureichend wiedergegeben: (6) (a) Cuando nos quedábamos en alguna estación que se bajaba la caballada uno podía entrar a los carros y tres o cuatro oficiales se metían con sus mujeres; [...] (Poniatowska 1969/ 42 2007: 96). (b) Wenn wir auf irgendeinem Bahnhof Aufenthalt hatten und die Pferde entladen wurden, konnte man in die Waggons gehen, und drei oder vier Offiziere verschwanden darin mit ihren Frauen [...] (Poniatowska 1982: 112). (c) Quand on s’arrêtait dans quelque gare, et qu’on débarquait les chevaux, on pouvait monter dans les wagons et les officiers s’y fourraient à trois ou quatre avec leur femme; [...] (Poniatowska 1980: 119). Judith Visser 186 (d) When we stopped at a station where they took the horses off, three or four officers would go into the empty cars with their wives; [...] (Poniatowska 2001: 95). Der französische Zieltext zeichnet sich immerhin dadurch aus, dass das Pronomen nous durch on substituiert wird (Söll/ Hausmann 1985: 135ss.), der Interviewcharakter also eine Nachahmung erfährt. In (18) wird Jesusa die Partizipform decedida in den Mund gelegt, in der wegen Vokalassimilation in der zweiten Silbe ein e statt i vorliegt - ein Phänomen, das im hispanophonen Raum auch beim Partizip von escribir in Form der Variante escrebido dokumentiert ist (Visser 2010: 501): (18) (a) Estaba decedida (Poniatowska 1969/ 42 2007: 99). (b) Ich war fest entschlossen (Poniatowska 1982: 115). (c) J’étais décidée (Poniatowska 1980: 123). (d) I was determined (Poniatowska 2001: 98). Auch hier fehlen in den Zieltexten unmittelbare Äquivalente. Dies ist allerdings angesichts der Unterschiede in den Varietätensystemen der betroffenen Sprachen wenig überraschend. In diesem Fall gelingt es am ehesten der englischen Übersetzerin, im Kontext substandardsprachliche Elemente anzubringen: (18) (b) Ich trug eine weite, lange Bluse mit zwei Taschen, und in die Taschen verstaute ich Kugeln und die Pistole. „Von wegen Seife, soll er mich ein für alle Mal töten oder ich töte ihn! “ Ich war fest entschlossen. Ich folgte ihm (Poniatowska 1982: 115). (c) Ce jour où j’ai attrapé le pistolet, je portais une grande blouse avec deux poches, et dans les poches, j’ai fourré les balles et le pistolet. „Il n’y a pas de savon qui tienne, qu’il me tue une fois, pour toutes ou alors c’est moi qui le tue! “ J’étais décidée. Je le suivais (Poniatowska 1980: 123). (d) I was wearing a long blouse with two pockets and I put bullets and a gun in them. „Soap, yeah right, no way, let him kill me once for all, or I’ll kill him! ” I was determined. I followed him (Poniatowska 2001: 98). In den Beispielen (19) und (20) sind Belege für den sogenannten dequeísmo dokumentiert, ein panhispanisches Phänomen, das in der Verwendung der Sequenz de que in Fällen besteht, in denen die Präposition de grammatikalisch nicht verlangt wird: Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 187 Se llama DEQUEÍSMO el uso incorrecto de la secuencia de que en las subordinadas sustantivas cuando la preposición de no está justificada en ellas desde el punto de vista gramatical [...] (NGRAE 2010: §43.6a). Der dequeísmo gilt gerade in der gesprochenen Sprache im amerikanischen Spanisch als stärker verbreitet (id.: §43.6b); in der Nueva Gramática de la Lengua Española wird empfohlen, auf diesen uso incorrecto zu verzichten. Beim ersten Beispiel findet sich in den Übersetzungen kein Äquivalent: (19) (a) „No, no trae con qué... Así es de que yo le hablo ahora más fuerte“ (Poniatowska 1969/ 42 2007: 100). (b) „Nein, nein, er hat sie nicht dabei... So kann ich ihn noch mehr anbrüllen“ (Poniatowska 1982: 116). (c) „J‘ai pensé que non, qu’il n‘avait rien sur lui... Je pouvais parler plus fort, si je voulais“ (Poniatowska 1980: 124). (d) „He doesn’t have a weapon...“ So I started to talk louder (Poniatowska 2001: 99). In (20) ist ebenfalls keine unmittelbare Entsprechung dokumentiert. Es fällt jedoch auf, dass der englische und französische Zieltext insgesamt vulgärer wirken als der deutsche, weil Heikinnen zur Übertragung von perra das Slang-Wort bitch wählt (Oxford Dictionary 2010, s.v.), 6 Sarre mit foutre un coup auf einen registre familier zurückgreift (PRob 2001, s.v. 1. foutre), wohingegen Schmidt im Deutschen das fast schon literarische Lexem zänkisch verwendet: (20) (a) Él siguió de coqueto, ah, pues seguro, si era hombre; era hombre y andaba en la paseada. Siguió con las mujeres pero conmigo fue distinto porque me hice muy peleonera, muy perra. Y con los años me fue aumentando el instinto de dar antes de que me den. El que me tira un jijazo es porque ya recibió dos por adelantado. Así es de que Pedro y yo nos agarrábamos a golpes a cada rato y por parejo. Se acabó aquello de agacharse a que me llovieran cachetadas y cintarazos. Supe defenderme desde el día aquel en que me escondí la pistola en el blusón. Y le doy gracias a Dios (Poniatowska 1969/ 42 2007: 102). 6 Slang: „very informal words and expressions that are more common in spoken language, especially used by a particular group of people, for example, children, criminals, soldiers, etc.” (Oxford Dictionary 2010, s.v.). Judith Visser 188 (b) Er liebäugelte weiter mit den Frauen, na sicher doch, er war ein Mann; er war ein Mann und nutzte die Zeit. Er hatte seine Frauen wie immer, aber zu mir war er anders, denn ich war furchtbar zänkisch geworden, ziemlich widerspenstig. Und mit den Jahren neigte ich immer mehr dazu zuzuschlagen, bevor man mich schlug. Wer mich schlägt, hat mindestens zwei Hiebe vorher von mir bekommen. So kam es, daß Pedro und ich uns immerzu verprügelten, aber mit gleichen Chancen. Sich zu ducken und den Hagel von Schlägen und Degenhieben hinzunehmen, diese Zeiten waren vorbei. Von dem Tag an, als ich die Pistole in meiner Bluse versteckte, wußte ich mich zu wehren. Ich danke Gott dafür (Poniatowska 1982: 118). (c) Lui, il a continué à faire le joli cœur, c’est normal, c’était un homme et il se donnait du bon temps. Il a continué avec les femmes, mais avec moi ça a changé parce que je suis devenue sacrément hargneuse, une vraie chienne. Et avec l’âge, j’ai de plus en plus tendance à donner avant de recevoir. Ceux qui me foutent un coup, c’est qu’ils ont déjà encaissé deux d’avance. Si bien que Pedro et moi, on s’accrochait à chaque instant, à qui mieux mieux. Terminé, cette histoire de courber l’échine et de recevoir des raclées et des coups de ceinture. De ce jour où j’ai caché le pistolet dans ma blouse, j’ai su me défendre. Et je rends grâce à Dieu (Poniatowska 1980: 126s.). (d) Pedro kept cheating, of course, he was a man; he was a man and he was on the prowl. He still had other women, but he was different with me because I became a real fighter, a real bitch. And through the years I developed the instinct to give it before I got it. If someone throws a punch at me, it’s because I’ve already landed a couple first. Pedro and I would get into fistfights every now and then and it was an even fight. That stuff about squatting down and taking the blows was over. I knew how to defend myself from the day I hid the gun in my blouse. And I thank the Lord I did (Poniatowska 2001: 101). Auch die Wiedergabe von Se acabó aquello de agacharse durch That stuff about squatting down kann im Gegensatz zum deutschen diese Zeiten waren vorbei zumindest als Versuch der Nachahmung von Mündlichkeit gewertet werden. In Beispiel (7) bzw. (8) (s.o.) gewinnt man ebenfalls den Eindruck, dass die englische Übersetzerin im Sinne einer versetzten Äquivalenz versucht, durch die Wahl des vulgären Ausdrucks bullshit die Tatsache zu kompensieren, dass die substandardsprachlichen Grammatikelemente nicht übertragen werden können: Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 189 (7)/ (8) (a) Tampoco les creí cuando salió allí en el radio que tenía su mujer y sus hijas, puras mentiras pues qué. ¿Cuál familia? Eso no se los creo yo ni porque me arrastren de lengua... (Poniatowska 1969/ 42 2007: 95s.). (b) Das gleiche gilt für die, die über Radio sagten, daß er Frau und Töchter hätte. Alles Lüge! Und wieso überhaupt Familie? ! Ich glaube ihnen kein einziges Wort, selbst wenn sie mir die Zunge ausreißen... (Poniatowska 1982: 111). (d) I couldn’t believe it either, when they said on the radio that he had a wife and kids. What a bunch of lies! What family? I won’t believe that even if they drag me around by my tongue... [...] Now they come out with a „wife“, and they say sons and daughters. Bullshit! (Poniatowska 2001: 95). Der französische Übersetzer greift im gesamten sich auf Pancho Villa beziehenden Abschnitt auf auffällig viele substandardsprachliche lexikalische Elemente zurück: (7)/ (8) (c) Et bien, ceux qui vont faire ça sont tout aussi bandits que lui ou tout aussi maboules! [fam. ’fou’, PRob 2001, s.v.] [...] Ce type-là n’a jamais eu de femme. Il ramassait ce qu’il trouvait de plus jeune, se l’embarquait et se la trimbalait [fam. ’mener, porter partout avec soi’, PRob 2001, s.v.] jusqu’à ce qu’il en ait assez, après quoi il la balançait [fig. et fam. ’Se débarrasser de qqch. ou de qqn. ’, PRob 2001, s.v.] et en prenait une autre. Et il a fallu attendre aujourd’hui pour qu’on découvre qu’il avait soidisant une madame-mon-épouse, et des soi-disant fils et encore des filles, la belle blague! Tout ça, c’est rien que des jobardises [fam. ’Grande naïveté, grande crédulité’, TLFi, s.v. jobarderie, jobardise] qu’on lui prête pour le faire passer pour ce qu’il n’a jamais été. Ça a été une crapule sans nom [...]. Ce Villa, c’était un babouin [TLFi, s.v. babouin: P. métaph. ou au fig. ’Vieillard laid et ridicule; homme mal bâti, malpropre’] qui se foutait du monde et vous pouvez encore l’entendre rigoler (Poniatowska 1980: 119). In dem untersuchten Kapitel war schließlich ein Beleg dafür zu ermitteln, dass alle Übersetzer(innen) versuchen, die mangelnde Bildung und Vulgarität der Person, die im Ausgangstext durch die Wahl der Sprache skizziert wird, im Zieltext unmittelbar wiederzugeben: In Beispiel (9), das wir bereits in Hinblick auf indigene Elemente betrachtet hatten, sind mehrere auf Substandard verweisende Phänomene dokumentiert: Judith Visser 190 (9) (a) Se lo dijo una mujer, cuándo no, si así son todas: cuando no andan culeando, se meten al chichichaque, al chimiscolee, a ver a quién arruinan con sus embrollos: [...] (Poniatowska 1969/ 42 2007: 100). (b) Eine Frau sagte ihm das. Wie konnte es auch anders sein, die sind alle gleich: wenn sie nicht mit dem Hintern wackeln, dann wetzen sie die Mäuler, immer auf der Suche, wen sie mit Intrigen ruinieren können (Poniatowska 1982: 116). (c) C’était une femme qui le lui avait dit; bien sûr elles sont toutes les mêmes: quand c’est pas le cul, c’est la langue qu’elles font marcher et patati par-ci et patata par-là, toujours à chercher qui elles pourraient bien ruiner avec leurs brouillaminis: [...] (Poniatowska 1980: 124). (d) [...] some women told him that, they’re all like that: when they aren’t shaking their asses in someone’s face, they’re flapping their lips, to see who they can destroy with their gossip: [...] (Poniatowska 2001: 99s.). Das Substantiv culear steht nach Angaben des Diccionario de Americanismos für ’realizar el coito’ (ASALE 2010, s.v.), die Übersetzungen mit dem Hintern wackeln und shaking their asses bzw. le cul [...] qu’elles font marcher sind zwar als vulgär bzw. familier markiert (taboo, slang, Oxford Dictionary 2010, s.v. ass; PRob 2001, s.v. cul), aber vermeiden Tabuwörter wie vögeln oder shag und geben die Bedeutung von culear nicht getreu wieder. Meterse al chichichaque, al chimiscolee werden im Deutschen und Englischen mit den Metaphern Mäuler wetzen und flapping their lips wiedergegeben; in der Übersetzung Heikinnens findet am Ende außerdem das abwertende Substantiv gossip Verwendung. 2.4 Übersetzung von Substandard: Ein methodisches oder sprachenspezifisches Problem? Insgesamt vermittelt der Blick in die Übersetzung des exemplarisch ausgewählten Kapitels den Eindruck, dass es dem französischen Übersetzer am ehesten gelingt, den markierten Sprachgebrauch der Protagonistin und auch der anderen im Roman auftretenden Figuren wiederzugeben, der deutschen Übersetzerin am wenigsten. 7 Dieser Eindruck wird auch dann verfestigt, wenn man das Kapitel losgelöst von den untersuchten sprachlichen Phänomenen noch einmal auf Substandard untersucht. Im deutschen Text finden sich lediglich einige abwertende Lexeme wie Hun- 7 Wie im einleitenden Kapitel angedeutet, kann es sich dabei durchaus um eine bewusste Entscheidung der Übersetzerin handeln. Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 191 desohn (Poniatowska 1982: 112) - hier erschiene zumindest im 21. Jahrhundert eine Variante wie Hurensohn dem Sprachgebrauch der Protagonistin angemessener -, Lackaffe (ibid.) oder Weibsbilder (id.: 117), die allenfalls bedingt die soziale Herkunft Jesusas widerspiegeln, 8 gleichzeitig jedoch streckenweise eine durchaus gewählte Ausdrucksweise (Figurenrede Espinosa y Córdoba: „Schluß jetzt mit dem Gezänke“, id.: 109; „Ich war von Kind auf an diese Behandlung, die auch meine Stiefmutter mir zuteil werden ließ, gewöhnt“, id.: 114). Eine Mimesis von Mündlichkeit erfolgt jedoch durchaus, wie beispielsweise die bereits erwähnte Rechtsherausstellung dokumentiert. In der englischen Übersetzung sind neben den bereits diskutierten Textstellen markierte Elemente wie shit (Figurenrede Espinosa y Córdoba, Poniatowska 2001: 92 sowie 94, markiert als taboo, slang, cf. Oxford Dictionary 2010, s.v.), cunt (Figurenrede Ehemann Jesusas, Poniatowska 2001: 96, markiert als taboo, slang, cf. Oxford Dictionary 2010, s.v.), spilling my guts (Poniatowska 2001: 98, markiert als informal, cf. Oxford Dictionary 2010, s.v. spill), whacks (Poniatowska 2001: 100, markiert als informal, cf. Oxford Dictionary 2010, s.v.) u.Ä. dokumentiert. Der französische Übersetzer verwendet z.B. ficher le camp (Poniatowska 1980: 115, markiert als fam., cf. PRob 2001, s.v. camp), crève-la-faim (Poniatowska 1980: 116, markiert als fam., cf. PRob 2001, s.v.), bourrin (Poniatowska 1980: 117, markiert als pop, cf. PRob 2001, s.v.), peau de balle (Poniatowska 1980: 118, markiert als loc. fam., cf. PRob 2001, s.v. 1. balle), se rebiffer (Poniatowska 1980: 121, markiert als fam., cf. PRob 2001, s.v.), feignasse (Poniatowska 1980: 121, Figurenrede männliche Soldaten, markiert als péj., cf. TLFi, s.v. feignant), trucmuche (Poniatowska 1980: 121, Figurenrede Ehemann, markiert als pop., cf. PRob 2001, s.v.), tabasser (Poniatowska 1980: 121, markiert als fam., cf. PRob 2001, s.v.), fichu (Poniatowska 1980: 124, markiert als fam., cf. PRob 2001, s.v.), gueuler (Poniatowska 1980: 125, markiert als fam., cf. PRob 2001, s.v.), bobard (Poniatowska 1980: 125, Figurenrede Espinosa y Córdoba, markiert als fam., cf. PRob 2001, s.v.), foutre la pagaille (Poniatowska 1980: 125, Figurenrede Espinosa y Córdoba, markiert als fam., cf. PRob 2001, s.v. pagaille), garce (Poniatowska 1980: 126, markiert als fam., cf. PRob 2001, s.v.). 8 Die Tatsache, dass das sich anschließende Kapitel wesentlich umgangssprachlicher beginnt („Mein Mann hatte ein Schweineglück bei den Frauen. [...] Als er im 72. Regiment war, lachte er sich eine andere an“, Poniatowska 1982: 118), zeigt jedoch, dass eine endgültige Bewertung der Übersetzung der Betrachtung des gesamten Romans bedarf. Judith Visser 192 Wenn es nicht um die Wiedergabe von Nähesprache bzw. die Mimesis von Mündlichkeit geht, sondern um die Zeichnung der niedrigen Bildung der Protagonistin bzw. der gesamten Figuren, ist auffällig, dass in allen drei Übersetzungen allenfalls substandardsprachliche lexikalische Elemente Verwendung finden. Hierbei handelt es sich zudem wiederholt um Vulgärsprache, d.h. Jesusa wird durch die Wahl z.B. sexuellen Vokabulars als vergleichsweise gewöhnliche Person skizziert. Der Roman enthält durchaus Textstellen, die diese Interpretation zulassen, aber die substandardsprachlich markierten Grammatikelemente des spanischen Ausgangstextes bilden nicht die Grundlage für diese Interpretation, sondern deuten lediglich auf mangelnde Bildung hin. Gerade die Tatsache, dass es im mexikanischen Spanisch nicht diatopisch markierte morphosyntaktische Merkmale gibt, die Analphabetentum widerspiegeln, scheint also eine Herausforderung für die Übersetzung in die drei untersuchten Sprachen darzustellen. Bei den untersuchten Phänomenen handelt es sich um derart offensichtliche Abweichungen von der (europäischen) Norm, dass sie trotz mangelnder sprachnormativer Werke zum mexikanischen Spanisch von den Übersetzer(inne)n als markiert wahrgenommen worden sein dürften. Das untersuchte Kapitel enthält jedoch auch eine Textstelle, die belegt, dass Übersetzungsprobleme entstehen, wenn das Diasystem der Ausgangssprache nicht hinreichend in Grammatiken beschrieben ist: Nachdem Jesusa von ihrem Ehemann verprügelt wurde, wird sie von anderen Mädchen nach ihrem Befinden befragt: Entonces me preguntaron las muchachas: - Qué, ¿está mala? - Sí. - ¿Qué tiene? - Pues nada. - Pues, ¿cómo dice que está mala? - Pues sí estoy mala, pero pues ¿qué les importa? (Poniatowska 1969/ 42 2007: 98). Die muchachas verwenden eine Anrede der Distanz (usted), Jesusa ein Pronomen, das der dritten Person Plural zuzuordnen ist (les). In der deutschen Übersetzung siezen die Mädchen Jesusa (Ihnen), während diese auf ein Pronomen der Nähe zurückgreift (euch), das entsprechend der 1960 von Brown/ Gilman entwickelten Theorie der Pronouns of Power/ of Solidarity als Beleg dafür gewertet werden kann, dass sich Jesusa im Hinblick auf Faktoren wie Alter, Stärke, gesellschaftliche Position o.Ä. in einer übergeordneten Position befindet (cf. auch Visser 2010: 402): Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 193 Die Mädchen fragten mich: „Was ist, geht es Ihnen nicht gut? “ „Nein“. „Was fehlt Ihnen? “ „Ach, nichts“. „Na, warum sagen Sie dann, daß es Ihnen schlecht geht? “ „Ja doch, es geht mir schlecht, aber was geht euch das an? “ (Poniatowska 1982: 114) Der französische Übersetzer entscheidet sich im ersten Fall ebenfalls für ein Pronomen der Distanz (vous), vous kann sich als Anrede im Plural dagegen sowohl auf die vertraute als auch auf die distanzierte Anrede beziehen: Les filles alors m’ont demandé: - Qu’est-ce qui se passe, vous êtes malade? - Oui. - Qu’avez-vous? - Oh, rien. - Et alors, pourquoi dites-vous que vous êtes malade? - Eh bien oui, je suis malade, et puis qu’est-ce que ça peut vous faire? (Poniatowska 1980: 122) Tatsächlich ist die Interpretation der Textstelle im Original schwierig. Das spanische Anredesystem ist höchst komplex und zeichnet sich durch eine große diatopische und diastratische Variation aus (cf. z.B. Hummel et al. 2010). Das zweigliedrige System, das in Spanien vorherrscht (tú - usted, vosotros/ as - ustedes), kann nicht mit der deutschen (bzw. französischen) vertrauten und distanzierten Anrede gleichgesetzt werden. In Hispanoamerika besteht im Plural nicht die Möglichkeit, zwischen vertrauter und distanzierter Anrede zu unterscheiden (u.a. Fontanella de Weinberg 1999), weil in beiden Fällen das Pronomen ustedes bzw. die dazugehörigen Verbformen verwendet werden. Das Pronomen les, das Jesusa gebraucht, gibt also keinen Hinweis darauf, ob im Deutschen eine distanzierte (Sie) oder vertraute (euch) Anrede in der Übersetzung angemessen wäre. Der französische Übersetzer muss sich dieser Entscheidung hier nicht stellen. Noch problematischer ist jedoch die auf den ersten Blick einfach erscheinende Wiedergabe der Anrede usted im Singular: Der mexikanische Sprachatlas verfügt nur über eine Karte, die sich mit Anredepronomina beschäftigt, und zwar mit dem tratamiento de hijos a padres (ALMex, Karte 560). Die Ergebnisse der Befragung der Informanten zeigen eine Dominanz des Pronomens usted (72%). Interessant ist vor dem Hintergrund des Judith Visser 194 vorliegenden Übersetzungsproblems, dass gerade die niedrigen Bildungsschichten usted gebrauchen (81% bei Analphabeten, 77% bei Semianalphabeten gegenüber 31% bei Gebildeten, cf. Visser 2010: 406). Angesichts dieses Ergebnisses wäre zu fragen, ob die Tatsache, dass hier Jesusa mit usted angesprochen wird, nicht auch ein Zeichen der niedrigen Schichtzugehörigkeit der Sprecherinnen sein könnte. Ob es dann angebracht ist, dieses usted im Deutschen mit Sie und im Französischen mit vous wiederzugeben, kann nur auf Basis einer detaillierten und die gesamten Varietätensysteme berücksichtigenden Auseinandersetzung mit der deutschen und französischen Anrede beantwortet werden, darf aber zumindest bezweifelt werden. 3 Fazit Die exemplarische Untersuchung eines Kapitels aus Hasta no verte Jesús mío hat aufgezeigt, dass die Übersetzung mexikanischen Substandards in das Deutsche, Französische und Englische vor große Herausforderungen stellt. Die Zielsprachen sind in der Zusammensetzung ihrer Diasysteme so unterschiedlich, dass die Übersetzer(innen) nach Alternativen gerade dann suchen müssen, wenn es um die Wiedergabe diastratisch markierter grammatikalischer Elemente geht, die im mexikanischen Standard keine diatopische Markiertheit aufweisen. Die Analyse eines einzelnen Kapitels und des Produkts einzelner Übersetzer erlaubt keine generellen Rückschlüsse, allerdings lässt der exemplarische Sprachvergleich die Hypothese zu, dass das Französische, möglicherweise durch die jahrhundertelange dialektfeindliche Sprachpolitik begünstigt, über mehr Möglichkeiten zur Widergabe von nicht regional markiertem Substandard verfügt als das Deutsche. Stellt man die französischen und die englischen Zieltexte gegenüber, bestätigt sich die - mittels eines intersprachlichen Vergleichs nur sehr bedingt überprüfbare - Annahme, dass jüngere Übersetzungen überzeugendere Lösungsstrategien für die Übertragung von sozial stigmatisierten sprachlichen Elementen aufweisen, nicht. Für die hispanistische Linguistik und Übersetzungswissenschaft ergeben sich aus der Untersuchung einige Forschungsdesiderata: Ein systematischer und umfassender Übersetzungsvergleich hispanoamerikanischer Ausgangstexte und z.B. deutsch-, französischbzw. englischsprachiger Zieltexte könnte Aufschluss darüber geben, ob Probleme bei der Übertragung substandardsprachlicher Elemente aus lateinamerikanischen Varie- Übersetzung substandardsprachlicher Elemente in der mexikanischen Literatur 195 täten, die als sekundäre Dialekte des Spanischen spezifisch ausgeprägte Diasysteme und komplexe Normengefüge aufweisen, auf die Person des Übersetzers zurückzuführen oder sprachenspezifisch sind, also auf der Beschaffenheit der Diasysteme der Zielsprache beruhen, und ob bzw. in welchem Ausmaß der bisherige Stand der hispanistischen Lexikographie und Grammatikographie zur Lösung von Übersetzungsproblemen beiträgt. Im Bereich der literarischen Übersetzung bestehen gerade im hispanoamerikanischen Raum demnach mannigfaltige Forschungsaufgaben, zu deren Bearbeitung der ausschnitthafte Vergleich zahlreiche Ansatzpunkte gegeben haben dürfte. 4. Bibliographie Primärquellen Poniatowska, Elena (2001): Here’s to You, Jesusa! , übersetzt von Deanna Heikkinen, New York et al., Penguin Books. Poniatowska, Elena (1982): Allem zum Trotz... Das Leben der Jesusa, übersetzt von Karin Schmidt, Bornheim-Merten, Lamuv-Verlag. Poniatowska, Elena (1969/ 42 2007): Hasta no verte Jesús mío, México, Ediciones Era. Poniatowska, Elena (1980): Vie de Jésusa, übersetzt von Michel Sarre, Paris, Gallimard. Fachliteratur Albrecht, Jörn (1981): „Zazie dans le métro italienisch und deutsch. Zum Problem der Übersetzung von Texten großer sozio-stilistischer Variabilität“, in: Pöckl, Wolfgang (ed.): Europäische Mehrsprachigkeit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Mario Wandruszka, Tübingen, Niemeyer, 311-328. 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Die Interpretation von Diskursmarkern hängt von ko- und kontextuellen Informationen ab, wobei oft mehrere potenzielle kontrastive oder übersetzungsbezogene interlinguale Entsprechungen zur Verfügung stehen können (cf. exemplarisch Hölker 1993; Métrich 2004; Atayan 2006; Métrich/ Faucher 2009; Nølke 2007; Sergo 2009; Atayan/ Schiemann/ Sergo 2013). Selbst bei historisch verwandten Sprachen wie dem Französischen und dem Italienischen bedeuten außerdem morphologische Affinitäten nur in seltenen Fällen eine Identität der durch die Marker erteilten Instruktionen (Ferrari/ Rossari 1994; Rossari 1994; Gobber 2002). Als besonders geeignet für eine kontrastive und übersetzungswissenschaftliche Untersuchung, die die beiden Aspekte berücksichtigt, erweisen sich die französischen Reformulierungsmarker en fait, de fait und en réalité. Im vorliegenden Beitrag wird untersucht, welche italienischen (Teil-) Äquivalente von en fait und de fait bei Übersetzungen von Texten aus der politischen Kommunikation zum Einsatz kommen. Ziel der Studie ist es, die Distribution und die spezifischen Instruktionen der Marker in den ausgangs- und zielsprachlichen Texten zu ermitteln. Hierbei werden zuerst die Instruktionen der Marker en fait, de fait und en réalité und ihrer potenziellen italienischen (Teil-)Äquivalente besprochen, anschließend das untersuchte Corpus dargestellt und zum Schluss Übersetzungen aus dem Französischen ins Italienische analysiert. Laura Sergo 202 2 Semantik und Pragmatik der französischen Marker en fait, de fait und en réalité Die Marker en fait und de fait sind Gegenstand zahlreicher Studien (Danjou-Flaux 1980, 1982; Charolles 1984; Roulet 1987; Rossari 1992, 1993, 1994; Iordanskaja-Mel’čuk 1995; Blumenthal 1996), wobei im Allgemeinen auf die substanziellen Unterschiede semantischer und pragmatisch-funktionaler Art hingewiesen wird, die in den Wörterbüchern nur mangelhaft beschrieben sind. Die kontrastive Perspektive Französisch-Italienisch ist Gegenstand der Arbeiten von Rossari (1993, 1994). Die Marker en fait, de fait und en réalité liefern die Instruktion, das durch sie eingeleitete Konnekt als nicht paraphrastische Reformulierung des Antezedenten zu interpretieren (Roulet 1987; Rossari 1992, 1993, 1994). Bei der nicht paraphrastischen Reformulierung (Roulet 1987; Rossari 1990, 1994; Fuchs 2004: 4) wird keine Identität zwischen Bezugs- und Reformulierungsausdruck prädiziert, sondern ein Standpunktwechsel 1 des Sprechers zum Bezugsausdruck markiert, d.h. eine „rétrointerprétation“ des Bezugsausdruckes (Rossari 1994: 9); die Konnektoren leiten einen neuen mouvement discursif ein, dem der vorausgehende retroaktiv untergeordnet wird (Rossari 1994: 137). Die Art der „rétrointerprétation“ wird durch den jeweils eingesetzten Marker signalisiert. Bei der Verwendung von en fait präsentiert der Sprecher seine Aussage als Reformulierung eines Standpunktes, von dem er sich mehr oder weniger stark distanziert. Der erste Standpunkt kann explizit, d.h. sprachlich realisiert werden oder implizit bleiben, also im diskursiven Gedächtnis des Textempfängers zwar enthalten, jedoch nicht geäußert sein (Rossari 1994: 136): Es kann sich dabei um geteiltes Wissen oder um Inferenzen aus vorangehenden Äußerungen sowie aus der Situation handeln (Rossari 1994: 12). Der neue Standpunkt wird als neuer - und für den Empfänger auch unerwarteter (Tseronis 2010: 82) - Tatbestand dargestellt, der zum Bereich der Realität gehört und einen höheren Informationswert erhält (Rossari 1994: 155). Deshalb kann durch en fait die Opposition zwischen einer falschen Meinung und dem höheren Wissensstand des Sprechers signalisiert werden (cf. Blumenthal 1996: 260), wobei die Aussage subjektiv als wichtiger, jedoch nicht unbedingt als informativer, sondern aus der Sicht des Sprechers als pertinenter dargestellt wird (ibid.); es kann sich dabei um eine „focalisation particularisante“, um Wiederaufnahme und Präzisierung von noch vagen oder ungenauen 1 Rossari (1994: 11) verwendet den Begriff „point de vue“ im Sinne von Ducrot (1984). Kontrastive Studie Französisch - Italienisch zur Wiedergabe von Konnektoren 203 Informationen, seltener auch um eine Generalisierung handeln (Blumenthal 1996: 263). Aus diesem Grund kann der Marker auch in argumentativen Kontexten eingesetzt werden. 2 In realen oder fiktiven mündlichen Kommunikationssituationen - wie z.B. in Presseinterviews - wird en fait häufig am Beginn einer Sequenz eingesetzt, wobei durch das Fehlen von kontextuellen Informationen ein Rückgriff auf das diskursive Gedächtnis unmöglich wird (Rossari 1994: 136; Blumenthal 1996: 266). Laut Blumenthal (1996: 266) handelt es sich, insbesondere bei Presseinterviews, um eine rhetorische Strategie der Journalisten, die die Illusion eines Dialogs mit dem Leser vermitteln sollte, indem eventuelle implizite Erwartungen widerlegt werden. Der Marker, so Blumenthal, ist hier „en voie de devenir un simple rhématisateur, qui vise à mettre en rélief le caractère réellement ou prétendument informatif d’une constatation“ (ibid.); damit könne man nicht mehr von einem richtigen Konnektor, sondern eher von einer „particule phatique ou pragmatique“ sprechen (ibid.). Diese Verwendung von en fait entspricht unter vielen Aspekten dem Berrendonner entnommenen Begriff „coup de force présuppositionnel“ (zit. in Rossari 1994: 136), 3 wobei der Sprecher laut Rossari „fait comme si la mémoire discursive de l’interlocuteur contient déjà le point de vue auquel le connecteur renvoie, même si ce dernier n’y a jamais été introduit“ (ibid.); en fait fungiert daher als „embrayeur d‘intervention“ (ibid.). Viel diskutiert sind in der Literatur die Analogien und die Divergenzen zwischen en fait und de fait hinsichtlich ihrer Funktion (Danjou-Flaux 1980; Rossari 1994): Der Marker de fait „occupe une place neutre aux contours mal définis“ (Danjou-Flaux 1980: 138), er kann eine Bestätigung, ähnlich wie en effet, aber auch wie en fait eine Opposition zwischen den Konnekten signalisieren (Danjou-Flaux 1980: 125). Diese Gemeinsamkeit der Funktion mit en fait, deren Modalitäten jedoch eher unklar seien, könnte laut Danjou-Flaux auf eine phonische Kontamination zurückgeführt werden (Danjou-Flaux 1980: 138). Aus dem Vergleich der Verwendungskotexte beider Konnektoren kommt Rossari zum Ergebnis (1994: 156), dass de fait die Instruktion liefert, den neuen Standpunkt als eine schon feststehende Tatsache zu betrachten, die den Standpunkt des Antezedenten bestätigt und ihm mehr Glaubwürdigkeit verleiht, es wird da- 2 Blumenthal berücksichtigt in seiner Studie zu en fait auch andere Faktoren wie die Satzstellung des Konnektors, stilistisch-rhetorische und diatopische Elemente. Je nach Satzstellung überwiegen nach Blumenthal bei en fait bestimmte Funktionen: So ist en fait am Satzanfang tendenziell nicht oppositiv, sondern häufig argumentativ, in der Satzmitte dagegen tendenziell oppositiv. 3 Siehe dazu auch Berrendonner (1995: 30). Laura Sergo 204 durch jedoch keine Distanzierung des Sprechers gegenüber dem ersten Standpunkt signalisiert. Der Marker weist eine bedeutend niedrigere Anwendungsfrequenz als en fait auf, scheint weniger geeignet als „embrayeur d‘intervention“ zu fungieren und tritt daher in mündlichen Kontexten selten auf (Rossari 1994: 151). Wie en fait kann auch de fait in argumentativen Kontexten auftreten. Durch en réalité, der als prototypischer oppositiver Marker betrachtet werden kann, wird der Gesprächspartner aufgefordert, eine Opposition zwischen Schein in der ersten Aussage und Realität in der zweiten nachträglich zu rekonstruieren (Danjou-Flaux 1982: 118; Rossari 1994: 155). Es werden dabei zwei Tatbestände gegenübergestellt, wobei dem zweiten ein höherer Grad an Realität zugeschrieben wird (Charolles 1984: 89s.). Die bei der Verwendung von en réalité in welcher Form auch immer explizit verbalisierte Korrelation zwischen Schein und Realität schließt für den Marker die Möglichkeit aus, als Eröffnung eines Diskurses und dadurch als Signal eines „coup de force présuppositionnel“ zu fungieren (Danjou-Flaux 1982: 118; Rossari 1994: 139). 3 Semantik und Pragmatik der verwendeten italienischen Marker Als Wiedergabe für die französischen Marker en fait und de fait wurden im untersuchten Corpus folgende italienische Entsprechungen eingesetzt: 4 Für en fait: in realtà (20), di fatto (14), infatti (8), nei fatti (6), in effetti (6), Ø (10), o grossomodo (1). Für de fait: di fatto (31), in realtà (4), in effetti (3), ma (2), infatti (1), del resto (1). Neben den von Rossari untersuchten (1993, 1994) italienischen Markern in realtà, infatti, di fatto und in effetti treten im Corpus als mögliche Entsprechungen noch der Ausdruck nei fatti und die Nullentsprechung auf (beide als Wiedergabe von en fait); auf die Darstellung der jeweils mit nur einer Okkurrenz vertretenen adversativen Konnektoren ma und del resto sowie der Reformulierungsmarker o grossomodo wird in der vorliegenden Studie verzichtet. Die konsultierten italienischen Wörterbücher (Sabatini Coletti, Zingarelli, Vocabolario Treccani) verzeichnen bei in realtà die Funktionen 4 Anzahl der Okkurrenzen in Klammern. Kontrastive Studie Französisch - Italienisch zur Wiedergabe von Konnektoren 205 di conferma, col sign[ificato] di ’infatti’, ‘difatti’, o avversativo-limitativo, col sign[ificato] di ’però’, ‘peraltro’, a una frase o sequenza di discorso rispetto a quanto detto in precedenza […] (Sabatini Coletti, s.v. realtà). Laut Rossari (1994: 158) besteht zwischen en réalité und in realtà funktionale Äquivalenz, dies lässt sich auch im untersuchten Corpus bestätigen. Aus diesem Grund wird in diesem Beitrag auf die Analyse von Beispielen verzichtet. Anders verhält es sich bei en fait und de fait: Die erwähnten italienischen Konnektoren infatti, di fatto, nei fatti und in effetti, decken sich je nach Anwendungskotext mit den französischen nur teilweise, wie in der Folge dargestellt werden soll. Di fatto kann sowohl als Adverbial fungieren, wie in separati di fatto, als auch als Konnektor. Als Synonyme verzeichnet das Dizionario Sabatini Coletti (s.v. fatto 2 ) in realtà, in verità, in concreto, wobei der Marker „il punto di vista del locutore rispetto a quanto precedentemente espresso, introducendo un giudizio di conferma o smentita a un’ipotesi […]” (ibid.) ausdrückt wie in: „il quadro mi era sembrato autentico e di f. lo è […]” bzw. „‘Il quadro è autentico‘ ‘Di fatto non lo è‘ […]” (ibid.). Im Vocabolario Treccani (s.v. fatto 2 ) ist der Marker als „locuz[ione] aggettivale invar[iabile]” definiert mit der Bedeutung „effettivo” (antonymisch zu „nominale, teorico, ipotetico” usw.). Laut Rossari (1994: 172, 179) ist di fatto durch die etymologische Herkunft aus dem rechtssprachlichen Ausdruck de facto (als Gegensatz von de jure) prädestiniert, eine Hypothese von einem reellen Tatbestand zu unterscheiden, was die Verwendung in oppositiven Kotexten erklärt. Da jedoch eine Hypothese durch einen Tatbestand auch bestätigt werden kann, ist bei di fatto ebenfalls die Möglichkeit gegeben, in bestätigenden Kotexten eingesetzt zu werden. Infatti stellt Beziehungen wie ’conferma’, ‘spiegazione’, ‘prova’, ‘giustificazione’ sowie ‘dimostrazione argomentativa’ (Battaglia; Sabatini Coletti; Zingarelli; Dardano/ Trifone 1997; Bernini 2 2001; Serianni 2002) im Text her. Elliptisch verwendet und in dialogischen Sequenzen eingesetzt, signalisiert infatti Zustimmung zum Vorhergesagten oder, antiphrastisch, Ironie. Die argumentative Funktion des Konnektors ist u.a. von Serianni (2002: 542), Lo Cascio (1991: 256s.) und Rossari (1994: 179) beschrieben worden. Diese beiden Funktionen von infatti sind laut Rossari (ibid.) darauf zurückzuführen, dass der propositionale Gehalt der zweiten Aussage einer schon feststehenden Tatsache entspricht, die die erste Aussage bestätigt oder in einem argumentativen Kotext stützen kann. Infatti kann also wie en fait argumentativ verwendet werden; außerdem signalisieren beide Marker, dass im zweiten Konnekt noch vage Informationen präzisiert werden können. Im Unterschied zu en fait kann infatti jedoch nicht Laura Sergo 206 oppositiv verwendet werden. Auch in den Kontexten, in denen der Konnektor en fait einen „coup de force présuppositionnel“ ankündigt, kann infatti nicht als italienisches Äquivalent eingesetzt werden, die einzigen italienischen Entsprechungen sind in diesem Fall z.B. insomma 5 (Rossari 1990; 1994: 157) oder appunto, die jedoch keine weitere Instruktion mit en fait teilen. In effetti signalisiert laut Sabatini Coletti je nach Kontext, „valore di conferma, […], oppure valore avversativo-limitativo, […], a una frase […] rispetto a quanto detto in precedenza […]” (s.v. effetto); das Vocabolario Treccani: Sinonimi e Contrari beschränkt sich auf die Angabe der bedeutungsähnlichen „di fatto, effettivamente, in pratica, in realtà, realmente, veramente” und der Antonyme „in teoria, ipoteticamente, teoricamente” (Vocabolario Treccani: Sinonimi e Contrari, s.v. effetto). 6 Die Funktionen der Marker wurden von Rossari (1994) und Mandelli (2008) untersucht und ausführlich beschrieben: so werden durch in effetti entweder der propositionale Gehalt des Bezugsausdruckes oder dessen argumentative Gültigkeit (Rossari 1994: 18) bestätigt. Die Stellung des Markers innerhalb der Äußerung - ob am Anfang bzw. syntaktisch integriert, oder ob durch Interpunktionszeichen wie Kommata bzw. intonatorisch isoliert sowie am Äußerungsschluss - spielt dabei eine entscheidende Rolle (Mandelli 2008: 443): Im ersten Fall überwiegt nämlich die argumentative Funktion, während im zweiten Fall Merkmale der paraphrastischen Reformulierung erkennbar sind. Die Meinung von Rossari (1994: 180), nach der in effetti auch oppositiv verwendet werden kann, widerlegt Mandelli (2008: 440) mit dem Argument, dass eine Opposition nur dann möglich sei, wenn eine ironische Absicht erkennbar ist oder eine zusätzliche Aussage hinzugefügt wird, in der der Inhalt des ersten Konnektes negiert wird, wie in den folgenden konstruierten Beispielen von Rossari und Mandelli: „? Marco dice di amare Maria. In effetti si prende gioco di lei/ Marco dice di amare Maria. Ma non è vero. In effetti si prende gioco di lei“. Der Marker signalisiert also auch in diesem Fall eine Bestätigung, und zwar der hinzugefügten Äußerung. Die Wiedergabe von en fait durch nei fatti erwies sich bei der Analyse der Corpusbeispiele als Überraschung. Von allen aus unterschiedlichen Gegenden Italiens stammenden befragten Muttersprachlern kam die Antwort, dass man den Ausdruck nei fatti in dieser Funktion zwar sieht (und 5 Dazu Bazzanella 2 2001. 6 Treccani (s.a.), Vocabolario: Sinonimi e Contrari, http: / / www.treccani.it/ vocabolario/ effetto_%28Sinonimi-e-Contrari%29/ [27.09.2016]. Kontrastive Studie Französisch - Italienisch zur Wiedergabe von Konnektoren 207 vorwiegend in Pressetexten), sie selbst würden ihn aber nicht gebrauchen. Die Analyse eines exemplarischen Corpus (Stichproben aus vier Jahrgängen von „la Repubblica“ corpus (SSLMIT 2004), aus dem Corpus corpora.unito (Università di Torino s.a.) und aus google) 7 lässt, neben dem Einsatz des Ausdrucks als Adverbial in der Bedeutung tramite, per mezzo di fatti, folgende Typen von Verwendungskotexten erkennen: A. Bei der Verwendung von nei fatti wird die Aussage als nichtparaphrastische Reformulierung des Antezedenten präsentiert, in der auf Theorien, Hypothesen, Erwartungen, Vorhaben, Absichten, Normen usw. hingewiesen wird. Zusammenfassend handelt es sich dabei auch hier um die Opposition zwischen Schein und Realität. Im zweiten Konnekt wird auf den Bereich der Realität Bezug genommen, auf Fakten, welche die Gültigkeit der ersten Aussage widerlegen. Dabei kann der Bezug zum „Schein“ im ersten Konnekt explizit wie in Beispiel (1) durch das Lexem ipotesi oder durch andere epistemische Formen realisiert werden. (1) Lei non ritiene dunque, che gli immigrati siano una risorsa? „Lo sono, ma a fronte di reali offerte di lavoro. Parlare di cifre, 50, 100 o 150 mila, è solo un’ipotesi di studio; nei fatti il procedimento è un altro. Bisogna partire dalle esigenze dell’economia, capire quali e quanti spazi gli immigrati possono occupare. E bisogna che non coprano buchi che gli italiani potrebbero coprire in modo migliore: molti dei. […]” („la Repubblica” corpus). Zu dieser Gruppe gehört auch die besonders häufig auftretende Korrelation a parole - nei fatti (Bsp. 2): (2) C’è una fase nel rialzo dove tutti seminano pessimismo a parole ma nei fatti comprano a tutto spiano (corpora.unito). Der Bezug zum „Schein“ kann aber auch implizit erfolgen wie in Beleg 3, in dem die Erwartungen auf ein transparentes Tarifsystem („Schein“) in Wirklichkeit nicht erfüllt werden: (3) L’occasione del compleanno di Wind è stata utilizzata per correggere la politica tariffaria. Wind, infatti, è partita un anno fa con tariffe trasparenti e senza scatto alla risposta, ma nei fatti più care per conversazioni lunghe („la Repubblica” corpus). 7 Da die Belege in den in dem vorliegenden Beitrag erwähnten Datenbanken mit den entsprechenden Suchmaschinen direkt aufgefunden werden können, werden keine expliziten Fundstellen angegeben. Laura Sergo 208 B. Die durch nei fatti eingeleitete Aussage ist eine bestätigende nicht paraphrastische Reformulierung des propositionalen Gehalts des Antezedenten, die als resümierend oder als explizierend wie in den Belegen 4 und 5 auftreten kann: (4) Da ieri pomeriggio fino a notte fonda le parti sono state impegnate allo Sviluppo Economico, al tavolo del ministro Federica Guidi, per cercare di trovare un’intesa su un piano industriale che interessa 2.700 dipendenti più l’indotto. Nei fatti l’intera città di Terni („la Repubblica” corpus). (5) La linea d’azione di Lunardi, che è sempre intervenuto d’imperio, risolvendo con la nomina di commissari le situazioni portuali più complesse (Livorno, Trieste, Bari, Taranto) ha a più riprese provocato la dura reazione di Assoporti, l’associazione delle authority italiane. Ma il vero scontro si è consumato durante i mesi di discussione della Finanziaria. Anche qui, promesse deluse. Nei fatti la Finanziaria 2006 ha bloccato un miliardo e mezzo di investimenti nei porti, imponendo di non superare il tetto del due per cento in più rispetto agli anni precedenti („la Repubblica” corpus). Ob sich möglicherweise eine Tendenz zur Desemantisierung von nei fatti erkennen lässt, die dessen Einsatz als Marker erklären könnte, werden weitere Forschungen im Bereich der Anwendungskotexte dieses Ausdrucks bestätigen. 4 Corpus Für die vorliegende Untersuchung wurde die Textsorte politische Zeitungskommentare gewählt. Es handelt sich dabei um französische Originalbelege aus Le monde diplomatique (LMD) mit den jeweiligen Übersetzungen ins Italienische. Zeitungskommentare sind zwar medial schriftliche Kommunikationsprodukte, die tendenziell zu konzeptionell distanzsprachlichen Texten gehören (Koch/ Österreicher 1985, 1990/ 2 2011), jedoch zeichnen sie sich im Vergleich zu berichtenden Textsorten der massenmedialen Kommunikation gleichzeitig oft durch das Bemühen der Verfasser aus, eine gewisse Vertrautheit im Verhältnis zum Leser zu suggerieren und eine klare rhetorisch-persuasive Position zu beziehen. Trotz des noch begrenzten Umfangs des Corpus lässt sich eine relativ große Varietät von Lösungen feststellen, was möglicherweise u.a. auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass mehrere Übersetzer am Werk sind. Kontrastive Studie Französisch - Italienisch zur Wiedergabe von Konnektoren 209 5 Kontrastive Analyse der Beispiele F-I 8 Die dargelegten theoretischen Aspekte werden nun anhand der Diskussion von Übersetzungsbeispielen illustriert. Die Semantik der morphologisch verwandten französischen und italienischen Marker stellt zwar den propositionalen Gehalt der Aussage im zweiten Konnekt als im weiteren Sinn zum Bereich der Realität gehörend dar. Auf der kontrastiven Ebene ist die Situation jedoch etwas komplexer, denn, außer bei en realité in realtà decken sich die erwähnten italienischen Konnektoren je nach Anwendungskotext mit den französischen nur teilweise: Für en fait und de fait gibt es im Italienischen keine Äquivalente, sondern ein Netz von Entsprechungen, deren Anwendung je nach Kon- und Kotext festgelegt wird (Rossari 1994: 158). Die Übersetzer sind daher gezwungen, einen Kompromiss zu finden, d.h. den Marker zu wählen, der die meisten Merkmale mit dem ausgangssprachlichen teilt oder sich am einfachsten in den Kotext integrieren lässt. Ob auch erfahrene Übersetzer sich durch die morphologischen Affinitäten der Marker beeinflussen lassen und wenn ja, bei welchen Markern dies zutrifft und mit welchen Auswirkungen auf der pragmatischen Ebene, wird die Analyse der Corpusbeispiele zeigen. 5.1 Die Wiedergabe von en fait Am häufigsten kommt die Wiedergabe von en fait durch in realtà vor. Gemeinsam haben en fait und in realtà die prototypische Funktion, einen neuen Standpunkt einzuführen, der zum Bereich der Realität gehört und einen höheren Informationswert erhält. Die hohe Frequenz des italienischen Markers als Wiedergabe von en fait lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass es sich bei in realtà (wie auch bei en réalité) um eine Art praktische Universallösung für die Übersetzung verschiedener Marker der nicht paraphrastischen Reformulierung wie im Beispiel (6) handelt. (6) Il fallait loger décemment la population, soit 13,5 à 14 millions de personnes, dont près de la moitié d’ouvriers; en fait, près de 17 millions, si l’on prend en compte les migrants ruraux qui affluent dans la ville depuis la fin des années 80. 8 Es wird hier darauf hingewiesen, dass das Ziel der vorliegenden Untersuchung nicht die Bewertung von gelungenen oder misslungenen Übersetzungen ist, es handelt sich vielmehr darum, die Adäquatheit von Übersetzungen als Corpus für kontrastive Untersuchungen zu überprüfen. Laura Sergo 210 Era necessario alloggiare decentemente la popolazione, ossia dai 13,5 ai 14 milioni di persone, di cui quasi la metà operai; in realtà quasi 17 milioni, tenendo conto degli immigrati che, dalla fine degli anni ‘80, hanno cominciato a riversarsi nella città dalle campagne. Die Wiedergabe von en fait durch di fatto ist exemplarisch in den Belegen 7 und 8 dargestellt. In (7) wird im ersten Konnekt ein Appell zur Sensibilisierung der kanadischen Bevölkerung für die Probleme der autochthonen Mitbürger wiedergegeben und dabei die Meinung vieler Kanadier erwähnt, die das Statut zum Schutz der autochthonen Bevölkerung als eine Reihe von übertriebenen Privilegien hinsichtlich Steuerbegünstigungen und Sozialhilfe betrachten. Im zweiten Konnekt wird durch eine nicht paraphrastische Reformulierung ein neuer, mit höherem Informationswert versehener Standpunkt präsentiert: Die Tatsache, dass diese Begünstigungen nur die in Reservaten lebenden Autochthone betreffen, hilft nicht, solche hartnäckigen Vorurteile zu besiegen. Im Zieltext lassen sich durch di fatto die Einschränkungen solcher Vorurteile auf bestimmte Gruppen als reeller Tatbestand interpretieren und die vorhergehende Äußerung gewissermaßen als Hypothese. (7) „Le grand défi du mouvement est de sensibiliser les non-autochtones à ce que nous vivons“, déclare Mme Michel. Car beaucoup de Canadiens perçoivent encore le statut d’autochtone comme un régime de privilèges fiscaux et d’aides sociales surdimensionnées. Peu importe que seules les „premières nations” vivant dans une réserve soient en fait exemptées d’impôts et de taxes: les préjugés ont la peau dure. „La grande sfida del movimento sta nel sensibilizzare i non autoctoni su quello che viviamo”, dichiara la signora Michel. Infatti molti canadesi percepiscono ancora lo status di autoctono come un regime di privilegi fiscali e di aiuti sociali sovradimensionati. Poco importa che solo le „prime nazioni” che vivono in una riserva siano di fatto esentate dalle imposte e dalle tasse: i pregiudizi hanno la pelle dura. Dass auch die vom Original divergierende Serialisierung im Zieltext zur Veränderung von dessen informativen und pragmatischen Eigenschaften beitragen kann, lässt sich in Beispiel (8) feststellen. (8) La formule „absolutisme bureaucratique”, qui caractérise bien le système soviétique, est empruntée aux analyses de la monarchie prussienne du XVIIIe siècle, dont le souverain, bien que chef de la bureaucratie, était en fait dépendant de celle-ci. Kontrastive Studie Französisch - Italienisch zur Wiedergabe von Konnektoren 211 La formula dell’„assolutismo burocratico”, che si attaglia perfettamente al sistema sovietico, è tratta da un’analisi della monarchia prussiana del XVIII secolo, il cui sovrano dipendeva di fatto dalla burocrazia, anche se formalmente ne era il capo supremo. Die durch en fait eingeleitete Aussage ist Teil einer konzessiven Struktur: Es wird dabei eine Opposition zwischen erwarteten offiziellen und wirklichen Kompetenzen des Königs von Preußen dargestellt. Die Verwendung von en fait auch im Zusammenhang mit der konzessiven Struktur soll die Instruktion erteilen, die zweite Aussage als informativer und glaubwürdiger aufzufassen. In der italienischen Version ist der Konzessivsatz nachgestellt und dadurch die informative Struktur der Aussage verändert worden: Fokussiert wird deshalb „anche se formalmente ne era il capo supremo“ und der Skopus von di fatto beschränkt sich auf das Verb „dipendeva“; di fatto fungiert nicht mehr als Marker sondern als Adverbial und ist damit Teil des propositionalen Inhalts der Aussage. Trotz ihrer morphologischen Affinität teilen, wie schon erwähnt, en fait und infatti nur einige wenige Funktionen. Im Corpus ließen sich kaum Belege finden, in denen infatti eine angemessene Wiedergabe von en fait als Marker darstellt. Als typisches Beispiel soll hier Beleg 9 diskutiert werden: Durch en fait wird die starke Distanzierung des Sprechers vom ersten Standpunkt signalisiert, die auch das Adjektiv „fausse“ und das Verb „prétendre“ im ersten Konnekt bekräftigen; dem in der zweiten Aussage vertretenen Standpunkt wird ein höherer Informationswert und eine höhere Glaubwürdigkeit verliehen. Es handelt sich damit um einen oppositiven Kontext. Infatti kann jedoch nicht als Marker der Opposition, sondern der Bestätigung (Rossari 1993: 75) oder, in argumentativen Kotexten, als argumentative Abstützung des Antezedenten fungieren (Rossari 1994: 179) (9) Sur la base des indications fournies par Tsahal, la radio d’Israël a aussi prétendu que des ambulances palestiniennes transportaient des „pneus et des munitions” vers les différents lieux de confrontation. Mais, pour ce faire, les Palestiniens peuvent utiliser facilement des véhicules privés. En outre, il y a des représentants de la Croix-Rouge partout où des affrontements se déroulent, qui contrôlent l’utilisation faite des ambulances. Cette fausse nouvelle avait en fait pour but de couvrir les attaques scandaleuses lancées par les forces israéliennes contre les ambulances palestiniennes, et le meurtre du chauffeur de l’une d’entre elles. Laura Sergo 212 Sulla base di indicazioni fornite da fonti dell’esercito, la radio di Israele ha anche preteso che le ambulanze palestinesi trasportassero „pneumatici e munizioni” verso i vari luoghi di scontro. Ma, per far ciò, i palestinesi possono usare facilmente auto private. Inoltre, l’uso delle ambulanze è controllato a vista dai rappresentanti della Croce rossa, sempre presenti sul luogo degli scontri. Questa falsa notizia aveva infatti lo scopo di coprire gli attacchi scandalosi compiuti dalle forze israeliane contro le ambulanze palestinesi e l’assassinio dell’autista di una di esse. Eine Wiedergabe von en fait durch in effetti wird in Beispiel (10) gezeigt. Das Beispiel besteht aus drei Äußerungen: Inhalt der ersten ist der Appell des damaligen Außenministers Joschka Fischer zu einer Neugründung der EU. In der zweiten Äußerung wird dies als nichts Neues präsentiert. Durch en fait wird die Instruktion erteilt, den in der dritten Äußerung dargestellten Standpunkt als glaubwürdiger zu interpretieren, denn der Erfolg in den Medien war nicht auf den Inhalt der Rede, sondern auf den richtigen Zeitpunkt und auf den richtigen Anlass zurückzuführen. Der Kontext ermöglicht die Anwendung von in effetti als Teiläquivalent von en fait, da der propositionale Gehalt der ersten Äußerung durch „Proposta non del tutto originale“ widerlegt wird und damit die Voraussetzung für eine Bestätigung im Sinne von Mandelli (2008: 440) gegeben ist. (10) Le 12 mai, le vice-chancelier et ministre allemand des affaires étrangères, par ailleurs chef de file des Verts de son pays, lançait un appel à une „refondation institutionnelle” de l’Union devant déboucher, à terme, sur une fédération „entre un petit nombre” de pays désireux de se transformer en „centre de gravité” de l’Europe - avec Constitution propre, Parlement à deux chambres et président élu au suffrage universel - sans attendre tous les autres qui continueraient à cheminer au rythme communautaire de croisière. Tout cela n’était pas entièrement original: ainsi, les „coopérations renforcées”, première étape vers ce „centre de gravité” appelé „noyau dur” par d’autres, figuraient déjà dans le traité d’Amsterdam de 1997. Quant à l’idée d’Europe fédérale, elle s’était déjà incarnée - sans remonter aux Etats-Unis d’Europe proposés par Victor Hugo - dans la CECA de 1951, puis dans le projet de Communauté européenne de défense de 1952, repoussé par le Parlement français en 1954. En fait, le succès médiatique de la proposition de M. Fischer a tenu moins à son contenu qu’au moment où elle a été formulée: au beau milieu d’une conférence intergouvernementale censée élaborer un nouveau traité européen, et à la veille de la présidence française de l’Union. Kontrastive Studie Französisch - Italienisch zur Wiedergabe von Konnektoren 213 Il 12 maggio il vice cancelliere e ministro degli esteri tedesco, capogruppo dei Verdi del suo paese, lanciava un appello per una „rifondazione istituzionale” dell’Unione, che avrebbe dovuto condurre a una federazione „fra un piccolo numero” di paesi desiderosi di trasformarsi nel „centro di gravità” dell’Europa - con una propria Costituzione, parlamento bicamerale e presidente eletto a suffragio universale - senza aspettare tutti gli altri, la cui integrazione europea avrebbe potuto procedere alla velocità di crociera comunitaria. Proposta non del tutto originale: ad esempio, le „cooperazioni rinforzate”, prima tappa verso il „centro di gravità” definito da altri „nocciolo duro”, figuravano già nel trattato di Amsterdam del 1997. Quanto all’idea di Europa federale, questa si era già incarnata - anche senza risalire agli Stati uniti d’Europa proposti da Victor Hugo - nella Ceca del 1951, e poi nel progetto della Comunità europea di difesa del 1952, respinto nel 1954 dal parlamento francese. In effetti il successo che la proposta di Fischer ha riscosso nei media è stato determinato non tanto dal suo contenuto, quanto dal momento nel quale essa è stata formulata, nel bel mezzo di una conferenza intergovernativa dalla quale ci si attendeva l’elaborazione di un nuovo trattato europeo, e alla vigilia della presidenza francese dell’Unione. In Beispiel (11) werden zwei Aussagen gegenübergestellt, wobei schon das Verbalgefüge „supposé destiné” die erste als nicht glaubwürdig charakterisiert. En fait, auch im Zusammenhang mit dem adversativen mais, leitet einen neuen Standpunkt ein, der den ersten widerlegt. Nei fatti als Signal der Opposition „Absicht/ Vorhaben - Wirklichkeit“ ist in diesem Kontext eine von möglichen Lösungen; durch die - im Original nicht vorhandene - Korrelation sulla carta - nei fatti wird der Bezug zum „Schein“ in der ersten Aussage, noch zusätzlich expliziert. (11) La lutte contre le narcotrafic est un excellent moyen de pression sur les gouvernements de la région et permet une présence américaine accrue. Les efforts de Mme Madeleine Albright pour impliquer le plus grand nombre de pays de la région dans le Plan Colombie - supposé destiné à lutter contre le trafic de drogue mais dirigé, en fait, contre la guérilla des Forces armées révolutionnaires de Colombie (FARC) - illustrent cette volonté. La lotta contro il narco-traffico è un eccellente mezzo di pressione sui governi della regione e permette un’accresciuta presenza statunitense. Gli sforzi di Madeleine Albright per coinvolgere il maggior numero di paesi della regione nel Piano Colombia - che sulla carta è destinato a lottare contro il traffico di droga ma, nei fatti, è diretto contro la guerriglia delle Forze armate rivoluzionarie di Colombia (Farc) - illustrano questa volontà. Laura Sergo 214 Die drittgrößte Gruppe von Übersetzerentscheidungen bei en fait ist im untersuchten Corpus die Nullentsprechung. Dies scheint eine praxisbedingte Kompromisslösung zu sein, die die Übersetzer, die u.a. bekanntlich unter Zeitdruck arbeiten, aus dem Zwang befreit, eine - im Kotext eventuell unsichere - Interpretation der Funktion des Markers vorzunehmen. Die Auslassung bewirkt nämlich keine Modifikation der informativen und auch nicht der pragmatischen Struktur der Äußerung. Meist vertreten sind in dieser Gruppe Anwendungskotexte, in denen der Marker die Funktion erfüllt, den reellen oder als solchen dargestellten informativen Charakter einer Äußerung hervorzuheben (Blumenthal 1996: 266), wie im schon diesbezüglich markierten Spaltsatz im Beispiel (12). Durch die Topikalisierung in der Zielsprache bleibt der Hervorhebungseffekt erhalten. (12) En mars 2009, la Clean Air Society, une organisation non gouvernementale, tint une réunion d’information sur la qualité de l’air à Gladstone. C’est en fait l’Agence de protection de l’environnement (Environment Protection Agency, ou EPA) du Queensland qui finança l’événement mais, selon le professeur Doley de l’université du Queensland, membre de la Clean Air Society, l’EPA „ne voulait pas apparaître” et souhaitait que „les choses restent informelles”. Nel marzo 2009, la Clean air society, organizzazione non governativa, ha tenuto una riunione informativa sulla qualità dell’aria a Gladstone. A finanziare l’evento è stata l’Agenzia per la protezione dell’ambiente (Environment protection agency, Epa) del Queensland ma, secondo il professore Doley dell’università di Queensland, membro della Clean air society, l’Epa „non voleva comparire” e auspicava che „le cose rimanessero informali”. In Beispiel (13) kündigt en fait einen für die mündliche Kommunikation typischen „coup de force présuppositionnel“ an (Rossari 1994: 136), in dem der Verfasser durch betont nähesprachliche Formulierungen eine Vertrautheit mit dem Leser zu suggerieren beabsichtigt. Wie oben schon gesagt, wird diese Funktion im Italienischen durch Marker wie appunto oder, wie in diesem Fall denkbar, insomma erfüllt, auf dessen Einsatz der Übersetzer jedoch verzichtete. (13) Six mouches bourdonnent dans mon crâne et m’empêchent de dormir. Ce ballet d’insectes volants qui alimente mes insomnies est, en réalité, bien plus important, mais je dis six pour faire court. Je fais part ici de quelques-unes des angoisses qui tourmentent mes nuits. Comme on le constatera, cela n’a rien d’une partie de plaisir, puisque ces angoisses concernent, en fait, excusez du peu, l’avenir du monde. Kontrastive Studie Französisch - Italienisch zur Wiedergabe von Konnektoren 215 Sei moscerini mi ronzano nella testa, impedendomi di dormire. A dire il vero, questo balletto di insetti, che alimenta la mia insonnia, è ben più numeroso, ma taglio corto. Voglio rendervi partecipi di qualcuna delle angosce che tormentano le mie notti. Come vi sarà facile constatare, non c’è nulla di piacevole, poiché queste angosce riguardano, scusate se è poco, il futuro del mondo. 