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Das Präsens als Erzähltempus im Roman

2016
978-3-8233-9001-5
Gunter Narr Verlag 
Benjamin Meisnitzer

Der Begriff 'historisches Präsens' ist zu einem wenig differenzierten Sammelbegriff geworden, der syntaktisch und pragmatisch sehr unterschiedliche Präsenstypen umfasst. Die vorliegende Monographie Werk arbeitet die Unterscheidungen des historischen Präsens heraus: das aspektuelle, aoristische Präsens (oft 'episches Präsens') von der Antike bis ins Mittelalter, das perspektivische, vergangenheitsaktualisierende Präsens (das eigentliche 'historische Präsens'), das sich vor allem ab dem 16. Jahrhundert etabliert, und schließlich das narrative Präsens als durchgängiges Erzähltempus in Romanen des 20. und 21. Jahrhunderts. Die intermedialen Einflüsse durch den Film begünstigen die Verbreitung und Etablierung des Präsens als neues, alternatives Erzähltempus im Roman. Anders als häufig angenommen, bewahrt es dabei durchaus seine Grundsemantik. Die Präsensverwendung in narrativen Texten wird am Beispiel des Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Deutschen und Englischen besprochen mit einem Ausblick auf das Russische.

Der Begriff 'historisches Präsens' ist zu einem wenig differenzierten Sammelbegriff geworden, der syntaktisch und pragmatisch sehr unterschiedliche Präsenstypen umfasst. Die vorliegende Monografie arbeitet die Unterscheidungen des historischen Präsens heraus: das aspektuelle, aoristische Präsens (oft episches Präsens) von der Antike bis ins Mittelalter, das perspektivische, vergangenheitsaktualisierende Präsens (das eigentliche historische Präsens), das sich vor allem ab dem 16. Jahrhundert etabliert, und schließlich das narrative Präsens als durchgängiges Erzähltempus in Romanen des 20. und 21. Jahrhunderts. Die intermedialen Einflüsse durch den Film begünstigen die Verbreitung und Etablierung des Präsens als neues, alternatives Erzähltempus im Roman. Anders als häufig angenommen, bewahrt es dabei durchaus seine Grundsemantik. Die Präsensverwendung in narrativen Texten wird am Beispiel des Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Deutschen und Englischen besprochen mit einem Ausblick auf das Russische. ISBN 978-3-8233-8001-6 Meisnitzer Das Präsens als Erzähltempus im Roman Anna Marcos Nickol Das Präsens als Erzähltempus im Roman Benjamin Meisnitzer Eine gedruckte Antwort auf den Film Das Präsens als Erzähltempus im Roman Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Du er et Bernhard Teuber Volumen 2 · 2016 Comité scienti que - Advisory Board - Wissenscha licher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Ponti cia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum Benjamin Meisnitzer Das Präsens als Erzähltempus im Roman Eine gedruckte Antwort auf den Film Bibliogra sche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra e; detaillierte bibliogra sche Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abru ar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und stra ar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 2365-3094 ISBN 978-3-8233-8001-6 Die vorliegende Arbeit wurde als Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen. Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung: Neubewertung des ‘historischen Präsens’ im fiktionalen narrativen Text 11 2. Sprache und Zeit 18 2.1 Tempus und Polyfunktionalität 20 2.2 Tempus und Perspektive 22 2.3 Die Bedeutung von Z EIT in der zeitgenössischen Literatur und Narratologie 29 2.4 Zusammenfassung: Temporalität, Tempus und Perspektive 33 3. Sprache und Denken 35 3.1 Sprache als komplexes, multifunktionales semiotisches Zeichensystem 35 3.2 Sprache und die menschliche Sicht der Welt 38 3.3 Sprache als zeichenbasiertes Kommunikationsmittel mit verschobener Referenz 41 3.4 Sprache im Spannungsfeld von abstraktem System und individuellem Sprechakt 44 3.5 Zusammenfassung: Lexik und Grammatik in der menschlichen Sprache und die Repräsentation der Welt 46 4. Das Präsens im Spannungsfeld von Aspektualität und Temporalität 49 4.1 Der ATM-Bereich und die Möglichkeiten des Perspektivenwechsels 50 4.2 Das Präsens innerhalb der ATM-Kategorie und seine temporale Semantik 54 4.2.1 Tempus als deiktische Kategorie 54 4.2.2 Tempus in schriftlich fixierten Texten und das Problem der ‘Sprechzeit’ 57 4.2.3 Das Präsens und die Polyfunktionalität der Tempora 58 6 4.3 Aspekt als Basisebene des ATM-Komplexes 62 4.4 Das Präsens von perfektiven und imperfektiven Verben 68 4.5 Die Kluft zwischen Grammatik und Lexikon am Beispiel von Tempus vs. Temporaladverbien 69 4.6 Zusammenfassung: Die Grundbedeutung des Präsens im Spannungsfeld von Aspektualität und Temporalität 73 5. Fiktionalität in der Literatur und die Frage nach einer Grammatik des fiktionalen Erzählens 76 5.1 Die fiktionale Welt im Roman 77 5.1.1 Fiktion und Fiktionalität und ihre Bedeutung für linguistische Studien zum Präsens 77 5.1.2 Deixis und das Kommunikationsmodell im Roman 80 5.2 Tempusgebrauch und Perspektive in fiktionalen Erzählungen 83 5.3 Zusammenfassung: Die Besonderheiten des (fiktionalen) narrativen Textes im Hinblick auf Tempusbeschreibungen 91 6. Das aoristische Präsens als Erzähltempus in antiken und mittelalterlichen narrativen Texten 94 6.1 Das aoristische Präsens im Latein 96 6.1.1 Das Präsens als Erzähltempus in der Forschungsliteratur zum Latein 96 6.1.2 Das Präsens als Erzähltempus in historiografischen narrativen Werken 100 6.2 Der ‘Untergang’ des aoristischen Präsens im Zuge der Entwicklung vom Lateinischen zu den romanischen Einzelsprachen 115 6.3 Das aspektuelle, aoristische Präsens im Altspanischen und im Altfranzösischen: Poema de Mio Çid und La Chanson de Roland 121 6.4 Die Genese des analytischen romanischen Perfekts im Licht einer Neubewertung des ‘historischen Präsens’ 137 6.5 Das aspektuelle, aoristische Präsens in den germanischen Sprachen 145 6.6 Zusammenfassung: Das aspektuelle Präsens in mittelalterlichen narrativen Diskurstraditionen 149 7 7. Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische und das narrative Präsens zum Ausdruck zweier unterschiedlicher Perspektiven 151 7.1 Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens 153 7.2 Der Erzählerkommentar an der Schnittstelle zwischen vergangenheitsaktualisierendem und narrativem Präsens 163 7.3 Der nouveau roman und das Aufkommen des narrativen Präsens 166 7.4 Das narrative Präsens und die Genese eines neuen Erzählmusters 171 7.5 Zusammenfassung: Das narrative Präsens und die Kodierung einer neuen Perspektive auf die erzählte Welt 187 8. Die Frage nach dem narrativen Präsens in Aspektsprachen am Beispiel des Russischen 191 8.1 Restriktionen des Präsens als Erzähltempus im Russischen 192 8.2 Tempus und Aspekt im Russischen 193 8.3 Das Präsens als Erzähltempus im Russischen 200 8.3.1 Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens im Russischen 201 8.3.2. Das narrative Präsens in russischen Romanen 203 8.3.3 Das narrative Präsens in Übersetzungen 207 8.4 Zusammenfassung: Diskursnorm und Perspektivik - Das narrative Präsens in übersetzten und in autochthonen russischen Romanen 213 9. Neubewertung des Präsens als Erzähltempus im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie von Sprach- und Diskurswandel 215 9.1 Das aspektuelle, aoristische und das narrative Präsens im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit 216 9.1.1 Das Dilemma der ‘historischen Mündlichkeitsforschung’ 218 9.1.2 Die Unzulänglichkeit der Reoralisierungshypothese als Erklärungsansatz für das narrative Präsens 224 9.1.3 Der ‘Untergang’ des aspektuellen, aoristischen Präsens im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit 227 8 9.1.4 Das narrative Präsens im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit 231 9.2 Das aspektuelle, aoristische und das narrative Präsens im Spannungsfeld von Sprach- und Diskurswandel 237 9.3 Zusammenfassung: Das aspektuelle, aoristische und das narrative Präsens - zwei unterschiedliche Phänomene 240 10. Das narrative Präsens als Mittel zum Erzählen im ‘Hier und Jetzt’ 242 10.1 Der Siegeszug des ‘falschen Präsens’ 243 10.2 Der Einfluss des Films auf die Erzählstruktur des Romans 245 10.3 Das narrative Präsens aus der Perspektive des Lesers 252 10.4 Zusammenfassung: Das narrative Präsens als grammatisches Instrument zur Simulierung von ‘filmischer’ Perspektive in Romanen 269 11. Zusammenfassung und Ausblick: Neubewertung des Präsens als Erzähltempus in diachroner Perspektive im Spannungsfeld von Aspektualität und Temporalität 271 Abkürzungsverzeichnis 281 Abbildungsverzeichnis 282 Bibliografie 284 Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte und überarbeitete Version meiner 2012 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereichten und verteidigten Inauguraldissertation, die im Rahmen des Linguistischen Internationalen Promotionprogramms für Sprachtheorie und Angewandte Sprachwissenschaft LIPP entstand. Das Thema „Auf den Spuren des narrativen Präsens“ ist das Ergebnis einer Fragestellung, die bereits während meines Studiums im Hauptseminar „Sprachwandel und Grammatikalisierung“ im Sommersemester 2005 von Elisabeth Leiss aufkam. Ein Referat im Seminar behandelte die Frage, ob das Präsens aktuell einen semantischen Wandel erführe oder wie es sich erklären ließe, dass immer mehr Romane durchwegs im Präsens erzählt werden, wo doch bis vor einigen Jahren das Präteritum als unbestrittene Erzählzeit galt. Die These, das Präsens sei ein neues Vergangenheitstempus, erwies sich als nicht tragfähig, eine andere überzeugende Erklärung blieb aus − und ich hatte ein Thema für meine Promotion gefunden. Die wohl wegweisende Monografie auf dem Gebiet der Erzählzeitforschung, Tense and Narrativity. From Medieval Performance to Modern Fiction von Suzanne Fleischman (1990), ist zweifelsohne das Werk, welches diese Arbeit motivierte. Denn Fleischmans Deutung des Präsens als Leittempus im modernen Roman als Folge einer ‘ Reoralisierung ’ in dem Sinne, dass wir vom Duktus der Schriftlichkeit zum Duktus der Mündlichkeit zurückkehren, erscheint unzulänglich. So tritt das Präsens in modernen Romanen in einer ganz anderen syntaktischen Distribution als in den mittelalterlichen Texten auf, wie diese Untersuchung zeigen wird. Ziel dieser Arbeit war es, eine Erklärung für den Boom des Präsens als Erzähltempus sogar in literarischen Werken von Nobelpreisträgern wie Disgrace (1999) von John Maxwell Coetzee, zu finden. Dafür wählte ich eine diachrone und synchrone Betrachtung des narrativen Präsens im Sprachvergleich von deutschen, englischen, französischen, spanischen und portugiesischen Romanen. Die Ergebnise sind eine konsistente These und die Entfaltung dreier unterschiedlicher Typen von Präsens als Erzähltempora. Ich bedanke mich an dieser Stelle zunächst bei meinen Inspirationsquellen, vor allem bei Rute Costa (Lissabon), deren Einführungsübung in die Sprachwissenschaft mein Interesse für das Fach geweckt hat, bei Michael Rössner (München) und Horst Weich (München), die mich stets ermuntert haben, literarische Texte genau zu lesen, und bei meinen Lehrern Wulf Oesterreicher (München), der mir ein Vorbild war und mich dazu anregte, die Linguistik zu entdecken und zu meinem Metier zu machen, und Elisabeth Leiss (München), die mir immer Freundin und Lehrerin zugleich war und die mich letztlich mit der scheinbar banalen Frage: „Was ist nun 10 eigentlich das narrative Präsens? “ fesselte, sodass ich mich auf dessen Spuren begab. Elisabeth Leiss war mit ihren stets kritischen Anmerkungen und dem hartnäckigen Hinterfragen meiner Ansätze der ideale Gesprächspartner, da sie sich auch nie scheute, mit mir Texte detailliert zu besprechen und mich auf der ‘Reise’ zu begleiten. Weiterer Dank gilt allen meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem LIPP und aus dem Oberseminar von Elisabeth Leiss und allen, die mir als Diskussionspartner während meiner Arbeit zur Verfügung standen oder mir durch wichtige Hinweise weiterhalfen, allen voran Werner Abraham (München), Mathias Arden (München), Miguel Bana e Costa (Lissabon), Ulrich Detges (München), Olga Heindl (München), Martin Jäger (München), Shoira Khadjieva (München), David Klein (München), Christina Knels (Hamburg), Thomas Krefeld (München), Klaus Grübl (München), Jadwiga Piskorz (München), Elissa Pustka (Wien), Barbara Schäfer-Prieß (München), Thomas Scharinger (München), Claudia Schlaak (Mainz), Heidi Siller-Runggaldier (Innsbruck), David Tatevosyan (Moskau), Bénédict Wocker (Mainz), Horst Zander (München), Sonja Zeman (München) und vor allem Margit Straub (München). Für ihre Freundschaft in der Phase der Dissertation mit allen Höhen und Tiefen danke ich zusätzlich Roman Brüderl, Annelie Deichmann, Susanne Huber, Inge Meisnitzer, Wolfgang Miller, Tânia Pinto, Otília Silva, Gülcin Zahiroglu und meiner Mutter Virginia Straub. Für die Förderung meiner Promotion, ohne die diese nicht möglich gewesen wäre, danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes und dort besonders Mathias Frenz und meinem Vertrauensdozenten Prof. Dr. Albrecht Berger (München) sowie dem Internationalen Promotionsprogramm LIPP und dort Dr. Caroline Trautmann, die stets unermüdlich für mich da war und mir eine Promotion unter hervorragenden Bedingungen mit spannenden Workshops und Tagungen, aber auch mit der Möglichkeit, Erfahrungen in Tagungsorganisation und Lehre zu gewinnen, ermöglichte. Mein letzter, aber ebenso herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Andreas Dufter (München) und Prof. Dr. Bernhard Teuber (München) für die Aufnahme in die neu gegründete Reihe Orbis Romanicus und Kathrin Heyng vom Narr Verlag für die intensive Betreuung bei der Fertigstellung der Monografie. Gewidmet ist dieses Werk meinen Eltern Virginia Straub und Fritz Meisnitzer, die immer an mich geglaubt haben, und dem besten Doktorvater, den ich haben konnte, der für mich immer Vorbild sein wird und der tragischerweise, da tempus fugit, diese Monografie nicht mehr in Händen halten kann, Wulf Oesterreicher (1942-2015). 1. Einleitung: Neubewertung des ‘historischen Präsens’ im fiktionalen narrativen Text Die Zahl an Romanen, in denen die Erzählung durchgängig im Präsens erfolgt, ist in den letzten Jahrzehnten explodiert - ungeachtet aller kritischen Stimmen, denen zufolge das Präsens nicht als Erzähltempus geeignet sei (Hamburger 1987 [1957]; Weinrich 2001 [1964]; Greiner 2009). Dieses Phänomen hat jedoch bisher vergleichsweise wenig Beachtung in der sprachwissenschaftlichen Forschung erfahren. 1 Deshalb hat es sich diese Arbeit zur Aufgabe gemacht, das narrative Präsens zu beschreiben, zu erklären und seine Genese zu erläutern. Dazu muss diese Präsensform allerdings von anderen Präsenstypen in der Erzählung abgegrenzt werden. Insbesondere ist dieses Präsens, welches durchgängig das Erzähltempus neuerer Romane bildet, funktional von einer Verwendung des Präsens als Erzähltempus in mittelalterlichen Texten zu unterscheiden, wo eine Alternierung mit Vergangenheitstempora innerhalb desselben Satzes zu verzeichnen ist. Um diese Lücke in der Forschungslandschaft zu schließen, rechtfertigt sich trotz der zahlreichen Arbeiten zur Tempusdiskussion eine weitere Monografie zu diesem Themenbereich. Die Fragestellung der Arbeit schreibt sich somit in den Bereich der Temporalsemantik ein. Gleichzeitig soll sie aber auch einen Beitrag zur Mündlichkeits- und Schriftlichkeitsforschung leisten, denn der massive Umbruch der Tempussysteme im Mittelalter weist eine Korrelation zur Literalisierung der Gesellschaft auf. Es ginge zwar zu weit, die Literalisierung als Anlass für den Wandel der Verbalsysteme zu postulieren, aber das Aufkommen von Schriftlichkeit und die damit einhergehende mentalitäts- und kulturgeschichtliche Revolution schuf neue Bedingungen für den Sprachwandel. Ein Erklärungsansatz für die Veränderung der Funktionen des Präsens mit der Ausdifferenzierung des narrativen Präsens muss die Einsichten aus der Intermedialitätsforschung berücksichtigen. Aus linguistischer Sicht muss eine Antwort für die funktionalen Unterschiede der drei herauszuarbeitenden Präsenstypen im Spannungsfeld von Temporalität und Aspektualität sowie den existierenden Verschränkungen gesucht werden. Da eine Beschreibung des Präsens als Erzähltempus in narrativen fiktionalen Erzählungen auch aus texthermeneutischer Sicht relevant ist, ist die Arbeit an der Schnittstelle von Literatur- und Sprachwissenschaft angesiedelt. Zwar bildet die Lusitanistik den Ausgangspunkt, dennoch ist die hier einzunehmende Perspektive übereinzelsprachlich. Um typologische 1 Einzige Ausnahmen stellen Abraham (2008), Avanessian/ Hennig (2012; 2013a und 2013b), Fleischman (1990: 263-310), Fludernik (2003: 124) und Gerbe (2010) dar, mit jeweils sehr unterschiedlichen Herangehensweisen und Ergebnissen. 12 Überlegungen bezüglich der beschriebenen Präsenstypen anstellen zu können, sollen auch die germanischen Sprachen am Beispiel des Deutschen und des Englischen berücksichtigt werden. Der Schwerpunkt der Beschreibungen liegt indes auf den iberoromanischen Sprachen (Portugiesisch, Spanisch) sowie dem Französischen. Überzeugende Erklärungen zum Präsens sind insgesamt noch ein Forschungsdesiderat, da die unmarkierte Tempusform 2 immer noch diejenige ist, deren Definition die meisten Schwierigkeiten bereitet. Angesichts der zeitreferentiellen Polysemie des Tempus Präsens wird dessen Grundbedeutung in der Forschungsliteratur zur synchronen Semantik kontrovers diskutiert. Hier sucht die vorliegende Arbeit zunächst Klärung. Denn die Auffassung des Präsens als ‘Gegenwartstempus’, das Verbalvorgänge im ‘Hier und Jetzt’ der kanonischen Kommunikationssituation lokalisiert (vgl. Comrie 1985: 38; Brinkmann 1971; Welke 2005: 153), erweist sich als ebenso problematisch wie die Positionen zum praesens historicum, welche das Präsens als Tempus der ‘Nicht-Vergangenheit’ auffassen (vgl. Bäuerle 1979; Vater 1983; Löbner 1988; Comrie 1995; Ek 1996; Vater 1996). In Bezug auf Ansätze, welche die Semantik des Präsens in seiner Atemporalität sehen (Engel 1977; Vennemann 1987; Zeller 1994), muss man grundsätzlich die Frage nach der Relation zwischen Tempus und Temporalität stellen. Diese Frage bildet den Kern von Kapitel 2, in dem Zeit als eine kognitive Strukturierungskategorie herausgearbeitet wird, die dazu dient, die menschlichen Lebensabläufe zu regeln. Sie wird anhand von Faktoren in der von uns perzeptiv wahrgenommenen außersprachlichen Welt festgemacht und als abstrakte Kategorie zur Verortung von Ereignissen herangezogen. Unterschiedliche Zeitmodelle belegen die Subjektivität unserer Vorstellung von ‘Zeit’ und zeigen, inwiefern Sprache unser Verständnis von Zeit determiniert. Auf Basis dieser Einsichten wird Tempus als eine grammatische Kategorie herausgearbeitet, die die Perspektive auf (Verbal-)Ereignisse steuert. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit Überlegungen zur zunehmenden Bedeutung von Zeit in der zeitgenössischen Literatur und Narratologie. Die Einsicht, dass Zeit eigentlich nur sprachlich in ihrer abstraktiven Relevanz zugänglich ist, erfordert eine Auseinandersetzung mit der Relation zwischen Sprache und Denken, da die Tempusselektion in fiktionalen Erzählungen die Aufgabe erfüllt, die jeweilige Perspektive auf die fiktionale Welt festzulegen. Diese Zusammenhänge bilden den Gegenstand von Kapitel 3. Es wird aufgezeigt, dass Sprache unser Denken determiniert und optimiert und dass die höheren kognitiven Fähigkeiten des Menschen im 2 ‘Unmarkiertheit’ ist hier im morphologischen Sinn nach Roman Jakobson zu verstehen, der in seinem Aufsatz „Zur Struktur des russischen Verbums“ (1932) den von Trubetzkoy (1931) in die Phonologie eingeführten Begriff Markiertheit für die Eigenschaft [+/ -M ERKMALHAFT ] bestimmter phonologischer Oppositionen (vgl. Trubetzkoy 1939) auf die Morphologie und die Grammatik übertragen hat (vgl. Jakobson 1971a). 13 Wesentlichen erst durch Sprache überhaupt möglich sind. Tempus als Perspektivierungsmittel liefert hierfür wichtige Argumente. Diese Position richtet sich gegen die rationalistische Auffassung, wonach Gedanken fertig und unabhängig von Sprache in unserem Kopf existieren und durch Sprache lediglich ausgedrückt werden. Die Sprache ist vielmehr Voraussetzung für die Komplexität des menschlichen Denkens, da ein wesentlicher Teil menschlichen Denkens und menschlicher Kognition sprachbasiert ist. Nach Klärung dieser grundlegenden Beziehungen zwischen Sprache und Zeit und Sprache und Denken, die sich zur Erklärung der zeitreferentiellen Polysemie des Präsens als notwendig erweist, wird in Kapitel 4 die Grundbedeutung des Präsens erörtert. Dies geschieht anhand einer Auseinandersetzung mit der perspektivierenden Funktion der TAM-Kategorien (Tempus, Modus und Aspekt), die hier sowohl in Anlehnung an die Entwicklungslogik aus sprachgenetischer Sicht als auch in Bezug auf die Entwicklungslogik beim Spracherwerb bei Kindern und beim pathologischen Sprachabbau als ATM-Komplex definiert wird (Kapitel 4.1). Tempus wird als deiktische Kategorie mit Verschränkungen zu Aspekt und Modus beschrieben und in seiner ausgedrückten Zeigefunktion gegenüber Temporaladverbien 3 abgegrenzt. Denn hier bestehen funktionale Unterschiede, die es nicht ermöglichen, Temporaladverbialien als funktionale Äquivalente für Tempus zu betrachten. Gleichzeitig wird bereits die Aufgabe des Präsens, Ereignisse in der Nachzeitigkeit zu lokalisieren, unter Berücksichtigung der semantischen Domäne der Aspektualität erklärt. Sprechzeit und Referenzzeit werden vor allem mit Bezug auf die Vorarbeiten von Zeman (2010) auf diesem Gebiet ebenfalls so definiert, dass sie sich für eine Auseinandersetzung mit schriftlich verfassten Texten und ihren Besonderheiten eignen. Die Perspektivensetzung durch einen Referenzpunkt ist für alle Tempora erforderlich, da die Möglichkeit zur Deixis immer einen lokalisierbaren Standort voraussetzt (vgl. Leiss 1992: 244). Tempora ermöglichen die Verlagerung des gesamten deiktischen Zeigefelds und veranlassen dadurch eine Spaltung der Sprecher-Origo in Sprecher und Betrachter. Jedes Verbalereignis ist daher gegenüber einer Referenzzeit (= Standort des Betrachters) und einer Sprechzeit (= Standort des Sprechers) verortet. Den Mittelpunkt des deiktischen Zeigefelds bildet der Standort des Erzählers (= Sprechzeit), unabhängig davon, ob dieser explizit in Erscheinung tritt oder nicht. Die Frage nach Sprech- und Referenzzeit in schriftlich fixierten Texten und die hier vorgeschlagenen Lösungen führen dazu, die Bedeutung des Merkmals [+ FIKTIONAL ] im Hinblick auf Tempusbeschreibungen zu diskutieren. Dieser Diskussion widmet sich Kapitel 5. Dort wird die Anwendbarkeit des Begriffs auf narrative Texte kritisch betrachtet und für eine Verlagerung der „story world“, die ihr eigenes Referenzsystem mit eigenen Koordinaten 3 Diese deiktische Eigenschaft ist nicht auf die morphologische Kategorie der Adverbien beschränkt, sondern kann für Temporaladverbialien verallgemeinert werden (vgl. dt. gestern/ port. ontem und dt. am frühen Morgen/ port. pela manh- cedo). 14 aufweist, plädiert. Die deiktische Referenzialität ist folglich innerhalb des Textes determiniert und verankert. Dies entkräftet die Argumente von Hamburger (1987 [1957]) für die Aufgabe der temporalen Bedeutung von Tempora, der eine Erklärung der Fiktionalität von Texten als unabhängig von der Tempussetzung entgegengesetzt wird. Dann folgen eine Beschreibung des Präsens als Erzähltempus und eine Diskussion von Erklärungsansätzen. Kapitel 6 und 7 widmen sich der eigentlichen Beschreibung des Präsens als Erzähltempus in fiktionalen narrativen Texten. Dazu müssen die mittelalterlichen Epen aufgegriffen werden, da Fleischman (1990) im Rahmen ihrer ‘Reoralisierungshypothese’ glaubt, eine Analogie zwischen dem Präsens als Erzähltempus in mittelalterlichen Epen und in gegenwärtigen Romanen zu erkennen. Die Unterteilung der beiden Kapitel berücksichtigt die funktionalen Unterschiede der jeweiligen Präsenstypen. Dabei muss vor allem zwischen einerseits einem aspektuellen aoristischen Präsens, das man in den älteren Sprachstufen nachweisen kann und das sowohl narrative Progression erzeugt als auch die Abgeschlossenheit vorzeitiger Verbalvorgänge ausdrückt, und andererseits einem narrativen Präsens (entgegen Fleischman 1990) unterschieden werden. Das aoristische Präsens findet man in der lateinischen Historiografie, die hier in Anlehnung an Kellner (2009) zu den fiktionalen narrativen Texten gezählt wird, in den älteren romanischen Epen - auch wenn hier die Systematik der Verwendung anfängt, sich aufzulösen - und im Fall der germanischen Sprachen in der altisländischen Sagaliteratur, wie Leiss (2000) gezeigt hat. Der Vergangenheitsbezug wird unter Berücksichtigung aspektueller Affinitäten erklärt, inspiriert von der Arbeit von Oldsjö (2001) und seinen Einsichten zum Lateinischen. Kapitel 7 beschreibt das Präsens mit Entfaltung seiner prototypischen Bedeutung in Romanen . 4 Dabei werden wiederum zwei Kategorien unterschieden: ein markiertes vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens und ein narratives Präsens. Das perspektivische Präsens hat mit dem narrativen Präsens gemeinsam, dass es einen Zusammenfall von Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit veranlasst und folglich eine prototypische präsentische Bedeutung, zumindest aus Sicht der Temporalsemantik, entfaltet. Dieses vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens wirkt präsentisch, ohne dass der Vergangenheitsbezug aufgehoben wird, wie die syntaktische Integration verdeutlicht. Dagegen unterstreicht beim narrativen Präsens die kontextuelle temporale Integration gerade die Aufhebung des Vergangenheitsbezugs. So können die erzählten Geschehnisse durchaus mittels kalendarischer Temporalangaben in der Vergangenheit verankert sein, durch die Tempusselektion werden sie jedoch zumindest hinsichtlich ihrer Perspektivierung in die ‘Gegenwart’ des deiktischen Nullpunkts des Referenzsystems transponiert. Das entspricht beim Leser einer Perspektive 4 Die Betrachtungen sind in der vorliegenden Arbeit auf Romane beschränkt, aber das narrative Präsens erweist sich durchaus auch in Kurzerzählungen als produktiv (vgl. Meisnitzer 2015b). 15 auf die Ereignisse so, als würden sich die Ereignisse vor seinen Augen im ‘Hier und Jetzt’ abspielen. Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens fingiert ebenfalls die Identität von Referenzzeit und Sprechzeit, Temporaladverbialien oder kobeziehungsweise kontextuelle Angaben markieren jedoch das Zeitintervall, in denen sich die gegenwärtige Perspektive entfaltet. Der Verstoß gegen die Präsupposition einer Tempusmarkierung rechtfertigt es, von einer markierten Form zu sprechen. Die präsentische Wirkung des Präsens und der eindeutige Vergangenheitskontext veranlassen Reinterpretationen 5 der Präsensform im nichtpräsentischen Kontext gemäß dem Prinzip der Sinnkonstanz. Das narrative Präsens veranlasst eine Entfaltung des Textes durch asyndetische Reihung von Ereignissen. Es herrscht eine Thema-Rhema-Progression, bei der dem Leser das Gefühl vermittelt wird, die Ereignisse in ihrem Verlauf zu betrachten. Dadurch entsteht ein neues Perspektivierungsmuster gegenüber den klassischen narrativen Erzähltexten in Vergangenheitstempora. In Kapitel 8 werden Überlegungen zu den slawischen Sprachen unter Betrachtung des Russischen angestellt, da dieses wichtige Einsichten für die Bedeutung der Diskursregeln bezüglich der perspektivischen Wahlmöglichkeiten liefert. Zwar findet man das narrative Präsens in Übersetzungen als imperfektives Präsens wiedergegeben, aber das Perspektivierungsmuster erweist sich in autochthonen Romanen bisher nicht als produktiv, obwohl bereits Tolstoj Mitte des 19. Jahrhunderts das narrative Präsens in seiner markierten Form verwendete. So verfasste er einzelne Kapitel seiner Romane präsentisch, während im Gesamten die klassischen Erzähltempora dominieren. Die Ausführungen in Kapitel 9 fokussieren angesichts der herausgearbeiteten Beschreibung des aspektuellen, aoristischen Präsens in mittelalterlichen Texten die ‘Reoralisierungshypothese’ von Fleischman (1990) und belegen ihre Unzulänglichkeit für die Erklärung des narrativen Präsens. Der Hauptkritikpunkt an Fleischmans Ansatz ist die Unmöglichkeit, mündliche Merkmale in historischen Texten mit der erforderlichen Präzision zu identifizieren, um einen Vergleich zur Gegenwart zu ermöglichen. So ist zum einen der Zugriff auf das Gefüge Mündlichkeit-Schriftlichkeit in älteren Sprachstufen nicht möglich und zum anderen berücksichtigt Fleischman für ihren Vergleich die konzeptionellen Profile der jeweiligen Diskurse nicht hinreichend beziehungsweise nicht systematisch. Doch es gibt durchaus Indizien für einen Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch des Aspektsystems, dem Aufkommen von Literalisierung und der damit verbundenen kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Revolution, die sich in Form einer neuen Strukturierung des Denkens ausdrückt (vgl. Ong 2002). 