5.2 Die Wiedergabe von de fait Wie schon erwähnt weist de fait eine wesentlich geringere Frequenz als en fait auf, was auch den Umfang des Corpus erklärt. Der größte Teil der Okkurrenzen von de fait ist durch di fatto wiedergegeben. Da sich zwischen den Markern selten eine funktionale Äquivalenz feststellen lässt, ist diese übersetzerische Lösung möglicherweise auch auf die morphologische Ähnlichkeit zurückzuführen. Bei der Wiedergabe von de fait durch di fatto lassen sich zwei Typen von Inkompatibilität feststellen. Erstens: Der Marker di fatto wird auch in argumentativen Kotexten eingesetzt, obwohl dies zu dessen Funktionen nicht gehört, wie es sich in Beispiel (14) feststellen lässt: De fait leitet hier ein Argument ein, das die These im Vordersatz, „Les zoos humains [...] restent des sujets complexes à aborder [...]“ stützt. Der Gebrauch von di fatto bewirkt, dass die argumentative Struktur nicht erkennbar ist. Um die argumentative Struktur wiederzugeben, wären in diesem Fall infatti oder in effetti eine geeignetere Lösung gewesen. (14) Les zoos humains, expositions ethnologiques ou villages nègres restent des sujets complexes à aborder pour des pays qui mettent en exergue l’égalité de tous les êtres humains. De fait, ces zoos, où des individus „exotiques“ mêlés à des bêtes sauvages étaient montrés en spectacle derrière des grilles ou des enclos à un public avide de distraction, constituent la preuve la plus évidente du décalage existant entre discours et pratique au temps de l’édification des empires coloniaux. Gli zoo umani, esposizioni etnologiche o villages nègres rimangono temi difficili da affrontare per paesi che proclamano l’uguaglianza di tutti gli esseri umani. Di fatto questi zoo, in cui individui „esotici” mescolati a bestie selvatiche erano mostrati dietro grate o recinti a un pubblico avido di distrazioni, sono la prova più evidente del divario tra discorso e pratica ai tempi della costruzione degli imperi coloniali. Zweitens: Di fatto wird eingesetzt auch wenn im Original de fait als fokalisierendes Element fungiert, wie in Beispiel (15), in dem der Marker, ähnlich wie en fait, Bestätigung und „focalisation particularisante“ im Sinne Laura Sergo 216 von Blumenthal (1996: 260) signalisiert: Diese Funktionen können aber schwer von dem Marker di fatto erfüllt werden, der vorwiegend in oppositiven Kotexten eingesetzt wird und außerdem nicht als fokalisierende Partikel fungieren kann. (15) Par ailleurs, dès l’invention de l’imprimerie, l’accès à la lecture, à l’écriture et aux bibliothèques concernait déjà les énergies douces. Il ne s’agit donc pas d’une évolution linéaire de l’histoire, qui irait des technologies dures vers les technologies douces. Il y a plutôt une double histoire: celle des énergies douces, d’un côté, et, de l’autre, celle des énergies dures. Les technologies douces, qui exploitent le doux et, de fait, la culture, sont en pleine ascension. Or, dans la tradition européenne, on réfléchit sur la marchandisation de la culture à partir d’un concept de droit canon: le péché de simonie. Peraltro, fin dall’invenzione della stampa, l’accesso alla lettura, alla scrittura e alle biblioteche riguardava già le energie dolci. Non si tratta quindi di un’evoluzione lineare della storia che condurrebbe dalle tecnologie dure a quelle dolci. Si evidenziano, al contrario, due storie: quella delle energie dolci da un lato e quella delle energie dure dall’altro. Le tecnologie dolci, che sfruttano il dolce e, di fatto, la cultura, sono in piena ascesa. Nella tradizione europea, però, è in atto un processo di riflessione sulla mercificazione della cultura a partire da un concetto di diritto canonico: il peccato di simonia. Als teiläquivalent ist dagegen die Wiedergabe von de fait durch in effetti in (16) zu betrachten: Beiden Konnektoren gemeinsam ist nämlich die Funktion, durch eine nicht paraphrastische Reformulierung einen neuen Standpunkt einzuführen, der den vorhergehenden bestätigt. (16) Le „fait communiste” avait une solution démographique, proclamaient les grands médias: les nostalgiques allaient quitter le parti un par un ou mourir de vieillesse. En attendant, les autres partis s’étaient constitués en „bloc démocratique”, refusant toute coopération avec le PC dans les administrations locales et au Parlement. Les plus raisonnables, à l’intérieur du Parti socialiste, mettaient des préalables à l’acceptation du PC parmi eux: une autocritique de fond, l’abandon du nom communiste, l’acceptation programmatique de l’économie mixte et du pluralisme parlementaire comme base du nouveau système politico-économique. De fait, cette stratégie anticommuniste a réussi à „ghettoïser” le PC pendant les années de gouvernement conservateur. Kontrastive Studie Französisch - Italienisch zur Wiedergabe von Konnektoren 217 Secondo i grandi media, la „questione comunista” avrebbe avuto una soluzione demografica: i nostalgici avrebbero uno alla volta lasciato il paese, o si sarebbero spenti per vecchiaia. Nel frattempo, gli altri partiti avevano formato un „blocco democratico” rifiutando ogni collaborazione con il Pc nelle amministrazioni locali e in parlamento. I più ragionevoli, all’interno del partito socialista (Ps), ponevano condizioni all’accettazione del Pc nei loro ranghi: una autocritica di fondo, l’abbandono del nome comunista, l’accettazione programmatica dell’economia mista e il pluralismo parlamentare come base del nuovo sistema politico-economico. In effetti, questa strategia anticomunista è riuscita a ghettizzare il Pc durante il periodo del governo conservatore. 6 Ergebnisse und Ausblick Die vorliegende Untersuchung bestätigt, dass die Ergebnisse der Studien von Rossari ein wertvolles und nützliches Instrumentarium für kontrastive Untersuchungen im Rahmen der Diskursmarker darstellen. Aufgrund des Umfangs des analysierten Corpus kann kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben werden, es lassen sich jedoch Tendenzen feststellen. Bei der Wiedergabe von en fait sind sich die Übersetzer im Allgemeinen dessen bewusst, dass trotz der morphologischen Affinität, der Marker infatti nicht funktionsgleich ist und versuchen - so scheint es - von Fall zu Fall eine wenigstens teiläquivalente Lösung zu finden, wobei insbesondere in realtà präferiert wird. Dazu gehört auch die Nullübersetzung, die am häufigsten bei Kotexten auftritt, in denen en fait einen „coup de force présuppositionnelle“ signalisiert oder als phatisches Element den informativen Charakter einer Äußerung hervorhebt. Der Einfluss der morphologischen Analogie spielt bei der Wiedergabe von en fait nur gelegentlich eine Rolle, wobei das Resultat meist der Pragmatik des Originals nicht entspricht. Stärker scheint dagegen die Interferenz bei de fait zu wirken, obwohl die von den beiden Markern de fait und di fatto erteilten Instruktionen nicht äquivalent sind. Die in der vorliegenden Studie festgestellten Tendenzen könnten durch die Hinzuziehung von weiteren, auch mündlichen, Textsorten überprüft werden. Denkbar ist außerdem eine Erweiterung der kontrastiven Analyse auf das Deutsche, wobei die Übersetzer nicht durch die Attraktion der morphologischen Affinität beeinflusst wären. Laura Sergo 218 Bibliographie Corpus LMD = Le Monde diplomatique. Archives, DVD-Rom. 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Für die Zwecke dieses Beitrages, in dem es primär um die sprachliche Kausalität gehen soll, sei lediglich ein Arbeitsbegriff vorausgeschickt, der Kausalität grob als eine Relation zwischen zwei Sachverhalten fasst, von denen der eine je nach Interpretation die Ursache, der Grund, das Motiv, der Anlass, die Voraussetzung, das Prinzip des anderen ist, der andere demnach die Folge bzw. die Wirkung darstellt, die daraus resultiert. Es soll also vom konzeptuellen Schema eines URSACHE-WIRKUNG-Szenariums ausgegangen werden, sekundär auch vom Konzept der Vor- und Nachzeitigkeit, zumal die URSACHE von ihrer Konzeption her der WIRKUNG vorausgeht. 1 Schmidhauser (1995: 1) kennzeichnet diese den kausalen Beziehungen zugrundeliegende bipolare, asymmetrische und nicht umkehrbare Relation mit den Termini Antecedens und Consequens. Die kausale Relation kann sehr variant ausgestaltet und durch unterschiedliche CAUSAE 2 bedingt sein. Hilfreich und zielfüh- 1 Cf. dazu Nazarenko (2000: 5): „Il existe un large consensus pour reconnaître l’aspect temporel de la causalité: une cause précède son effet“. Und Nazarenko (2000: 42), diesbezüglich noch etwas differenzierter: „Pour le sens commun, une cause, qui est antérieure logiquement à son effet, ne peut pas lui être postérieure temporellement. Plusieurs schémas temporels sont possibles: la cause peut être strictement antérieure; elle peut débuter avant l’effet et se poursuivre pendant tout ou partie de la durée de l’effet; la cause et l’effet peuvent être simultanés. Mais la cause ne peut pas débuter après l’effet“. 2 Cf. dazu Nazarenko (2000: 123): „[...] de nombreux auteurs cherchent à distinguer différentes causes, à élaborer des typologies, de manière à caractériser chacun des facteurs qui produisent un effet donné“. Am bekanntesten ist wohl die auf Aristoteles zurückgehende Unterteilung in: causa materialis (das, woraus eine Sache gemacht ist und was dieser Sache immanent ist), causa formalis (die Form, das Modell oder die Essenz einer Sache), causa agens (das Agens, das eine Sache schafft; das, was eine Veränderung oder Ruhe einleitet), causa finalis (der Zweck/ das Ziel, für die eine Sache geschaffen wird). Versuche der Kategorisierung von Kausalität fehlen nicht, wo- Heidi Siller-Runggaldier 222 rend erscheint in diesem Zusammenhang die von Kreipl (2004) vorgenommene Differenzierung zwischen faktischer und inferentieller Kausalität. Mit dieser dichotomisch ausgerichteten Kategorisierung gelingt es ihr, grundsätzliche Unterschiede des Kausalitätsbegriffes übersichtlich und nachvollziehbar aufzuzeigen. Die beiden Kausalitätsarten können auf jeden Fall - so Kreipl (2004: 78-79) - „auf der abstrakten Ebene eindeutig voneinander unterschieden werden“. Danach entspricht die faktische Kausalität dem in der Natur objektiv beobachtbaren und daher auch objektiv darstellbaren direkten URSACHE-WIRKUNG-Zusammenhang zwischen zwei Sachverhalten, woraus dann auch Regelhaftigkeit und Vorhersehbarkeit abgeleitet werden können. Es handelt sich dabei um eine physikalische Kausalität, in der URSACHE und WIRKUNG in einer Beziehung der Notwendigkeit zueinander stehen. Bei der Erkennung faktischer Kausalität spielen kognitive Prozesse wie Denken und Erinnerung sowie Interpretation auf der Grundlage von Erfahrung und gewonnenen Erkenntnissen eine wichtige Rolle. Die inferentielle Kausalität, auf die auch mit dem Begriff Begründungskausalität referiert wird, liegt demgegenüber dann vor, wenn der URSA- CHE-WIRKUNG-Zusammenhang zwischen zwei Sachverhalten „nur indirekt besteht bzw. zunächst nicht erkennbar ist, sondern vom Sprecher als durch Denkleistung hergestellt präsentiert wird“ (Kreipl 2004: 73). Daher können bei der inferentiellen Kausalität „neben der bzw. den genannten Ursache(n) immer auch weitere existieren“ (Kreipl 2004: 77). Der Sprecher kann also „Kausalzusammenhänge ‘seiner Wahl‘ herstellen und diese versprachlichen“, wodurch „die Kausalität auch zu einer subjektiven Kategorie“ (Kreipl 2004: 77) wird und dazu dient, eine asserierte oder negierte Aussage zu begründen bzw. zu rechtfertigen. Das heißt also, dass der Sprecher prinzipiell die Möglichkeit hat, die Versprachlichung der Relation zwischen Antecedens und Consequens faktisch-objektiv oder inferentiell-subjektiv auszurichten, demnach unabhängig vom logischen Status der entsprechenden Relation. Das bedeutet, dass es im Ermessen des Sprechers liegt, wie er einen Kausalzusammenhang darstellen möchte. Werden zum Beispiel Konnektoren der faktischen Kausalität gewählt, wird ein Kausalzusammenhang als in der Realität objektiv vorhanden dargestellt: Dadurch kann auch ein vom Sprecher inferentiell hergestellter Zusammenhang als in Wirklichkeit objektiv beobachtbar und damit als glaubwürdig dargestellt werden (Kreipl 2004: 81). bei der Bogen „von einer Subsumierung verschiedener Sinnrelationen unter eine sehr weit gefasste ‘Kausalität‘ bis hin zu einer sehr nuancierten Unterteilung der Kausalität in viele Ausprägungen“ (Kreipl 2004: 74) reicht. Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 223 Die Eigenschaften, welche die faktische und die inferentielle Kausalität voneinander unterscheiden, können zusammenfassend anhand der von Nazarenko (2000: 5) vorgeschlagenen und von Kreipl (2004) aufgegriffenen „généralisation en loi causale“ gezeigt werden: Die faktische Kausalität beschreibt Zusammenhänge, die immer auf ein generell gültiges kausales Gesetz zurückzuführen sind. Nur dadurch kann die konkret vorliegende kausale Verknüpfung auch als solche identifiziert werden. In Begründungszusammenhängen ist diese „généralisation en loi causale“ weit weniger ausgeprägt bzw. nicht möglich: Es handelt sich um einmalige kausale Zusammenhänge (Kreipl 2004: 82). Nazarenko (2000: 6) geht sogar so weit, die Objektivität auch von faktischer Kausalität zu leugnen und diesbezüglich einen starken Relativismus zu vertreten: Même si elle se présente sous le jour de l’objectivité, la causalité est une relation subjective, selon nous. Nous ne pensons pas qu’il existe de causalité en soi. Nous avons vu qu’un même effet peut être rattaché à de multiples causes, et que ce lien, toujours approximatif et simplificateur, dépend du point de vue et des possibilités d’action de l’observateur. Il n’y a donc pas de causalité en soi. Une relation causale n’est pas une relation existant entre des faits réels, mais une lecture de la réalité, une interprétation des faits. Wenn man entsprechend davon ausgeht, dass eine kausale Relation über Beobachtung und Begründung erfassbar ist und nicht an sich besteht, ist daraus wohl zu schließen, dass sie kognitiver Natur ist und letztlich das Resultat einer Abstraktion darstellt. Je nach Konzeptualisierung erscheint sie daher sprachlich unterschiedlich realisiert, so etwa kausal, konditional, final etc. Das zugrundeliegende Muster bleibt dabei gleich, d.h. ‘WIRKUNG, weil URSACHE‘ bzw. ‘FOLGE, weil GRUND‘. Zwischen dem Erfassen der Antecedens-Consequens-Relation und ihrer Versprachlichung muss demnach ein mentaler Prozess angesetzt werden, der an der Schnittstelle zwischen Kognition und Sprache abläuft: Das außersprachliche, in seiner Ontologie, in seinem Faktivitätswert sowie in der Art seines Zustandekommens variable kausale Verhältnis muss kognitiv verarbeitet werden, d.h. je nach Fokussierung und Schwerpunktsetzung der am kausalen Prozess beteiligten Größen bzw. Sachverhalte konzeptualisiert und entsprechend in Sprache übertragen werden. Der dadurch entstehende sprachliche Ausdruck spiegelt dann die ihm zugrunde liegende Konzep- Heidi Siller-Runggaldier 224 tualisierung wider. Die in Frage kommenden zentralen Konzeptualisierungsvarianten kausaler Relation sind: 3 1. Die genuin kausale Relation: Es handelt sich hierbei um die UR- SACHE-WIRKUNG-Relation, bei der vorausgesetzt wird, dass die Wirkung auch tatsächlich eintritt (weil URSACHE deshalb WIRKUNG). In ihrer Konzeptualisierung geht diese Kausalrelation von der Wirkung, d.h. vom Consequens aus und lässt das Antecedens folgen. Damit kann sie als Antwort auf eine warum-Frage gedeutet werden, entspricht also dem Schema ‘WIRKUNG, weil URSACHE‘ (Kreipl 2004: 75). 2. Die konsekutive Relation: In diesem Fall geht die Betrachtung von der Ursache aus; deren Wirkung ist ihr demnach nachgeordnet (URSACHE sodass WIRKUNG). Auf diese Relation trifft das Schema ‘URSACHE, daher WIRKUNG‘ (Kreipl 2004: 75) zu. UR- SACHE und WIRKUNG erscheinen also im selben logischen Verhältnis wie in der genuin kausalen Relation, sind hier aber spiegelverkehrt angeordnet und damit aus entgegengesetzter Perspektive betrachtet. 3. Konditionale Relation: Ausgegangen wird von der Ursache, die aber hypothetisch gesetzt ist, sodass der Eintritt der Wirkung von deren Realisierung abhängt bzw. die Realisierung der Ursache die Bedingung für den Eintritt der Wirkung darstellt (wenn UR- SACHE dann WIRKUNG). Diese Relation spiegelt sich im Schema ‘falls URSACHE, dann WIRKUNG‘ wider. Einer negativen Kausalrelation entspricht eine kontrafaktische Konditionalrelation (wenn NICHT URSACHE dann NICHT WIRKUNG → weil NICHT URSACHE, NICHT WIRKUNG). 4. Finale Relation: Diese Relation entspricht der Konzeptualisierung einer durch einen belebten Agens gewollten bzw. intendierten Ursache, deren Wirkung zum Zeitpunkt ihrer Konzeption erst erwünscht bzw. beabsichtigt, daher noch virtuell bzw. nicht faktiv ist. Sie könnte auch nicht eintreten (URSACHE damit WIR- KUNG). Die intendierte Wirkung stellt die mögliche Folge der Ursache dar, kann also mit dem Schema ‘URSACHE, damit gewünschte WIRKUNG‘ wiedergegeben werden. 3 Die folgende Darstellung stützt sich großteils auf Kreipl (2004: 75), die sich ihrerseits auf Forner (1988: 207) beruft. Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 225 5. Konzessive Relation: In diesem Fall entspricht die Wirkung nicht dem, was eigentlich aufgrund der Ursache eintreten müsste; letztere ist nicht wirksam, sie ist ausgeschaltet. Die erfolgte Wirkung ist daher unerwartet (obwohl/ trotz URSACHE unerwartete WIR- KUNG). In dieser Relation sind URSACHE und WIRKUNG demnach inkompatibel. Sie schließen sich gegenseitig aus. Wie mit Kreipl (2004: 75) festgestellt werden kann, hängen die unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Kausalität mit „der allgemeinmenschlichen Tendenz, Tatsachen und Ereignisse kausal zu interpretieren“ zusammen. Nazarenko (2000: 45s.) spricht in diesem Zusammenhang von einer „propension à l‘interprétation causale“. Damit könnte die menschliche Neigung zum Erschließen von Kausalität wohl auch als eine kognitive Propension zur Begründung bzw. zum Begründen ganz allgemein gedeutet werden und damit dazu, die erfahrbare Wirklichkeit in irgendwie strukturierten Zusammenhängen zu erfassen und so zu begreifen. Welt muss im subjektiven Erfahrungsprozess in zusammenhängender Weise interpretiert werden, damit sie überhaupt „gedacht“ werden kann (Schmidhauser 1995: 27). Sprachlich schlagen sich die aufgezeigten kausalen Relationen in der Minimalstruktur <Aussage 1 - Sinnrelationale Verknüpfung - Aussage 2> nieder. Für die genuin kausale Verknüpfung muss entsprechend eine „kausalrelationale Verknüpfung“ angesetzt werden. Die zwei zueinander in Beziehung gebrachten Aussagen können mit Schmidhauser (1995) als „Konjunkte“ bezeichnet werden, zumal sie durch Kausalfeldelemente, also besondere sprachliche Mittel zur Kennzeichnung des kausalen Verhältnisses miteinander verbunden werden. Im Folgenden soll es nur um die genuin kausale Relation 4 gehen und darum, wie sie sich intra- und interlinguistisch manifestiert. Es geht also ganz allgemein um den Kausalausdruck und seine spezifischen konkreten Realisierungen. Wie bereits festgestellt, ist sprachliche Kausalität immer eine bewusst erkannte, auf der Grundlage eines kognitiven Prozesses interpretierte und damit über Konzeptualisierung gesteuerte Kausalität, unabhängig davon, 4 Schmidhauser (1995: 114) stellt anhand der Resultate aus seinen Untersuchungen fest, „dass innerhalb der logischen Kategorien die kausale hierarchisch dominant, d.h. dass sie als erste für einen Interpretationsversuch in Betracht gezogen wird vom Rezipienten“, dass sie also „[...] innerhalb dieser Einzelkategorie der propositionalen Verwendungsweise nicht nur am häufigsten, sondern auch interpretatorisch dominant auftritt“. Heidi Siller-Runggaldier 226 ob sie faktischer oder inferentieller Natur ist. Zentral dabei ist, dass der Sprecher im konkreten Sprechakt eine Ereignisfolge als miteinander kausal verknüpft interpretiert bzw. behauptet. Mit Schmidhauser (1995: 28) kann daher festgestellt werden, dass mit einer sprachlich kausal markierten Äußerung nicht ein innerer Zusammenhang zwischen Antecedens und Consequens vorausgesetzt, sondern [...] behauptet [wird]. Der Sprecher teilt mit, dass für ihn - auf dem Hintergrund seines Wissens von der Welt - ein Kausalverhältnis zwischen Antecedens und Consequens besteht. Aus linguistischer Sicht sei es daher sekundär, so Schmidhauser (1995: 29) weiter, „[o]b der Sachverhalt realiter zutrifft“ oder nicht. „Die sprachlichkommunikative Sicht ist demnach grundsätzlich eine andere als die formallogische“ (ibid.). Daraus kann, immer Schmidhauser folgend, der Schluss gezogen werden, dass in einem ersten Schritt klar getrennt werden muss zwischen einer inhaltlichen „Wahrheit“ im Sinne einer adäquaten Widerspiegelung von ontologischer Faktizität allgemein einerseits und dem durch ein sprachliches Gebilde aufgebauten resp. behaupteten Zusammenhang andererseits. Kommunikativ gesehen ist nun genau das kausal, was von einem Sprecher intentional in einen kausalen Zusammenhang gesetzt wird (Schmidhauser 1995: 30-31). Dass zwischen außersprachlicher Wirklichkeit und darauf ausgerichteter formallogischer Kausalität einerseits und sprachlicher Kausalität andererseits unterschieden werden muss, wurde oben bereits an den unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Kausalität gezeigt. Noch einmal deutlich soll diese Notwendigkeit der Trennung zwischen den beiden Erscheinungsformen von Kausalität anhand des Beispiels <Training → sportlicher Erfolg> gezeigt werden, dessen kausaler Zusammenhang sowohl kausal als auch konditional versprachlicht werden kann: Weil du hart trainierst, wirst du sicher Erfolg haben. Wenn du hart trainierst, wirst du sicher Erfolg haben. Bei kausaler Realisierung ist, wie Schmidhauser (1995: 31) zeigt, das „Antecedens instantiiert“, auch wenn es erst in der Zukunft wirksam wird. Bei konditionaler Realisierung hingegen ist das „Antecedens [noch] nicht instantiiert“, d.h. lediglich prognostiziert und damit als nicht zwingend eintretend konzeptualisiert. Was „ausserlinguistisch gesehen als einzelner URSACHE-WIRKUNG-Zusammenhang zu betrachten ist“, kann also „sprachlich in unterschiedlicher Weise in Bezug gesetzt“ und variant realisiert werden. Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 227 Die kausal konzeptualisierten sprachlichen Realisierungsvarianten werden im Folgenden anhand der sie konkret repräsentierenden, von Schmidhauser (1995: 8 passim) als „Kausalfeldelemente“ bezeichneten sprachlichen Mittel untersucht und hinsichtlich ihres spezifischen Einsatzes in verschiedenen Kausalfeldtypen beschrieben. Damit können die die einzelnen Kausalfeldtypen potentiell kennzeichnenden Kausalfeldelemente als tertium für den daran anschließenden Vergleich ihrer jeweiligen Konkretisierung im Deutschen, im Ladinischen (in seiner Grödner Varietät) 5 und im Italienischen herangezogen werden. Ziel des Vergleiches ist die Feststellung von Konvergenzen und Divergenzen sowohl hinsichtlich der Markierung wie der damit zusammenhängenden Perspektivierung sprachlicher Kausalität in den einzelnen Kausalfeldtypen der drei Sprachen. Dabei soll v.a. für das Ladinische als Kleinsprache geprüft werden, ob darin die sprachliche Kennzeichnung von Kausalität mit grammatischen und lexikalischen Mitteln variant möglich ist, oder aber, ob von einem starken Formensynkretismus auszugehen ist. 2 Die Kausalfeldelemente (explizite und implizite) 2.1 Allgemeines Mit Schmidhauser (1995: 29) kann davon ausgegangen werden, dass in Satzverbindungen (Satzgefügen und Satzreihen) und in Satzteilen jeweils ein Satz bzw. Satzteil das Antecedens-Konjunkt zum Ausdruck bringt, der andere Satz bzw. Satzteil hingegen das Consequens-Konjunkt. Das Antecedens-Konjunkt kann in einem komplexen Satz prinzipiell in Voranund/ oder in Nachstellung auftreten. Dabei ändert sich - wie unten noch zu zeigen sein wird - die funktional-perspektivische Gewichtung des Antecedens-Konjunkts. Im Folgenden sollen verschiedene Typen von Kausalfeldelementen besprochen werden, und zwar im Besonderen: Subjunktionen, Konjunktionen, Konjunktionaladverbien, Verben, im Besonderen Relationsverben, infinite Verbformen, unmarkierte syntaktische Strukturen 5 Mit Ladinisch wird eine jener drei alpenromanischen Varietätengruppen bezeichnet, die einer nunmehr langen Tradition entsprechend unter dem Etikett Rätoromanisch zusammengefasst werden. Das Ladinische wird in den Dolomitentälern Gröden, Gadertal und dessen Seitental Enneberg (beide Provinz Bozen), Fassa (Provinz Trient) sowie Buchenstein und Ampezzo (Provinz Belluno) gesprochen und weist entsprechend talschaftsspezifische sprachliche Besonderheiten auf. Das Grödnerische ist das in Gröden gesprochene Ladinisch. Heidi Siller-Runggaldier 228 sowie Adpositionen. Nicht berücksichtigt werden kausale Fragesätze 6 und kausal interpretierbare Substantive, 7 Adjektive und Adverbien. 8 Adjektive und Adverbien sind im Zusammenhang mit der Wiedergabe von Kausalität nur indirekt einsetzbar, indem sie denotierte Größen bzw. Sachverhalte lediglich hinsichtlich möglicher Kausalitätseigenschaften näher bestimmen. Sie spielen diesbezüglich daher im Verhältnis zu den Verben und den Substantiven eine untergeordnete Rolle, 9 wobei auch Verben und Substantive ihre kausale Bedeutung zur Gänze erst aus dem Zusammenwirken mit dem Kontext erschließen lassen. Als für die Kausalmarkierung nur marginal von Interesse sind bestimmte Komplement- und Relativsätze 10 zu werten. Der Vollständigkeit halber seien sie hier aber doch erwähnt. 6 Kausale Interrogativsätze, auch rhetorische, würden einen weiteren wichtigen Schwerpunkt in der Berücksichtigung sprachlich angezeigter Kausalität setzen. Aus Platzgründen kann hier jedoch nicht darauf eingegangen werden. 7 Dazu zählen insbesondere von Kausalverben abgeleitete Substantive wie etwa Anfeuerung, Anstiftung, Anzettelung, Förderung, Verstärkung, aber auch allgemeine Substantive des Typs Faktor, Motiv, Rolle, Ursache, Ursprung, Vorwand u.ä., die inhaltlich durch Attribute präzisiert oder durch inhaltlich nahe oder auch spezifischere Substantive ersetzt werden können (Ursprung etwa durch Ausgangspunkt, Entstehung, Start u.a.). Schließlich sind in diesem Zusammenhang auch Substantive mit explikativem (wie Anlass, Argument, Diagnose, Erklärung, Hintergrund, Verantwortung) und rechtfertigendem Inhalt (wie Beglaubigung, Begründung, Beweis, Nachweis, Richtigkeitserweis, Zeugnis) zu nennen. 8 Das sind etwa Adjektive und Adverbien des Typs erfolgreich, hinreichend, notwendig, verantwortlich, wirksam. 9 Cf. dazu Nazarenko (2000: 143): „Les adjectifs et les adverbes n’entrent que de manière assez marginale dans l’expression de la cause. Le lexique causal comporte essentiellement des noms et des verbes, mais c’est la catégorie verbale qui se prête le mieux à l’expression de la cause. Parce que le verbe représente un prédicat qui met ses différents arguments en relation, la catégorie verbale est particulièrement à même de traduire une relation conceptuelle comme la causalité“. Daraus kann man ersehen, dass trotz unterschiedlicher kategorieller Realisierung die kausale Relation gerade wegen dieser Vielfalt an lexikalischen Mitteln variant und unterschiedlich nuanciert zum Ausdruck gebracht werden kann. 10 Zu Komplementsätzen mit kausaler Bedeutung sind Nebensätze zu zählen, deren Inhalt als Grund für den im Hauptsatz wiedergegebenen Sachverhalt gedeutet werden kann. Diese kausale Interpretation wird vom Verb des Hauptsatzes nahegelegt, das psychische Zustände benennt und in Varianten des Typs begeistert/ erleichtert/ froh/ überrascht/ verärgert sein sowie sich ärgern, sich freuen, sich wundern erscheint. Der kausale Nebensatz wird mit der Subjunktion dass eingeleitet. Syntaktisch-funktional füllen diese Nebensätze die Leerstelle für ein präpositionales Objekt. Beispiele: Anna freut sich/ ist froh, dass Rita gut angekommen ist. Paul ärgert sich/ ist verärgert, dass Markus ihm nicht geschrieben hat. Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 229 Die Kausalität kann also sprachlich variant realisiert und dadurch auch variant fokussiert werden: Sie kann explizit oder implizit, syntaktisch oder lexikalisch, alleine oder in Verbindung mit anderen adverbiellen Inhalten, thematisch oder rhematisch, als bekannt präsupponiert oder als argumentativ erst erschließbar, faktisch oder inferentiell u.a.m. zum Ausdruck gebracht werden. Diese Ausdrucksvielfalt macht deutlich, wie wichtig für den Menschen eine an Nuancen und Facetten reiche Wiedergabe von Kausalität ist. Darin zeigt sich seine Neigung, hinter den beobachtbaren Phänomenen jeweils auch deren Ursache ausfindig zu machen, auch dann, wenn sie zunächst nicht direkt erkennbar ist. Dass dabei die Kausalität vor allem mit lexikalischen Mitteln z.T. verdeckt und gleichzeitig mit anderen semantischen Aussagen vermengt werden kann, sodass das rein Kausale vom Nicht-Kausalen nicht mehr eindeutig zu unterscheiden ist, zeigt, dass Kausalität subjektiv interpretiert und sprachlich differenziert wiedergegeben werden kann. 2.2 Subjunktionen und Konjunktionen Als Kausalfeldelemente fungieren in erster Linie Subjunktionen und Konjunktionen. In dieser Funktion treten sie aber nicht als logische Funktoren auf, sind daher weder auf Wahrheitswertverteilungen begründet [...] noch [distribuieren sie] Wahrheitswerte über die Konjunktsätze […]. Vielmehr haben […] [sie] die Funktion, die in den Konjunktsätzen benannten Sachverhalte in einen Zusammenhang zu setzen, dessen Art und Wertung den Erfordernissen der praktischen Kommunikation unterliegt (Lang 1977: 159). Kausale Subjunktionen und Konjunktionen haben demnach die Aufgabe, ein Antecedens-Konjunkt mit einem Consequens-Konjunkt in eine kausale Relation zu setzen, präjudizieren dabei aber nicht generell eine fixe Richtung von deren Darstellungsfolge (cf. Schmidhauser 1995: 130). Subjunktionen können formal einfach oder zusammengesetzt sein. Sie können auch polysem sein, sind dann in ihrer Bedeutung allgemeiner und daher auch breiter einsetzbar als monoseme (cf. Kreipl 2004: 72). Das Relativsätze können nur dann eine kausale Bedeutung vermitteln, wenn sie appositiv sind und einen Umstand nennen, der als Grund für den im Hauptsatz ausgedrückten Sachverhalt interpretiert werden kann. Beispiel: Der betrunkene Fahrer, der den Autounfall verursacht hatte, wurde von der Polizei verhört. Diese Konstruktion bindet somit einen kausalen Sachverhalt nicht an einen weiteren Sachverhalt, sondern an ein mit einem Substantiv wiedergegebenes Einzeldenotat. Heidi Siller-Runggaldier 230 gilt etwa für it. perché, das kausal, aber auch final verwendet werden kann. Unter den Subjunktionen finden sich auch solche, die ausschließlich thematische oder ausschließlich rhematische Kausalsätze einleiten. Erstere sind dann verwendbar, wenn bei den Gesprächspartnern der im entsprechenden Gliedsatz dargestellte Sachverhalt als bekannt präsupponiert werden kann. Thematische Subjunktionen wie dt. aufgrund der Tatsache, dass, lad. per l fat che, it. per il fatto che lenken daher die Aufmerksamkeit auf die Folge bzw. auf die Begründung, die daran angeschlossen wird. Rhematische Kausalsätze bringen hingegen die zentrale Aussage, die relevante neue Information des Satzgefüges zum Ausdruck. Konjunktionen wie denn sind anaphorisch ausgerichtet, können daher satzübergreifend eingesetzt werden. Sie schließen demnach an vorausgehend geäußerte Information an und liefern dafür eine Begründung nach. 2.3 Konjunktionaladverbien Konjunktionaladverbien haben Satzgliedrang, sind daher nicht an eine fixe Position im Satz gebunden. Dazu gehören Wörter wie dt. deswegen, lad. perchël, it. perciò. Es handelt sich um anaphorische Elemente, deren Aufgabe darin besteht anzuzeigen, dass ein vorausgehend erwähnter Sachverhalt als Ursache zu verstehen ist. Sie verweisen also auf das ihnen vorausgehende Antecedens-Konjunkt, greifen dieses als deren Platzhalter wieder auf und stehen gleichzeitig im Consequens, wo sie auf dessen begründende Rolle verweisen. Als Pro-Elemente sind sie nicht autonom. Sie sind aber für die Herstellung der kausalen Relation von Bedeutung, insofern sie „auf einen vorher genannten Grund, eine bekannte Ursache hinweisen, eine vorausgehende Aussage nachträglich als Kausalsatz charakterisieren“ (Erben 12 1980: 195). Sie kennzeichnen diese Aussage demnach als Antecedens. Durch diesen Rückgriff auf das Antecedens lenken sie gleichzeitig auch die Aufmerksamkeit auf das Consequens, d.h. auf das Konjunkt, in dem sie positioniert sind. Diese anaphorische Funktion fehlt Konjunktionaladverbien wie dt. folglich, lad. po’/ pona, it. quindi, die allein auf das Consequens ausgerichtet sind. 2.4 Verben Relationen zwischen einem Antecedens und einem Consequens können variantenreicher und subtiler, als dies mit den grammatischen Mitteln der Fall ist, durch kausal markierte Relationsverben und die durch sie regier- Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 231 ten Argumente angezeigt werden. Sie setzen nämlich zwei Prädikationen zueinander in Beziehung, die auch nominalisiert wiedergegeben werden können. Über ihre kohäsive Eigenschaft hinaus sind sie, wenn auch nicht generell, auch mit semantischer Bedeutung ausgestattet. Sie schaffen also „bipolare Strukturen, in denen Ursache und Wirkung, Grund und Folge sprachlich aufeinander bezogen werden“ (Schmidhauser 1995: 72). Damit signalisieren sie deutlich die gerichtete Relationalität von Kausalität. Durch ihre den anderen Verben gegenüber eingeschränktere semantische Kraft, die aber nicht „Funktionslosigkeit“ (Kreipl 2004: 316) bedeutet, sind sie v.a. in der Fachsprache häufig. Sie verstärken dort deren nominalen und damit informativ verdichteten Charakter. Als Kausativverben, die den Übergang von einem Zustand in einen anderen ausdrücken, können sie, wie Schmidhauser (1995: 45-49) zeigt, sowohl eine totale Veränderung zum Ausdruck bringen (dt. annullieren, ertränken, heilen, töten, zerstören; lad. anulé, arnaghé, varì, mazé, desdrujer; it. annullare, affogare, guarire, uccidere, distruggere) als auch eine nur partielle (dt. beeinflussen, begünstigen, beitragen, fördern, helfen; lad. nfluenzé, favorisé, purté pro, sustenì, judé; it. influenzare, favoreggiare, contribuire, sostenere, aiutare). Kausativverben können zudem eine rasch eintretende Veränderung anzeigen (dt. auslösen, verursachen; lad. mëter a jì, gaujé; it. suscitare, scatenare), aber auch eine längere Phase der Einwirkung andeuten (dt. drängen, führen, lenken; lad. mené do, condujer, avisé; it. spingere, condurre, guidare) oder diesbezüglich neutral sein (dt. nützen, schaden, zwingen; lad. jué, danejé, sfurzé; it. giovare, nuocere, sforzare). Die von diesen Verben ausgedrückte kausale Beziehung kann positiv konnotiert sein (dt. anregen, begünstigen, bewirken, ermutigen, garantieren, unterstützen, verbessern; lad. dé ardimënt, favorisé, gaujé, judé do, garantì, sustenì, miuré; it. incitare, favoreggiare, causare, incoraggiare, garantire, sostenere, migliorare), aber auch negativ (dt. blockieren, bremsen, einschränken, einschüchtern, entmutigen, hemmen, unterdrücken, verhindern, verschlechtern; lad. fermé, ś aré ite, smendré, sciautrì, sciautrì ju, mpedì, mëter sot, nia lascé pro, piuré; it. bloccare, frenare, limitare, intimidire, scoraggiare, inibire, sopprimere, impedire/ ostacolare, peggiorare). Zu den hier zu erwähnenden Verben gehören auch solche, die auf Prozesse verweisen, die lediglich auf graduelle Veränderungen in Richtung auf ein Mehr oder ein Weniger ausgerichtet sind (dt. erhöhen, erweitern, intensivieren, vergrößern, verstärken; abschwächen, einengen, einschränken, verkleinern; lad. auzé, slargë, ntensivé, ngrandì, renfurzé; ndeblì, strënjer ite, desmendrì, smendré; it. alzare, allargare, intensificare, ingrandire, rafforzare; indebolire, restringere, ridurre, diminuire). Heidi Siller-Runggaldier 232 Mit Hilfe von Pro-Formen, etwa anaphorischen Demonstrativa, können Relationsverben in einer Satzreihe oder einem neuen Satz auch satzübergreifende Bezüge herstellen: dt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass …/ ist damit zu erklären, dass ...; lad. chësc ie da splighé cun l fat che ...; it. Questa cosa/ Ciò/ Questo è riconducibile al fatto che .../ dovuto al fatto che .../ spiegabile con il fatto che ... Die Klasse der kausativen Relationsverben ist über Suffigierung oder parasynthetische Ableitung erweiterbar. Diesen Bildungen liegen großteils Internationalismen zugrunde (dt. demoralisieren, intensivieren, kategorisieren, modifizieren, rationalisieren; lad. demoralisé, ntensivé, categorisé, mudifiché, razionalisé; it. demoralizzare, intensificare, categorizzare, modificare, razionalizzare). Auch faktitive Periphrasen mit den faktitiven Hilfsverben dt. lassen und machen; lad. lascé und fé; it. lasciare und fare, wie etwa in dt. schreiben lassen, lachen machen; lad. lascé scrì, fé rì; it. lasciar(e) scrivere, far(e) ridere erlauben die Wiedergabe kausaler Zusammenhänge. Das faktitive Hilfsverb trägt nämlich zur Valenzerhöhung des Ausgangsverbs bei, das dadurch eine weitere Leerstelle vorsieht, die semantisch mit dem Verursacher des ausgedrückten Geschehens besetzt werden muss. 2.5 Infinite Verbformen In diesem Zusammenhang sind für das Deutsche das Partizip Präsens und das Partizip Perfekt zu nennen, für die zwei romanischen Sprachen das Partizip Perfekt, das Gerundium (Präsens in beiden Sprachen, Perfekt nur im Italienischen) und der Infinitiv Perfekt. Im Zusammenhang mit dieser Realisierung der Prädikate ergibt sich die kausale Sinnrelation nicht aus der Verbform, sondern aus dem inhaltlichen Zusammenhang. Diese Formen präzisieren nämlich ganz allgemein nicht die Sinnrelationen, nach denen die einzelnen zum Ausdruck gebrachten Sachverhalte zueinander in Beziehung gesetzt sind, daher auch nicht die kausale. 2.6 Unmarkierte Strukturen Kausale Bezüge zwischen Sätzen können auch nicht markiert sein. Es handelt sich dann um einen parataktischen Strukturtyp, bei dem keine explizit kausal markierten Verknüpfungselemente eingesetzt werden. Die Verbindung kann mit der allgemeinen koordinativen Konjunktion und erfolgen oder asyndetisch. Figge (1993: 154) spricht in letzterem Fall von „asyndetischer Parataxe“. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie Kohärenz ohne Kohäsion gewährleistet werden kann. Die kausale Relation ergibt sich hier aber aus inhaltlicher Evidenz. Bei der Interpretation eines Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 233 Satzes wie etwa dt. Er ist nicht gekommen, es regnete; lad. L ne n‘ie nia ruvà, l pluova; it. Non è arrivato, pioveva interpretiert der Rezipient mit größter Wahrscheinlichkeit den Regen als plausiblen Grund für das Fernbleiben des im Hauptsatz angesprochenen Agenssubjekts. Schlägt in analogen Fällen der erste Deutungsversuch fehl, wird der Rezipient auf der Grundlage von Plausibilitätsüberlegungen wie selbstverständlich weitere Interpretationsversuche unternehmen. 2.7 Adpositionen Adpositionen erscheinen als Präpositionen, im Deutschen auch als Post- (halber, zuliebe, zufolge, infolge) und Circumpositionen (um ... willen, von ... wegen). Kausale Adpositionen verbinden sich mit Syntagmen, im Italienischen und im Ladinischen leitet die Präposition per auch implizite Gliedsätze ein. Da Gliedsätze prinzipiell auch zu Syntagmen verdichtet werden können, wenn das Prädikat substantivierbar ist, können Adpositionen kausale Bezüge auch zwischen nominalisierten Propositionen anzeigen. 3 Kausale Typen Explizite und implizite Kausalfeldelemente können unterschiedliche Strukturtypen bedingen bzw. finden in für sie spezifischen Typen Anwendung. 3.1 Typ A Beim Typ A ist das Antecedens durch Subjunktionen explizit und spezifisch kausal markiert, das Consequens wird durch den Hauptsatz ausgedrückt. Im Deutschen werden entsprechende Kausalsätze vor allem durch die Subjunktionen da und weil eingeleitet; die finite Verbform steht dann in Endstellung. Im Hauptsatz können die Korrelate darum, deshalb oder deswegen darauf verweisen, in Verbindung mit da auch so. Die Subjunktion weil ist häufiger als da. Ein weil-Satz führt in aller Regel eine neue Information ein, ist also rhematisch, der da-Satz verweist hingegen eher auf schon bekannte oder vorerwähnte Information, ist daher thematisch und tritt bevorzugt in Anteposition auf. Das Ladinische verfügt mit ajache über eine Subjunktion, die sowohl thematische wie rhematische Kausalsätze einleitet. Der funktionalperspektivische Unterschied wird daher durch die Stellung der Kausalsätze angezeigt: in Anteposition thematisch, in Postposition rhematisch. Heidi Siller-Runggaldier 234 Im Italienischen sind Kausalsätze durch die Subjunktionen giacché, poiché, siccome sowie perché als solche gekennzeichnet. Giacché und siccome leiten thematische Kausalsätze ein, perché steht an der Spitze von rhematischen Sätzen. Die unmarkierte Position der entsprechenden Kausalsätze im Satzgefüge ist daher klar festgelegt. 11 Poiché funktioniert wie giacché und siccome, ist aber als stilistisch gehoben markiert (cf. Giusti 1991: 740). (1) D: Da Silvia zu spät gestartet ist, hat sie den Bus verpasst. Silvia hat den Bus (deshalb) verpasst, weil sie zu spät gestartet ist. L: Ajache/ Davia che Silvia ie pieda via massa tert, ala arjumà la curiera. Silvia à arjumà la curiera, ajache/ davia che la ie pieda via massa tert. I: Siccome/ Poiché Silvia è partita troppo tardi, ha perso l’autobus. Silvia ha perso l’autobus, perché è partita troppo tardi. Die zwei romanischen Sprachen haben zwar mit lad. perchël und it. per questo den deutschen Korrelaten darum, deshalb und deswegen entsprechende Formen, diese sind aber nur als Einleite-Elemente von Hauptsätzen und anaphorisch, nicht aber kataphorisch verwendbar (cf. dazu Typ C). 11 Sätze mit perché können auch vorangestellt werden, wenn sie als rhematischer Teil des Satzgefüges etwa intonativ kontrastierend hervorgehoben werden oder als einleitender Teil eines Spaltsatzes realisiert sind. Cf. dazu die folgenden Beispielsätze aus Giusti (1991: 747): „PERCHÉ NON HA FREQUENTATO, Gianni non è stato promosso, (non perché sia stupido). È PERCHÉ NON HA FREQUENTATO che Gianni non è stato promosso, (non perché sia stupido)“. Diese Verwendung ist siccome und giacché versagt, weil sie als Subjunktionen, die thematische Kausalsätze einleiten, sowohl beim Sprecher als auch beim Hörer die Bekanntheit des von ihnen angekündigten Sachverhaltes präsupponieren. Sie können daher auch nicht Antworten auf warum-Fragen einleiten. Im Übrigen dienen sie auch dazu, eine Art metalinguistischen Kommentar anzukündigen, um damit die im Hauptsatz gemachte Äußerung zu rechtfertigen (Siccome/ Giacché Paolo non è arrivato al lavoro, deve essere ammalato). Hier werden also zwei Sachverhalte miteinander in Beziehung gesetzt, die unterschiedlichen Ebenen zugehören: ein außersprachlich faktischer und ein ihn subjektiv supponierender und begründender Sachverhalt. Die Begründung mit perché wäre in diesem Fall auch bei rhematischer Verwendung nicht akzeptabel, zumal perché nicht zwei Sachverhalte aufeinander beziehen kann, die kategoriell unterschiedlichen Niveaus angehören (*Perché Paolo non è arrivato al lavoro, deve essere ammalato). Im Deutschen sind Spaltsätze der angeführten Art ausgeschlossen. Für das fokussierte Element X „in der Formel des relativen Spaltsatzes kommen im Deutschen nur Nominalphrasen im Nominativ oder aber Adverbialien des Ortes und der Zeit infrage. Spaltsätze mit Subjunktionen treten im Deutschen nur vereinzelt auf“ (DUDEN: § 1662, 1036). Das Ladinische verhält sich analog. Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 235 Die Subjunktionen dt. zumal und it. in quanto zeichnen sich dadurch aus, dass sie rhematische Sätze einleiten, welche nicht eine faktische CAUSA für den im Hauptsatz ausgedrückten Sachverhalt nennen, sondern dessen kommentierende subjektive Begründung bzw. Rechtfertigung zum Ausdruck bringen. Zwischen den beiden Sachverhalten besteht daher kein direkter Bezug. Als rhematische Gliedsätze treten diese Sätze unmarkiert in Postposition auf. Das Ladinische hat dafür keine Entsprechung. Alternativ kann die Subjunktion davia che eingesetzt werden, die aber auch thematische, im Satzgefüge daher präponierte Kausalsätze einleiten kann. (2) D: Die Kinder kommen gerne zu uns, zumal wir ihnen viele Unterhaltungsmöglichkeiten bieten. I: I bambini vengono volentieri da noi in quanto offriamo loro molte possibilità di svago. L: (Alternative: I mutons vën gën da nëus, davia che ti piton truepa pusciblteies per se devertì.) Zu den angeführten kommen noch weitere, großteils analytisch konstruierte Subjunktionen hinzu, deren kausale Bedeutung allerdings nicht immer eindeutig ist (dt. nachdem; dadurch, dass; dafür, dass; wegen der Tatsache, dass; lad. davia che; per l fat che; it. dal momento che; dato che; per il fatto che; visto che). Für diese überwiegt der Einsatz in Kausalsätzen mit thematischer Informationsstruktur. Diese Kausalsätze tragen demnach zum Ausdruck einer als bekannt präsupponierten CAUSA bei. (3) D: Nachdem/ Dadurch, dass Silvia zu spät gestartet ist, hat sie den Bus verpasst. L: Davia che/ Per l fat che Silvia ie pieda via massa tert, ala arjumà la curiera. I: Per il fatto che/ Dato che/ Visto che Silvia è partita troppo tardi, ha perso l’autobus. 3.2 Typ B Mit den Relativadverbien dt. weshalb oder weswegen und den diesen inhaltlich entsprechenden it. Formen per cui oder per la qual cosa kann eine Kausalrelation angezeigt werden, die im Unterschied zu jener des Typs A am Consequens-Konjunkt sprachlich markiert ist. Dieses Konjunkt ist im Übrigen stets in Nachstellung realisiert. Im Ladinischen gibt es dafür keine Äquivalente, der Sachverhalt muss daher mit den anaphorischen Kausalfeldelementen des Typs C ausgedrückt werden, die aber nicht subordinierend, sondern koordinierend sind. Heidi Siller-Runggaldier 236 (4) D: Es hatte lange nicht mehr geregnet, weshalb/ weswegen die Flüsse ausgetrocknet waren. I: Non era piovuto da parecchio tempo, per cui i fiumi erano in secca. L: (Alternative: L ova giut nia plu pluet. Perchël fova i ruves suiei ora.) 3.3 Typ C Dieser Typ ist durch die Anordnung ‘Antecedens - dann Consequens‘ in einer Satzreihe gekennzeichnet. Angezeigt wird die Relation durch die Konjunktionaladverbien dt. deshalb und deswegen, die in ihrer Anordnung jener der Relativadverbien weshalb und weswegen entsprechen. Weitere diesbezügliche Konjunktionen des Deutschen sind: also, dadurch, dafür, daher, darum, dementsprechend, infolgedessen, mithin, so, somit; aus diesem Grund. Das Ladinische stellt dafür daviadechël, perchël und die analytischen Varianten per chësta gauja und per chësta rejon, das Italienische perciò, per questo, pertanto sowie die komplexen Varianten per questo motivo, per questa ragione zur Verfügung. Diese Konnektoren sind zwar denotativ, nicht aber stilistisch äquivalent. Auch sind sie in der Kennzeichnung der Kausalität nicht eindeutig: Die von ihnen eingeleiteten Hauptsätze können auch konsekutiv interpretiert werden. Sie ordnen nämlich die von ihnen ausgedrückte FOLGE bzw. KONSEQUENZ der im vorausgehenden Satz genannten URSACHE ikonisch nach und bilden so deren logische Reihenfolge ab. (5) D: Heute fühle ich mich nicht recht wohl. Deshalb möchte ich nicht zur Arbeit gehen. L: Ncuei ne me n stei nia drë bën. Perchël ne n’ulëssi nia jì a lauré. I: Oggi non sto troppo bene. Perciò non vorrei andare al lavoro. Weiter gehören zu dieser Gruppe die einfachen und zusammengesetzten Consequens-orientierten Konjunktionaladverbien dt. also, folglich, so, tatsächlich; in der Tat; lad. nscila (selten: donca, nfati); de cunseguënza; it. così, difatti, dunque, infatti, quindi; di conseguenza. (6) D: Silvia hat zu wenig gelernt. Also/ So/ Folglich/ Tätsächlich ist sie bei der Prüfung durchgefallen. L: Silvia à mparà massa puech. Nscila/ De cunseguënza ne n’iela pra l ejam nia passeda. I: Silvia ha studiato troppo poco. Così/ Quindi/ Di conseguenza/ Infatti all’esame è stata bocciata. Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 237 Die temporalen Konjunktionen dt. dann, darauf; lad. po’/ pona; it. allora, poi können auch kausal interpretiert werden, wenn der außersprachliche Zusammenhang dies nahelegt: (7) D: Es blitzte und donnerte, dann ging der Strom aus. L: L tarluiova y l taunova, po’/ pona se n ie jita la lectrisc. I: Lampeggiava e tuonava, poi è andata via la corrente. 3.4 Typ D Bei diesem Typ ist die Relation zwischen URSACHE und WIRKUNG mit der Reihung Consequens vor Antecedens genau umgekehrt als beim Typ C angelegt, wobei auch in diesem Fall die beiden Teilsätze Hauptsätze sind. Die auf diese Art konzeptualisierte Kausalrelation wird im Deutschen vor allem mit der Konjunktion denn und mit dem Adverb 12 nämlich angezeigt. Schmidhauser (1995: 141) folgend, erscheint denn „tendenziell [...] als eine durch den als hinreichend erachteten Realgrund gestützte Erläuterung“, hat daher stark argumentativen Charakter, im Unterschied etwa zu weil, das „den Beiton eines Rechtfertigungszwangs mit sich führt und somit als starke Kausalverknüpfung empfunden wird“. Besonders in gesprochener Sprache werden im Rahmen dieses Typs im Deutschen auch die adverbialen Wörter doch, eben, halt, ja eingesetzt, deren kausaler Skopus allerdings nicht so eindeutig ist wie bei den klar kausalen Kausalfeldelementen. Daher eignen sie sich auch als Abtönungspartikeln. Dafür stehen im Ladinischen nfati, im Italienischen infatti, difatti sowie die analytische Variante in effetti zur Verfügung, welche insgesamt die vorausgehende Aussage allerdings noch stärker als die deutschen Äquivalente faktisch bestätigen bzw. rechtfertigen und dadurch auch als argumentative Verbindungselemente fungieren. Diese Elemente sind demnach auch im Rahmen des Typs C (s.o. 3.3.) verwendbar. 12 Zur Wortartzugehörigkeit von nämlich in dieser Verwendung cf. DUDEN (§ 836, 568): „Manche bezeichnen nämlich als kausale Konjunktion, doch fehlt diesem Wort in der Schriftsprache die dafür erforderliche Fähigkeit, im Hauptsatz mit Verbzweitstellung vor dem Vorfeld zu stehen [...]. Nämlich kann auch keine Nebensätze einleiten (*nämlich er krank war) und ist damit keine Subjunktion. Gegen seine Einordnung als Adverb spricht, dass Adverbien vorfeldfähig sind (und dann das Subjekt hinter das Verb tritt), was auf nämlich nicht zutrifft (*nämlich war er krank). Syntaktisch verhält nämlich sich am ehesten wie eine Abtönungspartikel (es steht im Mittelfeld), doch dafür bezieht es sich inhaltlich zu stark auf den vorangehenden Satz. Im Folgenden wird es als Adverb ohne Vorfeldfähigkeit behandelt, d.h. als nicht prototypisches Adverb“. Heidi Siller-Runggaldier 238 (8) D: Heute möchte ich nicht zur Arbeit gehen, denn ich fühle mich nicht recht wohl./ ... ich fühle mich nämlich nicht recht wohl. L: Ncuei ne n’ulëssi nia jì a lauré, nfati ne me n stei nia drë bën. I: Oggi non vorrei andare al lavoro, infatti non sto troppo bene. Für das Ladinische und das Italienische sind in diesem Zusammenhang auch jene mit der Subjunktion che eingeleiteten rhematischen Kausalsätze zu nennen, die von einem ebenfalls rhematischen Hauptsatz mit imperativer Illokution abhängen und davon durch eine intonatorische Pause abgehoben sind (graphisch mit einem Beistrich gekennzeichnet). 13 Gegenüber den Subjunktionen lad. ajache und it. poiché und perché hat die Subjunktion che eine eindeutig stärkere illokutive Kraft. Die mit diesem che eingeleiteten Sätze nennen den Grund für den im Hauptsatz realisierten illokutiven Akt und nicht für dessen propositionalen Inhalt. Lombardi Vallauri (2000: 66) spricht daher im Zusammenhang mit dieser Verwendung der Subjunktion che von einem „connettivo che potremmo definire metadiscorsivo“: 14 (9) L: Spazete, che l ie bele la cinch. Cuerete, che l ie frëit. Pudësses’a me mpresté ti auto, che l mie ne va nia plu? I: Sbrigati, che sono già le cinque. Copriti, che fa freddo. Mi puoi prestare la tua macchina, che la mia non funziona? Im Deutschen könnte Entsprechendes mit den Abtönungpartikeln ja oder doch, eventuell auch mit deren Kombination angezeigt werden. Die Konjunktion denn, hier durchaus auch einsetzbar, würde allerdings nicht dem metadiskursiven Charakter von che entsprechen: D: Beeile dich, es ist ja doch schon fünf Uhr. Decke dich zu, es ist ja kalt. Kannst du mir dein Auto leihen, meines ist ja kaputt. Die Illokution kann auch Handlungen wie etwa Dank oder Entschuldigung betreffen. Der che-Satz darf dann nicht als ein von der Valenz der Hauptsatzverben abhängiger Ergänzungssatz betrachtet werden, sondern als ein Kausalsatz zur Begründung für die im vorausgehenden Hauptsatz erfolgte Illokution. In diesem Fall wird der Gliedsatz intonatorisch nicht abgehoben, was sich graphisch im Fehlen eines Beistriches zeigt. 13 Cf. auch Lombardi Vallauri (2000: 68): „[...] il che causale metadiscorsivo prevede obbligatoriamente che l’informazione si articoli sulla frase complessa secondo lo schema rema-rema [...]“. 14 Die italienischen Sätze unter (9), (10) und (11) sind Giusti (1991: 742-743) entnommen. Die ladinischen Sätze sind deren Entsprechungen. Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 239 (10) L: Te rengrazie che te me es fat chësc plajëi. Ie me scuse che ne n’é nia pudù unì dant. I: Ti ringrazio che mi hai fatto questo piacere. Mi scuso che non sono potuto arrivare prima. Entsprechende Sätze können im Deutschen zwar mit einem dass-Satz und fakultativ mit entsprechenden Korrelaten im Hauptsatz wiedergegeben werden, sind dann aber nicht als Kausal-, sondern als Ergänzungssätze gekennzeichnet. D: Ich danke dir (dafür), dass du mir diesen Gefallen getan hast. Ich entschuldige mich (dafür), dass ich nicht früher kommen konnte. Auch Grüße können die Illokution im Hauptsatz bestimmen. Im Deutschen bleibt in diesen Fällen lediglich die Möglichkeit eines denn-Satzes oder eines Satzes mit Ø-Anschluss. (11) L: Te salude che l ie tert. I: Ti saluto che è tardi. D: (Alternative: Ich verabschiede mich, denn es ist spät. Tschüss, Ø es ist spät.) 3.5 Typ E 3.5.1 Unmarkierte Strukturen Vor allem in gesprochener Sprache, aber nicht ausschließlich, kann zwischen Sätzen eine kausale Relation auch ohne eine explizite Verknüpfung angezeigt werden. Der kausale Zusammenhang erschließt sich dem Rezipienten dann durch Weltwissen und eigene Denkleistung und Interpretation „und muss dabei Plausibilitätskriterien entsprechen“ (Schmidhauser 1995: 96). (12) D: Plötzlich ging der Strom aus. Ein Blitz hatte irgendwo in der Nähe unseres Hauses eingeschlagen. L: Te n iede se n fova (jita) la lectrisc. N tëune ova dat ite nzaul dlongia nosta cësa. I: Improvvisamente andò via la corrente. Un fulmine si era abbattuto da qualche parte vicino a casa nostra. 