5 Hier wird der Begriff Reinterpretation herangezogen, da es sich um eine kontextuelle Deutung handelt, die nicht zu einer Veränderung der Semantik der Form führt - anders als bei Reanalyseverfahren der Tempora in diachronen Sprachwandelprozessen -, sondern die von Sinnstiftung unter Rückgriff auf den Ko- und Kontext ausgeht. 16 Die Bedeutung der aufkommenden Schriftlichkeit ist daher ein weiterer Indikator dafür, in welchem Ausmaß Sprache unser Denken determiniert. Da durch den Untergang des aoristischen Präsens die grammatische Kategorie Präsens eine ihrer Aufgaben verlor, nämlich vergangene Ereignisse in der Vorzeitigkeit zu situieren, und sich die Temporalsemantik grundlegend modifizierte, handelt es sich um ein Sprachwandelphänomen. Das funktionale Profil des Präsens veränderte sich. Das narrative Präsens im modernen Roman hingegen ist als Diskurswandel zu deuten, da sich die Semantik des Präsens dadurch nicht verändert, sondern das Präsens in die Diskurstradition Roman als Erzähltempus einzieht - eine Aufgabe, die zuvor in den romanischen Sprachen dem Perfekt (mit Kodierung von Hintergrund durch Imperfekt) und in den germanischen Sprachen dem Präteritum vorbehalten war. 6 Dabei verändert sich jedoch nicht die Bedeutung des Präsens, lediglich sein Aufgabenbereich wird erweitert. Nach Widerlegung der in der Forschung verbreiteten Erklärungsversuche soll der von Rajewsky (2002) vorgeschlagene Ansatz, der auf der Annahme eines intermedialen Einflusses durch den Film basiert, herangezogen werden, um das narrative Präsens im Roman zu erklären. Anlass dafür sind die linguistischen Evidenzen, dass das narrative Präsens das historische oder erzählte Geschehen in die Gegenwart transponiert und dadurch eine mit dem filmischen Erzählen vergleichbare Perspektive kodiert. Angesichts der Konkurrenz zwischen Film und Buch liegt die Annahme nahe, dass der Film wichtige Voraussetzungen für die neue Perspektive geschaffen hat. Die Medienrevolution kann daher in ihrer Bedeutung und ihren kulturellen sowie mentalitätsgeschichtlichen Auswirkungen mit der Revolution durch die Literalisierung der Gesellschaft verglichen werden. Die vorliegende Arbeit beschreibt das narrative Präsens als sprachliches Mittel zur Erzeugung einer neuen, alternativen Perspektivierungsmöglichkeit in literarischen Erzähltexten und möchte damit mehr Klarheit bezüglich des gerne als Sammelbegriff missbrauchten „historischen Präsens“ schaffen. Dieser wird einerseits als Überbegriff für alle Varianten des Präsens mit Vergangenheitsbezug verwendet (Lopes 1995; Cintra/ Cunha 1999; Mateus/ Brito/ Duarte/ Faria 2003; Welke 2005 u.a.), andererseits für jeweils eine der zu differenzierenden Verwendungsweisen (Reis/ Lopes 2011). Wegen dieser mangelnden terminologischen Differenzierung wird im Folgenden für das mittelalterliche Präsens zum Ausdruck von in der Vorzeitigkeit abgeschlossenen Ereignissen der Begriff aspektuelles oder aoristisches Präsens herangezogen. Für das Präsens zum Ausdruck von Ereignissen, die durch unmittelbare ko- oder kontextuelle Angaben eindeutig in der Vergangenheit lokalisiert sind und dennoch durch das Präsens kodiert werden, wird der 6 Das Präteritum bezieht sich auf die Tempusmarkierung, die nicht komplementär zur Aspektmarkierung verwendet wird, während das Imperfekt weder ein Aspekt noch ein Volltempus ist, sondern „die temporale Komplementärform imperfektiver Verben zu Verben perfektiven Aspekts mit Vergangenheitsbezug“ (Leiss 1992: 238) bildet. 17 Begriff vergangenheitsaktualisierendes oder perspektivisches Präsens geprägt. Das narrative Präsens umfasst hingegen jene Verwendungen, bei denen die Ereignisse in ihrem Verlauf betrachtet werden, ohne Markierung temporaler Distanz (zumindest fiktiv). Der Erzähler nimmt eine Perspektivierung der Ereignisse aus dem ‘Hier und Jetzt’ vor, was natürlich nicht das ‘Hier und Jetzt’ des Lesers in seiner realen Welt ist, sondern das ‘Hier und Jetzt’ des im Text festgelegten referenziellen Systems. Da der Leser durch den Erzähler Einblick in die fiktionale Welt erhält, betrachtet er diese, als wäre er Zeuge der Ereignisse, unabhängig von ihrer zeitlichen Verortung − wie in einem Film. Die Besonderheit dieser Verwendung beruht darauf, dass die Referenzzeit nicht mit der „temporal location time“ (im Sinn von Rohrer 1986) übereinstimmt. Dies wird jedoch weitestgehend oder komplett ausgeblendet, wie der Roman O delfim (1968) von José Cardoso Pires besonders eindrucksvoll zeigt, in dem der Leser erst auf der letzten Seite erfährt, dass sich der homodiegetische Erzähler im Jahr 1966 befindet. Die perspektivische Variation determiniert, ob eine unmittelbare temporale Verankerung des Präsens im Kontext vorliegt oder nicht, da eine solche Reinterpretation der Präsensform im nichtpräsentischen Kontext veranlasst wird, im zweiten Fall angesichts des mangelnden unmittelbaren Bezugs aber nicht. Die dadurch kodierten unterschiedlichen Perspektiven können sich für literaturwissenschaftliche Interpretationen als durchaus fruchtbar erweisen. Hauptanliegen der Arbeit ist es somit, das Phänomen des narrativen Präsens zu erklären und zu beschreiben und die Nichtvergleichbarkeit einerseits des antiken und mittelalterlichen aoristischen Präsens und andererseits des narrativen Präsens als Erzähltempus in neueren Romanen herauszuarbeiten. 2. Sprache und Zeit Angesichts einer fast unüberschaubaren Menge an Forschungsliteratur zu Tempus, Temporalität und auch zum Präsens - obwohl letzteres im Vergleich zu manch anderem Tempus eher vernachlässigt erscheint - stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer weiteren Arbeit zu diesem Thema. Ein grundsätzliches Problem der zahlreichen Arbeiten besteht darin, dass sie einzelne oder mehrere Tempora beschreiben, ohne jedoch die grundlegende Frage zu stellen, was Tempus eigentlich ausdrückt. In der Regel wird intuitiv ein zeitreferentielles Modell angesetzt, demzufolge Tempus in Einklang mit der traditionellen Auffassung der Lokalisierung eines Verbalereignisses in der Zeit dient (vgl. Comrie 1985: 9). Ereignisse werden dabei vor-, nach- oder gleichzeitig zu einem Bezugspunkt lokalisiert, den in der einfachsten Beschreibung von Tempus die Sprechzeit bildet (vgl. Smith 2004: 599). Die dieser raummetaphorischen Definition zugrunde liegende Vorstellung prägt unsere gesamte Konzeptualisierung von Zeit, wie man zum Beispiel an Temporaladverbien (Beispiel: davor) unschwer erkennt. Auch die Benennung der einzelnen Tempora baut auf dieser lokalmetaphorischen Definition auf. Die Begriffe wurden aus den ersten Grammatiken für das Lateinische und ohne weitere kritische Auseinandersetzung mit dem, was sie ausdrücken, und mit möglichen funktionalen Unterschieden gegenüber dem Latein übernommen. Tempus drückt zeitliche Relationen aus. So viel steht fest. Dennoch können unter ausschließlichem Rückgriff auf die Zeitlogik weder die Polysemie der Tempora noch deren Verhältnis zu Temporaladverbialien oder die aspektuellen und modalen Funktionen von Tempora erklärt werden. Diese zuletzt erwähnten Nebenfunktionen sind vor dem Hintergrund der Dependenzen zwischen den Kategorien Aspekt, Tempus und Modus 7 zu verstehen. Diese stehen in einer Komplexitätshierarchie, wobei Aspekt die grundlegende Kategorie bildet, der Tempus und Modus in dieser Reihenfolge nachgeordnet sind (vgl. Leiss 1992: 284). Die Gerichtetheit der Reanalyseprozesse bestätigen unter anderem auch Studien zum kindlichen 7 Es ist wichtig festzuhalten, dass einerseits eine hierarchische, unidirektionale Anordnung der Kategorien Aspekt, Tempus und Modus in ihrer Entwicklungslogik sowohl im Spracherwerb als auch in der Genese von Sprachen erkennbar ist, wie ein Blick in die Sprachgeschichte, aber auch in die Genese von Kreolsprachen belegt. Gleichzeitig gibt es aber auch bidirektionale Abhängigkeiten zwischen den Verbalkategorien, da Funktionen der einen Kategorie im Fall der Abwesenheit von einer anderen übernommen werden können, wie ein Vergleich mit Aspektsprachen wie dem Russischen nahelegt oder wie die Betrachtung des Futurs im Spannungsfeld von Tempus und Modus verdeutlicht (vide Meisnitzer 2013). Diese unidirektionalen (Hierarchien) und die bidirektionalen (Interdependenzen) Beziehungen zwischen Aspekt, Tempus und Modus ergänzen sich, ohne sich jedoch zu überlappen. 19 Spracherwerb, wie bereits Leiss (ebd.) festhält. Aspekt drückt die Betrachtungsweise auf den Verbalvorgang aus (Innenversus Außenperspektive) und die Abgeschlossenheit der Verbalhandlung kann temporale Konnotationen haben, die von der Aspektbedeutung ableitbar, jedoch nicht Teil der Kernbedeutung des Aspekts sind. Das Merkmal der Abgeschlossenheit lässt sich nur leicht in einer Art metaphorischem Prozeß als temporale Abgeschlossenheit lesen. Die sekundären temporalen Konnotationen sollen mit der primären aspektuellen Bedeutung nicht verwechselt werden. (Leiss 1992: 34) Dies impliziert, dass Aspektmarker diachron durch Grammatikalisierung zu Tempusmarkern werden können, die wiederum modal reinterpretiert werden können. Bei der Beschreibung der Funktion der Tempora wird bereits die Frage nach den Punkten, zwischen denen die zeitliche Verortung stattfindet, kontrovers in der Literatur diskutiert (‘Ereigniszeit’ - ‘Sprechzeit’ (deiktisch) (vgl. Comrie 1985); ‘Ereigniszeit’ - ‘Referenzzeit’ - ‘Sprechzeit’ (vgl. Reichenbach (1960 [1947]); ‘Ereigniszeit’ - ‘Ereigniszeit’ (phorisch) und ‘Ereigniszeit’ - ‘Sprechzeit’ (deiktisch) (vgl. Becker 2010a); ‘Ereigniszeit’ - ‘Referenzzeit’ und ‘Referenzzeit’ - ‘Sprechzeit’ (vgl. Klein 1994)). Diese Problematik wird in Kapitel 4.2 näher erörtert. Ein grundlegendes Problem scheint folglich schon im Konzept T EMPUS selbst zu liegen, da es viel zu selbstverständlich und simplizistisch mit zeitlogischen Ansätzen definiert wird: als sprachliches Mittel, um ein Ereignis in Relation zur Sprechzeit zeitlich zu lokalisieren (vgl. Smith 2004: 599; Welke 2005: 14). Viel zu häufig wird dabei die Frage nach der Funktion von Tempus nicht ausreichend geklärt, ehe man sich mit einzelnen Tempora auseinandersetzt. Diese Klärung ist jedoch die Grundvoraussetzung für solche Studien. Rein zeitlogische Ansätze bringen die Schwierigkeit mit sich, dass sie nur eine Verschiebung des Problems darstellen, da der Begriff ‘Zeit’ selbst Gegenstand kontroverser Diskussionen ist. Es erweist sich daher als sinnvoll, Tempus als eine Verbalkategorie zu definieren, die eine perspektivische Funktion hat. Das heißt, sie drückt die Perspektive auf die Verbalereignisse aus und ermöglicht es dem Sprecher, die Perspektive auf einen anderen Punkt als den natürlichen Standpunkt des Sprechers I CH -H IER -J ETZT zu lenken (Seewald 1998: 20). Durch die Tempuswahl definiert der Sprecher, aus welcher Perspektive er die Verbalereignisse betrachtet. Die Perspektive muss immer sprachlich kodiert werden. Eine atemporale Perspektivierung ist nicht möglich, da Tempora immer eine Referenzzeit (R) und eine Sprechzeit (S) implizieren, die gegenüber einer Ereigniszeit (E) verortet werden müssen. ‘Sprechen’ - im weiteren Sinn als medial unabhängig verstanden - impliziert folglich immer, dass ein Sprecher Ereignisse (E) bespricht oder erzählt und dazu müssen der Standort des Sprechers (S) gegenüber dem Verbalereignis (E-S) und der Standort des Betrachters des Verbalereignisses (R) definiert werden. 20 Dieses erste Kapitel versucht, dem Anspruch an die Textverstehensforschung gerecht zu werden, nämlich Theorien zu entwickeln und anzuwenden, die berücksichtigen, „wie die sprachlich vermittelte Information zu einem Sachverhalt und die Information, die sich aus der unmittelbaren Wahrnehmung einer Situation ergibt, kognitiv miteinander in Verbindung“ (Kelter 2003: 513) gebracht werden. Eine Beschreibung sprachlicher Äußerungen ohne Rückgriff auf mentale Entitäten (vgl. Rehkämper 2003: 2) oder auf die pragmatisch-kommunikativen Zusammenhänge (vgl. Tomasello 1998: VIII) vermag es kaum, die komplexen Phänomene zu erklären, welche Sprachwandel und Veränderungen innerhalb einzelner Diskurstraditionen auslösen. 2.1 Tempus und Polyfunktionalität Das menschliche konzeptuelle System ermöglicht es, Erfahrungen von Phänomenen, die ein Zeitbewusstsein konstituieren, zu modellieren. Durch Sprache werden jene Modelle indexiert und zugunsten unserer funktionellen, kommunikativen und kulturellen Bedürfnisse gestaltet (Evans 2004: 253). Und dennoch kann die augustinische Wesensfrage: „Quid est ergo tempus? “ 8 (‘Was ist also die Zeit? ’) (Augustinus 2008: 192) bis heute nicht beantwortet werden. Betrachtet man die Verbalkategorien, fällt auf, dass nicht alle Formen einer Kategorie unbedingt die definitorische Kategorieinterpretation veranlassen. So zählen die Formen der Deponentien im Lateinischen zur Passivkategorie, obwohl sie nicht die Funktion, sondern lediglich die Form von Passiv haben (vgl. Viguier 2013: 20). Neben satzsemantischen Kriterien wurden traditionell auch formale Kriterien bei der kategorialen Zuordnung innerhalb des Verbalsystems herangezogen. Doch die semantischen Kriterien waren die wichtigsten bei der Konstituierung der Verbalkategorien in der abendländischen Grammatiktradition. Und dennoch bestehen Diskrepanzen zwischen den Tempuskategorienamen und den reellen Interpre- 8 Aurelius Augustinus (354-430 n. Chr.) läutet einen Wandel in der Grundhaltung des Denkens über die Wirklichkeit und des Paradigmas der Philosophie ein und führt die erste klassische Ausprägung der Metaphysik des Subjekts ein. In seinem XI. Buch der Confessiones vollzieht Augustinus eine Wende vom antiken, an den Zeitkosmos gebundenen Zeitverständnis hin zum subjektiven, inneren Zeitbewusstsein und entdeckt die Zeiterfahrung konstituierende Leistung des Bewusstseins (memoria) und die Seinsverfassung des Menschen als zeitliches Wesen (vide: Augustinus 2008). Augustinus zufolge bringt der Geist die Zeitdimensionen hervor, da wir die Zeit in der Seele messen und die Erfahrung der eigenen Zeitlichkeit weist uns auf das Unvergängliche hin (vgl. auch Kunzmann/ Burkhard/ Wiedmann 2002: 71). Die Frage „Was ist also die Zeit? “ stellt Augustinus im XI. Buch der Confessiones in Kapitel 14. Auf die Frage erwidert er, er wisse, dass es sie gebe, und wenn ihn jemand frage, was Zeit sei, wisse er es, erklären könne er es jedoch nicht. 21 tationen, wie mehrfach in der Forschungsliteratur konstatiert wurde (vgl. Viguier 2013: 26-27). Deshalb geht man heute von der Polyfunktionalität der Tempora aus. Trotzdem stellt sich die Frage nach der Rolle der Temporalität der Tempora. Neben der kategorialen Mehrdeutigkeit sind Tempora oftmals auch im Hinblick auf die temporale Verortung von Ereignissen polysem − man denke im Hinblick auf unseren Forschungsgegenstand, das Präsens, an das historische Präsens oder das Präsens pro futuro. Bezüglich der kategorialen Polysemie konkurrieren drei Theorien miteinander: der Homonymie-Ansatz, der monosemistische und der polysemistische Ansatz. Der weniger vertretenen Homonymie-Ansatz würde implizieren, dass unterschiedliche Kategorien im Laufe ihrer diachronen Entwicklung miteinander verschmolzen wären, zum Beispiel das participe présent und der gérondif im Französischen, was jedoch nicht der Fall ist (vgl. Viguier 2013: 28). Die Monosemisten, wie Thieroff (1992), vertreten eine puristische Position, indem sie von einem minimalen semantischen Grundwert innerhalb jeder Verbalkategorie ausgehen. Das erfordert jedoch in einer radikalen Auffassung eine Unterspezifierung der Parameter Z EIT oder A SPEKT oder die Annahmen von zahlreichen Tempusmetaphern nach Weinrich (2001) (vgl. Viguier 2013: 28-34). Die Polysemisten hingegen gehen von mehreren Bedeutungen in Abhängigkeit vom Ko(n)text aus (vgl. Viguier 2013: 34). Der Übergang zwischen Monosemie und Polysemie kann jedoch als fließend betrachtet werden, in Abhängigkeit davon, ob der Kontext berücksichtigt wird oder nicht, weshalb sich eine „pragmatische Polysemie“ als Lösung anbietet (vgl. Monville-Burston/ Burston 2005). Hierbei wird Tempus als ein Algorithmus konzipiert - im Sinn der formalen Semantik -, der eine Lesartenvielfalt abhängig vom pragmatischen Relevanzprinzip lizenziert, wobei die Polysemie dadurch bereits in der Grundbedeutung verankert ist (vgl. Viguier 2013: 37). Im Hinblick auf die temporale Semantik kann man analog dazu Tempus aus kognitiv-pragmatischer Sicht als eine Perspektivierungskategorie definieren. Denn durch die Tempusselektion wird die temporale Perspektive, also der zeitliche Blickwinkel, auf die Verbalereignisse festgelegt, welche dem semantischen Grundwert der Tempora entspricht (vide Meisnitzer 2015a 9 ) und die Perspektive auf einen anderen Punkt lenken kann (vgl. Leiss 1992: 33-34). Der Ko(n)text, aber auch Spannungsfelder im Inneren eines Verbs selbst, zum Beispiel zwischen seiner aspektuellen Semantik sterben [+ TELISCH ] [+ PUNKTUELL ] und der Tempusform in einem präsentischen Satz wie Er stirbt., veranlassen den Adressaten zu einer sinnstiftenden Reinterpretation, da Telizität und die vom Präsens ausgedrückte Perspektive auf 9 Die Studie geht der Frage nach, was Tempora eigentlich leisten, und zeigt anhand des Sprachvergleichs Spanisch-Deutsch, inwiefern eine Auffassung von Tempus als Perspektivierungskategorie einerseits empirisch verifizierbar ist, andererseits eine Erklärung der Polyfunktionalität der Tempora ermöglicht und eine Vermittlung dieser in der Fremdsprache erleichtert. 22 die Handlung im Verlauf inkompatibel sind. Der Satz wird folglich als Futur gelesen (‘Er wird gleich sterben’). Im Fall des Deutschen könnten wir hier von einer Reanalyse sprechen, da telische Verben im Präsens systematisch zum Ausdruck des Futurs verwendet werden, wie Leiss (1992) zeigte und wie in Kapitel 4.2.3 noch ausführlicher besprochen wird. Die kontextuelle Interpretation wurde folglich verallgemeinert und grammatikalisiert aufgrund der Affinität semantischer Komponenten. 2.2 Tempus und Perspektive Die Entwicklung des zeitlichen Bewusstseins geht mit dem Spracherwerb einher. Ein abstraktes Zeitbewusstsein wird erst im vierten bis fünften Lebensjahr erreicht (vgl. Weinrich 2001: 69; Wunderlich 1970: 86). Kleinkinder haben noch eine egozentrische Perspektive, 10 die an das ‘Hier und Jetzt’ gebunden ist, und können ihre Aufmerksamkeit nur auf einen einzigen Gegenstand oder ein einziges Merkmal richten. 11 Der zeitliche Begriff ist, 10 Perspektive wird hier als anthropologisches Basisprinzip aufgefasst und entspricht einer standortabhängigen Relation zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt, Ereignis oder Geschehnis. Grammatik ist das sprachliche Instrumentarium, welches es dem Menschen ermöglicht, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Die involvierten grammatischen Kategorien erlauben es dem Menschen, den eigenen Perspektiven-Ausgangspunkt zu verlassen und eine Verlagerung des Perspektivenpunkts vorzunehmen, was Grundvoraussetzung für perspektivisches Denken und die Entwicklung einer Theory of Mind (ToM) ist (vide: Leiss 2012). 11 Bei der egozentrischen Perspektive von Kleinkindern, die unter anderem auch der ersten zeitlichen Wahrnehmung der Welt von Kindern entspricht, liegt kein Shifting der Origo vor, die beispielsweise für ein Bewusstsein von ‘Vergangenheit’ und ‘Zukunft’ erforderlich ist. Kinder weisen lediglich eine monoperspektivische Wahrnehmung auf (vgl. Graumann 2002: 29) und haben noch nicht die kognitive Fähigkeit entwickelt, andere Perspektiven einzunehmen und diese zu vermitteln. Diese kognitive Fähigkeit ist an den Spracherwerbsprozess gebunden und wird erst durch den Erwerb der erforderlichen grammatischen Kategorien möglich (vide: Kielhöfer 1997: 127-147, zum Erwerb der Vergangenheitstempora im Französischen). Wie Stephany festhält, weisen die Kinder unterschiedlicher Sprachen die Gemeinsamkeit auf, dass sie als erstes Vergangenheitstempus „die umgangssprachlich häufigste und unmarkierte Vergangenheitsform“ (Stephany 1985: 220). verwenden. ‘Dislokationen’ entlang der Zeitachse und temporale ‘Verortung’ sind Fähigkeiten, die Kinder erst mit dem Aufkommen eines Bewusstseins für ‘Vergangenheit’ erwerben. Das Bewusstsein für ‘Vergangenheit’ erlangen Kinder über das Partizip Perfekt (ab ca. 2 Jahren und 3 Monaten), jedoch als Ableitung von der Opposition ‘perfektiv’ und ‘imperfektiv’ und nicht etwa ‘vergangen’ und ‘nicht-vergangen’, wie die Auswertungen der Studien von Jacobsen zum Spanischen (vgl. Jacobsen 1984: 54-55) und von Kielhöfer zum Französischen belegen (vgl. Kielhöfer 1993: 129). So stellen die ‘Vergangenheitsformen’ in der frühen Kindersprache keine Charakterisierung ihrer temporalen Funktion dar, sondern Kinder verwenden die formale Kategorie der ‘Vergangenheitsform’, um auszudrücken, dass sie das Ergebnis des vom Verb ausgedrückten Prozesses fokussieren (vgl. Stephany 1985: 220). Das semi-finite Partizip Perfekt ist somit die erste ‘Vergangenheitsform’, die 23 wie Studien zum Kindspracherwerb zeigen, in einem Anfangsstadium noch eng an die sinnliche Wahrnehmung gebunden. Bereits Leiss (1992) verweist darauf, dass erst der Erwerb von grammatischen Kategorien eine Loslösung von dem hic et nunc ermöglicht. Ebenfalls parallel zum Spracherwerb lernen Kinder im Lauf der Jahre, Handlungen introspektiv zu betrachten und nicht nur deren Ziel zu fokussieren, sie entwickeln ein Fremdbewusstsein (Theory of Mind), können Denkvorgänge in ein System von Operationen einbinden und entwickeln einen homogenen abstrakten Zeitbegriff. Dieses Konzept ermöglicht es, zeitliche Operationen in Beziehung zueinander zu setzen − die Grundvoraussetzung für das Abstraktionsvermögen und die Basis der Fähigkeit des deduktiven Schlussfolgerns (vgl. Piaget 1974). Ein weiteres wichtiges Indiz dafür, dass Temporalität die Perspektive auf die Ereignisse in der außersprachlichen Welt determiniert, liefert uns unsere raumsemantische, metaphorische Vorstellung von Zeit als Zeitlinie. Dabei nehmen die Menschen an, dass sich Zeit bewegt, da sich Dinge scheinbar von alleine verändern (zum Beispiel das Altern eines Menschen), ohne dass jedoch Konsens herrscht, in welche Richtung sich Zeit bewegt: Vergangenheit  Zukunft oder Zukunft  Vergangenheit. Evans (2004) ist daher der Überzeugung, dass unserer Vorstellung von Zeit mindestens zwei komplexe Modelle von Zeitlichkeit zugrunde liegen, die jeweils kulturunabhängig sind. In diesen zwei Modellen sind sowohl die primären Zeitkonzepte, die universal sind, wie die Konzepte ‘Dauer’, ‘Moment in der Zeit’, ‘Ereignis in der Zeit’, ‘Vergangenheit’, ‘Gegenwart’ und ‘Zukunft’, als auch sekundäre Zeitkonzepte, die eher kulturspezifisch determiniert sind, wie ‘Zeitmessung’ und Feiertage wie ‘Ostern’, ‘Weihnachten’, integriert (vgl. Evans 2004: 212). So herrschen zwei Auffassungen bezüglich der temporalen Bewegung vor, die gemäß dem Agens-Patiens-Prinzip (active-determinative principle) in Bezug auf Zeit variieren: I) Das Complex Moving Time-Modell, in dem das erfahrende Individuum das deiktische Zentrum bildet, an dem die Zeit vorbeizieht: Die Position des Ego ist in diesem Modell mit dem Konzept der ‘Gegenwart’ identisch und Konzepte wie ‘Vergangenheit’ und ‘Zukunft’ liegen dementsprechend unter Bemühung semantischer Raumkonzepte vor oder hinter dem Ego (vgl. Evans 2004: 214-217). Das Hauptproblem dieses Modells liegt in der Grundannahme einer absoluten Zeit im Sinne von Newton (1999), die angesichts der subjektiven Zeitwahrnehmung abhängig vom Betrachter jedoch nur ein in der Theorie haltbares Konstrukt ist (vgl. Hawking 2001: 185-199). Kinder erlernen, sowohl in den romanischen als auch in den germanischen Sprachen (vgl. Kielhöfer 1993: 129-132; Leiss 1992: 243; Stephany 1985: 220). 24 (1.a) Der Abgabetermin rückt näher. (1.b) O prazo de entrega está a aproximar-se. (1.c) La fecha de entrega se acerca. (1.d) La date de remise s’approche. (1.e) The deadline is coming closer. Abbildung 1 - Das Complex Moving Time-Modell (Evans 2004: 215) II) Das Complex Moving Ego-Modell, in dem ein distinktiver Zeitpunkt als Fixum gesetzt wird und sich der Beobachter auf diesen zubewegt: Die Zeit wird in diesem Modell als eine Art ‘Zeitlandschaft’ konzipiert, in der sich das Ego bewegen kann. Dort setzt sich das Ego die zu erreichenden Ereignisse in der Zukunft, um dann diese auch selbst zu erreichen. Das Ego bewegt sich folglich von der Vergangenheit in Richtung Zukunft. Ereignisse werden hingegen als statisch beschrieben, als eine Art fester ‘Orte’ in der ‘Zeitlandschaft’ (Beispiel 2, vgl. Evans 2004: 219-221). ‘Dauer’ entspricht in diesem Modell dem Abstand zwischen distinktiven Ereignissen und das ‘Jetzt’ entspricht dem (Zeit-)Raum, in dem sich das Ego befindet. (2.a) Wir nähern uns dem Abgabetermin. (2.b) Estamo-nos a aproximar do prazo de entrega. (2.c) Nosotros nos acercamos de la fecha de entrega. (2.d) Nous nous approchons de la date de remise. (2.e) We are getting closer to the deadline. Abbildung 2 - Das Complex Moving Ego-Modell (Evans 2004: 219) 25 Während im Complex Moving Time-Modell das Prinzip der Dauer mit der Schnelligkeit des Zeitflusses realisiert ist, ist im Complex Ego Moving-Modell der Abstand zwischen den Ereignissen der bestimmende Faktor (vgl. Evans 2004: 221-222). Das Ergebnis ist eine unterschiedliche Perspektive auf die temporale Bewegung. Diese Modelle haben, wie Evans (2004) zeigt, Implikationen für die lexikalischen Konzepte von Zeit und spiegeln sich in diesen. Dennoch müssen lexikalische und mentale Konzepte voneinander unterschieden werden. Konventionelle Bedeutungen von Zeitausdrücken gehen auf lexikalische Konzepte zurück, während sich mentale Konzepte aus einer Kombination von lexikalischen Konzepten ergeben und eine Art Metaebene bilden, aus der sich wiederum die lexikalischen Konzepte bedienen. Während die mentalen Konzepte wohl universell sind, sind die lexikalischen kulturell determiniert. Diese Einsichten von Evans (2004), die auch seine Auffassung vom Zeitproblem als ein sprachliches Problem begründen, haben keine weiteren Implikationen für Tempora, da lexikalische Zeitausdrücke und Tempora grundlegende Unterschiede aufweisen. Dennoch zeigen sie, dass Temporalität und Perspektivik in der Sprache miteinander einhergehen und dass Sprache unser Denken determiniert und modelliert. Folglich besteht auch in Fragen der Temporalität eine Korrelation zwischen Sprache und Kognition. Unsere Gedanken sind wohl ohne temporalen Zusammenhang in unserem Gehirn gespeichert und eine zeitliche Sequenzierung ist nur durch das Instrument Sprache möglich. Neben den beiden genannten Modellen stellt Evans noch das der temporalen Sequenzierung vor, in dem es keine lexikalischen Konzepte für ‘Vergangenheit’, ‘Gegenwart’ und ‘Zukunft’ gibt (vgl. Evans 2004: 227-236). Ereignisse sind lediglich durch Relationen ‘früher’ oder ‘später’ verbunden und alle Zeitangaben werden relational wiedergegeben. Dieses Modell erlaubt die Sequenzierung von Ereignissen allein vom Standpunkt eines zweiten Ereignisses aus. Nicht mehr das Ego oder die Zeit wie in den anderen beiden vorgestellten Modellen bilden das deiktische Zentrum, sondern ein anderes Ereignis (anaphorische Ereignisverkettung). (3.a) Klaus wird vorbeikommen, nachdem Sandra gegangen ist. (3.b) O Klaus vai passar por cá depois de a Sandra ter ido embora. (3.c) Klaus pasará por acá después que Sandra se haya marchado. (3.d) Klaus viendra quand Sandra sera partie. (3.e) Klaus will come around after Sandra has left. Diese Möglichkeit der temporalen Verortung von Ereignissen im Hinblick auf andere Ereignisse ist von zentraler Bedeutung für eine Tempusauffassung, die Tempora in ihrer Multifunktionalität erklären möchte, und ist universell anwendbar. Die Perspektivierung der Sequenzen ist in diesem Fall kulturell determiniert. Wie anhand der Beispielsätze (1)-(3) erläutert wurde, können durchaus beide oder sogar alle drei Modelle Temporalaus- 26 drücken innerhalb einer Sprache zugrunde liegen - sie müssen es jedoch nicht. Jede Sprache favorisiert eines der Zeitbewegungsmodelle bei der Bildung lexikalischer Temporalausdrücke und bei der sprachlichen Enkodierung temporaler Relationen zwischen Ereignissen. Das Problem der gegenwärtigen Zeit soll im Folgenden noch einmal besondere Aufmerksamkeit erhalten. Denn zum einen werden Ereignisse, die sich vermeintlich im ‘Jetzt-Zeitintervall’ befinden, sprachlich durch das Präsens versprachlicht. Und zum anderen bereitet das Präsens wohl die meisten Probleme innerhalb der consecutio temporum. Das zeigen bereits die stark abweichenden Auffassungen von Gegenwart in den beiden vorgestellten dynamischen Zeitmodellen. Im relationalen Modell existieren hierfür keine Begriffe, weil Zeit auf Beziehungen zwischen Ereignissen beschränkt wird. Obwohl wir sprachlich das ‘Jetzt’ ausdrücken können und Kinder in ihrem Spracherwerb zunächst eine egozentrische Perspektive von ‘Hier und Jetzt’ aufweisen und Distanzierungen gegenüber dem natürlichen Sprecherstandpunkt erst durch das Erlernen der unterschiedlichen Tempora möglich werden, können wir genau genommen den ‘gegenwärtigen Augenblick’ der Zeit gar nicht festhalten. Dies konstatierte bereits 1886 der amerikanische Psychologe William James (1842-1910): „Wo ist sie, diese Gegenwart? Sie ist unter unserem Zugriff geschmolzen, entflohen, ehe wir sie berühren konnten, vergangen im Augenblick des Werdens“ (James 2007: 33). Das Konzept von ‘Gegenwart’ entspricht, wie gezeigt wurde, im Sinne einer physischen Lokalisierung dem Zeitabschnitt, in dem sich das empfindende Subjekt (Experiencer) befindet (vgl. Evans 2004: 188). Pöppel zufolge ist das ‘Jetzt’ das Zeitintervall, 12 welches der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft entspricht (vgl. Pöppel 1997: 61). Aus Sicht der Wahrnehmung konnte Pöppel mittels Tests mit Versuchspersonen belegen, dass etwa dreißig Millisekunden Abstand nötig sind, um bei visuellen, akustischen und taktilen Stimuli zu erkennen, welcher als erster und welcher als zweiter erfolgt (vgl. Schnabel/ Sentker 2004: 180). Alles, was innerhalb dieses Zeitraums erfolgt, scheint unserem Konzept von ‘Gleichzeitigkeit’ zu entsprechen. Das ‘bewusste Jetzt’ darf Pöppel zufolge nicht mit ‘Gleichzeitigkeit’ verwechselt werden und beträgt sprach- und kulturunabhängig ca. drei Sekunden (vgl. Evans 2004: 26; Pöppel 1994; Schnabel/ Sentker 2004: 179). ‘Temporalität’ ist demzufolge ein duratives Konzept (vgl. Evans 2004: 76). Indeed, at the perceptual level temporality is experienced in terms of durational ‘episodes’ configured by virtue of perceptual moments. These durational episodes are related in memory such that they can be chronologically sequenced. (Evans 2004: 204) 12 Pöppel (1997) selbst verwendet trotz seiner Erkenntnis bezüglich der Ausdehnung von Gegenwart den Begriff Zeitpunkt, der hier angesichts der Implikationen seiner Einsichten durch den in der Temporalsemantik üblichen Begriff Zeitintervall ersetzt wurde. 27 Diese Einsicht ist auch für eine Auseinandersetzung mit Tempus aus sprachwissenschaftlicher Sicht von Bedeutung. Sie bestätigt Bennett/ Partees (2004 [1978]: 69ff.) Revision der von Reichenbach (1960 [1947]) vorgeschlagenen Zeitpunkte mittels Ersetzung durch Zeitintervalle. Bennett/ Partee gehen dabei davon aus, dass Tempora die Gültigkeit einer Aussage in einem Zeitintervall zeitlich determinieren, dessen Grenzen durch ein Temporaladverbiale spezifiziert werden können (4), aber nicht müssen (5) (vgl. Bennett/ Partee 2004 [1978]: 71). (4.a) Gestern war ich zuhause. (4.b) Ontem estive em casa. (4.c) Ayer estuve en casa. (4.d) Hier, je étais chez moi. (4.e) Yesterday I was at home. (‘Am Tag vor dem Tag, an dem die Aussage getätigt wird, war der Sprecher zuhause. Die Gültigkeit der Aussage ist folglich auf den Vortag des Sprechaktes begrenzt.’) (5.a) Ich war sehr klein. (5.b) Eu era muito pequeno. (5.c) Yo era muy pequeño. (5.d) J’étais très petit. (5.e) I was very small. (‘In einem Zeitraum vor der Sprechzeit war der Sprecher sehr klein. Es wird kein genaues Zeitintervall festgelegt. Die Gültigkeit der Aussage ist jedoch auf den Zeitraum vor der Aussage beschränkt’) Der Mensch kann lediglich eine begrenzte Menge an Input kognitiv kategorisieren und dadurch wahrnehmen, also sprachlich erfassen, und immer nur ein Ereignis nach dem anderen fokussieren, was sich auf sprachlicher Ebene in dem Universale der Linearität widerspiegelt. Deshalb werden andere Ereignisse, die ebenfalls stattfinden und die unsere Perzeption gewissermaßen marginal, als eine Art Hintergrund, wahrnimmt, relational zu dem fokussierten Ereignis/ Vorgang. Sprachlich kommt dies vor allem in aspektuellen Oppositionen zum Ausdruck. Ein Verbalgeschehen kann grundsätzlich auf zwei unterschiedliche Arten betrachtet werden: einmal als unteilbares Ganzes, zum anderen ohne diesen Totalitätsbezug. Im ersten Fall ist impliziert, daß der Sprecher sich außerhalb des Geschehens befindet; nur so kann er ein Geschehen als Ganzes wahrnehmen; im zweiten Fall ist er Teil des Verbalgeschehens. (Leiss 1992: 33) In den romanischen Sprachen stellt der Sprecher/ Erzähler für zwei Verbalhandlungen in der Vergangenheit durch seine Wahl zwischen Imperfekt 28 (imperfektive Aspektualität) und Perfekt (perfektive Aspektualität), durch die eine Handlung in den Vordergrund (perfektive Aspektualität) und die andere in den Hintergrund (imperfektive Aspektualität) gestellt wird, eine Relation zwischen den beiden Ereignissen 13 her, die außersprachlich keinerlei notwendigen Zusammenhang oder Verbindung miteinander aufweisen. Vordergrundierung und Perfektivität stehen in einem notwendigen Zusammenhang. Es ist aus der Wahrnehmungspsychologie bekannt, daß Figuren mit abgeschlossenen Konturen „nach vorne treten“. Perfektive Tempora haben solche geschlossenen Konturen, die mit einer vordergrundierenden Perspektive harmonieren. (Leiss 2000: 75) Durch die Fokussierung der jeweiligen Handlungen mittels der Tempusselektion wird das perfektive Verbalereignis aus kognitiver Sicht zur figure, während die imperfektive Verbalhandlung den ground bildet (vgl. Langacker 2008: 58). Die Relevanz der beiden Verbalhandlungen, die unabhängig voneinander sind, für das wahrnehmende und sprechende Subjekt determiniert, dass diese in Relation zueinander gesetzt und dementsprechend perspektiviert werden. Die zeitreferentielle Verbindung ist ein Ergebnis unserer kognitiven Verarbeitung. (6) O Pedro ligou Perfekt , enquanto (eu) passeava Imperfekt no jardim. ‘Peter rief an, während ich im Garten spazieren ging’ In Beispiel (6) wird durch die morphologische Markierung (Perfekt -ou) und Imperfekt (-va) eine Abweichung der natürlichen Präsupposition I CH , H IER und J ETZT im Sinne der Markiertheitstheorie signalisiert: Roman Jakobson überträgt die von Nikolaj Trubetzkoy im Bereich der Fonologie für fonologische Oppositionen entwickelte Theorie auf den Bereich der Grammatik und geht davon aus, dass es „eine innere Gemeinsamkeit zwischen der Merkmalhaftigkeit auf der Ebene der grammatischen Kategorien und der Merkmalhaftigkeit auf der Ebene der distinktiven Merkmale“ gibt (Jakobson/ Waugh 1986: 99). Demzufolge wird in der Markiertheitstheorie angenommen, dass Markiertheitsrelationen den Ablauf sprachlicher Prozesse steuern, wobei sowohl in der diachronen als auch in der historischen Sprachentwicklung ein Markiertheitsaufbau angenommen wird, der sich 13 Ereignisse sind Engelberg (2000) zufolge Veränderungen einer oder mehrerer Entitäten in einem gewissen Intervall und als solche grundlegende Strukturelemente unserer Zeitwahrnehmung, da sie es uns ermöglichen, Zeit als solche erfahrbar zu machen. Komplexe Ereignisse sind dabei in Teilereignisse gegliedert, zwischen denen eine mereologische Beziehung besteht. Die Ereignisse stehen wiederum in einem Zeitverhältnis zueinander und zu einem Betrachter (Tempus), welche durch die Verbalmorphologie kodiert werden (Temporalmorpheme), und in einem räumlichen Verhältnis, welches der Sprecher modelliert (Aspekt). Ereignisse können vordergrundiert werden, indem sie unter Berücksichtigung ihrer Konturen betrachtet werden, mit dem Merkmal [+ BEGRENZT ], oder hintergrundiert, wenn die Konturen nicht beachtet und die Ereignisse als [- BEGRENZT ] betrachtet werden. 29 gleichzeitig in einer Erhöhung der Komplexität der mentalen Vorgänge widerspiegelt. In (6) entspricht die morphologische Markierung einer Abweichung von der kindlichen natürlichen Präsupposition des ’Hier und Jetzt’ im Sinne einer Dislokation in die Vorzeitigkeit, die beide Verbformen veranlassen. Außersprachlich gesehen besteht kein Zusammenhang zwischen Peters Anruf und dem Verbalvorgang des Spazierengehens des wahrnehmenden Subjekts. Die Relevanz der beiden Ereignisse für das wahrnehmende Subjekt determiniert die relationale Verbindung. Dabei liegt der Fokus der Aufmerksamkeit auf dem Anruf, der sich ebenfalls über ein Zeitintervall erstreckt hat, jedoch unter Berücksichtigung seiner Konturen betrachtet und folglich in den Vordergrund gestellt wird. Objektiv gesehen gibt es keine Ereignisse von größerer oder geringerer Bedeutung, dies ist immer eine Frage der (subjektiven) Perspektivierung. Obwohl beide Ereignisse sich zeitlich überlappen, können sie nicht zeitgleich sprachlich wiedergegeben, sondern nur mittels der Perspektivik innerhalb eines Zeitintervalls lokalisiert werden, was unsere kognitive Wahrnehmung reflektiert. 14 Die ‘gegenwärtige Zeit’ wiederum ist sowohl sprachlich als auch kognitiv von dem Konzept des Raumes abgeleitet, in dem wir uns befinden. Deshalb besteht eine starke Affinität zwischen dem temporalen Präsens und der räumlichen Präsenz. As the present inevitably correlates with the particular location we happen to occupy at any given time, then there is a tight and ubiquitous correlation in experience between the temporal present and our experience of our physical vicinity. (Evans 2004: 189) In der von Evans (2004) hervorgehobenen Affinität lässt sich auch der semantische Grundwert des Präsens erkennen: ein ‘Hier und Jetzt’, in dem Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit zusammenfallen. 2.3 Die Bedeutung von Z EIT in der zeitgenössischen Literatur und Narratologie Die Bedeutung des Rätsels um den Zeitbegriff in unserem alltäglichen Leben spiegelt die Rolle, die die Frage nach der Zeit sogar in der fiktionalen Welt der Romane einnimmt, wider. Thomas Mann greift im Roman Der Zauberberg (1924) die Zeit als zentrales Motiv auf, verwoben mit einer Aus- 14 Die kognitive Verarbeitung von Input über die Sinneswahrnehmungen löst im Gehirn das Feuern von Neuronen aus und die unterschiedlichen Kombinationen von feuernden Neuronen geben den wahrgenommenen Stimuli einen Sinn. Das gleichzeitige Feuern ermöglicht es auch dem menschlichen Gehirn, Informationen, die in unterschiedlichen Gehirnarealen verarbeitet werden, zu korrelieren und zu einer „temporary global unity“ zu binden (Crick/ Koch 1990: 263). Dadurch entsteht das Gefühl von Gleichzeitigkeit, obwohl die diversen Stimuli mit unterschiedlicher Geschwindigkeit das Gehirn erreichen. 30 einandersetzung mit Leben und Tod. In Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1927) findet das Begreifen der Vergangenheit als ausschließlicher Gegenstand der Erinnerung statt. Und auch in dem 1973 erschienenen Roman Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte von Michael Ende spielt die Zeit als Motiv eine zentrale Rolle. In der Fantasiewelt des Romans werden die Menschen dazu animiert, Zeit zu sparen, in Wahrheit werden sie jedoch um diese betrogen, da Zeit nicht aufschiebbar ist. Auf der Ebene der narrativen Struktur 15 fällt in jüngerer Zeit eine Präferenz zahlreicher Autoren für zeitverkehrte Erzählungen auf (siehe hierzu: Ryan 2010), was letztlich auch das Interesse von Narratologen wie Brian Richardson und Seymour Chatman weckte (vgl. Chatman 2009; Richardson 2006). Zudem prägt seit Ende des 20. Jahrhunderts die Aufwertung der Gegenwart die Theorien der ästhetischen Erfahrung. Der Chronotopos der Aktualität löste sich aus dem Verbund der übrigen Zeiten und trat in den Vordergrund. Die chronotopische Struktur des fiktionalen Erzählens ist daher einer zunehmenden Präsens- und Präsenzemphase unterworfen (vgl. Hennig 2010: 11). In der Literatur hat besonders die Konkurrenz zum Film die Diskussion um Fragen bezüglich der Zeit, des Zeitflusses und der zeitlich-räumlichen Perspektivierung der dargestellten Handlungen geprägt (vgl. u.a. Deleuze 1989; Hennig/ Koch/ Voss/ Witte 2010). Eine solch intensive Auseinandersetzung und Verarbeitung des Zeitproblems in der fiktionalen Literatur und die stetige Konkurrenz mit dem Film und den neuen Medien legt die Hypothese nahe, dass Autoren bewusst das Präsens einsetzen, um die Handlung im ‘Hier und Jetzt’ des Lesers zu situieren. Dem Leser wird durch Erzählung im Präsens möglicherweise ein intensiveres Miterleben des Dargestellten ermöglicht und der Spannungseffekt wird durch den offeneren Charakter der Verbalereignisse als bei der Verwendung eines Vergangenheitstempus und durch die vom Präsens ausgedrückte Unmittelbarkeit gesteigert. Das 15 Narrativität wird hier als komplexes Strukturprinzip aufgefasst, das sich rekursiv auf mehreren Ebenen manifestiert und aus linguistischer Sicht die semantisch-syntaktische Struktur definiert, die den Diskurs als ‘Gerüst’ trägt (vgl. Barros 2002: 7). Als Strukturprinzip liegt die Narrativität jedoch nicht nur der Erzählung zugrunde. Siehe Zeman (2011) zur Analogie der diachronen Entwicklung von Strukturen im Sprach- und Bildsystem, Chatman (1990: 2ff.) und Schmidt (2009) zur Anwendbarkeit vom Prinzip der Narrativität auf den Film und Pias (2002: 124) und Butler (2007: 55) zur Entwicklung narrativer Strukturen in der Ludologie, vor allem im Adventurespiel. Im narrativen Diskursmodus werden Ereignisse in einem in sich geschlossenen Kontinuum anaphorisch in Beziehung zueinander gestellt, anstatt deiktisch auf die aktuelle Sprechzeit bezogen zu werden (vgl. Caenepeel/ Moens 1994: 13). 31 Präsens ermöglicht eine Innenbetrachtung der Verbalvorgänge, bei der Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit zusammenfallen. 16 Die Hypothese, Autoren würden sich mit den Tempora, die sie in ihren Werken einsetzen, aus grammatischer Sicht auseinandersetzen, lässt sich jedoch anhand einer Anfrage von Roth (2000) an deutsche Autoren, 17 die Romane im Präsens verfassten, widerlegen. Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass die Autoren in der Regel aus linguistischer Sicht zu ad-hoc-Erklärungen bezüglich ihrer Tempuswahl greifen (vgl. Roth 2000: 95-102). Natürlich habe ich das Präsens nicht in dem Sinne bewußt gewählt, daß ich mich hingesetzt hätte und mich gefragt hätte: Was will ich erreichen - was muß ich für eine Zeitform wählen. Es war mehr eine Frage des Instinkts. (Jenny Erpenbeck 18 in: Roth 2000: XXXIV) Anfangs geschah es sicherlich eher instinktiv, daß ich im Präsenz [sic! ] schrieb, ich habe mir ohnehin lange nicht vorstellen können, in der Vergangenheitsform zu schreiben, doch dann wurde mir klar, daß es bei »Flughunde« nie eine andere Wahl gegeben hat. In der Vergangenheitsform erzählt wäre von Anfang an klar gewesen, daß Hermann Karnau alles überlebt hat, daß es für ihn also den Punkt einer Rückschau gibt. (Marcel Breyer 19 in: Roth 2000: XXXII) Dennoch ist es interessant zu konstatieren, dass alle Autoren den Miteinbezug des Lesers als Grund für das Schreiben im Präsens nennen (vgl. Roth 2000: 95-96), ihre Erklärungen dafür jedoch zumeist auf eine instinktive Wahl der Tempora hinauslaufen. Die erste Überlegung war, ein Tagebuch zu schreiben. Doch in einem Tagebuch wird oft auch rückblickend über den Tag erzählt. Ich wollte aber, daß die Leser mit mir zusammen auf die Reise gehen, mit mir zusammen die ersten Eindrücke des Landes gewinnen. Dieses Seite-an-Seite-Sein mit dem Erzähler, das gemeinsame Erleben mit ihm erreicht man nach meiner eigenen Leseerfahrung am besten durch das Präsens. Dadurch wird der Leser direkt in die Handlung miteinbezogen. (Bruni Prasske 20 in: Roth 2000: XXXI) 16 Diese Annahmen entsprechen den Ergebnissen einer Befragung von 163 Lesern durch Roth (2000: 95) nach der vermuteten Motivation, warum Autoren das Präsens als Leittempus für ihre Erzählungen wählen (für das Deutsche). 17 Roth (2000) stützt ihre Auswertungen auf die Antworten von Bruni Prasske, Marcel Breyer, Jenny Erpenbeck, Benjamin von Stuckrad-Barre, Inka Parei, Karen Duve, Kerstin Hensel und Katja Lange-Müller. 18 So Jenny Erpenbeck zu ihrem Roman Geschichte vom alten Kind (1999). 19 Marcel Breyer nimmt in seiner Aussage Bezug auf seinen Roman Flughunde (1995). 20 Die Aussagen von Bruni Praske anlässlich ihres Romans Mögen deine Hände niemals schmerzen (2000) stammen aus einem Telefoninterview, durchgeführt von Christina Roth am 16. März 2000. 32 [...] präsens liefert eine gewisse unmittelbarkeit, ein anderes tempo. (Benjamin von Stuckrad-Barre 21 in: Roth 2000: XXXVI) Die Motivation, den Leser mit einzubeziehen, ist von besonderem Interesse, denn sie zeigt einerseits, dass die Tempuswahl primär nach dem idealen Leser ausgelegt wird, den sich der Autor beim Verfassen seines Werks vorstellt. Andererseits bestätigt es die im Vorangehenden aus kognitiver Sicht verankerte Auffassung von Tempus als Perspektivierungskategorie. Auch die immerhin von mehr als der Hälfte der befragten Leser angegebene vermutete Autorenintention, die Spannung zu steigern (vgl. Roth 2000: 85), korreliert eng mit einer Innenperspektive auf die Handlung und mit der Überwindung der Distanz, die Breyer in Bezug auf seinen Roman Flughunde (1995) stark betont: So wollte ich den Leser in die Figuren hineinzwingen, es durfte auch für den Leser keine Möglichkeit geben, eine Distanz einzunehmen, er sollte sich ganz auf den Blick Karnaus, und dann eben auch auf die Todesangst der Kinder einlassen müssen. (Marcel Breyer in: Roth 2000: XXXVI) Die Rolle des Tempus zur Erzeugung der Perspektive geht auch aus auktorialen Erklärungsansätzen hervor, die unter Bezugnahme auf die „Augenblicklichkeit des Films“ Intermedialität als Grund andeuten (vgl. Jenny Erpenbeck in: Roth 2000: XXXIV). Diese Abzeichnung der Perspektive als Grund für die Tempuswahl darf dennoch nicht über den ad-hoc-Charakter der Erklärungsversuche hinwegtäuschen. Die Erklärungsansätze beziehen sich jeweils nur auf das konkrete Werk und lassen kein übergeordnetes, abstraktes Bewusstsein der Autoren für die Verwendung des Präsens als Leittempus in ihren Werken erkennen. Die Autorenanfragen von Roth (2000) zeigen also, dass Autoren nicht in der Lage sind, eine aus sprachwissenschaftlicher Sicht angemessene Erklärung für die neue Tendenz in der Verwendung der Erzähltempora zu liefern. 22 21 So Benjamin von Stuckrad-Barre in Bezug auf seinen Roman Soloalbum (1998). Die Kleinschreibung ist eine bewusste Wahl des Autors, die auch sein Werk charakterisiert, weswegen auf Markierungen mit [sic! ] bei nicht-rechtschreibkonformen Kleinschreibungen verzichtet wurde. 22 Dabei darf der Erkenntniswert der Autorenaussagen bezüglich ihrer Motivationen, sich für gewisse sprachliche Mittel zu entscheiden, nicht überbewertet werden. Denn ein Autor sieht in der Regel in einer solch sachlich-analytischen Betrachtung die Gefahr, eine gewisse Mystik, die seinem Werk innewohnt, zu zerstören, und dies würde seinem beruflich-künstlerischen Ethos widersprechen. Die Analyse und Interpretation überlässt der Autor in der Regel seinen Lesern, denn wie Inka Parei schreibt, ist die Autorenabsicht „der Impuls für das Entstehen einer Geschichte und sie ist einer der wichtigen Faktoren im Schreibprozeß. [...] Das Ergebnis, das sie hervorbringt, der fertige Text, ist im günstigsten Fall weit mehr als diese Absicht und kann deshalb auch nicht mehr so ohne weiteres auf sie zurückgeführt werden.“ (Inka Parei in: Roth 2000: XXXVII). Diese Ansicht teilen gewissermaßen auch die anderen angeschriebenen Autoren. Eine systematische Autorenbefragung, die zudem zeitaufwändig und umständlich wäre, wurde deswegen nicht weiter verfolgt. 33 2.4 Zusammenfassung: Temporalität, Tempus und Perspektive Ein Blick in andere Disziplinen wie die Physik und die Kognitionswissenschaften zum Phänomen Zeit zeigen, dass es sich dabei wohl um eine kognitive Kategorie handelt, die es uns ermöglicht, die stetigen Veränderungen in der Welt einzuordnen und zu verstehen. Obwohl die logischen Kategorie Zeit nicht völlig mit der grammatischen Kategorie Tempus kongruiert, ist die Frage nach der Bedeutung des Begriffs ‘Zeit’ zentral, um die Abhängigkeit zwischen den beiden Kategorien zu erklären. Davon unabhängig sind rein zeitreferentielle Modelle aus theoretischer Sicht unzulänglich, um die komplexe grammatische Kategorie Tempus zu erklären. Tempora lokalisieren Ereignisse, die aus linguistischer Sicht Verbalvorgänge konstituieren, in Beziehung zueinander und zu einem Betrachter, der jedoch nicht notwendigerweise die gleiche Lokalisation wie der Sprecher einnehmen muss. Dies legt die Formulierung der Hypothese nahe, dass Tempora, die ein geschlossenes grammatisches Set an Formen umfassen, eine deiktische Kategorie bilden. Diese Frage wird in Kapitel 4 näher diskutiert. Gleichzeitig handelt es sich bei Tempora um eine perspektivische Kategorie, da diese die Lokalisierung der Verbalvorgänge in unserer Vorstellung determinieren. Die Schnittstelle zwischen Tempus und Zeit bildet dabei das Merkmal [+ ZEITLICH ], da die Kategorie Tempus auf dem zeitlichen Verhältnis beruht, in dem ein Vorgang zu einem bestimmten referenziellen Zeitpunkt steht (vgl. Paul 1995 [1880]: 273). In jenem Merkmal unterscheiden sich auch die grammatischen Kategorien Tempus und Aspekt. Dem Aspekt entsprechen die Merkmale [- ZEITLICH ] und [+ RÄUM - LICH ], zumindest in seiner primären Lesart. Die räumliche Perspektivierung durch Aspekt findet in Bezug auf den Standort des Betrachters gegenüber dem Ereignis (Innenversus Außenperspektive) statt. Die zeitliche Verortung durch Tempora kann den temporalen Standort der Ereignisse bezüglich des Betrachters oder zweier Ereignisse zueinander und dieser bezüglich des Betrachters determinieren. Tempus drückt somit nicht notwendigerweise die objektive zeitliche Lokalisierung der Ereignisse aus, sondern vielmehr die zeitliche Perspektive, aus der diese betrachtet werden (vgl. Meisnitzer 2011). Daraus resultiert auch die Polysemie der Tempora. Temporale Lokalisierungen von Verbalvorgängen werden hauptsächlich durch Tempus und Temporaladverbialien auf diskursiver Ebene verankert. Beide sind relationale grammatische Kategorien und können Ereignisse im Verhältnis zu anderen Ereignissen oder zu einer Referenzzeit lokalisieren. Sie dienen dazu, Ereignisse in Reihenfolgen, Sequenzen und Abläufe zu ordnen, und dennoch handelt es sich nicht um funktionale Äquivalente (vgl. Kapitel 4.5). Ein Unterschied, der bereits aus dieser ersten Annäherung an Zeit und Temporalität ersichtlich wird, besteht darin, dass Temporaladverbien imstande sind, Zeitintervalle festzulegen und einzugrenzen. 34 Zeitkategorien werden, wie gezeigt wurde, metaphorisch von Raumkategorien abgeleitet, was sich sowohl in den Temporaladverbien widerspiegelt als auch in den Modellen, die den Erklärungsansätzen von Tempus zugrunde liegen. Die Psychologie und die Neurowissenschaften zeigen in überzeugender Weise, dass unsere Wahrnehmung Zeitintervalle umfasst, die im Gehirn gebündelt werden. Das lässt sich mit dem Begriff der Zeitintervalle von Bennett/ Partee (2004 [1978]) und mit der Einsicht der Physik, dass es eigentlich kein ‘Jetzt’ als Entität gibt, korrelieren. Als Hypothese kann demzufolge aufgestellt werden, dass Tempora eine deiktische Kategorie sind, die zur Perspektivierung eines Ereignisses in Bezug auf einen noch zu spezifizierenden Referenzpunkt dienen. Das Präsens determiniert die Gültigkeit der Aussage für ein ‘Hier und Jetzt’ in seiner prototypischen Grundbedeutung und entspricht der egozentrischen Grundwahrnehmung von Menschen. Die Annahme, Autoren von Gegenwartsliteratur setzten die Tempora in ihren Werken bewusst ein, kann mit den Ergebnissen der Autorenanfrage, die der Arbeit von Roth (2000) zugrunde liegt, entkräftet werden. Eine Leserbefragung, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit durchgeführt wurde (siehe Kapitel 9.3), wird dieser Widerlegung weitere Argumente liefern. Dennoch scheint die Tempuspräferenz nicht komplett willkürlich, sondern durch die vom Präsens kodierte Perspektivik erklärbar zu sein. Erste Evidenzen hierfür leuchten bereits bei den auktorialen Aussagen zur Tempuswahl durch. Der Erklärungsansatz in der vorliegenden Arbeit für das narrative Präsens basiert auf einer funktionalen Definition von Tempus als Mittel zur Erzeugung von Perspektive und als deiktische Kategorie. Um diese jedoch plausibel erscheinen zu lassen und die hierfür relevanten Evidenzen aus anderen Wissenschaften auf den Forschungsgegenstand Sprache anzuwenden, müssen zunächst die eigentliche Funktion von Sprache und deren Besonderheit als menschliches Kommunikationsmittel in den Fokus rücken. 3. Sprache und Denken Wie im vorangehenden Kapitel gezeigt wurde ist Zeit wohl primär eine Organisationskategorie unserer Kognition und Tempus die Kategorie, die die dadurch entstehende Perspektivierung der sensorisch wahrgenommenen Ereignisse sprachlich kodiert und es uns folglich ermöglicht die Perspektive auf einen anderen Punkt zu schwenken. Doch was ist eigentlich Sprache? Ohne diese Frage wenigstens anzureißen, scheint eine Auseinandersetzung mit Tempus unmöglich, da die genaue Funktion und Bedeutung nur im Rahmen des zugrundeliegenden Begriffs von Sprache bestimmt werden kann. Im Folgenden soll Sprache als semiotisches System und Kommunikationsmittel mit der Möglichkeit der Referenzverschiebung (Abstraktion) als unabdingbare Eigenschaft zur Bildung von wissenschaftlichen Theorien und Fiktion vorgestellt werden, das im Spannungsfeld zwischen abstraktem System und stetig aktualisierten individuellen Sprechakten steht. 