3.5.2 Infinite Gliedsätze Ähnlich wie unmarkierte Strukturen sind Nebensätze mit infiniten Verben zu interpretieren. Sie sind hinsichtlich ihres Inhalts unterspezifiziert, sind daher prinzipiell nicht auf eine einzige Bedeutung festgelegt. Sie können daher auch zum Ausdruck etwa modaler oder temporaler Neben- Heidi Siller-Runggaldier 240 sätze herangezogen werden. Der jeweilige semantische Inhalt ergibt sich aus dem Kontext und den Besonderheiten des dargestellten Sachverhaltes. Im Deutschen sind es Partizipialsätze, bei bestimmten Hauptsatzverben auch Infinitivsätze, im Ladinischen und im Italienischen kommen zu den Partizipialsätzen noch Gerundial- und Infinitivsätze dazu. Sie gehen im Allgemeinen dem Hauptsatz voraus, sind daher funktionalperspektivisch als thematisch zu werten. Die im Ladinischen und im Italienischen mit per eingeleiteten Infinitivsätze können auch rhematisch sein, folgen dann dem Hauptsatz. Für alle infiniten Gliedsätze gilt die Bedingung, dass ihr Subjekt mit dem Subjekt des Hauptsatzes koreferent sein muss. 3.5.2.1 Gliedsätze mit Partizip Im Deutschen kommen das Partizip Präsens (selten, wenn nicht gar unüblich) und das Partizip Perfekt in Frage, im Ladinischen und im Italienischen nur das Partizip Perfekt. Den deutschen Sätzen mit Partizip Präsens entsprechen in den zwei romanischen Sprachen Sätze mit dem Gerundium im Präsens. (13) D: Von den Polizisten eingeschlossen, gaben die Einbrecher schließlich auf. Zum Auswandern gezwungen, musste die Familie Ragusa ihren gesamten Besitz verkaufen. ? Sich krank fühlend, blieb Rita zu Hause. L: Ncertlei ite dai polizaies, se à i leresc ala fin arendù. Sfurzeda a emigré, à la familia Ragusa messù vënder dut si avëi. Se sentian amaleda, ie Rita resteda a cësa. I: Circondati dai poliziotti, i ladri infine si arresero. Costretta a emigrare, la famiglia Ragusa dovette vendere tutto quanto possedeva. Sentendosi ammalata, Rita è rimasta a casa. 3.5.2.2 Gliedsätze mit Gerundium Das Gerundium kann im Ladinischen und im Italienischen im Präsens erscheinen, im Italienischen auch im Perfekt. Um letzteres denotativ äquivalent wiedergeben zu können, muss das Ladinische zu einer expliziten Variante greifen, etwa einem Nebensatz mit ajache oder einem Infinitivsatz mit per. Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 241 (14) I: Sentendosi stanca, Rita si è presa alcuni giorni di vacanza. Essendo arrivato in ritardo, Marco dovette mangiare ciò che era rimasto. L: Se sentian stancia, se à Rita tëut n valgun dis de feries. (Alternativen für die Struktur mit Gerundium Perfekt des Italienischen: Ajache l fova ruvà massa tert, à Marco messù maië chël che fova restà. Per vester ruvà massa tert, à Marco messù maië chël che fova restà.) 3.5.2.3 Gliedsätze mit Infinitiv Der Infinitiv kommt als Prädikat eines Kausalsatzes lediglich im Ladinischen und im Italienischen vor und erscheint dann ausschließlich in der Perfektform, womit die Vorzeitigkeit des Kausalgeschehens gegenüber dem Folgegeschehen auch morphologisch angezeigt wird. Der Infinitivsatz wird im Allgemeinen mit der Präposition per eingeleitet. Das Verb im Hauptsatz drückt bevorzugt eine Wertung oder ein Urteil aus. Wenn im Hauptsatz Gefühlsverben vom Typ sich freuen/ sich ärgern bzw. erfreut/ verärgert sein auftreten, kann auch im Deutschen ein kausal zu interpretierender Infinitivsatz angeschlossen werden, allerdings ohne Einleite-Element. Im Ladinischen erfolgt der Anschluss des Infinitivsatzes hingegen mit de, im Italienischen mit di. Weitere kausal interpretierbare infinitive Nebensätze sind im Ladinischen mit a forza de, im Italienischen mit a forza di möglich. Die Kausalität ergibt sich aus der Bedeutung dieser Einleite-Elemente, Wiederholung, Gewohnheit bzw. Beharren anzuzeigen. (15) L: Giuani ie unì unerà per avëi cuntribuì al svilup dla mujiga populera. Rita se ncunforta de pudëi jì a Berlin. A forza de studië ie Maria stata bona de passé l ejam. I: Giovanni è stato onorato per aver contribuito allo sviluppo della musica popolare. Rita è contenta di poter andare a Berlino. A forza di studiare Maria è riuscita a superare l’esame. Und hier folgend die deutschen Entsprechungen und Alternativen für die lad. und it. Sätze: D: (Alternative: Hans ist wegen seines Beitrags zur Entwicklung der Volksmusik geehrt worden.) Rita freut sich, nach Berlin fahren zu dürfen. (Alternative: Weil sie intensiv studiert hatte, gelang es Maria, die Prüfung zu bestehen.) 3.6 Typ F Dieser Typ kommt durch Relationsverben zustande, deren Funktion darin besteht, ein Antecedens direkt mit einem Consequens zu verbinden. Je Heidi Siller-Runggaldier 242 nachdem, von welchem Konjunkt die Relation ausgeht, werden entsprechend spezifische Verben eingesetzt. Zur Aktivierung der Richtung von Consequens zu Antecedens dienen u.a. die folgenden Verben und mehrgliedrigen verbalen Konstrukte, wobei beide Konjunkte als Satz wie auch als Satzglieder, somit sowohl interals auch intraphrasal realisiert werden können: D: abhängen von, folgen aus, kommen von, liegen an, resultieren aus, sich ergeben aus L: avëi da nfé cun, depënder da, se splighé cun, unì da I: conseguire da, derivare da, dipendere da, (pro)venire da, risultare da, spiegarsi con Auch in passivischer Variante: D: ist bedingt durch, ist rückführbar auf, ist erklärbar durch, kann zurückgeführt werden auf L: ie cundiziunà da, ie gaujà da, ie da splighé cun I: è causato da, è dovuto a, è motivato da, è provocato da, è spiegabile con, è riconducibile a/ può essere ricondotto a (16) D: Dass weniger Touristen in unser Land kommen, liegt daran, dass die Preise zu hoch sind. Das Glück hängt nicht vom Reichtum ab. L: Che l vën manco turisć te nosc raion à da nfé cun l fat che i priejes ie massa auc. La fertuna ne depënd nia dala richëza. I: Che vengano meno turisti nella nostra regione, si spiega con il fatto che i prezzi sono troppo alti. La fortuna non dipende dalla ricchezza. Die umgekehrte Richtung, d.h. von Antecedens zu Consequens, wird u.a. mit folgenden Relationsverben und verbalen Konstrukten angezeigt: D: bedingen, begründen, begünstigen, bewirken, erlauben, führen zu, hervorrufen, implizieren, nach sich ziehen, verursachen, zwingen zu; der Grund sein für, verantwortlich sein für L: cundizioné, gaujé, mutivé, permëter, purté a, purté pro a, sfurzé a; vester de gauja per, vester respunsabl de I: causare, condurre a, contribuire a, costringere a, determinare, impedire, implicare, imporre, influenzare, permettere, portare a, portare con sé, provocare, suscitare; essere (la) causa di, essere all’origine di, essere responsabile di Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 243 (17) D: Das Unwetter hat schwere Schäden verursacht. Das politische Desinteresse kann dazu führen, dass die Politiker Entscheidungen treffen, die für die Gemeinschaft gefährlich sind. L: La tampesta à gaujà de gran danns. La mancianza de nteres per la politica possa ti permëter ai politicri de tò dezijions periculëuses per la cumenanza. I: La tempesta ha causato gravi danni. La mancanza di interesse per la politica può permettere ai politici di prendere decisioni pericolose per la comunità. 3.7 Typ G Kausale Relationen können auch satzintern angezeigt werden. Dazu dienen v.a. Präpositionen. Diese können einfach oder zusammengesetzt sein (einfach: dt. aus, vor, wegen; lad. da, per; it. da, per). Im Deutschen kommen Postpositionen (-halber, wegen) und Circumpositionen (um ... willen) hinzu. Mit den Adpositionen können unterschiedliche Bedeutungsnuancen zum Ausdruck gebracht werden, so etwa Faktizität (lad. per gauja de; it. a causa di), temporale Abfolge (dt. infolge + Gen.; it. in seguito a), Intensität und Rekurrenz (lad. a forza de; it. a forza di) u.a. (18) D: Wegen ihrer Krankheit kann Silvia das Haus nicht mehr verlassen. Mario zitterte vor Angst. Aus Nächstenliebe tut Rita viel Gutes. L: Per gauja de si malatia ne possa Silvia nia plu jì ora de cësa. Mario zitrova dala tëma. Per amor dl proscim fej Rita truep de bon. I: A causa della sua malattia Silvia non può più uscire di casa. Mario tremava dalla paura. Per amore del prossimo Paolo fa molto del bene. Oft treten diese Präpositionen zusammen mit deverbalen Substantiven auf, die demnach der Aussage einen komprimiert propositionalen Charakter verleihen. Das entsprechende Präpositionalsyntagma trägt somit zur Kennzeichnung einer intrapropositionalen Kausalität bei. (19) D: Dank der Hilfe durch die Polizei ist der Dieb bald gefasst worden. (Nachdem/ Weil die Polizei half, ist der Dieb bald gefasst worden.) L: De gra al aiut dla polizai ie l lere tosc unì pià. (Ajache la polizai à judà pea, ie l lere tosc unì pià.) I: Grazie all’aiuto della polizia il ladro è stato presto arrestato. (Siccome la polizia ha aiutato, il ladro è stato presto arrestato.) Heidi Siller-Runggaldier 244 Weitere Präpositionen mit kausaler Einsatzmöglichkeit sind: D: anlässlich, auf (auf Befehl, auf Wunsch), aufgrund (besonders in der Wissenschaftssprache), aus (z.B. aus Versehen, aus Liebe), dank, durch, infolge, mangels, vor, halber, zufolge, um ... willen L: de gra a, per gauja de, pervia de, tres I: attraverso, di (di ufficio ’von Amts wegen’), per (per desiderio di ’auf Wunsch von’), per (per amore ’aus Liebe’, per paura ’aus Angst’), secondo, su (su comando di ’auf Kommando von’), a causa di, conseguentemente a, di diritto (’von Rechts wegen’), grazie a, in conseguenza di, in occasione di, in virtù di, in vista di, per mancanza di, per mezzo di, sulla base di 3.8 Typ H Dieser Typ ergibt sich aus Suffixoiden mit kausaler Relationsanzeige. Dazu zählen die deutschen -halber und -wegen, begrenzt auch -gemäß, die sich aus ursprünglichen Postpositionen zu entsprechenden Wortbildungsmorphemen entwickelt haben. Damit wechselt die sprachliche Kennzeichnung von Kausalität in den Bereich des Lexikons. Im Ladinischen und im Italienischen sind solche Elemente nicht vorhanden, sodass auf andere Mittel ausgewichen werden muss, um Analoges auszudrücken, etwa auf Präpositionalsyntagmen oder implizite Gliedsätze: (20) D: Wir schreiben es einmal probehalber auf. Seinetwegen habe ich die Arbeit aufgegeben. Verabredungsgemäß haben wir uns zurückgehalten. L: (Alternativen: Scrijonsel su n iede per proa. Per ël ei dat su l lëur. Coche fat ora se ons tenì zeruch.) I: (Alternativen: Annotiamolo intanto per prova. Per lui ho rinunciato al lavoro. Come accordato ci siamo trattenuti. 4 Textvergleich Abschließend soll eine Textstelle aus dem Matthäusevangelium, Kap. 13, Verse 3-9, in den drei Sprachen gegenübergestellt werden. Die Entscheidung für diese Wahl ist dadurch motiviert, dass für diesen Text in allen drei Sprachen, also auch im Ladinischen, offiziell anerkannte Übersetzungen vorliegen, und dass Übersetzungen eines solchen Textes besonders darum bemüht sind, das verbum sacrum möglichst originalgetreu wiederzugeben. Damit ist für den Vergleich auch ein verlässliches tertium gegeben. Es soll nun geprüft werden, ob die Übersetzungen kausale Zusam- Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 245 menhänge sprachlich übereinstimmend kausal markieren oder nicht, und wenn letzteres der Fall ist, worin die Konsequenzen für die Textrezeption bestehen: 15 D: 3 Und er redete zu ihnen viel in Gleichnissen und sagte: „Da! Der Sämann zog hinaus, um zu säen. 4 Und beim Säen fiel das eine an den Weg nebenhin. Und die Vögel kamen und fraßen es weg. 5 Anderes fiel auf den felsigen Grund, wo es nicht viel Erde hatte. Und gleich schoß es herauf, weil es keine Tiefe in der Erde hatte. 6 Als aber die Sonne aufgegangen war, ward es verbrannt und verdorrte, weil es keine Wurzeln hatte. 7 Anderes fiel unter die Disteln, und die Disteln stiegen auf und erstickten es. 8 Anderes aber fiel auf die rechte Erde und gab Frucht: hier hundertfach, da sechzig-, da dreißigfach. Wer Ohren hat, höre! “ (Matthäus 13, 3-9; DAS NEUE TESTAMENT 1989: 35). L: 3 Ël à rujenà giut a d’ëi cun parabules. Ël à dit: „N paur ie jit a sené. 4 Ntan che l senova ie na pert di graniei tumeda sun streda y i uciei ie unic a i peché su. 5 N’autra pert ie tumeda sun gravinia, ulache l fova mé puecia tiera, y à aslune metù man de mené, ajache la tiera ne fova nia drë sota; 6 ma canche l surëdl jiva aut, s’à la sumënza brujà y, ajache la ne n’ova nia drë ravisa, iela secëda via. 7 D’autra sumënza inò ie tumeda danter i spinaces, y i spinaces ie chersciui y à safuià la sumënza. 8 Mo d’autra sumënza ie tumeda te de bona tiera y à purtà frut, velch cënt, velch sessanta y velch trënta iedesc tant. 9 Chi che à urëdles, ntënde! “ (Mateo 13, 3-9; BIBIA: Nuef Testamënt 2005: 45). I: 3 Egli parlò loro di molte cose in parabole. E disse: „Ecco, il seminatore uscì a seminare. 4 E mentre seminava una parte del seme cadde sulla strada e vennero gli uccelli e la divorarono. 5 Un’altra parte cadde in luogo sassoso, dove non c’era molta terra; subito germogliò, perché il terreno non era profondo. 6 Ma, spuntato il sole, restò bruciata e non avendo radici si seccò. 7 Un’altra parte cadde sulle spine e le spine crebbero e la soffocarono. 8 Un’altra parte cadde sulla terra buona e diede frutto, dove il cento, dove il sessanta, dove il trenta. Chi ha orecchi intenda“ (Matteo 13, 3-9; BIBBIA, Testo CEI 2008). Der Vergleich zeigt, dass kausale Relationen in allen drei Versionen im Großen und Ganzen übereinstimmend angezeigt werden, d.h. vorherrschend in der Folge ‘Antecedens, dann Consequens‘. Der Ausdruck des Antecedens mit Hilfe eines Hauptsatzes ohne explizites Einleite-Element ist die vorherrschende formale Kennzeichnung des Antecedens-Konjunkts in den Versen 4, 5, 7 und 8. Die entsprechenden Strukturen sind syntaktisch 15 Alle Hervorhebungen in den Textstellen gehen auf die Autorin dieses Beitrags zurück. Heidi Siller-Runggaldier 246 großteils äquivalent realisiert und nennen jeweils den Ort, auf den der vom Sämann ausgestreute Samen fällt. Durch diesen eindringlichen Parallelismus in der Nennung der unterschiedlichen Orte als Grund für das zum Scheitern verurteilte, aber auch für das erfolgreiche Keimen der Saat kommt Spannung in die Darstellung. Das Consequens wird im deutschen und im ladinischen Text einheitlich mit der koordinativen Konjunktion dt. und bzw. lad. y angeschlossen. Im italienischen Text gelangt sowohl die syndetische Verknüpfung mit der Konjunktion it. e wie auch der asyndetische Anschluss an den vorausgehenden Satz zur Anwendung. Die Anordnung ‘Antecedens, dann Consequens‘ reflektiert im Übrigen ikonisch die temporale Sequenz von URSACHE und WIRKUNG bzw. von GRUND und FOLGE. Besondere Strukturen weisen Vers 5 und 6 auf. Vers 5 beginnt wie die Verse 4, 7 und 8 mit einem das Antecedens kennzeichnenden, kausal aber nicht markierten Hauptsatz, der zusätzlich durch einen adverbialen Relativsatz erweitert ist. Daran schließt sich das Consequens an. Im Deutschen und im Ladinischen wird es mit der koordinierenden Konjunktion und respektive y eingeleitet, im Italienischen ohne entsprechende Konjunktion. An diese das Consequens wiedergebenden Sätze schließt sich jeweils ein markierter, den Inhalt des vorausgehenden Antecedenssatzes in etwas abgewandelter Form wiederholender Kausalsatz an, wodurch eine Rahmenstruktur des Typs ‘Antecedens - Consequens - Antecedens‘ entsteht. Im deutschen Text ist dieser markierte Kausalsatz mit weil, im ladinischen mit ajache und im italienischen mit perché eingeleitet. Er erscheint also in rhematischer Position, obwohl sein Inhalt bereits aus dem ersten Antecedens-Konjunkt bekannt ist. Dadurch wird Eindringlichkeit erzeugt. Ein zweiter markierter Kausalsatz zum Ausdruck des Antecedens kommt in Vers 6 vor. Cf.: D: 6 Als aber die Sonne aufgegangen war, ward es verbrannt und verdorrte, weil es keine Wurzeln hatte. L: [...] 6 ma canche l surëdl jiva aut, s’à la sumënza brujà y, ajache la ne n’ova nia drë ravisa, iela secëda via. I: 6 Ma, spuntato il sole, restò bruciata e non avendo radici si seccò. Im Ladinischen und im Italienischen ist der Kausalsatz thematisch, weil darin die vorausgehende Information von Vers 5 (weil es [das Gesäte, H.S.-R.] keine Tiefe in der Erde hatte) mit anderen Worten wieder aufgegriffen wird und hiermit als bekannt vorausgesetzt werden kann. Die Wirkung bzw. Folge als Consequens wird im darauf folgenden Hauptsatz wiedergegeben. Im deutschen Text ist die Anordnung genau umgekehrt. Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 247 Der weil-Satz erscheint nämlich in rhematischer Position, wodurch sein Inhalt als zentrale Information des gesamten Satzgefüges perspektiviert ist, obwohl die entsprechende Information bereits vorausgehend geliefert wurde. Auch der primär temporal zu verstehende Nebensatz in Vers 6 kann kausal interpretiert werden: Der Samen im dünnen Erdreich verdorrt ‘wegen‘ der aufgehenden bzw. aufgegangenen Sonne. Im Deutschen tritt dieser Satz mit der Subjunktion als auf, und das Prädikat erscheint im Plusquamperfekt, zeigt damit perfektive Vorzeitigkeit an. Im Ladinischen ist der Satz mit der Subjunktion canche ‘als‘ eingeleitet, das Prädikat im Imperfekt signalisiert einen imperfektiven Aspekt. Und im Italienischen ist der Gliedsatz implizit realisiert: Das aspektuell perfektiv bzw. resultativ gekennzeichnete Prädikat im Partizip Perfekt ist nämlich elliptisch. Es könnte in dieser Form allerdings durch den Ablativus absolutus der lateinischen Vorlage bedingt sein (sole autem orto aestuaverunt, cf. NOVUM TESTAMENTUM […] 3 1938: 40). In der sprachlichen Realisierung des Verses 6 sind also die markantesten interlingualen Unterschiede zu beobachten. Fazit: Die Übersetzungen zeigen große Übereinstimmung bei den unmarkierten kausalen Sätzen, Übereinstimmung ebenso in Vers 5 beim ersten Kausalsatz, hier auch hinsichtlich der Verteilung von Thema und Rhema, in Vers 6 hingegen Abweichung beim zweiten Kausalsatz hinsichtlich der Verteilung von Thema und Rhema zwischen dem Deutschen einerseits und dem Ladinischen und Italienischen andererseits sowie Abweichung des Deutschen und des Ladinischen vom Italienischen hinsichtlich der Verbform: Bei ersteren ist sie finit, bei letzterem mit dem Gerundium infinit. Unterschiede in Vers 6 betreffen auch den temporal-kausalen Satz: Im Deutschen und im Ladinischen ist dessen Realisierung explizit, im Italienischen mit dem Partizip Perfekt implizit; der Verbalaspekt ist im deutschen Satz mit dem Plusquamperfekt deutlich perfektiv und vorzeitig, im Ladinischen mit dem Imperfekt imperfektiv und im Italienischen mit dem Partizip Perfekt perfektiv und resultativ gekennzeichnet. 5 Schluss Der Vergleich zwischen den drei Sprachen hat deutlich gemacht, dass die Typen kausaler Markierung großteils äquivalent verteilt sind, wenn auch mit einigen kleineren Unterschieden. So ist der Typ B im Ladinischen nicht realisierbar, weil dafür die notwendigen, den deutschen weshalb/ wes- Heidi Siller-Runggaldier 248 wegen und den italienischen per cui/ per la qual cosa entsprechenden Relativadverbien fehlen. Dieser Typ kann aber durch den Typ C ersetzt werden. Dessen Konjunktionaladverbien daviadechël und perchël leiten allerdings nicht Glied-, sondern Hauptsätze ein. Weiter fehlt im Ladinischen, aber auch im Italienischen der Typ H, der durch kausale Suffixoide zustande kommt. Um Äquivalentes auszudrücken, müssen die beiden Sprachen zu anderen Kausalmarkern greifen. Was die Kausalfeldelemente selbst betrifft, so sind in unseren drei Sprachen, bis auf jene für den Typ B im Ladinischen, großteils alle Typen vorhanden, wenn auch nicht in derselben ausdifferenzierten Art. Wie zu erwarten, verfügen das Italienische und das Deutsche über ein reicheres Inventar an solchen Elementen, die z.T. auch danach unterschieden sind, ob sie thematisch oder rhematisch, anaphorisch oder ohne phorische Funktion einsetzbar sind. Wenn das Ladinische diese Differenzierungen auch nicht mit darauf abgestimmten Mitteln deutlich machen kann, so ist dieser Mangel großteils durch funktional äquivalente, großteils polyvalente Elemente ausgleichbar. So kennzeichnet es etwa thematische und rhematische Kausalsätze des Typs A durchaus ausreichend mit Hilfe ihrer Stellung gegenüber dem Hauptsatz, setzt sonst aber für beide Varianten dieselbe Subjunktion ajache ein. Damit markiert es den funktional-perspektivischen Unterschied ökonomischer als das Deutsche und das Italienische mit den diesbezüglich differenzierenden Subjunktionen da und weil respektive siccome und perché. Eine eigene Form von Kausalsatz mit einleitendem che, das funktional nicht identisch ist mit der allgemeinen Subjunktion che, findet sich im Ladinischen und im Italienischen, hat im Deutschen aber kein Äquivalent. Es handelt sich bei dem damit eingeleiteten Satz um einen rhematischen Kausalsatz, der den im vorausgehenden Hauptsatz zum Ausdruck gebrachten illokutiven Akt begründet. Unterschiede zwischen unseren Sprachen gibt es auch im Bereich der infiniten Kausalsätze. Was im Deutschen, wenn auch mit einer gewissen Vorsicht, mit dem Partizip Präsens ausgedrückt werden kann, erscheint in unseren romanischen Sprachen im Präsens des Gerundiums. Das Gerundium in seiner Vergangenheitsform tritt mit kausaler Bedeutung nur im Italienischen auf, im Ladinischen ist diese Form ausgeschlossen, auch weil sie dort kaum heimisch ist. Der Infinitiv schließlich ist in beiden romanischen Sprachen möglich und folgt darin stets auf die Präposition per. Er entwickelt allerdings nur in der Perfektform kausale Bedeutung. Und schließlich besteht ein doch wesentlicher Unterschied zwischen unseren Sprachen darin, dass das Ladinische gegenüber dem Deutschen Der Ausdruck der Kausalität im interlingualen Vergleich 249 und dem Italienischen über weniger Relationsverben und Konjunktionaladverbien verfügt. Da diese Elemente für bestimmte Diskurse und bestimmte Texttypen kennzeichnend sind, ist auch verständlich, warum eine Sprache, die erst in den letzten Jahrzehnten auch in ihrer distanzsprachlichen Varietät an Bedeutung gewinnt, gerade für argumentative und explikative Texttypen noch nicht die dafür notwendigen Elemente in ausreichendem Maße besitzt. Durch Entlehnung, v.a. aus dem Italienischen, versucht das Ladinische dieses Manko aber wett zu machen und seinen Status von einer ursprünglich vornehmlich nähesprachlichen Varietät zu einer auch distanzsprachlich gut entwickelten Kleinsprache zu verändern. Der interlinguale Vergleich desselben Bibelausschnittes hat schließlich erkennen lassen, dass die darin vorkommenden kausal markierten Strukturen einander großteils entsprechen und dass sich daher in den einzelnen Übersetzungen der Austausch gegen solche anderen Typs in Grenzen hält. Besonders bemerkenswert erscheint die im Großen und Ganzen bestehende Übereinstimmung hinsichtlich der unmarkierten und hiermit impliziten Kennzeichnung der Kausalbeziehung durch asyndetische Verknüpfung oder Anschluss des Consequens mit der koordinativen Konjunktion und bzw. mit deren Entsprechungen. Dass diese Passagen trotzdem kausal verstanden bzw. interpretiert werden können, liegt daran, dass sie Teil eines Gleichnisses sind, in dem die kausalen Verbindungen über die Vertrautheit mit dem Bildspenderbereich (der Samen braucht genügend Erdreich, um gedeihen zu können) und damit durch Inferenz aus gespeichertem Weltwissen kognitiv erschließbar sind. Sie dürften allerdings auch ein stilistisches Mittel darstellen, um dem Erzählfluss durch die dadurch erreichte Temposteigerung mehr Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit zu vermitteln. Bibliographie Primärtexte aus: DAS NEUE TESTAMENT (1989): Übersetzt von Fridolin Stier. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Eleonore Beck, Gabriele Miller und Eugen Sitarz, München/ Düsseldorf, Kösel/ Patmos. BIBIA: Nuef Testamënt (2005): Redazion, traduzion y sistemazion: sn. Cristl Moroder, San Martin de Tor: Istitut Ladin „Micurà de Rü”. BIBBIA, Testo CEI 2008 = Fondazione di Religione Santi Francesco d’Assisi e Caterina da Siena (2008): BIBBIA, Testo CEI 2008, http: / / www2.bibbiaedu.it/ [21.11.2016]. Heidi Siller-Runggaldier 250 NOVUM TESTAMENTUM GRAECE ET LATINE ( 3 1938): Apparatu critico instructum edidit Augustinus Merk S.J., Romae, Sumptibus Pontificii Instituti Biblici. Sekundärliteratur DUDEN = Dudenredaktion ( 8 2009): DUDEN. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch, Mannheim/ Wien/ Zürich, Dudenverlag (DUDEN, vol. 4). Erben, Johannes ( 12 1980): Deutsche Grammatik. Ein Abriss, München, Hueber. Figge, Udo L. (1993): „Die Manifestation von Kausalbeziehungen im Französischen, mit Beispielen aus Erzählungen von Guy de Maupassant“, in: Schmitt, Christian (ed.): Grammatikographie der romanischen Sprachen. Akten der gleichnamigen Sektion des Bamberger Romanistentages (23.-29.9.1991), Bonn, Romanistischer Verlag, 135-165. Forner, Werner (1988): „Fachübergreifende Fachsprachenvermittlung: Gegenstand und methodische Ansätze“, in: Kalverkämper, Hartwig (ed.): Fachsprachen in der Romania. Forum für Fachsprachen-Forschung, vol. 8, Tübingen, Narr, 194-217. Frenguelli, Gianluca (2002): L’espressione della causalità in italiano antico, Roma, Aracne. Gallmann, Peter/ Siller-Runggaldier, Heidi/ Sitta, Horst: Sprachen im Vergleich: Deutsch - Ladinisch - Italienisch. Der komplexe Satz (noch unveröffentlichtes Manuskript). Giusti, Giuliana (1991): „Frasi avverbiali: causali”, in: Renzi, Lorenzo/ Salvi, Giampaolo (eds.): Grande grammatica italiana di consultazione, vol. II: I sintagmi verbale, aggettivale, avverbiale. La subordinazione, Bologna, il Mulino, 738-751. Kreipl, Nadiane (2004): Der Ausdruck von Sinnrelationen in der französischen Gegenwartssprache. Eine Untersuchung am Beispiel der Wirtschafts- und Literatursprache, Wilhelmsfeld, Egert. Lang, Ewald (1977): Semantik der koordinativen Verknüpfung, Berlin, Akademie-Verlag. Lombardi Vallauri, Edoardo (2000): Grammatica funzionale delle avverbiali italiane, Roma, Carocci. Nazarenko, Adeline (2000): La cause et son expression en français, Paris, Ophrys. Posch, Günter (1981): „Zur Problemlage beim Kausalitätsproblem“, in: Posch, Günter (ed.): Kausalität. Neue Texte, Stuttgart, Reclam, 10-29. Salvi, Giampaolo/ Vanelli, Laura (2004): Nuova grammatica italiana, Bologna, il Mulino. Schmidhauser, Beda (1995): Kausalität als linguistische Kategorie. Mittel und Möglichkeiten für Begründungen, Tübingen, Niemeyer. Eva Lavric Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung: kontrastiv Deutsch - Französisch - Spanisch 1 Einleitung und referenzsemantische Prämissen Es geht in diesem Beitrag um die Klasse der Determinanten, also der Substantivbegleiter, in den Sprachen Deutsch, Französisch und Spanisch. In Lavric (2001a) habe ich eine Gesamtschau der Klasse in diesen drei Sprachen gegeben, die ich mit einer Kombination aus Übersetzungsvergleich und Kommutationsprobe untersucht habe, auf die ein Merkmalskalkül aufbaut, das das Bedeutungsfeld der Determination strukturiert. Hier möchte ich nun einen Teilbereich dieser Formen herausgreifen, der sich durch eine Art semantisches Paradoxon auszeichnet: nämlich jene Determinanten, die formal im Singular stehen und die sich auch mit singularischen Substantiven verbinden, deren Bedeutung aber einer „Mehr-Zahl“ von Referenten entspricht. Im Deutschen gehören dazu etwa die Formen jeder und mancher. Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung sind der beste Beweis dafür - falls es eines solchen noch bedürfte -, dass die morphologische Opposition zwischen Singular und Plural und die semantische Opposition zwischen Einzahl und Mehrzahl nicht gleichgesetzt werden können. Der morphologische Singular ist ja in den von mir untersuchten Sprachen auch in Bereichen im Einsatz, in denen die Opposition Einzahl- Mehrzahl aufgehoben ist, nämlich bei den Mass-Substantiven, cf. Konkreta wie Salz, Käse, Abstrakta wie Mut, Freude u.v.a.m. Nun könnte man vielleicht annehmen, wenigstens im Count-Bereich, also bei zählbaren Referenten, würde der Singular die Einzahl und der Plural die Mehrzahl signalisieren. Das ist aber nicht der Fall, der Singular ist für Einzahl-Mehrzahl unmarkiert, nur der Plural signalisiert Mehrzahl. Für singularische Beispiele mit Mehrzahl-Bedeutung kann man exemplarisch-generische Sätze mit unbestimmtem Artikel Singular anführen, wie das berühmte ein Bieber baut Dämme. Weitere „störende Ausnahmen“ zur Äquivalenz Sg.=Einzahl, Pl.=Mehrzahl sind eben insbesondere die singularischen Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung: Eva Lavric 252 - Es sind dies einerseits singularische Totalisierer wie dt. jeder, jeglicher, jedweder, 1 frz. chaque, tout und sp. cada, todo (cf. 2.) - und andererseits singularische Indefinita wie dt. mancher, so mancher, fr. maint und plus d’un sowie sp. algún (que otro) und más de un (cf. 3.). Ziel dieses Beitrags ist eine semantische Beschreibung der hier aufgezählten Formen, die sich also nicht nur auf das Phänomen der unerwarteten Mehrzahl-Bedeutung beschränkt. Der semantische Kern der Determinanten hängt einerseits mit Identifikation und andererseits mit Quantifikation zusammen; um die Quantifikation wird es hier gehen, aber wir werden sehen, dass in dieser Dimension sehr differenzierte Bedeutungsmerkmale angesiedelt sind (so gibt es z.B. einen Unterschied zwischen ‘großer Zahl‘ und ‘beträchtlicher Zahl‘) und dass die Profile der einzelnen Determinanten auch durch die Interaktion mit der Dimension ‘Zugriff‘ entstehen (jener Dimension, die die verschiedenen Formen der Distributivität erklärt). Da wir es einerseits mit Totalisierern und andererseits mit Indefiniten zu tun haben, müssen wir diese außerdem in ihrem semantischen Feld in Form von Oppositionen situieren, sodass auch das jeweilige Umfeld mit den semantisch angrenzenden Formen in den Blick kommt. Außerdem soll hier einleitend kurz auf die Opposition definit-indefinit eingegangen und dafür das von mir entwickelte Referenzmodell vorgestellt werden. Exkurs: Ein gestuftes Referenzmodell, die Opposition definit/ indefinit und der Sonderfall der distributiven Lokalisierung 2 Ich verstehe definit-indefinit als eine Opposition zwischen Gesamtheit und Nicht-Gesamtheit: Im Referenzprozess jeder determinierten Nominalphrase wird zunächst eine Menge 3 möglicher Referenten gebildet, die bei definiter Determination als Ganzes für die effektive Referenz übernommen wird, während bei indefiniter Determination nur ein Teil der möglichen Referenz die effektive Referenz bildet. In beiden Fällen wird aber von derselben Menge möglicher Referenten ausgegangen, die durch die Bedeutung (= potentielle Referenz) des Kernsubstantivs, eingeschränkt durch die Bedeutung restriktiver Attribute (ergibt die Bedeutung des Determinats = der NP minus Det) sowie durch Lokalisierungs- 1 Da ich an der Semantik und nicht an der Morphologie interessiert bin, gebe ich die Determinanten nur jeweils in der maskulinen Form. 2 Cf. Lavric (2001a: 189-527). 3 Im Fall der Mass-Referenz handelt es sich nicht um eine Menge, sondern um ein Quantum. Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 253 phänomene wie Anapher oder Deixis, gebildet wird. Ein Beispiel: Nehmen wir die Nominalphrasen die graue Katze versus eine graue Katze, nachdem im Vor-Text von den Katzen des Nachbarn die Rede gewesen ist. Die Menge möglicher Referenten ergibt sich aus der Bedeutung des Substantivs (alle möglichen und denkbaren Katzen), eingeschränkt durch die Bedeutung des restriktiven Attributs grau (alle möglichen und denkbaren grauen Katzen), weiter eingeschränkt durch die anaphorisch-deiktische Lokalisierung, nämlich den Bezug zu den Katzen des Nachbarn. Übrig bleibt als mögliche Referenzmenge die Menge aller grauen Katzen des Nachbarn, von der wir auf dieser Stufe noch nicht unbedingt wissen, wie viele es sind. Ist die Determination definit (die graue Katze), so wissen wir, dass sämtliche graue Katzen des Nachbarn gemeint sind; und der Singular sagt uns, dass es nur eine solche gibt. Ist die Determination dagegen indefinit (eine graue Katze), so wissen wir aufgrund des Singulars, dass ein Referent gemeint ist, aufgrund der indefiniten Determination können wir aber auch schließen, dass es noch weitere mögliche Referenten gibt, die der gegebenen Beschreibung mit der gegebenen Lokalisierung (also graue Katze + Katze des Nachbarn) entsprechen. Figur 1: Die Phasen des Referenzvorgangs und die definite versus die indefinite Determination Eva Lavric 254 Das wäre die normale Deutung der Opposition definit-indefinit; bei distributiv lokalisierten Nominalphrasen verkompliziert sich die Sache allerdings, weil hier auch singularische Nominalphrasen de facto eine Mehrzahl-Gesamtheit ausdrücken können. Nehmen wir das Beispiel Jedesmal, wenn ich eine graue Katze sehe, freue ich mich. Wir haben hier eine mögliche Referenzmenge, die aus allen möglichen und denkbaren grauen Katzen besteht (keine Einschränkung auf der Ebene der Lokalisierung) und aus der durch die indefinit-singularische Determination ein einzelnes Element herausgegriffen wird (eine Katze). Trotzdem ist hier nicht von einer einzelnen grauen Katze die Rede, sondern von grauen Katzen ganz generell und von meinen Begegnungen mit ihnen. Das liegt daran, dass die indefinite Nominalphrase distributiv lokalisiert ist, das bedeutet, dass der Referenzstrang sich auf der Ebene der Lokalisierung (also dort, wo der Kontext mit einbezogen wird) in unendlich viele identische Referenzstränge aufspaltet. Das geschieht deswegen, weil eine graue Katze im Skopus des Quantors jedesmal steht, der eben distributiv (konkret: iterativ) ist und so den Referenzstrang aufspaltet. Was auf diese Weise entsteht, ist eine besondere Form der Generizität, nämlich eine distributive Generizität mit Eins-zu-Eins-Zuordnung (jeder grauen Katze zu der jeweiligen Gelegenheit, bei der ich sie sehe). Dieser Sonderfall gibt uns bereits einen Vorgeschmack auf das folgende Kapitel, die singularischen Totalisierer mit Mehrzahl-Bedeutung. Figur 2: Distributive Lokalisierung einer indefiniten Nominalphrase Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 255 2 Singularische Totalisierer mit Mehrzahl-Bedeutung Totalisierer sind definite Determinanten mit dem gemeinsamen Bedeutungsmerkmal [+ AUSNAHMSLOSE GESAMTHEIT ]. Die singularischen Totalisierer mit Mehrzahl-Bedeutung, also dt. jeder, jeglicher, jedweder, frz. chaque, tout und sp. cada, todo, sollen hier zunächst in den Kontext der pluralischen Totalisierer (dt. alle, sämtliche, fr. tous les, sp. todos los) gestellt werden, von denen sie sich bezeichnenderweise bezüglich der Distributivität unterscheiden. Sie sind aber auch untereinander verschieden, wobei zwei Bedeutungsdimensionen zum Tragen kommen, nämlich ‘Zugriff‘ und ‘Welten‘. Die ‘Zugriff‘-Dimension beschreibt die unterschiedlichen Varianten des distributiven versus globalen Zugriffs auf die Referenzmenge, die nur im Mehrzahl-Bereich relevant wird und die vom Kontext und vom Determinanten gesteuert wird. Die ‘Welten‘-Dimension unterscheidet zwischen Referenten, die in der realen Welt, und solchen, die in möglichen Welten (also z.B. im Skopus von wünschen, Futur etc.) angesiedelt sind. In diesem Beitrag soll die ‘Welten‘-Dimension ausgeklammert 4 und dafür die ‘Zugriff‘-Dimension, zunächst in Bezug auf die Totalisierer, detailliert aufgefächert werden, da ja die Mehrzahl-Bedeutung von singularischen Determinanten ein ‘Zugriff‘-Phänomen darstellt. Der wesentliche Unterschied zwischen den singularischen und den pluralischen Totalisierern ist, dass nur die pluralischen, nicht aber die singularischen, mit reziproken (Bsp. 1) und mit gruppierenden (Bsp. 2) Prädikaten kompatibel sind: 5 4 Ich verweise dafür, bezogen auf die Totalisierer, auf Lavric (2001a: 615-631) sowie auf Lavric (2001b). 5 Meine Methode ist eine strukturalistische, mein Corpus ein dreisprachiges Übersetzungs-Corpus, wobei die Originalfassung in den Beispielen jeweils zuoberst angeführt wird. (Dazu kommen gelegentlich „freihändig“ gesammelte Originalbelege für manche Formen außerhalb des Corpus, cf. 3., Fußnote 20). Ich unterstreiche im Beispiel den (bzw. die drei) Determinanten, um den (die) es mir gerade geht, und ich füge jeder der drei Versionen die möglichen Kommutationen bei: Ich gehe also davon aus, dass der Kontext in den drei Sprachen jeweils äquivalent ist (Beispiele, bei denen das nicht der Fall ist, habe ich ausgeschlossen), und ich ermittle durch Kommutationsproben, welche anderen Determinanten an dieser Stelle eingefügt werden können, ohne dass sich die Bedeutung ändert. Steht ein Stern vor der Kommutation, bedeutet das, dass der Determinant an dieser Stelle entweder überhaupt nicht eingesetzt werden kann oder dass die Kommutation nicht bedeutungserhaltend ist. Auf diese Weise erhalte ich Kommutationsmuster bzw. Beispielsgruppen, die ich in Form von semantischen Merkmalen interpretiere. Ein wichtiger Vorteil dieser Methode ist, dass die semantischen Beschreibungen der Determinanten schon Eva Lavric 256 (1) On aperçoit que toutes les unités linguistiques, qu’elles soient signes ou phonèmes, sont entre elles dans deux types distincts de rapports *toute/ *chaque unité linguistique... est Es zeigt sich, dass alle sprachlichen Einheiten, ob Zeichen oder Phoneme, zueinander in zwei verschiedenen Arten von Beziehungen stehen *jede/ *jegliche/ *jedwede sprachliche Einheit... steht Se ve que todas las unidades lingüísticas, sean signos o fonemas, guardan entre sí dos clases de relaciones *toda/ *cada unidad lingüística... guarda (Mar, 33; Mar-dt, 35; Mar-sp, s.p.) (2) El Consejo Superior de Investigaciones Científicas, organismo que agrupa todos los institutos de las distintas disciplinas *cada/ *todo instituto de las distintas disciplinas Der Consejo Superior de Investigaciones Científicas - Oberster Rat für Wissenschaftliche Forschungen - ist das Organ, das alle wissenschaftlichen Institute der verschiedenen Disziplinen umfaßt *jedes/ *jegliches/ *jedwedes wissenschaftliche Institut Le Conseil Supérieur de Recherches Scientifiques groupe tous les instituts des diverses matières *chaque/ *tout institut... (Madr) Reziproke und gruppierende Prädikate verlangen einen globalen Zugriff auf die Referenzmenge, keinen distributiven. Ein solcher ist nur mit den pluralischen Totalisierern, nicht aber mit den singularischen, möglich. Diese Opposition zwischen globalem und distributivem Zugriff ist für die Dimension ‘Zugriff‘ grundlegend; ich fasse sie in die semantischen Merkmale [ + DISTRIBUTIV ] versus [ - DISTRIBUTIV ]=[ + GLOBAL ]. [ + DISTRIBU- TIV ] bedeutet, dass die Referenzmenge in Einer-Teilmengen unterteilt wird, [ + GLOBAL ] bedeutet, dass auf die Referenzmenge als Ganzes zugegriffen wird. Wir haben also eine Opposition zwischen {a}, {b}, {c} etc. einerseits und M = {a, b, c, ...} andererseits. in ihrer Entstehung dreisprachig-kontrastiv angelegt sind. Cf. die Beschreibung der Methode in Lavric (2001a: 109-188) sowie in Lavric (2001c). Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 257 x y z etc. etc. Menge mit Elementen Einer- Teilmengen Totalisierer m n p Figur 3: Globaler vs. distributiver Zugriff: alle versus jeder Cf. auch die auf das Referenzmodell bezogenen Graphiken aus Lavric (2001: 451): Figur 4: Alle und jeder im Referenzmodell Die singularischen Totalisierer erlauben ausschließlich einen [ + DISTRIBU- TIVen ] Zugriff, die pluralischen Totalisierer können auch in [ - DISTRIBU- TIVen ] = [ + GLOBALen ] Lesarten vorkommen. Der Unterschied zeigt sich deutlich in ambigen Kontexten wie Beispiel (3): (3) Cada abonado recibirá un número de abono Todo abonado recibirá un número de abono Todos los abonados recibirán un número de abono Jeder Abonnent erhält eine Nummer Alle Abonnenten erhalten eine Nummer Chaque abonné recevra un numéro d’abonnement Tout abonné recevra un numéro d’abonnement Tous les abonnés recevront un numéro d’abonnement (S-Fil) Eva Lavric 258 Solche Beispiele werden von den singularischen Totalisierern in Richtung [ + DISTRIBUTIV ] disambiguiert: x y z etc. etc. Abonnenten Nummern Jeder Abonnent erhält eine Nummer m n p Figur 5: Distributive Lesart singularischer Totalisierer Die pluralischen Totalisierer lassen hingegen beide Lesarten bestehen, die [ + DISTRIBUTIVe ] wie auch die [ + GLOBALe ] (nur erstere ist in Beispiel (3) bedeutungserhaltend): x y z etc. etc . Abonnenten Nummern Alle Abonnenten erhalten eine Nummer m n p Figur 6: Distributive Lesart pluralischer Totalisierer x y z etc. etc . Abonnenten Nummern Alle Abonnenten erhalten eine Nummer m n p Figur 7: Globale Lesart pluralischer Totalisierer Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 259 Das folgende Schema zeigt das Verhalten der verschiedenen Totalisierer in der Opposition [ +/ - DISTRIBUTIV ]: [- DISTRIB. ] tous les / todos los / alle, sämtliche chaque, tout / cada, todo / jeder, jeglicher, jedweder [+ DISTRIB. ] Figur 8: Singularische und pluralische Totalisierer und Distributivität Die pluralischen Totalisierer verhalten sich dieser Opposition gegenüber neutral, sie können sowohl einen [ + DISTRIBUTIVen ] als auch einen [ - DIS- TRIBUTIVen ]=[ + GLOBALen ] Zugriff stiften. Die singularischen Totalisierer dagegen sind markiert, sie haben das Merkmal [ + DISTRIBUTIV ]; daher wird ihnen in solchen Beispielen der Vorzug gegeben, wo Distributivität speziell ausgedrückt werden soll; es ist kein Zufall, dass sie in Beispiel (3) im Originaltext aufscheinen. Wir haben damit die singularischen Totalisierer gegenüber den pluralischen abgegrenzt. Es bleiben aber im Bereich der singularischen noch jeweils mehrere Formen, die nicht dieselbe Art von Distributivität vertreten; das zeigt sich, weil sie nicht in denselben Beispielen eintreten können. Der Kürze halber sei hier schon vorweg präzisiert, dass fr. chaque und sp. cada einerseits, sowie fr. tout und sp. todo andererseits, perfekt synonym sind und tatsächlich in denselben Kontexten mit denselben Bedeutungsnuancen eintreten können. Im Deutschen reihen sich im Prinzip jeder auf die Seite von chaque/ cada und jeglicher, jedweder auf die Seite von tout/ todo. 6 Das stimmt jedenfalls in der Dimension ‘Zugriff‘, in der jeder mit chaque und cada und jeglicher, jedweder mit tout und todo solidarisch sind. Wir können also in dieser Dimension zwei Reihen von Totalisierern kontrastieren: jeder/ chaque/ cada einerseits und jeglicher, jedweder/ tout/ todo andererseits. 6 Die Kommutationen zeigen allerdings, dass das nicht hundertprozentig zutrifft. Zwar sind jeglicher, jedweder tatsächlich Synonyme von tout/ todo, aber dt. jeder umfasst eigentlich den Bereich sowohl von chaque/ cada als auch von tout/ todo. Das erklärt, warum jeglicher, jedweder als Formen sehr selten bleiben und warum germanophone Lerner mit der Unterscheidung zwischen chaque und tout im Französischen und zwischen cada und todo im Spanischen Schwierigkeiten haben. Die Schwierigkeit hängt allerdings mit der Unterscheidung in der Dimension ‘Welten‘ zusammen (chaque/ cada für Reales, jeglicher, jedweder/ tout/ todo für Potentielles, jeder für beides), auf die wir hier nicht näher eingehen können (cf. Lavric 2001a: 615-631 und Lavric 2001b). Eva Lavric 260 Beginnen wir mit jenen Beispielen, die eine starke Affinität zu jeder/ chaque/ cada haben, während jeglicher, jedweder/ tout/ todo darin nicht eingesetzt werden können. Es sind dies zunächst Beispiele mit differenzierenden (Bsp. 4) und steigernden (Bsp. 5) Prädikaten: (4) (Gespräch in einem Wald. Kreisleiter Gorbach zu seinem Untergebenen: ) Jedes Gemüt reagiert da anders, wenn es vor die Natur tritt. Der eine verstummt, der andere redet einfach weiter, pietätlos *Jegliches/ *jedwedes Gemüt Chaque être devant la nature réagit différemment. L’un se tait, l’autre ne s’arrête pas de parler; manque de piété *Tout être Cada persona reacciona de manera distinta cuando se encuentra ante la naturaleza. El uno se queda mudo, el otro sigue sencillamente hablando, sin piedad *Toda persona (Wal, 25; Wal-fr, 27; Wal-sp, 22) (5) [...] el aumento de la afición al coleccionismo hace que cada Exposición Nacional se vea enriquecida, en relación con las anteriores, en espacio y calidad *toda Exposición Nacional [...] die Zunahme der [...] Sammlerleidenschaft macht, daß jede nationale Ausstellung sich im Vergleich zu den vorangegangenen raum- und qualitätsmäßig bereichert sieht *jegliche/ *jedwede nationale Ausstellung [...] l’augmentation de l’intérêt porté aux collections fait que chaque Exposition Nationale se voit enrichie, par rapport aux précédentes, en espace et en qualité *toute Exposition Nationale (S-Fil) Weiters sind es Beispiele mit bijektiver, d.h. Eins-zu-Eins-Zuordnung wie unser Beispiel (3), und zwar ganz besonders solche, in denen es um eine Eins-zu-Eins-Zuordnung zu Maßeinheiten bzw. zu in Maßeinheiten ausgedrückten Mengen geht: Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 261 (6) [...] la consommation moyenne de chaque Français s’élève à 1600 litres [d’eau] par jour *de tout Français [...] kommt der Durchschnittsverbrauch jedes Franzosen auf 1600 l [Wasser] pro Tag *jegliches Franzosen [...] el consumo medio de cada francés alcanza los 1600 litros [de agua] diarios *de todo francés (HPP, 134-135) Eine besonders wichtige Gruppe sind schließlich jene Beispiele, in denen der Kontext einer distributiven Lesart eigentlich entgegensteht und in denen diese quasi gegen den Kontext vom Determinanten ausgelöst werden muss: (7) El importe a devolver se corresponderá con el tipo que grava la mercancía, aplicándose sobre el IMPORTE UNITARIO de cada artículo *de todo artículo Der rückzuerstattende Betrag entspricht dem Auflagetyp der Ware, der für den EINHEITSPREIS jedes Artikels festgesetzt wird *jeglichen/ *jedweden Artikels Le montant remboursé correspondra au taux appliqué sur la marchandise en question, et ce sur le PRIX UNITAIRE de chaque article *de tout article (TVA) Die differenzierenden und steigernden Prädikate (Bsp. 4, 5) würden ein Merkmal [ + DIFFERENZIEREND ] für jeder/ chaque/ cada nahelegen, während jeglicher, jedweder/ tout/ todo den Gegenpol [ + EGALISIEREND ] vertreten müssten. 7 Beispiel (3) zeigt allerdings, dass jeder/ chaque/ cada sehr wohl auch in egalisierenden Kontexten eintreten können. Man müsste die Opposition daher wohl wie folgt darstellen: 7 Das bedeutet, dass jeglicher, jedweder/ tout/ todo verwendet werden, um etwas auszusagen, was die Referenten gemeinsam haben; siehe oben Beispiel (3) sowie die folgenden Beispiele: (8) [...] dans la civilisation du négoce dont relèvent nos exemples, toute vente est supposée procurer un bénéfice (Ans, 25) (9) [...] todo posesivo equivale a de + pronombre personal, pero no al contrario (PD, 79) Eva Lavric 262 [+ EGAL. ] [+ DIFF. ] tout / todo / jeglicher, jedweder chaque / cada / jeder [+ DISTRIB. ] Figur 9: Versuch einer Unterscheidung [ + EGALISIEREND ] versus [ + DIF- FERENZIEREND ] Die Beispiele mit Eins-zu-Eins-Zuordnung zu Maßeinheiten (Bsp. 6) zwingen uns allerdings, diese Auffassung zu revidieren. Denn obwohl sie dem egalisierenden Typ zuzurechnen sind, da ja eine jedenfalls statistische Gemeinsamkeit der Referenten ausgesagt wird, so ist trotzdem die Serie tout/ todo/ jeglicher, jedweder ausgeschlossen. Die Grenze zwischen [ + EGALISIEREND ] und [ + DIFFERENZIEREND ] muss also doch woanders gezogen werden; sie stimmt nicht mit der Trennungslinie zwischen den beiden Totalisierer-Reihen überein, daher kann die Opposition [ + EGALI- SIEREND ] und [ + DIFFERENZIEREND ] nicht für die Unterscheidung zwischen den beiden Totalisierer-Reihen entscheidend sein. [+ DISTRIB. ] E [+ EGAL. ] [+ DIFF. ] tout / todo / jeglicher, jedweder chaque / cada / jeder Figur 10: Die wirkliche Grenze zwischen [ + EGALISIEREND ] und [ + DIFFE- RENZIEREND ] Die tatsächliche Lösung liefern erst die Beispiele wie (7), in denen der Kontext einer distributiven Interpretation stark zuwiderläuft. In solchen Beispielen gelingt es lediglich der Reihe jeder/ chaque/ cada, eine distributive Lesart gewissermaßen zu erzwingen. Jeder/ chaque/ cada vertreten Distributivität daher in ihrer denkbar stärksten Variante, für die Choe (1987) und Gil (1995) eine Bezeichnung geprägt haben, nämlich das Merkmal [ + DIS- TRIBUTIVE KEY ]. Jeglicher, jedweder/ tout/ todo vertreten dagegen nur eine schwächere Variante der Distributivität, die ich in das Merkmal [ + INDIVI- DUELL ] fasse; dabei muss die distributive Interpretation vom Kontext gestützt werden. Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 263 [+ INDIVIDUELL ] [+ DISTR. KEY ] tout / todo / jeglicher, jedweder chaque / cada / jeder [+ DISTRIB. ] Figur 11: [ + INDIVIDUELL ] versus [ + DISTRIBUTIVE KEY ] Übrigens behalten jeder/ chaque/ cada das Merkmal [ + DISTRIBUTIVE KEY ] natürlich auch in jenen Beispielen, in denen [ + INDIVIDUELL ] genügen würde. Im Überschneidungsbereich mit jeglicher, jedweder/ tout/ todo haben sie weiterhin das mächtigere Merkmal, das in diesen Fällen dann eben redundant stark ist. Zum Abschluss dieses Abschnitts gebe ich nun eine Gesamtschau der Totalisierer in der Dimension ‘Zugriff‘, die alle Merkmale umfasst, die wir ins Auge gefasst haben. Es muss allerdings bemerkt werden, dass die Opposition [ + EGALISIEREND ] versus [ + DIFFERENZIEREND ] für die Opposition zwischen den drei Determinanten-Reihen genau genommen keine Rolle spielt. [+ INDIVIDUELL ] [+ EGAL. ] [+ DISTR. KEY ] [+ DIFF. ] tous les / todos los / alle, sämtliche chaque / cada / jeder tout / todo / jeglicher, jedweder [- DISTRIB . ] Figur 12: Totalisierer in der Dimension ‘Zugriff‘ Das bei weitem wichtigste Merkmal in unserem Zusammenhang ist [ + IN- DIVIDUELL ], denn es ist das gemeinsame Merkmal aller singularischen Mehrzahl-Determinanten und kommt also nicht nur im Totalisierer-Bereich vor, sondern auch im Bereich der Indefinita, dem wir uns im nächsten Kapitel zuwenden werden. 3 Singularische Indefinita mit Mehrzahl-Bedeutung Rekapitulieren wir, welchem Kommutationsverhalten das Merkmal [ + IN- DIVIDUELL ] entspricht: Inkompatibilität mit reziproken und gruppierenden Prädikaten, distributive Lesart bei Eins-zu-Eins-Zuordnungen, aber ] Eva Lavric 264 keine Distributivität, wenn diese gegen den Kontext durchgesetzt werden müsste. Überprüfen wir nun, ob dieses Verhalten auch dem der singularischen Indefinita mit Mehrzahl-Bedeutung entspricht. Zu dieser Gruppe sind die folgenden Formen zu zählen (cf. 1.): dt. mancher, so mancher, 8 fr. maint und plus d’un sowie sp. algún (que otro) und más de un. Hier folgen daher noch einmal die Beispiele, an denen wir das Merkmal [ + INDIVIDU- ELL ] bei den Totalisierern festgemacht haben; wir setzen nun in dieselben Beispiele die singularischen Indefinita ein und überprüfen die Kompatibilität, nicht allerdings die Erhaltung der Bedeutung; mit einer solchen ist zwischen definiten und indefiniten Formen nicht zu rechnen, denn indefinite Dets haben ja [- GESAMTHEIT ]. (1’) *On aperçoit que plus d’une/ mainte unité linguistique, qu’elle soit signe ou phonème, est entre elles dans deux types distincts de rapports *Es zeigt sich, dass manche/ so manche sprachliche Einheit, ob Zeichen oder Phonem, zueinander in zwei verschiedenen Arten von Beziehungen steht *Se ve que más de una unidad lingüística, sea signo o fonema, guarda entre sí dos clases de relaciones (3’) Más de un abonado recibirá un número de abono Mancher Abonnent erhält eine Nummer Plus d’un abonné recevra un numéro d’abonnement (7’) El importe a devolver se corresponderá con el tipo que grava la mercancía, aplicándose sobre el IMPORTE UNITARIO de más de un artículo Der rückzuerstattende Betrag entspricht dem Auflagetyp der Ware, der für den EINHEITSPREIS manchen/ so manchen Artikels festgesetzt wird Le montant remboursé correspondra au taux appliqué sur la marchandise en question, et ce sur le PRIX UNITAIRE de plus d’un/ de maint article Man sieht, die indefinit singularischen Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung verhalten sich in all diesen Beispielen bezüglich Distributivität ganz genau so wie die Totalisierer-Reihe jeglicher, jedweder/ tout/ todo: Sie sind mit reziproken und gruppierenden Prädikaten inkompatibel (Bsp. 1’), sie lassen in Beispiel (3’) die wahrscheinliche Distributiv-Lesart beste- 8 Die Orthographie schwankt zwischen so mancher und somancher. Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 265 hen, sie verhindern eine solche aber in dem vom Kontext her tendenziell globalen Beispiel (7’). 9 Ginge es nur um die Dimension ‘Zugriff‘, könnte ich diesen Beitrag an dieser Stelle abschließen, denn die singularischen Indefinita mit Mehrzahl-Bedeutung sind diesbezüglich untereinander viel weniger differenziert als die entsprechenden Totalisierer. Sie sind insgesamt aber schon deswegen bemerkenswert, weil mehrere von ihnen in einer Singular- und einer Pluralvariante existieren (dt. mancher/ manche, so mancher/ so manche; frz. maint/ maints, sp. algún/ algunos) und weil der Bezug zwischen Singular und Plural eigentlich für die verschiedenen Formen nicht derselbe ist. Semantisch markiert sind sie im Wesentlichen in zwei Dimensionen: ‘Beliebigkeit‘ und ‘Anzahl‘. Ich werde mit der Dimension ‘Beliebigkeit‘ und also mit sp. algún/ algunos beginnen, das immerhin eine Plural- und vier verschiedene Singular-Varianten hat, von denen aber nur eine in die hier untersuchte Kategorie fällt. Die Dimensionen ‘Anzahl‘ werde ich vor allem anhand der französischen und spanischen Formen plus d’un/ más de un illustrieren und dabei ein Merkmal herausarbeiten, das auch bei anderen Formen wiederkehrt, z.B. bei frz. maint/ maints und dt. so mancher/ so manche. Diese Determinanten haben jeweils eine Singular- und eine Plural- Variante, die es zu vergleichen gilt. Am komplexesten ist allerdings die deutsche Form mancher/ manche, die nicht nur im Singular und im Plural vorkommt, sondern sich außerdem (in beiden Varianten) noch als polysem herausstellen wird. 3.1 Sp. algún/ algunos Sp. algunos im Plural ist gewissermaßen der prototypische Determinant der [ + GERINGEn ANZAHL ], denn er ist über dieses Merkmal hinaus für keine weitere Opposition markiert. Im Vergleich zu dt. einige und frz. 9 Man könnte sich berechtigterweise fragen, ob dieses Merkmal [+INDIVIDUELL ] wirklich den jeweiligen Determinanten innewohnt, oder ob es nicht ein Beitrag des Singulars ist und also aus dem Singular und nicht aus dem Determinanten kommt. Der Singular ist ja eigentlich der unmarkierte Numerus, er kann bei Mass-Referenten verwendet werden und bei Count-Referenten sowohl für die Einzahl als auch für die Mehrzahl. Bei Mehrzahl-Referenten bringt der Singular eine Art Distributivitäts- Zwang mit sich, und das gilt nicht nur für Nominalphrasen mit den entsprechenden Determinanten, sondern auch für NPs mit bestimmtem oder unbestimmtem Artikel, wo die Mehrzahl dann über den Kontext eingebracht wird (cf. das distributive Katzen-Beispiel von Fig. 2). [+ INDIVIDUELL ] könnte also ein Merkmal sein, dass sich automatisch aus der Kombination des Singulars mit einer Count-Mehrzahl-Referenz ergibt. Eva Lavric 266 quelques ist sein Einsatzbereich damit breiter, da diese beiden Determinanten nur für Referenten in realen Welten eingesetzt werden können - algunos auch in hypothetischen - und quelques außerdem eine negative Bewertung der Anzahl transportiert, die weder bei einige noch bei algunos spürbar ist. Algunos gibt uns außerdem einen ersten Einblick in die Dimension ‘Anzahl‘. Versuchen wir nämlich, [ + GERINGE ANZAHL ] oder auch [ + GROSSE ANZAHL ] zu definieren, so müssen wir feststellen, dass ‘Anzahl‘ immer etwas Relatives ist. Gering oder groß ist eine Anzahl im Vergleich zu einer zu erwartenden Norm. Und diese Norm ist eine soziale, oder zumindest eine intersubjektiv akkordierte. Algunos diputados votaron en contra: Wie viele das waren, hängt von der Gesamtzahl von diputados ab und davon, wie viele Gegenstimmen allgemein erwartet wurden. [ + GERINGE ANZAHL ] bedeutet also, weniger als eine intersubjektiv geteilte Erwartung oder Norm, [ + GROSSE ANZAHL ] bedeutet, mehr als eine solche. 10 All dies soll hier nur im Vorübergehen bemerkt werden, 11 denn was uns eigentlich interessiert, das ist ja die singularische Form, algún. Die Semantik dieses Singulars hat nur sehr bedingt mit der des entsprechenden Plurals zu tun - das gilt im Übrigen auch für frz. quelque. 1. Sp. algún und frz. quelque im Singular sind vor allem einmal [ + BELIEBIGe ] Determinanten; dieses Merkmal definiere ich als ‘Irrelevanz der Identität‘ des Referenten, im Gegensatz zu [ + SPE- ZIFISCH ], das ich als ‘Relevanz der Identität‘ deute. Im Deutschen entsprechen den beiden Polen die Formen irgendein für Beliebigkeit und ein bestimmter, ein gewisser für Spezifizität. 10 Cf. Moxey/ Sanford (1993: 80): „the quantifier chosen [...] might serve to indicate something about assumed prior expectations, perhaps signalling possible assumptions of deviation from the shared knowledge norm” (Hervorhebung E.L.). 11 Für eine genauere Beschreibung verweise ich auf Lavric (2000) sowie Lavric (2001a: 1212-1227). Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 267 (10) 12 El exterior de la casa [...] no tenía nada que la distinguiera de las menos felices, salvo [...] un portón desmontado de alguna iglesia antigua Das Äußere des Hauses [...] unterschied sich in nichts von den weniger glücklichen, einmal abgesehen von [...] dem Portal, das aus irgendeiner alten Kirche herangeschafft worden war L’extérieur de la maison [...] n’avait rien qui pût la différencier d’autres moins heureuses, sauf [...] un portail soustrait à une quelconque église ancienne quelque église ancienne (Marq, 28; Marq-dt, 21; Marq-fr, 22) 2. Zum Bereich der Beliebigkeit gehören insbesondere auch (aber nicht ausschließlich) Referenten in möglichen Welten, also im Skopus von wünschen, suchen, Futur, Konditional etc., während spezifische Referenten grundsätzlich in der realen Welt angesiedelt sind. 13 Die kontrafaktische Variante der Beliebigkeit vertritt sp. algún dann konsequenterweise in negativen Sätzen, wo es in Kombination mit no (oder jamás, sin etc.), häufig auch nachgestellt, einen negativen Determinanten abgibt: (11) Como no hallé ningua explicación, lo busqué con la mirada y no supe encontrar razón alguna para su comportamiento ni el mío, todo me salió mal aquel día (Bach-sp, 20) 3. Singularisches algún und quelque scheinen auch im Mass-Bereich auf (dort ist die deutsche Entsprechung dann irgendwelcher), mit einer Verschiebung der Bedeutung in Richtung ‘beliebige Menge‘, in Merkmalen ausgedrückt [ + QANTIT-BELIEBIG ]: 14 (12) Transcurrido algún tiempo, volví a levantarme (Hand-sp, 12) 12 In diesem Beispiel steht frz. im Original un quelconque; quelque ist aber ohne Bedeutungsverschiebung einsetzbar. (Für die Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Formen cf. Lavric 2001a: 1186-1195). Hier geht es vor allem darum, mit einem Beispiel das Merkmal [ + BELIEBIG ] und die typischen Determinanten dafür zu illustrieren. 