3.1 Sprache als komplexes, multifunktionales semiotisches Zeichensystem Language is a very complex concept, far from easy to define in any stringent manner that actually captures its richness. (Johansson 2005: 5) Die Frage, was eigentlich Sprache ist, und der Zusammenhang zwischen Sprache und Denken werden immer noch kontrovers diskutiert und stehen besonders seit den 1990er-Jahren wieder im Mittelpunkt der Diskussion sowohl in der Sprachwissenschaft als auch in Philosophie, Sprachphilosophie und den Kognitionswissenschaften. Die damit verbundenen konträren Auffassungen haben Implikationen bezüglich der Betrachtung sprachlicher Phänomene. Deshalb muss hier zumindest die Auffassung von Sprache, die dieser Arbeit zugrunde liegt, erläutert werden, um die vorgeschlagene Definition von Tempus zu begründen. Es soll daher im Folgenden gezeigt werden, dass die Sprache ein Zeichensystem mit einer Vielfalt an Funktionen ist, welches sich von anderen Kommunikationssystemen in der Tierwelt durch die Möglichkeit einer verschobenen Referenz unterscheidet, die es erlaubt, vorangehende und nachfolgende Ereignisse auszudrücken und darüber zu kommunizieren. Diese einleitende Reflexion ist von Bedeutung, da der Roman selbst ein Text ist und somit textintern ein „komplexes sprachliches Zeichen, das nach den Regeln des Sprachsystems (Langue) gebildet ist“ (Gülich/ Raible 1977: 47), darstellt und textextern einen Kommunikationsakt bildet. Als unterhaltende, künstlerische und prosaische Form der Erzählkunst ist der Roman entsprechend einem vorgegebenen formalen Strukturmuster gestaltet und 36 stellt eine medial schriftliche sprachliche Erscheinung dar. Und auch wenn an dieser Stelle keine detaillierte linguistische Beschreibung von ‘Fiktion’ gegeben werden kann, so ist es wichtig festzuhalten, dass Fiktionalität eine jener höheren kognitiven Fähigkeiten ist, die nur durch Sprache möglich und für die Sprache konstitutiv ist. Es müssen daher die Eigenschaften von Sprache herausgearbeitet werden, die es uns ermöglichen, Geschichten ohne eine Referenz in der Wirklichkeit zu konstituieren. In einem zweiten Schritt kann dann überprüft werden, ob Erzählungen historischer Geschehnisse mit Referenz in der Wirklichkeit hinsichtlich ihrer zeitreferentiellen Strukturierung von jenen Ereignissen divergieren, die keine solche Referenz aufweisen. Die Frage nach dem Begriff von Sprache ist besonders im 20. Jahrhundert durch eine Hinwendung zu der Verwendung und Bedeutung sprachlicher Äußerungen in den Mittelpunkt der Forschung gerückt („linguistic turn“, vgl. Leiss 2009: 1). Auch wenn das Konzept ‘Sprache’ nach wie vor umstritten ist, so besteht kein Zweifel daran, dass die natürliche „Sprache eine universelle menschliche Tätigkeit ist, die zwar individuell verwirklicht wird, aber stets nach historisch bestimmten Techniken“ (Coseriu 1992: 250). Coserius Hervorhebungen unterstreichen bereits die drei Ebenen, die ihm zufolge in der Sprache unterschieden werden können: die universelle, die historische und die individuelle Ebene (vgl. Coseriu 1992: 254). Für die vorliegende Arbeit kann die Auffassung von Sprache als konventionalisiertes Kommunikationssystem, bestehend aus arbiträren Zeichen, welches zur Verständigung zwischen Menschen dient, geltend gemacht werden (vgl. Lewandowski 1990: 194). Gemeint ist hier keineswegs nur das Lautsprachsystem, denn wie neuere Studien belegen, wird zum Beispiel Gebärdensprache wie Lautsprache in den Sprachzentren verarbeitet, (vgl. Leiss 2009: 265, unter Bezugnahme auf die Studien von Ursula Bellugi). 23 Sprache zeichnet sich durch einen regelhaften Zeichengebrauch aus und es handelt sich dabei um ein hochgradig abstraktes Zeichensystem. Dieses besteht vorwiegend aus Symbolen, da dem Zeichen auf dem Weg zur Konventionalisierung Bedeutung zugesprochen wird, der Zusammenhang zwischen Symbol und Bedeutung aber unmotiviert und willkürlich ist. Durch die Kodierung in sprachlichen Zeichen werden die Perzepte in der Welt übersetzt und kategorisiert und folglich wird die Welt für die menschliche Wahrnehmung und durch diese endlich gemacht. Das Konzept entspricht also der mithilfe der Sprache kategorisierten Wirklichkeit, die der Mensch auf kognitiver Ebene abspeichert. Die lexikalische Semantik fokussiert daher die Relationen zwischen Perzept und Konzept. Wenn der Mensch Äußerungen und Sätze produziert, sei es mündlich oder schriftlich, korreliert er Signifikate (signifiés) mit sprachlichen Signifikanten (signifiants). In jeder Äußerung und in jedem Satz sind beide präsent, da den Konzepten mittels der 23 Siehe hierzu vor allem Bellugi/ Klima (1988) und Bellugi/ Studdert-Kennedy (1980). 37 Signifikanten Ausdruck verliehen wird. Der Mensch hat in diesem Zusammenhang die Funktion einer Art symbolverarbeitenden Systems und kann in letzter Instanz auf einer komplexeren Ebene als „Informationsverarbeitungssystem“ definiert werden (Schwarz 1996: 20). Denn jene sprachliche Zeichen kodieren sowohl einzeln (Lexeme) als auch im syntaktisch determinierten Zusammenspiel Informationen, die der Mensch in seinem Gedächtnis abspeichern und zu beliebigen Zeitpunkten wiedergeben kann. Gleichzeitig ist der Mensch imstande, diese Information wieder zu dekodieren (Sprachverstehen). Aus einer funktionalen Perspektive ermöglicht Sprache die zwischenmenschliche Kommunikation 24 (vgl. Jackendoff 2002) und sie erlaubt es dem Menschen, zu verhandeln und auf andere einzuwirken und die Aufmerksamkeit des Gegenübers zu lenken (vgl. Allott 1994; Catania 2001), und zwar nicht nur innerhalb der gegebenen Situation, sondern über das ’Hier und Jetzt’ hinaus. Durch Sprache kann der Mensch aber auch seine Erfahrungs- und Vorstellungswelt widerspiegeln und diese kann auf unterschiedliche Weise ludisch eingesetzt werden (vgl. Aitchison 2005: 17). Mit der Entwicklung von Sprache hat der Mensch seine Handlungsmöglichkeiten folglich entscheidend erweitert. Language has two basic and closely related functions: a semiological function, allowing thoughts to be symbolized by means of sounds, gestures, or writing, as well as an interactive function, embracing communication, expressiveness, manipulation, and social communion. (Langacker 1998: 1) It is hardly controversial to assert that human language as we know it combines two major mega-functions: representation of knowledge communication of represented knowledge. (Givón 1998: 41) Natürlich ist die Kommunikation nicht auf sprachliche Zeichen begrenzt, denn auch die paraverbalen Zeichen wie manche prosodischen Phänomene, Sprechgeschwindigkeit, Artikulationstypik oder Lautstärke, und nichtsprachliche Zeichen wie die begleitende Gestik, Mimik, Körperhaltung, Bewegungsabläufe und Proxemik werden zum jeweiligen kommunikativen Zweck funktionalisiert. 24 Den Gedanken von Sprache als Mittel des geselligen Zusammenlebens, welches uns auch den Zugang zum Geist ermöglicht, findet man bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Werk von Juan Luis Vives, der in De tradendis disciplinis (1531) eindeutig auf die soziale Funktion der Sprache hinweist: „[...] est etiam sermo societatis humanae instrumentum, neque erim aliter retegi posset animus tot involucris et tanta densitate corporis occultus.“ (Vives 1785 [1531]: 298) (‘Die Sprache ist aber auch ein Mittel des geselligen Zusammenlebens der Menschen, und anders (als durch sie) könnte der Geist nicht aufgedeckt werden, der unter so vielen dichten Hüllen des Körpers verborgen ist’; Übers. aus dem Lateinischen E. Coseriu in: Coseriu 2003: 175). 38 3.2 Sprache und die menschliche Sicht der Welt Der semiotischen Tradition zufolge, die auf die aristotelische Zeichen- und Sprachtheorie zurückgeht, von der Spekulativen Grammatik der Scholastik im Mittelalter aufgegriffen und im 19./ 20. Jahrhundert von Charles Sanders Pierce rezipiert wurde (vgl. Leiss 2009: 252), determiniert der konventionalisierte sprachliche Zeichengebrauch beim kommunikativen Gebrauch von Sprache wesentlich unsere Sichtweise auf die Welt. 25 Sprache ist demzufolge ein perspektivierendes Erkenntnisinstrument 26 und dient zur angemessenen Repräsentation der mentalen Darstellung der Welt. 27 Es wäre keine Verständigung möglich, wenn es nicht ein gewisses Set an supraindividuellen Übereinstimmungen gäbe, da der Adressat sonst nie wüsste, was der Sprecher meint. Da letztlich auch jede Modellbildung in der Wissenschaft durch Sprache konstituiert wird (vgl. Leiss 2009: 254), strukturiert 25 Bereits John Locke (1632-1704) stellt in seinem An Essay Concerning Human Understanding (1690) in dem Kapitel „Of the Name of Substances“ (Essay, III, 6) fest, dass Menschen das als eine ‘Art’ betrachten, wofür sie ein Wort haben (vgl. Locke [1690] 1975). Der Autor illustriert das an den Beispielen „Mensch“, „Pferd“, „Gold“ und „Eis“. Die sprachliche Gestaltung der Welt determiniert folglich die Gestaltung der ‚Welt an sich’ weil sie - nach heutigem Erkenntnisstand - eben unsere Sichtweise der Welt bedingt. Besonders eindrucksvoll sind in diesem Zusammenhang auch die Studien von Berlin und Kay (1969), die zeigen, inwieweit die Wahrnehmung und Differenzierung von Farben durch die jeweils verfügbaren sprachlichen Begriffe determiniert wird, und die Studien zum Ausdruck von Bewegungsereignissen, besonders zum Gebärdenspracherwerb gehörloser Kinder (vgl. Zheng/ Goldin-Meadow 2002). Zheng und Goldin-Meadow (2002) zeigen in ihrer sprachvergleichenden Studie, dass Kinder der gleichen Kultur Bewegung anders wiedergeben, weil sie nichts hören (Zheng/ Goldin-Meadow 2002: 162). So verwendeten sowohl die chinesischen als auch die englischen Probanden (Zheng/ Goldin-Meadow 2002: 149) viel häufiger Path- Beschreibungen, obwohl beides Manner-Sprachen sind. Es wäre daher eigentlich zu erwarten, dass die Kinder sich viel mehr auf Satelliten des Verbs, also Partikeln, Präpositionen oder Affixe stützen, um räumliche Informationen zu kodieren, als auf die Verben selbst, wie es zum Beispiel für die romanischen Sprachen als verb framed languages charakteristisch ist (vgl. Bowermann 2007: 184; Hickmann 2007: 218; 226). Diese Ergebnisse zeigen, dass die Bewegungsbeschreibung und folglich auch der Fokus, welchen der Sprecher in seiner Perspektivierung vornimmt, durch den sprachlichen Input und nicht die Kultur determiniert sind (vgl. Zheng/ Goldin-Meadow 2002: 162-163). Dies bestätigt eine sprachbasierte Hypothese und zeigt, dass unsere Sprache unsere Denkmuster determiniert. 26 Die Leichtigkeit, mit der Kleinkinder lexikalische Einheiten erwerben, deutet darauf hin, dass die notwendigen Grundlagen der kognitiven Strukturen und die unterstützenden neurologischen Fähigkeiten bereits angeboren sind - im Gegensatz zu Sprache selbst (vgl. Givón 1998: 48). 27 Diese linguistische Auffassung darf keineswegs über die Komplexität der dahinter stehenden sprachphilosophischen Frage und die damit verbundene Kontroverse hinwegtäuschen. Zu einer ausführlichen historischen und kritischen Auseinandersetzung mit den Axiomatiken der unterschiedlichen philosophischen Modellierungen zum Zusammenhang von Sprache, Denken und Welt siehe Leiss (2009). 39 Sprache trotz ihres stetigen Wandels unsere Kognition nicht nur maßgeblich, sondern optimiert auch unsere kognitiven Fähigkeiten und Leistungen. Die finiten Elemente (grammatische Kategorien) stellen die Relationen zwischen den Einheiten im Satz dar und sind indexikalische Zeichen (vgl. Leiss 2009: 282). Die grammatikalische Semantik bezieht sich folglich auch auf die Relation zwischen Signifiant und Perzepten in der außersprachlichen Wirklichkeit und determiniert die Perspektive, in welcher der Sprecher auf die Welt blickt, wobei eine variable Optik möglich ist, wie in Kapitel 2.2 bereits angedeutet wurde. Dass eine Sprache ein relationaler Gegenstandsbereich sein muss, betont Leiss am Beispiel der Fonologie. Denn wäre sie nicht relational, könnte man nicht einmal zwischen einem Geräusch und einem sprachlichen Laut unterscheiden (Leiss 2009: 218), was nur infolge der Aufhebung partikulärer Laute, „wie sie in der realen Welt vorkommen, und ihre[r] Transformation in formale Klassen und damit Einheiten“ (Leiss 2009: 216) möglich ist. Diese Relationen spiegeln jedoch kein absolutes Determinationsverhältnis wider, denn es gibt auch Sprachwandel und entsprechende Lexikalisierungs- und Grammatikalisierungsverfahren. Die Annahme, es gebe Sprachen ohne Grammatik (entgegen Lewis 1969: Kapitel V), ist demzufolge ein Mythos, denn der Begriff Sprache impliziert die Existenz von Grammatik und die Behauptung, eine Sprache habe keine Grammatik, ist daher ein Widerspruch in sich selbst (vgl. Bauer 1998: 84). Sprache spielt auch in Bezug auf die Kognition eine wichtige Rolle, auch wenn es diesbezüglich nach wie vor unterschiedliche Auffassungen und Ansätze gibt. So ist es die Sprache, die unseren Gedanken eine propositionale Struktur gibt und es uns ermöglicht, unseren mentalen Repräsentationen einen Wahrheitswert zuzuordnen (vgl. Hinzen 2007: 5). Bei den unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der Relation zwischen Sprache und Kognition scheint sich gerade auf dieser Ebene die Besonderheit des menschlichen Kommunikationssystems abzuzeichnen. Es scheint diese Dualität der menschlichen Sprache zwischen Kommunikation und Denken zu sein und die Tatsache, dass Sprache die menschliche Kognition optimiert (vgl. Hinzen 2006: 276), welche das dem Menschen eigene Kommunikationsmittel von dem der anderen Lebewesen unterscheidet. Dies gilt unabhängig von dem Status der Sprache im Kognitionssystem. 28 28 In der kognitiv orientierten Linguistik lassen sich zwei gegensätzliche Denkrichtungen unterscheiden. Zum einen gibt es den modularen Ansatz, der eng an die generative Grammatik geknüpft ist, und der Sprache als ein eigenständiges Modul auf der Interebene der Kognition von anderen Kenntnissystemen abgrenzt. Da das sprachliche System als ein funktionales System betrachtet wird, das nicht nur aus dem Kenntnissystem besteht, sondern auch aus dazugehörigen Realisierungsmechanismen, wird zwischen der I-Sprache als den im Kognitionssystem verankerten Sprachstrukturen und der E-Sprache als direkt beobachtbare, externe Sprache unterschieden (vgl. Schwarz 1996: 47-52). Dem steht der holistische Ansatz gegenüber, der Sprache nicht als ein autonomes Subsystem, sondern als ein Epiphänomen der menschlichen kognitiven Fähigkeiten betrachtet, daher auch kognitivistischer Ansatz genannt. Neben diese 40 [...] there is widespread agreement among both cognitive and functional linguists that language is not an autonomous „mental organ,“ [sic! ] but rather that it is a complex mosaic of cognitive and social communicative activities closely integrated with the rest of human psychology. (Tomasello 1998: IX) Die Fähigkeit zur grammatischen Enkodierung von Sprache entspricht wohl der letzten Evolutionsstufe der menschlichen Kommunikation. Darauf deuten der Erstspracherwerb und die Genese von Kreolsprachen hin. Ein weiteres Indiz hierfür liefern Experimente, die zeigten, dass man Tieren zwar bis zu einem gewissen Grad ein abstraktes Zeichensystem mit Referenzen lehren kann, jeglicher Versuch, Tieren eine grammatikähnliche morphosyntaktische Struktur beizubringen, jedoch scheitert; und das trotz deutlicher Parallelen des semantischen und episodischen Gedächtnisses bei Menschenaffen und bei Menschen (vgl. Givón 1998: 48). Ein weiteres Rätsel neben all den Fragen, welche die Beziehung Sprache - Kognition aufwirft, bleiben der Ursprung 29 und die Entwicklung des komplexen menschlichen verbalen Kommunikationssystems (vgl. Johansson 2005). Fest steht lediglich, dass ihre Erforschung zweifelsohne eine interdisziplinäre Kooperation erfordert, vor allem zwischen Linguisten und Biologen. We argue that an understanding of the faculty of language requires substantial interdisciplinary cooperation. (Hauser/ Chomsky/ Fitch 2002: 1569) The ideal scholar in this field should combine a professional training in linguistics, paleoanthropology, evolutionary biology, neurology, psychology and primatology, at very least. (Bickerton 2001: 581) beide kognitive Ansätze zum Spracherwerb tritt in jüngerer Zeit auch noch der interaktionistische Ansatz gegenüber, demzufolge sich Spracherwerb, Verlauf und Ergebnisse aus dem Bestreben nach Austausch entwickeln, mit dem der Mensch seit seiner Geburt ausgestattet ist (vgl. Klann-Delius 2008: 136). 29 Die kontroverse Diskussion über den Ursprung von Sprache wurde durch den verpönten Charakter, den Studien zu diesem Thema weit über ein Jahrhundert lang hatten, unterbrochen, nachdem angesichts wilder und ausufernder Theorien die renommierte und einflussreiche Pariser Société de Linguistique 1866 in ihrer Satzung Abhandlungen zum Ursprung von Sprache untersagte. Die Wirkung dieses Verbots blieb mehr als 100 Jahre spürbar und erst 1990, als Steven Pinker und Paul Bloom den einflussreichen Aufsatz „Natural language and natural selection“ in der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift Behavioral and Brain Sciences veröffentlichten (Pinker/ Bloom 1990), in dem sie zeigten, dass Sprachevolution nach normalen Evolutionsmechanismen verlief und betonten, dass „there is a wealth of respectable new scientific information relevant to the evolution of language that has never been properly synthesized“ (Pinker/ Bloom 1990: 727), erhielten die Fragestellungen bezüglich des Ursprungs von Sprache wieder Ansehen (vgl. Aitchison 2005: viii; Johansson 2005: 2-3). 41 3.3 Sprache als zeichenbasiertes Kommunikationsmittel mit verschobener Referenz Syntax allein reicht wohl nicht aus, um das Besondere der menschlichen Sprache im Gegensatz zu Kommunikationssystemen von Tieren hervorzuheben, obwohl jene keineswegs mit der Komplexität der morphosyntaktischen Strukturen der menschlichen Sprache verglichen werden können. Denn vergleichbare Untereinheiten, die zu neuen Bedeutungseinheiten kombiniert werden können, findet man auch in der Tierwelt, zum Beispiel im Gesang mancher Singvögel (vgl. Johansson 2005: 7). Zur Illustration denke man an die kommunikativen Fähigkeiten von Patienten, die an Agrammatismus leiden, beispielsweise bei schweren Fällen von Broca- Aphasie (vide: Hartje/ Poeck 2002: 125-126; Tesak 2006: 14-15; 61), oder Kleinkinder in der Einwortphase (= Semantik ohne Syntax) (vgl. Johansson 2005: 230). Andererseits darf man bei natürlichen Sprachen auch nicht die teils extrem vereinfachten grammatischen Strukturen von Pidginsprachen vergessen. Diese sind vollständig funktionsfähige Sprachen, obwohl sie nicht die volle syntaktische Komplexität besitzen, die oftmals von Verteidigern der Syntax als einzigartige Eigenschaft der menschlichen Sprache aufgeführt wird, sondern eher einem Mittelstadium in Bezug auf die Komplexität ihrer Syntax entsprechen (vgl. Bickerton 1995). Pidginsprachen verfügen häufig weder über hierarchische Strukturen (Subordinationen oder andere Formen der syntaktischen Einbettung) noch über Rekursivität, sondern entsprechen einer stark ikonischen Aneinanderreihung von Wörtern. Sie verfügen als tertium comparationis über mehr Wörter und über längere und semantisch komplexere Sätze (Johansson 2005: 239). Daneben belegten die Studien der Biopsychologin Sue Savage-Rumbaugh am Yerkes Regional Primate Research Center in Atlanta mit Bonobo Zwergschimpansen, dass diese Primaten durchaus in der Lage sind, Wörter bezüglich ihres semantischen Inhalts zu erkennen, und es gibt starke Indizien, die darauf hindeuten, dass diese Affenart auch einfache kommunikative Sinnsequenzen (ohne hierarchische Strukturen und Rekursivität) beherrscht (vgl. Johansson 2005: 236; Schnabel/ Sentker 2004: 29-30). 30 Ein wesentlicher Unterschied scheint hingegen darin zu bestehen, dass Menschenaffen keinen gemeinsamen Aufmerksamkeitsrahmen (communicative common ground) mit ihren 30 Das Sprachvermögen, welches der Bonobo Kanzi im Gegensatz zu seiner Mutter spielerisch erlernte, während er scheinbar ohne jegliches Interesse für die sprachlichen Übungen der Mutter herumtollte, überzeugte Savage-Rumbaugh, dass sein Sprachverständnis ungefähr dem eines Kindes in der Zweiwortphase (ca. zweite Hälfte des zweiten Lebensjahres, also ca. 1,6-2 Jahre) entspricht (Dietrich 2002: 85). In dieser Phase beschränken sich die syntaktischen Ausdrucksmittel des Kindes auf die Wahl der Wortarten der beteiligten Wörter und deren Stellung in der Äußerung (Dietrich 2002: 86). Kanzis Sprachverständnis ließ ebenfalls eine rudimentäre syntaktische Grundlage erkennen (vide: Savage-Rumbaugh/ McDonald/ Sevcik/ Hopkins 1986: 211-235; Schnabel/ Sentker 2004: 29-30; 34-38). 42 Kommunikationspartnern erzeugen. Aus diesem Grund verstehen sie zwar auch Zeigegesten, zeigen aber im Gegensatz zu Menschenkindern keine Empathie mit der Origo und kein Interesse am Dritten. Besonderheiten der menschlichen Sprache scheinen hingegen die duale Gliederung und die dadurch entstehenden „unendlichen“ Möglichkeiten, Kombinationen auf fonologischer sowie auf syntaktischer Ebene und im Zusammenspiel zu erzeugen, zu sein (vgl. Martinet 1957). Ebenso die „displaced reference“ 31 (Morford/ Goldin-Meadow 1997: 420), das meint die Fähigkeit, über abwesende Dinge zu kommunizieren oder, was uns hier viel mehr interessiert, über nicht existierende Dinge (Beispiel: Einhorn). So können Meerkatzen zwar unterschiedliche Warnlaute je nach Art der Bedrohung (zum Beispiel Adler, Schlange oder Leopard) erzeugen, aber sie können diese Laute nur in tatsächlicher Anwesenheit der jeweiligen Bedrohung verwenden und nicht dazu einsetzen, um sich zum Beispiel über abwesende Leoparden zu ‘verständigen’ (Johansson 2005: 8). Es scheint, als könne nur der Mensch Kommunikation ohne eine unmittelbare, direkte, reale Referenz vollziehen. Diese Einsicht ist auch für die ludisch-unterhaltende Verwendung von Sprache (zum Beispiel in Gedichten, Romanen, Theaterstücken u.a.) von Bedeutung, denn hier werden Situationen sprachlich konstituiert, die der Mensch durch seine Welterfahrung und sein Weltwissen gestaltet. Mit anderen Worten: Der Mensch ist in der Lage, mentale Repräsentationen von Dingen zu kreieren, die er weder erlebt noch irgendwie sensorisch wahrgenommen hat beziehungsweise haben muss. Er erschafft in diesem Fall metaphorisch oder metonymisch, das heißt basierend auf Ähnlichkeits- und Kontiguitätsrelationen zu seiner ‘realen Welt’, die fiktionale Welt und gestaltet diese gemäß der ihm vertrauten Regularitäten und Grundannahmen. Grundlegend ist die Hypothese, dass Kommunikation immer mit einer Absicht erfolgt, da ein wesentlicher Teil des rezeptiven Parts der Kommunikation darin besteht, die Absicht zu deuten, welche der sprachlichen Handlung zugrunde liegt. Aus einer pragmatisch-funktionalen Sicht kann sprachliche Interaktion nur deshalb zustande kommen und der Mensch kann die persuasive Funktion der Sprache nur einsetzen, weil er über die Fähigkeit zu einem Fremdbewusstseinsabgleich (Theory of Mind, ToM) 32 verfügt. Denn die Intentionalität im Griceschen Sinn (Grice 1957) impliziert, dass sowohl Hörer als auch Sprecher sich reziprok als Wesen wahrnehmen, die mit einer Absicht kommunizieren und die in der Lage sind, zu verstehen (vgl. Gärdenfors 1995: 4). Ohne einen Fremdbewusstseinsabgleich verstünde 31 Die Einsicht, dass Sprache es den Menschen ermöglicht, Dinge und Erfahrungen weiterzuverfolgen, die nicht unmittelbar präsent sind, geht bereits auf von Aquin zurück (vgl. hierzu Liber I; Cap. I, Lectio II; Paragraphus 2 in: Thomas von Aquin 1955: 10). 32 Zu einer Erklärung und Definition von Theory of Mind vide Leiss 2012: 40-42. Fremdbewusstseinsabgleich ist die von Abraham eingeführte deutsche Übersetzung von Theory of Mind (vgl. Abraham 2011 und 2012). 43 man sprachliche Intentionen nicht, man denke an gewisse Ausprägungen von Autismus, wo betroffene Patienten zwar sprechen können, jedoch nicht über eine vollständige ToM verfügen (vgl. Johansson 2005: 149). Für diese Arbeit ist es daher relevant, festzuhalten, dass natürliche Sprachen eine verschobene Referenz haben können und dass es keine direkte Verbindung zwischen der realen Außenwelt und unserer sprachlichen Erfassung gibt, da alles durch unsere kognitiven Verarbeitungsprozesse gefiltert und durch die Art und Weise, wie wir eine Situation konzeptualisieren, gefärbt wird. Das heißt, sprachliche Darstellungen sind keine objektiven Abbildungen der außersprachlichen Welt (vgl. Johansson 2005: 9). An der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens besteht spätestens seit Saussures Zeichenmodell (1995 [1916]) kein Zweifel, obwohl sich dieses im Wesentlichen auf die lexikalische Semantik beschränkt. Darum herrscht seit den Anfängen des Funktionalismus mit Roman Jakobson eine Tendenz zur Entarbitrarisierung der Beziehungen zwischen Sprache und Welt (vgl. Leiss 2009: 250ff.). Diese Entarbitrarisierung beruht auf dem Axiom der Linguistik, dass es keine besseren oder schlechteren Sprachen gibt (vgl. Harlow 1998: 14). Bestimmte Sprachen wurden in der Vergangenheit meistens deshalb als minderwertig und primitiv eingestuft, weil man Strukturen und Relationen nicht erkannte, da Forscher bei der Analyse zunächst immer dazu tendierten, von ihrer eigenen Sprache auszugehen - daher auch die eurozentrische Vision, die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte (vgl. Leiss 2009: 227). Wenn alle Sprachen gleichermaßen funktional sind und es keine (grammatikalische) Semantik grammatischer Funktionen gibt, die in einer anderen Sprache nicht ausgedrückt werden können, 33 so belegt dies auch, dass der Sprache gewissermaßen objektive Relationen zugrunde liegen müssen, die in der ‘Wirklichkeit’ existieren. It is true, of course, that Aristotle’s doctrine of the arbitrariness of the linguistic sign, i.e. the arbitrariness of cross-language differences, referred only to the phonological coding of concepts (words). But the structuralist linguists of early 20th Century, from de Saussure to Bloomfield and ultimatively to Chomsky, unreflectively extended the arbitrariness doctrine to grammar. (Givón 1998: 42) Dass eine Erweiterung und Ausdehnung der Arbitrarität ein Irrtum war, bezeugt die Tatsache, dass die Kodierung von grammatischen Funktionen in verschiedenen Sprachen zwar unterschiedlich erfolgen kann, also mittels eines funktionalen Korrelats (tertium comparationis) ausgedrückt wird, dennoch nicht auf beliebige Art und Weise erfolgen kann. Es gibt gewisse Implikationsrelationen und zum Beispiel die jeweiligen grammatischen Kategorien werden nach einer ganz spezifischen Entwicklungslogik aus- 33 Man denke in diesem Zusammenhang zum Beispiel an die grammatische Kategorie der Modalpartikeln, die im Deutschen ein eigenes Paradigma bildet und in den romanischen Sprachen eher auf einzelne Lexien begrenzt ist (vide: Meisnitzer 2012). Dennoch kann deren Funktion durch Markierung auf prosodisch-intonatorischer Ebene oder durch andere Kategorien ausgedrückt werden (vide: Waltereit 2006). 44 differenziert (vgl. Leiss 2009: 230-231). Hinzu kommt die Evidenz, dass es gewisse Entwicklungslogiken und Gesetzmäßigkeiten gibt, die den Sprachen zugrunde liegen, und keineswegs alle denkbaren Kombinationsmuster willkürlich ausgeschöpft werden. Die Arbitrarität wird in der sprachlichen Dimension primär als Charakteristikum der lexikalischen Semantik betrachtet, auch wenn es selbst hier bestimmte Regularitäten gibt, wie zum Beispiel die Studien von Berlin/ Kay zu den Grundfarbwörter trotz aller daran geübten Kritik eindrucksvoll belegen (vgl. Berlin/ Kay 1969). Eine Besonderheit des sprachlichen Zeichens besteht darin, dass im Fall der menschlichen Sprache die Kapazität gegeben ist, sich als Zeichensystem selbst zum Gegenstand zu machen (metasprachliche Funktion). Kein anderes Zeichensystem ist dazu in der Lage. 3.4 Sprache im Spannungsfeld von abstraktem System und individuellem Sprechakt Um Sprache zu betrachten, muss notwendigerweise mit Saussure (1916) zwischen langue, dem virtuellen und abstrakten System von Zeichen und Regeln, und parole, der konkreten Sprech- und Schreibtätigkeit, welche den individuellen Äußerungsakten entspricht und die zufällig, willentlich und real wahrnehmbar ist, unterschieden werden. Das Sprachsystem stellt die Ressourcen zur Verfügung, die jeder individuellen sprachlichen Äußerung zugrunde liegen. Die langue als System kann den Strukturalisten zufolge nur mittels einer Analyse der parole erschlossen und rekonstruiert werden (Coseriu 1970: 196), weswegen viele auch die parole als den primären Aspekt von Sprache sehen (vgl. Weigand 2002: 229). Ein Blick auf die Formel der parole [...] zeigt unmißverständlich, daß sich die langue nicht durch ihren sozialen Charakter von der parole unterscheidet […], sondern durch die Tatsache, daß in der langue nur das bewahrt wird, was in den Akten der parole gemeinsam und konstant ist, d.h. durch die Tatsache, daß bei der Konstituierung des Begriffes langue dieselben Akte auf einer höheren Ebene der Formalisierung oder Abstraktion betrachtet werden. (Coseriu 1970: 196, Hervorhebungen im Original) Bei aller Kritik an dem Saussureschen Begriffspaar wird seine Bedeutung spätestens dann deutlich, wenn man bedenkt, dass selbst Chomskys Begriffspaar Kompetenz - Performanz ein Reflex dieser Aufteilung ist, auch wenn bei dem Begriff Kompetenz der individuelle, sprecherbezogene Charakter stärker betont wird als bei dem überindividuellen Charakter von langue (Johansson 2005: 5) 34 als etwas, was allen Sprechern einer Sprachge- 34 Der von Johansson gewählte Begriff social character in Bezug auf langue erweist sich als problematisch (vgl. hierzu: Coseriu 1970: 196), da das System (langue) nur die funktionellen Oppositionen umfasst, also was in einer Einzelsprache distinktiv ist (vgl. Coseriu 1992: 298). 45 meinschaft gemeinsam ist. Neben diesen beiden Ebenen erweist sich die Unterscheidung einer weiteren Ebene als vorteilhaft: die Norm im Coseriuschen Sinn, welche der formalisierten Gesamtheit an üblichen, traditionellen Realisierungen des Systems entspricht, die allgemein und beständig ist und die den Sprachgebrauch determiniert, jedoch nicht als notwendig im System verankert ist. [...] nicht alles, was normal („sozial, konstant) ist, [ist] notwendigerweise, und auf derselben Ebene, funktionell [...]. (Coseriu 1970: 200, Hervorhebungen im Original) So können auch einem einzigen System diverse Normen entsprechen (vgl. Coseriu 1970: 208), was die Grundbedingung für diasystematische Variationen und Varietäten einer historischen Einzelsprache ist. Diese Einsicht impliziert auch die Begründung, weswegen man Begriffe wie „Literatursprache“ besser vermeidet, 35 da es sich lediglich um eine Verwendung von Sprache gemäß den Regeln bestimmter Diskurstraditionen handelt und keineswegs um eine eigene Sprache, wie der Terminus vermuten lässt. In unserem Diskussionskontext ist es also wichtig, Diskurstraditionen nicht einfach mit literarischen Gattungen oder Stilrichtungen zu identifizieren, denn die vorgeschlagene Bestimmung muss natürlich für alle Sprachhandlungen Gültigkeit besitzen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang […], dass Diskurstraditionen keineswegs in den Regeln einer Einzelsprache enthalten sind, dass sie aber teilweise den Einsatz bestimmter Sprachvarietäten und Verbalisierungsmuster selegieren […]. Der Terminus Diskurstradition ist Ausdrücken wie Textsorte, Texttyp usw. schon deshalb vorzuziehen, weil er die Konventionalität, mithin die notwendige Historizität der genannten Muster und Schemata, schon in der Bezeichnung zum Ausdruck bringt. (Oesterreicher 1997: 20-21) So sind die Regeln für gewisse Phänomene, die typisch für fiktionale narrative Texte sind, wie zum Beispiel die Verwendung von Vergangenheitstempora als Erzähltempus, keine systematische Notwendigkeit, wie gezeigt werden wird. Vielmehr handelt es sich dabei um eine gesellschaftliche Konventionalisierung auf der Ebene der Norm, die durch interkulturelle Kontakte und das Phänomen der Intertextualität weit verbreitet und zur unmarkierten Form und folglich Grundform des fiktionalen Erzählens in der abendländischen Kultur wurde. Ein Vergangenheitstempus als unmarkierte Form, anders als in der gesprochenen Sprache, wo diese Rolle dem Präsens zukommt, lässt sich durch unsere kulturanthropologische Auffassung von ‘Fiktion’ erklären, die sich ebenfalls im Laufe der Jahrhunderte entwickelte und ausdifferenzierte. Folglich ist eine Veränderung des Erzählgrundmodus möglich, auch wenn ihr ein schleichender, langwieriger Prozess zugrunde 35 Vgl. hierzu auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der sogenannten Mediensprache in Meisnitzer (2010: 166-167) und die Begründung für die Ablehnung des Begriffs língua literária in Aguiar e Silva (2002: 196-202). 46 liegen muss, da die Sprecher aufgrund gesellschaftlicher Normen ein anderes Erzählmuster erwarten. Aus operativen Gründen wird Sprache im korpusbasierten, deskriptiven Teil dieser Untersuchung als isolierbares und in sich strukturiertes Objekt betrachtet, ohne in vollem Umfang die komplexen kognitiven und neuronalen Implikationen beim Sprecher und beim Hörer weiter zu berücksichtigen. Denn bei einer Beschreibung des narrativen Präsens bildet lediglich geschriebene Sprache den Forschungsgegenstand und eine im Wesentlichen strukturalistische Beschreibung unter Berücksichtigung einiger selektierter kognitiver Aspekte reicht für das Vorhaben vollkommen aus. Dies soll jedoch keineswegs über die Komplexität der Verbindung von Sprache und Psyche/ Kognition und über die Komplexität des Sprechens sowohl auf Seiten des Produzenten als auch des Rezipienten hinwegtäuschen (vgl. Johansson 2005: 5-6). 3.5 Zusammenfassung: Lexik und Grammatik in der menschlichen Sprache und die Repräsentation der Welt Als Basis für unser Vorhaben, einen funktionalen Erklärungsansatz für das narrative Präsens zu erarbeiten, wird Sprache als ein semiotisches System aufgefasst, das der Kommunikation und sozialen Interaktion dient, gleichzeitig aber auch unsere Welt in Form von symbolischen Zeichen erfasst und es uns so ermöglicht, uns über die Welt zu verständigen. Gleichzeitig determiniert Sprache, wie wir die Welt wahrnehmen, weswegen Sprache als ein Perspektivierungsinstrument betrachtet werden kann. So ist die lexikalische Semantik 36 für die Kategorisierung der wahrgenommenen Welt zuständig und gleichzeitig für ihre ‘Verendlichung’ (Leiss 2009: 281). Es ist auch die Sprache, welche die Homologie zwischen Welt und menschlicher Kognition herstellt (vgl. Leiss 2009: 278). Gleichzeitig optimiert Sprache die menschliche Kognition und verleiht ihr die einmalige Fähigkeit, mentalen Repräsentationen einen Wahrheitswert zuzuordnen. Denn unabhängig davon, welches semantische Modell man ansetzt, bestehen die Einträge aus einem finiten Bündel an semantischen Merkmalen, die im semantischen Gedächtnis abgespeichert sind, ohne eine Lokalisierung in Raum und Zeit aufzuweisen. Die individuellen Merkmale und die Lokalisierung in Raum und Zeit erfolgen im episodischen Gedächtnis, eine artspezifische kognitive Fähigkeit, die conditio sine qua non für Fiktionalität und Erinnerung oder Projektionen in die Zukunft ist. Innerhalb der Sprache weist das Lexikon 36 Die lexikalische Semantik ist grundsätzlich von der Grammatik zu unterscheiden, folglich sind Auffassungen von Grammatik als etwas, das im mentalen Lexikon abgespeichert ist, und Modellierungen, die Lexikon, Morphologie und Syntax auf ein Kontinuum symbolischer Anordnung reduzieren, zurückzuweisen (vgl. Langacker 1998: 35). 47 einen besonders ausgeprägten arbiträren Charakter auf, der insbesondere innerhalb der historischen Sprachen und ihrer diachronen Entwicklung deutlich wird. 37 Eine Besonderheit der natürlichen Sprachen ist die doppelte Gliederung: Essentiell sind die daraus resultierenden Kombinationsmöglichkeiten sowie die Möglichkeit der verschobenen Referenz, die den Menschen dazu befähigt, seine sprachlichen Zeichen mit Referenz auf vergangene und auf zukünftige, auf reale und auf imaginierte Kontexte einzusetzen. Sprachliche Zeichen ‘zeigen’ (Referenzialität) somit, können aber dennoch zu einem eigenen semiotischen System analog zu dem der außersprachlichen ‘wirklichen Welt’, so wie der Mensch diese erfährt, konstituiert werden und sogenannte fiktionale Welten entwerfen. Diese weisen zwar in ihren Relationen (kausal, temporal u.a.) Ähnlichkeiten, jedoch keine notwendige Referenz zur außersprachlichen Welt auf. 38 Die Grammatik ist eine Perspektivierungskategorie und so stellt uns die „grammatische Semantik eigene Kategorien und damit unterschiedliche Perspektivierungsleistungen zur Verfügung“ (Leiss 2009: 282). Die Arbitrarität der Relationen, die der Sprache zugrunde liegen und die durch grammatische Kategorien kodiert werden, muss hingegen relativiert werden, da sie in jeder Sprache ausgedrückt werden können und die versprachlichte grammatische Funktion durch funktionale Äquivalente explizit oder kovert realisiert werden kann. Eine gewisse Arbitrarität ist lediglich bei den selegierten Lexien gegeben, die sich im Rahmen eines Grammatikalisierungsrennens durchsetzen und in einzelnen Sprachen bestimmte grammatische Funktionen übernehmen, und bis zu einem gewissen Grad bei den selegierten Strategien, um grammatische Funktionen zu enkodieren (siehe die Studie von Waltereit 2006 zu Abtönungsverfahren). Die Entwicklung der grammatischen Kategorien hingegen folgt bestimmten übereinzelsprachlichen Entwicklungslogiken, man denke zum Beispiel an die Reanalyselogik 37 Ein Beispiel dafür ist die morphologische Motiviertheit von Wörtern, deren Gesamtbedeutung sich aus der Bedeutung ihrer Bestandteile ergibt (Komposita wie zum Beispiel Waschmaschine), die sich bei einer kontrastiven Analyse nur relativ als ikonisch erweisen. So bildet im Deutschen das Zweitglied den semantischen und morphosyntaktischen Kopf des Kompositums (Determinatum), während das erste Glied zur näheren Bestimmung dient (Determinans); deswegen spricht man von einer Prädetermination. In den romanischen Sprachen ist das Verhältnis umgekehrt: frz. machine à laver oder port. máquina de lavar (Postdetermination). Dasselbe gilt für die phonologische Motiviertheit von Onomatopoetika, wie zum Beispiel dt. kikeriki, engl. cock-a-doodle-doo, frz. cocorico. Die phonologischen Konventionen zur Darstellung von Lauten hingegen variieren einzelsprachlich und motivieren unterschiedliche graphische Repräsentationen. 38 Selbst Abweichungen von diesen Grundrelationen innerhalb der Fiktion sind nur unter Bezugnahme auf die uns bekannte relationale Organisation der außersprachlichen ‘wirklichen’ Welt möglich. 48 innerhalb des ATM-Komplexes (vgl. Leiss 2009: 234) oder an die Entstehung von Modalpartikeln (vgl. Waltereit/ Detges 2007). 39 Angesichts der bisher gewonnenen Einsichten wie der Tatsache, dass Sprache eine verschobene Referenz ermöglicht und dass sich ein Sprecher mittels Sprache sowohl räumlich als auch zeitlich von dem natürlichen Sprecherstandpunkt distanzieren und andere Perspektiven einnehmen kann, um Ereignisse zu betrachten, kann nun eine Definition von Tempus und Aspekt erstellt werden, die operativ anwendbar ist, um die polysemen Verwendungen des Präsens zu erklären und das Präsens als Erzähltempus zu beschreiben. Die bisher beschriebenen Aspekte widerlegen schon einmal Fleischmans (1991b) Annahme, dass morphologische temporale Markierungen von Verben aus sprachökonomischen Gründen wegfallen könnten, da sie gewissermaßen redundant seien und zeitliche Lokalisierungen gleichermaßen durch Temporaladverbialien vorgenommen werden könnten. Diese Einschätzung beruht auf der falschen Ansicht, dass Tempus und Temporaladverbiale funktionale Äquivalente seien (siehe Kapitel 4.5), und auf einer unzulänglichen, rein zeitlogischen Auffassung von Tempus, die die durch Tempusmarkierungen bedingten perspektivischen Veränderungen nicht berücksichtigt. So ist die Perspektivik bei einer Äußerung wie „Gestern ging ich über die Straße (...)“ eine andere als in „Gestern gehe ich über die Straße (...)“, wie im folgenden Kapitel noch genauer gezeigt wird. 39 Dem steht die Ansicht von Hopper (1998: 156) gegenüber, der Grammatik als ein Beiprodukt von Verständnis und Kommunikation betrachtet, gewissermaßen als ein Epiphänomen von Kommunikation. Für Hopper ist Grammatik nichts weiter als die Benennung diverser diskursiver Verfahren, die wiederholt auftreten. 4. Das Präsens im Spannungsfeld von Aspektualität und Temporalität Das Präsens als Leittempus 40 der Erzählung wird in der Forschung sehr kontrovers diskutiert, da es nicht gut mit einer einfachen, rein zeitlogischen Erklärung vereinbar ist. Die Geschichte, die einer Erzählung zugrunde liegt, wird in unseren Kulturkreisen als etwas Abgeschlossenes betrachtet und somit in der Vorzeitigkeit situiert (vgl. Fleischman 1991b: 83). Dies erklärt auch die ablehnende Haltung gegenüber dem Präsens als Erzähltempus von Seiten der Literaturkritik, aber auch der Tempusforschung. Eine plausible Erklärung für das Präsens als dominantes Tempus der Erzählsubstanz 41 steht bislang aus. Außerdem ist die Verwendung des Präsens, um eindeutig vergangene Ereignisse in einem durch Vergangenheitstempora gebildeten Kontext auszudrücken oder in einem durch Temporaladverbialien definierten vergangenen Zeitintervall zu situieren, zwar präzise beschrieben, jedoch nicht ausreichend gegenüber einem Präsens als durchgängiges Erzähltempus im Roman abgegrenzt. In den romanischen Sprachen ist die scheinbar exotische und willkürliche Setzung des Präsens in mittelalterlichen Texten noch nicht erklärt und bereitet den Forschern immer noch Kopfzerbrechen (vgl. Blumenthal 1986: 41; Hatcher 1942; Schweizer 1974: 3- 22; Wolf 1981: 184-185 u.a.). All diese Phänomene werden in der durchaus umfangreichen Forschungsliteratur in der Regel unter dem Begriff historisches Präsens subsumiert, der dadurch ein Sammelbegriff für sprachlich sehr heterogene Phänomene geworden ist. Der einzige eindeutige gemeinsame Nenner ist die sprachliche Enkodierung des Verbalvorgangs durch die morphologische Form des Präsens und dessen zeitreferentielle Verortung als 40 Der Terminus geht auf Weinrich (2001 [1964]: 29) zurück und dient zur Bezeichnung des Tempus, das die höchste Frequenz in der Erzählung aufweist. 41 Der Begriff Erzählsubstanz geht auf Schaffer (1972) zurück und meint die nicht-dialogischen Passagen in einem Werk. Schaffer definiert die zur Tempuserklärung notwendige Opposition von Erzählsubstanz versus Dialogsubstanz (vgl. Schaffer 1972: 118). Die Unterscheidung ist, wie Schaffer zeigt, fundamental, da das referenzielle System für dialogische Passagen, die deiktisch in der unmittelbaren figuralen Kommunikationssituation auf der Ebene der Erzählung verankert sind, ein anderes ist als für die nicht-dialogischen Passagen, deren deiktischer referenzieller Bezugspunkt die (fiktionale) kanonische Kommunikationssituation ist. Für eine Erklärung des narrativen Präsens interessieren daher primär nicht-dialogische Passagen, da in Dialogen durchaus das Präsens zu erwarten ist, weil die Aussage durch den Kontext des (fiktionalen) Dialogs in ihrer Gültigkeit begrenzt wird und durch die direkte Rede eine Innenperspektive angenommen wird - so, als würde der Betrachter die Dialoge hautnah miterleben. 50 vorzeitig gegenüber der Referenzzeit 42 und einer näher zu definierenden Sprechzeit 43 . Im Folgenden soll daher zunächst einmal der Begriff Tempus als deiktische und perspektivische grammatische Kategorie geklärt werden. Zwei weitere Schritte führen dann zu einer Abgrenzung des Tempus-Begriffs gegenüber der grammatischen Kategorie Aspekt und zu einer Abgrenzung von Tempusmorphemen gegenüber Temporaladverbien, auf Basis funktionaler Kriterien. Aus diesen Ergebnissen soll sich zunächst eine Definition von Tempus herausbilden, die der Polysemie der Tempora gerecht wird. Danach wird eine Grundbedeutung der grammatischen Kategorie Präsens herausgearbeitet und auf dieser Basis findet eine kritische Diskussion der wichtigsten Erklärungsansätze in der Forschungsliteratur statt. 4.1 Der ATM-Bereich und die Möglichkeiten des Perspektivenwechsels Tempus stellt keine isolierte grammatische Kategorie dar, sondern eine dynamische Kategorie mit einer Mittelstellung zwischen Aspekt und Modus. Dynamisch deshalb, weil durch Reanalyse in sprachhistorischer Hinsicht Sprachwandelprozesse in der unumkehrbaren Entwicklungsrich- 42 In Anlehnung an Zeman (2011) erweist es sich als sinnvoll, den von Reichenbach (1947) geprägten Begriff Referenzzeit, den dieser für das Plusquamperfekt heranzieht (vgl. Reichenbach 1960 [1947]: 290), in einem erweiterten Sinn zu verwenden. Dies ist besonders plausibel angesichts unterschiedlicher Konzeptualisierungen von ‘Referenzzeit’ in der Forschung (vide: Zeman 2010: 46-47) und der gemeinsamen Aufgabe der unterschiedlichen Konzeptualisierungen, die Perspektivensetzung zu verankern, die variable Perspektivierungen durch den Sprecher durch Verlagerung der Referenz ermöglicht (vgl. Marshall 1997: 17). Reichenbach (1960 [1947]) selbst deckt bereits mit dem Begriff unterschiedliche Bedeutungskonzepte ab. So bezeichnet Reichenbach mit dem Begriff reference point sowohl „eine Zeitspanne, die durch Temporalangaben oder den Kontext ‘verankert’ ist, als auch einen ‘temporalen Perspektivenpunkt’, von dem aus die Ereignisse betrachtet werden“ (Zeman 2011: 46). Im Folgenden wird daher Referenzzeit sowohl für durch den Kontext gegebene Referenzzeiten im Sinn einer „temporal location time“ (TLt) nach Rohrer (1986: 85) als auch für eine Referenzzeit als Ausgangspunkt der Betrachtung im Sinn des „temporal perspective point“ nach Rohrer (1986: 84-85) verwendet. Der Grund hierfür: Der Perspektivenpunkt ist für alle Tempora anzusetzen, da die Möglichkeit zur Deixis immer einen identifizierbaren Standort voraussetzt, wie Leiss (1992: 244) festhält, und die Perspektivensetzung durch einen Referenzpunkt folglich für alle Tempora grundlegend ist. Leiss behält den Begriff für komplexe Tempora vor (vgl. Leiss 1992: 230). Referenzzeit und Sprechzeit können demzufolge zusammenfallen oder nicht (vgl. Marshall 1997: 17). Bei jedem Tempusgebrauch verortet die Referenzzeit den Betrachter. 43 Die Begriffe Ereigniszeit und Sprechzeit werden im Sinn von Reichenbach (1960 [1947]) gebraucht, da dies wohl der bekannteste Tempusbeschreibungsansatz ist und die meisten Tempustheorien der Gegenwart auf das Beschreibungsinventar von Reichenbach zurückgreifen (vgl. Fabricius-Hansen 1991: 732-734), teils mit Modifikationen (vgl. Klein 1994 u.a.). 51 tung A SPEKT > T EMPUS > M ODUS möglich sind. Tempus weist folglich innerhalb des ATM-Komplexes 44 gegenseitige Abhängigkeiten auf (vgl. Zeman 2010: 57-63). Das gemeinsame Merkmal der drei grammatischen Kategorien, die den ATM-Komplex bilden, ist das grammatische Merkmal [+ DISTANZ ], welches Grundvoraussetzung für die grammatische Deixis 45 ist. Diese Distanzierung ist durch die Spaltung der Origo 46 des Sprechers in Sprecher-Origo und Betrachter-Origo möglich, eine Fähigkeit, die artspezifisch für den Menschen und conditio sine qua non für seine höheren kognitiven Fähigkeiten ist. These grammatical categories [‘aspect, tense, mood and modality’] are special insofar as they involve double displacement and split-up of the speaker into a twofold origo with different locations and functions. (Leiss 2012: 39) Der Mensch teilt mit anderen höheren Säugetieren die natürlichen Präsuppositionen, die der sogenannten natürlichen Sprecherlokalisation und dem Bühlerschen Konzept der kanonischen Grundperspektive ego, hic et nunc entsprechen. Diese entspricht der egozentrischen Perspektive von Kleinkindern, die Ereignisse noch nicht unabhängig von dem eigenen Standpunkt erfahren können, wie Piaget (1974) zeigt. Nach Piaget bedeutet die Zeit verstehen, sich von der Gegenwart losmachen und durch geistige Beweglichkeit das Räumliche überwinden zu können. Das Verstehen von Zeit ist Voraussetzung für die Fähigkeit des reversiblen Denkens (vgl. Piaget 1974: 365). Artspezifisch für den Menschen ist jedoch die Fähigkeit, diese Präsuppositionen zu negieren und sich aus der egozentrischen Perspektive zu lösen. Hier wird eine wichtige Funktion der Grammatik ersichtlich: die Auflösung der natürlichen Präsuppositionen. Grammatik ist folglich ein entscheidendes Instrument für die höheren kognitiven Fähigkeiten des Menschen. 44 In der Forschung ist eigentlich die Bezeichnung TMA-Komplex etabliert, hier wird jedoch in Anlehnung an Leiss (2012: 44) und Zeman (2010: 57) die Bezeichnung ATM- Komplex bevorzugt, da sie die Entwicklungslogik wiedergibt und die hierarchische Komplexitätsordnung der involvierten Kategorien widerspiegelt. 45 ‘Deixis’ kann mit Diewald (1991: 167) in Anlehnung an Bühler (1982 [1934] als ein „semiotischer Prozess“ verstanden werden, der durch die Verbindung zwischen Sprache und Sprecher hergestellt wird, indem die kodierte Identität vom ‘ego, hic et nunc’ des Sprechers ausgehend bezüglich verschiedener semantischer Domänen ‘verortet’ wird (vgl. Zeman 2010: 43; Fußnote 2). 46 Origo ist ein von Bühler (1982 [1934]) geprägter abstrakter Begriff, den er als Bündel der Merkmale [+ HIER ], [+ JETZT ], [+ ICH ] definiert. Dieses Merkmalsbündel charakterisiert die egozentrische Perspektive des Sprechers, entspringt der Selbstwahrnehmung des Egos als Zentrum der Umwelt, wie Diewald (1991: 30) festhält, und entspricht dem natürlichen deiktischen Nullpunkt. Die Origo stellt den zentralen Orientierungspunkt des sprechenden Egos dar und ist ein abstrakter Begriff, der „zwar den Nullpunkt für die deiktischen Dimensionen zur Verfügung stellt, aber doch mehr ist als die Summe dieser Nullpunkte“ (Diewald 1991: 30). 52 Der durch die grammatischen Kategorien des ATM-Komplexes ermöglichte Perspektivenwechsel erfolgt durch räumliche, temporale und persönliche Distanz und jede Kategorie markiert eine Abweichung von der als Präsupposition zu betrachtenden Voraussetzung der Origo-Achse (vgl. Leiss 1994). Die räumliche Distanzierung wird durch den perfektiven Aspekt ermöglicht, der ein ‘Nicht-Hier’ zum Ausdruck bringt und eine Außenperspektive determiniert. Temporale Distanz gegenüber der natürlichen Sprecherlokalisation im ‘Jetzt’ wird durch Nonpräsens-Tempora geschaffen. Modus und Modalisierung drücken eine persönliche Distanzierung gegenüber dem Gesagten aus. Durch Modus drückt der Sprecher die Einschätzung einer Proposition aus. Von Modalität im engeren Sinn, also beschränkt auf Modalverben und Modalpartikeln, unterscheidet sich Modus insofern, dass er eine funktionale Kategorie auf der Ebene der Proposition ist, während Modalität illokutionärer Natur ist (vgl. Leiss 2012: 48). Die Festlegung der Reihenfolge des ATM-Komplexes basiert einerseits auf der sprachhistorischen Entwicklungslogik und andererseits auf Einsichten aus dem Spracherwerb von Kindern, der ebenfalls diese Reihenfolge aufweist. Grammatische Kategorie Konzept Erwerbsalter bei Kindern (in Jahren) Aspekt (perfektiver) ‘räumliche Distanzierung’ ca. 2 - 3 Tempus (Nonpräsens) ‘zeitliche Distanzierung’ ca. 3,5 - 5 Modus ‘persönliche Distanzierung’ ca. 8 Tabelle 1 - Aspekt, Tempus und Modus im Spracherwerb von Kindern Die Reihenfolge des Erwerbs der Kategorien Aspekt, Tempus und Modus plausibilisiert zusätzlich die bereits mehrfach betonte Ableitung von Tempuskonzepten von räumlichen Konzepten durch Übertragungen aus der Domäne R AUM auf die Domäne Z EIT . Die zugrunde liegenden Metaphern bestätigen die Spracherwerbslogik (R AUM > Z EIT / T EMPUS ). Diese Entwicklungslogik lässt sich nicht nur bei der ontogenetischen und der historischen Sprachentwicklung, sondern auch bei der Genese von Kreolsprachen beobachten, da in der Entwicklung der Pidgins zu Kreolsprachen die Aspektzeichen durch Reanalyse zu Tempuszeichen umgewertet werden (vgl. Chaudenson 2003; Hazaël-Massieux 1996: 248; Stephany 1985: 230). Außerdem wird sie durch pathologischen Sprachabbau bestätigt (vgl. Seewald 1998: 133-134), bei dem Aspekt - wie gemäß der ATM-Logik zu erwarten ist - diejenige grammatische Kategorie ist, die die größte Stabilität aufweist und 53 zuletzt abgebaut wird, nach Tempus, eine Kategorie, die ihrerseits stabiler als Modus ist. Pointiert ausgedrückt sprechen [...] die Ergebnisse dafür, daß bei Agrammatismus im Bereich Grammatik tendenziell Markiertheitsabbau stattfindet. Die grammatischen Abweichungen verlaufen in der Richtung von markiert hin zu unmarkiert. Die umgekehrte Fehlerrichtung konnte [bei Aphasikern, Anm. B.M.] nicht beobachtet werden. Ebenso bestätigten die erhobenen Sprachdaten die Annahme einer Störungshierarchie, in der Aspekt über die größte Störungsresistenz verfügt, Tempus stärker gestört ist als Aspekt sowie Modus sich durch die stärkste Störungsanfälligkeit ausweist. (Seewald 1998: 135) Die ATM-Entwicklungslogik determiniert auch, weshalb Tempusformen niemals ausschließlich temporale Bedeutungen haben und die semantischen Domänen von Aspektualität, Temporalität und Modalität grundsätzlich verschränkt erscheinen (vgl. Zeman 2011: 58). Dies zeigt sich beispielsweise beim synthetischen Futur der romanischen Sprachen und der Möglichkeit seiner temporalen sowie modalen Verwendung als futur de probabilité. Deshalb darf eine Beschreibung der Kategorie Tempus niemals ungeachtet der Kategorie Modus, vor allem aber der Kategorie Aspekt erfolgen, da besonders Aspekt eine starke Verschränkung mit Tempus aufweist. Die ATM-Kategorien haben die Eigenschaft gemeinsam, die Aufmerksamkeit zu spalten und ein double displacement der Origo veranlassen zu können. Sie stellen daher komplexe kognitive Prozesse dar. Durch diese Origo-Spaltung unterscheiden sie sich von lexikalischen shifters im Sinn von Jakobson (1971c [1957]). Man kann ein Vergangenheitstempus wie pretérito perfeito in der Komplexität seiner kognitiven Verrechnung nicht mit einem Temporaladverb wie port. ontem ‘gestern’ vergleichen (vgl. Leiss 2012: 46). Temporaladverbien können zwar ein Geschehen in der Zeit lokalisieren oder eine temporale Bezeichnung hinsichtlich eines Zeitpunkts ausdrücken, sie veranlassen jedoch keine Spaltung der Origo in Betrachter und Sprecher und sind daher auch keine funktionalen Äquivalente für Tempus, wie oftmals in der Forschung angenommen wird. Besonders die Vertreter der Konstruktionsgrammatik gehen in ihren Theorien von einer funktionalen Äquivalenz von Lexikon und Grammatik aus. Für eine Beschreibung des Präsens als Erzähltempus wird neben der Kategorie Tempus vor allem Aspekt noch eine zentrale Rolle spielen, weshalb im Folgenden auf beide Kategorien noch näher eingegangen werden soll. Die Probleme einer temporalen Deutung der Präsensverwendungen als Erzähltempus in mittelalterlichen Texten legt gemäß der hier skizzierten Entwicklungslogik eine Suche nach Antworten in der Kategorie Aspekt nahe (vgl. Detges 2001 und 2006; Leiss 1992 und 2000; Penny 2009: 163ff.). 54 4.2 Das Präsens innerhalb der ATM-Kategorie und seine temporale Semantik Um die diversen Realisierungen des Präsens zu erfassen und die willkürlich anmutende Zusammenfassung unterschiedlicher Präsenstypen unter dem Sammelbegriff historisches Präsens in den herkömmlichen Grammatiken, aber auch in weiten Teilen der Forschungsliteratur systematisieren zu können, muss zuerst die grammatische Kategorie Tempus näher bestimmt werden. Dabei gilt es zunächst die für eine Beschreibung relevanten Parameter zu identifizieren, um dann in einem zweiten Schritt eine Grunddefinition von Präsens herauszuarbeiten. Angesichts des zugrunde gelegten sprachlichen Materials für die Beschreibungen im Analyseteil der Arbeit muss auch die Bedeutung des Begriffs Sprechzeit geklärt werden und inwiefern dieser auf geschriebene Texte anwendbar ist. Bei der Beschreibung des Präsens soll lediglich dessen Grundsemantik ermittelt werden, da man diese benötigt, um das Präsens in Bezug auf Verbalvorgänge, die das Merkmal [+ VERGANGEN ] aufweisen, adäquat interpretieren zu können. Eine Auffassung des Präsens als atemporalis, die dem Präsens jeglichen temporalen Wert abspricht, wirft zahlreiche Probleme auf, angefangen damit, dass ein System, das auf Markiertheit aufbaut, eine unmarkierte Form aufweisen muss, die als Bezugspunkt jedoch einen semantischen Wert haben muss. Im Rahmen dieser Arbeit kann zwar nicht detailliert auf die Forschungsdiskussion eingegangen werden, aber es sollen einige der unterschiedlichen Präsenskonzeptualisierungen skizziert werden. 4.2.1 Tempus als deiktische Kategorie Das Tempussystem entspricht einem geschlossenen Set an grammatischen Formen, das der Kategorie Tempus zugeordnet wird (vgl. Zeman 2010: 42). In den traditionellen zeitreferentiellen Beschreibungen wird dabei zwischen ‘Vergangenheit’, ‘Gegenwart’ und ‘Zukunft’ unterschieden. Diese Differenzierung erweist sich jedoch nicht immer als ausreichend zur Abgrenzung von Tempora, man denke in diesem Zusammenhang an das neuhochdeutsche Präteritum und Perfekt oder das Imperfekt und Perfekt in den romanischen Sprachen. Gemäß der traditionellen Auffassung kodiert Tempus die Lokalisierung eines Verbalereignisses in der Zeit (vgl. Comrie 1985: 9), genauer gesagt erfasst es die Relation zwischen Ereigniszeit und Sprechzeit (vgl. Welke 2005: 14). Wie Smith (2004: 599) festhält, sind alle einfachen Tempora auf die Sprechzeit gerichtet. Die Relation zur Sprecher- Origo determiniert Tempus als eine deiktische Kategorie (vgl. Lyons 1977: 636). Tempora charakterisieren sich dadurch, dass sie versuchen, die präsentische Innenperspektive außerhalb der erfahrenen Gegenwart aufzubauen und dadurch Deixis zu ermöglichen: 55 Tempora sind als Anweisungen zu verstehen, die Gegenwart an anderer Stelle (früher oder später) fiktiv aufzusuchen. (Leiss 1992: 245) Dass eine Beschreibung von Tempus als Ausdruck der Relation Ereigniszeit - Sprechzeit der Komplexität der grammatischen Kategorie nicht gerecht wird, wurde bereits in der Einleitung dieses Kapitels thematisiert. Als dritter Bezugspunkt ist eine Referenzzeit notwendig (vgl. Reichenbach 1960 [1947]: 289-298), von wo aus die Perspektivierung erfolgt. 