13 Ich übernehme den ‘Welten‘-Begriff von Martin ( 2 1992/ 1983). 14 In vielen Kontexten läuft ‘eine beliebige Menge‘ aber auch auf ‘eine geringe Menge‘ hinaus, wenn etwa gemeint ist: ‘eine beliebige Menge, und sei sie noch so klein‘. In solchen Fällen nähert sich die Bedeutung von algún/ quelque + Mass dann doch wieder jener der Pluralformen algunos/ quelques an. Eva Lavric 268 (13) Le concierge était resté quelque temps sur le pas de la porte... (Cam, 15) 4. Und schließlich ist noch jene Variante von sp. algún anzuführen, die als einzige im Zusammenhang dieses Beitrags relevant ist: singularisches algún mit Mehrzahl-Bedeutung im Sinne von ‘der eine oder andere‘, spanisch auch gelegentlich in der Form algún que otro, also [ + BELIEBIG ], aber dazu eben [ + MEHRZAHL von Referenten] und [ + INDIVIDUELL ]. Auffällig ist allerdings, dass que otro in den meisten Beispielen wegfällt und es nur Kontext und Weltwissen überlassen ist, die Mehrzahl-Bedeutung zu aktualisieren: (14) Algún chubasco en el Cantábrico (TVE1) (15) 15 Al día siguiente, 17 de abril, a las ocho, el portero detuvo al doctor cuando salía, para decirle que algún bromista de mal género había puesto tres ratas muertas en el corredor (Cam-sp, 14) (16) Se trata de un auténtico accidente profesional, de unos profesionales muy expertos, con muchas, en algún caso miles de horas de experiencia de vuelo (TVE2) Eine mögliche Interpretation wäre, dass die Beliebigkeit hier sozusagen multipliziert wird, sodass ein weiterhin [ + BELIEBIGer ], aber eben ein Mehrzahl-Determinant entsteht. Die Einzahl-Interpretation ist der Default- Wert, die Mehrzahl-Interpretation tritt nur dann ein, wenn sie vom Kontext stark unterstützt wird. Wenn wir pluralisches algunos und die vier singularischen Varianten von algún zusammen betrachten, entsteht ein sehr komplexes Bild eines Determinanten, der zwischen [ + GERINGEr ANZAHL ], [ + BELIEBIG ], [ + BE- LIEBIGer MENGE ] und eben auch [ + INDIVIDUELL ] schwankt, aber nicht zufällig, sondern nach einem präzise beschreibbaren Muster. 3.2 Fr. plus d’un und sp. más de un Man könnte versucht sein, fr. plus d’un und sp. más de un 16 wörtlich zu nehmen und ihnen die Bedeutung [ ANZAHL der Referenten > 1] zuzu- 15 Das ist natürlich ein Zweifelsfall; im französischen Original steht aber des mauvais plaisants, im Plural. Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 269 schreiben. Damit wären sie Beinahe-Synonyme von mehrere/ plusieurs/ varios (deren Bedeutung ist nämlich [ ANZAHL der Referenten > 1 oder 2]), und ihre Bedeutung wäre mit der von Count-Singular identisch. Das trifft aber keinesfalls zu, denn plus d’un/ más de un können nur in einem sehr kleinen Teil der Count-Singular-Beispiele eingesetzt werden. Schon Gaatone (1991: 6-7) unterscheidet daher zwischen wörtlich gemeintem plus d’un (j’ai habité là plus d’un an) und der (lexikalisierten) „locution“ plus d’un (elle a plus d’un tour dans son sac; j’ai causé plus d’une fois avec le ministre). Hier ein Beispiel aus meinem Corpus: (17) Además, la clandestinidad compartida con un hombre que nunca fue suyo por completo, y en la que más de una vez conocieron la explosión instantánea de la felicidad, no le pareció una condición indeseable Außerdem hielt sie selbst die mit diesem Mann, der nie ganz der ihre gewesen war, geteilte Heimlichkeit, in der sie mehr als einmal die jähe Explosion des Glücks erfahren hatten, beileibe nicht für einen reizlosen Zustand En outre, la clandestinité partagée avec un homme qui ne lui avait jamais appartenu tout à fait et dans laquelle ils avaient plus d’une fois connu l’explosion instantanée du bonheur ne lui avait pas semblé une situation indésirable (Marq, 30; Marq-dt, 24; Marq-fr, 24) Die Bedeutung von plus d’un/ más de un ist entscheidend, um die Doppel- Struktur der Dimension ‘Anzahl‘ zu verstehen. Wir haben bereits gesehen, dass ‘Anzahl‘ immer eine relative Kategorie ist und dass [ + GERINGE ANZAHL ] und [ + GROSSE ANZAHL ] stets den Bezug zu einer intersubjektiven Erwartungsnorm bezeichnen. Das ist die assertierende Seite der ‘Anzahl‘-Dimension. Doch daneben gibt es noch eine evaluierende Seite, denn mit manchen Determinanten kann der Sprecher eine gegebene Anzahl ganz subjektiv als [ + BETRÄCHTLICH ] einstufen. 17 Genau das passiert 16 Dazu gehört auch die deutsche Form mehr als ein, die in Beispiel (17) genau der spanischen und der französischen Variante entspricht. Sie wurde trotzdem nicht in die Untersuchung einbezogen, weil sie im Corpus überhaupt nur in diesem einen, eigentlich idiomatischen, Beispiel vorkommt und dort orthographisch außerdem nicht autonom ist; es geht ja um den Ausdruck mehr als einmal, cf. auch unten Beispiel (21), 2. Zeile, mit genau diesem Ausdruck. 17 Cf. Moxey/ Sanford (1993: 74): „[...] natural language quantifiers can do much more than simply denote ranges of proportions or numbers, etc. For example, they can serve to comment on the proportion or number in question. Thus, only a few not only denotes a small proportion, but it draws the listener’s attention to the smallness of the proportion”. Eva Lavric 270 mit den Formen plus d’un/ más de un: Sie bezeichnen eine zwar objektiv geringe, aber subjektiv als beträchtlich evaluierte Anzahl. Sie sind daher besonders gut geeignet, um die beiden Aspekte der ‘Anzahl‘-Dimension gegeneinander abzuheben. Wie kann eine Anzahl gleichzeitig objektiv gering und subjektiv beträchtlich sein? Beispiel (17) zeigt es: Das ist möglich, wenn die erwartete, die gewissermaßen normale Zahl, sehr gering ist, z.B. null oder eins. In diese Kategorie fallen z.B. Lottogewinne, Mehrlingsgeburten, und eben auch - laut Beispiel (17) - Augenblicke vollkommenen Glücks. Das Merkmal [ + BETRÄCHTLICH ] kann sich im Übrigen - weniger unerwartet - mit dem Merkmal [ + GROSSE ANZAHL ] verbinden, etwa bei dem französischen Determinanten bien des. Und es kennzeichnet auch mehrere Formen, die in der Opposition [ + GERINGE ANZAHL ] versus [ + GROSSE ANZAHL ] überhaupt nicht markiert sind, sondern ausschließlich eine subjektive Bewertung der Anzahl transportieren, s.u., Abschnitt 3.3. Das folgende Beispiel ist besonders interessant, weil es in diesem speziellen Kontext nur auf das Merkmal [ + BETRÄCHTLICH ] ankommt. Die Kommutationen zeigen, dass in diesem Fall [ + GERINGE ANZAHL ]- und [ + GROSSE ANZAHL ]-Determinanten ausnahmsweise miteinander austauschbar sind. Dazu kommen noch eine ganze Reihe von Formen, die uns im folgenden Abschnitt beschäftigen werden: (18) Ce truculent article [...] ravira bien des présidents d’organisations agricoles! plus d’un président maint président maints présidents Dieser gesalzene Artikel [...] wird [...] einige Präsidenten landwirtschaftlicher Organisationen erfreuen...! so manchen Präsidenten so manche Präsidenten ¡Este artículo [...] encantará a algunos presidentes de organizaciones agrícolas...! más de un presidente (Präs) 3.3 Fr. maint/ maints, dt. so mancher/ so manche (und dt. manche(r) alt ) Beispiel (18) zeigt, dass nicht nur fr. plus d’un und sp. más de un, sondern auch frz. maint/ maints und dt. so mancher/ so manche das Merkmal [ + BE- Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 271 TRÄCHTLICH ] haben. 18 Frz. maint/ maints wird in der Fachliteratur immer wieder erwähnt, es wird von Mitterand (1963) und Arrivé (1968) als archaisierend und von Kleineidam (1986: 325) als gehobene, literarische Sprache eingestuft. Abgesehen von dieser stilistischen Markiertheit wird nicht auf die genaue Bedeutung eingegangen. Dt. so mancher/ so manche, der „cousin germain“ von maint/ maints, ist in der Fachliteratur überhaupt nicht wahrgenommen worden, ist aber ebenfalls stilistisch markiert und ein wenig archaisierend. Das liegt daran, dass so mancher/ so manche die quantifizierende Bedeutung von mittelhochdeutsch manec/ manege beibehalten hat, das ‘viele‘ oder ‘eine beträchtliche Anzahl‘ bedeutete. 19 Trotz dieser Markiertheit verfüge ich aber über etliche Originalbelege 20 der beiden Formen; hier eine Auswahl: (19) Il [= Andersen] rapporte de ses multiples déplacements maints dessins et croquis, pris sur le vif comme des notes (Arte, 122-123) (20) [...] entre le gymnase et moi s’étend en largeur l’avenue où j’habite, [...] ample théâtre, [...] susceptible d’accueillir maint tableau vivant, mais que personne véritablement ne hante (Ost, 10) (21) Ein bebendes, längst verloren geglaubtes Glücksgefühl überkam mich mehr als einmal im Verlaufe dieser Alpenfahrt. So manche Windung der Straße, so manches Ding, das nur dem ersten Blicke neu, doch schon dem zweiten altbekannt war, gemahnte mich an die entschwundenen Tage und rief zum andernmal die beschwingte Fröhlichkeit der Knabenjahre in mir herauf (Shel, 100) 18 Die im Originaltext aufscheinenden Dets einige und algunos sind im Übrigen für Beträchtlichkeit nicht markiert, sie lassen also dieses Merkmal lediglich zu. 19 Cf. z.B. die Verse von Walther von der Vogelweide (aus: Gedichte, Frankfurt a.M., Fischer, 7 1970: 108): mich grüezet maneger trâge der mich bekande ê wol. diu welt ist allenthalben ungenâden vol. als ich gedenke an manegen wünneclîchen tac, die mir sind enpfallen als in daz mer ein slac, iemer mêre owê 20 Diese stammen nicht aus meinem eigentlichen Corpus, sie sind daher nicht dreisprachig und wurden auch nicht der Kommutationsprobe unterworfen; sie erscheinen mir aber aussagekräftig. Weiter unten werde ich auch noch einige Corpus-Beispiele mit Kommutationen geben. Eva Lavric 272 (22) [...] die Wiener Sängerknaben werden noch so manchen Staatsoperndirektor ruhmreich überleben (Salz, 15) (23) Im Detail unterliefen Aznar allerdings so manche Fehler, die entsprechende Korrekturen notwendig machten. Dazu gehören [...] (Spa, 7) Diese Beispiele illustrieren zum Beispiel, dass bei so mancher der Singular wesentlich häufiger ist als der Plural. Sie zeigen außerdem, dass fr. maint(s) und dt. so manche(r) [ + SPEZIFISCHe ] Determinanten sind, denn in allen diesen Kontexten ist die Identität der Referenten relevant, es sind nicht ‘irgendwelche‘. 21 Die Auswahl ist aber vor allem deswegen repräsentativ, weil sie zeigt, dass das mit der stilistischen Markiertheit wirklich zutrifft - allerdings stärker auf die französischen als auf die deutschen Formen. Beispiele wie (22) und (23) mit so manche(r), die aus politischen Artikeln in der Tagespresse stammen, wären mit maint(s) zwar nicht undenkbar, würden aber einen stark ironisch-archaisierenden Unterton transportieren. Wo der nicht gewollt ist, ist maint(s) ausgeschlossen, auch wenn es semantisch gut passen würde: (24) [...] so ist es für viele Franzosen ein Trost, daß England seinerzeit einwilligte, dem Überschallflugzeug Concorde das Schluß-e anzuhängen für so manche Franzosen für so manchen Franzosen [...] c’est ainsi que beaucoup de Français ont été satisfaits de voir l’Angleterre consentir à accrocher à l’avion supersonique Concorde un e final *maints Français *maint Français (HPP, 26-27) Meine Kommutationen zeigen im Übrigen, dass die singularischen und die pluralischen Varianten von maint(s) und von so manche(r) sich in ihrer Bedeutung nicht unterscheiden. Die singularische und die pluralische Form sind also in genau denselben Beispielen einsetzbar oder nicht einsetzbar; und fr. maint(s) und dt. so manche(r) sind auch im Vergleich mit- 21 Man könnte überall viel eher frz. certains und dt. gewisse, bestimmte einsetzen (obwohl dann natürlich die [ + BETRÄCHTLICHkeit ] verloren ginge) als Formen wie de... quelconques oder irgendwelche. Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 273 einander weitgehend in denselben Beispielen einsetzbar, bis auf den oben (Bsp. 24) illustrierten kleinen stilistischen Unterschied. Was allerdings auffällt, ist, dass in sehr vielen Beispielen im Deutschen als weitere Variante, mit derselben Bedeutung, auch mancher/ manche einsetzbar ist: (25) Über den Fluß hinweg ist von dort aus, unvermutet auftauchend, wechselvoll und doch unwandelbar, die eindrucksvolle Stadt Toledo mit ihren hohen Mudejar-Bauten, Kuppeln und Turmspitzen zu sehen so manchen/ manchen hohen Mudejar-Bauten, so manchen/ manchen Kuppeln und Turmspitzen so manchem/ manchem hohem Mudejar-Bau, so mancher/ mancher Kuppel und Turmspitze De leurs terrasses on peut contempler, de l’autre côté du fleuve, la ville impériale, l’impressionnante Tolède, hérissée de  hautes tours mudéjares, de  coupoles et de  campaniles de maintes hautes tours mudéjares, de maintes coupoles et de maints campaniles de mainte haute tour mudéjare, de mainte coupole et de maint campanile (Tol) Das ist nicht die heute übliche und stark verbreitete Variante von manche(r), sondern eine archaisierende, die die Semantik von mhd. manec/ manege weiterträgt und also mit so manche(r) synonym ist (Merkmale [ + SPE- ZIFISCH ] und [ + BETRÄCHTLICH ], plus im Singular [ + INDIVIDUELL ]). Wir konstatieren hier ihre Existenz und werden sie im folgenden Abschnitt mit der moderneren Variante vergleichen. 3.4 Dt. manche(r) alt und manche(r) neu Es zeigt sich nämlich, dass der deutsche Determinant manche(r) polysem ist, er existiert in einer archaisierenden Variante manche(r) alt , die in die Gruppe maint(s)/ so manche(r) gehört, und in einer moderneren Variante manche(r) neu , die häufigere und gängigere Form, die semantisch andere Akzente setzt und nun in diesem letzten Kapitel vorgestellt werden soll. Zum Beweis werde ich zunächst einige Corpus-Beispiele vorführen, in denen nur manche(r) einsetzbar ist, während maint(s) und so manche(r) nicht oder viel schlechter passen: Eva Lavric 274 (26) [...] ein Wechsel, der vielleicht so bedeutsam war wie der Wahlsieg der Labourregierung Attlee 1945, die manche Industrien verstaatlichte ? manche Industrie *so manche Industrie/ *so manche Industrien [...] un changement peut-être aussi significatif que la victoire électorale que remporta le gouvernement travailliste de M. Attlee en 1945. Celuici avait procédé à la nationalisation de plusieurs industries ? ? maintes industries/ *mainte industrie (HPP, 134-135) (27) (Aus der Gebrauchsanweisung einer Waschmaschine, Rubrik „Reinigung“) Gewisse organische Lösungsmittel greifen ebenso wie ätherische Öle [...] die Kunststoffteile an manche organischen Lösungsmittel manches organische Lösungsmittel... greift... *so manche organischen Lösungsmittel *so manches organische Lösungsmittel... greift... Certains solvants organiques ainsi que les huiles essentielles [...] attaquent les pièces en matière plastique *maints solvants organiques *maint solvant organique (Kühl, 8, 16) Vor allem (27) ist der Prototyp eines [ + SPEZIFISCHen ] Beispiels. Dass dt. manche(r) hier so perfekt einsetzbar ist, zeigt, dass es, wie schon die Dets der vorigen Gruppe, ebenfalls das Merkmal [ + SPEZIFISCH ] hat. Wie steht es aber mit dem Merkmal [ + BETRÄCHTLICH ]? Es sieht so aus, dass gerade dieses Merkmal - gemeinsam mit der stilistischen Markiertheit - für die Nicht-Einsetzbarkeit von dt. so manche(r) und fr. maint(s) verantwortlich ist. Der Autor des Zeitungsartikels in (26) will nicht auf die Menge der Verstaatlichungen hinweisen, sondern auf die spezifische Auswahl der Branchen. Und der Verfasser der Gebrauchsanweisung in (27) will garantiert nicht andeuten, dass es eine beträchtliche Anzahl von Substanzen gibt, die bei der Reinigung die Waschmaschine beschädigen könnten; er will nur darauf aufmerksam machen, dass man sorgfältig prüfen soll, womit man diese reinigt. Typisch Spezifizität, aber eben nicht Beträchtlichkeit. 22 22 In der Fachliteratur (Vater 2 1979/ 1963; Oomen 1977 und Zhou 1985) wird manche(r) in Analogie zu jeder ein Merkmal [ + DISTRIBUTIV ] zugeschrieben; die Form bezeichne (im Gegensatz zu jeder) distributive Nicht-Gesamtheit und außerdem „einzelne, diskontinuierliche Einheiten innerhalb [einer] Menge“ (Vater 2 1979/ 1963: 101) bzw. eine Struktur der Referenzmenge aus Einermengen (Oomen 1977: 93). Singular und Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 275 Damit haben wir bereits die semantische Beschreibung von dt. manche(r) neu gegeben. Die Form ist [ + SPEZIFISCH ], aber eben für die Opposition [ +/ - BETRÄCHTLICH ] unmarkiert. Im Gegensatz dazu ist manche(r) alt [ + BETRÄCHTLICH ] und [ + SPEZIFISCH ]. In gewissen Beispielen kann es Konflikte zwischen den Lesarten geben: (28) Auch  Werbemanager erleben Mißerfolge so manche Werbemanager ≠ manche Werbemanager so mancher Werbemanager ≠ mancher Werbemanager (HPP, 158-159) Das Beispiel ist ambig zwischen einer Lesart, in der die Anzahl der scheiternden Werbemanager betont wird (so manche(r): ‘beträchtlich viele‘) und einer anderen, in der sie heruntergespielt wird (manche(r): ‘nur einzelne, bestimmte‘). Man sieht, dass im Zweifelsfall manche(r) in der neuen Variante dominiert. D.h., wenn aufgrund des Kontexts [ + SPEZIFISCH ] allein eine plausible Interpretation ergibt, wird die ältere Interpretation, [ + SPE- ZIFISCH ] und [ + BETRÄCHTLICH ], für manche(r) dann doch nicht in Betracht gezogen. Zur weiteren Illustration der Polysemie von dt. manche(r) führe ich nun eine Auswahl aus meinen Originalbelegen (also gezielt gesammelten Beispielen, nicht Corpus-Beispielen) an: (29) Aus manchem Zeitgenossen wird ein Weggefährte. Aus manchem Weggefährten wird ein zweites Ich, wie der dem Surrealismus nahestehende Marcel Duchamp (Kast) (30) Die Admirale erfüllten ihm bei der Ausrüstung jeden Wunsch, sogar manchen, der ihm gar nicht einfiel (Nad, 340) Plural sehen Vater und Zhou als synonym, während Oomen dem Singular ein zusätzliches Merkmal [ + EXEMPLARISCH ] zuschreibt. Das Merkmal [ + DISKONTINUIERLICH ] lässt sich aber bestenfalls für Zeiteinheiten argumentieren, die denn auch die Beispiele abgeben, mit denen z.B. Vater ( 2 1979/ 1963: 101) argumentiert: An manchen Tagen hatten wir sehr schönes Wetter. Der Eindruck der Diskontinuität ergibt sich aus der Linearität der Zeit kombiniert mit dem Merkmal [ + SPEZIFISCH ]. Vater selbst bemerkt, dass die Tage zumindest teilweise auch aufeinander folgen können. Eva Lavric 276 (31) 23 Auf unserer kleinen Bühne in der Baker Street hatten wir manchen interessanten Auftritt und manch dramatischen Abtritt, aber etwas Plötzlicheres und Aufregenderes als das Erscheinen von Thorneycroft Huxtable hat es bei uns selten gegeben (Doy, 113) (32) John Franklin, der immer freundlich und etwas erstaunt dreinblickte, war ein idealer Zuhörer für unerbittliche Denker. Daher hörte er manchen Satz, den sonst niemand hören wollte (Nad, 104) Beispiel (29) und Beispiel (30) sind nur [ + SPEZIFISCH ] und vertreten also manche(r) neu , Beispiel (31) und Beispiel (32) sind [ + SPEZIFISCH ] und [ + BE- TRÄCHTLICH ] und gehören zu manche(r) alt . Das folgende Beispiel dagegen erscheint beinahe unentscheidbar: 24 (33) Wenn in einer Nacht die Uhus und Käuze wie auf ein Zeichen hin ihre schrecklichen Stimmen erhoben, rannte der Nachtwächter zur Mälzerei, zum Sudhaus, zur Eiskammer und brüllte zu den Dächern empor, sie, die bösen Nachtvögel, sollten ihr Geistergeschrei beenden, er beschimpfte sie und drohte ihnen mit dem Stock, als wären sie böse Buben, die in seinen Kirschbäumen saßen und die süßen Früchte raubten. [...] In mancher solcher Stunde, wenn wir beisammen saßen und dem schaurigen Begräbnischor der Nachtvögel lauschten, wies uns Herr Vaňátko nachdrücklich, als unterstriche er Fehler mit roter Tinte, auf das hin, was wir nicht hören wollten, er tat es, indem er die Uhus und Käuze zuerst flehentlich, dann zornig aufforderte, wegzufliegen und nicht länger Tod und Unglück auf die Brauerei und ihre Inwohner heraufzubeschwören (Hrab, 241) Alle Beispiele von (29) bis (33) sind jedenfalls singularische Beispiele mit Mehrzahl-Bedeutung und haben daher jenes Merkmal [ + INDIVIDUELL ], das in diesem Beitrag besonders im Zentrum gestanden ist. Das Merkmal erscheint allerdings gerade bei dt. manche(r) neu , manche(r) alt , so manche(r) und bei fr. maint(s) gar nicht so spektakulär, weil ja in all diesen Fällen die singularische und die pluralische Form friedlich nebeneinander koexistieren (obwohl die singularische, jedenfalls bei den deutschen Formen, tendenziell häufiger ist, wie die Beispiele zeigen). 23 Wir sehen in diesem Beispiel, dass es eine unflektierte Variante manch gibt (häufig auch in der Form manch ein), deren Einsatzmöglichkeiten noch speziell untersucht werden müssten. 24 Ich gebe das Beispiel auch deshalb in dieser Ausführlichkeit, weil es so poetisch ist und meine LeserInnen für Bohumil Hrabal begeistern soll... Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 277 4 Schluss Zum Abschluss möchte ich noch einmal einen Überblick über die singularischen Mehrzahl-Determinanten der drei untersuchten Sprachen geben, der auch illustriert, wie in so manchem Bereich klare Synonymien zwischen zwei oder drei Sprachen vorherrschen, während andererseits manche Form in ihrem Umfeld idiosynkratisch wirkt: 25 Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung dt., fr., sp. ([+ INDIVIDUELL ]) Zugriff Anzahl (obj.) Beträchtlichkeit Belieb./ Spez. Anm. Totalisierer (Merkmal [+ AUSNAHMSLOSE GESAMTHEIT ]) dt. jeder fr. chaque sp. cada [+ DISTR. KEY] dt. jeglicher, jedweder fr. tout sp. todo [+ INDIVI- DUELL] [- DISTR. KEY] Indefinite (Merkmal [- GESAMTHEIT ]) fr. plus d’un sp. más de un [+ INDIVI- DUELL] [+ GERINGE ANZ.] [+ BETRÄCHT- LICH] sp. algún (que otro) [+ INDIVI- DUELL] [+ BELIE- BIG] dt. mancher neu [+ INDIVI- DUELL] [+ SPEZI- FISCH] dt. mancher alt dt. so mancher fr. maint [+ INDIVI- DUELL] [+ BETRÄCHT- LICH] [+ SPEZI- FISCH] stilist. markiert Figur 13: Singularische Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung 25 Eine weitere Bedeutungsdimension, die insbesondere bei den Totalisierern noch beträchtlich hereinspielt und die hier aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden konnte, wäre natürlich die Dimension ‘Welten‘. Eva Lavric 278 Diese Synopsis zeigt ausschließlich die singularischen Determinanten mit Mehrzahl-Bedeutung; um deren Semantik zu analysieren, war es allerdings notwendig, in diesem Beitrag noch auf eine Reihe anderer Formen einzugehen, um die [ + INDIVIDUELLen ] Determinanten gegen sie abzuheben (pluralische Totalisierer, pluralisches algunos) oder mit ihnen in Beziehung zu setzen (weitere singularische Varianten von algún, pluralische Varianten von mancher, so mancher und maint). Eine solche strukturelle Herangehensweise an die semantische Analyse, die insbesondere durch die Kommutationsproben vertieft wurde, hat jedenfalls im Bereich der Determinantensemantik großes heuristisches Potential, insbesondere im Sprachvergleich. Es wäre interessant, sie auch in anderen Bereichen an der Grenze von Grammatik und Semantik anzuwenden, etwa auf die Präpositionen, die Konjunktionen oder die Konnektoren. 26 Bibliographie Quellen der Beispiele 27 Ans = Anscombre, Jean-Claude (1991): „L’article zéro sous préposition“, in: Langue française 91, 24-39. Arte = Voyage au Danemark (1997): „Sur les pas d’Andersen“, in: Arte (ed.): Agenda 1997. Une invitation au voyage, Paris, Gallimard. Bach-sp = Bachmann, Ingeborg (1986): Malina, traducción Juan J. del Solar, Madrid, Alfaguara. Cam = Camus, Albert (1947): La peste, Paris, Gallimard. Cam-sp = Camus, Albert (1977): La peste, traducción Rosa Chacel, Barcelona, Pocket Edhasa. Doy = Doyle, Arthur Conan (1990): „Spuren im Moor“, in: id.: Sherlock Holmes. Das leere Haus und andere Detektivgeschichten, Köln, Delphin. Hand-sp = Handke, Peter (1984): Los avispones, traducción Francisco Zanutigh Múñez, Barcelona, Versal. 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Werner Forner „Als er sie welkgerochen hatte, ...“ Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 1 Einleitung Was die Sprache für den Menschen bedeutet, was sie für ihn leistet, wie sie es leistet, erkennt man am besten, wenn man verschiedene Sprachen miteinander vergleicht. Das ist der Zielkatalog, den Mario Wandruszka, der Altmeister des linguistischen Übersetzungsvergleichs, seinem Buch von 1969 Sprachen - vergleichbar und unvergleichlich voranstellt. Dies sind auch die Ziele des vorliegenden Beitrags, vor allem das dritte Ziel: „wie sie es leistet“. Empirische Grundlage der Untersuchung sind der Roman Das Parfum von Patrick Süskind (1985) sowie dessen romanische Übersetzungen. Das im Titel zitierte Verb welk-riechen entstammt dem Roman. Dieses Verb gehört nicht - auch unabhängig von der Orthographie - zum registrierten Wortschatz des Deutschen, 1 aber derartige Konstrukte sind im Deutschen frei bildbar. Dieselbe Möglichkeit steht den romanischen Sprachen nicht zur Verfügung, wenn man den vorliegenden Übersetzungen dieses Satzes trauen darf: 2 (1) „Als er sie welkgerochen hatte, [...]“. (56) (1’) Port. (P): „Depois de a cheirar a ponto de a fazer perder a frescura, [...]”. (52) Span. (S): „Cuando la hubo olido hasta marchitarla por completo, [...]”. (56) Frz. (F): „Lorsqu’il l’eut sentie au point de la fâner, [...]”. (50) Ital. (I): „Quando l’ebbe annusata fino allo sfinimento, [...]”. (48) 1 Es figuriert auch nicht im Gesamtverzeichnis deutscher Verben der Gegenwartssprache von Mater (2007), das die Kompositions- und Wortbildung der deutschen Verben nahezu vollständig dokumentieren soll. Das Lemma riechen z.B. enthält folgende Bildungselemente: an-, be-, durch-, er-, herein-, hindurch-, hinein-, rein-, übel. Übel riechen möchte ich allerdings nicht zu den Komposita zählen; es gehört zur Rektion des Verbs, genau so wie nach Benzin riechen. 2 In Klammern hinter den Zitaten wird jeweils die Seitenzahl der betreffenden Ausgabe angegeben. Alle Hervorhebungen durch Kursivdruck gehen auf den Verfasser dieses Beitrags zurück. Kontexte, die für das Verständnis der Textstellen wichtig sind, die aber nicht analysiert werden, werden innerhalb der Zitate in runde, Auslassungen und Hinzufügungen des Verfassers in eckige Klammern gesetzt. Werner Forner 284 Alle vier Übersetzungen haben eines gemeinsam: Sie geben das deutsche Verb welk-riechen durch zwei Prädikate wieder, von denen das erste dem deutschen Verb-Bestandteil riechen entspricht, während das zweite den adjektivischen Bestandteil aufgreift, also die Metapher einer welk gewordenen bzw. welk gemachten Blüte (bis auf die italienische Übersetzung, die auf die Blumenmetapher verzichtet). Die Struktur der Übersetzungen weicht zwar von der Vorlage ab, aber die Bedeutung der Vorlage ist getreu wiedergegeben: Das deutsche Verb welk-riechen beinhaltet beide Prädikate; daher der Ausdruck Biprädikation im Titel dieses Beitrags. 3 Die vier romanischen Übersetzungen haben noch ein weiteres Charakteristikum gemeinsam: Das zweite Prädikat wird von allen als Resultat des Riechens (des ersten Prädikats) dargestellt, durch a ponto de + INF, hasta + INF, au point de + INF, fino a + deverbales N: Der Mörder hat seinem jugendlich-blühenden Opfer so lange/ so intensiv dessen Geruch entsogen, dass/ bis es davon verdörrte wie eine Pflanze, der man das Wasser entzieht. Auch diese resultative Relation zwischen den beiden Prädikaten steckt in dem deutschen Verb welk-riechen. Auch in diesem Punkt ist also die Originaltreue der Übersetzungen zu loben. In der germanistischen und anglistischen Fachliteratur laufen daher solche biprädikativen Konstrukte der germanischen Sprachen oft als Resultativkonstruktionen bzw. als Resultatives. Der Begriff resultativ bezeichnet eine Relation zwischen zwei prädikativen Einheiten. Er bedeutet folglich zweierlei: Das Prädikat II (hier: welk) ist das Resultat von Prädikat I; und umgekehrt: Prädikat I ist der Modus, es ist „schuld“ am Resultat, sei es als [Ursache], oder als [Art und Weise], oder als [Zeitraum]. Beispiel: Resultat wegen des Riechens, Resultat durch die Art des Riechens, Resultat durch die Dauer des Riechens. Natürlich kann diese doppelte Aussage - also Modus plus Resultat - auch im Deutschen durch zwei Prädikate ausgedrückt werden. In dem Fall differenziert die Sprache, besser: muss die Sprache zwischen diesen Modalitäten der Kausalität unterscheiden, etwa so: (1’’) Modalitäten der Relation zwischen Prädikat I und Prädikat II: - [Ursache]: Weil er gerochen hatte, ... - [Art]: Er hatte so sehr / so intensiv gerochen, dass ... - [Dauer]: Er hatte so lange gerochen, bis ... etc. 3 Den Terminus Biprädikation übernehme ich von Pouradier Duteil & François (1981) bzw. François (1986). Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 285 Der biprädikativen Konstruktion selbst ist nicht anzusehen, welche dieser drei (oder weiterer) Modalitäten der Verursachung zutrifft: Die Variante aus zwei Prädikaten (1’’) zeigt Opposition zwischen den drei Modalitäten, die biprädikative Konstruktion (1) hingegen ist die Neutralisation dieser Unterscheidungen. Für die Übersetzung bedeutet das: Der Übersetzer hat die Qual der Wahl: Er muss eine der (mindestens) drei möglichen Modalitäten wählen. Oft hilft dabei der Kontext. Noch ein letztes Wort zu den vier Übersetzungen: Keine hat die deutsche Struktur beibehalten! Wie kommt’s? Es scheint, dass es diese Struktur in den romanischen Sprachen nicht gibt. Die komplexe Struktur {Prädikation I plus Prädikation II plus resultative Relation zwischen den beiden Prädikationen} als semantische Basis eines einzigen Verbs - die scheint also den romanischen Sprachen zu fehlen. Dieser „Witterung“ - um bei der Riech-und-Jagd-Metaphorik des Romans zu bleiben - werden wir im Laufe des Beitrags nachspüren. Dazu müssen wir ermitteln, wie die Biprädikation funktioniert, d.h. welchen semanto-syntaktischen Regeln sie im Deutschen gehorcht. Wir werden uns fragen, was man im Deutschen mit dem Verb riechen und seinen Synonymen (z.B.: schnuppern, wittern, usw.) so alles „anstellen“ kann. Und welche romanischen Äquivalenzen dafür zur Verfügung stehen. Dazu sind der o.g. Roman von Patrick Süskind und seine Übersetzungen eine willkommene Fundgrube. 2 Verben mit Prädikatsadjektiv 2.1 Übersetzungs-Äquivalenzen Unser Ausgangsbeispiel, welk-riechen besteht an der Oberfläche offensichtlich aus einem Verb und einem prädikativen Adjektiv, und so heißt dieses Konstrukt auch manchmal in der germanistischen oder sprachvergleichenden Fachliteratur (cf. Hödl 2004; Feihl 2009). 4 Diesen Typ von Verbal- Kompositum finden wir in unserem Roman mindestens noch drei Mal: 4 Cf. auch den Forschungsüberblick bei Feihl (2009: 31-39). Hinzuzufügen sind zwei umfangreiche Sammlungen von französischen Übersetzungen der deutschen Biprädikation (nicht nur zum Prädikatsadjektiv): Truffaut ( 4 1971: 69-80) und vor allem Grünbeck (1976: 336-374). Grünbeck bietet - neben den Belegen der sprachlichen Divergenz - auch zahlreiche Beispiele für korrespondierende Übersetzungen. Werner Forner 286 (2) Verbale Komposita: -a „Wenn er sich am dicken Brei der Gassen sattgerochen hatte, [...]“. (45) -b „erst wenn die Nacht [...] das Land von Menschen reingefegt hatte, [...]“. (150) -c „und bis sich die Pomade sattgesogen hatte und [...]“. (228) (2’) -a P: „Após ter-se impregnado até à saturaç-o desta espessa camada das ruas, [...]“. (43) --S: „Cuando se cansaba del espeso caldo de las callejuelas, [...]“. (46) F: „Lorsqu’il s’était imprégné à satiété de cette épaisse bouillie des rues, [...]“. (40) I: „Quando aveva annusato a sazietà la grassa poltiglia dei vicoli, [...]“. (39) -b -P: „quando por fim a noite (e [...]) haviam varrido os homens da superfície da terra, [ ...]”. (131) -S: „cuando la noche [...] había ahuyentado a todos los seres humanos, [... ] “. (144) -F: „quand enfin la nuit (et [...]) avaient balayé jusqu’au dernier homme de la surface des terres, [...]“. (132) -I: „quando la notte [...] aveva ripulito il paese dagli uomini, [...]“. (123) -c -P: „até que a pomada ficasse saturada ou que [...]“. (197) -S: „cuando la pomada había absorbido toda la fragrancia y [...]“. (218) -F: „et d’ici que la pommade fut saturée ou que [...]“. (199) -I: „periodo in cui la pomata si era saturata del tutto [...]“. (185) Die Übersetzungen geben hier nicht immer den Wortlaut der beiden Basis-Prädikate wieder. Das ist meist angemessen, denn die „semantische Spannung“ (Feihl 2009 s.u.) zwischen den beiden Prädikaten ist bei den Beispielen in (2) zunehmend schwächer, soll heißen, das Resultat-Prädikat entspricht zunehmend mehr der vom Modus-Prädikat erzeugten Erwartung, oder umgekehrt, das Modus-Prädikat leistet keinen entscheidenden Beitrag zum Resultat: Im letzten Beispiel (2-c) ist satt als Ergebnis von saugen vielleicht nicht ganz unerwartet, aber umgekehrt ist der Modus (saugen) für das Resultat wenig erheblich. Ziemlich erwartet ist rein als Ergebnis von fegen in (2-b). Dass man - in (2-a) - von riechen satt werden kann, ist demgegenüber schon verhältnismäßig überraschend, aber sicher weniger als das Verwelken durch Riechen in Beispiel (1). Die „Spannung“ 5 nimmt also von (1) über (2-a) bis (2-b, c) deutlich ab. 5 Die linguistische Diskussion zur Wortbildung spricht traditionell statt von Spannung eher von Motivation: Bei einem zweigliedrigen Wortgebilde ist die Motivation umso größer, je mehr die Gesamtbedeutung aufgrund der Einzelbedeutung der beiden Be- Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 287 Für das Übersetzen gilt: Die Unterscheidung zwischen den beiden Basis-Prädikaten ist wichtig bei großer Spannung, sie kann bei geringer Spannung vernachlässigt werden. Das ist offenbar der Grundsatz beim Übersetzen der Biprädikate: Bei den beiden letzten Beispielen (2-b, c) ist die Doppelung entweder als bloße Verstärkung in die Übersetzung eingegangen („a todos“, „jusqu’au dernier [...]“ in -b S, F; „toda“, „del tutto“ in -c S, I), oder der Übersetzer begnügt sich mit dem Ergebnis allein („rein“, „satt“ in 2-b, c: -b P, I: „varrido“, „ripulito“; -c P, F: „saturada, saturée“). Beide Abweichungen habe ich in (2’) mit einem Minus vor der Sprachangabe gekennzeichnet. Diese Abweichungen sind keine Fehler: Der Aufwand, den eine Übersetzung beider Prädikate kosten würde, ist angesichts der schwachen informativen Spannung bei (2-b, c) unrentabel. Bei (2-a) hingegen haben die meisten Übersetzer den Aufwand nicht gescheut, nur der spanische Übersetzer hat sich seine Aufgabe etwas leicht gemacht. Die semantische Spannung als Kriterium der übersetzerischen Wiedergabe beider Prädikate wurde an einem großen Korpus - zu dem auch unser Roman gehört - untersucht in einer guten Dissertation von Stefan Feihl (2009: 208-228). Feihl operationalisiert den Begriff anhand der wechselseitigen Erschließbarkeit der beiden Prädikate und unterscheidet vier Grade: 1. Modus und Resultat (M, R) sind semantisch äquivalent und daher wechselseitig erschließbar, z.B. voll+füllen = F remplir (= Semem von beiden, von M und R). 2. M und R sind nicht wechselseitig erschließbar und R ist semantisch unterdeterminiert. Beispiel: voll+kotzen = F cracher (= Semem von M). 3. M und R sind nicht wechselseitig erschließbar und M ist semantisch unterdeterminiert. Beispiel: (Heft) voll+schreiben = F remplir (= Semem von R). standteile vorhersagbar ist. So unterscheidet Schröder (1973: 74-112) zehn „Motivationsstufen“ (die Skala 1-10 war in der Leipziger Schule vorgegeben), je nachdem ob jede der beiden Konstituenten erschließbar ist (Stufe 1-4, z.B. blank-bohnern), oder nur eine Konstituente (Stufen 5-8, z.B. leicht-fallen), oder keine (Stufe 9, grade-biegen). Nun ist - wie gezeigt - der Begriff Gesamtbedeutung bei der Verb-Adjektiv-Komposition wenig angebracht, denn es handelt sich ja um zwei Prädikate und einen Zusammenhang. Es ist daher richtiger, sich nach der Vorhersagbarkeit des Ergebnisses zu fragen: Das Ergebnis welk durch Riechen ist sicher weniger erwartet als das Ergebnis blank durch Bohnern. Und für diese Fragestellung ist der intuitive Begriff Spannung vielleicht doch angemessener. Werner Forner 288 4. M und R sind nicht wechselseitig erschließbar und beide sind semantisch determiniert. Beispiel: sich satt+hören an ... = F son oreille ne pouvait se lasser de ... S no se cansaba de escuchar ... (= Semem von M plus von R). Nur bei Kategorie 4 erwarten wir, dass beide Prädikate in der Übersetzung erscheinen müssen, während bei 1-3 nur ein Prädikat hinreichend erscheint, wie in den Beispielen belegt. Für den redundanten Fall 1 ist diese Vorhersage richtig (90 % des Korpus von Feihl), bei 2 und 3 trifft sie nur auf zwei Drittel der Fälle zu, und bei Fall 4 sind nur knapp 60% durch zwei Sememe ausgedrückt; der Rest beschränkt sich auf nur eins der zwei Prädikate, und zwar auf das Resultat doppelt so viele (22%) wie auf den Modus (11%). Die Übersetzungen der hier genannten Beispiele (1) und (2) passen in diese Kasuistik. 2.2 Methodische Abgrenzung Feihls (2009) Gegenstand sind diejenigen „Resultativkonstruktionen“, die durch die zusammengesetzte „Form Verb plus Prädikatsadjektiv“ (Überschrift von Feihls Kapitel 3.2) ausgedrückt sind. Dazu gehören einerseits die bereits skizzierten Komposita vom Typ welk-riechen, aber auch der Typ welk-werden bzw. welk-machen. Ich persönlich möchte diesen zweiten Typ nicht in die genannte „Form Verb plus Prädikatsadjektiv“ einordnen, sondern - zusammen mit dem Typ welk-sein - in die Kategorie „Kopula-Konstruktionen“. Denn qualifizierende Adjektive sind ihrer Funktion nach Verben, allerdings mit zwei morpho-syntaktischen Besonderheiten: 1. Wenn sie als Prädikate fungieren, sind sie immer mit einer Kopula verbunden; 2. Bei attributiver Funktion entfällt die Kopula, während „richtige“ Verben durch ein spezielles Suffix (Partizip-Endung) für die Attribution erst qualifiziert werden müssen. Wie alle Verben, kann auch die Kopula aspektuell differenziert werden, nämlich als [+inchoativ] oder als [+faktitiv]. Bei der Kopula geschieht diese Markierung durch lexikalischen Ersatz: Welk-werden bzw. welk-machen sind nichts anderes als die [+inchoative] bzw. [+faktitive] Variante von welk-sein - so wie z.B. legen die [+faktitive] Variante von liegen ist. Machen und werden sind, wenn sie Adjektive begleiten, nicht Vollverben, sondern die markierten Varianten der Kopula. Dementsprechend handelt es sich bei dem Typ welk-werden bzw. welk-machen nicht um Re- Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 289 sultativkonstruktionen, also um ein erstes Prädikat werden, das als Resultat das Welk-Sein erzeugt. Es handelt sich gar nicht um Biprädikation. 3 Biprädikation bei präfigierten Verben Die Allianzfähigkeit des deutschen Verbs ist enorm, gerade auch im Vergleich mit den romanischen Sprachen. Das gilt nicht nur für die Allianz mit einem prädikativen Adjektiv. Besonders häufig ist die Präfigierung des Verbs und zwar durch Adverbien (zweiteilig oder einteilig) 6 oder durch Partikel (einteilig). Auch diese derivativ gebildeten Verbtypen sind empfänglich für die Biprädikation. Hier einige olfaktorische Beispiele aus Süskinds Roman: (3) Verbderivate mit Partikeln: -a „(als die Menschen noch) […] meinten, Freund von Feind zu erriechen, [...]“. (20) -b „(Er […] roch zunächst nichts […], roch dann endlich doch etwas,) erschnupperte sich den Duft, [...]“. (51) -c „(Ihr Duft war […] kräftiger geworden […].) Was noch vor einem Jahr sich zart versprenkelt und vertröpfelt hatte, war nun gleichsam legiert zu einem leicht pastosen Duftfluss, [...]“. (241) (4) Verbderivate mit Adverbien (zweiteilig): -a „Das geruchlose Kind roch ihn schamlos ab, […]! [...] Es witterte ihn aus! “ (23) -b „Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits Augustins hinüber, [...]“. (57) -c „Er machte die Schnüffelprobe [...], riss die Luft ein und ließ sie etappenweise wieder ausströmen“. (174) [Parallele: „mechanisch riss er bei jedem Vorüberflug eine Portion durchtränkter Luft in sich hinein, […]“. (83)] Diese Beispiele entsprechen durchaus der oben gegebenen Definition von Biprädikation, nämlich: Prädikat 1 = [Art und Weise] (Modus, wie es zum Resultat kommt); Prädikat 2 = Resultat aus Prädikat 1. Die Biprädikation 6 Zweiteilige Verben sind trennbar durch nominale Konstituenten oder durch die infigierten Morphe -gebzw. -zu-; einteilige Verben haben diese Eigenschaft nicht. Die Infinitive beider Verbtypen sind zwar beide einteilig, unterscheiden sich aber durch die Betonung. Beispiele: ’übergehen/ über’gehen, ’durchlaufen/ durch’laufen: ich gehe zu X über/ ich über’gehe X; soeben ist er hier ’durchgelaufen/ er hat X schnell durch’laufen; er hat versucht, hier ’durchzulaufen/ ..., X zu durch’laufen; Beispiele und Erläuterungen cf. Weinrich (2003: 1032ss.). Werner Forner 290 ist also nicht an verbale Komposita (cf. 2.) gebunden. 7 Das soll das folgende Schema nachweisen: (5) Biprädikation bei den präfigierten Verben in Beispiel (3) und (4): Die meisten Übersetzer haben versucht, diese Doppelheit in ihren Texten auszudrücken: (3’) -a P: „(Os homens ainda [...]) imaginavam diferençar o inimigo do amigo através do odor, [...]“. (21) S: „([...] se creían capaces [...]) de distinguir por el odor entre amigos y enemigos, [...]“. (22) F: „qu’ils s’imaginaient distinguer à l’odeur l’ennemi de l’ami, [...]“. (18) I: „(quando gli uomini [...]) pensavano di distinguere al fiuto l’amico dal nemico, [...]“. (20) -b P: „voltava a apreender o perfume à força de tanto cheirar, [...]“. (49) S: „([...] pero por fin) logró captar y oliscar la fragancia, [...]“. (51) F: „(puis finissait par sentir [...] qc.), il ressaisissait le parfum à force de renifler, [...]“. (45) -I: „(poi percepiva finalmente qualcosa), fiutava l’odore, [...]“. (44) 7 Diese strukturelle Ähnlichkeit zwischen Adjektiv-Verb-Komposita und präfigierten Verben (mit [+resultativem] Präfix) ist bekannt. Eine gute Zusammenfassung des Forschungsstandes bietet Chang (2008: 127-136 für die Entsprechungen, 137-139 für die wenigen Divergenzen). V Präd. 1: Modus Präd. 2: Resultat (3) -a erriechen durch Riechen unterscheiden (X von Y) -b erschnuppern durch Schnuppern entdecken, identifizieren -c sich versprenkeln/ sich vertröpfeln nur gesprenkelt/ nur tropfenweise sich verströmen (4) -a áb-riechen durch Riechen prüfen (wie Arzt: abtasten) áus-wittern durch Riechen prüfen (wie Hund) -b sich hinüber-riechen durch Riechen sich orientieren (auf/ zu) -c éin-reißen durch „Reißen“ ein-atmen áus-strömen wie einen Fluss aus-atmen Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 291 -c P: „O que no ano anterior era ainda ténue e em pequenos gr-os, ligara-se agora para constituir um fluxo cremoso de perfume, [...]“. (209) S: „El perfume que hacía solo un año se derramaba en sutiles gotas y salpicaduras era ahora un fragrante río [...]“. (230) F: „Ce qui l’an passé encore était délicatement épars et égrené s’était à présent comme lié pour former un flux crémeux de parfum, [...]“. (210) I: „Ciò che ancora un anno prima si era diffuso con delicatezza a spruzzi e a gocce, adesso si era quasi composto in un fiume d’aroma lievemente pastoso, [...]“. (195) (4’) -a P: „Esta criança sem odor passava impudentemente em revista os odores dele. [...] Farejava-o dos pés à cabeça! “ (21) -S: „El niño inodoro le olía con el mayor descaro [...]! Le husmeaba! “ (25) F: „Cet enfant sans odeur passait impudément en revue ses odeurs à lui [...]. Il le flairait du pied à la tête! “ (18) -I: „Quel bambino senza odore lo stava annusando spudoratamente [...]! Lo fiutava! “ (22) -b P: „Grenouille guiou-se pelo odor, a coberto da noite, até a ruela e depois até à Rua des P-A, [...]“. (52s.) S: „Grenouille se orientó olfativamente por la callejuela hasta la Rue P.A., [...]“. (57) F: „Grenouille, dans le noir, s’orienta à l’odeur jusqu’à la ruelle, puis jusqu’à la rue P-A, [...]“. (50) I: „Grenouille si lasciò guidare dal naso fin sul vicolo e attraversò Rue PA [...]“. (48) -c P: „Procedeu à experiência olfactiva [...], aspirando uma grande lufada de ar e expirando-a depois em fragmentos“. (152) S: „Realizó la prueba olfatoria [...]: spiró con fuerza y luego expelió el aire por etapas“. (166) F: „Il procéda à l’essai olfactif [...], aspirant une grande bouffée et l’expirant ensuite par saccades“. (18) I: „Provò ad annusare [...], inspirò l’aria in un colpo e la lasciò uscire a tappe“. (142) [Parallele: P: absorvía com gula (74) F: absorbait goulûment (73)] Die zwei Prädikate, die ich in der Analyse (cf. Schema 5) definiert habe, sind in allen Übersetzungen (außer den mit „-“ (‘minus‘) gekennzeichneten) ausgedrückt. Dabei wird fast immer das Resultat-Prädikat zum Verb, das Modus-Prädikat zu einer modalen adverbialen Bestimmung. Erheblich seltener ist die Übersetzung durch zwei gleichgeordnete Verben: Das ist hier die Lösung des spanischen Übersetzers: erschnuppern = captar y oliscar (d.h. Resultat UND Modus, cf. Bsp. 3’-b). Manche Übersetzer berücksichti- Werner Forner 292 gen nicht die Metaphorik, die in unserem Roman die Geruchswelt immer wieder mit einem Fluss, einem „Strom“ vergleicht, so auch in (3-c): Der Duft, der zunächst nur in Form von Tröpfchen oder Spritzern erschienen war, ist mittlerweile zum Fluss geworden. Diese Metaphora continuata ist in der französischen und portugiesischen Übersetzung (die auch hier wie oft korrelieren) zerstört. 8 Die spanische und italienische Übersetzung von (3-c) hingegen sind perfekt. Auch ausströmen in (4-c) kann im Deutschen mit der Strom-Metaphorik in Verbindung gebracht werden, in den Übersetzungen ist das etwas schwieriger. Neben diesen Beispielen von Übersetzungen, die die Biprädikation explizit machen - und die übrigens erheblich erweitert werden könnten -, gibt es zahlreiche Beispiele, in denen die Übersetzer auf die biprädikative Übersetzung verzichten. Das liegt zum Teil auch bei den präfigierten Verben - wie zuvor bei den Verbalkomposita - an der „semantischen Spannung“ (cf. 2.1.) zwischen den beiden Prädikaten. Diese Spannung reduziert sich in den Fällen auf Null, in denen eine der beiden Komponenten - das Resultat oder der Modus - nicht nur Teil der Semantik des präfigierten Verbs ist, sondern zusätzlich auch noch explizit im restlichen Text genannt ist. 9 Beispiel für redundanten Modus: erschnuppern (3-b) hatten wir analysiert (cf. Schema 5) als ‘entdecken (Resultat) durch Schnuppern/ Riechen (Modus)‘. Dieselbe Analyse gilt auch für erwittern im folgenden Beispiel (6-a) mit dem Unterschied, dass dort der Text das Mittel zusätzlich noch einmal nennt: „mit seiner immer schärfer [...] riechenden Nase“. Eine biprädikative Übersetzung ergäbe hier eine Doppelung des Modus: „er erwitterte mit seiner [...] Nase“  ‘er entdeckte+durch Riechen+mit seiner Nase‘. Dass man solche langweiligen Redundanzen in der Übersetzung besser übergeht, versteht sich von selbst. (6) Redundantes Modus-Prädikat (z.B.: Partikelverben): „(Dass er dies alles freilich nicht sah […], sondern) mit seiner immer schärfer [...] riechenden Nase erwitterte: die Raupe im Kohl, das Geld hinterm Balken, [...]“. (36) Analyse: „er erwitterte mit seiner [...] Nase“  ‘er entdeckte R +durch Riechen M1 +mit seiner Nase M2 -‘ M1 = M2, daher: M1 streichen. 8 Nicht ohne Grund; denn die Fluss-Metapher ist ja im Nachsatz ohnehin präsent, cf. Bsp. (6). 9 Die Spannungs-Kasuistik von Feihl (2009, cf. Ende 2.1. dieses Beitrags) muss um den Kontext erweitert werden. Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 293 Übersetzungen: P: „[...] o pressentir graças a um olfacto cada vez mais subtil [...]“. (35) S: „(sino que) lo husmeaba con una nariz que cada vez olía con más intensidad [...]“. (38) F: „(mais qu’) il le subodorait grâce à un flair de plus en plus subtile [...]“. (33) I: „[...] ma le fiutasse con il suo naso sempre più raffinato [...]“. (20) 4 Biprädikatives Verständnis bei einfachen Verben Ist das biprädikative Verständnis an die bislang beobachteten morphologischen Veränderungen des Verbs (Komposition, Präfigierung) gebunden? Machen wir doch einmal die Gegenprobe: Wir gehen dann von der Situation aus - also von der Verbindung Resultat plus Modus - und suchen (onomasiologisch) nach der sprachlichen Realisierung dieser Verbindung. Diese Verbindung ist z.B. im folgenden Textausschnitt angesprochen: (7) -a Situation: Resultat plus Modus „Aber während er [Grenouille] scheinbar stumpfsinnig rührte, spachtelte, [...], entging seiner Aufmerksamkeit nichts von den wesentlichen Dingen des Geschäfts, nichts von der Metamorphose der Düfte. Genauer als Druot es jemals vermocht hätte, mit seiner Nase nämlich, verfolgte und überwachte Grenouille die Wanderung der Düfte von den Blättern der Blüten über das Fett und den Alkohol bis in die köstlichen kleinen Flacons“. (226) Die beiden interessierenden Bestandteile dieser Situation habe ich kursiv hervorgehoben: Modus = „mit seiner Nase“ Resultat = „(er) verfolgte und überwachte […] die Wanderung“ Die unmittelbare Fortsetzung des Textes ist (7-b): (7) -b Versprachlichung der Situation (7-a): „Er roch, lange ehe Druot es bemerkte, wann sich das Fett zu stark erhitzte, er roch, wann die Blüte erschöpft, wann die Suppe mit Duft gesättigt war, er roch, was im Innern der Mischgefäße geschah und zu welchem präzisen Moment der Destillationsprozess beendet werden musste“. (226) Grenouille „bemerkt“ (7-b) bzw. „überwacht“ (7-a) einen Vorgang nicht - wie jeder andere, z.B. der Parfümerie-Geselle Druot - durch Hin-Sehen, sondern er überwacht ihn durch Hin-Riechen, Hinein-Riechen, durch Ab- Werner Forner 294 Riechen, Aus-Riechen, etc., kurz: durch Riechen. Dieser Modus ist in (7-b) offenbar durch das Simplex ausgedrückt. Dasselbe Verb bezeichnet zugleich den Vorgang des Überwachens. Wir haben also hier durchaus eine Biprädikation; und diese ist im deutschen Text durch ein Simplex ausgedrückt. Wie lauten die Übersetzungen dieses biprädikativen Simplex? Die Belege in (7’-b) weisen nach, dass die wörtliche Übersetzung in diesem Fall den Sinnzusammenhang vollständig widergibt. (7’) -b P: „Cheirava [...] quando a gordura aquecia de mais, cheirava quando as flores estavam gastas, quando a papa estava saturada de perfume, cheirava o que se pasava nas garrafas e o momento exacto em que se empunha terminar a destilaç-o“. (196) S: „Olía [...] cuándo la grasa se calentaba demasiado, olía cuándo los capullos ya estaban marchitos, cuándo la sopa estaba saturada de fragancia; olía lo que pasaba en el interior de los matraces y el momento preciso en que debía ponerse fin al proceso de destilación“. (217) F: „[...] il sentait quand la graisse chauffait trop, il sentait quand les fleurs étaient épuisées, quand la soupe était saturée de parfum, il sentait ce qui se passait à l’intérieur des bouteilles à mélanger, et à quel moment précis il fallait mettre fin à la distillation“. (197) I: „[...] sentiva al fiuto quando il grasso si riscaldava troppo, sentiva quando i fiori erano esauriti, quando la poltiglia era satura di profumo, sentiva quello che succedeva dentro il recipiente di miscelatura e in quale preciso momento si doveva porre fine al processo di distillazione“. (184 s.) Die Probleme der Übersetzung, die wir bei den vorausgehenden biprädiativen Passagen beobachten konnten, stellen sich hier nicht. Wie kommt’s? Liegt das an der Morphologie des Verbs (Simplex, statt bislang komposites bzw. präfigiertes Verb)? Oder liegt das an der Syntax? Die Gegenstände des Bemerkens/ Überwachens sind ja hier in Satzform ausgedrückt (er roch, wann + Satz), nicht als nominale Konstituente (er roch + Nomen). Wäre der Gegenstand des Überwachens nominal ausgedrückt (z.B. Sättigung statt „gesättigt war“), würden wir (vielleicht) das Partikelverb erriechen vorziehen (er erroch die Sättigung …), um den Beginn des erreichten Zustandes (der Sättigung) zu signalisieren. Die Möglichkeiten der Übersetzung dieser deutschen Konstruktion (V + N) kennen wir schon aus den Texten (3-a, b). Es scheint eine Äquivalenz der beiden Ausdruckstypen zu geben in Abhängigkeit von der syntaktischen Konstruktion (cf. „Gleichung“ in 7’’-b): Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 295 (7’’) -b ? Er erroch [N =] die Erschöpfung der Blüten, er erwitterte die Sättigung [...] (fiktiv) Portugiesische Übersetzungen (cf. 3’-b): P: apreendia [N] à força de cheirar Gleichung: Cheirava + quando + [Satz] (7’-b) = apreendia [N] à força de cheirar (3’-b) Es scheint also zwei Arten von Biprädikation zu geben: Die eine ist offenbar auf das deutsche System eingeschränkt, die zweite nicht. Die Unterscheidung zwischen den beiden Typen scheint mit syntaktischen Parametern zu korrelieren. Das bestätigen auch Verben mit direktionalen Zusätzen (cf. 5.). 5 Bewegungsrichtung als Zweitprädikat Die vorangehenden Kapitel haben nachgewiesen, dass die Biprädikation nicht an morphologische Modifikationen des Verbs (Kompositum; Derivat) gebunden ist. Auch die resultative Relation zwischen den beiden Prädikaten scheint nicht zwangsläufig zur Definition der Biprädikation zu gehören; denn auch andere adverbiale Relationen können die beiden Prädikate verknüpfen, besonders häufig ist die Bewegungsrichtung. Die Biprädikation sollte folglich mit den sog. Resultativkonstruktionen nicht einfach gleich gesetzt werden. Ein häufiger Typ von implizitem Zweitprädikat sind Richtungsangaben, bei Verben, die nicht von Natur aus (also nicht aufgrund ihrer Valenz) eine Richtung ausdrücken. Die Richtung kann im Deutschen problemlos solchen Verben hinzugefügt werden, sogar unterschiedliche Richtungsangaben können ein und dasselbe Verb begleiten. In den romanischen Sprachen geht das nicht. Diese benötigen dazu ein Richtungsverb, für unterschiedliche Richtungen sind unterschiedliche Richtungsverben nötig. Hier zunächst ein (klinisches) Musterbeispiel mit dem monovalenten deutschen Verb wehen: 10 (8) Ein starker Wind wehte ihr den Hut vom Kopf [1] über die Straße [2] in den Fluss [3]. (8’) F: Un vent fort soufflait. Il lui ôta le chapeau [1], le fit traverser la rue [2] pour le déposer dans le fleuve [3]. 10 Beispiel frei nach François (1986: 354), franz. Übersetzung von W.F. Werner Forner 296 Bei (8) handelt es sich um drei Richtungen; die französische Übersetzung benötigt dafür drei Richtungsverben. Die Übertragung verhält sich folglich so, als ob die Richtungsangaben ein weiteres Prädikat wären. Der Übersetzer muss sich natürlich fragen, ob derartige Verbalisierungen den gegebenen Zusammenhang nicht unnötig belasten. Für die Verbindung Verb + Richtung gibt der folgende Text aus unserem Roman gleich drei quasi-synonyme Beispiele (greifen+von, pflücken+ herunter, schleppen+heran): (9) -a „[...], schlüpfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt, wo [...], und) griff sich, (der sicheren Witterung seiner Nase folgend,) die benötigten Fläschchen von den Borden“. (102) -b „(Neun waren es an der Zahl: Orangenblütenessenz, Limettenöl, Nelken- und Rosenöl, [...], die) er sich rasch herunterpflückte (und am Rand des Tisches zurechtstellte)“. (102) -c „Als letztes schleppte er einen Ballon (mit hochprozentigem Weingeist) heran“. (102) Analyse: (a) „griff N“ + „von N“: M = ‘durch Greifen‘ + R = Bewegungsrichtung (b) „pflückte N“ + „herunter“ M = ‘durch Pflücken (wie Blume) ‘ + R = Bewegungsrichtung (c) „schleppte N“ + „heran“ M = ‘durch Schleppen‘ + R = Bewegungsrichtung (9’) -a -P: „(Grenouille [...]), delas seleccionando os frascos de que precisava [...]”. (89) -S: „(Grenouille [...]), y eligió, [...] los frascos que necesitaba”. (98) -F: „(Grenouille [...]), et [...], y choisissait les flacons qui lui étaient nécessaires”. (89) I: „(Grenouille [...]) e [...], aveva afferrato dalle mensole le bottigliette occorrenti”. (83) (9’) -b -P: „[...] Apressou-se a retirá-los das prateleiras e [...]“. (89) -S: „[...], que fue cogiendo y [...]“. (98) -F: „[...] qu’il eut vite fait de cueillir sur les rayons et [...]“. (89s.) -I: „[...], che tolse rapidamente dallo scaffale e [...]“. (83) (9’) -c P: „A terminar, arrastou até aos pés da mesa um garaf-o (com [...])“. (89) -S: „Por último, arrastró una bombona (que [...])“. (98s.) F: „Enfin, il charria jusqu’au pied de la table une bombonne (d’[...])“. (89s.) -I: „Da ultimo tirò giù un pallone [...]“. (83) Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 297 Die Übersetzungsstrategien (in 9’) bestehen meist darin, dass sie entweder auf M oder auf R verzichten; d.h. es fehlt entweder die Bewegungsrichtung, oder das Verb wird durch ein Richtungsverb ersetzt. 11 Im Einzelnen: - Die Struktur in (9-a) - also [Verb + Objekt + Herkunft] - ist nur in der italienischen Übersetzung getreu wiedergegeben; das Italienische geht mit Richtungsangaben insgesamt etwas großzügiger um als die übrigen romanischen Sprachen, insbes. mit Richtungsadverbien (su, giù, fuori, etc., wie (9-c) belegt. 