47 (7) Eu acabara PP de sair de casa, quando o Pedro chegou Perf. . (E<R<S 48 ) ‘Ich hatte soeben das Haus verlassen, als Pedro ankam.’ Das Ereignis im Perfekt bildet den Referenzpunkt für das Plusquamperfekt. Folglich befindet sich der Betrachter am Standort der Referenzzeit ‘ankommen’. In (8) hingegen wird die Referenzzeit durch den Kontext angegeben, in Form einer temporal location time (nach Rohrer 1986: 85), mittels Temporaladverbiale, das den temporalen Anker bildet. (8) Naquele dia Tadvb. fizera/ tinha feito PP os trabalhos de casa. ‘An jenem Tag hatte ich/ er die Hausaufgaben gemacht.’ Die Betrachter-Origo befindet sich an ‘jenem Tag’ und betrachtet eine vorzeitige Handlung von dem Standort in der Vergangenheit aus: das ‘Hausaufgaben machen’. Die Betrachter-Origo ist dabei vorzeitig zur Sprecher-Origo verortet. Das zeigt folgende mögliche Erweiterung des Satzes: (9) Naquele dia Tadvb. fizera PP os trabalhos de casa, quando a professora anunciou Perf. , que estes serviriam Kond. de alternativa ao teste sumativo. ‘An jenem Tag hatte ich/ er die Hausaufgaben gemacht, als die Lehrerin ankündigte, dass diese als Alternative für die Klausur dienen würden.’ Den Referenzpunkt bildet in diesem Fall anunciou (E,R<S), das kotemporal ist mit dem Temporaladverbiale naquele dia, sowohl für fizera als Plusquamperfekt (E<R<S) als auch für serviriam (R<E und R<S) als Futur der Vergangenheit, ausgedrückt durch die Konditionalform. Die temporale Reihenfolge für serviriam ist daher: R-E-S (vgl. Reichenbach 1960 [1947]: 297). Den Gedanken der zentralen Bedeutung einer Referenzzeit für die Perspektivensetzung findet man bereits bei Klein (1994). Er geht lediglich von einer indirekten Verbindung zwischen Ereigniszeit und Sprechzeit aus, während er das Referenzzeitintervall, in seiner Terminologie die Topikzeit (TT), das er als Zeitspanne in Form von „the time for which the particular utterance 47 Zeman (2010: 43) konstatiert unter Bezug auf Klein (1994: 24), dass bereits im 17. und 18. Jahrhundert mit einem dritten Bezugspunkt operiert wurde. 48 E = Ereigniszeit (point of event bei Reichenbach); S = Sprechzeit (point of speech) und R = Referenzzeit (point of reference) (vgl. Reichenbach 1960 [1947]: 290). 56 makes an assertion“ auffasst (Klein 1994: 37), als ‘Angelpunkt’ (vgl. Klein 1994: 138) zwischen den beiden Bezugszeiten definiert. Die Tempora sind so durch zwei unterschiedliche Relationen zu fassen, der Relation zwischen Ereigniszeit (‘TSit’ in der Terminologie von K LEIN 1994) und der TT sowie zwischen TT und der Sprechzeit bzw. ‘time of utterance’ (‘TU’). Eine direkte Relation zwischen TSit und TU ist dagegen zur Erfassung der Tempusbedeutung nicht von Belang [...]. (Zeman 2010: 48) Die Relevanz der Perspektivensetzung ist für das vorliegende Vorhaben von Bedeutung, da es um die Klärung der Polysemie des Präsens geht und um die Möglichkeit des Präsens, mehrere Zeitstufen zu bezeichnen. Bei Tempus wird das Merkmal [+D ISTANZ ] temporal interpretiert und somit werden Betrachter und Sprecher an unterschiedlichen Stellen der Zeitachse verortet. So veranlasst beispielsweise ein aoristisches Perfekt ein Shifting der Referenzzeit in die Vorzeitigkeit gegenüber der Sprechzeit (vgl. Chafe 1970: 178-179). Der Sprecher ist dabei kotemporal mit der Aussage, der Betrachter hingegen mit der Referenzzeit, von der aus der Verbalvorgang betrachtet wird, sofern die Betrachtung nicht von der Ereigniszeit aus erfolgt und Sprechzeit und Referenzzeit zusammenfallen: (10) Tenho trabalhado PC todos os dias. ‘Ich habe jeden Tag (bis jetzt) gearbeitet.’ Das analytische Perfekt (10) ermöglicht im Portugiesischen eine origoinklusive Perspektivierung der Vergangenheit (vgl. Alves 1993: 4-7; Campos 1997a, 1997b). 49 Tempus ist demzufolge eine deiktische Perspektivierungskategorie, die es dem Sprecher ermöglicht, die Referenz zu verlagern, das heißt er kann sich von seinem temporalen Standort in die Vor- oder Nachzeitigkeit dislozieren und Ereignisse betrachten (vgl. Lyons 1977: 682). Nach Klein (1994) determiniert die Perspektivensetzung die Relation zwischen Referenzzeit und Ereigniszeit (vgl. auch Carroll/ Stutterheim/ Klein 2003). Für eine adäquate Beschreibung von Tempus bieten die Bezeichnungen aus dem Analyserahmen von Reichenbach (1960 [1947]) trotz aller Modifikationen durch andere Tempusforscher immer noch die besten Beschreibungsparameter. Deshalb werden sie auch hier den weiteren Überlegungen zugrunde gelegt, unter Berücksichtigung der in der Einleitung zu diesem Kapitel festgelegten breiten Definition von Referenzzeit, mit der Möglichkeit, - sofern operativ erforderlich - zwischen einer kontextuell verankerten Referenzzeit und einer Referenzzeit als temporalem Perspektivenpunkt zu unterscheiden. Da Tempus als deiktische grammatische Kategorie aufgefasst wird, muss zwischen anaphorischem und deiktischem Tempusgebrauch 49 Bereits Zeman (2010: 50) weist am Beispiel einer Gegenüberstellung von Präteritum und Perfekt darauf hin, dass die Vergangenheit nicht als origo-exklusiv perspektiviert werden muss. Diese Ansicht widerspricht der Auffassung von Diewald, die lediglich das Präsens als origo-inklusiv bewertet (vgl. Diewald 1991: 177-180). 57 differenziert werden (vgl. Kapitel 4.4), je nachdem, ob die temporale Verortung durch das vorausgehende Verb determiniert wird oder ob das Verb selbst eine neue Referenzzeit festlegt und auf den Sprecher beziehungsweise auf dessen Betrachter-Origo verweist, die in diesem Fall am selben Punkt der Zeitlinie verortet ist wie die Sprecher-Origo. Um die Funktion von Tempus in einem Satz greifen zu können, bleibt festzuhalten: Tempus ermöglicht die Verlagerung des deiktischen Zeigefelds, da die Sprecher-Origo in Sprecher und Betrachter gespalten wird. Durch die so bewirkte Spaltung von Sprechzeit und Referenzzeit ist der Mensch imstande, sich von der natürlichen Präsupposition ‘Jetzt’ zu lösen. 4.2.2 Tempus in schriftlich fixierten Texten und das Problem der ‘Sprechzeit’ Im vorherigen Abschnitt wurden die Übernahme der von Reichenbach (1960 [1947]) geprägten Terminologie begründet und gewisse Engführungen bezüglich der ‘Referenzzeit’ vorgenommen. Ein Problem bleibt noch: Die deiktische Semantik von Tempus wurde unter anderem mithilfe des Bezugspunkts Sprechzeit festgemacht, eine Auffassung, die bereits auf Jakobson zurückgeht (vgl. Jakobson 1971c [1957]: 135). Prototypisch dient die reale Sprechzeit als Bezugspunkt für die temporale Situierung, das Zeitintervall, in dem sich ein Sprecher an einen Hörer richtet. Dies wirft jedoch die Frage auf, was unter Sprechzeit in geschriebenen Texten zu verstehen ist. Eine Lösung für dieses Problem liefert Zeman (2010): Die Sprechzeit muss (für schriftliche Texte) in einem weiteren Sinn als deiktischer Nullpunkt (t 0 ) innerhalb eines abstrakten Referenzsystems betrachtet werden (vgl. Zeman 2010: 52). Die Koordinaten der Sprechsituation sind mit denen des deiktischen Bezugspunkts des Referenzsystems gleichzusetzen (vgl. ebd.; Fuchs 1988: 2). Demzufolge ist trotz Beibehaltung der Reichenbachschen Terminologie zu präzisieren, dass die Ereigniszeit und die Referenzzeit zu einem temporalen Nullpunkt des deiktischen Kontexts in Bezug gesetzt werden, der als Sprechzeit bezeichnet wird (vgl. Zeman 2010: 52), sofern es sich um deiktische Tempora handelt. In einem fiktionalen narrativen Text entspricht die Sprechzeit demnach dem Standort des Erzählers, von dem aus dieser erzählt. Eine entsprechende Modifikation der Definition von Tempus ist notwendig, um die Tempussetzung sowohl in der Berichterstattung in Tageszeitungen (vgl. Meisnitzer 2010: 174-175 und 2011) als auch in fiktionalen Erzählungen zu erklären, um die es im Folgenden geht. Die Festlegung eines deiktischen Nullpunkts legitimiert auch die Übertragung der Bühlerschen Origo auf schriftliche Texte, die Bühler nicht vorgesehen hatte. Der natürliche Sprecherstandpunkt I CH -H IER -J ETZT entspricht in einem schriftlichen Text dem t 0 , der als Nullpunkt des Referenzsystems innerhalb der Erzählung gilt - unabhängig von der Diskurstradition oder Gattung. Um diese Übertragung zu legitimieren, muss die Frage nach der Kommunikationssituation 58 in fiktionalen narrativen Texten geklärt und das Konzept des Erzählers näher bestimmt werden (siehe Kapitel 5.2.2). 4.2.3 Das Präsens und die Polyfunktionalität der Tempora Im Rahmen einer Konzeptualisierung von Tempus als definierbar gemäß der temporalen Relation zwischen Sprechzeit und Ereigniszeit, wie sie Comrie ansetzt (vgl. Comrie 1985: 9), ist das Präsens die Zeitform, mit der ein verbales Geschehen oder Sein aus Sicht des Sprechers als gegenwärtig charakterisiert wird (vgl. Bechara 2001: 221; Cintra/ Cunha 1999: 447; Lopes 1995: 20). So lautet die Definition in den Standardschulgrammatiken. Betrachtet man jedoch die Einträge genauer, so werden zahlreiche Ausnahmen in der Verwendung aufgelistet und das Präsens kann mehrere temporale Bedeutungen ausdrücken. 50 Un ‘temps’ peut présenter plusieurs valeurs temporelles. Par example un ‘présent de l’indicatif’ peut [...] situer l’action dans le passé ou dans le futur. 51 (Chevalier/ Blanche-Benveniste/ Arrivé/ Peytard 1964: 334) Diese Annahme, das Präsens könne einen Verbalvorgang im ‘Nicht-Jetzt’ lokalisieren, muss in Kapitel 4.4 noch näher diskutiert werden. Festzuhalten bleibt jedoch, dass durch das Präsens auch Ereignisse sprachlich enkodiert werden, die nicht im ‘Hier und Jetzt’ stattfinden, weder räumlich noch zeitlich. Man denke an die Verwendungsmöglichkeiten des praesens pro futuro (Beispiele (11)-(13)) oder des historischen Präsens (Beispiele (14)-(15)) in seinen diversen Ausformungen (vgl. Imbs 1960: 32-36): im Sinne der hier herauszuarbeitenden Kategorisierung aoristisches Präsens, vergangenheitsaktualisierendes oder perspektivisches Präsens und narratives Präsens. Allesamt kodieren Ereignisse, die auf der Reichenbachschen Zeitachse vorzeitig zur Sprechzeit lokalisiert sind. (11) Ich finde Pr. das Buch (noch). (12) Ich gehe Pr. nach Hause. (13) Morgen Tadv. fahren Pr. wir in den Urlaub. (14) Gestern TAdv. ruft Pr. die Schule an und teilt Pr. mir mit, dass es für mich keinen Platz in den von mir angegebenen Kursen gibt Pr. . (15) Im 8. Jahrhundert TAdvb. erobern Pr. die Araber die Iberische Halbinsel fast vollständig. Das Präsens mit zukünftigem Zeitbezug entspricht der Reichenbachschen Formel S,R<E. 52 Die Erkenntnis dieser Polyfunktionalität des Präsens hat 50 Einen systematischen Überblick über die Funktionen des Präsens mit einleuchtenden Beispielen für das Deutsche, die mit geringfügigen Modifikationen auf die hier betrachteten Sprachen übertragen werden können, bietet Wunderlich (1970: 114-116). 51 ‘Ein Tempus kann mehrere Temporalwerte aufweisen. Beispielsweise kann ein Präsens Indikativ [...] Ereignisse in der Vergangenheit oder in der Zukunft situieren.’ 59 besonders im deutschen Sprachraum eine rege Diskussion über die Grundbedeutung des Präsens, also seine eigentliche Temporalsemantik, entfacht, weitaus intensiver als in den Ländern der anderen hier zum Vergleich herangezogenen Sprachen (vgl. Alves 1993: 7-8; Casanova 2006: 143 und 147- 155; Le Goffic 2001; Lopes 1995: 2-9; Sánchez Prieto 2010: 61-65). Die Möglichkeit, das Präsens für vergangene oder zukünftige Verbalereignisse zu verwenden, hat einige Sprachwissenschaftler wie Engel (1977: 63-64), Vennemann (1987), Zeller (1994) oder Portner (2003) dazu veranlasst, dem Präsens eine temporale Bedeutung generell abzusprechen. Die Begründungen fallen unterschiedlich aus. Portner (2003) rechtfertigt seine Auffassung mit der Möglichkeit, mit dem Präsens alle drei Zeitstufen ‘Vergangenheit’, ‘Gegenwart’ und ‘Zukunft’ ausdrücken zu können. Vennemann dagegen spricht von einem „Atemporalis“ (vgl. Vennemann 1987: 242- 243). Zeller vertritt die Auffassung, das Präsens sei ein „Un-Tempus“, da es eine unspezifizierte Erscheinungsform des Verbs darstelle (vgl. Zeller 1994: 67-68). Seine Argumentation stützt er dabei auf allgemeingültige und vermeintlich ‘atemporale’ Sätze. Dieser Ansatz erweist sich als unbefriedigend, da das Präsens in jedem Vergangenheitskontext verwendbar sein müsste, sofern es keine eigene temporale Semantik hätte. Das ist jedoch nicht der Fall, wie Grewendorf (1984: 229) hervorhebt. (16) *Früher bin ich optimistisch. (17) *Gestern reist er nach Berlin. (Beispiele aus: Grewendorf 1984: 229) Etwas differenzierter betrachtet Gerbe (2010) das Präsens, nämlich als Tempus der „non actualisation des procès“ (‘prozessuale Nicht-Aktualisierung’). Verbalereignisse werden als prototypisch dargestellt - ähnlich wie allgemeingültige Sachverhalte - und sind folglich als gewissermaßen atemporal zu verstehen. Für präsentische Romane ergibt dieser Ansatz, der für einige Diskursdomänen durchaus fruchtbar gemacht werden kann, ein zentrales Problem, da die Ereignisse durchaus als einmalig und singulär verstanden und gelesen werden sollen. Analog zum Film können sie allerdings durch wiederholtes Lesen wiederholt aktualisiert werden (fiktional). Kamp/ Reyle (1993) hingegen sehen das Präsens als Tempus mit einer einzigen temporalen Bedeutung, und zwar der des ‘aktuellen Präsens’ (‘E,R,S’). Diese Auffassung teilen Brinkmann (1971) und Welke (2005: 153). Nach Kamp/ Reyle ist das Präsens ein Tempus, das sich durch seine tokenreflexiveness von Vergangenheitstempora und Futur unterscheidet, und sie sind der Ansicht, das Präsens könne nur Zustände ausdrücken, da die Verbalhandlung nicht in vollem Umfang mit Anfang und Ende vom Präsens 52 Für eine Erklärung des Präsens pro futuro siehe Kapitel 4.4. Aus temporaler Sicht ist das Präsens nicht imstande, zeitliche Dislokationen durchzuführen und den Betrachter zeitlich zu versetzen. 60 erfasst werden könne (vgl. Kamp/ Reyle 1993: 601). Sie leiten daraus folgende Formel für das Präsens ab: Present: [- PAST ]; [+ STATIVE ]; [- PERFECTIVE ] (Kamp/ Reyle 1993: 601) Einen Kompromiss versucht Ballweg zu schaffen, der anhand einer Korpusauswertung und unter besonderer Berücksichtigung der semantischpragmatischen Funktion des Präsens zu dem Fazit kommt, dass das Präsens dazu diene, Ereignisse zu versprachlichen, bei denen Ereigniszeit 53 und Sprechzeit zusammenfallen oder die „relative Lage von Aktzeit und Sprechzeit irrelevant ist“ (Ballweg 1984: 257). Damit spricht er dem Präsens Gegenwartsbezug zu, erkennt aber auch gleichzeitig die Möglichkeit einer ‘Atemporalität’ an. Diese Auffassung wirft die Frage auf, was mit ‘Atemporalität’ gemeint sein soll, denn der Mensch scheint nicht in der Lage zu sein, ‘zeitlos’ zu perspektivieren, da Temporalität trotz unterschiedlicher Modellierungen - wie im ersten Kapitel gezeigt wurde - eines der grundlegenden Strukturierungsprinzipien des menschlichen Denkens zu sein scheint, gemäß dem wir unsere Welt wahrnehmen und erfahren. Allgemeingültigkeit darf hingegen keineswegs mit Zeitlosigkeit verwechselt werden, denn sie drückt lediglich aus ‘etwas ist gemäß jetziger Auffassung immer gültig, gegenwärtig, in der Vergangenheit und in der Zukunft’. Und wenn eine vermeintliche Allgemeingültigkeit infolge von wissenschaftlichem Fortschritt oder Entdeckungen widerlegt wird, kann sie nicht mehr im Präsens kodiert werden (vgl. Fabricius-Hansen 1986: 77; Viguier 2013: 95). Der Grund: Die Proposition besitzt keine Gültigkeit mehr in der kanonischen Kommunikationssituation. Andere Forscher hingegen fassen das Präsens als ein Tempus mit mehreren temporalen Bedeutungen auf. Unter ihnen Steube, die ungeachtet der Tatsache, dass ein großer Teil der Äußerungsbedeutungen aus dem Zusammenspiel von sprachlicher Struktur und Kotext und Kontext resultiert, annimmt, dass drei semantische Strukturen durch die morphologische Präsensform realisiert werden: aktuelle Gegenwart, generelles Tempus und Zukunft (vgl. Steube 1980: 22). Dem ‘historischen Präsens’ spricht Steube Vergangenheitsreferenz zu und geht davon aus, dass ihm eine semantische Struktur zugrunde liegt, der eine pragmatische Zusatzbedeutung beigefügt wird (vgl. Steube 1980: 19). Daneben gibt es zahlreiche Ansätze, die das Präsens als Tempus der Nicht-Vergangenheit analysieren, da der Vergangenheitsbezug immer kotextuell oder kontextuell determiniert werden muss, darunter Kratzer (1978), Bäuerle (1979), Heringer (1983), Vater (1983), Thieroff (1992; 1994), Ek (1996), Comrie (1995), Löbner (1996), Musan (2002) und Rothstein (2007). Die Erklärung der Verwendung des Präsens zum Ausdruck zukünftiger Verbalereignisse wird unterschiedlich gelöst, wobei nicht alle Erklärungsansätze 53 Ballweg (1984) verwendet den Begriff Aktzeit, der in der hier verwendeten Terminologie der Ereigniszeit entspricht. 61 gleichermaßen plausibel sind. Einigkeit besteht jedoch darüber, dass das Präsens von sich aus zukünftige Verbalereignisse ausdrücken kann. In den anderen Ländern der hier berücksichtigten Sprachen hat sich die Diskussion vielmehr um die Frage nach der Art und Weise zentriert, wie das Präsens die von seiner Grundbedeutung abweichenden Zeitbezüge herstellt. Dennoch kann das Präsens in den romanischen Sprachen sowie im Englischen Verbalgeschehen in denselben Zeitbereichen wie im Deutschen ausdrücken, auch wenn in den romanischen Sprachen und im Englischen das Präsens pro futuro keine so systematisch gegliederte Anwendung wie im Deutschen findet, wo es regulär als Futur der nonadditiven und unteilbaren Verben (siehe hierzu (18) und (19), Kapitel 4.3) verwendet wird (vgl. Leiss 1992: 226). Aus den unterschiedlichen vorgestellten Ansätzen lässt sich das Fazit ziehen, dass das Präsens im Tempussystem die unmarkierte Form ist und stellvertretend für die meisten anderen Tempora stehen kann. Wenn man allein seinen temporalen semantischen Wert betrachtet (und Aspektualität ausklammert und keinerlei Temporaladverbialien vorliegen), kodiert das Präsens ein Nicht-Auseinandertreten von Sprecher und Betrachter und lokalisiert das Ereignis gegenüber diesen im ‘Jetzt’ (vgl. Steedman 1997: 907-908). Es ist sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen das meistgebrauchte Tempus (vgl. Kielhöfer 1997: 128; Costa e Sousa 2007: 113-114; Sánchez Prieto 2010: 26). Schon im Erstspracherwerb 54 dient es daher als ‘Ausweichform’ nach dem Prinzip: „Der Einfachheit halber die Grundform“ (vgl. Kielhöfer 1997: 128). Das Präsens hat demnach mehrere Funktionen, ist nicht markiert und steht in Opposition zu den Vergangenheitstempora in den romanischen und germanischen Sprachen. Aus der Unmarkiertheit des Präsens lässt sich seine temporalsemantische Neutralität ableiten. Dies erklärt auch, warum es seit dem Lateinischen und dem Gotischen zum Ausdruck allgemeiner, gegenwärtiger oder zukünftiger Verbalereignisse verwendet werden kann - wenn auch teils in anderem Ausmaß als in den modernen romanischen und germanischen Sprachen. Im Unterschied zum Lateinischen und zu den älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen kann die morphologische Präsensform nonadditiver Verben im Althochdeutschen und im Altenglischen nicht mit Vergangenheitsbezug verwendet werden (siehe Kapitel 6.6). 55 Das Präsens ist die formal nicht gekennzeichnete Kategorie und ist semantisch unspezifisch, weshalb es je nach Kontext als übergeordnete Kategorie - in 54 Das Präsens ist das erste Tempus, das Kinder im Spracherwerbsprozess lernen, und es ist das erste Tempus, das im Lernprozess einer L2 erworben wird (vgl. Sánchez Prieto 2010: 60). 55 Dieser Umstand wird im Rahmen der Ausdifferenzierung der unterschiedlichen nonpräsentischen Präsenstypen mit Vergangenheitsbezug noch näher betrachtet. An dieser Stelle soll diese funktionale Einschränkung des Präsens lediglich konstatiert werden, weswegen auch noch keine terminologische Präzisierung vorgenommen wird. 62 allgemeingültigen Aussagen - oder gemäß der Markiertheitstheorie von Jakobson (1971b [1939]) als Basiskategorie in Opposition zu markierten Kategorien fungiert. Da die Bezeichnung der Präsensvarianten mit Vergangenheitsbezug terminologisch nicht einheitlich geklärt ist, ist eine Neubewertung des historischen Präsens notwendig (vgl. Zeman 2010: 152). 4.3 Aspekt als Basisebene des ATM-Komplexes Die Dependenzbeziehungen im ATM-Bereich und die Konstatierung der Entwicklungslogik innerhalb des ATM-Komplexes machen eine Auseinandersetzung mit der grammatischen Kategorie Aspekt erforderlich. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Aspektualität und der Interpretation des Präsens (vgl. Ehrich 1992; Ek 1996; Musan 2002 u.a.), und das Zusammenspiel von Präsens und Aspektualität ist systematisch. Die Verbalkategorie Aspekt ist eine universale grammatische Basiskategorie der sprachlichen Architektonik, die jedoch nicht notwendigerweise in jeder Sprache morphologisch kodiert ist (vgl. Bybee 1985; Leiss 2000). 56 Aspekt stellt den elementaren Baustein der Kategorienarchitektonik des Verbs dar (vgl. Guillaume 1968: 109-110). Deshalb kommt der Zusammenbruch des Aspektsystems Leiss zufolge einer Sprachrevolution gleich (vgl. Leiss 2000: 275). Die Bedeutung der Kategorie Aspekt wird auch deutlich, wenn man berücksichtigt, dass mehr Sprachen der Welt über die Kategorie Aspekt als über die Kategorie Tempus verfügen: Aspect is in fact far more commonly to be found throughout the languages of the world than tense is: there are many languages that do not have tense, but very few, if any, do not have aspect. Furthermore, it has been argued recently that aspect is ontogenetically more basic than tense [...]. (Lyons 1977: 705) Es handelt sich um eine grammatische Kategorie, die ‘Totalität’/ ‘Nichttotalität’ ausdrückt (vgl. Leiss 2000: 14), 57 je nachdem, ob die Konturen des 56 Für die hier verglichenen Sprachen besteht lediglich eine aspektuelle Opposition zwischen synthetischem Perfekt und Imperfekt in den romanischen Sprachen. Die doppelten Perfektgefüge und die Funktionsverbgefüge im Gegenwartsdeutschen weisen zwar aspektuelle Semantik auf, jedoch keine paradigmatische Opposition zwischen perfektiv und imperfektiv (vgl. Zeman 2011: 59). Das Gleiche gilt auch für das Progressivum im Deutschen, Englischen, Spanischen und Portugiesischen. Die ausgedrückte aspektuelle Opposition ist keineswegs so systematisch wie bei Aspektpaaren im Russischen. Als Beispiel kann die Frage port. O que é que estás a fazer? (europäisches Portugiesisch) (‘Was bist du gerade am Machen? ’) sowohl mit Procuro as minhas chaves. ‘Ich suche meinen Schlüssel.’ als auch mit Estou a procurar as minhas chaves. ‘Ich bin am Schlüsselsuchen’ (genauer ‘(...) am Suchen meiner Schlüssel.’) beantwortet werden. 57 Auf dieser funktionalen Bestimmung der Kategorie Aspekt, die diese mit dem Artikel teilt, baut Leiss ihre Hypothese auf, der bestimmte Artikel sei eine Folge des Zusammenbruchs des Aspektsystems. Leiss stützt sich dabei vorwiegend auf Betrachtungen zum Deutschen, berücksichtigt jedoch durchaus Parallelen zur 63 Verbalereignisses fokussiert werden oder nicht (vgl. Cohen 1989: 71). Aus verbalsemantischer Sicht kodiert Aspekt die Perspektive, die eine ‘unhintergehbare’ Lokalisierung des Sprechers, genauer seiner Betrachter-Origo, kodiert (vgl. Laca 2004: 434). Im Gegensatz zur grammatischen Kategorie Tempus, die eine Lokalisierung der Geschehnisse im ‘Jetzt’, ‘Vorher’ oder ‘Nachher’ versprachlicht, dient Aspekt dazu, den Betrachter innerhalb oder außerhalb des Verbalgeschehens zu lokalisieren. Hierbei besteht eine Opposition zwischen Außen- und Innenperspektive. Die Aspektkategorie stellt also sprachlich zwei Perspektiven bereit, obwohl der Sprecher aufgrund seines tatsächlichen Standorts immer nur über eine Perspektive verfügen kann. Die Aspektkategorie ermöglicht es, fiktiv den Standort zu wechseln, und stellt damit eine Loslösung von der Wahrnehmungskategorie Innen/ Außen dar. (Leiss 1992: 12) Die Wahl eines imperfektiven Verbs markiert eine Innenperspektive, die eines perfektiven Verbs eine Außenperspektive. Der verbale Vorgang wird bei dem perfektiven Aspekt als Ganzes und damit in seiner Totalität unter Berücksichtigung der Grenzen des Ereignisses von Anfang und Ende perspektiviert, wodurch die Handlung Konturen bekommt (vgl. Leiss 1992: 34; Smith 2004: 599). Perfektivität erzeugt Vordergrundierung, da „Figuren mit abgeschlossenen Konturen ‘nach vorne treten’“ (Leiss 2000: 75). Der Verbalvorgang ist dadurch ein unteilbares Ganzes, begrenzt und abgeschlossen (vgl. Smith 2004: 599). Mittels imperfektiver Verben können Verbalvorgänge auch ohne diesen Totalitätsbezug betrachtet werden (vgl. Bybee/ Perkins/ Pagliuca 1994: 92; Demirdache/ Uribe-Etxebarria 2002: 127). (18) Eu procuro Ipf. Pr. as minhas chaves. (teilbare Verbalsituation) ‘Ich suche meinen Schlüssel.’ (19) Eu encontro Pf. Pr. as minhas chaves. (unteilbare Verbalsituation) ‘Ich finde meinen Schlüssel’. Während (18) die Merkmale [+T EILBAR ]; [+A DDITIV ] und [+I NNENPERSPEK - TIVE ] aufweist, entsprechen dem Verbalvorgang in (19) die Merkmale [-T EIL - BAR ]; [-A DDITIV ] und [+A UßENPERSPEKTIVE ]. Einen Schlüssel kann das Subjekt über ein längeres Zeitintervall hinweg suchen (‘jetzt und jetzt und jetzt sucht das Subjekt seinen Schlüssel’); das Gleiche geht für nichtteilbare Verbalsituationen nicht: Der Schlüssel wird lediglich in dem Augenblick gefunden, in dem er vom suchenden Subjekt erblickt wird (*‘jetzt und jetzt und jetzt wird der Schlüssel gefunden’) (vgl. Leiss 1992: 48). Der perfektive Verbalcharakter von encontrar ‘finden’ determiniert, dass der Standpunkt des Betrachters außerhalb der Verbalsituation liegt, und ermöglicht eine holistische Artikelgenese in den romanischen Sprachen (vgl. Leiss 2000: 216-221). Angesichts dieser Auffassung, dass Artikel und Aspekt dieselbe grammatische Funktion erfüllen, hypostasiert Leiss Artikel und Aspekt als deren nominale und verbale Ausprägung (vgl. Leiss 2000: 275). 64 Perspektive (vgl. ebd.). Nichtholistische Verbalereignisse implizieren hingegen eine Innenperspektive. Im Gegensatz zu Aktionsarten, die sprecherunabhängige Bestimmungen der Art und Weise vom Verlauf eines verbalen Geschehens sind, kann in Aspektsprachen mittels der Kategorie Aspekt innerhalb der Aspektpaare eine bestimmte Perspektive selegiert werden (vgl. Leiss 1992: 32-33). In diesem Fall kann „jedes Aktionsartverb neben seiner aktionsartlichen Semantik zusätzlich entweder perfektiv oder imperfektiv sein“ (ebd.). Die Aktionsart ist folglich anders als der Aspekt durch das Merkmal [- SPRECHERABHÄNGIG ] charakterisiert. Durch die Wahl einer Perspektive durch den Sprecher im Fall eines Aspektpaars ist die Aspektopposition doppelperspektivierend. Dagegen sind die Aktionsartverben monoperspektivierend, da die lexikalische Bedeutung des Aktionsartverbs eine der beiden Perspektiven unabhängig vom Sprecher vorgibt (vgl. Leiss 1992: 35). 58 Die Aktionsarten sind angesichts ihrer sprachlichen Enkodierung durch Derivationsverfahren und ihrer grammatischen Funktion im ‘Zwischenbereich’ von Grammatik und Lexikon angesiedelt und müssen von rein lexikalischer Aspektualität unterschieden werden (vgl. Leiss 1992: 36). Um entscheiden zu können, ob ein Verbpaar synonym genug ist, um als Aspektpaar gelten zu können, muß man das Verhältnis von lexikalischer und aspektueller Bedeutung zugrundelegen. Dominiert die aspektuelle Bedeutung, handelt es sich um ein Aspektpaar, dominiert die lexikalische Bedeutung, so ist das holistische Präfixverb als Aktionsartverb einzustufen. (Leiss 1992: 58) In der Perspektivierung der Verbalvorgänge liegt auch die Schnittstelle zwischen Aspekt, Aktionsart und Verbalcharakter, 59 weshalb es sich als 58 In der Forschung sind die Begriffe telisch für Aktionsarten, die nur einen Augenblick dauern, also punktuell sind und daher keine Innenperspektive zulassen, und atelisch für Aktionsarten, deren zeitlicher Umfang größer ist, gängig (vgl. Meier-Brügger 2000: 236-237, §305). Auf diese Terminologie wird hier verzichtet, da sie eine Berücksichtigung der inneren temporalen Konstitution der Verbalereignisse impliziert und somit das Merkmal [+ ZEIT ] in die Diskussion einbringt. Das erscheint aus methodischen Gründen wenig sinnvoll und birgt das Problem, dass die Terminologie im Hinblick auf Aktionsart und Verbalcharakter uneinheitlich verwendet wird. Im Folgenden wird daher die Terminologie perfektive und imperfektive Aspektualität oder synonym nonadditive und additive Verben herangezogen. 