12 Die drei übrigen Übersetzer haben das Problem diplomatisch umgangen: Sie haben die Herkunftsangabe unterschlagen. Das ist gut so, denn dazu hätte der Text durch ein zusätzliches Verb aufgebläht werden müssen, etwa durch descendre (  Grenouille choisissait les flacons et les descendait). Diese Erweiterung ist hier unnötig, denn die Bewegungsrichtung ist aufgrund des Kontextes auch so eindeutig. - (9-b) verbindet ein metaphorisch verwendetes Verb mit einer Richtungsangabe. Das Verb setzt als Objekt Blumen oder Obst voraus, tatsächlich sind Essenzen das Objekt. Die Metapher ist motiviert, denn die Essenzen sind überwiegend destillierte Blüten bzw. Früchte. Dieses „Blüten-Schicksal“ wird im Verb pflücken metaphorisch fortgesetzt. Die Pflück-Metapher wird in der spanischen und französischen Übersetzung (in etwa) beibehalten, aber auf Kosten der Bewegungsrichtung. Diese fehlt im spanischen Text, im französischen ist sie in eine Ortsangabe umgewandelt worden (mit Vorbildern wie: den Kaffee in einer Tasse - nicht aus einer Tasse - trinken). Die anderen beiden Übersetzungen folgen der umgekehrten Strategie: Sie verzichten auf die 11 Es gibt auch - aber nicht im Parfum-Korpus - geschicktere Lösungen, etwa die Integration des Modus-Verbs in nominaler Gestalt in die Subjekt-NP. Als Beispiel zitiere ich - aus der französisch-spanischen Kontrastivik von Hajdú (1969: 21) - folgende Übersetzung einer Passage aus Max Frischs Stiller: „‘[...] Heu duftete herauf, Harz herüber vom nahen Wald [...]‘: La senteur du foin montait jusqu'au balcon, mêlée à l'odeur de résine de la forêt./ El olor del heno subía hasta la galería, y a él se mezclaba el de la resina del cercano bosque“. Beide Übersetzungen belegen übrigens: keine Richtung ohne Richtungsverb. 12 „In der Verwendung von Richtungszusätzen ist das Italienische den germanischen Sprachen am ähnlichsten“, schreibt Wandruszka (1969: 474ss.); er gibt zahlreiche Beispiele. Schwarze (1985) postuliert im Italienischen drei Typen von Bewegungsverben, von denen einer dem germanischen Typ entspricht. Das Thema Bewegungsverben - speziell im Italienischen im Kontrast zu den übrigen romanischen Sprachen - wurde gerade in den letzten Jahrzehnten wieder eifrig diskutiert, dazu cf. 6.2.3. Werner Forner 298 Ausdruckskraft des ausgangssprachlichen Verbs und ersetzen es durch ein Richtungsverb, das die Richtungsangabe „verdauen“ kann. - (9-c) schließlich enthält schon im Ausgangstext ein Richtungsverb, die Richtungsangabe heran macht keine grundsätzlichen Probleme, außer dass es in den Zielsprachen kein gleichbedeutendes Pronominaladverb gibt, so dass die Richtung durch ein zusätzliches Nomen präzisiert werden muss. Genau dies geschieht in der französischen und portugiesischen Übersetzung. Die spanische Übersetzerin verzichtet auf die Ortsangabe. Die italienische Übersetzerin erfindet eine neue Richtung (herunter statt heran) und ein dazu passendes Richtungsverb. Die Verbindung von Richtungsangaben mit Nicht-Richtungs-Verben ist im Deutschen außerordentlich frequent. 13 Selbst bei Adjektiv-Verb-Komposita: Speziell dort sind sie - in einem klassifizierten Katalog von 248 Items - nach der resultativen Relation die zweithäufigste Relation (Schröder 1973: 72, Katalog pp. 58-71). In der ausführlichen Beispielsammlung zu den Verbalkomposita von Wandruszka (1969: 459ss., Kap. 28) füllen die Verben mit Richtungszusatz drei Viertel des Raumes. Es sei angemerkt, dass die beiden Funktionen Resultat und Richtung sich durchaus nicht ausschließen. Ein Beispiel dafür haben wir unter (4-b) kennengelernt: Dort orientiert sich (R) Grenouille anhand des Geruchs (M) in Richtung [1] und dann in Richtung [2]: (4-b) (Wdh.) „Grenouille roch sich [...] auf die Gasse [1] und zur Rue des P-A. hinüber [2]“. Keine der vier Übersetzungen dieses Satzes (4’b) differenziert die beiden Richtungen (Richtung [1] vs. [2]): P und F haben die zwei Richtungen gleichgeschaltet: ‘bis zu [1] und bis zu [2]‘; S hat Richtung [1] modifiziert: ‘über [1] bis zu [2]‘; I setzt zwar korrekt ein zweites Verb (‘überqueren‘) für die zweite Richtung an, hat diese aber missverstanden. 13 Zahlreiche Beispiele aus deutschen literarischen Texten sind bei Pavlov (2009: 185ss.) dokumentiert. Besonders häufig seien hier Verben der Geräuschentwicklung (Maienborn 1994: 240; Kaufmann 1995: 207s.); denn das Geräusch sei ein „beliebter Anknüpfungspunkt“, so Maienborn (1994: 240): Sie glaubt nämlich, als Bedingung für unser Konstrukt müsse das „Prädikat [...] auf eine essentielle Eigenschaft der Fortbewegung Bezug nehmen“ (ibid.). Der weiter unten wiederholte Satz (4-b) belegt das Gegenteil. Einige Beispiele für biprädikative Geräuschverben mit französischer Übersetzung finden sich in Dupuy-Engelhardt (1997: 344-347). Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 299 6 Explikationsmodelle Ziel des vorliegenden Beitrags sollte - wie eingangs betont - eine doppelte „Erkenntnis“ sein, einerseits die Erkenntnis, „was [die Sprache] für den Menschen leistet“, andererseits die Erkenntnis, „wie sie es leistet“. Das Was habe ich in den vorausgehenden Paragraphen aufgezählt: Wir können im Deutschen (und in anderen germanischen und weiteren Sprachen) zwei zusammenhängende Prädikate zu einem einzigen Oberflächenprädikat kontrahieren. Die romanischen Sprachen können das nicht. Wie geschieht diese Kontraktion im Deutschen? Lässt sich das Wie in eine formale Regel fassen? Eine Regel, die das deutsche Sprachsystem besitzt, die aber dem Romanischen fehlt? Eine formale Regel werden wir finden: Es gibt nichts Regelhaftes, für das nicht ein Formalismus postuliert werden könnte. Das Problem ist eher die Auswahl zwischen den möglichen Regeltypen. Es ist zugleich eine Frage des methodischen Standorts: Handelt es sich um ein lexikalisches Phänomen, also um den Lexikoneintrag des jeweiligen Verbs mit seinem syntaktischen Umfeld (mit der jeweils verbspezifischen Rektion)? Oder handelt es sich umgekehrt um eine Form der Vertextung, also um Text- Syntax, die auch das Umfeld der lexikalischen Einheiten determiniert? Versuchen wir doch zunächst (cf. 6.1.), die bereits beobachteten Fakten zu systematisieren! 6.1 Analytischer Vergleich der Prädikate Nehmen wir erneut das Verb riechen. Dieses Simplex ist - als transitives Verb - zweiwertig: Der [Täter] riecht einen [Gegenstand] (inkl. eine Person). Der [Gegenstand] des Riechens ist eine fakultative Valenz. In den zitierten Beispielen hingegen - also in biprädikativer Position - hat riechen ganz andere Valenzen: (10) Valenzen in biprädikativer Position (1) Er roch sie welk. (3-a) (Sie konnten) Freund von Feind er-riechen. (4-b) Er roch sich auf die Gasse und zur Rue PA hinüber. In biprädikativer Position ist die Valenz deutlich erweitert. Etwa im letzten Beispiel (4-b) ist sie erweitert um das Reflexivpronomen und um zwei unterschiedliche Richtungen. Im vorausgehenden Beispiel (3-a) ist (mindestens) ein separativer Valenzträger hinzugekommen. Beispiel (1) ent- Werner Forner 300 hält zusätzlich ein Prädikatsadjektiv. Das sind sehr unterschiedliche Valenz-Erweiterungen. Woher kommen sie? Ein Vergleich mit dem Zweitprädikat macht den Ursprung deutlich: Die jeweils zusätzliche Valenz ist offenbar die Valenz des Resultat-Prädikats. Diese wird in das Modus-Prädikat „hinüber-kopiert“. Diesen „Kopier-Vorgang“ versucht das folgende Schema zu illustrieren: (11) Valenz-Übertragung I: N 1 V 1 N 2 V 2 Relation (1) Präd. I Er roch (sie) so ..., dass Präd. II Sie wurde welk Bipräd. Er roch sie -welk -- (4-b) Präd. I Er roch so ..., dass Präd. II Er ging auf die Gasse Bipräd. Er roch sich -auf die Gasse -- Bei dem zweiten Beispiel dieses Schemas, also bei (4-b), ist er in Spalte N 2 identisch mit er in Spalte N 1 und wird daher als Reflexivpronomen realisiert. Es handelt sich um eine simple Addition der Valenzen. Das Additions-Schema (11) suggeriert, dass die Spalte N 2 , die ja beide Basis-Prädikate gemeinsam haben, gewissermaßen als „Scharnier“ die Biprädikation erst ermöglicht. Dem ist nicht so. Das ist an der Auflösung des „klinischen“ Beispiels (8) ablesbar: (12) Valenz-Übertragung II: N 1 V 1 N 2 V 2 Relation (8) Präd. I Der Wind wehte -- so ..., dass Präd. II Der Hut flog vom Kopf Bipräd. Der Wind wehte den Hut -vom Kopf -- Das Verb (von Präd. I, in Schema 12), wehen, ist einwertig, es verträgt also kein N 2 . Die biprädikative Valenz-Übertragung erfolgt demnach hier ohne den „Mittelbegriff“ N 2 . Der Vergleich der beiden Schemata (11) und (12) zeigt, dass die Biprädikation in dieser Hinsicht ambig ist: N 2 kann - ja und nein - Objekt (oder Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 301 Subjekt) von Prädikat I sein. Mit dieser Ambivalenz kann man spielen. Das sieht man an so witzigen Buchtiteln wie z.B. an diesem „Ratgeber“: (13) „So kochen Sie Ihren Mann schlank! “ Sutkamp/ Mason (1994). 14 Der Buchtitel (13) hat zwei Lesarten: Mal ist der Mann [Opfer] des Kochens, mal nicht. Die beiden alternativen Additions-Schemata (11, 12) erklären diese Ambivalenz. Das spricht für den hier vertretenen Erklärungsansatz. Das Schmunzeln über Satz (13) zeigt, dass die derivationelle Vorgeschichte - also die „Kopie“ - nicht ein bloß theoretisches Konstrukt ist, sondern sie ist an der biprädikativen Oberfläche präsent und determiniert das Verständnis. Wie erklärt sich diese Präsenz im Sprachbewusstsein der Gesprächspartner? Wieso kann ein abstrakter Prozess die kommunikative Tätigkeit beeinflussen? Der Grund ist einfach: Der abstrakte Vorgang - das „Kopieren“ - hat Spuren hinterlassen: (a) Teile des „kopierten“ Prädikats sind nicht getilgt (Prädikatsadjektive, Adverbien), Partikelverben können - müssen aber nicht - ein Hinweis sein eine morphologische „Kopie“ (14-a). Ich komme darauf zurück. (b) Vor allem aber und mindestens zeugt die veränderte Valenz von dem „Kopiervorgang“ - das ist eine syntaktische „Kopie“ (14-b). (c) Hinzu kommt drittens eine semantische „Kopie“ (14-c). Nehmen wir die beiden Beispiele in (11): welk-riechen, sich hinüber-riechen. Das Semem des Simplex riechen impliziert weder [Veränderung] noch [Bewegung], im Gegensatz zu den jeweiligen Zweitprädikaten, also: welk werden bzw. gehen. In der biprädikativen Verwendung hat unser Verb diese fremden Seme zusätzlich inkorporiert: riechen ist so gewissermaßen zum Bewegungsverb mutiert. (14) „Kopierspuren“ (a) Morphologische Spuren (fakultativ): Teile des Resultats können erhalten sein: Prädikatsadjektiv, oder Präfix (Adverb oder Partikel); 15 (b) Syntaktische Spuren: Die Valenz des Resultats ist im Modus-Prädikat erhalten; 14 Das bon-mot wird in ähnlicher Weise wiederholt - zitiert von Feihl (2009: 13) - von Schierz/ Valentin (2004): So koche ich meinen Mann schlank. 15 Hinzu kommt - außerhalb des hier beobachteten Korpus: Das Auxiliar zur Perfektbildung des Resultat-Prädikats wird übernommen; z.B.: Früh am Morgen ist ein Motorrad über den Marktplatz geknattert - falsch: *hat ... geknattert. Aber: Früh am Morgen hat ein Motorrad geknattert - falsch: *ist ... geknattert (Beispiel von Maienborn (1996: 156). Werner Forner 302 (c) Semantische Spuren: Grundlegende Seme des Resultat-Prädikats (z.B. [Veränderung], [Bewegung]) sind ins Modus-Prädikat „transplantiert“. Wenn es zutrifft, dass unser biprädikatives Verständnis durch die „Kopierspuren“ gesteuert ist, dann erwarten wir, dass bei nicht-veränderter Valenz das Bewusstsein eines zweiten Prädikats nicht vorhanden ist. Diese Vorhersage ist korrekt. Als Nachweis fungiert Beispiel (7-b). In puncto Kontrastivik liegt die Vermutung nahe, dass es genau dieser „Kopier-Mechanismus“ ist, der den romanischen Sprachen abgeht. Diese Hypothese impliziert, dass eine Basis mit Modus-Prädikat plus Resultat- Prädikat, die den „Kopier-Mechanismus“ nicht durchlaufen hat, dem Übersetzer keine Probleme bereiten dürfte. Diese Folgerung trifft zu. Beweis ist erneut Beispiel (7-b). Noch ein paar Anmerkungen zu den morphologischen „Kopierspuren“: I. Dass das Prädikats-Adjektiv welk aus dem Resultats-Prädikat welk werden „hinüber kopiert“ ist, liegt auf der Hand. II. Bei den adverbialen Präfixen ist es deutlich, dass der Ursprung auch dort das Resultats-Prädikat ist: hinüber-riechen = ‘durch Riechen (M) hinüber-gehen (R)‘. Würde der Beispielsatz (4-b) auch noch den Ausgangspunkt der riechenden Orientierung angeben, nämlich aus dem Hof hinaus, dann würde das ganz entsprechend als sich hinausriechen auftauchen (z.B.: Er roch sich aus dem Hof hinaus zur Rue SA hinüber). III. Problematischer sind die Partikelverben; denn deren Partikel-Bestandteil ist extrem polysem, 16 jedenfalls im lexikalisierten Wortschatz. Unser Korpus enthält viele nicht-etablierte Bildungen, das 16 Für die Partikelverben mit Präfix ausbietet Hundsnurscher ( 2 1997 [ 1 1968]) eine Typologie von 88 Bedeutungstypen, die er 15 semantischen Kategorien zuordnet! Die jeweilige semantische Interpretation der Partikel ist weitgehend lexikalisiert. Z.B. bei er-: erkann bedeuten: ‘Verlust des Lebens‘; das ist bei Verben des Verletzens die normale Interpretation (wie: jem. erschießen, erwürgen, erstechen, erschlagen, erdrosseln, ersäufen, ...). Häufig signalisiert erso etwas wie einen Schöpfungsgedanken; das ist häufig der Fall bei Verben vom Typ ‘beschaffen‘ (z.B.: etw. erringen, erwirken, erkämpfen, erwirtschaften, erbetteln, Beispiele z.T. aus François 1986: 357); die Partikel hat sogar die Potenz, ganz andere Verben in diesen semantischen Typ umzuschalten (sich etwas ersaufen, erschleichen, erschwindeln, ersitzen, erstellen). Die Partikeln besitzen einerseits „einen relativ selbständigen Status und sogar ein semantisches Übergewicht“ (Hundsnurscher 2 1997: 144); andererseits ist die Partikel „eine synsemantische, keine autosemantische Größe“ (id.: 147). Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 303 ist eine Chance. Wie kann man etwa die Partikel erin er-riechen, er-schnuppern motivieren? Beispiel (3-a, b): „Freund von Feind erriechen“ - das bedeutet, lt. Analyse (5): ‘durch Riechen unterscheiden‘; warum ergibt das dann nicht *unterriechen? Oder (3-b): „er er-schnupperte sich den Duft“ - lt. Analyse (5) ‘durch Schnuppern ent-decken‘; warum heißt das biprädikative Verb dann nicht *entschnuppern, sondern er-schnuppern? Wenn wir statt dessen als Äquivalent angeben: ‘durch Riechen/ Schnuppern er-kennen‘, dann ist die Motivation erklärt. Entsprechend (3-c): „sich tropfenweise ver-strömen“: Für das Amalgam extrahieren wir die Elemente ver- und tropfen-, das ergibt: „sich ver-tröpfeln“. Wir finden also für unsere Töpfe ziemlich leicht einen Deckel; aber warum gerade nur der eine Deckel, und nicht andere, „kopier-fähig“ sind, diese Frage kann ich nicht beantworten. 6.2 Theorie-Ansätze und Kontrastivik Die germanistische Literatur zu den Resultativkonstruktionen begnügt sich - soweit ich sehe - meist mit einer Aufzählung der analytisch beobachteten Fakten: Die Valenzerweiterung etwa wird in allen Grammatiken genannt; die oft biprädikative Funktion dieser Konstruktionen wird dagegen außer Acht gelassen. 17 Dabei lässt sich der biprädikative Charakter der Resultativkonstruktionen nicht nur - wie im vorliegenden Beitrag - aus dem Übersetzungsvergleich ableiten, sondern kann auch aus den oben genannten „Spuren“ geschlossen werden. Genau das ist die Leistung von François (1986). Er bezeichnet sein Verfahren des „Spuren-Lesens“ als décomposition sémantique. Hier das Ergebnis seiner detaillierten Analyse: (15) Une BR [= biprédication résultative, W.F.] se décompose sémantiquement en (i) une action en elle-même non causative, spécifique, dénotée par un prédicateur (P1) et au moins un agent (x1), (ii) un changement (d’état, de lieu, de 17 Dabei hat es Ansätze zu einer biprädikativen Deutung schon früh gegeben: Hundsnurscher ( 2 1997: 100-102) spricht von „zwei Bedeutungsprägungen“ (bei Partikelverben wie aus-tröpfeln), ferner auch von der resultativen Relation zwischen den zwei „Prägungen“: die erste (-tröpfeln) gebe an, „auf welche Weise“ (id.: 100) die zweite (aus- = ‘leeres Gefäß‘) passiert. Kempcke (1965) erklärte die Partikelverben als „Verschmelzungsprodukte der selbständigen Bedeutungen von Partikel und Verb“ (zit. nach Hundsnurscher 2 1997: 143). Weitere Hinweise auf frühere Literatur cf. ibid. Gleichzeitig hatte auch die amerikanische Linguistik den kompositen Charakter (Ereignis + Resultat) der Biprädikation erkannt; Halliday (1967) spricht von „resultative attributes“. Werner Forner 304 relation, etc.), dénoté par un prédicateur statif (P2) compatible avec un auxiliaire de changement d’etat (werden) ou de lieu (kommen, gehen, etc.) et au moins un patient (x1/ x2), et (iii) une relation interprédicative (...) (François 1986: 344). Die Struktur der Biprädikation ist mit dieser Definition korrekt erfasst. Der Weg, der vom Simplex zur Biprädikation führt, und den ich oben als „Kopierverfahren“ dargestellt habe, ist damit noch nicht bestimmt. Um einen Weg definieren zu können, braucht man zwei Größen: einen Endpunkt (der ist in (15) beschrieben) und einen Anfangspunkt. Der Endpunkt ist der Beobachtung zugänglich, der Anfangspunkt ist es nicht. Der Anfangspunkt ist daher notwendigerweise ein theoretisches Konstrukt. Er ist ein notwendiges Konstrukt, sofern man den Weg beschreiben möchte. Er darf als korrektes Konstrukt gelten, sofern die Etappen des Wegs empirisch nachvollziehbar sind. 6.2.1 Kognitionssemantische Ansätze Als Anfangspunkt kommt z.B. eine kognitionssemantische Basis in Frage, etwa im Rahmen der Lexical Functional Grammar. Dies ist der Approach von Ray Jackendoff (1990), oder auch von Kaufmann und Wunderlich (1998). Die germanistischen Analysen von François sind dort nicht berücksichtigt. Jackendoff (1990) argumentiert in Bezug auf Bewegungsverben. Diese sind entweder telisch - wie engl. to go - oder sie sind es nicht - wie engl. to wiggle (‘wackeln‘). In seinem Beispiel „Willy wiggled out of the door“ ist aber auch dieses Verb telisch verwendet; es hat nämlich zusätzlich die Semantik und die Rektion von Verben wie to go übernommen. Jackendoff bezeichnet diese Übernahme als Adjunction. Die Adjunction Rule definiert den Weg von der kognitiven Ebene zur Ausdrucks-Ebene; sie postuliert - zu Recht - die Regelhaftigkeit der Transformation; und sie erleichtert die Beschreibung der beiden Verbtypen auf der kognitiven Ebene, trotz der „Widerborstigkeit“ der Ausdrucksebene. Die Regelhaftigkeit der Adjunction Rule ist sprachspezifisch: Was im vorliegenden Beitrag der Übersetzungsvergleich gezeigt hat, dass nämlich die Adjunction Rule im Romanischen nicht funktioniert, resultiert auch aus einer sprachinternen Anwendung der Jackendoff’schen Analyse, die Morimoto (2001) zum Spanischen vorgelegt hat: (16) En definitiva, los hechos observados hasta ahora indican que en español [...] un adjunto de resultado no puede modificar la estructura eventiva del verbo principal de manera tal que el SV entero se interprete como télico Morimoto ( 2001: 222). Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 305 Dieselbe Beobachtung - die Abwesenheit der Adjunction Rule - gilt auch für die übrigen romanischen Sprachen; etwas weniger deutlich für das Italienische, wie wir sehen werden (cf. 6.2.2.). Daraus ergibt sich die Frage, ob dieser grundlegende Unterschied als sprachtypologisches Kriterium für weitere Sprachen zu werten ist. Genau das hat der frühe Talmy (1985, und vorher) für eine Vielzahl von Sprachen nachgewiesen, ebenfalls beschränkt auf die Konzepte Bewegung/ Lokalisierung: Innerhalb der indo-europäischen Sprachfamilie scheint die Amalgamierung (bei ihm: Conflation) die Regel zu sein; in anderen Sprachfamilien ist der romanische Typ der Realisierung frequent. In einem relativ ähnlichen Sinn sprechen Kaufmann und Wunderlich (1998) 18 von Addition, und zwar ohne die Einschränkung auf Bewegungsverben: Das Modus-Prädikat empfängt die zusätzlichen Merkmale, die dann das Resultat-Prädikat ausmachen; es handelt sich dabei um die syntaktischen und semantischen Merkmaltypen, die in (14) informell aufgezählt sind. Ziel der Beschreibung ist letztlich die „Belastbarkeit“ des empfangenden Prädikats. Die Kompatibilität mit der addierten „Bürde“ wird in Formeln gefasst - dass die Formalisierung möglich ist, versteht sich allerdings von selbst. Wichtig für unsere sprachvergleichenden Zwecke ist die dort (Kaufmann/ Wunderlich 1998) postulierte Unterscheidung zwischen zwei Typen von Resultatives, von denen der eine im Romanischen nicht ganz ausgeschlossen, bzw. im Italienischen sogar unter bestimmten Voraussetzungen lebendig ist. 6.2.2 „Weak Resultatives“ versus „Strong Resultatives“ Kaufmann/ Wunderlich (1998) unterscheiden zwischen „starken“ - oder auch „echten“ - und „schwachen“ („unechten“) Resultativkonstruktionen. Schwach sind etwa Konstrukte wie (die Straße) rein-fegen oder (das Hemd) glatt-bügeln. Hierbei handelt es sich zwar durchaus um biprädikative Resultativa, aber die biprädikative Reduktion ist hier semantisch und syntaktisch schwach insofern, als das Resultats-Adjektiv (rein, glatt) über die erwarteten Resultate des Fegens bzw. Bügelns nicht hinausgeht, und zweitens insofern, als das Objekt (Straße, Hemd) in den Valenzrahmen des 18 Gute Einführungen in die methodischen Grundlagen des entsprechenden kognitiven Modells bieten z.B. Kaufmann (1995: 4-17) und Maienborn (1996: 31-74). Kaufmann (1995: 135ss.) enthält ferner einen kritischen Bericht zum Forschungsstand (im Rahmen der Lexical Functional Grammar) über Resultativkonstruktionen, angefangen bei Simpson (1983); die Analysen von François (1986) zu derselben Thematik scheinen nicht bekannt zu sein. Werner Forner 306 betreffenden Verbs passt. Stark sind Konstrukte, auf die diese doppelte Restriktion nicht zutrifft. Die Strong Resultatives sind typisch für germanische Sprachen, sie sind in romanischen Sprachen ausgeschlossen. Weak Resultatives hingegen seien im Italienischen unter bestimmten Bedingungen möglich (nach Napoli 1992: 74ss.): (17) -a Ho stirato la camicia piatta piatta. ‘Ich habe das Hemd ganz-glatt gebügelt’. -b ? ? Ho stirato la camicia piatta. (17-b) sei kaum akzeptabel; 19 hingegen mit der expressiven Steigerung des Prädikatadjektivs in (17-a) ist dieselbe Konstruktion korrekt. Zumindest mit dieser Zusatzbedingung (Expressivität) können Weak Resultatives im Italienischen akzeptabel sein. Ob dasselbe Experiment auch bei dem zweiten Beispiel - (die Straße) rein-fegen - bei expressiver Steigerung des Prädikatadjektivs (spazzare + pulito pulito) akzeptabel wäre, mögen Native Speakers entscheiden. In unserem Roman taucht das Beispiel auf, aber ohne expressive Steigerung (cf. Bsp. 2-b); und die Übersetzerin hat sich mit dem Resultat-Prädikat (ripulire da) begnügt. 20 6.2.3 Bewegungsverben Eine besonders häufige Verbindung ist im Deutschen - wie wir aus Kapitel 5 schon wissen - die Verknüpfung aus Bewegungsverb plus separater Richtungsangabe (Typ: hinauf + gehen). Diese analytische Verbindung wird in den meisten romanischen Sprachen gemieden zugunsten einer synthetischen Ausdrucksweise (salir, monter), besonders im Französischen (aber nicht im Altfranzösischen), während das Italienische (und übrigens noch mehr galloitalische und ladinische Idiome) beide Konstrukte verwendet (andar su neben salire, scendere neben andar giù, andar via neben partire, etc.). Diese Fakten waren eigentlich schon immer bekannt (cf. 5.). In der Nachfolge der kognitionssemantischen Approaches ist aber die Richtungssemantik regelrecht in Mode gekommen; bzw. sie ist explodiert seit dem Vorschlag (von Talmy 1985), diese beiden Alternativen - synthetische vs. analytische Realisierung der Subklassen von Bewegung (das sind: 19 Ergibt sich diese Wertung von Napoli (1992: 74s.) nicht eher aus der - zu vermeidenden - Doppeldeutigkeit des Konstrukts? Das Adjektiv in camicia piatta kann ja auch attributiv verstanden werden (‘das glatte Hemd‘); und wozu habe ich es dann überhaupt gebügelt? 20 Die zwei o.g. Bedingungen für weak resultatives sind jedenfalls erfüllt: Sowohl (ri-)pulire als auch spazzare können dreiwertig und metaphorisch verwendet werden, Beispiele cf. De Mauro (2000, s.v.). Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 307 [Weg], [Verlauf], [Art]) - zu Grundlagen der Sprachklassifikation (u.a. Romanisch vs. Germanisch) zu erheben. Es ist aber zu betonen, dass diese Typologie nur einen Teilbereich der Biprädikation (inklusive der Weak Resultatives) abdeckt; denn [Weg] und [Verlauf] stehen durchaus nicht immer in einem resultativen Zusammenhang, und umgekehrt, die Biprädikation existiert - wie u.a. das Beispiel welk-riechen gezeigt hat - unabhängig von diesen Merkmalen. Diese Generalisierung - die an anderer Stelle bekannt war (cf. Zitat 15) - wurde von Talmy (1991 und später) in seinen Typologievorschlag integriert. 21 Ein weiteres Distinguo ist wichtig, gerade mit Blick auf den besonderen Status des Italienischen, nämlich die Unterscheidung zwischen System und Gebrauch: Das lexikalische Inventar des Italienischen besitzt zwar beide Typen (andar via neben partire, etc.), und zwar den analytischen Typ (d.h. [Verlauf] getrennt von [Weg]) in deutlich größerem Umfang als etwa die iberoromanischen Sprachen; aber das Inventar erlaubt keine Rückschlüsse auf die relative Frequenz im tatsächlichen Sprachgebrauch. Um diese zu ermitteln, braucht man ein Korpus spontan gesprochener, vergleichbarer Texte in den betreffenden Sprachen. Dies kann mit Hilfe einer Bildgeschichte geleistet werden, die von Sprechern des Italienischen, Spanischen, Französischen und Deutschen zu versprachlichen ist. Genau dieses Experiment wurde kürzlich durchgeführt in einer hochinteressanten Arbeit von Jijazo-Gascón & Ibarretxe-Antuñano (2013). 22 Ergebnisse: 1. Die Frequenz der separaten Nennung von [Verlauf] weicht im italienischen Sprachgebrauch signifikant ab von den übrigen romanischen Sprachen. 2. Die Nennung der [Art] der Bewegung ist im Italienischen nicht frequenter als etwa im Spanischen. 21 Die Generalisierung betrifft einerseits weitere semantische Domänen: neben Motion or Location in Space auch: Aspect-Time, Change of States, Correlation among Actions, Fulfillment (Talmy 1991: 482); andererseits weitere Relationen: Precursion, Enablement, Cause, Manner, Concomitance, Purpose, Constitutiveness (id.: 484). Dem o.g. Bereich Aspect-Time werden die spanischen perifrasis verbales zugeordnet (id.: 492-494). 22 Das Experiment (dieselbe Bildergeschichte) ist seit 1994 bekannt, es wurde von den Verfassern mit neuen Fragestellungen neu durchgeführt. Die genannte Arbeit bietet zudem einen beeindruckenden Überblick über die vergleichende romanistische Forschung zur Direktionalsemantik, meist in der Nachfolge von Talmy (1991). Werner Forner 308 Mehr als um den [Verlauf] ging es im vorliegenden Beitrag um die [Art], und zwar um die Amalgamierung von [Art] und Resultat; in dieser Hinsicht (Punkt 2) besitzt das Italienische offenbar keinen Sonderstatus. Einen Sonderstatus besitzt das Italienische aber durchaus in Bezug auf den [Verlauf] (Punkt 1): Sprachmittel für den [Verlauf] sind einerseits die genannten adverbialen Partikel, andererseits lexikalische Präzisierungen (z.B. Herkunftsort/ Zielort). Beispiel aus dem hier vorgelegten Korpus (cf. Bsp. 9): „Grenouille [...] GRIFF sich [...] die [...] Fläschchen von den Borden ([Verlauf] - lexikalisch), [...] die er sich RASCH herunter- ([Verlauf] - Adverb) PFLÜCKTE [...]; [er] SCHLEPPTE [...] einen Ballon heran ([Verlauf] - Adverb)“ ( GRIFF , RASCH , PFLÜCKTE , SCHLEPPTE = [Art]). Hier noch einmal die italienische Übersetzung: „Grenouille […] aveva AFFERRATO dalle mensole le bottigliette [...], che TOLSE RAPIDAMENTE dallo scaffale [...].[...] TIRÒ giù un pallone“. Das Beispiel macht übrigens deutlich, dass zu den spezifisch italienischen Sprachmitteln auch die - von di unterschiedene - Herkunfts-Präposition da gehört. 6.2.4 Hin zu einem „Gesamtpaket“ Die Bewegungsverben (cf. 6.2.3.) tangieren die biprädikative Problematik nur marginal: Die Komposition aus Modus und Resultat - selbst wenn es sich dabei um [Art] und [Bewegung] handelt - ist auf den germanischen Sprachtyp beschränkt. Dieses Amalgam lässt sich definieren als Adjunktion oder als Addition oder als Conflation (cf. 6.1.2.1.- 6.1.2.2.) der in (14) aufgezählten „Kopierspuren“. Es handelt sich jedenfalls um ein vor allem syntaktisches „Gesamtpaket“, nicht etwa um lexikalische Eigenschaften bestimmter Wortarten - obwohl dies manchmal behauptet wird. So ist immer wieder - in der Nachfolge von Truffaut (1971: 93, 96) - beobachtet worden, dass die Präpositionen im Deutschen eine vom Verb relativ unabhängige Bedeutung besitzen, während sie im Französischen valenzabhängig seien. Die Beobachtung ist korrekt an der Oberfläche, aber sie ist in Wirklichkeit das Resultat einer abweichenden Organisation 23 unserer Sprachen. 23 Diese Abweichung (Biprädikation ja/ nein) zu erklären (d.h. in allgemeinere Zusammenhänge einzuordnen), hat Paola Merlo (1988: v.a. 344-346) anhand des Sprachenpaars Englisch-Italienisch versucht: Die Divergenz sei „due to the interaction between an empty prepositional complementizer in the COMP position of the Small Clause, and the fact that Prepositions are not structural governors in Italian“ (id.: 344). Ein interessanter Pfad, der aber monovalente Verben wie riechen, wehen (cf. Bsp. Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 309 Diese Abweichung gilt allgemeiner als in den diskutierten Theorieansätzen: Sie ist nicht eingeschränkt auf bestimmte semantische Konstellationen (z.B. Motion, Path). Auch Verben der quantitativen Veränderung gehorchen demselben Prinzip (cf. Forner 2011). Dazu hier nur ein Beispiel: Deutsch steigen (Bsp. 18) verbindet sich mühelos mit zwei oder mehr Quantoren (nämlich 1.: um X, und 2.: auf Z), gegenüber frz. croître, das ein Richtungsverb, z.B. atteindre, benötigt, um den Zielpunkt (Z) einbringen zu können; dieser Fall ist völlig analog zu den verschiedenen Richtungsangaben im o.g. Beispiel (Bsp. 8): (18) F: „[…] le salaire moyen per capita a crû de 13,9 %, pour atteindre en moyenne 2136 € par mois en 2007“ (LeM 20.08.08). D: ‘[...] das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen stieg um 13,9% auf ein durchschnittliches Monatseinkommen von 2136 € im Jahr 2007‘. Gleichung: F: croître de X pour atteindre Z = D: steigen um X auf Z Schließlich: Die diskutierten Theorieansätze beschreiben zusammen genommen das „Gesamtpaket“, das dem Modus-Verb im Deutschen „aufgebürdet“ werden kann. 24 Die Frage nach der Herkunft des „Pakets“ wird nicht gestellt, oder sie wird der kognitiven Ebene zugeordnet. 6.3 Variation Der Sprachkontrast ist mit dem Verweis auf eine Regel (egal ob Adjunction Rule oder Addition) noch nicht erschöpfend beschrieben. Ein weiterer Aspekt ist für die Explikation unerlässlich: Im Deutschen haben wir Variation, im Romanischen nicht: Wir können im Deutschen die Verknüpfung aus den beiden Prädikaten - aus Modus-Prädikat und Resultat-Prädikat - sowohl separat ausdrücken (19-a) als auch biprädikativ (19-b). (19) Zwei Varianten im Deutschen -a Als er sie so lange (so sehr, [...]) berochen hatte, dass sie schon welk wurde, [...]. -b „Als er sie welkgerochen hatte, [...]“. (= Bsp. 1) 1, 8), oder die Weak Resultatives des Italienischen (cf. Bsp. 17-a) zu Unrecht ausschließt. 24 Weitere Ansätze werden bei Chang (2008: 139-143) diskutiert, auch seine eigene - konstruktionsgrammatische - Analyse. Alle diese Lösungen beschreiben unser Phänomen als semantisch-morphologisch-syntaktische Expansion des Basisverbs, nicht als Reduktion einer doppelten Prädikation. Werner Forner 310 Wir haben im Deutschen auf der Ausdrucks-Ebene zwei Varianten für ein und dieselbe inhaltliche Struktur. Das ist die Definition von Variation. Zur Beschreibung von Variation benötigen wir zwei Ebenen, egal ob es sich um diachrone, diatopische, diastratische, diaphasische oder - wie hier - „nur“ um stilistische Variation handelt. Die eine Ebene ist der Ort der (zwei oder mehr) möglichen Realisierungen (RE), also der wahrnehmbaren Varianten (19-a) und (19-b); die andere Ebene ist die Basis (B), die beiden Realisierungen zugrunde liegt. Ohne die gemeinsame Basis handelt es sich nicht um Variation. Dieses variationelle Erklärungsmodell veranschaulicht das folgende Bild: (20) Variationsmodell BASIS B Regeln --- „Paket“ Oberfläche RE 1 RE 2 (19-a) (19-b) Die diachrone Variation verwendet i.d.R. den gemeinsamen historischen Vorgänger als Basis; die diaphasische Variation braucht - um explikativ zu sein - eine propositionale Basis, z.B. zur Beschreibung der Divergenz zwischen dem (markierten) Fachstil und dem (unmarkierten) Neutralstil. So auch hier: Wir haben in (20) als Basis die Struktur: BASIS = [Prädikat 1 + adv. Relation + Prädikat 2]. Die Ebene der Realisierungen enthält gewissermaßen die Projektionen der Basis (‘Projektion‘ im geometrischen Sinn): Hier finden wir die beiden Varianten (19-a) vs. (19-b). Von diesen beiden deutschen Varianten ist die erste (19-a) das getreue Spiegelbild der Basis, das nicht durch eine Projektionsregel verändert ist; (19-b) hingegen ist eine modifizierte Projektion derselben Basis, modifiziert durch die Regel - genannt „Kopie“ oder Adjunction oder Addition oder Conflation, je nach Geschmack - die uns zuvor beschäftigt hat. Mit dem Terminus Biprädikation ist nur dieses modifizierte Produkt gemeint, nicht die äquivalente Struktur der Basis oder der Realisierung 1. Die Frage nach der Herkunft des „Pakets“ ist nun einfach zu beantworten: Es enthält genau die Informationen, die in der Basis enthalten Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 311 sind, und zwar im letzten Bestandteil der Basis, im Prädikat 2. Es handelt sich also bei der Biprädikation durchaus um eine „Kopie“, aber um eine „Kopie“ entsprechend bestimmten, verzerrenden Projektionsregeln. Die informelle - Darstellung (cf. 6.1.) entsprach bereits diesem variationellen Approach. Der Rückgriff auf eine wohldefinierte Basis erleichtert die Deskription: Die Inhalte des „Pakets“ sind vorhanden, sie müssen durch die Projektionsregel nicht eigens definiert werden; es handelt sich nicht - wie bei den zitierten Ansätzen - um eine Expansion (des Modus-Prädikats), sondern um eine Reduktion (des Doppel-Prädikats), um eine reduzierende „Kopie“. Das erspart triviale Fragen wie diese: Warum ist Satz (21) nicht akzeptabel? (21) *He cried his feet red (Carrier/ Randall 1988, zit. nach Kaufmann 1995: 160). 25 Antwort: Weil die Basis von (21) nicht akzeptabel ist. 7 Ergebnisse Wenn wir uns abschließend nach der Definition des Kontrastes zwischen unseren Sprachen fragen, so besteht dieser darin, dass wir im Deutschen (und weiteren germanischen u.a. Sprachen) bei der Realisierung der zwei adverbial (z.B. resultativ) verknüpften Prädikate die Wahl haben zwischen zwei Varianten, während die Romanen diese Wahlmöglichkeit nicht haben. Sie können den genannten Zusammenhang nur durch die Realisierung 1 (RE 1 in Schema 20) ausdrücken; die germanischen Sprachen hingegen besitzen als zusätzliche Alternative die Biprädikation (Realisierung 2). Bezogen auf das Schema (20): Der rechte Teil des Schemas entfällt in den romanischen Sprachen, und mit ihm das „Regel-Paket“. Das „Regel-Paket“ erklärt sich hinreichend aus der Struktur des Resultat-Prädikats. Die skizzierten Zwei-Ebenen-Modelle, bestehend aus einer kognitiven und einer linguistischen Ebene, führen - soweit ich sehe - nicht zu entscheidenden zusätzlichen Erkenntnissen. Sie verhindern allerdings die variationelle Explikation. Und die ist für den Sprachvergleich entscheidend, sowohl für die Frage, „was [die Sprache] leistet“ - nämlich: sie leistet die Variation (oder eben nicht) -, als auch für die Frage, „wie sie es leis- 25 Darüber hinaus gibt es aber durchaus Restriktionen jenseits der syntaktischen Kopie, z.B.: Die Jogger laufen den Rasen platt ist korrekt, dieselbe syntaktische Struktur in *Die Jogger laufen die Hunde wütend ist unkorrekt, obwohl der Satz einer sinnvollen Basis entspricht (cf. Kaufmann 1995: 160-162). Werner Forner 312 tet“, nämlich durch eine regelhafte Projektion von Merkmalen, die in der Basis im Resultat-Prädikat vorhanden sind: Diese werden von dem einen in das andere Prädikat projiziert. Der Übersetzer der Biprädikation muss auf die Basis zurückgreifen; oder auf die alternative, gleichbedeutende Realisierung RE 1 . Beide sind im Ausgangstext nicht explizit vorhanden. Eins der Probleme des Übersetzers besteht in folgendem: Die Biprädikation gehorcht einer Regel, die die Spezifizierung der Relation zwischen den beiden Prädikaten unterschlägt, etwa die Unterscheidung zwischen kausaler oder modaler oder temporaler Relation (cf. Bsp. 1’’). Der Übersetzer ist aber dazu „verdammt“, die spezifische Relation, obwohl sie im Ausgangstext auf der Realisierungs-Ebene kaschiert ist, auszudrücken. Er muss versuchen, die Relation der Basis zu rekonstruieren. 26 Mit ein bisschen Glück hilft dabei der Kontext. Ein stilistischer Vorteil der Biprädikation kann genau darin bestehen, dass das eine Verb zweierlei meint, eben Modus und Resultat. Beide Prädikationen dieses syntaktischen Amalgams können für den Zusammenhang unentbehrlich sein. Es kommt aber auch vor, dass eine der beiden Prädikationen funktional eingeschränkt ist, etwa auf die Fortführung einer vorausgegangenen oder nachfolgenden Metapher. Sie hat dann bloß kohärenzstiftende Funktion ohne inhaltliche Relevanz. Dies erzeugt im deutschen Text keine Redundanz, weil es ja kein zusätzliches Verb „kostet“. In der Übersetzung „kostet“ es hingegen eine eigene lexematische Einheit und kann schwerfällig wirken. In solchen Fällen darf/ muss der Übersetzer sich fragen, ob sich der Aufwand lohnt, oder ob es dem Zieltext mehr nutzt, das zweite Prädikat unerwähnt zu lassen. 26 Diese Rekonstruktion in Richtung auf eine gemeinsame Basis ist eine wichtige Übersetzungstechnik. Sie hieß - jedenfalls in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts - Back- Transformation, cf. z.B. Nida/ Taber (1969). Ein analoges Modell - Rücktransformation zu einer Interface Structure - war grundlegend für das automatische Übersetzungsprojekt der EU der 1980er Jahre, cf. EUROTRA (1991). Die deutsche Biprädikation und ihre romanischen Übersetzungen 313 Bibliographie Korpus Süskind, Patrick (1985): Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders, Zürich, Diogenes. 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Le modèle de la successivité [...] fut et reste une malédiction pour la linguistique romane diachronique (Dardel 2007: 336). dt. Das Sukzessivitätsmodell war und bleibt ein Fluch für die diachrone romanische Sprachwissenschaft. Ziel dieses Beitrags ist es, zunächst einen Überblick über mögliche Konstruktionstypen in den romanischen Hauptsprachen Spanisch, Französisch und Italienisch zu geben (cf. 2.); in einem zweiten Schritt werden diese Typen im Übersetzungsvergleich mit entsprechenden Fügungen im Deutschen kontrastiert (cf. 3.). Dabei beschränke ich mich auf Verbalkomplexe aus drei Verbformen - also auf formes surcomposées i.w.S. -, außer im Typ B1, bei dem auch Fügungen mit zwei Verbformen berücksichtigt werden (cf. 2.2.). Der Anhang gibt eine Übersicht über die verschiedenen Typen in den vier berücksichtigten Sprachen. 1 Für Anregungen danke ich den Teilnehmern der Diskussion in Münster, insbesondere Wolf Dietrich. 2 Sofern nicht anders angegeben, gehen Hervorhebungen in Beispielen und Zitaten auf den Autor dieses Beitrags zurück. Gleiches gilt für Übersetzungen und Beispiele ohne explizite Quellenangabe. Reinhard Kiesler 318 Für die romanischen Sprachen können wir zunächst vier bis fünf Gruppen unterscheiden. In der Gruppe A findet sich eine finite Verbform mit einer oder mehreren infiniten Formen (Beispiel 3), in Gruppe B1 zwei oder mehrere finite Verbformen, die aneinandergereiht oder durch Konjunktionen miteinander verbunden sind (Beispiele 2 und 4), in B2 eine finite Verbform in Koordination mit einer zusammengesetzten Verbform (Beispiele 5-6) oder auch eine finite Verbform mit zwei koordinierten infiniten Formen (Beispiele 7-8): (3) fr. il n’a pas pu prendre conscience de sa déclivité (Dardel 2007: 330) dt. er konnte sich seines Gefälles nicht bewusst werden (4) sp. va y se nombra a sí mismo (JAR-sp: 74) dt. hat er [...] sofort seinen eigenen Namen genannt (JAR-dt: 89) (5) sp. puedo prometer y prometo (Kiesler 1989: 160, Anm. 56, dazu Lorenzo 1990: 466) (6) fr. je peux promettre et je promets dt. ich kann versprechen und verspreche (7) sp. A quienes aún puedan convencer o tentar tales patrañas [...] (Corriente 1999: 13). dt. Wen solche Lügen noch überzeugen oder verlocken können [...]. (8) fr. des structures qu’on peut analyser et confronter scientifiquement (Dardel 2007: 334). dt. Strukturen, die man wissenschaftlich analysieren und gegenüberstellen kann. Die Gruppen C und D bestehen aus drei- oder mehrteiligen Verbalkomplexen und bilden gewöhnlich sekundäre Prädikate. Es handelt sich um infinite Verbformen ohne (Gruppe C, Beispiele 9-10) oder mit Koordination (Gruppe D, Beispiele 11-12). (9) sp. aun habiendo intentado establecer un programa (Corriente 1999: 14, Anm. 5) dt. obgleich wir versucht haben, ein Programm aufzustellen (10) fr. je m’étonnai d’avoir pu si longtemps vivre sans elles (MJF-fr: 265). dt. ich [...] staunte, daß ich so lange ohne sie hatte leben können (MJFdt: 184). (11) sp. para poder examinar y corregir (12) fr. pour pouvoir examiner et corriger dt. um untersuchen und korrigieren zu können Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 319 2 Verbalkomplexe im Romanischen 2.1 Gruppe A In der Gruppe A wird eine finite Verbform mit einer oder mehreren infiniten Formen verbunden. Dabei gibt es genau neun mögliche Kombinationen, die hier in Tabelle 1 zusammengefasst sind; „ger“ steht für das Gerundium bzw. das Präsenspartizip, das Ungleich-Zeichen markiert einen abweichenden Konstruktionstyp. Die mögliche weitere Untergliederung dieser neun bzw. acht Typen 3 - etwa nach dem Gebrauch von Präpositionen - ist hier nicht berücksichtigt. In Hinblick auf den Sprachvergleich fällt auf, dass die Reihenfolge der infiniten Formen im Romanischen und Deutschen gleich oder unterschiedlich sein kann: fr. il peut commencer à chanter = dt. er kann anfangen zu singen, aber fr. il doit avoir chanté (Typ 2) vs. dt. er muss gesungen haben (Typ 3). Gruppe A spanisch französisch deutsch 1. fin inf inf 2. fin inf par 3. fin par inf 4. fin par par puede empezar a cantar debe de haber cantado ha podido cantar ha sido cantada il peut commencer à chanter il doit avoir chanté il a pu chanter elle a été chantée er kann anfangen zu singen er muss gesungen haben er hat singen können es ist gesungen worden 5. fin par ger 6. fin inf ger he estado cantando puede estar cantando elle est allée s’amplifiant il peut aller croissant ≠ sie hat sich ausgedehnt ≠ er kann weiter wachsen 7. fin ger inf 8. fin ger par 9. fin ger ger está empezando a cantar estaba siendo cantada ? continúa estando cantando ≠ er fängt gerade an zu singen ≠ es wurde gesungen ≠ er ist weiterhin am Singen Tabelle 1: Ein finites Verb mit zwei infiniten Formen (nach Kiesler 2010: 355; cf. auch Anhang, Tab. 11) 3 Typ 9 ist theoretisch möglich, im Korpus allerdings nicht belegt. Reinhard Kiesler 320 Bei der Beschreibung ergeben sich verschiedene Probleme, von denen hier nur zwei kurz erwähnt werden. Erstens müssen Verbalkomplexe und Kopulakonstruktionen unterschieden werden; das betrifft z.B. die Typen 2 und 4, cf. (13-15). (13) Typ 2 (fin inf par) fr. C’est un type bien; mais il devrait être marié et avoir un métier (MJFfr: 277). sp. Es un tipo bien, pero debería estar casado y tener un oficio (MJF-sp: 203-204). it. È un tipo a posto, ma dovrebbe sposarsi ed esercitare un mestiere (MJF-it: 206). dt. Er ist sehr ordentlich; aber er sollte verheiratet sein und einen Beruf ausüben (MJF-dt: 192). (14) Typ 4 (fin par par) fr. [...] elle n’avait pas été atteinte par cet appel [...] (MJF-fr: 254). sp. [...] no había sido tocada por esa llamada [...] (MJF-sp: 187). it. [...] non era stata raggiunta da quell’appello [...] (MJF-it: 189). dt. [...] den Ruf [...] hatte sie nicht vernommen [...] (MJF-dt: 177). (15) Typ 4 (fin par par) fr. [...] dans ces lieux où nous avions été si unis [...] (MJF-fr: 287). sp. [...] en ese lugar en que habíamos estado tan unidos [...] (MJF-sp: 211). it. [...] in quei luoghi in cui eravamo stati cosí uniti [...] (MJF-it: 213). dt. [...] an dieser Stätte, an der wir früher so harmonisch gelebt hatten [...] (MJF-dt: 199). Sind sp. estar + Part. Perf., fr. être + Part. Perf. und it. essere + Part. Perf. jeweils als Verbformen zu analysieren? Für die Analyse als Verbform spricht, dass die spanische Akademie-Grammatik diese Konstruktion als „perífrasis“ bezeichnet (RAE 2009 II: § 28.16d). Dagegen spricht jedoch, dass die Konstruktion das Zustandspassiv ausdrückt, das eher zur Kategorie des Aspekts [... gehört], weil hierin eher eine aspektuelle Funktion der Kopula, verbunden mit einem eher adjektivischen Partizip, als ein wirkliches Passiv zu sehen ist (Dietrich 1996: 223). Demnach ist fr. être marié in (13) als Kombination des Infinitivs Präsens Aktiv der intransitiven Kopula mit einem Perfektpartizip als Subjektprädikativ zu betrachten, also als ’verheiratet sein’ wie in der deutschen Übersetzung, und nicht als Infinitiv Präsens Passiv eines transitiven Verbs ’verheiratet werden’. Mit Riegel et al. betrachte ich das Vorgangspassiv als Verbalkomplex: Hier ist eine Aktivparaphrase möglich (Riegel et al. 2009: 737), cf. neben Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 321 (14) fr. Cet appel ne l’avait pas atteinte. Das Zustandspassiv bildet dagegen eine Kopulakonstruktion, in der das Perfektpartizip z.B. durch ein Gradadverb modifiziert werden kann (ibid.), cf. neben (15) fr. ? Quelqu’un nous avait si unis. Zweitens stellt sich das Problem der Abgrenzung von Hilfsverb und Vollverb. Die Beispiele in (16) sind ohne Kontext mehrdeutig. Sie bedeuten entweder ’ich gehe gleich nachsehen’ oder ’ich werde gleich nachsehen’ wie in der deutschen Übersetzung. (16) fr. Je vais aller voir (AJeux-fr: 27). sp. Voy a ver (AJeux-sp: 27). dt. Ich schau mal nach! (AJeux-dt: 27). Nach Meyer-Lübke (1972: 337) liegt in fr. je veux la paix ’ich möchte den Frieden’ ein Begriffsverb, also ein Vollverb vor, in je veux venir ’ich möchte kommen’ dagegen ein Modalverb, d.h. ein Hilfsverb im weiteren Sinn. 4 Im Deutschen gilt wollen allgemein neben dürfen, können, mögen, müssen, sollen als Modalverb (D4: § 815; Wolf 2002: 53). In der spanischen Konstruktion querer + Inf. wird querer einerseits als Vollverb bezeichnet (Alarcos Llorach 2009: 260; Felixberger 1974: 152), andererseits auch als Hilfsbzw. Modalverb (Dietrich 1996: 227; M, s.v. querer 2 , „notas de uso“; Reumuth/ Winkelmann 2011: § 223.4). Ganz analog wird fr. vouloir in Verbindung mit einen Infinitiv teils als Vollverb betrachtet (Busse/ Dubost 1983, s.v. vouloir 1 ; Reumuth/ Winkelmann 2005: § 257.3), teils als Hilfs- oder Modalverb (Riegel et al. 2009: 453; Le Goffic 2013: 165; Grevisse/ Goosse 14 2007: § 821q). Nach Le Goffic (2013: 165) ist fr. *il veut pleuvoir ’es will regnen’ ungrammatisch, 5 während il semble vouloir se mettre à pleuvoir ’es scheint anfangen zu wollen, zu regnen’ akzeptabel sei. Ein Kriterium zur Abgrenzung bietet die Pronominalisierung. Wenn der von einem finiten Verb abhängige Infinitiv durch sp. lo bzw. fr. le ersetzbar ist, dann handelt es sich bei dem finiten Verb um ein Vollverb und der Infinitiv hat die Funktion des direkten Objekts. Demnach sind fr. vou- 4 Es erscheint „mehr als zweifelhaft, wo man frz. il veut chanter unterbringen soll, denn von il désire chanter unterscheidet es sich formell zunächst in keiner Weise, und doch wird man letzteres nicht hierher ziehen wollen. Eher lässt sich für frz. il peut, il ose, afr. sieut chanter eine Sonderstellung rechtfertigen, sofern nämlich diese Verba das gemeinsam haben, dass sie nicht nur kein Sachobjekt zu sich nehmen können, sondern dass sie stets ein Verbum verlangen, oder dass dort, wie sie selbständig auftreten, der Begriff eines Verbums vorschwebt [...]“ (Meyer-Lübke 1972: 336). 5 Der Typ il veut pleuvoir existiert jedoch regional, cf. Grevisse/ Goosse ( 14 2007: § 821q): „se dit dans beaucoup de régions“; Riegel et al. (2009: 453): „dans certains usages régionaux“; Bally (1965: 218): „populaire“. Reinhard Kiesler 322 loir in il semble vouloir se mettre à pleuvoir und sp. querer in (17) Hilfsbzw. Modalverben, cf. fr. *il semble le vouloir, während sie in (18) als Vollverben auftreten - im Spanischen gegen RAE 2009. 6 (17) sp. fam. Quería amanecer (M, s.v. querer 2 , 7: „informal“). dt. Es wollte schon Tag werden. → *Lo quería. (18) sp. [...] quiero poder garantizar a mis hijos un confortable bienestar (MJF-sp: 203). → Lo quiero. fr. [...] je veux pouvoir garantir à mes enfants une confortable aisance (MJF-fr: 277). → Je le veux. it. [...] voglio poter garantire ai miei figli una comoda agiatezza (MJF-it: 205). dt. [...] so will ich auch meinen Kindern behaglichen Wohlstand sichern (MJF-dt: 192). Es ist also in jedem einzelnen Fall zu entscheiden, ob ein Hilfs- oder ein Vollverb vorliegt. In den romanischen Sprachen erscheinen viele Verben in beiden Funktionen: Das von García Fernández (2006) herausgegebene Wörterbuch verzeichnet 61 „Hilfsverben“ im Spanischen, und für das Französische stellen Riegel et al. (2009: 451) fest, dass die Hilfsverben keine geschlossene Klasse bilden. Andererseits hat das Französische kein Verb, das ausschließlich als Hilfsverb fungiert. Das gilt analog auch für das Italienische. Schließlich können wir bei den in Tabelle 1 angeführten acht Typen semantisch und formal verschiedene Subtypen unterscheiden, was hier nur erwähnt werden kann. Zu dem Typ 1 mit einem finiten Verb und zwei Infinitiven gehören beispielsweise Konstruktionen mit Modalverben wie in (17) und in fr. il semble vouloir se mettre à pleuvoir, Konstruktionen mit Wahrnehmungsverben (19) und das periphrastische Futur im Spanischen und Französischen (20). (19) sp. Chico, no puedo verte comer (JAR-sp: 179). fr. Oh! Je ne peux pas te regarder manger (JAR-fr: 230). it. Non posso guardarti mangiare (JAR-it: 176). dt. Mensch, ich kann dich einfach nicht essen sehen (JAR-dt: 188). (20) sp. ¿[...] cómo vamos a empezar a hacerlo un hombre [...]? (ANorm-sp: 6). fr. [...] comment allons-nous commencer à en faire un homme [...]? (ANorm-fr: 6). 6 Cf. RAE (2009 II: 2127, § 28.4d): „el infinitivo de la pauta ’querer + infinitivo’ no puede ser sustituido por un pronombre átono“. Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 323 it. [...] come possiamo cominciare a fare di lui un uomo [...]? (ANorm-it: 6). dt. [...] wie wir einen Mann aus ihm machen sollen [...]? (ANorm-dt: 6). 2.2 Gruppe B1 In der Gruppe B1 fasse ich Verbalkomplexe aus aneinandergereihten oder koordinierten finiten Verben zusammen, also u.a. den Typ le modèle fut et reste une malédiction (oben Beispiel 2). Hierbei werden auch Komplexe aus zwei Verbformen berücksichtigt, weil diese Konstruktionen bisher noch weniger beschrieben sind als die der übrigen Gruppen, was damit zusammenhängen mag, dass sie oft umgangssprachlich markiert sind; und die Syntax der Umgangssprachen ist nach wie vor ungenügend beschrieben (Kiesler 2013). Formal erscheinen diese Konstruktionen aneinandergereiht (21) oder durch Verknüpfungswörter miteinander verbunden; als Verknüpfungswörter treten Präpositionen (22) und Konjunktionen (23-24) auf. (21) fr. fam. Allez savoir! dt. Wer kann das schon wissen (L, s.v. savoir 1 , I.1g; CHO: 228) (22) sp. ¡Vete a saber! dt. Wer weiß! (M, s.v. saber 1 ) (23) sp. fam. Basta y sobra dt. genug und übergenug (SGI, s.v. bastar) (24) sp. compra y vende libros fr. il achète et vend des livres it. compra e vende libri dt. er kauft und verkauft Bücher Semantisch gehören die Konstruktionen dieser Gruppe teils zu den phraseologischen Einheiten (21-23), teils handelt es sich um lexikalische (24) oder grammatische Periphrasen (25), teilweise nähern sie sich Konstruktionen wie dt. Sei so gut und tu mir den Gefallen (Havers 1931: 203) oder lat. interrogare ergo atriensem coepi ’ich fragte den Haushofmeister’ (Havers 1927: 240), die als „enumerative Redeweise“ (Havers), „expletive Verbalformen“ (Wagner 1956) oder „Serialverb-Konstruktionen“ (Déchaine 1993) bezeichnet werden. 7 7 Hiervon zu trennen ist der portugiesische Typ às vezes sinto-me é um pouco sozinho ’manchmal fühle ich mich ein bisschen allein’, o tipo é mas é parvo ’der Typ ist ein Kindskopf’ (semipseudo-clivagem: Kiesler 1989: 217, 221-222), zu dem es Parallelen im amerikanischen Spanisch gibt: quiero es pan (Kany 1994: 303-304). Reinhard Kiesler 324 (25) sp. Y luego va y lo cuenta por ahí (JAR-sp: 76). fr. Et puis elle va raconter à droite et à gauche (JAR-fr: 102). it. E poi va anche a raccontarlo in giro (JAR-it: 76). dt. Und hinterher geht sie überall damit hausieren (JAR-dt: 91). Von grammatischen Periphrasen können wir sprechen, wenn eines der Verben seine lexikalische Bedeutung reduziert hat, wie in dem Typ sp. fam. tomo y me voy, it. fam. prendo e me ne vado, etwa ’ich pack’s dann mal’, und ebenso in dem Typ ’gehen (und) V’ (oben Beispiele 4, 21, 22, 25), 8 der z.B. auch im Portugiesischen ohne die Konjunktion vorkommt: E vai ela põe-se direita comigo (Wagner 1956: 5). Im Deutschen gibt es entsprechende Periphrasen mit ’hergehen und V’ und ‚hingehen und V’: dt. fam. sie ging her und holte... ’elle alla chercher...’ (L, s.v. hergehen, I.2 „fam.“). 9 Behalten die finiten Verben ihre lexikalische Bedeutung, können wir von lexikalischen Periphrasen sprechen. Das ist der Fall in Beispiel 24, das als Periphrase für ’handeln’ aufgefasst werden kann: ’er kauft und verkauft x’ = ’er handelt mit x’. Ganz ähnlich kann man auch Fälle wie fr. vouloir dire und it. voler dire ’sagen wollen, meinen’ als lexikalische Periphrasen betrachten. 10 Im übrigen gilt für die Gruppe B1 nach Brugmann: „Bei Beiordnung von Formen des Verbum finitum ist genau genommen stets die Wahl zu lassen, ob man einen oder zwei Sätze, einen einfachen oder einen zusammengesetzten Satz annehmen will“ (Brugmann 1925: 131). Heyse (1900: 405) bezeichnet dagegen Fälle wie dt. die Sonne beleuchtet und erwärmt die Erde als erweiterten Satz. (26) dt. in der schule [sic] haben wir heute zuerst gelesen, dann sind wir hingegangen und haben gerechnet (Brugmann 1925: 135; „wobei wir uns aber nicht von unserem Platz entfernten“, Havers 1927: 234) (27) lat. ōrō (atque) obsecrō (Brugmann 1925: 134) dt. ich bitte inständig, wörtlich ’ich beschwöre (und) bitte’ 8 Cf. noch it. vai a dire, mi vai a dire... u.ä., etwa ’und dann gehst du her und sagst (mir)’ und die italienische Übersetzung in Beispiel 25. 9 Und ähnlich dt. fam. sie ging hin und gab ihm eine Ohrfeige ’elle l’a (tout simplement) gifflé’ (L, s.v. hingehen, 1 „fig.“, allerdings ohne stilistische Markierung). Die Periphrase ist in D4 nicht verzeichnet. 10 Cf. zum Französischen Blanche-Benveniste (2010: 140-142): „Les deux lexèmes forment un seul verbe composé, dont le sens global ne peut pas être réduit à une addition de vouloir et de dire. La soudure syntaxique est forte: aucune insertion n’est possible entre les deux, sauf celle des modalités négative pas et positive bien“ (id.: 140). Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 325 (28) lat. vale atque salvē (ibid.) dt. sei gegrüßt, wörtlich ’sei gesegnet und gegrüßt’ (29) fr. Je le lirai, corrigerai et compléterai (Bally 1965: 301) dt. Ich werde es lesen, korrigieren und ergänzen Bally bezeichnet den Verbalkomplex in (29) als „une sorte de verbe collectif unique“ (Bally 1965: 301, § 492) ’eine Art einziges Sammel-Verb’. Beispiele wie diejenigen in (23-29) bilden eine Ausnahme zu der Faustregel „ein finites Hauptverb - ein Satz“. Das ist bei Hurford wie folgt erläutert: ’one clause - one main verb’. The single exception to this rule is the case of conjoined, or coordinated, main verbs, as in Lisa buys and sells securities, which is one clause, despite having two main verbs (Hurford 1994: 29). Diese Definition können wir präzisieren, indem wir sagen, dass zwei oder mehr koordinierte finite Verben genau dann einen Verbalkomplex bilden, wenn sie dasselbe Subjekt und gegebenenfalls dasselbe Objekt haben (Kiesler 2015a: 80-81). Weitere Beispiele für die Gruppe B1 sind (30-31). (30) sp. confirman y explican o, al contrario, infirman una hipótesis fr. ils confirment et expliquent, ou au contraire infirment, une hypothèse (Dardel 2007: 342) dt. sie bestätigen und erklären oder - im Gegenteil - entkräften eine Hypothese (31) sp. Entonces fueron y dijeron que... dt. Dann gingen sie hin und sagten, dass... (RAE 2009 II: 2130-2131, § 28.4o) Nach der spanischen Akademie-Grammatik werden die Verben in Verbalperiphrasen nicht koordiniert, daher werden Konstruktionen wie in (31) als „construcciones semilexicalizadas“ nicht zu den Periphrasen gezählt; diese Auffassung spiegelt deutlich die fließenden Grenzen zwischen den oben genannten semantischen Typen wider. 2.3 Gruppe B2 Die Gruppe B2 umfasst Verbalkomplexe aus einer finiten Verbform in Koordination mit einer zusammengesetzten Verbform (32) und aus einer finiten Verbform mit zwei koordinierten infiniten Formen (33). Diese Verbalkomplexe sind meines Wissens bisher für die romanischen Sprachen nicht beschrieben worden. In (32) liegen transitive Verben mit jeweils ein und demselben Subjekt und Objekt vor - im Italienischen entspricht dem eine komplexe Nominalphrase -, in (33) intransitive Verben. Reinhard Kiesler 326 (32) sp. Garric había fundado y dirigía un movimiento (MJF-sp: 177) fr. Garric avait fondé et dirigeait un mouvement (MJF-fr: 240) ≠ it. Garric era il fondatore e dirigente di un movimento (MJF-it: 179) dt. Garric hatte die Bewegung [...] gegründet [...]; er stand dieser Bewegung auch weiter vor (MJF-dt: 167) (33) sp. Eran alojadas e instruidas gratuitamente (MJF-sp: 177) fr. Elles étaient hébergées et instruites gratis (MJF-fr: 240) it. Erano alloggiate e istruite gratis (MJF-it: 179) dt. Sie hatten gratis Logis und Unterricht (MJF-dt: 167) Die an Tesnière orientierten Stemma-Darstellungen (32‘) und (33‘) zeigen deutlich die engere Zusammengehörigkeit der Verbformen in (33). (32’) avait fondé - et - dirigeait Garric un mouvement (33‘) Elles gratis Die Typen dieser Gruppe kommen mit unterschiedlichen (32-33) oder mit den gleichen Verben vor (Typ 11 in Tabelle 2a; das &-Zeichen steht für eine nebenordnende Konjunktion). Die weitere Untergliederung dieser Konstruktionen sollte auch den Grad der Selbstständigkeit der Verbformen berücksichtigen. Zum Beispiel enthält Typ 11 (il peut et doit chanter) eine unselbstständige und eine selbstständige Verbform, und ebenso verhält es sich mit den Typen 17 bis 19 (Tabelle 2b), während die Typen 12 bis 16 jeweils aus zwei selbstständigen Verbformen bestehen (die Tabelle 2a ist hier abgekürzt, eine ausführliche Fassung findet sich im Anhang). étaient hébergées - et - instruites Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 327 Gruppe B2 spanisch französisch deutsch 11. fin & fin inf 12. fin & fin par puede y debe cantar digo y he dicho siempre il peut et doit chanter je dis et j’ai toujours dit er kann und muss singen ich sage und habe immer gesagt ... 16. fin ger & fin ... estoy diciendo y diré ... ? ... ≠ ich sage gerade und werde sagen Tabelle 2a: Ein finites Verb in Koordination mit einer zusammengesetzten Verbform (s. Anhang, Tab. 13) Bezüglich der Typen mit Gerundium bzw. Präsenspartizip (Typen 13, 16, 19, cf. Anhang, Tabelle 13) ist daran zu erinnern, dass das französische Präsenspartizip mit aller im Gegensatz zum spanischen und italienischen Gerundium nur eingeschränkt verwendet wird; die Fügung gilt als archaisierend (Riegel et al. 2009: 452) bzw. literarisch (Cantera/ de Vicente 1994: 143) und dient „zur Bezeichnung eines immer weiter fortschreitenden Vorgangs“ (Reumuth/ Winkelmann 2005: 350): (34) fr. Les eaux allaient (en) décroissant (Dietrich 1996: 226) dt. Das Wasser ging weiter zurück. Gruppe B2 spanisch französisch deutsch 17. fin inf & inf 18. fin par & par 19. fin ger & ger ... sabe hablar y contar es analizado y valorizado se va ampliando y creciendo il sait parler et raconter il est analysé et évalué il va s’amplifiant et croissant er kann reden und erzählen es wird analysiert und bewertet ≠ es erweitert sich ständig und wächst weiterhin Tabelle 2b: Ein finites Verb mit zwei infiniten Formen (s. Anhang, Tab. 13) 2.4 Gruppe C Die Gruppe C wird von Komplexen aus drei oder mehr infiniten Verbformen ohne Koordination gebildet, die als sekundäre oder tertiäre Prädikate fungieren. Das ist der Fall in Beispiel 10 (s. oben) und in (35-36). In (10) Reinhard Kiesler 328 fungiert die Infinitivkonstruktion avoir pu si longtemps vivre sans elles als Kern des Präpositionalobjekts, in (35) bildet haberle podido dedicar den zweiten Teil der Subjektgruppe innerhalb des Objektsatzes que nos parece..., und in (36) fungieren die kursivierten Konstituenten jeweils als Kern des Subjektprädikativs. Die Konstruktionen dieser Gruppe sind offensichtlich bisher nirgends systematisch beschrieben. Tabelle 3 enthält wiederum nur einige Beispiele. (35) sp. Pero honrada e ingenuamente debemos confesar que nos parece nuestra mayor suerte el haber encontrado nuestro papel, esa tarea, relativamente pronto en la vida y haberle podido dedicar nuestros mejores años [...] (Corriente 1999: 10). dt. [...] und ihr (sc. dieser Aufgabe) unsere besten Jahre widmen gekonnt zu haben. (36) fr. [...] le mal dont je souffrais, c’était d’avoir été chassée du paradis de l’enfance [...] (MJF-fr: 316). sp. [...] el mal de que sufría era el de haber sido arrojada del paraíso del la infancia [...] (MJF-sp: 232). it. [...] il male di cui soffrivo era d’esser stata scacciata dal paradiso dell’infanzia [...] (MJF-it: 234). dt. Das Übel, an dem ich litt, bestand [...] darin, daß ich aus dem Paradies der Kindheit vertrieben war [...] (MJF-dt: 219). (37) sp. [...] cuando una persona acaba de echar las tripas por haberos estado divirtiendo [...] (JAR-sp: 281 = Typ 26). ≠ fr. [...] quand quelqu’un vient de rendre tripes et boyaux pour avoir voulu vous distraire [...] (JAR-fr: 359 = Typ 23). ≠ it. [...] una ha appena rovesciato pure le budella per avervi fatto divertire [...] (JAR-it: 275 = Typ 23). (Fehlt in dt. Übersetzung: ’wenn jemand sich gerade heftig übergeben hat, weil er euch unterhalten hat‘). Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 329 Gruppe C spanisch französisch deutsch 20. inf inf inf 21. inf par par poder empezar a trabajar haber sido cultivado pouvoir commencer à travailler avoir été cultivé anfangen können zu arbeiten kultiviert worden sein ... ... ... ... 28. ger inf par 29. ger par par debiendo ser sustituido habiendo sido ocupada devant être substitué ayant été occupée ersetzt werden müssend besetzt worden seiend ... Tabelle 3: Drei infinite Verbformen mit Subordination (s. Anhang, Tab. 14) 2.5 Gruppe D Die Gruppe D umfasst schließlich Komplexe aus drei oder mehr infiniten Verbformen mit Koordination; auch diese bilden sekundäre Prädikate und sind bisher nicht systematisch beschrieben. In (38) hat die Infinitivkonstruktion avoir vu... die Funktion des Präpositionalobjekts. (38) fr. Mais je ne me souvenais pas avoir vu ni croisé de Safrane en arrivant au Vieux-Moulin (CHO: 107). dt. Aber ich konnte mich nicht erinnern, einen Safrane gesehen zu haben oder einem begegnet zu sein, als ich bei der Alten Mühle ankam. Gruppe D spanisch französisch deutsch 31. inf inf & inf 32. inf par & par poder examinar y corregir después de haberlo examinado y corregido pouvoir examiner et corriger après l’avoir examiné et corrigé untersuchen und korrigieren können ≠ nachdem es untersucht und korrigiert worden war 33. ger inf & inf tratando de hacer y rehacer tâchant de faire et de refaire versuchend, zu tun und nochmals zu tun 34. inf & inf inf deber y poder analizar devoir et pouvoir analyser analysieren müssen und können ... Tabelle 4: Drei infinite Verbformen mit Koordination (s. Anhang, Tab. 15) Reinhard Kiesler 330 3 Verbalkomplexe im Übersetzungsvergleich Im Folgenden werden die romanischen Verbalkomplexe im Übersetzungsvergleich ihren deutschen Entsprechungen gegenübergestellt. Dazu wurden zwei Asterix-Bände mit ihren Übersetzungen verglichen, wobei grundsätzlich alle Verbalkomplexe berücksichtigt wurden - Einschränkungen ergeben sich u.a. aus den oben skizzierten Abgrenzungsproblemen. Weiter wurden Auszüge aus dem ersten Band der Memoiren von Simone de Beauvoir (MJF) und aus dem Roman El Jarama von Sánchez Ferlosio (JAR) herangezogen. In den folgenden Beispielen und Tabellen kennzeichnet der Pfeil („→“) jeweils die Übersetzungsrichtung. (39) fr. Si tu ne préparais pas ta potion dans une marmite, j’aurais pu participer à cette course... (AJeux-fr: 39). → sp. Si tú no prepararas la poción en una marmita, yo podía haber participado en esta carrera... (AJeux-sp: 39 = Typ 2). it. Se tu non avessi preparato la bevanda in una marmitta, avrei potuto partecipare anch’io alla corsa... (AJeux-it: 39). dt. Wenn du deinen Trank nicht in einem Topf brauen würdest, hätt [sic] ich bei dem Rennen mitmachen können (AJeux-dt: 39). In (39) wird der Verbalkomplex aurais pu participer (Typ 3) im Italienischen mit dem gleichen Typ wiedergegeben, im Spanischen durch Typ 2 und im Deutschen durch Typ 1. Das Spanische zeigt umgangssprachlichen Gebrauch des Indikativs Imperfekt anstelle des Konditionals II: sp. fam. podía haber participado neben der wörtlichen Übersetzung habría podido participar (cf. Kiesler 2013: 347). Tabelle 5 zeigt die insgesamt 15 Fälle aus AJeux im Überblick. Von zwölf Komplexen mit drei Verbformen werden im Spanischen und Italienischen nur jeweils sieben durch entsprechende Fügungen wiedergegeben - d.h. ebenfalls durch Komplexe aus drei Verbformen -, im Deutschen lediglich in einem Fall. Insgesamt selten wird ein einfacherer Verbalkomplex durch einen komplexeren wiedergegeben, so in Beispiel 40 (fr. zwei Verbformen → it. drei Verbformen) und Beispiel 41 (fr. eine Verbform → sp. drei Verbformen). 11 11 Die Nummern kommentierter Beispiele werden in den folgenden Tabellen in Klammern hinzugefügt. Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 331 AJeux fr. → sp. it. dt. Vf Fälle Vf Fälle Vf Fälle Vf Fälle 3 12 3 2 1 7 3 2 3 2 1 7 4 1 3 2 1 1 9 2 2 2 2 2 3 2 (40) 2 1 1 1 1 1 3 1 (41) 2 1 0 1 Tabelle 5: Verbalkomplexe mit drei Verbformen (Vf) in AJeux (40) fr. Comment allons-nous caser tout le monde sur le podium? (AJeux-fr: 47). → sp. ¿Cómo podremos colocarles a todos en el podium? (AJeux-sp: 47). it. Come faremo a farli stare tutti sul podio? (AJeux-it: 47). dt. Wie kriegen wir die nur alle aufs Podium? (AJeux-dt: 47). (41) fr. [...] et l’honneur qui lui échoit rejaillit sur nous tous! (AJeux-fr: 5). → sp. [...] y el honor que le ha sido concedido recae sobre todos nosotros (AJeux-sp: 5). it. [...] e l’onore che gli è toccato in sorte rifulge su tutti noi! (AJeux-it: 5). dt. [...] und der Glanz seines Ruhmes fällt auch auf uns zurück! (AJeuxdt: 5). Von den sechs Komplexen aus drei Verbformen in ANorm werden drei im Spanischen durch entsprechende Konstruktionen wiedergegeben, vier im Italienischen und nur zwei im Deutschen. Dagegen gibt es jeweils eine Entsprechung im Spanischen und Italienischen mit vier Verbformen (Beispiele 42-43). ANorm fr. → sp. it. dt. Vf Fälle Vf Fälle Vf Fälle Vf Fälle 3 6 4 3 2 1 (42) 3 2 4 3 2 1 (43) 4 1 3 2 2 4 2 6 3 2 2 4 3 2 3 3 3 2 1 2 3 1 1 3 3 2 2 1 3 1 1 2 2 1 2 1 Tabelle 6: Verbalkomplexe mit drei Verbformen in ANorm Reinhard Kiesler 332 (42) fr. J’ai vu et entendu les Gaulois [...] (ANorm-fr: 17). → sp. He visto y he oído a los galos [...] (ANorm-sp: 17). it. Ho visto e udito i galli [...] (ANorm-it: 17). dt. Ich hab’ die Gallier gesehen und gehört [...] (ANorm-dt: 17). (43) fr. Je ne sais pas ce qui a pu retarder Obélix [...] (ANorm-fr: 37). → sp. No sé qué puede haber retrasado a Obelix [...] (ANorm-sp: 37). it. Non capisco cosa può aver fatto ritardare Obelix [...] (ANorm-it: 37). dt. Ich weiß nicht, was Obelix aufgehalten haben könnte [...] (ANorm-dt: 37). In dem untersuchten Abschnitt aus MJF kommen 35 Komplexe mit drei Verbformen vor. Sie sind im Spanischen in allen 35 Fällen durch analoge Konstruktionen wiedergegeben, im Italienischen in 27 und im Deutschen in 24 Fällen (Tabelle 7). MJF fr. → sp. it. dt. Vf Fälle Vf Fälle Vf Fälle Vf Fälle 3 35 3 35 3 2 1 27 7 (44) 1 3 2 1 (45) 24 6 4 1 Tabelle 7: Verbalkomplexe mit drei Verbformen in MJF (3. Teil, exemplarisch untersucht) (44) fr. [...] qu’ainsi m’eût été donnée l’éclatante joie de nos retrouvailles (MJF-fr: 290). → sp. [...] que así me hubiera sido dada la deslumbrante alegría de nuestro reencuentro (MJF-sp: 213). it. [...] ci avesse data in tal modo la gioia radiosa di ritrovarci (MJF-it: 215). dt. [...] mir damit die strahlende Freude des Wiederfindens beschieden hatte (MJF-dt: 201). (45) fr. Garric avait fondé et dirigeait un mouvement [...] (MJF-fr: 240). → sp. Garric había fundado y dirigía un movimiento [...] (MJF-sp: 177). it. Garric era il fondatore e dirigente di un movimento [...] (MJF-it: 179). ≠ dt. Garric hatte die Bewegung [...] gegründet [...]; er stand dieser Bewegung auch weiter vor (MJF-dt: 167). In den Stichproben aus JAR kommen 21 Verbalkomplexe mit drei Verbformen vor. Sie sind lediglich neunmal durch entsprechende Fügungen im Französischen wiedergegeben, achtmal im Italienischen und nur sechsmal im Deutschen. Einmal findet sich als französische Entsprechung Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 333 ein Komplex mit vier Verbformen (46), achtmal kommen Konstruktionen mit zwei Verbformen vor (47). JAR sp. → fr. it. dt. Vf Fälle Vf Fälle Vf Fälle Vf Fälle 3 21 4 3 2 1 1 (46) 9 8 (47) 3 3 2 1 8 9 4 3 2 1 (fehlt) 6 10 1 4 Tabelle 8: Verbalkomplexe mit drei Verbformen in JAR (passim, exemplarisch untersucht) (46) sp. [...] pero igual podíamos estar enseñados de otra forma (JAR-sp: 47). → fr. [...] mais nous pourrions aussi bien avoir été éduqués autrement (JARfr: 67). it. [...] ma avrebbero potuto insegnarci diversamente (JAR-it: 49 = Typ 3). dt. Aber genauso gut hätte man uns das Gegenteil beibringen können (JAR-dt: 57). (47) sp. No es cuestión de lo que se vea o se deje de ver (JAR-sp: 8). → fr. La question n’est pas ce qui se voit ou ne se voit pas (JAR-fr: 16). it. Non si tratta di ciò che si vede o no (JAR-it: 10). dt. Es hat gar nichts mit dem zu tun, was man sieht oder nicht sieht (JAR-dt: 8). Der in (47) dargestellte spanische Typ scheint bisher kaum beschrieben worden zu sein; er ist weder in M (s.v. dejar) noch in Reumuth/ Winkelmann (2011) oder SGI (s.v. dejar) verzeichnet. Die spanische Akademie- Grammatik erwähnt ihn lediglich in zwei Sätzen. 12 12 Cf. „esta perífrasis posee una acepción como simple expresión de la negación: No me importa lo que sea ni lo que deje de ser (es decir, ’...lo que sea o lo que no sea’). En este uso enfático, la perífrasis permite atenuar una afirmación mediante un efecto de doble negación (lítote), por lo que no tiene cabida propiamente entre las perífrasis tempoaspectuales [...]“ (RAE 2009 II: 2115, § 28.2g). Mehr sagt die Akademie-Grammatik nicht zu diesem Typ. Es handelt sich offensichtlich um ein festes Schema, das allerdings nicht als „simple expresión de la negación“ funktioniert, sondern eben zur Hervorhebung bzw. Abschwächung dient. Wenn man in dem Beispiel der Akademie-Grammatik von Litotes sprechen kann, so gilt das offensichtlich nicht für alle Fälle, z.B. nicht für (47). Zu Abschwächung, Hervorhebung und Litotes cf. Kiesler (1989). Reinhard Kiesler 334 Insgesamt lässt sich zum Übersetzungsvergleich festhalten, dass Verbalkomplexe aus drei Verbformen oft durch solche aus weniger Verbformen übersetzt werden. Von den 53 französischen Komplexen aus drei Verbformen sind im Spanischen 45 durch Konstruktionen aus ebenfalls drei Verbformen übersetzt, im Italienischen 38 und im Deutschen lediglich 27 (Tabelle 5-7). Die 21 spanischen Komplexe aus drei Verbformen sind im Französischen neunmal, im Italienischen achtmal und im Deutschen sechsmal durch entsprechende Fügungen wiedergegeben (Tabelle 8). 4 Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend können wir festhalten, dass es in den romanischen Sprachen viele verschiedene Typen von Verbalkomplexen gibt, die bisher nur ungenügend beschrieben worden sind. Hier wurden 34 Typen unterschieden, die sich auf fünf Gruppen verteilen. Tabelle 9 gibt einen Überblick über die fünf Gruppen, die einzelnen Typen sind im Anhang zusammengestellt. Die weitere Untergliederung konnte lediglich angedeutet werden. spanisch französisch italienisch Gruppe A puede empezar a cantar il peut commencer à chanter può cominciare a cantare Gruppe B1 Gruppe B2 lo lee y complete puede y debe cantar il le lit et complète il peut et doit chanter lo legge e completa può e deve cantare Gruppe C poder empezar a cantar pouvoir commencer à chanter potere cominciare a cantare Gruppe D poder cantar y bailar pouvoir chanter et danser potere cantare e ballare Tabelle 9: Die fünf Gruppen von Verbalkomplexen Das Thema Verbalkomplex bietet noch viele spannende Fragen. Sie betreffen z.B. erstens die Abgrenzung von Vollverben und Hilfsverben, die für jeden einzelnen Fall zu entscheiden ist; zweitens betrifft das die stilistische Markierung, und zwar insbesondere bei manchen Typen koordinierter Hauptverben in der Gruppe B1. Drittens stellt sich die Frage der Häufigkeit. Verschiedene Stichproben deuten darauf hin, dass die einzel- Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 335 nen Typen in den romanischen Sprachen oft unterschiedlich gebräuchlich sind. sp. (JAR; Kiesler 2015b) fr. (CHO: 13-168) Typ Fälle Typ Fälle 3 fin par inf 49 3 fin par inf 80 2 fin inf par 22 4 fin par par 19 6 fin inf ger 17 1 fin inf inf 15 1 fin inf inf 14 2 fin inf par 1 5 fin par ger 11 Tabelle 10: Zur Häufigkeit der Verbalkomplextypen im Spanischen und Französischen In dem Roman El Jarama machen die fünf häufigsten Typen zusammen (113 Fälle) etwa zwei Drittel der 152 untersuchten Verbalkomplexe aus drei Verbformen aus (cf. Kiesler 2015b: 339-340). In einer ähnlichen Stichprobe aus dem französischen Roman Chourmo ist zwar wie im Spanischen der Typ 3 am häufigsten, die übrigen Typen unterscheiden sich dagegen ganz ausgeprägt in ihrer Häufigkeit (Tabelle 10). In Bezug auf den Typ 10 (cf. Anhang, Tabelle 12) finden sich in JAR 16 Fälle gegenüber lediglich vier in CHO. Für das Deutsche gilt nach der Dudengrammatik: Am häufigsten kommen in authentischer geschriebener und gesprochener Sprache zweiteilige Verbalkomplexe vor, die mit einem finiten Hilfsverb oder Modalverb gebildet sind. Dreiteilige Verbalkomplexe sind jedoch auch nicht selten (D4: § 654). Das trifft sicherlich ähnlich auf die romanischen Sprachen zu. So ist davon auszugehen, dass zweiteilige Verbalkomplexe grundsätzlich häufiger als solche mit drei Verbformen, und diese häufiger als solche mit vier Verbformen auftreten usw. Andererseits sind Komplexe aus vier und besonders aus fünf oder mehr Verbformen möglicherweise stilistisch markiert. Beispiel (48) würde ich allerdings als unmarkiert beschreiben; wir haben hier im Spanischen und Italienischen jeweils fünf Verbformen, im Französischen vier. Reinhard Kiesler 336 (48) Verbalkomplex mit fünf bzw. vier Verbformen: sp. Por eso se explica uno el que Alemania haya sido lo que ha sido y esté volviéndolo a ser [...] (JAR-sp: 148). fr. Alors on s’explique que l’Allemagne ait été ce qu’elle a été et qu’elle soit en train de le redevenir [...] (JAR-fr: 192). it. Cosí ci si spiega che la Germania è stata quello che è stata e sta tornando a esserlo [...] (JAR-it: 146). (fehlt in dt. Übersetzung: ‘So kann man sich erklären, dass Deutschland gewesen ist, was es gewesen ist, und dabei ist, es wieder zu werden‘). Viertens scheinen Verbalkomplexe mit koordinierten finiten Formen bisher kaum beschrieben zu sein. Weitere offene Fragen betreffen die Subtypen und die Strukturen der Verbalkomplexe; zu der Frage der Verzweigungsrichtung cf. für das Spanische Zagona (1988: 10-11 und pass.), für das Deutsche Zifonun et al. (1997: 1238-1247, 1675-1680). Was den Übersetzungsvergleich betrifft, so zeigen die Zahlen in den Tabellen 1-4 weniger Verbalkomplexe im Deutschen als in den romanischen Sprachen - außer bei den koordinierten Komplexen. Freilich sind diese Zahlen wie auch diejenigen in den Tabellen 5-8 nicht aussagekräftig, sie deuten aber auf eine höhere Anzahl an Verbalkomplexen im Romanischen als im Deutschen hin. Das hängt zweifellos damit zusammen, dass es im Deutschen generell weniger Verbalperiphrasen gibt (Wandruszka 1969: 54-56). Offensichtlich existiert in Europa bezüglich der Verbalperiphrasen ein West-Ost-Gefälle, d.h. dass die romanischen Sprachen mehr Verbalperiphrasen kennen als die germanischen, und diese mehr als die slawischen Sprachen. Das könnte die Vermutung nahelegen, dass auch die Verbalkomplexe typisch für die romanischen Sprachen sind. Bezüglich der Frage der Übersetzungsäquivalenz können wir mit Wandruszka von „zufällig verschiedenen Formen mit approximativ äquivalenter Funktion“ (id.: 56) sprechen, genauer von verschiedenen Formen mit Bezeichnungsgleichheit. Wenn Komplexe aus drei Verbformen durch solche aus zwei Formen übersetzt werden, ist die Bedeutung jeweils unterschiedlich: In Beispiel (13) haben fr. il devrait être marié und it. dovrebbe sposarsi verschiedene Bedeutungen. So können bei der Übersetzung immer wieder Nuancen verloren gehen, auch wenn die denotative Bedeutung erhalten bleibt. Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 337 Bibliographie Primärtexte und Übersetzungen AJeux-dt = Goscinny, René/ Uderzo, Albert (2013 [ 1 1972]): Asterix bei den Olympischen Spielen, dt. Übersetzung von Gudrun Penndorf, Berlin, Egmont Ehapa. AJeux-fr = Goscinny, René/ Uderzo, Albert (1999 [ 1 1968]): Astérix aux Jeux Olympiques, Paris, Hachette. 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Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 341 Anhang: Verbalkomplexe mit drei Verbformen im Spanischen, Französischen, Italienischen und Deutschen deutsch er kann anfangen zu singen er muss gesungen haben er hat singen können es ist gesungen worden ≠ sie hat sich ausgedehnt ≠ er kann weiter wachsen ≠ er fängt gerade an zu singen ≠ es wurde gesungen ≠ er ist weiterhin am Singen italienisch può cominciare a cantare deve aver cantato ha potuto cantare è stata cantata fam. sono stato cantando può stare cantando sta cominciando a cantare stava essendo cantata ? französisch il peut commencer à chanter il doit avoir chanté il a pu chanter elle a été chantée elle est allée s’amplifiant il peut aller croissant spanisch puede empezar a cantar debe de haber cantado ha podido cantar ha sido cantada he estado cantando puede estar cantando está empezando a cantar estaba siendo cantada ? continúa estando cantando Gruppe A 1. fin inf inf 2. fin inf par 3. fin par inf 4. fin par par 5. fin par ger 6. fin inf ger 7. fin ger inf 8. fin ger par 9. fin ger ger Tabelle 11: Ein finites Verb mit zwei infiniten Formen (nach Kiesler 2010: 355; „ger“ = Gerundium bzw. Präsenspartizip, „≠“ = anderer Konstruktionstyp) Reinhard Kiesler 342 deutsch ich gehe her und V er kauft und verkauft Bücher bestätigen und erklären oder entkräften eine Hypothese ... italienisch prendo e V compra e vende libri confermano e spiegano o infirmano una ipotesi ... französisch ? il achète et vend des livres ils confirment et expliquent ou infirment une hypothèse ... spanisch tomo y V compra y vende libros confirman y explican o infirman una hipótesis ... Gruppe B1 10. fin & fin (& fin) Tabelle 12: Zwei oder mehr koordinierte finite Verben Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 343 deutsch er kann und muss singen ich sage und habe immer gesagt ≠ er wächst und wird weiter wachsen ich kann versprechen und verspreche sie haben gehabt und haben noch ≠ ich sage gerade und werde sagen er kann reden und erzählen es wird analysiert und bewertet ≠ es erweitert sich ständig und wächst weiterhin italienisch può e deve cantare dico e ho sempre detto ? posso promettere e prometto hanno avuto e hanno ancora sto dicendo e dirò sa parlare e raccontare viene analizzato e valutato si va amplificando e crescendo französisch il peut et doit chanter je dis et j´ai toujours dit il croît et ira croissant je peux promettre et je promets ils ont eu et ont toujours ? il sait parler et raconter il est analysé et évalué il va s´amplifiant et croissant spanisch puede y debe cantar digo y he dicho siempre canto y seguiré cantando puedo prometer y prometo han tenido y tienen aún estoy diciendo y diré sabe hablar y contar es analizado y valorizado se va ampliando y creciendo Gruppe B2 11. fin & fin inf 12. fin & fin par 13. fin & fin ger 14. fin inf & fin 15. fin par & fin 16. fin ger & fin 17. fin inf & inf 18. fin par & par 19. fin ger & ger Tabelle 13: Zwei oder mehr koordinierte finite Verben, ein finites Verb in Koordination mit einer zusammengesetzten Verbform, ein finites Verb mit zwei infiniten Formen Reinhard Kiesler 344 deutsch anfangen können zu arbeiten kultiviert worden sein gesagt haben können verfügt haben können ≠ weiter wachsen können ≠ gerade anfangen zu singen ? zu etablieren versucht habend ersetzt werden müssend besetzt worden seiend ? italienisch poter cominciare a lavorare essere stato coltivato poter aver detto avere potuto disporre potere andare crescendo (? ) stare cominciando a cantare ? avendo cercato di stabilire dovendo essere sostituito essendo stata occupata ? französisch pouvoir commencer à travailler avoir été cultivé devoir être dit avoir pu disposer pouvoir aller croissant ? ? ayant tâché d’établir devant être substitué ayant été occupée ? spanisch poder empezar a trabajar haber sido cultivado poder haber dicho haber podido disponer poder seguir creciendo estar empezando a cantar haber estado divirtiendo habiendo intentado establecer debiendo ser sustituido habiendo sido ocupada habiendo ido cantando (? ) Gruppe C 20. inf inf inf 21. inf par par 22. inf inf par 23. inf par inf 24. inf inf ger 25. inf ger inf 26. inf par ger 27. ger par inf 28. ger inf par 29. ger par par 30. ger par ger Tabelle 14: Drei infinite Verbformen mit Subordination Verbalkomplexe im romanisch-deutschen Übersetzungsvergleich 345 deutsch untersuchen und korrigieren können ≠ nachdem es untersucht und korrigiert worden war versuchend, zu tun und nochmals zu tun analysieren müssen und können italienisch potere esaminare e correggere dopo averlo esaminato e corretto cercando di fare e di rifare dovere e potere analizzare französisch pouvoir examiner et corriger après l’avoir examiné et corrigé tâchant de faire et de refaire devoir et pouvoir analyser spanisch poder examinar y corregir después de haberlo examinado y corregido tratando de hacer y rehacer deber y poder analizar Gruppe D 31. inf inf & inf 32. inf par & par 33. ger inf & inf 34. inf & inf inf … Tab. 15: Drei infinite Verbformen mit Koordination Holger Wochele Interlinguale Allonymie und die Übersetzbarkeit von Eigennamen − ein Vergleich Romania vs. deutschsprachiger Raum 1 Einleitung Die Übersetzbarkeit von Eigennamen ist innerhalb der Namenkunde ein seit langem umstrittener Gegenstand; denn für viele Namenkundler stellt die Nichtübersetzbarkeit der Eigennamen geradezu ein Unterscheidungsmerkmal zu den Appellativen dar. Wie im ersten Teil des Beitrags gezeigt werden soll, ist dieses Postulat der prinzipiellen Unübersetzbarkeit fraglich. Anschließend soll dann auf einen sehr häufigen Fall von so genannter interlingualer Allonymie eingegangen werden, nämlich auf Ortsnamen, die in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Formen haben. Auf diese beiden theoretischen Kapitel folgt ein relativ umfangreicher empirischer Teil, der Ergebnisse verschiedener Teilstudien präsentiert, in denen die Namenverwendung in verschiedenen sprachlichen Kontexten untersucht wurde. Der Beitrag endet mit einer Schlussbetrachtung, die die empirisch ermittelten Ergebnisse bewertet. 2 Zur Übersetzbarkeit von Eigennamen Unbestritten ist in der Namenforschung, dass Formen von Namen von einer Sprache zur anderen variieren können, wenn man beispielsweise an die Formen rum. Bucureşti und dt. Bukarest denkt. Gegenstand von Diskussionen ist aber die Frage, wie diese Formverschiedenheit benannt werden soll; denn solche Formverschiedenheiten stellen statistisch betrachtet eher die Ausnahme denn die Regel dar und treten nicht systematisch auf. Beispielsweise haben fast alle italienischen Toponyme keine Entsprechung im Deutschen (Amalfi, Cagliari, Frosinone usw.); in etymologischer Hinsicht dürfte den Familiennamen Rossi und Roth in den meisten Fällen dieselbe Motivation (Übernamen einer Person) zu Grunde liegen; gleichwohl bleibt im Sprachgebrauch Mario Rossi auch im Deutschen Mario Ros- Holger Wochele 348 si. 1 Diese auf die Gesamtheit des Onomastikons bezogene seltene Formverschiedenheit von Namen in zwei oder mehreren Sprachen wird nun häufig als interlinguale Allonymie bezeichnet (cf. Back 2002). So argumentieren Nübling et al. (2012: 42) in ihrer Einführung in die Namenkunde: Namen [sind] prinzipiell unübersetzbar, selbst transparente. [...] Unter Übersetzung fällt nicht das Phänomen der interlingualen Allonymie (Back 1991). Hier handelt es sich um ein und denselben Namen, der in verschiedenen Sprachen (oder Dialekten) unterschiedlich lautet und/ oder geschrieben wird, also verschiedene Äquivalente aufweist. Gleichwohl gibt es Forscher, die bezüglich der unstrittigen Formverschiedenheit von Eigennamen sehr wohl von Übersetzungen sprechen. Vaxelaire (2005) geht sogar so weit, das Postulat der Unübersetzbarkeit von Eigennamen zu den „idées reçues“ in Bezug auf Eigennamen zu zählen. In seinem catalogue des idées reçues über Eigennamen schreibt er: Il existe un consensus (presque) général sur le fait que les noms propres ne se traduisent pas. [...] L’idée que certains noms propres puissent être traduits a toutefois quelques soutiens (Vaxelaire 2005: 99-101). Er vergleicht diese angebliche Unmöglichkeit mit der Unmöglichkeit, Poesie zu übersetzen: Meschonnic écrit que „la poésie-intraduisible“, c’est maintenant un truisme. Pourtant l’histoire de la traduction montre son inanité. [...] On pourrait avancer les mêmes arguments pour le nom propre. Il est impossible de bâtir une quelconque théorie à partir de cette notion d’intraduisibilité, puisque les pratiques varient selon les époques et les cultures et qu’il existe encore aujourd’hui des milliers d’exemples de noms propres qui se traduisent en français (Vaxelaire 2005: 101). Auch Vaxelaire (2011) argumentiert in eine ähnliche Richtung. Im Hinblick auf die Namenverwendung scheint der Standpunkt von Vaxelaire plausibler und praktikabler als die immer wieder postulierte Unübersetzbarkeit von Eigennamen (s. auch Grass 2002 und 2006). Gleichwohl soll es in diesem Beitrag jedoch nicht um die Benennung des Phänomens der Formverschiedenheit von Eigennamen gehen, sondern der Frage nachgegangen werden, wo und wie sich diese interlinguale Allonymie manifestiert. Die sprachbedingte Verschiedenheit von Ortsnamen dürfte sicherlich das prominenteste und am besten untersuchte Phänomen von interlingualer Allonymie sein. Dennoch lässt sie sich auch in anderen Namen- 1 It. Martin Lutero für Martin Luther stellt eine Ausnahme dar. Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 349 klassen beobachten. So heißt der gegenwärtige Papst im Deutschen Franziskus, französisch: François, italienisch: Francesco, spanisch: Francisco, rumänisch: Francisc, ungarisch: Ferenc, slowakisch: František usw. 2 Auffällig ist dagegen, dass die Namen von gegenwärtig regierenden Monarchen nicht mehr übersetzt werden: Der ehemalige König von Spanien war Juan Carlos; gegenwärtig regiert sein im Deutschen in der Regel als Felipe VI. bezeichneter Sohn. Dies steht im Gegensatz zu seinen homonymen Vorgängern, denn diese erscheinen in Geschichtsbüchern und Enzyklopädien im Deutschen, so auch in Wikipedia, als Philipp I. (1478-1506) bis Philipp V. (1683-1746). 3 Weiters ist an Institutionsnamen als Subklasse der Ergonyme zu denken, die in der Regel übersetzt werden: frz. Organisation des Nations Unies, dt. Vereinte Nationen; frz. Banque centrale européenne, dt. Europäische Zentralbank. Institutionsnamen sind keine prototypischen Namen (cf. Nübling et al. 2012: 100), hier gelingt die Übersetzung besonders leicht, da sie meist aus Appellativen gebildet sind. Auch bei Firmennamen bzw. Unternehmensnamen (Kentucky Fried Chicken vs. Poulet frit Kentucky in Kanada) und bei Produktbzw. Markennamen (Langnese [Deutschland] vs. Algida [Italien, Ungarn] vs. Miko [Frankreich] vs. Eskimo [Österreich]) können Variationen auftreten; diese werden dann aber absichtlich, als Teil einer bestimmten Marketingstrategie, in einem anderen Staat, Teilstaat oder Sprachgebiet verschieden benannt. Weiters gibt es bei Praxonymen (Ereignisnamen) sowohl wörtliche Übersetzungen der zugrunde liegenden Appellative als auch Äquivalente, die nicht mehr Resultat eines Übersetzungsprozesses sind. Beispiel für den ersten Typ wäre dt. Erster Weltkrieg vs. frz. Première guerre mondiale, während folgende militärische Ereignisse toponymisch verschieden verortet werden: Zweite Schlacht bei Höchstädt vs. engl. Battle of Blenheim (13.08.1704) Schlacht bei Großgörschen vs. frz. bataille de Lützen (02.05.1813) Schlacht bei Königgrätz vs. frz. bataille de Sadowa (03.07.1866) Schlussendlich wäre an eine weitere Subklasse der Ergonyme, nämlich an Film-, Opern- und Büchertitel zu denken, deren sprachbedingte Verschie- 2 Nicht eingegangen wird hier auf die politisch motivierte administrative Zwangsänderung von Personennamen (für Südtirol, cf. Kramer 2008: 141-148; für Triest und Istrien: cf. Parovel 1993; vergleichend: cf. Dahmen/ Kramer 2002), da hier eine Namensform durch eine andere ersetzt wurde; infolgedessen kann allenfalls in diachroner Perspektive von Allonymie gesprochen werden. 3 Cf. Wiki-dt, s.v. Liste der Herrscher namens Philipp. Holger Wochele 350 denheit Schubert (2004) als Ergebnis von „Techniken interkulturellen Transfers“ bezeichnet. Die Praxis der Übersetzung kann wie oben gezeigt als kulturelle Praxis von Sprachraum zu Sprachraum variieren: New York heißt auf Deutsch, Rumänisch, Französisch und Italienisch New York - die Form Nuova York im Italienischen ist veraltet; demgegenüber gibt es katalanisch Nova York, kastilisch Nueva York und portugiesisch Nova Iorque (cf. Vaxelaire 2006: 726). Dazu bemerkt Johannes Kramer in einem erstmals 1998 veröffentlichten Beitrag: Es gibt Sprachen, die fremde Namen meistens in der Originalform belassen, und andere Sprachen, die Adaptationen bevorzugen; diese Haltung kann im Laufe der Geschichte auch wechseln [...] Die lateinische Vorliebe für die Adaptation fremder Namen wurde von den romanischen Sprachen ererbt, natürlich im stärksten Maße von der dem Lateinischen am ähnlichsten gebliebenen Sprache, also vom Italienischen. Das Italienische dürfte wohl die europäische Sprache sein, die im weitesten Umfang Exonyme verwendet (Kramer 2008: 100-101). Diese Praxis kann aber auch innerhalb desselben Sprachraums variieren: Während Nantzig für die französische Stadt Nancy in Deutschland und Österreich ungebräuchlich ist, wird diese Form in Luxemburg verwendet. 4 Die Marke Langnese ist auf dem österreichischen Markt als Eskimo, auf dem Schweizer Markt als Lusso präsent. Schon erwähnt wurde auch, dass aufgrund gesetzlicher Bestimmungen die Schnellrestaurantkette Kentucky Fried Chicken in Quebec als Poulet Frit Kentucky am Markt ist, während im Rest Kanadas und auch in Frankreich der englische Name verwendet wird. Vaxelaire (2006: 727) erwähnt Titel englischer Filme, die in Frankreich unübersetzt blieben (The Man Who Cried), in Quebec dagegen übersetzt oder adaptiert wurden: L’homme qui pleurait. 5 Natürlich kann argumentiert werden, dass der erste Fall (Nantzig) Ergebnis des sich der bewussten menschlichen Kontrolle entziehenden Sprachwandels ist, während Unternehmensnamen und Filmtitel bewusste Kreationen sind, die durch die Sprachgemeinschaft akzeptiert werden oder auch nicht. Wenn im Folgenden vor allem auf die Formverschiedenheit von Toponymen eingegangen wird, ist es notwendig, auch die Begriffe Exonym und Endonym zu definieren. Back (2002) arbeitet in diesem Zusammenhang 4 Hinweis von Johannes Kramer im Anschluss an die mündliche Präsentation am 20.06.2014 in Münster. 5 Er berichtet in diesem Zusammenhang sogar von dem kuriosen Fall der englischen Rockband Rolling Stones, deren Name ins Hebräische übersetzt wurde. Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 351 mit dem Begriff der „sprachlichen Umgebung“ und schlägt eine flexible Definition vor, die auch zahlreichen Grenz- und Übergangsfällen Rechnung trägt, was insbesondere bei diachroner Betrachtung erforderlich ist. So wäre 1914 die Namensform Pressburg für die slowakische Hauptstadt Bratislava angesichts der Präsenz deutschsprachiger Bevölkerung als Endonym zu betrachten, 2016 ist diese Form jedoch ein Exonym. Dass man unter diesen Umständen frz. Cologne für Köln nicht als Exonym betrachten soll, da die Stadt einmal französisch war („car la ville fut française“, cf. Wiki-fr, s.v. Exonymie) scheint eine gewagte Argumentation zu sein. Die UNGEGN-Arbeitsgruppe zu Exonymen definiert den Begriff Endonym folgendermaßen (zitiert nach Jordan 2011: 10): Name of a geographical feature in an official or well-established language occurring in that area where the feature is situated. So wäre die Form Wien das Endonym für die österreichische Hauptstadt, Milano das Endonym für die Hauptstadt der Lombardei, Bratislava für die Hauptstadt der Slowakei. Zeitlich schon früher wurde der antonymische Begriff Exonym geprägt, da offenbar das, was von der Norm abweicht, eher die Aufmerksamkeit erregt als die der Umgebungssprache konformen Endonyme. Der Begriff geht auf den australisch-britischen Geografen Marcel Aurousseau zurück (Aurousseau 1957: 17) 6 und setzte sich rasch in den Texten der Vereinten Nationen durch (so Jordan 2000: 54): Name used in a specific language for a geographical feature situated outside the area where that language is widely spoken, and differing in its form from the respective endonym(s) in the area where the geographical feature is situated (zitiert nach Jordan 2011: 10). So wäre die Form Vienna das italienische Exonym für Wien, die Namensform Mailand das deutsche Exonym für Milano und Pressburg/ Pozsony Exonyme für die slowakische Hauptstadt Bratislava. Unberücksichtigt müssen hier die verschiedenen Typologien von Endonym-Exonym-Beziehungen bleiben, die Back (2002: 48-62) ausführlich erläutert, und die auch von Schäfer-Prieß (2007: 136-141) aufgegriffen und erweitert werden. Gleichfalls unberücksichtigt bleibt hier der besondere Fall von im 20. Jahrhundert vorgenommenen, systematischen Umbenennungen von Geonymen in ganzen Regionen 7 . 6 „[...] names used in English for other parts of the world and for places and geographical features outside England. These I shall call ‘English geographical names‘, or, for those who prefer jargon, ‘English exonyms‘“ (zitiert nach Back 2002: 47). 7 Für das prominenteste Beispiel Südtirol cf. Kramer (2008: passim); zur Italianisierung slawischer Toponyme cf. Parovel (1993), für Böhmen die sorgfältig dokumen- Holger Wochele 352 Die Vereinten Nationen empfehlen einerseits die Reduzierung des Exonymengebrauchs im internationalen Kontext - wobei die gerade im Flugverkehr übliche Verwendung englischer Exonyme in deutlichem Gegensatz zu dieser Empfehlung steht: Naples, Vienna oder Munich anstatt Napoli, Wien, München. Andererseits weisen die Vereinten Nationen auch eindeutig darauf hin (zit. nach Harnisch 2008: 19), dass Exonyme als Teil des geografischen Namengutes der jeweiligen Muttersprache angehören und als unverzichtbare Elemente der Verständigung unter den diese Sprache sprechenden Menschen dienen. Exonyme finden ihre Anknüpfung und ihren Bezug deshalb nicht allein im ausländischen Objekt und dessen amtlicher Bezeichnung, sondern auch im Bildungsgut und im Geschichtsverständnis der eigenen inländischen Sprachgemeinschaft. Es liegt also bisweilen ein Konflikt zwischen Standardisierung einerseits und dem Recht auf eigensprachliche Namen andererseits vor. Insbesondere gilt dies für die Fälle, die im mittleren Bereich eines Kontinuums anzusiedeln wären, das sich zwischen fast standardmäßig gebräuchlichen Exonymen und synchron fast völlig ungebräuchlichen Exonymen situiert. Einige Beispiele sollen dies illustrieren. Für die italienische, russische oder rumänische Hauptstadt wird in einem deutschen Text gegenwärtig so gut wie nie das Endonym, sondern fast immer das Exonym verwendet: „Die Regierung in Rom, Moskau, Bukarest hat beschlossen, dass...“, und nicht: *„Die Regierung in Roma, Bucureşti, Moskva (Москва) hat beschlossen, dass...“. Ähnlich dürfte es im Italienischen mit Mosca und Bucarest und im Französischen mit Moscou, Bucarest bzw. Rome liegen. Auf der anderen Seite des Kontinuums finden wir gänzlich vergessene deutsche Exonyme für beispielsweise Ostfrankreich 8 wie Bisanz für Besançon, Dision für Dijon (it. Digione), Beffert für Belfort oder Mömpelgard für Montbéliard. Auch für Oberitalien lassen sich eine Reihe heutzutage ungebräuchlicher Exonyme für Siedlungen und Flüsse anführen wie Weiden für Udine, Bern für Verona, Wiesenthein für Vicenza, Raben für Ravenna und Pfad für das Hydronym Po. Bernhard (2009) spricht hier von „deutschen Reliktnamen“, die auch Italianisten an der Ruhr-Universität Bochum nicht vertraut waren, wie er in einer Umfrage ermitteln konnte. Er berichtet übrigens auch von spontaner Verwendung der italienischen Endonyme tierte Doktorarbeit von Lehmann (1999), zur Polonisierung deutscher Toponomastik Kramer (2008: 99-118). 8 Cf. hierzu den Artikel von Dirk Schümer in der FAZ vom 22.01.2013: „Auf nach Prömsel [Przemyśl in Ostpolen, H.W.]“, in dem der Autor ironisch über die Verwendung gänzlich ungebräuchlicher deutscher Exonyme auf dem iPad von Apple berichtet. Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 353 im deutschen Kontext wie Firenze, Genova oder Padova. Auch die Verzeichnisse von Rudolf/ Zimmermann (1986) und Wildner (1996) enthalten vollständige Listen ungarischer und deutscher Namensformen von Geonymen auf dem Gebiet der heutigen Slowakei; viele davon fallen in die eben genannte Kategorie synchron ungebräuchlicher Exonyme. Im Zentrum der hier vorgestellten empirischen Untersuchung steht jedoch die „mittlere“ Kategorie, gewissermaßen die Grauzone im Zentrum des Kontinuums zwischen „absolut gebräuchlich“ (wie Rom) und „absolut ungebräuchlich“ (wie Beffert). Hier kann auch auf den Vorschlag von Stani-Fertl (2005: 121-132) verwiesen werden, der zur „systematischen Ermittlung des Exonymengebrauchs“ vier Typen der Exonymenverwendung unterscheiden möchte, nämlich: ‘empfohlen‘, ‘möglich‘, ‘unnötig‘, ‘unangebracht‘. In der Kategorie ‘möglich‘ wäre die Verwendung der weiter unten untersuchten Exonyme einzuordnen. Die von Stani-Fertl vorgeschlagene Typologisierung würde aber die Beantwortung eines Frageschemas mit einer Gewichtungstabelle voraussetzen (Kriterien wie Abhängigkeit vom Publikationstyp, Zielpublikum u.a.), das wiederum auf eine Reihe von Kriterien des Gebrauchs (objektabhängige und objektunabhängige) Bezug nimmt. Aus Platzgründen kann hierauf nicht genauer eingegangen werden. 3 Argumente für und gegen den Gebrauch von Exonymen bzw. Endonymen Zunächst soll nun in Anlehnung an Back (2002: 71-77) aufgezeigt werden, welche Argumente für und welche Argumente gegen die Verwendung von Exonymen sprechen. Das Argument des „Sprachrechts“ spricht für eine Verwendung von Exonymen, denn jede Sprache hat ein Recht auf ihren eigenen Wortschatz, das sich aus Lexikon und Onomastikon zusammensetzt; Exonyme sind Teil des Onomastikons, was auch ein (theoretisches) Recht auf die Schaffung neuer Exonyme impliziert. In dieser Betrachtungsweise erweisen sich Aussagen wie „Sopron, das ehemalige Ödenburg“ irreführend, denn es geht hier nicht um den Gegensatz ‘alt‘ vs. ‘neu‘ sondern um zwei verschiedene Namensformen. Im Gegensatz dazu steht das Argument des „Namenträgerrechts“, das für eine Verwendung des/ eines Endonyms spräche: nur die offizielle, heute gültige Form ist die „richtige“ und zu verwendende Form. In dieser Perspektive sind Aussagen wie „Bratislava, das ehemalige Pressburg“ zutreffend. Holger Wochele 354 Fünf weitere Argumente werden von Back (2002) bzw. Jordan (2000) angeführt, die den Gebrauch von Exonymen rechtfertigen: Exonyme sind Teil des „Bildungsgutes“ einer Sprachgemeinschaft; das Vorhandensein einer allonymen Form illustriert die geschichtlichen Verbindungen zwischen der Sprachgemeinschaft des Exonyms und der sprachlichen Umgebung des Namenträgers. Das Argument der „Bedeutsamkeit“ besagt, dass es im Grunde genommen für den Namenträger „schmeichelhaft“ ist, wenn er als so bedeutsam wahrgenommen wird, dass ihm eine eigene Namensform zukommt. Hinsichtlich der sprachlichen Strukturgerechtigkeit lässt sich zweitens argumentieren, dass Exonyme sich artikulatorisch und graphisch besser in die außenstehende Sprache fügen. Zahlreiche falsche Graphien (falsch gesetzte oder gänzlich fehlende diakritische Zeichen; cf. unten) in Zeitungen bzw. Aussprachefehler in Radio und Fernsehen belegen diese mangelnde Strukturgerechtigkeit bzw. den geringen Aufwand, der zur korrekten Aussprache bzw. Schreibung von Endonymen oft betrieben wird. Besonders augenfällig lässt sich dies mit den Namenpaaren Sighişoara (Rumänien)/ Schäßburg, Jindřichův Hradec (Tschechien)/ Neuhaus und Székesfehérvár (Ungarn)/ Stuhlweißenburg illustrieren. Drittens wird von Jordan (2000: 62-63) die Derivationsfähigkeit von Exonymen gegenüber Endonymen in Betracht gezogen: Von Exonymen lassen sich leichter deonymische Bildungen ableiten: Pressburger vs. Bratislavaer. Weiters erweisen sich Exonyme in manchen Fällen als stabiler als die jeweiligen offiziell gültigen Formen, die unter den Endonymen ausgewählt werden: So hieß die Hauptstadt Galiziens im 20. Jahrhundert dt. Lemberg, poln. Lwow, russisch L’vov und heute ukrainisch L’viv. In eine andere Kategorie fallen ausdrückliche amtliche Umbenennungen wie St. Petersburg über Petrograd zu Leningrad und zurück bzw. Pressburg/ Pozsony/ Prežporok zu Bratislava. Schlussendlich kann - gerade in Fällen, wo der Endonymengebrauch unüblich ist - dessen Verwendung durch einen Sprecher übertriebene Weltgewandtheit oder demonstrativ zur Schau gestellte „Vertrautheit mit fremden Ländern und Sprachen“ (Back 2002: 69) konnotieren, was etwa der Fall wäre, wenn in einem deutschen Text Roma und Moskva statt der üblichen Exonyme Rom und Moskau verwendet würden. Umgekehrt sprechen jedoch zahlreiche Argumente für die Verwendung der Endonyme. Zunächst einmal wird das Gedächtnis - gemäß dem Argument der „Einfachheit“ und Eindeutigkeit - entlastet; Straßenschilder und Fahrpläne werden durch die ausschließliche Verwendung einer, Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 355 nämlich der endonymischen Namensform leichter lesbar. 9 Denkt man jedoch an zweibzw. mehrsprachige Gebiete (Lausitz, Südtirol), in denen mehrere endonymische Namensformen koexistieren, wird klar, dass nicht in jedem Fall für die Mehrnamigkeit geografischer Objekte so einfach eine „Lösung“ gefunden werden kann (s. auch Back 2002: 86). Weiters kann die Exonymenverwendung auch als Ausdruck eines Anspruchs seitens einer anderen Sprachgemeinschaft L/ x auf das betreffende geografische Objekt interpretiert werden. Insbesondere Staaten, die ihren territorialen Besitzstand von außen her in Frage gestellt glauben, legen oftmals sichtlich Wert darauf, dass für Orte ihres Staatsgebiets das Endonym gerade in solchen (außenliegenden) Sprachen L/ x verwendet werde, aus deren Richtung eine Bedrohung vermutet wird (Back 2002: 75). In manchen Fällen kann daher die Verwendung der Exonyme für geografische Objekte innerhalb eines Sprachgebiets L/ y nicht nur als nostalgische Erinnerung, sondern als politische oder nationale Inanspruchnahme oder sogar als Rückgabeforderung gedeutet werden. Oder, wenn man diesen Gedankengang fortsetzt, die Verwendung bestimmter Exonyme wird in der Sprachgemeinschaft L/ x selbst schon gebrandmarkt, da sie als revanchistische politische Stellungnahme betrachtet wird. Es kommt zu einer pragmatischen Remotivierung der Exonymenverwendung (Harnisch 2008), worauf im letzten Absatz des Beitrags genauer eingegangen wird. Aus der Perspektive der politischen Korrektheit wird infolgedessen auf die Verwendung bestimmter Exonyme verzichtet. Hierzu konstatiert Back an anderer Stelle: Vielfach geht eine solche Entwicklung einher mit einer Ächtung von Exonymen im Zeichen nationalstaatlicher Ideologie. Auf diese Weise gerät die exonymenbenützende außenliegende Sprachgemeinschaft L/ x unter einen Druck vonseiten der Sprachgemeinschaft der sprachlichen Umgebung L/ n der namentragenden Objekte zugunsten der Endonyme und zuungunsten der Exonyme (Back 2002: 69). Der Kuriosität halber sei erwähnt, dass in Einzelfällen, die argumentativ in der gerade erwähnten letzten Kategorie zu verorten sein dürften, in außenstehenden Sprachgemeinschaften die Verwendung der endonymischen Form des Staatennamens erzwungen werden soll. Vaxelaire (2006: 734) berichtet darüber im Bezug auf Myanmar; Back (2002: 99) erwähnt 9 Ein interessanter Beitrag zur Aufstellung zweisprachiger Straßenschilder ist Germain (2009). Er zitiert auch eine englische Untersuchung, derzufolge die - häufig als verwirrend kritisierten - zweisprachigen Verkehrsschilder keine negative Auswirkung auf das Fahrverhalten haben (Germain 2009: 452). Holger Wochele 356 eine Note einer Botschaft der Republik Elfenbeinküste aus dem Jahr 1987 (Côte d‘Ivoire): [...] conformément à une décision du Gouvernement ivoirien, la traduction du nom Côte d’Ivoire n’est plus de mise. Cette décision vise à mettre fin à la pluralité de noms à laquelle aboutit la traduction du nom Côte d’Ivoire dans différentes langues. Elle est fondée sur le droit exclusif de chaque peuple de choisir le nom de son pays et l’obligation qui incombe aux autres peuples de respecter ce choix. Boia (2002: 201) referiert schlussendlich die nationalistisch motivierten Anstrengungen rumänischer Beamter zur Ceauşescu-Zeit, die im Englischen die Form Romania mit o durchsetzen (rum.: România) und einen Verzicht auf die alternative Form Rumania erzwingen wollten. 4 Empirische Untersuchungen zur Praxis der interlingualen Allonymie Wie erwähnt variiert die Verwendung von Exonymen nicht nur innerhalb einer Sprachgemeinschaft zu verschiedenen Zeitpunkten, sondern auch von Sprache zu Sprache. Tendenziell ist gleichwohl allenthalben ein unterschiedlich schnell verlaufendes Schwinden des Gebrauchs von Exonymen zu beobachten; Back (2002: 68-70) führt dafür verschiedene Ursachen an. Gleichwohl ist es etwas zu einfach, lediglich zu konstatieren, diese oder jene exonymische Namensform „sei nicht mehr in Gebrauch“, wie dies häufig in Sprachratgebern geschieht. Ein innovativer Aspekt dieses Beitrags dürfte daher die vergleichende Dokumentation der Exonymenverwendung für ausgewählte geografische Gebiete sein. Im folgenden empirischen Teil soll daher ausschnitthaft aufgezeigt werden, wie im schriftlichen Kontext im Deutschen, Französischen, Italienischen und Spanischen Exonyme verwendet werden. Es folgen im vierten Unterkapitel Ergebnisse einer Befragung zur Kenntnis von Exonymen. Die ersten drei Unterkapitel sind eine Synthese verschiedener Teilstudien, die in den vergangenen fünfzehn Jahren durchgeführt wurden. Es wurden für die genannten Sprachen folgende Aspekte untersucht: 1. offizielle Bezeichnungen von Botschaften und Kulturinstituten in Orten, für die ein Exonym vorhanden ist, 2. die Lemmatisierung von geografischen Objekten, für die ein Exonym existiert, in großen einsprachigen Enzyklopädien, 3. der Exonymengebrauch in der Tagespresse. Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 357 Es handelt sich also durchweg um die schriftliche Exonymenverwendung (Ratschläge zur Exonymenverwendung in Abhängigkeit von der Textart bei Back 2002: 85), wobei der Gebrauch deutscher Exonyme für Mittel- und Osteuropa (MOE) Ausgangspunkt der Untersuchungen war (cf. Wochele 1999 und 2001). Um einen Vergleich mit dem Exonymengebrauch in romanischen Sprachen durchzuführen, wurden auch in der Romania so genannte „konfliktive“ Regionen ausgewählt, d.h. Gebiete, in denen die Verwendung von Exonymen seitens der (heute) mehrheitlichen Sprachgemeinschaft als Herrschaftsanspruch oder Revanchismus gedeutet werden könnte (cf. oben, Argument des politischen Anspruchs). Daher wurde für das Französische die Exonymenverwendung für geografische Objekte im belgischen Flandern untersucht, für das Italienische die ehemals venezianisch/ italienisch besiedelten Städte an der nordöstlichen Adriaküste (Istrien und Dalmatien), die heute politisch vor allem zu Kroatien, einige wenige zu Slowenien gehören. Für das Spanische wurden Namen von Städten, die in Katalonien bzw. in einem Fall in der Autonomen Region Valencia liegen, betrachtet, und für das Deutsche auf der Grundlage zuvor durchgeführter Studien das südliche MOE, mit einem Schwerpunkt auf der Slowakei und Rumänien. Natürlich kann zu Recht eingewendet werden, dass die historischen und sprachlichen Verhältnisse in jeder dieser Regionen verschieden sind; umgekehrt kann man aber genauso plausibel darlegen, dass von diesen Unterschieden teilweise abstrahiert werden muss, will man den Exonymengebrauch vergleichen. Relativierend ist hier auch anzumerken, dass die Verwendung des Terminus Exonym aus synchroner Sicht für Istrien und Dalmatien für manche Siedlungsnamen eventuell gerechtfertigt werden kann, während sich umgekehrt im Fall von Katalonien die Frage stellt, ob der Begriff Exonym für kastilische Namensformen geografischer Objekte noch gerechtfertigt ist. 4.1 Bezeichnung von Botschaften und Kulturinstituten In diesem ersten Teil muss Spanien natürlich ausgeklammert bleiben; wie schon in Wochele (2012: 246-247) gezeigt sind die Ergebnisse bei der Bezeichnung der Konsulate und Botschaften ziemlich homogen: Das Exonym ist Bestandteil des Namens der Institution: Consulat général de France à Anvers, 10 Ambasciata d’Italia a Lubiana, Consolato d’Italia a Spalato, Consolato generale d’Italia a Capodistria; Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in 10 Mittlerweile: Consulat honoraire de France à Anvers. Holger Wochele 358 Laibach, Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pressburg). 11 In einigen Fällen wird der Gebrauch des Exonyms auf der Homepage der Gesandtschaften konsequent verwendet - beim Konsulat in Capodistria/ Koper wird auch in der postalischen Anschrift die italienische Namensform verwendet (cf. Consolato Generale d’Italia a Capodistria). Im Fall der deutschen Botschaften in Slowenien und der Slowakei ist die Namenverwendung nicht konsequent. Im Gegensatz zur Untersuchung aus dem Jahr 2011 (cf. Wochele 2012) werden die deutschen Exonyme nicht mehr nur als Bestandteil des Institutionennamens verwendet, während im Fließtext ausschließlich Ljubljana und Bratislava auftauchen würden: 12 So heißt es 2015 in der Slowakei: „Herzlich Willkommen auf den Seiten der Deutschen Botschaft Pressburg”, während der Internetnutzer im Jahr 2016 mit „Willkommen auf den Seiten der Deutschen Botschaft in der Slowakei” begrüßt wird. Erstaunlicherweise nennt sich nun auch die österreichische Botschaft Österreichische Botschaft Pressburg (cf. Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres 2016), während sie 2011 noch mit Österreichische Botschaft in Bratislava firmierte. Für die deutschen Auslandsvertretungen lässt sich in MOE eine gewisse Konsequenz bei den Institutionennamen verzeichnen. So gibt es in Polen das Generalkonsulat Krakau, Generalkonsulat Breslau, Generalkonsulat Danzig und das Konsulat Oppeln, in Rumänien das Deutsche Konsulat Temeschwar und das Deutsche Konsulat Hermannstadt. Lediglich in Estland heißt die Botschaft Deutsche Botschaft Tallin und nicht Reval. Interessant ist, dass sowohl das Goethe-Institut als auch das Österreichische Kulturforum im Institutionennamen die endonymische Form führen: Goethe-Institut Bratislava; in Laibach residiert gleichfalls das Goethe- Institut Ljubljana, währen das Österreichische Kulturforum Laibach das Österreichische Kulturforum Ljubljana aus dem Jahr 2011 abgelöst hat (cf. Österreichisches Kulturforum Ljubljana 2014). Italien und Frankreich sind leider nicht mit Kulturinstituten oder der Alliance française im Untersuchungsgebiet präsent. 4.2 Einsprachige Enzyklopädien Wenn wir nun die Lemmatisierung ausgewählter Toponyme (Siedlungsnamen) in den untersuchten Gebieten betrachten, so ergeben sich für das 11 Für Italien cf. Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale (2016), für Deutschland cf. Auswärtiges Amt (1995-2016). 12 Cf. Deutsche Botschaft Laibach; Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Pressburg. Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 359 Französische und das Italienische relativ einheitliche Befunde (6 Toponyme für Flandern, 10 für Istrien und Dalmatien; cf. Anhang 1 und 2): Die Lemmatisierung erfolgt immer unter der italienischen und französischen, d.h. der Exonymenform, unter der Endonymenform findet sich meist ein Verweis. Es gibt lediglich zwei Ausnahmen: Im Dictionnaire Hachette Encyclopédique fehlen die Verweise, was aber dessen geringem Umfang geschuldet sein dürfte. Und zweitens wird Umag/ Umago oft unter der ersten, der endonymischen Form lemmatisiert, was möglicherweise an der geringen Abweichung der Formen voneinander liegt. Auch auf Wikipedia (cf. Wiki-fr; Wiki-it) sind die italienische und die französische Form die Hauptform; selbst bei kleineren Orten, die schon in der Vergangenheit mehrheitlich slowenisch besiedelt waren (Isonzotal: Caporetto, Tolmino, Plezzo), erscheint der Artikel unter der italienischen Form; bei der Eingabe endonymischer Formen (Split, Šibenik, Kobarid etc.) wird man automatisch weitergeleitet. Die Erscheinungsdaten der untersuchten gedruckten Enzyklopädien sind zeitlich breit gestreut. Für die spanischen Enzyklopädien ergibt sich dagegen ein uneinheitlicher Befund (cf. Anhang 3). Zum einen fehlt oft die Sprachangabe hinter der Namensform, sodass einem mit den örtlichen oder sprachlichen Gegebenheiten nicht besonders vertrauten Nutzer nicht sofort klar sein dürfte, ob es sich um die kastilische oder katalanische Form handelt. Zum anderen ist auffällig, dass man unter der „exonymischen“, d.h. kastilischen Form zur katalanischen Form weitergeleitet wird - im Hauptartikel dann aber nicht einmal mehr die kastilische Namensform genannt wird, wie in Meyers Neues Lexikon aus der DDR (s. unten), in dem bestimmte deutsche Exonyme tabuisiert werden. Lediglich bei dem außerhalb Kataloniens liegenden Alicante/ Alacant steht der Hauptartikel unter der kastilischen Form. Auf Wikipedia (cf. Wiki-sp) werden die kastilischen Formen in Klammern angeführt. 