59 Die Perspektivierungsfunktion kann einerseits auf der grammatischen Ebene durch Aspekt (russ. stroit’ (imperfektiv) versus russ. postroit’ (perfektiv) ‘bauen’) ausgedrückt werden. Das Präfix veranlasst die Betrachtung des Verbalgeschehens in seiner Totalität (vgl. Leiss 1992: 37). Andererseits kann die Perspektive auch auf der lexikalischgrammatischen Ebene durch die Aktionsarten ausgedrückt werden, wenn „die lexikalische Semantik des Präfixes die aspektuelle dominiert“ (Leiss 1992: 38), wie bei russ. perestroit’ ‘umbauen’. Dieses bildet wiederum mittels suffigierender Imperfektivierung den Aspektpartner perestraivat’ mit entgegengesetzter perspektivischer Semantik aus. Die Perspektivierungsfunktion kann jedoch auch auf lexikalischer Ebene durch Enkodierung der Art und Weise der Verbalsituation in der Semantik des Verbstamms vorgenommen werden (Verbalcharakter), Beispiele: kommen, finden, 65 sinnvoll erweist, den Begriff Aspektualität als übergreifenden Terminus für die grammatische Perspektivierungsfunktion anzusetzen (vgl. Andersson 2004 60 : 6; Leiss 1992: 45; Vogel 1996: 155). Aus kognitiver Sicht charakterisiert sich die perfektive Aspektualität durch eine Zustandsveränderung innerhalb des unmittelbaren temporalen Skopus, die lediglich von einer Außenperspektive wahrnehmbar ist, während die imperfektive Aspektualität Zuständen entspricht, die in ihrem Verlauf aus einer Innenperspektive betrachtet werden können (vgl. Langacker 2008: 152- 153). In der Forschungsliteratur wird Aspekt häufig als Kategorie definiert, „die in ihrem Aufbau die zugrundeliegenden basalen Zeitkonstitutionsunterschiede in Verben nutzt“ (Vogel 1996: 163). So liegen temporale Konnotationen der Abgeschlossenheit von Verbalvorgängen beim perfektiven Aspekt auf der Hand, da sich das Merkmal [+ ABGESCHLOSSEN ] sehr leicht durch metaphorische Prozesse als temporale Abgeschlossenheit lesen lässt. Das leuchtet wegen der metaphorischen Ableitung der Zeitkonzepte von Raumkonzepten ein (siehe Kapitel 2.1). In nicht-ausgrammatikalisierten Tempussystemen können daher aspektuelle Formen temporale Funktionen übernehmen. 61 Diese sekundären temporalen Reanalysen dürfen jedoch nicht mit der primären aspektuellen Bedeutung verwechselt werden, wie Leiss (1992: 34) betont. Das Merkmal [+ TEMPORAL ] ist zur Charakterisierung von Aspekt nicht erforderlich, da dieser primär die Lokalisierung der Betrachter-Origo gegenüber dem Verbalvorgang ausdrückt. öffnen, sterben (vgl. Leiss 1992: 41-45; die Beispiele stammen aus dieser Quelle). Wir haben es in diesem Fall mit rein lexikalischer Aspektualität zu tun. 60 Entgegen Andersson (2004) drückt Aspektualität jedoch nicht primär die innere zeitliche Struktur des Ereignisses aus, sondern die Perspektive, die der Erzähler auf die Ereignisse einnimmt. Außerdem darf der Begriff nicht so weit gefasst werden wie etwa bei Rothstein (2007), da Adverbien als lexikalische Elemente keine funktionalen Äquivalente darstellen (vgl. Kapitel 4.5). 61 Beispiel: morphologisch perfektive Präsensformen im russischen ‘Futur’ (vgl. Kapitel 8.2). Leiss selbst spricht nicht von Reanalyse sondern von Reinterpretation. In Fällen, wo sich die Semantik einer Verbalform auf Basis einer Kontiguitätsrelation verändert hat, wird hier in Einklang mit der in der Forschung etablierten Terminologie der Begriff Reanalyse bevorzugt, um den zugrunde liegenden kognitiven Prozess zu fokussieren. 66 (20) Anne a écrit PC une lettre. ‘Anne hat einen Brief geschrieben.’ (21) Anne écrivait Imp. une lettre. ‘Anne war dabei, einen Brief zu schreiben.’ (Beispiele entnommen aus: Delfitto 2004: 117) In beiden Beispielen trägt der Verbalvorgang das Merkmal [+ VERGANGEN ], lediglich die Perspektive auf dieselbe Handlung ist unterschiedlich. 62 Die durch Aspekt kodierte Opposition ist primär räumlicher Natur und betrifft die ‘Verortung’ des Betrachters gegenüber dem Verbalvorgang (vgl. Leiss 2012: 45). Deshalb sind bei der Opposition von Außen- und Innenperspektive nur räumliche Konzepte beteiligt, wie Leiss (1992) temporalistischen Definitionsansätzen entgegenhält. Der Vorteil der Leiss’schen Auffassung von Aspekt als räumliches Konzept liegt darin, dass er eine saubere Differenzierung zwischen Aspekt und Tempus ermöglicht, und durch die sekundären temporalen Reinterpretationen können auch temporale Funktionen, welche die Kategorie Aspekt übernimmt, erklärt werden (siehe Kapitel 8.2). Die temporale Reinterpretation von Aspekt erfolgt immer „in Verbindung mit innenperspektivierenden Aspektverben“ (Leiss 1992: 14). So ist das imperfektive Präsens sowohl in ontogenetischer als auch in diachroner Hinsicht ursprünglicher als das perfektive Präsens (vgl. hierzu Leiss 1992: 231). Es sind die imperfektiven Verben, die ‘die grammatische Avantgarde’ bei der Herausdifferenzierung der Tempora bilden. (Leiss 1992: 233) Die Annahme einer räumlich-perspektivierenden Semantik ermöglicht auch ein Verständnis von jenen Fällen, wo laut Delfitto (2004) eine semantische Diskrepanz zwischen der Interpretation des telischen Verbalprädikats - in der hier verwendeten Terminologie nonadditives Verbalprädikat - und der temporalen Interpretation besteht. (22) For months Tadvb. , the train arrived Prät. late. (Beispiel aus: Delfitto 2004: 118) (23) Durante meses Tadvb. , o comboio chegou Perf. atrasado. (24) *Durante meses Tadvb. , o comboio chegava Imp. atrasado. ‘Der Zug ist monatelang verspätet angekommen.’ (22, 23 & 24) Der Verbalvorgang hat sich innerhalb des durch das Temporaladverbiale eingegrenzten Zeitintervalls mehrfach wiederholt. Dennoch wird der Verbalvorgang als begrenztes, nonadditives Geschehnis unter Berücksichtigung seiner Konturen betrachtet. Ein Imperfekt wäre in den romanischen Spra- 62 Vergleiche Delfitto (2004: 117-118) zur temporalen Semantik des französischen imparfait. An Beispielsatz (21) zeigt der Autor, dass imparfait eine Handlung als [+ PAST ] charakterisiert. Die Verbalhandlung wird jedoch durch die selegierte Perspektive als ‘fortschreitender Prozess’ in dem Zeitintervall, das perspektiviert wird, betrachtet − anders als Delfitto annimmt. 67 chen nicht möglich, wie in Beispiel (24) anhand des Portugiesischen gezeigt wird. Dies ist durch das Merkmal [+ ABGESCHLOSSEN ] bedingt, das die Präposition durante enkodiert, die den ‘Blickwinkel’ festlegt und damit nur eine der beiden möglichen aspektuellen Perspektivierungen zulässt. Die Präposition dient in diesem Fall als ‘Perfektivierer’. Die Iterativität wiederum ist ein Ergebnis der Perspektivierung durch den Betrachter, wie der Kontrast zwischen (25) und (26) belegt. Das Temporaladverbiale ‘im Winter’ grenzt lediglich den Zeitraum ein, determiniert jedoch nicht, ob sich das Verbalereignis während desselben Winters (25) oder jeden Winter wiederholte (26). (25) No Inverno Tadvb. , o comboio chegou Perf. atrasado durante meses. ‘Im Winter kam der Zug monatelang zu spät.’ (26) No Inverno Tadvb. , o comboio chegava Imperf. atrasado durante meses. ‘(Jeden) Winter kam der Zug monatelang zu spät.’ Da durch die temporale Deixis des Betrachters auf die Lokalisierung des Ereignisses verwiesen wird, ist zunächst eine Wahrnehmung in seiner Ganzheit aus der Distanz nicht mehr möglich. Die Kategorie Tempus impliziert folglich eine Aufgabe der holistischen Perspektive, die erst durch eine aspektuelle Markierung wieder hergestellt werden kann. Wie bereits gezeigt wurde, ist es der markierte, also der perfektive Aspekt, welcher die Außenperspektive herstellt (25). Bei chegava in (26) hingegen nimmt der Betrachter eine Innenperspektive ein und betrachtet das Ereignis als nicht abgeschlossen. Lediglich die durch das Merkmal [+ VERGANGEN ] markierte zeitlich Distanz gegenüber dem Sprecher determiniert, dass die Proposition keine Gültigkeit mehr für die Sprechzeit besitzt: ‘Jetzt’ (in der kanonischen Kommunikationssituation) kommt der Zug nicht mehr zu spät. Die Relation des Sprechers zum Verbalereignis weist das temporale Merkmal [+ DISTANZ ] auf, daher schließt ein Imperfekt in den romanischen Sprachen auch nicht die Vollendung oder den Abschluss des Verbalereignisses gegenüber der Sprechzeit aus (vgl. Pollak 1988: 131). Im Gegensatz zur Tempuskategorie charakterisiert sich die Aspektkategorie durch einen Zusammenfall von Sprechzeit und Referenzzeit, die bei Tempus auseinanderfallen (vgl. Leiss 1992: 232). Tempus und Aspekt stellen folglich auch keine semantische Deckungsgleichheit dar und erfüllen unterschiedliche grammatische Aufgaben (vgl. Zeman 2010: 60). Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass Aspekt in seiner markierten Form ein Konzept der räumlichen Distanzierung ausdrückt (‘Nicht-Hier’) und dass temporale Konnotationen und die Reanalyse der Formen, welche aus uneigentlichen Lesarten resultieren können, lediglich das Ergebnis sekundärer Reinterpretationen sind. Die temporale Bedeutung ist nicht erforderlich, um Aspekt zu definieren und um seine Aufgaben innerhalb des grammatischen Systems näher zu bestimmen. Während bei 68 Tempus eine Kongruenz der Standorte von Ereignis und Betrachter konstitutiv ist (vgl. Bull 1960: 12), bilden bei Aspekt Betrachter- und Sprecherstandort eine undifferenzierte Einheit (vgl. Leiss 1992: 232). Angesichts der Bestimmung der wesentlichen Merkmale von perfektiver Aspektualität wird diese im Folgenden synonym mit Nonadditivität verwendet, imperfektive Aspektualität mit Additivität. 4.4 Das Präsens von perfektiven und imperfektiven Verben In Kapitel 4.2.3 wurde dargestellt, dass das prototypische Präsens in seiner Grundbedeutung Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit innerhalb desselben, nichtbegrenzten Zeitintervalls lokalisiert. Es ist die aus morphologischer Sicht unmarkierte Form, weshalb es auch aus temporaler Sicht der natürlichen Präsupposition [- DISTANZ ], also einem ‘Jetzt’ entspricht. Ein Shifting muss kenntlich gemacht werden, da es sich um eine markierte Form handelt. Dies geschieht durch die morphologische Tempusmarkierung, die signalisiert, dass der Sprecher seinen Standort wechselt (vgl. Leiss 1992: 231). Berücksichtigt man nun die in Kapitel 4.3 herausgearbeiteten Punkte zum Thema Aspektualität, zeigt sich, dass holistische, nonadditive Verben, also perfektive Verben, durch die kodierte Außenperspektive eine Trennung des Ereignisses und des Betrachters/ Sprechers vorgeben. Da „temporal genutzte Aspektualität keine zusätzlichen Relationen einführt, sind [...] keine zusätzlichen formalen Markierungen notwendig“ (Leiss 1992: 231). Folglich können nur imperfektive (additive) Verben eine prototypische präsentische Bedeutung entfalten, während nonadditive Verben die anaphorische Anweisung mit sich transponieren: ‘Trete zurück und betrachte den Verbalvorgang aus der Distanz’ (vgl. Tabelle 1, Kapitel 4.1 und Leiss 1992: 231). Diese räumliche Konturiertheit wird - bedingt durch die Tempusselektion - als Abgeschlossenheit in Bezug auf die Gegenwart interpretiert. Aus kognitiver Sicht muss ein Sprecher, um ein Ereignis oder einen Vorgang zu versprachlichen, zunächst beobachten, um zu wissen, was passiert. Wenn der Sprecher jedoch im Fall perfektiver Verben die durch diese kodierte Zustandsveränderung im weiteren Sinn beobachtet hat, ist es bereits zu spät, um eine kotemporale Versprachlichung zum Ereignis oder Vorgang selbst zu ermöglichen, was ein Präsens per definitionem kodiert (vgl. Langacker 2008: 158). Bei dieser Reanalyse als Nonpräsens stehen grundsätzlich beide nichtpräsentische Zeitbezüge zur Verfügung: Zukunftsbezug oder Vergangenheitsbezug. Wenn in einer Sprache perfektive Verben zukünftigen Zeitbezug zum Ausdruck bringen (Beispiel: Russisch), handelt es sich nach Ultan um prospektive Tempussprachen, wenn das Präsens nonadditiver Verben hingegen vergangenheitsbezogenen Zeitbezug kodiert (Beispiel: nordamerikanische Indianersprachen), handelt es sich um retrospektive 69 Sprachen (vgl. Ultan 1978: 88). Wie Ultan zeigt, ist das auch der einzige wesentliche Unterschied aus typologischer Sicht zwischen retrospektiven und prospektiven Sprachen. Die Lesart einer perfektiven Präsensform hängt von der jeweiligen Architektonik des Tempussystems ab [...]. (Leiss 2000: 78) Die Affinität von perfektivem Präsens zu futurischem Präsens erklärt im Fall des Deutschen, weswegen die nonadditiven Verben zukünftigen Zeitbezug mit Präsens ausdrücken, die additiven Verben hingegen mit werden + Infinitiv (vide: Leiss 1992: 191-219). Im Fall des Russischen führte diese Affinität sogar zur Grammatikalisierung als Futurtempus. Man kann daher für das Russische sagen, dass aus der temporalen Nebenaufgabe des (aspektuellen) perfektiven Präsens durch einen Grammatikalisierungsprozess eine neue grammatische Kategorie entstand. Am entgegengesetzten Pol befinden sich die romanischen Sprachen und das Englische mit einem stark ausdifferenzierten und elaborierten P AST - System und einem differenzierten FUTUR -System, wenn auch nicht so stark differenziert wie das PAST -System, mit einer Futurperiphrase (eng. will + Infinitiv; port. ir + Infinitiv; sp. ir + Infinitiv; frz. aller + Infinitiv) und einer gut grammatikalisierten synthetischen Futurform (port. cantarei; sp. cantaré; frz. chanterai ‘(ich) werde singen’). Das ist auch der Grund, warum die Verwendung des Präsens pro futuro in diesen Sprachen nicht so systematisch und häufig wie im Deutschen erfolgt. Es zeigt sich, dass unter Beachtung der Kategorie Aspekt lediglich die additiven Verben eine prototypische präsentische Bedeutung entfalten, die nonadditiven dagegen je nach Sprachtyp einen vergangenheits- oder einen zukunftsbezogenen Zeitbezug kodieren. 4.5 Die Kluft zwischen Grammatik und Lexikon am Beispiel von Tempus vs. Temporaladverbien Eine wichtige Differenzierung zwischen Tempus und Temporaladverbien beruht auf der Einsicht, dass lexikalische Elemente und grammatische Elemente keine funktionalen Äquivalente sind (vgl. Leiss 2012: 50ff.). Tempus veranlasst den Sprecher, mental in die Vergangenheit (anaphorische Funktion) oder in die Zukunft (kataphorische Funktion) zu ‘reisen’ (vgl. Leiss 2012: 51). 63 Ein Vergangenheitstempus bewirkt automatisch eine Spaltung der Origo in Sprecher (S) und Betrachter (R), daher R<S in (27). Genauer gesagt ‘reist’ der Betrachter zurück in der Zeit und nimmt die Perspektive zum Zeitpunkt des Verbalereignisses ein (E,R<S) (27). 63 Leiss (2012) nimmt auf Evans (2004) und Tulving (2005) Bezug für die durch Tempus veranlassten ‘Zeitreisen’. 70 (27) A crise financeira destruiu Perf. a economia portuguesa. ‘Die Wirtschaftskrise zerstörte die portugiesische Wirtschaft.’ Temporaladverbien selegieren im Gegensatz zu Tempus immer eine der beiden Perspektiven - entweder die Perspektive des Betrachters oder die des Sprechers. So lizenziert nicht das Temporaladverb die Origo-Spaltung in (28), sondern das Tempus. Das Temporaladverb ontem hat keine andere Funktion, als einen der beiden Blickwinkel zu selegieren, es zeigt von der Origo des Sprechers aus auf das Ereignis und lokalisiert es (vgl. Leiss 2012: 52). (28) Ontem Tadv. um incêndio destruiu Perf. o Chiado. ‘Gestern hat ein Brand das Chiado zerstört.’ Bei Tempus spaltet sich die Origo des Sprechers automatisch in Betrachter und in Sprecher. Der Betrachter nimmt hierbei eine Perspektive ein und verweist aus temporaler Sicht auf die Sprecher-Origo. Aus syntaktischer Sicht ist auffällig, wie Leiss (2012: 52) hervorhebt, dass weder absolute noch relative Temporaladverbialien in die finite Proposition eingebettet sein müssen, was für Tempora undenkbar ist (vgl. Fabricius- Hansen 1991: 723). Außerdem entfalten sich Tempora im Spannungsfeld von deiktischer und anaphorischer Referenz. Bei deiktischer Referenz veranlassen perfektive Verben eine Aktualisierung der Lokalisierung des Betrachters und dadurch der Referenzzeit, die gleichzeitig vorangetrieben wird. Dies steht nicht im Widerspruch zu der von Leiss (2012) vertretenen Auffassung, Tempora seien im Gegensatz zu Temporaladverbien anaphorisch, da Leiss sich auf die enkodierte ‘Zeigegeste’ bezieht. Diese ist auch anaphorisch bei Verben, die hier als deiktisch charakterisiert werden, da hier mit deiktischen Verben jene gemeint sind, welche die Verortung des Betrachters aktualisieren - im Gegensatz zu anaphorischen Verben, die keine neue Verortung des Betrachters veranlassen (vgl. Smith 2004). Die Spaltung der Sprecher-Origo in Sprecher und Betrachter entfalten beide Typen. Die terminologische Differenzierung bezieht sich folglich auf zwei unterschiedliche Ebenen. Durch das Setzen neuer Referenzzeiten durch deiktische Tempora entsteht narrative Dynamik im Text und es wird narrative Progression erzeugt (vgl. Smith 2004: 605). (29) O comboio partiu Perf. (V1). Eu fui Perf. (V2) para casa. ‘Der Zug fuhr ab. Ich ging nach Hause.’ Durch das Fortschreiten der Handlung in narrativen Sequenzen bleibt der Referenzpunkt nicht statisch, sondern es wird immer wieder ein neuer temporal perspective point gesetzt (vgl. Kamp/ Reyle 1993: 593-595). Bei perfektiven Ereignisprädikationen wie in (29) ‘wandert’ der Betrachter und mit ihm die Referenzzeit und so entsteht narrative Progression. Der nonadditive aspektuelle Wert von (V2) veranlasst die Verortung einer neuen 71 Referenzzeit gegenüber (V1). Imperfektive Verben beziehen sich hingegen naturgemäß phorisch auf ein perfektives Verb oder ein Temporaladverbiale (vgl. Smith 2004: 605), die als Anker dienen, siehe (30) und (31). (30) Pierre est arrivé/ arriva Perf. (V1) à la maison, pendant que je dormais Imp. (V2). 64 ‘Pierre kam nach Hause, während ich schlief.’ (31) Miklós Féher jogava Imp. (V1) futebol, quando sofreu Perf. (V2) uma paragem cardio-respiratória e morreu Perf. (V3) com apenas 24 anos. ‘Miklós Féher spielte Fußball (genauer: ‘war am Fußballspielen’), als er einen Kreislaufstillstand erlitt und im Alter von 24 Jahren starb.’ Imperfektive Verben erzeugen keine narrative Progression, sondern sind kotemporal mit dem perfektiven Verb. So ist in (30) (V1) der Ausgangspunkt der Betrachtung und die Verortung von (V2) auf der Zeitlinie wird durch den anaphorischen Bezug auf (V1) determiniert (vgl. Smith 2004: 605). Da dormais ein aspektuell imperfektives Verb ist, veranlasst es keine neue Verortung der Referenzzeit. In (31) ist (V1) als nonadditives Verb kotemporal zu (V2) und letzteres verortet den Betrachter. (V3) hingegen veranlasst eine neue Verortung des Betrachters, was einer ‘zeitlichen’ Progression der Erzählung entspricht. Folglich haben (V1) und (V2) dieselbe Referenzzeit. Die Progression der Referenzzeit ist ebenfalls ein wesentlicher Unterschied zur Funktion der Temporaladverbien (vgl. Partee 1984: 236- 237). Betrachtet man die syntaktische Funktion, muss festgehalten werden, dass Temporaladverbialien unterschiedliche Perspektiven selegieren können, auch wenn jedes Adverbiale für sich nur eine selegiert. Folglich muss zwischen deiktischen Temporaladverbialien, die vom Standort des Sprechers aus verweisen (Beispiele: dt. gestern, vor drei Tagen, vor zwei Wochen; port. ontem, há três dias, há duas semanas), und phorischen Temporaladverbialien, die vom Standort des Betrachters aus verweisen (Beispiele: dt. am vorhergehenden Tag, drei Tage vorher, zwei Wochen vorher; port. no dia anterior, três dias antes, duas semanas antes) unterschieden werden. (32) Amanh- Tadv. vou Pr. ao cinema. ‘Morgen gehe Pr. ich ins Kino.’ (33) No dia anterior Tadvb. tinha estado Analytisches PP com ela numa festa de aniversário. ‘Am Tag vorher war ich mit ihr auf einer Geburtstagsfeier gewesen.’ In (32) wird das Temporaladverb von der Sprechzeit aus verrechnet und ist somit ein deiktisches Temporaladverb, in (33) hingegen wird das Temporal- 64 Die Wahl zwischen passé composé oder passé simple bestimmt hier das Medium. In der gesprochenen Sprache würde passé composé selegiert, in der geschriebenen Sprache, beispielsweise in einer Erzählung, würde je nach Kontext das passé simple verwendet. 72 adverbiale im Hinblick auf die Betrachter-Origo verrechnet und ist folglich ein phorisches Temporaladverbiale. Der erfasste Zeitraum kann jedoch nur determiniert werden, wenn der Kontext vorliegt. Man erfährt zwar die relative Lokalisierung des versprachlichten Zeitraums, es fehlt jedoch die Angabe der Referenzzeit. Auch das Tempus nimmt in diesem Beispiel phorischen Bezug auf eine nicht näher spezifizierte Referenzzeit. Die Betrachter- Origo befindet sich an jener Referenzzeit. Zu einem vollständigen Verständnis müsste der Kontext vorliegen. Dies ist ein wichtiger Indikator für die Unmöglichkeit, für tempustheoretische Beschreibungen isolierte Sätze zu untersuchen, und ein wichtiges Argument für transphrastische Beschreibungen. 65 Aus funktionaler Sicht ist festzuhalten, dass Temporaladverbiale temporale Spezifizierungen (34) oder Quantifikationen (35) vornehmen oder die zeitliche Extension determinieren (36) (vgl. Kamp/ Reyle 1993: 494ff.). (34) O Miguel chegará Fut. no próximo Sábado Tadvb. . ‘Miguel kommt am nächsten Samstag an.’ (35) A Ana nunca Tadv./ Quantifikation trabalha Pr. ao Sábado Tadvb./ Spezifizierung . ‘Ana arbeitet nie am Samstag.’ (36) O Ricardo está Pr. de férias durante duas semanas Tadvb. . ‘Ricardo hat zwei Wochen lang Urlaub.’ Im Gegensatz zu Tempora grenzen Temporaladverbien/ -adverbialien Zeitintervalle ein beziehungsweise verleihen ihnen Konturen und die temporale Verortung dieser Zeitintervalle wird dann oftmals durch das Zusammenspiel von Tempus und Temporaladverb/ -adverbiale determiniert (vgl. Ehrlich 1990: 62). So begrenzt in (37) und (38) das Temporaladverbiale das Zeitintervall, die Tempusselektion determiniert hingegen, ob das Zeitintervall des Ereignisses vor (38) oder nach (37) der Sprechzeit lokalisiert ist. (37) John leaves Pr. on Tuesday Tadvb. . (38) John left Prät. on Tuesday Tadvb. . (Beispiele aus: Ehrlich 1990: 62) Temporaldeiktika kodieren das abstrakte Umweltphänomen ‘Zeit’ deiktisch, Tempus und Temporaladverbien weisen dabei jedoch funktionale Unterschiede auf: Während Temporaladverbien lediglich eine zeitliche Verortung eines Verbalereignisses vornehmen, ermöglicht Tempus neben der zeitlichen Verortung unterschiedliche Perspektiven. Außerdem können Tempora auf eine Referenzzeit bezogen sein, die durch den Ko- oder Kontext gesetzt wird beziehungsweise durch den vorausgehenden Satz (vgl. Zeman 2010: 54). 65 Bezüglich der Notwendigkeit einer satzgrenzenübergreifenden Betrachtung für adäquate linguistische Beschreibungen der Tempora siehe auch Smith (1980) und den von ihr geprägten Begriff der extended temporal structures. Siehe ebenfalls Caenepeel/ Moens (1994); Gvozdanović (1991); Moens (1987) und Moens/ Steedman (1987). 73 Auch darin unterscheiden sie sich von Temporaladverbien. Und Tempora können einen Verbalvorgang gegenüber dem Sprecher lokalisieren, gleichzeitig aber durch ihre phorischen Eigenschaften die Referenzzeit vorantreiben − das gilt zumindest für die nonadditiven, also perfektiven Verben (vgl. Partee 1984). Das ist auch der Grund, weshalb zwischen lexikalischen und grammatischen Temporaldeiktika unterschieden werden muss. Dies wiederum liefert ein wichtiges Indiz für die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen Grammatik und Lexikon. Während Temporaladverbien immer nur von der natürlichen Sprecher- Origo oder der Betrachter-Origo aus ‘zeigen’, können Tempora im Nebensatz in temporaler Subordination anaphorisch auf die Referenzzeit bezogen sein, die der Matrixsatz vorgibt. In Satzsequenzen beziehen sich die Hauptsätze auch vornehmlich nicht auf die deiktische Sprecher-Origo, sondern auf die kontextuell festgelegte Referenzzeit (vgl. Zeman 2010: 53). Wenn man den Prozess der Origo-Spaltung als automatisierten Vorgang bei Tempus betrachtet, muss immer eine Referenzzeit angesetzt werden, an der sich der Betrachter befindet und die den Tempora als anaphorischer Bezugspunkt dient. Daran macht Leiss (2012) auch eine wesentliche Unterscheidung zwischen Temporaladverbien und Tempus fest, die sowohl für die medial gesprochene als auch für die geschriebene Sprache gilt: „Tense is essentially phoric, whereas temporal adverbials are deictic“ (Leiss 2012: 52). Aus kognitiver Sicht löst Tempus durch das double displacement der Origo den wesentlich komplexeren mentalen Prozess aus. 4.6 Zusammenfassung: Die Grundbedeutung des Präsens im Spannungsfeld von Aspektualität und Temporalität In diesem Abschnitt ging es darum, eine Verortung des Präsens innerhalb des ATM-Komplexes vorzunehmen. Dabei wurde zunächst basierend auf der Logik der ontogenetischen Entwicklung und Beobachtungen im Erstspracherwerb und bei pathologischem Sprachabbau eine Entwicklungslogik definiert (A>T>M). Die ATM-Kategorien sind als dynamische Kategorien zu beschreiben und deshalb kommt es auch zu Dependenzen zwischen den Kategorien. In einem zweiten Schritt wurde die grammatische Kategorie Tempus näher definiert. Deren wichtigste Aufgabe besteht darin, dem Menschen zu ermöglichen, sich von der natürlichen Proposition H IER zu befreien und Verbalereignisse in der V ERGANGENHEIT oder Z UKUNFT zu betrachten. Dazu erfolgt eine automatische Spaltung der Sprecher-Origo in Sprecher, der innerhalb des deiktischen Systems an der Sprechzeit verortet ist, und Betrachter, der an der Referenzzeit verortet ist. Das Präsens bildet die morphologisch unmarkierte Kategorie und entspricht der prototypischen kanoni- 74 schen Kommunikationssituation. Es charakterisiert sich dadurch, dass Sprecher und Betrachter nicht auseinanderfallen, was eigentlich das kennzeichnende Merkmal von Tempus ist. Im Sinn der Jakobsonschen Markiertheitstheorie entspricht das Präsens daher auch der Unmarkiertheit, da in Opposition zu den anderen Tempora keine eigenen Merkmale determinierend sind, sondern es sich um eine unterspezifizierte Realisierung handelt, die durch die ‘Abwesenheit’ von Merkmalen charakterisiert ist. Um der Frage nach der Zukunftsbezogenheit des Präsens nachzugehen, muss in Anlehnung an Leiss (1992) die Kategorie Aspekt herangezogen werden, der ein primär räumliches Konzept zugrunde liegt. Sie charakterisiert unterschiedliche Betrachtungsweisen, unter denen ein Sprecher ein Verbalereignis in den Blick nehmen kann: Außen- (perfektiver Aspekt) oder Innenperspektive (imperfektiver Aspekt). Obwohl Aspekt die universale Basiskategorie innerhalb des ATM-Komplexes bildet, muss dieser nicht in jeder Sprache morphologisch kodiert sein. Man muss bezüglich der semantischen Domäne Aspektualität zwischen einer grammatikalisierten Aspektkategorie, der Möglichkeit, Aspekt auf grammatikalisch-lexikalischer Ebene auszudrücken (Aktionsarten), und dem Ausdruck von Aspektualität auf lexikalischer Ebene (Verbalcharakter) unterscheiden. Für das vorliegende Vorhaben ist wichtig zu konstatieren, dass lediglich das Präsens von Verben mit imperfektiver Aspektualität, die mit den Kategorien der Mereologie (vgl. Henry 1991) als additive Verben definiert werden, eine prototypische präsentische Bedeutung entfalten kann. Verben mit perfektiver Aspektualität oder nonadditive Verben können hingegen keine prototypische Gegenwartsbedeutung entfalten, da Referenzzeit und Ereigniszeit auseinanderfallen. Die räumliche Distanz zum Ereignis wird temporal reanalysiert und drückt in retrospektiven Sprachen ‘Vergangenheit’ aus und in prospektiven Sprachen ‘Zukunft’. Die Lesart einer perfektiven Präsensform hängt also von der jeweiligen Architektonik des Tempussystems ab, die wiederum in Korrelation mit der Grammatikalisierung der Tempusformen innerhalb des Verbalsystems steht. Das perfektive Präsens springt als default-Form ein. Deshalb ist das Präsens im Deutschen auch die reguläre Futurform der nonadditiven Verben, während es in den romanischen Sprachen, die jeweils eine gut grammatikalisierte periphrastische und eine analytische Futurform haben, vergleichsweise nur wesentlich punktueller zum Ausdruck zukünftiger Ereignisse herangezogen wird. Abschließend wird noch die notwendige funktionale Unterscheidung zwischen Temporaladverbien, die keine Spaltung von Sprecher-Origo in Sprecher und Betrachter erzeugen und daher entweder vom Standort des Sprechers oder von einem Referenzpunkt auf die Ereignisse zeigen (deiktische Funktion) und monoperspektivisch sind, und Verben, die eine Spaltung in Sprecher- und Betrachter-Origo hervorrufen, getroffen. Die Verbalereignisse werden dadurch gegenüber dem ‘Standort’ des Betrachters verrechnet, situieren diesen aber gleichzeitig gegenüber dem Sprecher zeitlich (anapho- 75 rische Funktion). Die lexikalischen Temporalausdrücke können also kein double displacement wie die Verben auslösen und sind daher keine funktionalen Äquivalente. In Anbetracht der Einsicht, dass in schriftlichen Texten keine prototypische kanonische Kommunikationssituation vorliegt, muss der Begriff Sprechzeit als deiktischer Nullpunkt innerhalb eines abstrakt gefassten Systems gesehen werden, der in fiktionalen Texten innerhalb der Diegese verankert wird. Es stellt sich daher die Frage, ob Tempora, wie etwa Hamburger (1987 [1957]) annimmt, ihre temporale Bedeutung aufgeben, oder ob das Problem nicht viel eher darin besteht, dass man unter Rückgriff auf den prototypischen Begriff der Sprechzeit einfach Probleme hatte, diese zu identifizieren, und daher von einer Aufgabe der Funktionen der Tempora innerhalb der fiktionalen narrativen Texten ausgegangen ist. 5. Fiktionalität in der Literatur und die Frage nach einer Grammatik des fiktionalen Erzählens Die Fiktionalitätsdiskussion ist bisher primär im Bereich der Literaturwissenschaft verankert. Dennoch ist Oesterreicher zuzustimmen, dass sich eine Beteiligung der Linguistik an der Diskussion als durchaus vorteilhaft zur Beschreibung der historisch-hermeneutischen Tradition und der damit verbundenen Entwicklung zum Fortschritt der Wissenschaft erweist (vgl. Oesterreicher 2009a). Denn auch wenn das Konzept ‘Fiktionalität’ immer noch schwer greifbar und nur vage definiert erscheint (vgl. Kellner 2009: 175), so steht außer Zweifel, dass Fiktionalität das Produkt der höheren kognitiven Fähigkeiten des Menschen ist, die nur durch Sprache möglich sind, und dass fiktionale Welten sprachlich konstituiert werden. 