13 Alle untersuchten Enzyklopädien stammen aus dem 21. Jahrhundert. Bei den deutschen Enzyklopädien schaut es anders aus, und hier lässt sich aufgrund der breiteren zeitlichen Streuung auch eine Tendenz verzeichnen (Anhang 4). Die älteren gedruckten Ausgaben aus Westdeutschland verzeichnen alle vier ausgewählten slowakischen Geonyme unter der Exonymenform, unter der slowakischen Form findet sich ein Verweis; 13 In der katalanischen Fassung von Wikipedia (cf. Wiki-kat) werden die kastilischen Formen nicht angeführt; mehr noch, bei Eingabe der kastilischen Formen erfolgte nicht einmal mehr eine automatische Weiterleitung zur katalanischen Form (im Gegensatz zu den Untersuchungen für die französischen, italienischen und deutschen Formen). Holger Wochele 360 im Lauf der Zeit werden die kleineren Orte Kaschau und Neutra unter der slowakischen Form behandelt, die im 21. Jahrhundert erscheinenden Enzyklopädien führen schlussendlich auch die Hauptstadt Pressburg unter der Form Bratislava. Das Hydronym Waag hingegen wird stets (außer in Meyers Neues Lexikon) unter der deutschen Form behandelt. Im Hauptartikel werden in der Regel die anderssprachigen Formen (deutsche, teilweise auch ungarische Namensformen) mitgenannt. Eine Ausnahme stellt lediglich das in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts in Leipzig erschienene Meyers Neues Lexikon dar. Hier wird konsequent unter der slowakischen Form lemmatisiert; lediglich im Fall der Hauptstadt findet sich unter der Form Preßburg ein Eintrag, der auf Bratislava verweist, ohne dass jedoch im Hauptartikel die deutsche Form nochmals genannt würde. Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben zu behaupten, dass hier die von der DDR offiziell gepflegte Geschichtspolitik ihren Niederschlag findet. Erweitert man die Recherche für Wikipedia (cf. Wiki-dt) nun auf andere Geonyme in MOE, so zeigt sich, dass der Artikel meist unter der endonymischen Form steht (Sighişoara, Braşov etc.); gleichwohl werden z.B. Brünn, Karlsbad und Hermannstadt unter Nennung der rumänischen bzw. tschechischen Formen unter der deutschen Form behandelt. 14 Zusammenfassend lässt sich gleichwohl beobachten, dass in deutschsprachigen Enzyklopädien für MOE eine Tendenz zur Lemmatisierung unter der endonymischen Form zu beobachten ist. 4.3 Tagespresse Für die italienische, französische und spanische Presse wurde die Verwendung der Ortsnamen mit Hilfe der Datenbank Library Press Display durchgeführt, die eine Aufstellung für einen maximal drei Monate zurückliegenden Zeitraum erlaubt. Dabei wurde - unter Berücksichtigung des sprachlichen Kontexts 15 - untersucht, wie das Verhältnis der Häufigkeit von exonymischer und endonymischer Namensform ist, d.h. es wurde die Anzahl der Okkurenzen von beispielsweise Spalato und Split gezählt und in Relation gesetzt. Die in Library Press Display untersuchten französischen und italienischen Zeitungen sind im Anhang angeführt; die 14 Vergleiche hierzu die intensive, umfangreiche und differenzierte Diskussion der Wikipedia-Artikelschreiber, auf die hier aus Platzgründen leider nicht näher eingegangen werden kann (cf. Wiki-dt). 15 So galt im Fall der italienischen Presse auszuschließen, dass die Hauptstadt der Provinz Ragusa in Südostsizilien gemeint war; abbazia und fiume können natürlich appellativisch verwendet werden, genauso wie französisch gent ‘nation, race, peuple‘. Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 361 Untersuchungen für die französische und italienische Presse erfolgten 2011, die für die spanische Presse 2014. Kurz gesagt lässt sich feststellen, dass in der französischen und in der italienischen Presse die Verwendung der exonymischen Formen deutlich überwiegt (cf. Anhang 5 und 6). Auch wenn man die französische und die belgische Presse hinsichtlich der Exonymenverwendung gegenüberstellt, lassen sich auf Library Press Display keine Frequenzunterschiede ausmachen. Die geringe Anzahl von Okkurrenzen der Ortsnamen in der italienischen Presse erklärt sich auch dadurch, dass die Untersuchung aus forschungstechnischen Gründen nicht gezielt die Presse im Zeitraum von Ereignissen untersuchen konnte, in denen sich die mediale Aufmerksamkeit auf Istrien und Dalmatien richtete. In der spanischen Presse dagegen überwiegen die katalanischen Namensformen (cf. Anhang 7); allenfalls für die koofiziellen Formen Alicante/ Alacant lässt sich ein deutliches Überwiegen der kastilischen Form konstatieren. Für die Verwendung deutscher Exonyme in der deutschsprachigen Tagespresse kann auf zwei Einzelstudien, die zu zwei Zeitpunkten im Abstand von zehn Jahren durchgeführt wurden, zurückgegriffen werden. Die erste Studie (cf. Wochele 2012) soll hier nur kurz referiert werden. Sie hatte die Verwendung von Exonymen für geografische Objekte in der Slowakei zum Gegenstand. Dabei wurden Berichte über die Slowakei in deutschsprachigen Zeitungen im Umfeld politischer Ereignisse (Parlamentswahlen, Präsidentschaftswahlen) im Zeitraum 1998-2000 untersucht; zehn Jahre später, d.h. 2009-2010 (Euro-Einführung in der Slowakei, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen) wurde die Studie erneuert. Während 1998-2000 die Form Preßburg in der gesamten deutschsprachigen Presse überwiegt bzw. parallel mit Bratislava verwendet wird (mit Ausnahme der Neuen Züricher Zeitung und der Stuttgarter Zeitung) und für die zweitgrößte slowakische Stadt beide Formen genannt werden (Kaschau/ Košice), so wird zehn Jahre später vielfach ausschließlich die endonymische Form Bratislava verwendet und bloß einige Zeitungen (z.B. Frankfurter Allgemeine Zeitung) nennen beide Formen. Weiters ist festzustellen, dass mitunter in verschiedenen Artikeln derselben Zeitung (Politikteil vs. Feuilletonteil) verschiedene Formen verwendet werden. Dem nicht unterrichteten Leser dürfte es daher nicht klar sein, dass derselbe Ort gemeint ist. Eine zweite Studie wurde mit der zeitlich weiter zurückreichenden wiso-Datenbank durchgeführt, die aber leider nicht die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung berücksichtigt (Ergebnisse in Anhang 8 und 9). Auch hier lässt sich konstatieren, dass sich für Preß- Holger Wochele 362 burg und Laibach 2009/ 2010 in der überwiegenden Zahl der Tageszeitungen die Endonyme Bratislava und Ljubljana durchgesetzt haben. Interessant ist jedoch, dass 1999/ 2000 in den beiden untersuchten österreichischen Publikationen die Form Pressburg relativ präsent ist und Laibach dort sogar überwiegt. Auch 2009/ 2010 ist in vier der fünf österreichischen Tageszeitungen Laibach häufiger oder fast genauso häufig wie Ljubljana. Auffällig ist schlussendlich, dass sich 2009/ 2010 Hermannstadt und Sibiu hinsichtlich der Frequenz der Okkurrenzen in etwa die Waage halten (mit Ausnahme des Standard) und sich für Brünn/ Brno die deutsche Form durchgesetzt zu haben scheint. Allein der Umfang der Ausführungen zur deutschsprachigen Presse veranschaulicht schon, dass die Befunde sehr viel differenzierter zu betrachten und im Ergebnis weniger eindeutig sind als die vorigen Befunde. Lediglich kursorisch kann hier erwähnt werden, dass erstens teilweise die Nennung von Orten gänzlich gemieden wird, wenn die Verwendung von Endonym oder Exonym strittig ist (eigene Beobachtung des Autors beim Österreichischen Rundfunk für Laibach/ Ljubljana und Pressburg/ Bratislava). Zweitens fällt auf, dass die nachlässige Wiedergabe der endonymischen Formen oft in keinem Verhältnis zum Eifer steht, mit der die deutschen Exonyme gemieden werden (cf. Wochele 2012: 249: *Torun anstatt Toruń (Thorn), *Kosice anstatt Košice (Kaschau), Aussprache von Cluj (Klausenburg) und Cheb (Eger), s. auch Harnisch 2008: 17). 4.4 Akzeptanztests Gegenstand der letzten Teiluntersuchung ist die Bewertung der Exonymenbzw. Endonymenverwendung seitens der Muttersprachler. In eine ähnliche Richtung geht die Studie von Bernhard (2009), der deutsche Italienischstudierende über ihre Kenntnis deutscher Exonyme für geografische Objekte in Italien befragte. Hier wurden im Rahmen einer größeren Studie zur Fehlerbewertung durch französische und italienische Muttersprachler einige wenige italienische und französische Sätze bewertet, die statt des erwarteten französischen/ italienischen Exonyms das Endonym enthielten, z.B. „C’était l’ouragan ‘Katrina‘ qui a inondé presque 80% de New Orleans fin août 2005“ oder „London produce ogni anno beni e servizi per complessivi 365 miliardi di dollari“. Dazu wurden 81 italienische und 200 französische Wirtschaftsstudierende, die mehrheitlich im Alter zwischen 20 und 25 Jahren waren, in den Jahren 2009 und 2010 anonym und schriftlich mithilfe eines Fragebogens befragt. Sie mussten in den Sätzen, die ein Endonym statt des „korrekten“ Exonyms enthielten, die Ab- Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 363 weichung zunächst markieren und dann entscheiden, wie sehr diese Abweichung die Verständlichkeit des Satzes beeinträchtigte (völlig verständlich = Maximalwert 5; völlig unverständlich = Minimalwert 0) und wie sehr der Fehler als „störend“ empfunden wurde. Der zweite Wert war dabei erwartungsgemäß niedriger als der erste: Man kann eine Aussage verstehen, aber sie dennoch als nicht angemessen empfinden. Bei den vier französischen Testsätzen wurde die Endonymenverwendung im Fall von Milano von 92 Probanden erkannt, im Fall von Antwerpen lag sie nur bei 24. Die Verständlichkeitswerte für diese Sätze lagen zwischen 4,39 und 3,67; der zweite Wert, der Akzeptanzwert, bewegte sich zwischen 3,88 und 3,67. Insgesamt lässt sich also eine große Toleranz gegenüber der Endonymenverwendung in einem französischen Text feststellen; Störpotenzial, d.h. Verständnisschwierigkeiten entfalten Endonyme kaum. Für das Italienische lassen sich demgegenüber fast keine Aussagen treffen: bei Rijeka, Stuttgart, Mainz statt Fiume, Stoccarda, Magonza wurden die drei Endonyme überhaupt nicht als Abweichung erkannt. London statt Londra erkannten gerade einmal ein Viertel der Probanden, die Durchschnittswerte für Verständlichkeit und Akzeptanz entsprechen den französischen (Verständlichkeit: 4,68; Akzeptanz: 3,74). Überraschend ist das Ergebnis insofern, als ein Großteil der Befragungen in Triest, also nicht allzu weit entfernt von Rijeka/ Fiume durchgeführt wurde. Man könnte nun daraus ableiten, dass diese Befunde, die ja in klarem Gegensatz zur Verwendung in Presse und Lemmatisierung in den Enzyklopädien stehen, nahelegen, dass auch in Frankreich und Italien bei jüngeren Sprechern Endonyme nicht als störend oder unpassend empfunden werden. Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass Positionseffekte dieses Ergebnis verzerren könnten: Die Befragung fand im Rahmen einer größeren Studie statt, die auf sprachliche Fehler und Abweichungen in den Bereichen Genus, Syntax, Kongruenz usw. fokussierte. Möglicherweise waren die Probanden nicht auf den Typus von Abweichungen bei Endonymenverwendung gefasst. Auch aufgrund der kleinen Anzahl von bewerteten Sätzen verbieten sich Übergeneralisierungen. Dennoch ist es interessant, diese Befunde in Bezug zu einer traurigen Begebenheit zu setzen: Im August 2010 verstarben in der Universitätsklinik Mainz zwei Frühchen, nachdem sie eine mit Bakterien verseuchte Infusion erhalten hatten. Auch italienische Tageszeitungen schrieben über diese Fälle: In den Internetausgaben der italienischen Tageszeitungen La Repubblica, Il giornale und Corriere della Sera vom 24.08.2010 wird über den Vorfall berichtet, jedoch lediglich das italienische Exonym Magonza ver- Holger Wochele 364 wendet. In der gerade vorgestellten Befragung beanstandete kein Proband den Satz: „Il territorio comunale di Mainz è suddiviso in 15 distretti locali“. Daraus könnte geschlossen werden, dass die Exonyme zwar in der italienischen Presse noch verwendet und die entsprechenden Endonyme nicht genannt werden, dass wohl aber vielen Lesern nicht klar sein dürfte, dass z.B. Magonza/ Mainz ein Namenpaar ist bzw. vielleicht sogar, dass sich die Stadt in Deutschland befindet. 5 Ausblick und Diskussion Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Italienischen und Französischen die Verhältnisse - zumindest für die beiden genannten geografischen Regionen - relativ klar zutage treten; den Exonymen kommt in allen drei Bereichen (Enzyklopädien, Namen der Botschaften und in der wohl hier wichtigsten Textgattung, der Tagespresse) eine sehr prominente Rolle zu. Ob sie tatsächlich verstanden werden, darf bezweifelt werden, wie die Ergebnisse der Befragung belegen. Für Katalonien konnte in der Gegenwart eine tendenzielle Verdrängung und Tabuisierung der kastilischen Formen festgestellt werden. Im Deutschen liegen die Verhältnisse für MOE anders, die Ergebnisse sprechen eine weniger eindeutige Sprache. Dies führt zur Frage, warum im Deutschen die Exonyme für Siedlungsnamen in MOE oft gemieden werden. Manche Autoren sehen in der konsequenten Meidung deutscher Exonyme für MOE eine „zweckgeschichtlich aufgeladene Eindimensionalität“ (Aly nach Harnisch 2008: 18). Harnisch (2008) selbst konstatiert eine „sekundäre pragmatische Motivierung“ (Harnisch 2008: 21-23) der Exonyme in dem Sinne, dass eine onymische „Remotivierung“ stattfindet. Er unterscheidet einerseits zwischen praktischen Motiven, die eine Vermeidung der Endonyme ratsam erscheinen lassen (Fahrpläne, Verkehrsschilder, Gedächtnisökonomie, cf. 3.) und pragmatischen Motiven. Die pragmatischen Motive der Endonymenverwendung im Deutschen klingen an in den Hinweisen auf mangelndes oder fehlendes historisches Bewusstsein, auf die politische Belastetheit der Exonyme oder das ideologische Bekenntnis des Sprechers (hier kommen laut Harnisch 2008 so genannte sprechaktbezeichnende Verben vor: Bekennen historischer Schuld, Leugnen eingetretener politischer Tatsachen, Zurschaustellen durch ostentativen Gebrauch). Die Verwendung von Exonymen signalisiert also angebliche Besitzansprüche, sie wird semantisch aus Weltwissensbeständen aufgeladen und stigmatisiert (Harnisch vergleicht diesen Prozess mit dem Entste- Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 365 hen von Volksetymologien - es geht um eine sekundäre pragmatische, eine gebrauchsbedingte Remotivierung, also eine pragmatische Namen- Volksetymologie; zur Stigmatisierung von Exonymen s. auch Harnisch 2011: 30). Es liegt also eine Remotivierung vor, die dann aber in fragwürdiger Weise für ganz MOE generalisiert wird - so beispielsweise auch auf Rumänien und die Slowakei, wo historisch betrachtet nie territoriale „Besitzansprüche“ geltend gemacht wurden; in Rumänien ist die deutschsprachige Minderheit rechtlich anerkannt, verfügt über Minderheitenschutz und erfreut sich eines hohen Prestiges. Natürlich kann man in einer politisch korrekten Perspektive die Exonymenverwendung als „ethnozentristisch“ und als ein Zeichen von „kulturellem Imperialismus“ betrachten. Aber wie plausibel ist es, unter Verweis auf angebliche politische Korrektheit gerade für den MOE-Raum die deutschen Exonyme zu meiden - und es im Westen dann nicht zu tun? Mit der gleichen Begründung könnte man gegen Lüttich für Liège/ Luik in Belgien argumentieren. Aber selbst die Deutsche und Belgische Bahn verwenden bei Durchsagen im Zug die deutschen Exonyme. Deutsch ist in Belgien Staatssprache - in Rumänien als Minderheitensprache anerkannt. Der Verfasser erinnert sich an eine Tagung von Germanisten in Bukarest im August 2011, auf der eine bundesdeutsche Teilnehmerin ihr Befremden darüber äußerte, dass die rumänischen Germanisten die deutschen Exonyme verwendeten (Klausenburg, Hermannstadt etc.). Gerade dies führt die Argumentation ad absurdum, dass durch Vermeiden deutschsprachiger Exonyme keine Ängste in einer außenstehenden Sprachgemeinschaft geweckt werden sollen. Sicherlich müssen bei der Verwendung der Exonyme der jeweilige historische und sprachliche Kontext und insbesondere die Relevanz und der Bekanntheitsgrad des jeweiligen Orts berücksichtigt werden; eine generelle Regel gibt es nicht. Und man kann natürlich den Rückgang der Exonymenverwendung emotionslos als einen Teil der Sprachentwicklung sehen, die man als Linguist mit einem deskriptiven Verständnis von Sprachwissenschaft beobachten und nicht beeinflussen sollte. Man mag es persönlich bedauern, wenn Exonyme als Teil des italienischen/ französischen/ kastilischen/ deutschen Onomastikons außer Gebrauch kommen, und deren mehr oder minder bewusste Marginalisierung als ungerechtfertigt empfinden. Dass laut Pohl/ Schwaner (2007: 237) „jede Kulturlandschaft [...] in ihrem Namengut Geschichte und Gegenwart [widerspiegelt]“, interessiert in dieser Perspektive nicht. Holger Wochele 366 Dennoch stellt die Entscheidung, ein Exonym oder ein Endonym zu verwenden, „einen Akt der Sprachplanung“ dar, „gleichviel, ob dies den Handelnden bewusst ist oder nicht; gleichviel ob solche Entscheidungen isoliert auftreten oder in eine konsistente sprachpolitische Linie integriert sind“ (Back 2002: 79). Anders gesagt kann plausibel argumentiert werden, dass Exonymenschwund keine „natürliche Entwicklung“ ist, sondern Ergebnis von Entscheidungen. Sprachwissenschaft, zumal die Angewandte Sprachwissenschaft, hat auch eine aufklärerische Funktion und muss Sprachgebrauch kritisch hinterfragen. Exonymenschwund oder der Schwund des gebeugten Konditionals im Deutschen ist nicht dasselbe wie die bewusste Tabuisierung von Exonymen, wie es auch die Beispiele für Katalonien suggerieren. Ein Linguist kann wie Harnisch (2008) die Mechanismen aufzeigen, die für die Stigmatisierung deutscher Exonyme in MOE verantwortlich sind, oder den Gebrauch von Exonymen im Deutschen mit der Verwendung von Exonymen in anderen Sprachen vergleichen und damit die Berechtigung dieser Stigmatisierung relativieren - wie dies hier hoffentlich wenigstens teilweise gelungen ist. Natürlich ist, wie mehrfach betont, jeder Einzelfall, d.h. jeder Sprach- und Kulturkontakt in Geschichte und Gegenwart anders; das spräche gegen den hier vorgenommenen Vergleich - erweist sich aber letztendlich als eine etwas triviale Aussage. Erkenntnisgewinn entsteht, indem verglichen wird und beim Vergleichen die Unterschiede nicht vergessen werden. Bibliographie 16 Aurousseau, Marcel (1957): The rendering of Geographical Names, London, Hutchinson. 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Abbazia/ Opatija IF (Disambiguazione); Weiterleitung von KF IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis Albona/ Labin IF (Weiterleitung von KF) IF (mit KF) KF: Verweis 0 IF (mit KF) KF: Verweis Capodistria/ Koper IF KF: Begriffserklärung IF (mit SF) SF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit SF) SF: Verweis Fiume/ Rijeka IF (Disambiguazione); Weiterleitung von KF IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis Pola/ Pula IF; Weiterleitung nach Begriffsklärung unter KF IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis Ragusa/ Dubrovnik IF (Disambiguazione); Weiterleitung von KF IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis Sebenico/ Šibenik IF (Weiterleitung von KF) IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis Veglia/ Krk IF (Disambiguazione): „Veglia (Isola)“; Weiterleitung von KF IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis Umago/ Umag IF (Weiterleitung von KF) KF (mit IF) 0 KF (mit IF) Zara/ Zadar IF (Weiter-leitung von KF) IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis IF (mit KF) KF: Verweis IF - Italienische Form KF - Kroatische Form SF - Slowenische Form Holger Wochele 372 Anhang 2: Lemmatisierung in französischen Enzyklopädien Untersuchte Enzyklopädien: 1. Wikipedia, französische Fassung, konsultiert am 22.09.2011. 2. La Grande Encyclopédie, 22 vol., Paris, Larousse, 1971-1978. 3. Grand Usuel Larousse. Dictionnaire Encyclopédique, 5 vol., Paris, Larousse-Bordas, 1997. 4. Grand Larousse Universel avec Actualia, 15 vol., Paris, Larousse- Bordas, 1997. 5. Dictionnaire Hachette Encyclopédique, 1 vol., Paris, Hachette, 2001. 1. 2. 3. 4. 5. Anvers/ Antwerpen Frz. Form (Weiterleitung bei NF) Frz. Form (mit NF), Verweis NF im Index Frz. Form (mit NF) NF: Verweis Frz. Form (mit NF) NF: Verweis Frz. Form (mit NF) NF: 0 Bruges/ Brugge Frz. Form (Weiterleitung bei NF) Frz. Form (mit NF), Verweis NF im Index Frz. Form (mit NF) NF: Verweis Frz. Form (mit NF) NF: 0 Frz. Form (mit NF) NF: 0 Gand/ Gent Frz. Form Frz. Form (mit NF), Verweis NF im Index Frz. Form (mit NF) NF: Verweis Frz. Form (mit NF) NF: Verweis Frz. Form (mit NF) NF: 0 Louvain/ Leuven Frz. Form (Weiterleitung bei NF) Frz. Form (mit NF), Verweis NF im Index Frz. Form (mit NF) NF: Verweis Frz. Form (mit NF) NF: Verweis Frz. Form (mit NF) NF: 0 Ostende/ Oostende Frz. Form (Weiterleitung bei NF) Frz. Form (mit NF), Verweis NF im Index Frz. Form (mit NF) NF: Verweis Frz. Form (mit NF) NF: Verweis Frz. Form (mit NF) NF: 0 Vilvorde/ Vilvoorde Frz. Form (Weiterleitung bei NF) 0 Frz. Form (mit NF) NF: 0 Frz. Form (mit NF) NF: 0 Frz. Form (mit NF) NF: 0 NF - niederländische (flämische) Form Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 373 Anhang 3: Lemmatisierung in spanischen Enzyklopädien Untersuchte Enzyklopädien: 1. Gran Enciclopedia Espasa, 31 vol., Madrid, Espasa Calpe, 2002. 2. Salvat Universal, 24 Bände, Barcelona, Salvat Editores, 2003. 3. Wikipedia, spanische (kastilische) Fassung, konsultiert am 19.06. 2014. 1. 2. 3. Alicante/ Alacant SpanF: (mit KatF, ohne Glottonym) KatF: Verweis SpanF: (mit KatF, ohne Glottonym) KatF: Verweis SpanF: (mit KatF und Glottonym) KatF: Weiterleitung auf SpanF Figueras/ Figueres SpanF (mit KatF) KatF: 0 SpanF: Verweis auf KatF KatF: (KEINE SpanF) SpanF: (mit KatF und Glottonym) KatF: Weiterleitung auf SpanF Gerona/ Girona SpanF: Verweis auf KatF KatF: (KEINE SpanF) SpanF: Verweis auf KatF KatF: (KEINE SpanF) SpanF: (mit KatF und Glottonym) KatF: Weiterleitung auf SpanF Lérida/ Lleida SpanF: Verweis auf KatF KatF: (KEINE SpanF) SpanF: Verweis auf KatF KatF: (KEINE SpanF) SpanF: (mit KatF und Glottonym) KatF: Weiterleitung auf SpanF Urgel/ Urgell SpanF: (mit KatF, ohne Glottonym) KatF: 0 SpanF: Verweis auf KatF KatF: (KEINE SpanF) SpanF: (mit KatF und Glottonym) KatF: Weiterleitung auf SpanF NB: Wikipedia, s.v. Lérida: Hinweis auf die homonyme Gemeinde in Kolumbien. Bei 2, s.v. Gerona: Behandlung von „Condado de Gerona“ und „Ducado y principado de Gerona“. Auf Wikipedia teilweise „desambiguación“, d.h. ein homonymer oder polysemer Eintrag wird in seinen verschiedenen Lesarten bzw. Bedeutungen erläutert. SpanF - kastilische Form des Eigennamens KatF - katalanische Form des Eigennamens Holger Wochele 374 Anhang 4: Lemmatisierung in deutschsprachigen Enzyklopädien Untersuchte Enzyklopädien: 1. Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, neunzehnte, völlig neu bearbeitete Auflage, Brockhaus, Mannheim, 1986-1994. 2. Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, zwanzigste, überarbeitete und aktualisierte Auflage, Brockhaus, Mannheim, 1996-1999. 3. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim/ Wien/ Zürich, Bibliographisches Institut, 1971-1979. 4. Duden. Das neue Lexikon in zehn Bänden, Mannheim, Brockhaus, 1996. 5. Bertelsmann. Neues Lexikon in 10 Bänden, Gütersloh, Bertelsmann Lexikon Verlag, 1995. Preßburg/ Pressburg Kaschau Neutra Waag 1. s.v. Preßburg (mit UF und SF) Verweis unter SF s.v. Kaschau (mit UF und SF) Verweis unter SF) s.v. Neutra (mit SF) Verweis unter SF s.v. Waag (mit SF und UF) Verweis bei SF und UF 2. s.v. Preßburg (mit UF und SF) Verweis unter SF s.v. Kaschau (mit UF und SF) Verweis unter SF) s.v. Neutra (mit SF) Verweis unter SF s.v. Waag (mit SF und UF) Verweis bei SF und UF 3. s.v. Preßburg (mit UF und SF) Verweis unter SF s.v. Košice (mit DF) Verweis unter DF s.v. Nitra (mit DF) Verweis unter DF s.v. Waag (mit SF) Verweis unter SF 4. s.v. Preßburg (mit SF) Verweis unter SF s.v. Košice (mit DF) s.v. Nitra s.v. Waag 5. s.v. Preßburg (mit SF und UF) Verweis unter SF s.v. Kaschau (mit SF) Verweis unter SF s.v. Neutra (mit SF) s.v. Waag (mit SF) NB: DF - Deutsche Form UF - Ungarische Form SF - Slowakische Form Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 375 6. Meyers Neues Lexikon,18 Bände, 2. Aufl., Leipzig, VEB/ Bibliographisches Institut Leipzig, 1972-1977. 7. Brockhaus Universal Lexikon von A-Z, in 26 Bänden, Leipzig/ Mannheim, Brockhaus, 2003. 8. Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, einundzwanzigste, völlig neu bearbeitete Auflage, Leipzig/ Mannheim, Brockhaus, 2006. 9. Wikipedia, deutsche Fassung, konsultiert am 25.08.2011. Preßburg/ Pressburg Kaschau Neutra Waag 6. s.v. Bratislava (ohne DF) Verweis unter DF s.v. Košice s.v. Nitra s.v. Váh 7. s.v. Bratislava (mit DF und UF) Verweis unter DF s.v. Košice (mit DF und UF) Verweis unter DF s.v. Nitra (mit DF) Verweis unter DF, Fluss unter DF s.v. Waag (mit SF) 8. s.v. Bratislava (mit DF und UF) Verweis unter DF s.v. Košice (mit DF und UF) Verweis unter DF s.v. Nitra (mit DF) Verweis unter DF, auch Fluss s.v. Nitra s.v. Waag (mit SF und UF) Verweise unter SF und UF 9. s.v. Bratislava (mit DF und UF) Weiterleitung unter DF s.v. Košice (mit DF, UF, Romani und nlatF) Weiterleitung unter DF s.v. Nitra (mit DF, UF, nlatF), Weiterleitung unter DF) s.v. Waag (mit SF und UF) Weiterleitung unter SF (UF nicht lemmatisiert) NB: DF - Deutsche Form UF - Ungarische Form SF - Slowakische Form NlatF - neulateinische Form Holger Wochele 376 Anhang 5: Italienische Presse Zeitraum: 3 Monate, d.h. 23.06.-22.09.2011 Quelle: Library Press Display Zeitungen: Eventi, Il Domani, Il Giornale, Il Riformista, Il Sole, 24 Ore, Il Tempo - Nazionale, La Stampa Neun Städtenamen, ein Inselname: Pola 10 x ON (einzeln geprüft) 17 Pula 18 0 (Pula + Croazia) Capodistria 2 Koper 0 19 Sebenico 6 Šibenik 0 Zara 5 (Zara + Croazia) Zadar 3 Umago 2 Umag 1 Abbazia 1 (Abbazia + Croazia) Opatija 0 Fiume 4 (Fiume + Croazia) Rijeka 0 Ragusa 20 1 (Ragusa + Croazia) Dubrovnik 2 Albona 0 Labin 0 Veglia 21 2 (Veglia + Croazia) Krk 0 17 Besuch des Präsidenten Napolitano in Kroatien Mitte Juli 2011. 18 Auch der Name einer Gemeinde auf Sardinien (Provinz Cagliari). 19 Meistens: Unternehmensname: Luka Koper Port; 2x Bezeichnung des Fußballvereins (Ergonym FC Koper). 20 Ragusa: Haupstadt der Provinz Ragusa in Südostsizilien. 21 Vegliare - ‘wachen‘, veglia - ‘Wache‘. Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 377 Anhang 6: Französischsprachige Presse Zeitraum: 3 Monate, d.h. 23.06.2011-22.09.2011 Quelle: Library Press Display Zeitungen: a. Französische Presseorgane Aujourd’hui en France, Le Journal du Dimanche, Le Figaro, Le Monde, La Tribune, Les Échos b. Belgische Presseorgane La Meuse/ La Nouvelle Gazette/ La Capitale, Metro [sic], Le Soir Frankreich Belgien Anvers 35 914 Antwerpen 0 116 22 Louvain 18 1.254 Leuven 0 73 Gand 34 861 Gent 35 23 74 Bruges 14 1.697 Brugge 0 12 Ostende 6 875 Oostende 0 15 Vilvorde 8 210 Vilvoorde 1 41 24 22 Z.B. im Zeitungstitel Gazet van Antwerpen. 23 Homonymie zu gent (Appellativum) - ‘nation, race, peuple’; „la gent masculine“. 24 Z.T. Name des Fußballvereins. Holger Wochele 378 Anhang 7: Spanische Presse Namensformen von Geonymen in Katalonien in der kastilischen Presse Zeitraum: 3 Monate (d.h. 18.03.-17.06.2014) Quelle: Library Press Display 5 Städtenamen Namenform Anzahl der Okkurenzen Alicante 1548 Alacant 171 Figueras 918 (aber Personenname: Figueras) Figueres 1533 Gerona 276 Girona 10.024 Lérida 166 Lleida 4839 Urgel 54 Urgell 433 NB: Die verwendeten Namenformen sind teilweise Bestandteil von Vereinsnamen, zum Teil handelt es sich um katalanische Ausgaben von Zeitungen. Interlinguale Allonymie und Übersetzbarkeit von Eigennamen 379 Anhang 8: Deutschsprachige Presse 1999/ 2000 Zeitraum: 01.01.1999-31.12.2000 Quelle: wiso-Datenbank Die Zahlen hinter den Namenformen geben die Anzahl der Belege wieder. NB: Auf wiso existieren Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung nicht. Kurier, Die Presse und die Salzburger Nachrichten waren im Vergleich zum späteren Untersuchungszeitraum nicht auf der wiso-Datenbank verfügbar. Untersuchte deutschsprachige Tageszeitungen: 1. Wiener Zeitung 2. Der Standard 3. Neue Züricher Zeitung 4. Frankfurter Rundschau 5. Taz. Die Tageszeitung 6. Stuttgarter Zeitung 7. Die Welt 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Preßburg/ Pressburg 61 148 9 24 3 5 30 Bratislava 50 181 284 155 45 80 157 Kaschau 6 9 1 7 0 4 13 Košice/ Kosice etc. 14 34 50 22 3 15 25 Laibach 50 169 7 16 13 6 6 Ljubljana 6 40 168 125 49 52 78 Hermannstadt 1 2 5 5 0 8 2 Sibiu 0 0 4 3 0 5 3 Brünn 47 68 56 63 6 51 40 Brno 1 7 7 16 3 6 7 Holger Wochele 380 Anhang 9: Deutschsprachige Presse 2009/ 2010 Zeitraum: 01.01.2009-01.12.2010 Quelle: wiso-Datenbank Die Zahlen hinter den Namenformen geben die Anzahl der Belege wieder. NB: Auf wiso existieren Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung nicht. Untersuchte deutschsprachige Tageszeitungen: 1. Wiener Zeitung 2. Der Standard 3. Neue Züricher Zeitung 4. Frankfurter Rundschau 5. Taz. Die Tageszeitung 6. Stuttgarter Zeitung 7. Die Welt 8. Kurier 9. Die Presse 10. Salzburger Nachrichten 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. Preßburg/ Pressburg 161 25 2 4 0 17 7 52 88 96 Bratislava 322 453 101 65 41 511 75 1.033 418 89 Kaschau 7 1 1 0 0 0 1 1 4 1 Košice/ Kosice etc. 94 1 21 8 1 12 2 81 29 15 Laibach 110 231 0 10 11 0 5 178 110 323 Ljubljana 114 266 55 37 22 68 19 1.325 70 34 Hermannstadt 11 4 14 6 3 26 8 6 13 5 Sibiu 9 56 18 8 3 28 6 13 15 8 Brünn 154 198 36 43 14 154 33 314 68 54 Brno 12 31 9 10 7 13 14 51 13 6 IV. Potentiale der Übersetzung für den Fremdsprachenunterricht Javier García Albero Mínimo (común) paremiológico, traducción y enseñanza de lenguas: una propuesta para el uso de la traducción de refranes en el aula de ELE 1 Introducción Son de sobra conocidos los casos en los que el aprendiz de una lengua extranjera, en el momento de la expresión oral o escrita en dicha lengua y ante la posibilidad o necesidad de utilizar una expresión fija, recurre al repertorio de su propia lengua y realiza una traducción literal de los elementos originales, resultando de ello en muchas ocasiones una expresión totalmente ininteligible para el interlocutor. El porqué de este hecho nos remite necesariamente a la traducción interiorizada o contrastiva que los aprendices de lenguas extranjeras realizan en el momento de la interacción comunicativa y que Amparo Hurtado definía de la siguiente forma: Por traducción interiorizada nos referimos a la estrategia, espontánea, que utiliza el que aprende una lengua extranjera de confrontar con su lengua materna léxico y estructuras, para comprender mejor, para consolidar su adquisición, etc.; esta estrategia se manifiesta sobre todo al principio del aprendizaje, y a medida que la lengua extranjera va consolidándose, va desapareciendo (Hurtado Albir 2001: 55-56). Esta traducción interiorizada y literal, inevitable en los primeros estadios del aprendizaje, puede resultar de gran utilidad en el caso de los refranes y fraseologismos si en las dos lenguas implicadas coinciden, en su totalidad o en gran parte, los elementos que componen dicha expresión, tanto en el momento de la producción como en el de la recepción. No obstante, la traducción literal de gran parte de las expresiones fijas de una lengua a otra puede llevar a la interferencia fraseológica, problema que se presenta de manera obvia y con relativa frecuencia en el momento activo de la expresión (más oral que escrita), más que en el momento pasivo de la comprensión. Con la presente comunicación quisiéramos ofrecer una primera propuesta básica para el tratamiento del problema de la interferencia en el uso de las expresiones fijas en la lengua extranjera, interferencia en cuyo origen se encuentra la traducción interiorizada en la que se toman los Javier García Albero 384 elementos de la lengua de origen (LO) reproduciéndolos por elementos ‘equivalentes’ de la lengua meta (LM) sin considerar que la expresión fija ha de traducirse en su conjunto, y no en sus elementos. Entre todas las expresiones fijas, quizá sean los refranes los más descuidados, lo cual, junto a otras razones que se aducirán más adelante, nos lleva a escogerlos como objeto de nuestro estudio. Se trata, además, de una propuesta para la recuperación de los refranes y proverbios en la clase de lenguas extranjeras, una propuesta en la que quisiéramos dar un papel protagonista a la traducción. Es una propuesta arriesgada y complicada: en primer lugar, por la posición marginal de la traducción pedagógica, esto es, la traducción como medio para el aprendizaje de lenguas. En segundo lugar, por considerarse en algunos círculos a los refranes como textos muertos, enunciados que van cayendo en desuso, frases anticuadas y en muchos casos incomprensibles para el hablante actual. 2 Traducción y refranes en la enseñanza de lenguas extranjeras Pese a lo anterior, observamos que la traducción está volviendo a recuperar parte de su papel en la clase de lenguas. Se trata de una traducción que poco tiene que ver con aquella ‘gramática-traducción’ desterrada de las aulas en los años setenta, y que actualmente recibe el nombre de mediación. Por primera vez, con la aparición del Marco Común Europeo de Referencia para las Lenguas (MCERL) se recogía en las primeras páginas la mediación como una de las actividades de la lengua junto a la comprensión, la expresión y la interacción, y se especificaba más adelante en qué deberían consistir las actividades de mediación y cuáles son las estrategias a trabajar con este tipo de actividades: En las actividades de mediación, el usuario de la lengua no se preocupa de expresar sus significados, sino simplemente de actuar como intermediario entre interlocutores que no pueden comprenderse de forma directa, normalmente (pero no exclusivamente), hablantes de distintas lenguas. Ejemplos de actividades de mediación son la interpretación oral y la traducción escrita, así como el resumen y la paráfrasis de textos de la misma lengua cuando el receptor no comprende la lengua del texto original (Consejo de Europa 2002: 85). La aparición del Marco supuso un impulso decisivo para la implementación del amplio abanico de actividades de traducción que son susceptibles de ser llevadas a cabo en el aula de lenguas y que, para los hablantes de Mínimo (común) paremiológico, traducción y enseñanza de lenguas 385 varias lenguas, pueden darse en un contexto real. Desde entonces, se ha venido introduciendo la mediación en los planes educativos de las escuelas secundarias, al menos en Alemania, y ya se encuentran ejercicios de mediación en los libros de texto. Además, han aparecido artículos científicos sobre el uso de la mediación en el aula de lenguas y sobre su aplicación mediante ejercicios ya desarrollados. 1 Pero el Marco no solo recuperaba la traducción. Dentro de las competencias que debe adquirir el alumno, encontramos que entre las competencias sociolingüísticas se encuentran - junto a „los marcadores lingüísticos de relaciones sociales” o „las normas de cortesía” - las expresiones de sabiduría popular, entre las que, por supuesto, se incluyen los refranes: 5.2.2.3. Las expresiones de sabiduría popular Estas fórmulas fijas - que incorporan a la vez que refuerzan actitudes comunes - contribuyen de forma significativa a la cultura popular. Se utilizan a menudo, por ejemplo, en los titulares de los periódicos. El conocimiento de esta sabiduría popular acumulada, expresado en un lenguaje que se supone conocido, es un componente importante del aspecto lingüístico de la competencia sociocultural.  Refranes; por ejemplo: No por mucho madrugar amanece más temprano.  Modismos; por ejemplo: A troche y moche. A la pata la llana.  Comillas coloquiales; por ejemplo: To’ pa’ na’. Me voy pa’ casa.  Expresiones de: - Creencias como, por ejemplo, refranes sobre el tiempo atmosférico: En abril, aguas mil. - Actitudes como, por ejemplo, frases estereotipadas del tipo: De todo hay en la viña del Señor. - Valores como, por ejemplo: Eso no es juego limpio. Los graffiti, los lemas de las camisetas, las frases con gancho de la televisión, las tarjetas y los carteles de los lugares de trabajo a menudo tienen ahora esa función (Consejo de Europa 2002: 117). Así las cosas, vemos que tanto la traducción - sui géneris bajo la etiqueta de ‘mediación’ - como el refrán vuelven a situarse en un primer plano en las recomendaciones para la enseñanza de lenguas. Como refutación del argumento de que el refrán es algo anticuado sin interés para el alumnado, nos permitirán que contra ello añadamos nuestra experiencia personal, que podría ser la de cualquier docente de len- 1 Como botón de muestra, véanse las obras de Bohle (2012), Reimann y Rössler (2013) y Schöpp (2013). Javier García Albero 386 guas extranjeras. En los últimos semestres hemos ofrecido varios cursos en nuestra universidad en los que el foco se encontraba en la contrastividad de lenguas, la traducción y sus problemas, y todo ello con una visión enfocada hacia lo didáctico. Contra la consideración del refrán como algo pasado de moda y aburrido, muchos de nuestros alumnos mostraron un gran interés por los fraseologismos y refranes, su contrastividad, el problema de su traducción en el par de lenguas alemán - español y la posibilidad de su enseñanza en el aula de ELE. Desde hace ya mucho tiempo intentamos incluir refranes y proverbios en los ejercicios propuestos a los alumnos, tanto en cursos de gramática como en cursos de traducción. Suele suceder que cuando en un curso de gramática se anuncia una determinada oración como refrán, pocos son los que muestran gran interés y desean saber el sentido o, mucho menos, el origen del mismo. Sin embargo, si se les traduce el refrán al alemán, son muchos más los que toman nota de ello. De forma contrastiva, la expresión fija recibe por lo general una mayor atención. Es de suponer que este interés también puede ser compartido por otros alumnos de escuelas secundarias o extrauniversitarias. Con todo, queda pues justificado al menos el intento de introducir la traducción y los refranes en la clase de lenguas. 3 Fraseodidáctica y paremiodidáctica No se puede afirmar que los fraseologismos en general sean un aspecto completamente olvidado en los planes de estudios o en la investigación para su didactización en el aula. 2 Sin embargo, sí es cierto que pese a ser un aspecto lingüístico de clara dificultad, compleja transmisión y en el que se producen frecuentes casos de interferencia, se encuentran relativamente pocas actividades y ejercicios en los que se incluyan de forma sistemática este tipo de enunciados, y su investigación está muy lejos de lo que cabría desear. La ‘Fraseodidáctica’, considerada ésta 2 Basta con echar un vistazo a los últimos números de la revista Paremia para convencerse de ello, http: / / cvc.cervantes.es/ lengua/ paremia [19.02.2015]. Mínimo (común) paremiológico, traducción y enseñanza de lenguas 387 la parte de la fraseología que se ocupa de la transmisión sistemática de los fraseologismos en el aula de lenguas, tanto materna como de lenguas extranjeras (Ettinger 2007: 894, traducción JGA), 3 ha sido tradicionalmente descuidada. No sin razón hablaba hace unos años Peter Kühn de un „phraseodidaktischen Dornröschenschlaf” (‘letargo fraseodidáctico’) y Gerd Wotjak la calificaba de „Stieftochter der Didaktik” (‘hijastra de la didáctica’) (ambos cit. en Ettinger 2007: 897), título que podría compartir también con la traducción, maltratada durante muchos años por la didáctica. Si de letargo se calificaba el estado de la ‘Fraseodidáctica’, no mucho mejor es el estado de lo que denominaremos ‘Paremiodidáctica’, esto es, la enseñanza de las paremias (refranes o proverbios), enseñanza ésta que quizá debería darse no sólo entre estudiantes de español como lengua extranjera, sino también entre hablantes de español como lengua materna (o de cualquier otra lengua, por darse la misma situación en la mayor parte de nuestras lenguas occidentales), pues en los tiempos que corren no estaría de más que cada uno de nosotros aprendiera algo más de nuestro tesoro proverbial, el cual se va perdiendo por falta de uso. Es obvio que la generación de nuestros abuelos utilizaba mucha más sabiduría popular que nuestra generación, más receptiva a los eslóganes comerciales procedentes, sobre todo, de las grandes marcas estadounidenses (Just Do It, Nike; Think different, Apple; Impossible is nothing, Adidas). Tras observar diferentes manuales de aprendizaje de lenguas, observamos que en prácticamente ninguno de ellos se incluyen ejercicios o explicaciones en las que se traten los refranes. Y ello pese a que, en nuestra opinión, un estudio del refrán y de su posible traducción puede ofrecer numerosas ventajas al estudiante de lenguas extranjeras: - En primer lugar, su estructura cerrada - lo cual lo diferencia del fraseologismo -, su forma por lo general concisa y rítmica y su carácter sentencioso hacen de él un texto fácil de memorizar. Los más populares, se dice, no pasan de las siete palabras. - El refrán, además, ofrece modelos de oraciones que se repiten en muchísimos casos, modelos a los que el alumno puede recurrir en la construcción de oraciones futuras. Quien esto suscribe, por ejemplo, utiliza siempre refranes cuando explica las oraciones de relativo sustantivadas, verbigracia: Quien bien te quiere, te hará llorar. 3 „Der Teilbereich der Phraseologie, der sich mit der systematischen Vermittlung von Phrasemen im mutter- und fremdsprachlichen Unterricht befasst [...]“ (Ettinger 2007: 894). Javier García Albero 388 - Junto a ello, un aspecto que nos parece decisivo del refrán es su utilidad, pues puede expresar en pocas palabras lo que podría necesitar de varias oraciones. Es, pues, un mecanismo importante de economía lingüística en el que se da una cantidad importante de información con un esfuerzo mínimo. No sin razón, y de manera clarificadora, uno de los mayores paremiólogos actuales, Wolfgang Mieder, dio por título a uno de sus libros sobre refranes Talk less and say more (cf. Mieder 1986). - Por último, un aspecto que nos parece de suma importancia es que si dejamos los refranes fuera de la enseñanza de lenguas, no sólo estamos dejando fuera una parte de la lengua - pues es un recurso utilizado todos los días por gran parte de los hablantes -, sino que estaremos dejando fuera una parte importante de la cultura. Los refranes son reflejo de la cultura en que se originan, poso de la sabiduría de un pueblo que se ha ido formando a través de la experiencia socioempírica del mismo. Por todo ello, defendemos aquí un estudio del refrán en la clase de lenguas, estudio que fomenta no sólo el aprendizaje de estos textos en la lengua extranjera, sino también una mayor sensibilidad frente a este tipo de textos sentenciosos y, al mismo tiempo, un mayor conocimiento del acervo proverbial de la propia lengua. 4 Traducción de refranes Si anteriormente decíamos que en prácticamente ningún libro de texto se hace mención expresa a los refranes, en lo que respecta a la traducción de refranes no es necesario mencionar que no se encuentra en ningún ejercicio de mediación. Ni siquiera en los manuales de enseñanza de la traducción - llamémosla profesional, por oposición a la traducción pedagógica o mediación - se encuentran ejercicios razonables y pedagógicamente defendibles con los que aprender a traducir refranes. 4 Para un posible uso de la traducción de refranes en el aula de lenguas y como fundamento de nuestra propuesta, recurriremos a los resultados de la investigación de la Traductología en este campo, recuperando parte de los resultados de nuestra propia tesis doctoral. Ésta consistió en un estudio diacrónico de la traducción de los refranes del Quijote en cuatro versiones francesas y cuatro alemanas (cf. García Albero 2013). Entre 4 Véanse, por ejemplo, Rosell Ibern (1999: 167-176) o Gamero Pérez (2010: 194ss.). Mínimo (común) paremiológico, traducción y enseñanza de lenguas 389 otros, observamos que ante un problema como el de la traducción de refranes, los diferentes traductores recurrieron a cinco procedimientos o técnicas diferentes (además de la omisión) para trasladar el texto original a su lengua. Para el análisis de los refranes y para la identificación y clasificación de las traducciones, nos fueron de mucha utilidad los conceptos de significante, significado y sentido, que aplicamos a la totalidad de la expresión fija, tal como hiciera Valentín García Yebra, quien ejemplificaba su concepto de sentido recurriendo precisamente a un refrán: El sentido del refrán español Poco a poco hila la vieja el copo no coincide ni con los significados actualizados en el texto ni con la realidad extralingüística designada por ellos. Lo que se quiere expresar no es que ‘una mujer de edad avanzada está convirtiendo en hilo, sin prisa, una porción de lana’, sino la idea general de que, ‘cuando alguien trabaja con perseverancia en una tarea proporcionada a sus fuerzas, aunque éstas sean pocas, acaba teniendo éxito’. Los refranes son como metáforas complejas (García Yebra 1997: 40). Junto a los conceptos de significante, significado y sentido, también fue importante el de forma o estilema parémico para la identificación de las técnicas de traducción, que pasamos a describir brevemente: - La primera de las técnicas consistía en la versión del refrán por otro existente en la LM, en el que coincidían todos los elementos que consideramos que componen un refrán: sus componentes, significado, sentido y forma o estilo. Por ejemplo: Una golondrina no hace verano - ‘Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer’. Es lo que ya se ha etiquetado en algunas ocasiones como ‘universal parémico’. - La segunda de ellas consistía en traducir por un refrán equivalente existente en la LM con el que se transmitía el mismo sentido pero en el que los componentes y el significado eran diferentes. El texto final tenía una forma proverbial y pertenecía al repertorio proverbial de la LM. Por ejemplo: De noche todos los gatos son pardos - ‘In der Nacht sind alle Kühe schwarz’. - La tercera es una traducción literal en la que se mantienen los componentes originales, el significado y se supone que el sentido, pero en el que no se observan rasgos proverbiales, esto es, no se deja ver el estilo parémico del texto. Por ejemplo: Ándeme yo caliente y ríase la gente - ‘Wenn ich nur warm sitze, mögen doch die Leute lachen‘. - La cuarta técnica es la de la paráfrasis, por la cual se transmite el sentido de la paremia con componentes diferentes a los que se incluían en la forma proverbial original y sin ningún tipo de estilo parémico reconocible. Javier García Albero 390 - Y en último lugar, la técnica quizá menos esperada, pero no por ello menos utilizada: se trata de una traducción en forma de paremia, esto es, un refrán inventado. Se trata de textos traducidos que podrían parecer un refrán, porque reúnen las características de brevedad, ritmo, carácter sentencioso, etc., pero a los que le falta la tradición. Son textos nuevos que dan al lector la ilusión de percibir una oración de carácter proverbial. Basándonos en estas técnicas, proponemos a continuación algunas ideas para el tratamiento de la traducción de refranes y su integración en ejercicios de traducción y mediación en el aula de lenguas en los diferentes niveles que establece el Marco. 5 Mínimo común paremiológico o la posibilidad de utilizar refranes comunes: usuario básico Si bien hablábamos anteriormente de un ‘letargo paremiodidáctico’, cierto es que desde el ámbito de la Paremiología desde hace tiempo se considera objetivo principal el establecimiento de un mínimo paremiológico en las diferentes lenguas. 5 Este mínimo es el conjunto de refranes y proverbios que debería conocer cada hablante de la correspondiente lengua y que deberían aspirar a conocer los estudiantes que aprenden esa lengua. Habrán observado que en el título de esta contribución se incluye el mínimo paremiológico, al que nosotros hemos añadido un epíteto más, el ‘común’. Como bien se sabe, en el ámbito occidental compartimos un acervo cultural común procedente de unas raíces y un desarrollo histórico-cultural comunes. Trasfondo de este marco cultural común son, en primer lugar, el mundo grecolatino y la religión cristiana, que han marcado la vida cotidiana y las artes y ciencias occidentales hasta hoy en día. También ese poso se refleja en los refranes y proverbios, un gran número de los cuales nos han sido legados por, precisamente, las fuentes que citábamos: los textos sagrados y los escritos de autores grecolatinos. Son éstas las fuentes más importantes de los refranes que se han expandido en las diferentes lenguas de Europa. Y a estas fuentes se pueden añadir como fuentes de expansión la literatura (los refranes que aparecen, por ejemplo, en Lutero, Cervantes o Shakespeare han pasado a otras lenguas gracias a la traducción de sus obras), el latín medieval, ‘lingua franca‘ europea 5 Cf., por ejemplo, Sevilla y Barbadillo (2005). Mínimo (común) paremiológico, traducción y enseñanza de lenguas 391 durante la Edad Media, o los actuales medios de comunicación (cf. Mieder 2000). La propuesta que aquí se presenta para el aprendizaje de las paremias es gradual y consideramos que se debería comenzar con los refranes comunes, que en buena parte pueden traducirse palabra por palabra y gracias a los cuales el alumno puede captar el gran caudal proverbial que compartimos en la cultura europea. Se trata de, en primer término, despertar en el alumno la sensibilidad paremiológica. Para captar el interés de los aprendices por la lengua, no está de más comenzar por enseñar lo que las lenguas y las culturas comparten. Es importante, en tiempos de globalización y Unión Europea, ver lo que nos une antes de captar lo que nos separa. Quizá sea más lo primero que lo segundo. Así pues, en el estadio del usuario básico (niveles A1 y A2) podrían proponerse actividades de traducción o mediación en las que se incluyeran refranes comunes, por ejemplo, los que presentaremos a continuación, que en su mayor parte pueden encontrarse en el libro de Gyula Paczolay - European proverbs in 55 languages 6 -, obra que nos ha servido de referencia para establecer un ‘mínimo común paremiológico’ del alemán y del español y a la cual hemos añadido algunos refranes más: La ocasión hace al ladrón (‘Gelegenheit macht Diebe’); No hay humo sin fuego (‘Kein Rauch ohne Feuer’); Perro ladrador, poco mordedor (‘Hunde, die bellen, beißen nicht’); Una golondrina no hace verano (‘Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer’); Las desgracias nunca vienen solas (‘Ein Unglück kommt selten allein’); Cuatro ojos ven más que dos (‘Vier Augen sehen mehr als zwei’); No dejes para mañana lo que puedes hacer hoy (‘Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen’); Escoba nueva barre bien (‘Neue Besen kehren gut’); No es oro todo lo que reluce (‘Es ist nicht alles Gold, was glänzt’); Las paredes tienen oídos (‘Die Wände haben Ohren’); Una mano lava la otra (‘Eine Hand wäscht die andere’); Más vale tarde que nunca (‘Besser spät als nie’); El hombre propone y Dios dispone (‘Der Mensch denkt und Gott lenkt’); El ojo del amo engorda el caballo (‘Das Auge des Herrn macht das Pferd fett’); No hay rosa sin espinas (‘Keine Rose ohne Dornen’); Ojo por ojo, diente por diente (‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’); De noche todos los gatos son pardos (‘Bei Nacht sind alle Katzen grau’); El que ríe último, ríe mejor (‘Wer zulezt lacht, lacht am bes- 6 En el prólogo a este libro, del gran paremiólogo Wolfgang Mieder, decía éste: „The 106 texts and their variations could be considered as a European proverbial minimum, i.e. they contain bits of wisdom that almost every European knows and believes in. They are, so to speak, the proverbial literacy of Europeans, and as such they should also play a major role in the teaching and learning of foreign languages” (Paczolay 1997: 7). Javier García Albero 392 ten’); El pez grande se come al chico (‘Grosse Fische fressen kleine’); El tiempo es oro (‘Zeit ist Geld’); Quien calla, otorga (‘Wer schweigt, bejaht’); Todos los caminos llevan a Roma (‘Alle Wege führen nach Rom’); En tierra de ciegos, el tuerto es el rey (‘Unter den Blinden ist der Einäugige König’); Quien da primero, da dos veces (‘Wer bald gibt, gibt doppelt’); Quien siembra vientos, recoge tempestades (‘Wer Wind sät, wird Sturm ernten’); Nada nuevo bajo el sol (‘Nichts Neues unter der Sonne’); Zapatero, a tus zapatos (‘Schuster, bleib’ bei deinem Leisten’); A caballo regalado no le mires el dentado (‘Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul’); Bien está lo que bien acaba (‘Ende gut alles gut’); La excepción confirma la regla (‘Die Ausnahme bestätigt die Regel’); Mala yerba nunca muere (‘Unkraut vergeht nicht’); Una imagen vale más que mil palabras (‘Ein Bild sagt mehr als tausend Worte’); Dime con quién andas y te diré quién eres (‘Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist’); Tanto va el cántaro a la fuente que al final se rompe (‘Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht’). 6 Traducción por refranes equivalentes y paráfrasis: usuario independiente Como decíamos, la propuesta que aquí se esboza es gradual, y tras sugerir para el usuario básico una primera toma de contacto con los refranes comunes, proponemos avanzar con el usuario independiente (niveles B1 y B2) hacia los refranes que no tienen correspondencia directa entre las dos lenguas en cuestión. Imaginemos por ejemplo el refrán No se ganó Zamora en una hora. Claro está que en el resto de lenguas occidentales no existe ningún refrán en el que uno de sus componentes sea Zamora, pero el sentido que se esconde tras el refrán, esto es, que hay que tener paciencia y perseverancia, sí se encuentra en refranes equivalentes con otros componentes, en alemán por ejemplo con el ‘Rom wurde nicht an einem Tag erbaut’, en inglés ‘Rome was not built in a day’, en francés ‘Paris ne s’est pas fait en un jour, o en portugués ‘Roma e Pavia n-o se fizeram num dia’. El usuario independiente, que ya dispone de un nivel suficiente de comprensión y de una capacidad de expresión que le permite producir textos claros con un nivel de dificultad medio, conociendo ya una serie de refranes comunes, debería comenzar a descubrir los refranes que no tienen correspondencia directa, pero que sí pueden ser traducidos por un refrán que exprese el mismo sentido con diferentes palabras. Junto a ello, si recurrimos a las técnicas de traducción esbozadas anteriormente, sería seguramente conveniente ofrecer al alumno la posibilidad de utilizar las Mínimo (común) paremiológico, traducción y enseñanza de lenguas 393 técnicas de la traducción literal (siempre que el resultado final sea entendible, tanto en su significado como en su sentido; a esto podría añadirse la técnica de la amplificación lingüística con bordoncillos o frases introductorias del tipo como dice el refrán español, como se suele decir, etc.) y de la paráfrasis (en la que se reproduce simplemente el sentido). Refranes hay cientos, y el mínimo paremiológico todavía no está del todo definido, por lo que el propio docente habrá de encargarse de establecer su propio corpus paremiológico e ir introduciéndolo en diferentes ejercicios, como se propuso en la obra 70 refranes para la enseñanza del español (Penadés Martínez et al. 2008): 7 No hay dos sin tres (‘Aller guten Dinge sind drei’); Del plato a la boca se enfría la sopa o Del dicho al hecho hay gran trecho (‘Es wird alles nicht so heiss gegessen, wie es gekocht wird’); Cada oveja con su pareja o Dios los cría y ellos se juntan (‘Gleich und gleich gesellt sich gern’); De noche todos los gatos son pardos (‘In der Nacht sind alle Kühe schwarz’); A quien madruga Dios le ayuda (‘Morgenstund hat Gold im Mund’); No hay que vender la piel del oso antes de cazarlo (‘Es ist noch nicht aller Tage Abend’); A mal tiempo buena cara (‘Gute Miene zum bösen Spiel’); A perro flaco todo son pulgas (‘Ein Unglück kommt selten allein’); A falta de pan buenas son tortas (‘In der Not frisst der Teufel Fliegen’); Cada loco con su tema (‘Jedem Tierchen sein Pläsierchen’); Cría cuervos y te sacarán los ojos (‘Undank ist der Welten Lohn’); Cuando el río suena, agua lleva (‘In jedem Gerücht steckt auch ein Körnchen Wahrheit’); De lo que se come se cría (‘Man ist, was man isst’); De tal palo tal astilla (‘Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm’); Dios aprieta, pero no ahoga (‘Gott lässt sinken, aber nicht ertrinken’); El que tiene boca se equivoca (‘Irren ist menschlich’); En boca cerrada no entran moscas (‘Reden ist Silber, schweigen ist Gold’); En casa del herrero cuchillo de palo (‘Der Schuster trägt die schlechtesten Schuhe’); Hombre prevenido vale por dos o Más vale prevenir que curar (‘Vorsicht ist besser als Nachsicht’); Lo bueno, si breve, dos veces bueno (‘In der Kürze liegt die Würze’); Más vale pájaro en mano que ciento volando o Más vale malo conocido que bueno por conocer (‘Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach’); Mejor solo que mal acompañado (‘Besser allein als in böser Gemein’); Nadie diga de esta agua no beberé (‘Sag niemals nie’); No hay mal que por bien no venga (‘Glück im Unglück’); Ojos que no ven, corazón que no siente (‘Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss’ o ‘Aus den Augen, aus dem Sinn’); Querer es poder (‘Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg’); 7 También Campo Martínez (1999: 23ss.) propone una lista de refranes que „podrían constituir la base para la enseñanza de estas unidades fraseológicas a los extranjeros y que los alumnos de ELE deberían aprender” (Campo Martínez 1999: 23). Javier García Albero 394 Quien mucho abarca, poco aprieta (‘Übermut tut selten gut’); Sobre gustos no hay nada escrito (‘Über Geschmack lässt sich nicht streiten’); Tanto tienes, tanto vales (‘Haste was, biste was’); Del agua mansa me libre Dios, que de la brava me guardaré yo (‘Stille Wasser sind tief’); Quien espera desespera (‘Hoffen und Harren macht manchen zum Narren’); Nadie nace sabiendo (‘Es ist kein Meister vom Himmel gefallen’); Vísteme despacio que tengo prisa (‘Eile mit Weile’). 7 Refranes sin equivalente aparente o sin equivalente acuñado y traducción libre: usuario competente En esta última fase del trabajo con los refranes, que haríamos coincidir con los niveles del usuario competente (C1 y C2), se presentan a los alumnos textos en los que aparecen refranes sin equivalente aparente (por ser, por ejemplo, refranes típicos de la cultura original) o que no tienen aparentemente un equivalente acuñado (esto es, no aparecen en diccionarios bilingües u otros materiales de consulta accesibles al alumno). Los siguientes refranes, de uso corriente en la lengua española actual, podrían ser ejemplos de lo que consideramos adecuado a este nivel: Quien va a Sevilla pierde su silla; Barcelona es buena cuando la bolsa suena; El hombre y el oso, cuanto más feo más hermoso; A buenas horas mangas verdes; Tanto monta, monta tanto, Isabel como Fernando; Las cosas claras y el chocolate espeso; Más mató la cena que sanó Avicena; A cada puerco le llega su San Martín; Aunque la mona se vista de seda, mona se queda; Cada maestrillo tiene su librillo; No por mucho madrugar amanece más temprano; Quien bien te quiere te hará llorar; Nunca llueve a gusto de todos; En abril, aguas mil; Hasta el 40 de mayo no te quites el sayo; Año de nieves, año de bienes; Arrieros somos, y en el camino nos encontraremos; Marzo ventoso y abril lluvioso dejan a mayo florido y hermoso; Por el interés te quiero Andrés; El que se pica, ajos come. Llegados a este nivel, y con unos alumnos que ya disponen de amplios conocimientos tanto sintácticos como léxicos, es de suponer que éstos ya son capaces de utilizar las técnicas propuestas anteriormente (traducción literal o paráfrasis) y, además, se les puede enseñar la última técnica de traducción que habíamos introducido antes: la de la creación de nuevos proverbios a partir del original, nuevos proverbios en los que puede ser fácil captar el sentido de la oración completa y que son percibidos por el receptor del discurso hablado o escrito como una forma proverbial precisamente por el estilo parémico que el estudiante ya ha interiorizado en los Mínimo (común) paremiológico, traducción y enseñanza de lenguas 395 niveles anteriores. Éste dispone de una sensibilidad proverbial avanzada y es capaz de moldear oraciones con un cierto estilo parémico. Con todo, claro está, el trabajo con los refranes nunca podrá ser exclusivo y nunca se podrán dedicar clases a traducir refranes. No tendría demasiado sentido. Pero sí se pueden y se deben introducir refranes en pequeñas dosis, en cada clase, con cada apartado gramatical, de tal forma que el alumno interiorice poco a poco el mínimo paremiológico de una forma contrastiva, hasta el punto de saber, en niveles avanzados, que hay refranes comunes, refranes equivalentes, y refranes sin un equivalente aparente. Además, como habrán podido constatar a lo largo del presente artículo si han estado pensando en otras lenguas occidentales, lo que aquí se propone también puede trabajarse con cualquiera de las otras lenguas occidentales (inglés, francés, italiano, catalán, rumano, holandés...), tanto en un sentido como en otro (de la lengua materna a la extranjera o viceversa). 8 Conclusión En las tablas descriptivas que encontramos en el MCERL, si observamos el nivel más alto (C2) notaremos que una y otra vez se afirma que el usuario competente en este nivel „tiene un buen dominio en expresiones idiomáticas y coloquiales” (Consejo de Europa 2002: 32) o que „tiene un buen dominio de un repertorio léxico muy amplio, que incluye expresiones idiomáticas y coloquiales” (Consejo de Europa 2002: 109). Sin embargo, si este repertorio de expresiones idiomáticas, entre las que debemos incluir los fraseologismos y los refranes o proverbios, no se ha trabajado antes, si no se ha despertado en el alumno la sensibilidad proverbial, si, en fin, el alumno no dispone de una competencia fraseológica y paremiológica trabajada durante años, puede que nos encontremos con hablantes que siguen traduciendo unidades fraseológicas y paremiológicas de forma literal desde su lengua materna. O puede que nos encontremos con que incluso los traductores profesionales - que en su mayor parte tampoco han aprendido la lengua desde la que traducen como lengua materna - carecen de esa competencia paremiológica y cometen errores o inexactitudes al traducir refranes de otras lenguas: un ejemplo de ello puede encontrarse en un fragmento de una traducción al español del libro de Hanna Arendt Eichmann in Jerusalem: Javier García Albero 396 Cuando se preguntó a Eichmann cómo había podido armonizar sus opiniones y sentimientos personales acerca de los judíos con el violento antisemitismo del partido en el que había ingresado, contestó con el refrán: „Una cosa es torear y otra ver los toros desde la barrera”. Refrán que, en los días del juicio, estaba también muy a menudo en labios de muchos judíos (Arendt 1999: 64). Como lectores de la traducción, nos costaba pensar que la filósofa alemana utilizara un refrán típicamente español de motivo taurino, por lo que nos dirigimos a la edición original, en inglés: When Eichmann was asked how he had reconciled his personal feelings about Jews with the outspoken and violent anti-Semitism of the Party he had joined, he replied with the proverb: „Nothing’s as hot when you eat it as when it’s being cooked“ - a proverb that was then on the lips of many Jews as well (Arendt 1963: 34). El traductor español, además de no reproducir exactamente el sentido del original en su versión (quizá porque el refrán inglés sea desconocido, pues no es más que una traducción literal del alemán Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird), introduce un motivo típicamente español relacionado con la fiesta de los toros, encontrándonos así con un escollo que dificulta una lectura fluida del texto, al menos para el lector mínimamente crítico. En conclusión, y visto lo anterior, consideramos que con las reflexiones anteriores la traducibilidad de los refranes queda fuera de toda duda si, en primer lugar, se consideran válidas todas las opciones para traducirlos (que hemos visto en las diferentes técnicas) y si se considera el sentido como el elemento más importante del mensaje. Con todo lo anterior, consideramos justificado el intento de utilizar la traducción de refranes en el aula de lenguas y consideramos que la introducción progresiva de estas unidades con un modelo como el que hemos presentado puede ofrecer resultados beneficiosos para los estudiantes de lenguas extranjeras desde el comienzo. Bibliografía Arendt, Hanna (1963): Eichmann in Jerusalem; a report on the banality of evil, London, Faber and Faber. Arendt, Hanna (1999): Eichmann en Jerusalén. Un estudio acerca de la banalidad del mal, Barcelona, Lumen. 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Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland Aline Willems 1 Einleitung Im Jahr 1997 begannen die OECD-Mitgliedsstaaten mittel- und langfristig der Frage nachzugehen, ob und in welchem Maße Schulabgänger über die nötigen Kompetenzen verfügen, um in vollem Umfang gestaltende Mitglieder der Gesellschaft/ en sein bzw. werden zu können (cf. auch im Folgenden DeSeCo 2005: 5-7). Das „Programme for International Student Assessment“ (PISA) war geboren und fokussierte zunächst auf die Gebiete Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften und Problemlösefähigkeiten. Gleichzeitig bedurfte es aber feinerer Definitionen der Schlüsselkompetenzen, die zu einem erfolgreichen Leben und einer funktionierenden Gesellschaft beitragen. Zu diesem Zweck wurde das DeSeCo-Projekt 1 („Definition and Selection of Competences“) gestartet, das auf der Grundlage zahlreicher Studien eine dreigliedrige Struktur der wichtigsten Schlüsselkompetenzen erarbeitet hat: 1. die Fähigkeit zur interaktiven Anwendung von Medien und Mitteln wie bspw. Sprache oder Technologie/ n, 2. die Fähigkeit zum Interagieren in heterogenen Gruppen und 3. die autonome Handlungsfähigkeit (cf. Abbildung 1). 1 Dabei wurden die Schlüsselkompetenzen nicht willkürlich ausgewählt, sondern auf der Grundlage eines anforderungsorientierten Ansatzes als Antworten auf die Fragestellungen extrahiert, „was der Einzelne benötigt, um sich in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld gut zurechtzufinden. Welche Kompetenzen sind wichtig, um einen Arbeitsplatz zu finden und zu behalten? Welche anpassungsfähigen Eigenschaften werden benötigt, um mit dem technologischen Wandel Schritt zu halten? “ (DeSeCo 2005: 7). Aline Willems 400 Abbildung 1: Drei Kategorien von Schlüsselkompetenzen (nach DeSeCo 2005: 7) Diese drei Kategorien greifen ineinander und werden gleichzeitig von der Fähigkeit zu reflexivem Denken und Handeln überspannt bzw. gesteuert. Die Fertigkeiten der erstgenannten Kategorie - nämlich die interaktive Anwendung von Medien und Mitteln - werden v.a. im Rahmen der immer wieder stattfindenden PISA-Studien gemessen (id.: 12), die der zweitgenannten häufig unter dem Schlagwort Soft Skills zusammengefasst (id.: 14), während die der drittgenannten dazu dienen sollen, „dem Leben einen Sinn zu verleihen“ (id.: 16). Für die in der zweiten Kategorie vorgeschlagenen Soft Skills werden gerne auch Begriffe wie Sozialkompetenzen, soziale Fähigkeiten oder interkulturelle Kompetenzen verwendet (id.: 14), denn sie werden benötigt, um „gute und tragfähige Beziehungen zu anderen Menschen zu unterhalten“, Kooperationsfähigkeit unter Beweis zu stellen sowie Konflikte zu bewältigen und zu lösen (id.: 14-15). In all diesen Bereichen ist der Einsatz eines gewissen Maßes an Höflichkeit unumstritten erfolgsfördernd. Gleichzeitig hat es sich die Bildungspolitik zum Ziel gesetzt, eben jene Soft Skills neben den in den PISA-Messungen erhobenen Kompetenzen im Schulunterricht zu fördern: So definiert bspw. der Kernlehrplan Spanisch am Gymnasium in Nordrhein-Westfalen die Ziele des Unterrichts in Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland 401 der „Ausbildung von kommunikativen Fertigkeiten und interkultureller Handlungsfähigkeit“ (MSW_NRW 2009a: 10). Bereits am Ende der Jahrgangsstufe 6 sollen die Schülerinnen und Schüler (SuS) im Rahmen ihrer interkulturellen Kompetenzen in Alltagssituationen „elementare Konventionen und Höflichkeitsformen“ beachten können (id.: 21) und dies gilt ebenso für SuS am Ende der Jahrgangsstufe 9 in Begegnungssituationen mit Zielsprachensprechenden (id.: 36). 2 Damit orientieren sich die Anforderungen in den Lehrplänen für die spanische Sprache an Schulen in NRW (cf. auch Fußnote 2) an den Kompetenzbeschreibungen des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR), der beispielsweise. im Rahmen einer Konversation von einem Lernenden auf Niveaustufe A2 folgende Fertigkeiten fordert: Kann sehr kurze Kontaktgespräche führen, versteht aber kaum genug, um selbst das Gespräch in Gang zu halten; versteht jedoch, wenn die Gesprächspartner sich Mühe geben, sich ihm/ ihr verständlich zu machen. Kann einfache, alltägliche Höflichkeitsformeln verwenden, um jemanden zu grüßen oder anzusprechen. Kann jemanden einladen und auf Einladungen reagieren. Kann um Entschuldigung bitten und auf Entschuldigungen reagieren. Kann sagen, was er/ sie gerne hat und was nicht (GeR 2001, Kap. 4.4.3.1; Hervorhebung A.W.). Des Weiteren sollten Sprecher, die sich bzgl. der Produktion auf Sprachniveau B1 einstufen respektive eingestuft werden, in informellen Diskussionen über folgende Kompetenzen verfügen: Kann im Allgemeinen den wesentlichen Punkten einer informellen Diskussion mit Freunden folgen, sofern deutlich gesprochen und Standardsprache verwendet wird. Kann in einer Diskussion über Themen von Interesse persönliche Standpunkte und Meinungen äußern und erfragen. Kann seine/ ihre Meinung oder Reaktion klar machen, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen oder praktische Fragen zu klären im Zusammenhang damit, wohin man gehen oder was man tun sollte. 2 Dieselben Anforderungen werden an SuS an Gesamtschulen in NRW am Ende der Jahrgangsstufen 6, 10 und 8 (cf. MSW_NRW 2009b: 20, 32, 40) sowie an diejenigen an Realschulen in den analogen Jahrgangsstufen gestellt (cf. MSW_NRW 2009c: 20, 32, 39). In der Sekundarstufe II findet der Bereich der Höflichkeit im Spanischunterricht hingegen keine Erwähnung mehr im Kernlehrplan für NRW (cf. MSW_NRW 2014), sondern bleibt auf die Sprachniveaustufen A1/ 2 und B1 gemäß den Vorgaben des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen beschränkt (cf. MSW_ NRW 2009a; 2009b; 2009c). Aline Willems 402 Kann höflich Überzeugungen und Meinungen, Zustimmung und Ablehnung ausdrücken (ibid., Hervorhebung A.W.). Von Niveaustufe B2 an aufwärts erfährt die Thematik Höflichkeit keine explizite Erwähnung mehr in den Kompetenzbeschreibungen des GeR und demzufolge auch nicht in den betrachteten Lehrplänen (cf. auch Fußnote 2). Nun liegt es in der Natur der Textsorten GeR und Rahmenlehrplan, dass beide zwar die im Fremdsprachenunterricht zu erreichenden Kompetenzen umfassend beschreiben sowie in situationale Zusammenhänge einbetten; wie genau - also mit welchen Inhalten und Methoden - ein Ausbau der Kompetenzen jedoch erfolgen soll, wird den Lehrenden und Lernenden selbst überlassen. Erste Klärungsansätze zu eben jener Frage zu liefern, ist Zielsetzung des vorliegenden Beitrages. Zu diesem Zweck soll zunächst ein kurzer Definitionsversuch des Terminus Höflichkeit unternommen werden, welcher der Fragestellung dienlich ist (cf. Abschnitt 2). Um zu erfassen, welchen Stellenwert Höflichkeit i.A. im Spanischunterricht einnimmt, wären einerseits konkrete Unterrichtsforschung oder Fragebogenstudien denkbar. An dieser Stelle soll zur Sammlung erster Eindrücke allerdings zunächst ein Blick in ein gängiges Spanischlehrwerk helfen, die Thematik einzugrenzen (cf. Abschnitt 4). Da Höflichkeit eng an soziale Konventionen gebunden ist und demnach in unterschiedlichen Gesellschaften/ Kulturen divergent geprägt sein kann, werden die Ergebnisse der Lehrbuchanalyse mit jenen linguistischer Forschung zu sprachlicher Höflichkeit im Spanischen in Bezug gesetzt, um über eine angemessene Vergleichsfolie zu verfügen (cf. Abschnitt 3). Aus diesem Grund werden die Beschreibungen der spanischen Besonderheiten der Lehrbuchanalyse vorgelagert. Schließlich werden in Abschnitt 5 einige Vorschläge unterbreitet, wie die Thematik Höflichkeit auf Grundlage der in Abschnitt 3 dargestellten Erkenntnisse an der einen oder anderen Stelle Eingang in den Spanischunterricht finden könnte. 2 Höflichkeit im Fremdsprachenunterricht - ein Definitionsversuch Während die Thematik der Höflichkeit im deutschsprachigen Raum wenig Beachtung in Bezug auf ihre Bedeutung im bzw. für den Fremdsprachenunterricht findet (cf. bspw. Birk 2009; Scialdone 2009), wurde in Spanien zumindest das Lemma cortesía in das Diccionario de términos clave de ELE aufgenommen. Die Definition beginnt wie folgt: Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland 403 En lingüística, se entiende por cortesía el conjunto de estrategias conversacionales destinadas a evitar o mitigar las tensiones que aparecen cuando el hablante se enfrenta a un conflicto creado entre sus objetivos y los del destinario (CVC 1997-2016, s.v. cortesía). Dieser sehr vereinfachten Erklärung - der im Lexikonartikel ein kurzer Abriss der bekanntesten Höflichkeitstheorien von Lakoff (1973) über Leech (1983) bis Brown und Levinson (1987) folgt - würden zahlreiche Höflichkeitsforscher massiv widersprechen, denn die Reduktion von Höflichkeit auf die Lösung einer Konfliktsituation stellt bereits eine sehr spezifische Betrachtungsweise dar. Gleichzeitig wird daran aber auch deutlich, wie problematisch die (einfache/ kurze) Definition von Höflichkeit sein kann, 3 denn neben den existierenden und teilweise dynamischen wissenschaftlichen Theorien, die sich bspw. mit der sprachlichen Höflichkeit auseinander setzen, existieren divergierende alltagssprachliche Definitionen, die genauso heterogen innerhalb einer einzelnen Sprachgemeinschaft ausfallen können, wie sie dem Wandel der Zeit ausgesetzt sind (cf. bspw. Ankenbrand 2013: 46). Darüber hinaus finden sich zusätzlich zu den nicht kongruenten linguistischen Höflichkeitstheorien und dem laienlinguistischen Höflichkeitsverständnis auch noch Definitionsversuche von Seiten der Philosophie (cf. z.B. Schopenhauer 1939; Kant 1977). Mehrere Wissenschaftler haben sich bereits bemüht, zumindest die wissenschaftlichen Theorien zu bündeln (cf. bspw. Ankenbrand 2013; Grainger 2011; Mills 2011) und kommen dabei zu ähnlichen Kategorien, welche bspw. Grainger (2011: 169) als „Wellen“ bezeichnet: Die „erste Welle“ fasst die Begründer der linguistischen Höflichkeitstheorien wie Lakoff (1973; 1989), Brown und Levinson (1978; 1987) sowie Leech (1983) zusammen, die auf die linguistischen Theorien von Austin (1962) und Grice (1975) zurück greifen (cf. auch im Folgenden Grainger 2011: 169-172). Ihnen ist gemein, dass sie Strategien der Konfliktvermeidung bzw. Minimierung von Spannungen aufzeigen und als universell klassifizieren. Die berühmteste dieser Theorien ist diejenige von Brown und Levinson (1978; 1987), die den face-Begriff der Sozialpsychologin Erving Goffman (1967) aufgreift und Höflichkeit als face-saving acts etc. klassifiziert. 4 Die „zweite 3 Auch die Mitglieder der 1999 in Großbritannien gegründeten Linguistic Politeness Research Group verfügen alle über eine eigene Definition von Höflichkeit, je nachdem wessen Theorie/ n sie kritisieren respektive weiterentwickeln (cf. LPRG 2011: 2-5). 4 Für einen zusammenfassenden Überblick über die Höflichkeitstheorie nach Brown und Levinson cf. bspw. Goldsmith (2006); für eine Darstellung der Kritik an Brown und Levinson cf. bspw. Ankenbrand (2013: 26-32). Aline Willems 404 Welle“ stellen die Vertreter post-moderner respektive diskursiver 5 Ansätze dar, die sich als direkte Kritiker der Theorien der ersten Welle verstehen und von den Grundsätzen ausgehen, dass Bedeutung nicht starr ist, sondern stets zwischen den Aktanten eines Diskurses ausgehandelt wird. Zu ihnen gehören u.a. Locher (2004; 2006), Watts (2003; 2005) sowie die Gruppe Watts/ Ide/ Ehlich (2005). Die wichtigste Neuerung, die sie in die Höflichkeitstheoriendiskussion einbringen, ist wahrscheinlich die Unterscheidung in eine Höflichkeit ersten und zweiten Grades, wobei mit letzterer die Theorien der Wissenschaft gemeint sind - insbesondere die der „ersten Welle“ - und mit der ersten das Alltagsverständnis von Höflichkeit eines jeden L1-Sprachverwenders. Die Anhänger der „zweiten Welle“ konzentrieren sich in ihren Untersuchungen v.a. auf die Höflichkeit ersten Grades und distanzieren sich explizit von derjenigen zweiten Grades, denn [w]e consider it important to take native speaker assessments of politeness seriously and to make them the basis of a discursive, data-driven, bottom-up approach to politeness. The discursive dispute over such terms in instances of social practice should represent the locus of attention for politeness research (Locher/ Watts 2005: 16). Während die Theorien der „zweiten Welle“ eindeutig als Reaktionen auf bzw. Kritik an der „ersten Welle“ zu verstehen sind, stehen die Theorien der „dritten Welle“ mit keiner der vorangegangenen in direkter Opposition, sondern überschneiden sich partiell mit diesen, denn in dieser Kategorie fasst bspw. Grainger (2011: 171-172) die soziologischen Ansätze zusammen. Mit den Begründern der Höflichkeitsforschung stimmen sie in der Grundannahme überein, dass Sprache eine soziale Handlung im Sinne Austins darstellt. Gleichzeitig versuchen sie die Ansätze des ersten und zweiten Grades von Höflichkeit wiederzuvereinen und bringen den soziologischen Terminus des frame 6 in die Betrachtungen mit ein. Zu den 5 Für eine Diskussion der Termini post-modern und diskursiv in diesem Zusammenhang cf. bspw. Mills (2011: 27-28); denn insbesondere der erstgenannte Begriff wird bereits in der anglophonen Literatur mehrdeutig verwendet: Während er sich im US-amerikanischen Kontext auf post-strukturalistische Theorien (wie z.B. diejenigen von Foucault, Derrida oder Kristeva) bezieht, meint er in der britischen Forschung die nachfolgende Theoriegeneration (wie bspw. diejenigen aus der Feder Baudrillards oder Lyotards). 6 Als frames werden i.A. Konstrukte zur Wissensrepräsentation verstanden, bei denen Menschen für bestimmte Situationen bestimmte Umstände erwarten. Dabei basieren diese mentalen Wissensrepräsentationen auf zuvor gesammelten Erfahrungen und beeinflussen die Erwartungen an vergleichbare Situationen. So erwartet der Besu- Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland 405 Vertretern der „dritten Welle“ zählen u.a. O’Driscoll (2007), Arundale (1999; 2010), Haugh (2007) und Terkourafi (2005; 2007). Welche Theoriebestandteile sind nun im Fremdsprachenunterricht von Bedeutung, in dem ein interkultureller Ansatz zu berücksichtigen ist und der Universalitätsanspruch der ursprünglichen Höflichkeitstheorien kontrastiert werden muss, um interkulturelle Missverständnisse - sog. critical incidents (cf. bspw. Heringer 2012: 75) - im Bereich des höflichen Verhaltens möglichst zu vermeiden? Fremdsprachenlehrer und -lerner sollten wissen, dass Höflichkeit... - an eine Community of Practice (CofP; cf. Wenger 1998) gebunden ist bzw. von ihr definiert wird, - kontext- und situationsabhängig ist (cf. frame-Ansätze wie bspw. Arundale 2010), - einem diachronen Wandel 7 unterliegt (cf. bspw. Ankenbrand 2013), - soziale Hierarchien konstituiert (cf. bspw. Mills 2011), - sich nicht ausschließlich auf der lexikalischen Ebene manifestiert, sondern auch die Prosodie/ Intonation sowie begleitende Mimik und Gestik (cf. bspw. Culpeper 2011) bzw. divergierende Direktheitsgrade (cf. bspw. Siebold 2012) von Bedeutung sind. Diese Grundannahmen sind zunächst einmal sprachübergreifend von Bedeutung, d.h. von der zu erlernenden Fremdsprache unabhängig. Gemäß der ersten Annahme, nämlich dass Höflichkeit von der jeweiligen CofP definiert wird, empfiehlt es sich, nachfolgend die Unterschiede in der sprachlichen Höflichkeit zwischen dem Deutschen und dem Spanischen näher zu beleuchten, um eine angemessene Vergleichsfolie für die sich anschließende Analyse spanischer Lehrbücher zu erstellen. cher eines traditionellen Restaurants in Deutschland, von einem Mitglied des Serviceteams bedient zu werden und seine Rechnung erst vor dem Verlassen des Gastronomiebetriebes begleichen zu müssen, während es für den Besucher eines britischen Pubs selbstverständlich erscheint, seine Bestellung direkt an der Theke aufzugeben und unmittelbar zu bezahlen. 7 Für einen Überblick über die Begriffsgeschichte der Höflichkeit cf. bspw. Haferland/ Paul (1996: 7-11). Aline Willems 406 3 Höflichkeit im Vergleich: Spanisch vs. Deutsch 8 Dass die Höflichkeitsauffassungen zwischen der spanisch- und deutschsprachigen Welt mitunter divergieren können, ist nicht nur eine subjektive Empfindung, die sich einigen Fremdsprachenlernern im Kontakt mit zielsprachlichen L1-Sprechern bzw. in einem Zielsprachenland aufdrängt, wie z.B. der jungen Spanischstudentin, die sich von den ihr in Costa Rica entgegengebrachten piropos belästigt fühlt (cf. Hofmann 2012), während diese für die einheimische männliche Bevölkerung zum „Volkssport“ geworden sind und bei den rezipierenden Damen zu einer Steigerung des Selbstwertgefühls beitragen (Teufel 2012), sondern es ist auch das Ergebnis einer Vielzahl an entsprechenden Untersuchungen 9 (cf. z.B. Haverkate 1993; 1994; Cestero Mancera 1994; Iglesias Recuero 2001; Hickey 2005). Um im nachfolgenden Abschnitt die Inhalte der Lehrbücher bzgl. ihres Umgangs mit der Thematik Höflichkeit angemessen beurteilen zu können, sind v.a. folgende allgemeine Unterschiede von Belang: Die Regeln des Sprecherwechsels (turn taking) sind im Spanischen wesentlich weniger rigide als im Deutschen. Bereits 1988 merkt Haverkate (1988: 385-409) an, dass Spanischsprecher der Konversationsmaxime ‘Unterbrich niemanden’ gegenüber sehr tolerant seien. Neuere Untersuchungen kommen zu vergleichbaren Ergebnissen (cf. bspw. Hernández Flores 1999: 39; Hickey 2005: 318). Die informelle Anredeform tú/ vosotros wird im Spanischen wesentlich „schneller“ und weitläufiger verwendet als das Du/ Ihr im Deutschen (cf. bspw. Sinner 2010), was Rehbein/ Thomas/ Steinhuber (2009: 43) unter dem Terminus „Interpersonale Distanzminimierung“ anführen: Dies 8 Die Verfasserin ist sich der Problematik bewusst, dass Höflichkeit auch innerhalb von Sprachgemeinschaften, bspw. regional, variiert. Das bedeutet, dass es in Österreich andere Konzeptionen von Höflichkeit geben kann als in Deutschland und dass sich dies auch in der Sprache niederschlägt, wie bspw. die Untersuchungen von Sinner (2010) oder Held (2009) ebf. belegen. Da die in Abschnitt 4 betrachteten Lehrbücher aus dem geographischen/ politischen Raum Deutschland gewählt wurden, wird an dieser Stelle nicht auf die Besonderheiten in der Höflichkeitskonzeption deutschsprachiger Sprechergemeinschaften außerhalb der BRD eingegangen. Außerdem hat sich im Rahmen der Lehrwerkanalyse (cf. Abschnitt 4) gezeigt, dass bzgl. der Untersuchungsfrage in den Unterrichtswerken keine Unterscheidung zwischen verschiedenen spanischsprachigen Gesellschaften/ Kulturräumen vorgenommen wird. Darum wird analog zum Schulunterricht auch an dieser Stelle v.a. das Spanische der iberischen Halbinsel im Fokus der Betrachtung stehen. 9 Für einen (nicht ganz aktuellen) zusammenfassenden Forschungsüberblick zur Höflichkeitsforschung an der spanischen Sprache cf. bspw. Iglesias Recuero (2001). Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland 407 hängt gewiss auch mit dem historischen Hintergrund in Spanien zusammen, wo das kameradschaftliche tú eine Vorreiterrolle zwischen 1931 und 1975 einnahm, nach Beendigung der Diktatur schließlich radikal abgelehnt wurde und heute wieder eine prädominate Stellung in der Kommunikation zwischen Aktanten gleichen Status‘ einnimmt, bzw. auch von älteren Sprechern zur Anrede junger Gesprächspartner verwendet wird, während diese den Betagteren mit einem usted/ ustedes entgegnen (cf. Hickey 2005: 319). Die abweichende Verwendung der informellen Anrede im Spanischen und Deutschen sollte deutschen Spanischlernern in jedem Fall erklärt werden, um critical incidents zu vermeiden. Gleiches gilt auch für die Neigung zum Einsatz von Komplimenten sowie den sich dahinter verbergenden Intentionen (oder eben auch nicht) (cf. id.: 320), wie eingangs des Abschnitts beschrieben. Darüber hinaus dienen L1-Spanischsprechern piropos auch als Gesprächseinstieg, d.h. erfüllen eine über den Inhaltstransport hinausgehende Gesprächsfunktion (cf. Siebold 2008: 25). Des Weiteren haben linguistische Untersuchungen gezeigt, dass das Spanische zwar über eine Variationsbreite an indirekten Aussagen und Aufforderungen verfügt, diese hingegen wesentlich weniger häufig eingesetzt werden als in anderen Sprachen (cf. auch im Folgenden Hickey 2005: 321) und stattdessen direkte Aufforderungen bevorzugt werden, die allerdings mittels eines Kompensations-Tags an Höflichkeit gewinnen, wie z.B. Cierra la puerta, mujer oder Cállate, hombre - während ein deutscher Muttersprachler insbesondere im ersten Fall eher zu einer indirekten Frage tendieren würde. Die Kompensations-Tags, wie bspw. auch hija/ o (cf. Siebold 2008: 90), sollen verstärkte Sympathie für den Adressaten zum Ausdruck bringen (cf. auch Portolés Lázaro/ Vázques Orta 2000) und sollten den Spanischlernern auf rezeptiver Ebene bekannt gemacht werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Ob bzw. inwieweit sie diese auch auf produktiver Ebene selbst einsetzen sollten, bleibt umstritten. Dem Lerner auf A1bis B2-Niveau wäre davon allerdings eher abzuraten, weil das nötige Sprachgefühl für die korrekte Auswahl des Tags sowie die adäquate Situation fehlen könnten. Die direkte Formulierung von Bitten/ Wünschen zeigt sich auch im frame ‘Einkaufen’, in dem in Spanien eher auf in Deutschland übliche indirekte Formulierungen, wie bspw. ich hätte/ möchte gerne..., verzichtet wird und stattdessen ein direktes me va a dar/ me voy a llevar... gewählt wird (cf. Siebold 2008: 91-93). Auch in anderen Kontexten werden im Spanischen direkte Bitten als höflich erachtet, während diese im Deutschen eher durch den Konjunktiv oder mittels Modalverben bzw. -partikeln abgeschwächt werden (id.: 104-105). Gleichzeitig könnten spanische L1-Sprecher einen aus deutscher Perspektive höflich gemeinten Aline Willems 408 Satzbeginn wie podrías por favor... als distinguierte Ausdruckweise empfinden (id.: 28). In ihrer Befragung deutscher und spanischer Studierender zu Unterschieden zwischen der jeweiligen Mutter- und Fremdsprache in bestimmten Situationen bzw. festgelegten Sprachhandlungen sammelt Siebold (2008) noch eine weitere Reihe von potentiellen Missverständnisquellen: So ist bspw. die Frequenz von Ausrufen im Spanischen wesentlich höher als im Deutschen (id.: 26), während im Gegenzug im Deutschen die Frequenz von Dankesbekundungen höher liegt (id.: 30). Über ein solches Wissen im Kontakt mit Zielsprachensprechern zumindest passiv zu verfügen, kann die Interpretation der Intentionen des Gegenübers erleichtern. Gleichermaßen ist es wichtig, typische spanische Phrasen zu kennen, die von ihrem inhaltlichen Informationsgehalt losgelöst und keinesfalls wortwörtlich zu verstehen sind: Dazu gehört z.B. die Formel ¿qué tal? , die als reine Begrüßungsformel aufzufassen ist, aber nicht als „ernstgemeinte“ Frage nach dem allgemeinen persönlichen Befinden oder als Einstieg in eine Konversation (id.: 27); ebenso gilt die Floskel cuando quieras, pásate por mi casa als inhaltsfreier Höflichkeitsausdruck, solle aber nicht unbedingt die entsprechende Handlung beim Rezipienten auslösen (id.: 28-29). Ein wichtiges sprachliches Phänomen ist die Ökonomie, die im Fremdsprachenunterricht sehr vorteilhaft genutzt werden kann, wenn bspw. Routineformeln als feste Kollokationen/ chunks gelernt und abrufbar gemacht werden. Das Beherrschen der angemessenen Routineformel im jeweiligen Kontext fällt ebenfalls in den Bereich des höflichen sprachlichen Umgangs miteinander. Darum sollten Fremdsprachenlerner zumindest diejenigen mit hoher Frequenz sowohl passiv als auch aktiv beherrschen, wobei mit steigendem Sprachniveau ebenfalls die weniger häufig verwendeten Routineformeln zumindest passiv bekannt sowie im besten Fall auch aktiv eingesetzt werden können sollten (cf. auch GeR 2001, Kap. 4.4.3.1). Sosa Mayor (2006) hat in einer umfangreichen Analyse spanische und deutsche Routineformeln zusammengetragen, nach Kontextbezug bzw. Aussageabsicht klassifiziert und damit sowohl dem Spanischals auch Deutschlerner ein umfangreiches Nachschlagewerk zur Verfügung gestellt. Im Laufe der jeweiligen Sprachlernbiographie wäre es hilfreich, zumindest mit den nachfolgenden spanischen Routineformeln vertraut zu werden: Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland 409 - Dankesformeln ¡gracias! , ¡muy agradecido! , weitere Varianten gebildet mit agradecer, ¡muy amable! (cf. Sosa Mayor 2006: 307-310) - Entschuldigungsformeln ¡perdón! / ¡perdón por...! , Varianten gebildet mit perdonar, disculpar, dispensar, ¡lo siento! + ggf. Ergänzungen, ¡lo lamento! + ggf. Ergänzungen (id.: 319-323) - Entgegnungsformeln ¡de nada! , ¡no pasa nada! , ¡a ti! , ¡igualmente! , ¡ha sido un placer! und evtl. das eher selten gebrauchte ¡no hay de qué! (id.: 329-330) - Begrüßungs-/ Begegnungsformeln ¡buenos/ as días/ tardes/ noches! , ¡buenas! , ¡hola! , ¡bienvenido! , ¡encantado! , ¡mucho gusto! (id.: 409-415) - Abschiedsformeln ¡adiós! , ¡agur! , hasta + Ergänzung, ¡nos vemos! , ¡un beso! (ibid.) - Trink-/ Essformeln ¡que aproveche! , ¡salud! , ¡chin-chin! , ¡por nosotros! , ¡buen provecho! (ibid.) - Niesformeln ¡Jésus! , ¡salud! => Entgegnung: ¡gracias! (id.: 338) Darüber hinaus nennt Sosa Mayor (id.: 254-270, 409-415) noch zahlreiche spezifische „Wunschformeln“ (im Sinne von jemandem etwas, bspw. eine gute Reise, wünschen). Diese sind jedoch naturgemäß kontextrestriktiv und sollten im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts wohl eher adressatenspezifisch auf potentiell mögliche Begegnungssituationen reduziert betrachtet werden. Deutschen SuS der Sekundarstufe wäre wahrscheinlich daran gelegen, Geburtstags-Wunschformeln kennen zu lernen, während Beileidsformeln wohl weniger frequent in ihrem aktiven Sprachwortschatz benötigt werden. Insbesondere in Bezug auf die spezifischen Wunschformeln bietet es sich jedoch an, weit verbreitete Konstruktionsmuster deutlich zu machen, die der Fremdsprachenverwender dann dem benötigten Anlass gemäß mit Inhalten füllen kann. Dazu zählen Muster wie ¡feliz + x! , ¡buen + x! oder ¡qué te + x! , wobei feliz und buen an das nachfolgende Element in Genus und Numerus anzugleichen sind bzw. im dritten Beispiel auch alternativ die formelle Anrede gewählt werden kann. Darüber hinaus können diese Formeln noch mit den sie typischerweise begleitenden Verben dargeboten werden, wie z.B. tener oder desear. Insbesondere fortgeschrittenen Lernern und solchen, die stark formelfokussiert sind, könnten auch präzisere Konstruktionsanleitungen zugutekommen, wie sie Sosa Mayor (id.: 409-415) in einer Übersichtstabelle Aline Willems 410 angibt. Als Beispiele lassen sich u.a. nennen {enviar | mandar} un saludo [PRÄP-Phr], encantando [de conocer + PERS.PRON-AKK], [que {tener-SUBJ} una] [muy] {feliz | buena} semana. Selbstverständlich ist es dabei nicht Ziel des Unterrichts, die SuS zum Auswendiglernen dieser Konstruktionen aufzufordern, sondern diese könnten manchem Lerner das allgemeine Sprachverständnis erleichtern, wobei die oben genannten Beispiele sehr sorgfältig ausgewählt, zum behandelten Kontext passen und behutsam präsentiert/ eingeführt werden sollten. Nach dieser überblicksartigen Bestandsaufnahme der Besonderheiten im höflichen Ausdruck der spanischen Sprache im Vergleich zum Deutschen bietet sich die Analyse eines Spanischlehrwerkes für deutsche SuS an. Denn es stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise die hier dargestellten Erkenntnisse der Linguistik Eingang in die Lehr-/ Lernmaterialien des Fremdsprachenunterrichts finden bzw. gefunden haben. 4 Höflichkeit im Spanischlehrwerk ¡Apúntate! 4.1 Allgemeine Darstellung des Lehrwerkes Das Spanischlehrwerk 10 ¡Apúntate! (2008-2012) wurde für den vierbzw. fünfjährigen Lehrgang „Spanisch als 2. Fremdsprache an Gymnasien“ konzipiert, wobei am G8 die ersten vier Bände (Apú1 bis Apú4) verpflichtend sind und der fünfte mit dem Untertitel Paso al bachillerato optional auch noch in der Sekundarstufe II eingesetzt werden kann. Dessen Hauptzielsetzung ist die „Wiederholung von Grammatik und Wortschatz sowie [eine] systematische Einführung in die Textarbeit“ (Cornelsen o.J.), d.h. er könnte auch ohne große Lernverluste durch andere Materialien ersetzt werden. Am neunjährigen Gymnasium sind alle fünf Bände konsekutiv zu bearbeiten. Nach Abschluss des vierbis fünfjährigen Lehrgangs kann/ sollte das Sprachniveau B1 erreicht worden sein. Die nachfolgende Übersicht (Tabelle 1) soll kurz die Struktur der einzelnen Schülerbände darstellen: 10 Das komplette Lehrwerk ¡Apúntate! verfügt neben den hier betrachteten Schülerbüchern (Apú1-Apú5) auch noch über zahlreiche Zusatzmaterialien, wie bspw. Lehrerbücher, Grammatikübungsbücher, Vorschläge zur Lernstandserhebung etc. (cf. bspw. Cornelsen o.J.), die an dieser Stelle jedoch nicht in der Analyse berücksichtigt wurden. Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland 411 I II III IV V Seitenumfang 191 S. 215 S. 224 S. 208 S. 224 S. Lektionen 10 (je 9 S.) + 1 L. fak. 10 (je ca. 10 S.) 8 (je ca. 10 S.) 5 (je ca. 11 S.) + 1 L. fak. 5 (je ca. 15 S.) Repasos 3 3 4 6 5 Balances 2 2 2 2 2 Anhang 59 S. 81 S. 84 S. 85 S. 97 S. chron. Vokabeln 32 S. 32 S. 27 S. 22 S. 23 S. alph. Vokabeln 15 S. 12 S. 18 S. 22 S. 23 S. dt.-span. Vokabelverzeichnis 11 S. 16 S. 22 S. 22 S. Tabelle 1: Struktureller Aufbau der ¡Apúntate! -Lehrbücher Die einzelnen Lektionen sind meist noch einmal in zwei bis drei Unterlektionen gegliedert, welche klassischerweise häufig mit einem Text- oder Bildimpuls beginnen, der das Schwerpunktthema des Unterkapitels repräsentiert, bzw. mit einer vorgelagerten „Actividad de prelectura“. Anschließend werden an das inhaltliche Thema angepasst zusätzlich Wortschatz- und Grammatikübungen angeboten. Die Rezipienten, wohl in diesem Fall v.a. die Lehrkräfte, werden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die im Inhaltsverzeichnis „aufgelisteten Angebote [...] nicht obligatorisch abzuarbeiten“ sind, sondern „[d]ie Auswahl der Übungen und Übungsteile richtet sich nach dem Schwerpunkt des schulinternen Curriculums“ (Apú1: 2; ebenso in Apú2-4 jeweils über dem Inhaltsverzeichnis). Ebenso stellen die zwischen die Lektionen eingeschobenen Repasos fakultative „wiederholende und vertiefende Übungen“ (Apú1: 2) dar und die Balances bieten ebf. freiwillig einzusetzende „fertigkeitsorientierte Lernstandsüberprüfungen“ (Apú1: 4) an. Der Anhang besteht - zumindest ab Band 2, denn in Band 1 ist er noch reduzierter - aus einem kurzen Nachschlagewerk zum Alphabet, zu Zeichensetzung, Aussprache, Orthographieregeln, den Wochentagen, Jahreszeiten, Kardinal- und Ordinalzahlen, er gibt Redemittel zum Diskutieren an die Hand sowie gebräuchliche spanische Phrasen für die Klassenkommunikation, erklärt kurz die Bestandteile eines Briefes, gibt Anleitungen zur Fehlerselbstkorrektur, stellt Konjugationstabellen zur Verfügung und schließlich ein „Pequeño Diccionario de Cultura y Civilización“, in dem landeskundliche Inhalte der einzel- Aline Willems 412 nen Lektionen nachgeschlagen werden können. Den Hauptbestandteil des Anhangs machen jedoch die Vokabellisten aus: Zunächst werden die „neuen“ Wörter in der Reihenfolge der Lektionen in einer dreispaltigen Tabelle präsentiert, wobei zunächst das spanische Lemma, dann das deutsche Äquivalent und in der dritten Spalte Lernhilfen, wie bspw. Kollokationen, Synonyme, Antonyme oder ähnlich klingende Lemmata mit gleicher Bedeutung aus anderen Fremdsprachen, vorgegeben werden. Des Weiteren finden sich in diesem Teil graue Lernkästchen mit dem Titel „Para communicarse“, die den SuS geläufige spanische Phrasen näher bringen, wobei diese nicht selten von einer kurzen Erklärung der Aussageabsicht begleitet werden anstatt von einer wörtlichen Übersetzung: z.B. „Etwas ist nicht so, wie jemand denkt - ¡Qué va! “ oder „Du sagst, dass dir etwas klar ist. Du bist dir aber nicht zu 100% sicher - Creo que sí“ (Apú2: 161). An die die Lektionen ergänzenden Vokabellisten schließt sich ein alphabetisches Vokabelverzeichnis in spanisch-deutscher Reihenfolge und ab Apú2 auch in deutsch-spanischer Reihenfolge - quasi als Ersatz für ein vollwertiges Wörterbuch - an, in dem auch immer auf die jeweilige Lektion verwiesen wird, in dem die aufgeführten Lemmata eingeführt wurden. 4.2 Umgang mit (sprachlicher) Höflichkeit im Lehrwerk ¡Apúntate! Wie seit einigen Jahrzehnten in Schulfremdsprachenbüchern üblich, beginnt auch Apú1 mit dem Kennenlernen von Begrüßungsfloskeln, Redemitteln zur Präsentation der eigenen Person und zu kurzen für solche Situationen konstruierten Dialogen (Apú1: 7-13). Dabei werden die SuS mit lexikalischen Einheiten konfrontiert, die zum höflichen Umgang beitragen können - oder eben auch nicht -, wie bspw. ¿qué tal? als fester Bestandteil von Begrüßungsformeln oder die Modalpartikeln ¿verdad? und ¿no? zur Abschwächung von Fragen bzw. Aussagen. Diese werden aber nicht in den beschriebenen Funktionen erklärt, sondern lediglich ins Deutsche übersetzt, d.h. eine sprachstrukturelle Auseinandersetzung, die zu einer entsprechenden Kognitivierung und dem Nachdenken über Höflichkeit in der (Fremd-)Sprache beitragen könnte, findet nicht statt. Diese Vernachlässigung von Möglichkeiten, sprachliche Höflichkeit gezielt auszubilden oder zu fördern, findet sich in allen Bänden des Lehrwerkes und damit auf allen Lernstufen: Die SuS lernen zwar im Laufe des vierbis fünfjährigen Lehrgangs zahlreiche der u.a. bei Sosa Mayor (2006) zu findenden Routineformeln kennen - wie u.a. auch im GeR (2001, Kap. 4.4.3.1) gefordert -, allerdings entweder durch die entsprechende deut- Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland 413 sche Übersetzung oder durch eine deutsche Paraphrase der zugrundeliegenden Aussageabsicht - „Du entschuldigst dich - Perdona“, „Du wünschst guten Appetit - ¡Que aproveche! “ (Apú1: 156). Die spanischen Phrasen werden ansonsten in den Lektionstext integriert oder als Teil der Übung präsentiert, auf ihre Bedeutung zur Verstärkung von Höflichkeit wird jedoch nicht explizit eingegangen. Die Autoren vertrauen wohl darauf, dass die SuS dort, wo es möglich ist, den entsprechenden Transfer aus dem Deutschen selbst vollziehen oder evtl. von der Lehrkraft dabei aus eigenem Antrieb unterstützt werden. Es gäbe durchaus Möglichkeiten, die Probleme um Unterschiede in der sprachlichen Höflichkeit zu thematisieren, denn einige Lektionen konstruieren typische frames, die sich dazu anbieten würden, wie bspw. ‘einkaufen auf dem Markt‘ (Apú1: 111), ‘Erwachsene nach dem Weg fragen‘ (Apú2: 22) oder ‘Übersetzungsaufgabe, mit typischen Reisesituationen‘ (Apú4: 54). Des Weiteren ließen sich sogar regionaltypische Differenzierungen innerhalb der spanischsprachigen Welt darstellen, denn zahlreiche hispanoamerikanische Länder/ Regionen kommen mit ihren Kulturen, geographischen und anderen Besonderheiten im Lehrwerk zur Sprache: z.B. Zentralamerika (Apú2: 56-57), Nicaragua (Apú2: 93), Mexiko (Apú3: 50-61), Peru (Apú4: 70-79) oder gar die spanischen Facetten der USA (Apú5: 64-65). Neben der fehlenden expliziten Auseinandersetzung mit der Anwendung sprachlicher Höflichkeit fällt aber eine andere Tendenz wesentlich stärker auf: Die SuS lernen vergleichsweise viele Redemittel, v.a. in Form von Kollokationen und Phrasen, kennen, die es ihnen ermöglichen, ihre eigene Meinung und ihr Missfallen zum Ausdruck zu bringen bzw. sich im Dialog sprachlich „durchzusetzen“. Dabei wird auf Höflichkeit kaum Rücksicht genommen, im Vordergrund steht das eigene Durchsetzungsvermögen: „Du findest etwas lästig/ anstrengend - ¡Qué palo! “, „Du sagst, dass du die Nase voll hast von etwas - Estoy harto/ -a de XY“ (Apú1: 163), „Jemand erzählt Quatsch - ¡Déjate/ Dejaos de cuentos! “ (Apú2: 183), „Ärger ausdrücken - ¡Qué paliza! , ¡Qué palo! , ¡No es justo! , Me molesta que..., A mí me aburre que..., Estoy harto de..., Me fastidia que..., ¡Basta! “ (Apú3: 128). Für dieses vergleichsweise moderne Vorgehen sind mehrere Gründe denkbar. Zum einen berücksichtigt ¡Apúntate! die gesprochene Sprache in großem Umfang, wohl um dem Primat der Mündlichkeit im heutigen Fremdsprachenunterricht Rechnung zu tragen. In diesem Zusammenhang ist auch die Zahl der verwendeten Register wesentlich breiter angelegt als in älteren Lehrbüchern, die eher in der schriftsprachlichen Tradition entwickelt wurden. Dabei wird v.a. auf nähesprachlich geprägte Diskurssituationen Aline Willems 414 rekurriert - Unterhaltungen mit Freunden oder Mitgliedern der Familie, E-Mails an Freunde etc. -, in denen die oben aufgeführten Beispiele mit einer wesentlich höheren Wahrscheinlichkeit in authentischen Dialogen auftreten als vermeintlich „höflicher“ klingende distanzsprachliche Formen. Zum anderen ist die Verwendung nähesprachlich geprägter Register auch näher an der Lebenswelt der SuS angesiedelt, zumindest derer im frühen Lernalter der Bände 1 bis 3, was zu einer Motivationssteigerung im Spanischunterricht beitragen kann. Anders formuliert: Insbesondere für Rezipienten im Pubertätsalter bemüht sich das Lehrwerk, möglichst „cool“ zu erscheinen und seine Leser sowie deren Probleme emotionaler Natur verstehen zu können. Dies wird bspw. in einer Bildergeschichte deutlich, in der ein männlicher Teenager in unterschiedlichen Situationen im Tagesverlauf dargestellt wird, in der ihn seine Mitmenschen „nerven“. Statt dies jedoch zu artikulieren, sind die entsprechenden - eher unhöflichen - Phrasen als Denkblasen dargestellt, während er sich in den zugehörigen Sprechblasen eher milde äußert (Apú2: 46-47). Ein von Seiten der Lehrbuchautoren geschicktes Vorgehen, denn viele SuS können sich einerseits sicher mit dem Protagonisten identifizieren und andererseits lernen sie nebenbei auch noch die „böseren“ Phrasen der Fremdsprache kennen, diejenigen in den Denkblasen, was seit jeher wesentlich motivierender ist, als die höfliche Sprache der Erwachsenenwelt gebrauchen zu müssen. Auch wird eine Übung, die dazu auffordert, einen Dialog zwischen Mutter und Sohn zu konstruieren, einerseits als authentischer und andererseits von einigen SuS als motivierender empfunden, wenn dazu u.a. die folgenden Redemittel zur Verfügung gestellt werden: „¡No es para tanto! , ¡Basta ya! , ¡Qué fuerte! , ¡Ponte las pilas! , ¡Déjame en paz! , ¡Siempre lo mismo! , ¡Estoy hasta las narices! “ (Apú3: 93). Entgegen einem möglichen ersten Eindruck des Sittenverfalls respektive des Niedergangs höflicher Umgangsformen wäre es unangebracht, den Lehrbuchautoren eine solche Intention zu unterstellen. Es ist wesentlich wahrscheinlicher, dass die zuvor genannten Gründe zur Aufnahme als eher unhöflich geltender Phrasen geführt haben und dass das Thema Höflichkeit bei diesen Überlegungen vielleicht gar nicht zum Tragen kam. Die Auseinandersetzung mit sprachlicher Höflichkeit findet demnach zumindest in der hier exemplarisch betrachteten Lehrbuchreihe ¡Apúntate! (Apú1-5) nicht explizit statt. Die SuS müssen vorwiegend mittels Transfer aus dem Deutschen ihre eigene/ n Vorstellung/ en von sprachlicher Höflichkeit bzw. höflichem Verhalten i.A. im Spanischen auszudrücken versuchen. Dass dies Interferenzen bedingen kann, die u.U. zu critical incidents führen können, wurde bereits in Abschnitt 3 deutlich. Dem- Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland 415 nach lässt sich für ¡Apúntate! zusammenfassend dasselbe feststellen, was bspw. Scialdone nach ihrer Analyse von DaF-Lehrwerken resümiert: „Die konkrete Umsetzung des Themas [i.e. (sprachliche) Höflichkeit] bleibt weitgehend die Aufgabe von Lehrern [...]“ (Scialdone 2009: 295). Um diese bei der Aufgabe ein wenig zu unterstützen, sollen nachfolgend einige Vorschläge zum Umgang mit sprachlicher Höflichkeit im Spanischunterricht gemacht werden (cf. Abschnitt 5). 5 Vorschläge zur Einbeziehung der Thematik Höflichkeit in den Spanischunterricht in der Sekundarstufe Aus den in den Abschnitten 3 und 4 zusammengetragenen Feststellungen um die Unterschiede in der (sprachlichen) Höflichkeit zwischen dem spanischen und dem deutschen Kulturkreis lassen sich einige Vorschläge ableiten, wie die Thematik Höflichkeit in den Spanischunterricht integriert werden könnte. Im Zuge der zunehmenden Kompetenzorientierung des Fremdsprachenunterrichts erfahren die Aufgaben 11 (tareas) einen ganz neuen Stellenwert. Wenn die ausgewählten Szenarien dieser Aufgaben mit typischen spanischen frames kongruent sind bzw. sogar die Einbeziehung mehrerer frames erfordern, ließe sich auch im Rahmen kleinerer eingebetteter Übungen explizit auf (sprachliche) Höflichkeit in dem/ n entsprechenden frame/ s eingehen. Vorstellbar wäre bspw. eine Anweisung wie Preparáis una fiesta de cumpleaños típicamente alemana para un amigo español. Zu diesem Zweck muss zunächst einmal eine Örtlichkeit organisiert werden und ggf. mit Eltern oder anderen Erwachsenen deren Benutzung ausgehandelt werden. Es muss eingekauft werden, bspw. auf dem Markt. Es muss ein 11 Der (Fremdsprachen-)Unterricht unterscheidet grundlegend zwischen zwei Anwendungstypen: der Aufgabe und der Übung. Während die Aufgabe sich möglichst auf ein komplettes Szenario konzentrieren soll, in dem es durch Einsatz aller im Fremdsprachenunterricht geförderter Kompetenzen ein Problem zu lösen gilt, repräsentiert die Übung den traditionellen Typus der ejercicios, in dem gezielt einzelne sprachliche Strukturen trainiert werden, wie bspw. „Completa el texto con el imperativo de los verbos en singular y en plural“ als Anweisung, wie ein vorgegebener Lückentext auszufüllen ist (Apú2: 24). Im Gegensatz dazu sähen die Anweisungen für eine Aufgabe z.B. wie folgt aus: „Vais a hacer un intercambio con vuestro instituto hermandado en España. Para presentaros, preparáis una revista para vuestros compañeros españoles“ (Apú5: 25). Um die SuS ein wenig zu unterstützen, können die dazu nötigen Arbeitsabläufe vorstrukturiert werden (cf. die schrittweise aufgeschlüsselte Aufgabe in Apú5: 25). Aline Willems 416 finanzielles Budget im Freundeskreis zusammengetragen und über die Verwendung der Mittel beraten und entschieden werden. Außerdem sind noch die Speisen selbst sowie ein Rahmenprogramm vorzubereiten. Diese „Arbeitsschritte“ lassen sich entweder auf kleinere Gruppen verteilen oder, bei ausreichend zur Verfügung stehender Unterrichtszeit, auch von allen in Kleingruppen erledigen. Neben den interkulturellen Kompetenzen im savoir-Bereich bzgl. der Teilaufgabe „typisch deutsch“ kann auch der Soft Skill Höflichkeitskompetenz an verschiedenen Stellen und auf unterschiedliche Arten gefördert werden: In der erstgenannten Situation (Organisation einer Räumlichkeit) gilt es, mit Erwachsenen in Verhandlungen zu treten. Dabei empfiehlt es sich, mit einem gewissen Maß an Höflichkeit vorzugehen, um das gewünschte Ziel zu erreichen. In diesem Zusammenhang ließen sich bspw. der korrekte Gebrauch der formellen und informellen Anrede thematisieren sowie einüben, die Formulierung von Wünschen und Bitten respektive die Unterschiede in deren Formulierungen auf Spanisch oder auf Deutsch fokussieren. Ähnliche Möglichkeiten zum Vertiefen der Thematik Höflichkeit bzw. der Kontext- und Adressatenabhängigkeit von Höflichkeit bieten auch die weiteren in der Aufgabe enthaltenen Situationen ’Einkaufen auf dem Markt‘ (auch gleichzeitig ein frame, der als solcher genutzt werden kann, indem zuvor Erwartungen an die Situation zusammengetragen werden können), ’Sammeln von Geld im Freundeskreis‘ (hier kann wieder auf ein anderes sprachliches Register zurückgegriffen werden als in Situation 1 und andere Umgangsformen können bewusst gemacht werden), ’Diskussion und Entscheidung über Einsatz der finanziellen Mittel‘, ’Aushandeln der Speisen und des Rahmenprogramms‘ etc. Viele andere Aufgabenstellungen wären ebf. denkbar, um Situationen zu kreieren, in denen sich Höflichkeit thematisieren lässt. Selbstverständlich haben solche Szenarien auch ihre Grenzen, denn das spanische Verhalten bzgl. des turn takings lässt sich so sicher nicht nachempfinden, da bedarf es des direkten Kontaktes bzw. der Beobachtung von L1-Sprechern. Mit zeitlich relativ geringem Aufwand lassen sich jedoch kleinere Video-Clips oder Filmausschnitte einsetzen, um eben solches darzustellen und, nach der Rezeption, mit der Lerngruppe zu diskutieren. Ebenfalls eignen sich Karikaturen oder Comicstrips, in denen Höflichkeitskonventionen bewusst verletzt werden, um auf die Thematik und mögliche Unterschiede im Deutschen und Spanischen aufmerksam zu machen. Der Soft Skill Höflichkeit im Spanischunterricht in Deutschland 417 Die in Abschnitt 3 bereits erwähnte Möglichkeit, Höflichkeitsbekundungen in Form sprachlich-mathematischer Formeln zu präsentieren und zu lernen, eignet sich nur bedingt und für wenige SuS, denn Kritiker könnten ihr vorwerfen, dass sie einem natürlichen Sprachgefühl entgegen stände. Allerdings existieren auch Lernertypen, die es als vorteilhaft erachten, möglichst klar und eindeutig Regeln zu erkennen und in der Sprachproduktion einzuhalten, und denen ein solches Formellernen ggf. zugute käme. Außerdem läge ein Mehrwert darin, die Formeln nicht vorzugeben, sondern induktiv von den SuS aus sprachlichen Beispielen entwickeln zu lassen, denn dadurch ließe sich ihr Verständnis sprachlicher Strukturen fördern und u.a. im Sinne der Mehrsprachigkeitsdidaktik ausbauen. Insbesondere im direkten Sprachvergleich von Routineformeln in unterschiedlichen Sprachen lassen sich solche strukturellen Analysen gewinnbringend einsetzen. Während diese stark kognitiv geprägten Ansätze eher für etwas ältere Lernende geeignet sind, können aber auch jüngere SuS bspw. mit spielerischen oder kreativen Übungen an die Thematik der Höflichkeit herangeführt werden: Es könnte z.B. ein Memoryspiel „gebastelt“ werden, in dem Pärchen aus einer verschriftlichten Routineformel und einem zugehörigen Bild bestehen (¡Que aproveche! - Messer, Gabel, Teller; ¡Feliz cumpleaños! - Geburtstagskuchen etc.), oder es könnten Plakate mit Regeln zum höflichen Umgang in bestimmten frames, wie bspw. ’mit dem Bus zur Schule fahren‘, ‘gemeinsames Essen in der Schulcafeteria‘, oder Situationen, wie z.B. ’Umgang/ Verhalten im Klassenraum‘, erstellt werden, auf denen sich sowohl sprachliche als auch nicht-sprachliche Aspekte von Höflichkeit dokumentieren ließen. Dem Ideenreichtum der Lehrkräfte sind keine Grenzen gesetzt, denn es mangelt im regulären Spanischunterricht keineswegs an sinnvollen und authentisch akzeptierbaren Anknüpfungsmöglichkeiten. 6 Fazit Trotz des Theorienreichtums, der sich um das Konstrukt der (sprachlichen) Höflichkeit gebildet hat, lassen sich für den Fremdsprachenunterricht relativ greifbare Definitionskriterien aufstellen, wenn die strikte Trennung in Höflichkeit ersten und zweiten Grades aufgebrochen bzw. das reine Theoriefeld verlassen wird und linguistische Formeln mit nichtlinguistischem Höflichkeitsverständnis kombiniert werden. Damit soll k einesfalls die Bedeutung der wissenschaftlichen Theorien minimiert wer- Aline Willems 418 den, sondern lediglich ein pragmatischer Lösungsansatz für den Transfer von wissenschaftlichen Ergebnissen in die Unterrichtspraxis vorgeschlagen sowie dem evidenzbasierten Lehren und Lernen 12 Vorschub geleistet werden. Gleichzeitig ist die Forschungslage zu den Spezifika der Höflichkeit in der spanischen Sprache von Vorteil, denn es existieren fundierte sozio-/ linguistische Untersuchungen, die es ermöglichen, eine brauchbare Vergleichsfolie zu erarbeiten, die die Unterschiede zwischen Höflichkeitsbekundungen im Spanischen und Deutschen darstellt. Dennoch wäre eine vertiefte Forschung in diesem Bereich auch aus der Perspektive des Fremdsprachenunterrichts zu begrüßen. Im ausgewählten Beispiellehrwerk wurden die SuS zwar durchaus mit Höflichkeits-/ Routineformeln konfrontiert, allerdings wurde nicht explizit auf diese Thematik eingegangen. Eine gelenkte Bewusstmachung könnte die Kognitivierung und damit den mittelbzw. langfristig sicheren Umgang auf dem gesellschaftlichen Parkett der spanischsprachigen Welt fördern sowie einen kleinen Beitrag zu einem erfolgreichen Leben als aktiver Teil der Gesellschaft gemäß den Ansichten der OECD leisten (cf. Abschnitt 1). Gleichzeitig würde dabei nicht nur das Fremdverstehen gefördert und das potentielle Auftreten von critical incidents minimiert, sondern durch den Vergleich mit dem Deutschen könnte auch im Sinne der interkulturellen Kompetenz das Verständnis der eigenen Kultur gefördert sowie eine Selbstreflexionskompetenz gestärkt werden. Wie leider so vieles im Unterrichtsalltag liegt jedoch auch dies einzig in den Händen der Lehrkräfte. Bibliographie Ankenbrand, Katrin (2013): Höflichkeit im Wandel: Entwicklungen und Tendenzen in der Höflichkeitspraxis und dem laienlinguistischen Höflichkeitsverständnis der bundesdeutschen Sprachgemeinschaft innerhalb der letzten fünfzig Jahre, Dissertation, Heidelberg, Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg, http: / / archiv.ub.uni-heidelberg.de/ volltextserver/ 14676/ 1/ HÖF LICHKEIT%20IM%20WANDEL.pdf [17.12.2016]. Apú1 = Balser, Joachim et al. (2008): ¡Apúntate! 1 - Lehrwerk für Spanisch als zweite Fremdsprache, Berlin, Cornelsen. 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Nicht zuletzt eröffnet die Diskussion der Rolle von Übersetzung und Sprachvergleich im Fremdsprachenunterricht eine Verbindung von linguistischer und fachdidaktischer Perspektive und zeigt damit die Aktualität des Themas auf.