66 Es ist daher wichtig, den Einsatz von Sprache bei diesem Prozess zu berücksichtigen und zu erörtern, welche Rolle Sprache dabei spielt, um zu klären, ob es eine Grammatik des fiktionalen Erzählens gibt. Auf Basis der gewonnen Einsichten soll dann das Präsens für vorzeitige Ereignisse beleuchtet werden. Um dem Phänomen des Präsens als Leittempus im modernen Roman auf die Spur zu kommen, ist hilfreich, auch andere präsentische narrative Diskurstraditionen zu betrachten. Dazu gehören auch die mittelalterlichen Epen und die Saga, in denen das Präsens als Erzähltempus ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine narrative Diskurstradition, die wohl beschleunigt durch die Literalisierung der Gesellschaft und den dadurch ausgelösten radikalen mentalitätsgeschichtlichen Umbruch im 13. Jahrhundert (vgl. Schaefer 1996; Ong 2002) sukzessive ihre Produktivität verlor und durch eine neue, ebenfalls narrative literarische Diskurstradition ersetzt wurde, den Roman. 67 Der Roman ist demnach gewissermaßen das Ergebnis einer Weiterentwicklung der narrativen Diskurstradition des Epos (vgl. Hegel 1955: 552-558; 993-995; Jauss 1962). Angesichts des Axioms von Hamburger (1987 [1957]), das breite Akzeptanz in der wissenschaftlichen Diskussion von Tempora in fiktionalen Texten fand, gilt es zunächst einmal zu klären, inwiefern eine Notwen- 66 Dieser Auffassung zufolge entspricht Literatur einer besonderen Extension und einem besonderen Gebrauch von Sprache, da diese zugleich die Substanz, der Gegenstand und das Ziel jeglicher Form dichterischen Schaffens ist (vgl. Todorov 2006 [1997]: 206). 67 Der Roman gerät in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und setzt sich endgültig im 18. Jahrhundert durch (vgl. Reis/ Lopes 2011: 356). Man rechnet jedoch häufig bereits die Werke von Chrétien de Troyes zu dieser Diskurstradition - auch wenn diesbezüglich kein absoluter Konsens in der Literaturwissenschaft herrscht. Zahlreiche Literaturwissenschaftler betrachten hingegen Cervantes’ Quijote als den ersten Roman, zumindest im modernen Sinn. 77 digkeit besteht, die ‘reale außersprachliche Welt’ von der ‘fiktionalen’ hinsichtlich der Tempusselektion beim Sprechen über die jeweilige Welt zu differenzieren. 5.1 Die fiktionale Welt im Roman 5.1.1 Fiktion und Fiktionalität und ihre Bedeutung für linguistische Studien zum Präsens Um die Präsenserscheinungen, die in Grammatiken lapidar unter dem Sammelbegriff historisches Präsens aufgeführt werden, neu zu bewerten und die Entwicklung eines sogenannten narrativen Präsens zu beschreiben, erweist sich zunächst eine Auseinandersetzung mit Fiktionalität als unabdingbar, da die zur Beschreibung herangezogenen Texte - Epen und Romane - aus heutiger Sicht das Merkmal [+F IKTIONAL ] aufweisen. Fiktionalität ist ein literaturwissenschaftlicher Begriff, mit dem versucht wird, „literarische Texte der Gegenwart wie der Vergangenheit historischhermeneutisch zu erschließen“ (Warning 2009: 33). Fiktionalität ist nicht auf der Objekt-, sondern der Beschreibungsebene angesiedelt. Deshalb kann der Begriff auch auf Texte der Vergangenheit übertragen werden, für deren Poetiken der Terminus noch unbekannt war (vgl. ebd.). Wie Warning (2009: 34) festhält, kann man in diachroner Perspektive durchaus von „Fiktionalitätsschüben“ sprechen. Denn bereits in der Antike und im Mittelalter gab es gewisse Fiktionalitätsübungen, die jedoch noch nicht zu „diskursiv ausgelagerten Poetologien“ geführt haben. Diese kommen erst ab dem 18. Jahrhundert auf (vgl. Warning 2009: 34-35), als Fiktionalität zum Bestimmungselement aller modernen Literaturen wurde. Man darf dabei nicht vergessen, dass mittelalterliches Erzählen “wesentlich ein Wiedererzählen von bereits Erzähltem ist” (Warning 2009: 46). Folglich stand im Mittelalter anders als in der Neuzeit nicht das, WAS erzählt wurde, sondern WIE es erzählt wurde, im Vordergrund. Damit hängt auch ein völlig anderes Verständnis von Fiktionalität zusammen (vgl. Haug 2009; Primavesi 2009). Im Epos oder in der Sage war die Geschichte bereits im Vorfeld bekannt und das Interesse der Adressaten war auf die Aufführung und Wiedergabe gerichtet und nicht auf den Inhalt oder auf das, was wir heutzutage unter ‘Kreativität’ eines Textes verstehen. Der Leser eines Romans dagegen kennt im Idealfall seinen Ausgang nicht und dasselbe Sujet kann zu unterschiedlichen Ausgängen führen. In einem erweiterten Sinn kann der Begriff Fiktionalität, dessen Konturen bei aller Diskussion immer noch vage bleiben, laut Kellner (2009) auch auf die Historiografie übertragen werden. Dies ist eine wichtige Einsicht hinsichtlich der heranzuziehenden Texte, weil dadurch auch die lateinische Historiografie mit berücksichtigt werden kann - eine wichtige Quelle für den Diskursmodus des narrativen Erzählens. 78 Die aktuellen mediävistischen Debatten um Fiktion und Fiktionalität zeigen ein breites Spektrum von Positionen, das von der Vorstellung, Fiktionalität sei eine neuzeitliche Kategorie, die auf das Mittelalter zu übertragen immer schon einen Anachronismus bedeute, über die These von der Entdeckung der Fiktionalität im höfischen Roman Chrétiens bis zur Einsicht reicht, Fiktionalität habe es nicht nur seit der Antike gegeben, sondern sie sei auch seit der Antike, lange vor den traditionsgeschichtlich bedeutsamen Ausführungen bei Platon und Aristoteles, thematisiert und reflektiert worden. Versucht man sich historisch anzunähern und den Status mittelalterlicher literarischer Texte ausgehend von Isidor von Sevillas Differenzierung in historia und fabula sowie in res factae und res fictae zu bestimmen, so wird man rasch erkennen, daß Bestimmungen dieser Art die Komplexität der literarischen Praxis nicht einholen. In der Literatur wird ebenso auf historische Ereignisse und Fakten verschiedenster Art rekurriert, wie Fiktionen in der Historiographie eine Rolle spielen. (Kellner 2009: 175) Es ist wichtig, zwischen Fiktionalität als literaturwissenschaftlichem Begriff und Fiktion oder Imaginärem zu unterscheiden, die nicht spezifisch literaturwissenschaftliche Begriffe sind und die mit jeweils unterschiedlichen Prämissen und Fragestellungen ihren Platz in Disziplinen wie der Philosophie, der Anthropologie, der Psychologie, der Soziologie, der Theologie, aber eben auch unter anderem der Literaturtheorie haben (vgl. Warning 2009: 37). Unter Fiktion versteht man (1) das Sprechen über bestimmte Personen und Objekte so, als ob es diese gäbe, obwohl sie gar nicht existieren; (2) ein Sprechen darüber, dass ein bestimmter Sachverhalt zwischen existierenden anerkannten Personen oder Objekten besteht, obwohl dies nicht der Fall ist; (3) ein Sprechen, als ob man einen bestimmten Sachverhalt in einer bestimmten Weise präsentieren würde, obwohl der Sprecher dies gar nicht tut. (Gabriel 2007: 595) Die Fiktion beruht auf der kognitiven Fähigkeit der Einbildungskraft und die von ihr ausgelösten Emotionen bringen ihre Wirkung hervor (vgl. Gabriel 2007: 598). Unter Fiktion soll im Folgenden das Ergebnis einer kognitiven, auf Sprache basierenden Fähigkeit des Menschen verstanden werden, die es ihm ermöglicht, das Fiktive zu erschaffen. Fiktiv umfasst wiederum alles Erdachte, Erfundene und Vorgestellte, mit dem im Sinne eines Fingierens (‘als ob’) operiert wird. Deshalb sind fiktionale Texte von referentiellen Funktionen befreit und sie entfalten ihre Geltung jenseits der Frage nach der Referentialität ihrer propositionalen Gehalte (vgl. Kellner 2009: 176). Wenn Erzählungen nach der Prämisse des ‘als ob’ konstituiert werden, sprechen wir von Fiktionalität; sie ist das Ergebnis fiktionaler Sprechakte (vgl. Warning 2009: 40). Das Ergebnis jener fiktionalen Sprechakte ist ein Text, der sich von referentiellen Texten dadurch unterscheidet, dass er keinen eindeutigen Realitätsbezug aufweist beziehungsweise dass lediglich eine Zuordnung zu 79 einem außertextuellen Seinsbereich erfolgt, den der Sprachverwender setzt, ohne dass dieser eine Referenz in der Wirklichkeit haben muss. Fiktion, in Abgrenzung zu Fiktionalität, ist daher ein Anthropologikum, das skalierbar ist, denn ein Text kann mehr oder weniger fiktiv sein. Fiktionalität ist dagegen ein klassifikatorischer Begriff, der nicht komparativ verwendet werden kann (vgl. Kablitz 2009: 340). Ein Text ist fiktional oder er ist es nicht. Das Bewusstsein von Fiktionalität ist eng an das Aufkommen von Literalität und Schriftsprachlichkeit gebunden, denn durch die sprachzeichenvermittelten Erfahrungen ging die Dimension der unmittelbaren Präsenz verloren, welche für die orale mittelalterliche Literatur charakteristisch war (vgl. Oesterreicher 2009a: 79). Das Einfließen metaliterarischer Reflexionen in die fiktionale Welt, wodurch ihr fiktionaler Charakter betont wird, scheint ebenfalls an das Aufkommen von verschriftlichter Literatur gebunden zu sein. Ein wichtiger Meilenstein ist dabei ohne Zweifel jenes Werk, das für viele den ersten Roman im modernen Sinn darstellt: El ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha (Teil I 1605 und Teil II 1615) von Miguel de Cervantes. Cervantes’ Erzähler betont bereits im Prolog zum ersten Teil, in dem er sich an den „Desocupado lector“ 68 (Cervantes 1991: 50) wendet, dass er nicht der Tradition verfallen möchte, seinen Helden als makellos oder gar perfekt darzustellen. Außerdem appelliert er an den Leser, nicht das Bewusstsein dafür zu verlieren, dass zwischen dem Erzählten und der intradiegetischen Wirklichkeit und ihm als Entität in der realen Welt keinerlei objektive Verbindungen bestehen. Cervantes ist es wichtig, dass dem Leser bewusst ist, dass er es mit einem ‘so tun als ob’ zu tun hat, weswegen er schließlich frei über das Erzählte urteilen kann. Auch innerhalb des Werkes selbst bricht der Autor immer wieder die Illusion durch Kommentare des Erzählers, die sowohl die Materialität des Werkes als auch seinen erfundenen Charakter betonen. Von Fiktionalität im modernen Sinn, die stark durch das Aufkommen der Schriftlichkeit und die damit verbundenen Produktions- und Verbreitungsmöglichkeiten literarischer Werke geprägt ist, kann erst vergleichsweise spät gesprochen werden. Eine weitere wichtige Beobachtung bezüglich fiktionaler Texte ist, dass aktuelle Diskurse, für die Diskurstraditionen und Diskursuniversen im Sinn von Oesterreicher (2009b) den Rahmen bilden, ihre eigene Wahrheitstypik aufweisen und ihren spezifischen Realitätsbezug besitzen, weshalb man von „gestaffelten historischen Wirklichkeitsbezügen“ (Oesterreicher 2009a: 59) sprechen kann. Das Verständnis eines Textes erfolgt durch Vergleiche mit der realen Welt des Adressaten und selbst Abweichungen und Imaginiertes werden in Abweichung von der außertextuellen Realität konstituiert, ohne jedoch komplett den Bezug zu dieser zu verlieren. Anderenfalls wären 68 ‘Müßiger Leser! ’ (Cervantes Saavedra 1964: 23). 80 Bedeutungskonstitutionen nicht möglich. So interagieren in der Fiktionalität das Reale und das Imaginäre in einem Kontinuum zwischen „Irrealisierung von Realem“ und „Realwerden von Imaginärem“ durch Transgression der Ebenen (vgl. Warning 2009: 40). Die fiktionale Erzählung charakterisiert sich folglich durch einen ‘Fiktionsvertrag’, durch welchen der Text von der anderweitigen grundsätzlich geltenden Verpflichtung, eine außersprachliche Faktizität wiederzugeben, entbunden wird (vgl. Gumbrecht 2009: 233 und Kablitz 2009: 340). Schaeffer (2009: 98) ist in der Beobachtung zuzustimmen, dass deiktische Fiktionalität ein besonderes referentielles Zentrum aufweist. Diese gilt jedoch nicht exklusiv für fiktionale Texte, sondern ist ein allgemeines Charakteristikum schriftlich fixierter Texte. Deswegen kann für die Beschreibung von Tempus in narrativen Texten das Merkmal +F IKTIONALITÄT unberücksichtigt bleiben (entgegen Hamburger 1987 [1957]; Banfield 1982; 2002), wie bereits Vetters konstatiert (vgl. Vetters 1996: 198-199). Die hier vorgenommene Begrenzung der zu berücksichtigenden Texte auf Romane und Epen erweist sich dennoch als sinnvoll, da das Präsens als Erzähltempus im Roman einer funktionalen Erweiterung in ein Aufgabengebiet entspricht, das ihm zuvor durch konventionalisierte Diskursnormen untersagt war. Die Berücksichtigung von Epen ist erforderlich, da Fleischman (1990) in ihrem Erklärungsansatz für das ‘historische Präsens’, dem wohl am meisten rezipierten, Parallelen zwischen Epus und Roman zu erkennen glaubt. Fleischmann sieht Epos und Roman in einer Entwicklungslinie, weshalb sie das Präsens als Leittempus im modernen Roman als ein Reoralisierungsphänomen betrachtet. Die mangelnde Plausibilität und die Unzulänglichkeit dieses Erklärungsansatzes werden in Kapitel 9.1 näher erläutert. 5.1.2 Deixis und das Kommunikationsmodell im Roman In fiktionalen Erzählungen wie dem Roman werden Ereignisse in der gegenwärtigen Diskurswelt konstituiert, die niemals außerhalb der Welt des Sprechers (= diegetische Welt) stattfinden, zumindest nicht so, wie sie auf diegetischer Ebene stattfinden (vgl. Guéron 2008: 180-181, anders als Iatridou 2000). Daher müssen auch Autor und Erzähler 69 in ihrer Rolle als Enunziatoren notwendigerweise getrennt werden und das Kommunikationsmodell fiktionaler narrativer Texte ist immer ein gedoppeltes (siehe 69 Der Begriff Erzähler muss unmissverständlich von dem des Autors getrennt werden, da die beiden Instanzen einen unterschiedlichen ontologischen und funktionalen Status besitzen. So entspricht der Autor einer realen und empirisch wahrnehmbaren Person, während der Erzähler eine fiktive, vom Autor geschaffene Entität ist, die den Diskurs und die erzählte Welt vermittelt. So ist der Erzähler eine innerdiegetische Instanz, während der empirische Autor, welcher die genetische Verantwortung über den Erzähler trägt, unwiderruflich eine historische Entität bleiben wird, die sich sogar ideologisch und ästhetisch vom Text und seinem Inhalt distanzieren kann (vgl. Reis/ Lopes 2011: 257-258). 81 Abbildung 3). Außerdem kann nur so das Problem bezüglich der notwendigen Festlegung eines deiktischen Nullpunkts (t 0 ), welchen die Tempora als deiktische Kategorie erfordern, gelöst werden. Der Text schafft seinen eigenen situativen Rahmen durch die Konstitution der Sprechsituation, ausgehend von einem abstrakten deiktischen Nullpunkt. Die Ereignisse werden gegenüber diesem Nullpunkt unabhängig von der zeitlichen Lokalisierung des Autors oder des realen Lesers situiert, zumal Letzterer den Text in ganz unterschiedlichen Epochen rezipieren kann. Der deiktische Nullpunkt bleibt davon unberührt stabil und bildet den natürlichen Sprecherstandpunkt innerhalb der fiktionalen Welt: I CH - HIER - JETZT , was immer und gleichbleibend dem Standort des Erzählers und der Sprechzeit entspricht. Der Erzähler kann analog zu alltäglichen Kommunikationssituationen das Erzählte und die diegetische Welt aus unterschiedlichen Perspektiven und von einem abweichenden Standpunkt gegenüber dem Erzählerstandpunkt aus betrachten, im Sinn einer Origo-Spaltung und einer Dislokation des Betrachters. Abbildung 3 - Strukturmodell (fiktionaler) narrativer Kommunikation 70 70 Das hier entworfene Kommunikationsmodell im Roman baut auf das von Weich erarbeitete Strukturmodell lyrischer Kommunikation auf (vgl. Weich 1998: 42). Die Terminologie aus der Narratologie ist weitestgehend von Genette (2010) übernommen. Das Modell wurde an die Erfordernisse einer linguistischen Beschreibung der zugrunde liegenden Kommunikation angepasst. Dies entspricht einer Vereinfachung gegenüber den in der Literaturwissenschaft entworfenen Modellen, da diese oftmals die kommunikativen Ebenen aus pragmatisch-interpretatorischen Gründen erweitern. Diese erweisen sich jedoch für eine linguistische Beschreibung der kommunikativen Struktur als vernachlässigbar. Auch kann hier nicht auf die Problematik einer linearen Darstellung und Integration von Instanzen auf diversen Ebenen (Autor/ realer Leser und Erzähler/ virtueller Leser) eingegangen werden. Diese Problematik angesichts moderner kognitiver Ansätze zu erörtern bleibt ein wichtiges Forschungsdesiderat der Narratologie. 82 Die Kommunikation im Roman entfaltet sich folglich zwar einerseits zwischen dem realen Autor und dem realen Leser, anderseits jedoch aus textimmanenter Sicht primär zwischen dem Erzähler und dem idealen (fiktionalen) Leser - eine imaginierte Identität, welche der Autor sich beim Verfassen seines Werkes als Adressaten vorstellt. Diese Doppelung ist aus textinterpretatorischen und hermeneutischen Gründen erforderlich, da der Autor im Rahmen des Schaffens eines fiktionalen Werkes Positionen und Rollen durch die Mittlerinstanz des Erzählers beziehen kann, die nicht seinen realen entsprechen. Und das Werk muss auf einen idealtypischen Leser ausgerichtet werden, den der Autor beim Verfassen seines Werkes vor Augen hat, der jedoch nicht mit dem ‘realen Leser’ übereinstimmen muss. Anhand der textuellen Integration von Darstellungen der Wirklichkeit lässt sich ebenfalls nichts zum fiktionalen Charakter eines Textes sagen. Vor allem sei an dieser Stelle an die hybriden narrativen Texte gedacht, die reale und fiktionale Elemente vermischen und verschmelzen lassen. Es ist somit in Anlehnung an Searle (1982: 109) festzuhalten, dass es weder eine objektive semantische noch eine objektive syntaktische Texteigenschaft gibt, die es ermöglichen würde, einen Text als fiktional zu identifizieren. Vielmehr determinieren folglich die Positionierung des Autors auf der Ebene der Illokution und seine Absicht, einen Text auf der Grundlage einer erfinderischen Haltung zu konstruieren und dazu eine fiktionale Welt zu modellieren, den fiktionalen Charakter eines Textes. Das definierende Merkmal der fiktionalen Erzählung in der modernen Narratologie ist die Abweichung des Erzählten von der historischen und außersprachlichen Realität. Man spricht jedoch selbst bei Romanen, denen eine wirkliche historische Vorlage zugrunde liegt (Beispiel: historische Romane mit historischen Figuren, wie Pelágio in Eurico, o Presbítero (1844) von Alexandre Herculano oder D. Pedro in O Arco de Sant’Ana (1845-1850) von Almeida Garrett, wo auch der historische Ort Porto möglichst wirklichkeitsgetreu dargestellt wird), bei autobiografischen Romanen (Crazy (1999) von Benjamin Lebert) oder bei Romanen nach wahren Geschehnissen (A Estrela de Joana (2007) von Paulo Pereira Cristóv-o) von Fiktionalität, da die Ereignisse, die der Geschichte zugrunde liegen, immer durch die Darstellung und Selektion einer Erzählinstanz gefiltert werden. Das heißt, bei vielen auf wahren Gegebenheiten basierenden Romanen liegt dennoch Fiktionalität auf der Ebene des Soseins oder der Präsentation vor. Diese ‘Freiheit’ beruht meistens auf der ‘Vereinbarung’ zwischen Autor und Rezipienten, die in anderen kommunikativen Zusammenhängen herrschenden Verifikationsbedingungen ‘auszuschalten’, was - sofern den Beteiligten der Spielcharakter bewusst ist - den pragmatischen Rahmen der Geltungsansprüche festlegt (vgl. Kellner 2009: 177). In dem neuzeitlich ausdifferenzierten System ‘Literatur’ ist dieser pragmatische Rahmen schon durch die Zugehörigkeit eines literarischen Textes zu einer literarischen Gattung, wie etwa dem Roman, gesetzt. Texte jener Diskurstradition können folglich ihre 83 Fiktionalität exponieren, müssen es aber nicht, da der Status der Fiktionalität über die pragmatischen Vorannahmen bestimmt ist (vgl. ebd.). Das Spezifikum des Romans als fiktionales Werk liegt in seiner Möglichkeit der sprachlichen Formung und der erzählerischen Gestaltung eines Stoffes, einer Geschichte (vgl. Stanzel 1993: 5). Dennoch wird eine Auffassung des Romans oder der Kurzerzählung als grundsätzlich fiktionale Texte in der Narratologie und in der texthermeneutischen Diskussion durchaus kontrovers betrachtet. Aus dem Dargestellten ergibt sich, dass die Fiktionalität eines Textes konventionell ist und kontraktuell zwischen Autor und Rezipienten festgelegt wird. Der deiktische Nullpunkt wird im fiktionalen narrativen Text innerhalb desselben über die Instanz des Erzählers festgelegt. Deshalb charakterisiert sich diese Diskurstradition durch ein lediglich textimmanentes referenzielles System, ohne die Notwendigkeit eines Bezugs zur Außenwelt. Es gibt angesichts der hier entfalteten Betrachtungen keinen Grund zur Annahme, die Tempora hätten in fiktionalen Texten ihre temporale Bedeutung verloren, wie sie Hamburger (1987 [1957]) in die Diskussion der Tempusstruktur fiktionaler Romane einbringt. 5.2 Tempusgebrauch und Perspektive in fiktionalen Erzählungen Seit der Arbeit von Käte Hamburger (1987 [1957]) ist in der Tempusforschung die Meinung weit verbreitet, Tempora würden eine Art abweichende Semantik in fiktionalen Erzählungen aufweisen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die klassischen fiktionalen narrativen Texte eine andere temporale Konstitution besitzen und die Tempusdistribution eine andere als in den alltäglichen Erzählungen ist (vgl. Costa e Sousa 2007: 113-116; Kielhöfer 1997: 121-125, 128). Es stellt sich jedoch die Frage nach den Implikationen auf semantischer Ebene. Hamburger kommt ausgehend von der Beobachtung der Kombinierbarkeit von Präteritum mit zukunftsbezogenen Temporaladverbialien (Morgen war Weihnachten.) (Hamburger 1987: 71) zu dem Schluss, dass das Präteritum in fiktionalen Erzählungen seine grammatische Bedeutung aufgebe und Zeitlosigkeit bezeichne (vgl. Hamburger 1987: 64- 78). Diese Ansicht kritisiert Zeman (2010: 54) zu Recht als simplizistisch, da sie auf einem Konzept von Tempus als Ausdruck der zeitlichen Lokalisierung der Handlung in Hinblick auf eine konkrete prototypische Sprechzeit basiert. Das erweist sich jedoch für schriftliche Texte insgesamt als unzureichend (vgl. Kapitel 4.2.2). Darüber hinaus unterläuft Hamburger der Fehler, eine „fiktive Gegenwärtigkeit des Erzählten“ anzunehmen, die durch Vergangenheitstempora ausgedrückt wird, und sie unterscheidet nicht zwischen dem imaginären und dem realen Kontext der fiktionalen Rede. 84 Eine Erklärung für die lange Dominanz der Vergangenheitstempora (Präteritum in den germanischen Sprachen und Perfekt/ Imperfekt in den romanischen Sprachen) als Erzähltempora ist unter Berücksichtigung ontogenetischer Aspekte von Fiktionalität (vgl. Kapitel 5.2) und vor dem Hintergrund der jeweiligen Diskursnorm (vgl. Kapitel 9.2) zu erklären. Bei aller Kritik an Hamburgers Werk findet jedoch ihre Forderung nach der Notwendigkeit einer eigenen Grammatik des fiktionalen Erzählens 71 breite Akzeptanz. Dies spiegelt sich in den zahlreichen Arbeiten, die auf Hamburgers Untersuchung aufbauen, darunter die ‘Tempusbibel’ Tempus: Besprochene und Erzählte Welt von Weinrich (1964), der mit seiner Aufteilung in ‘besprochene’ und ‘erzählte’ Welt Hamburgers Thesen aufgreift und radikalisiert. 72 Der Gebrauch des Präsens als Leittempus der fiktionalen Erzählung erweist sich im Deutschen sowie in den anderen hier berücksichtigten Sprachen als markiert. Dagegen würde eine Erzählung in den klassischen Erzähltempora Präteritum in den germanischen Sprachen beziehungsweise Perfekt/ Imperfekt in den romanischen Sprachen der unmarkierten Form entsprechen, obwohl es sich aus morphologischer Sicht um markierte Formen handelt. Um diese Vergangenheitstempora als unmarkierte Grundtempora der fiktionalen Erzählung zu verstehen, muss ‘Markierung’ im weiten Sinn als ‘auffällig’ oder ‘abweichend’ im Gebrauch gegenüber der etablierten (Diskurs-)Norm gefasst werden, unabhängig von der morphologischen Markierung. 73 In diesem Sinn kann man das Präteritum als unmarkiertes Grundtempus des fiktionalen narrativen Textes postulieren, da es im Deutschen und im Englischen auf der Ebene der Norm als Erzähltempus konventionalisiert ist. In den romanischen Sprachen übernimmt das Zusammenspiel aus Perfekt und Imperfekt diese Funktion. 71 Hamburger geht zum Beispiel von der Zeitlosigkeit der Fiktion aus und kommt zu dem Schluss, dass wir in der fiktionalen Erzählung „[...] die präteritiv geschilderte Handlung nicht als eine vergangene, das aber heißt als eine wirkliche, sondern eine fiktiv >gegenwärtige<, d.h. nicht-wirkliche, erleben“ (Hamburger 1987: 85). 72 Weinrich sieht in seiner Kategorisierung der Tempora eine Unterscheidung in der Sprechhaltung gegenüber dem Gesagten, welche seiner Ansicht nach die Tempusdistribution motiviert (vgl. Weinrich 2001: 39-40). Im Gegensatz zu Hamburger (1987), derzufolge das Präteritum im Deutschen unter bestimmten Bedingungen seinen temporalen Wert aufgibt und zum Tempus der Fiktion wird, haben laut Weinrich Tempora Signalfunktionen, die sich als „Informationen über Zeit nicht adäquat beschreiben lassen“ (Weinrich 2001: 39). Weinrich relativiert somit die temporale Bedeutung der Verben als eine unter mehreren Funktionen. 73 Es ist natürlich fraglich, ob das Präteritum oder das Imperfekt/ Perfekt noch die Norm bilden oder ob das Präsens und im Fall des Französischen sogar das passé composé angesichts der weiträumigen Verbreitung zur Diskursnorm der Diskurstradition Roman gerechnet werden müssen. Der Widerstand gegenüber dem präsentischen Erzählen ist jedoch in dieser klassischen und lange Zeit dominanten Diskursnorm begründet. Die Leserbefragungen, die Gegenstand von Kapitel 10.3 sind, bestätigen, dass diese Norm immer noch im Sprachgefühl der Sprechergemeinschaft verankert ist. 85 (39) Nous étions Imp. à l’étude quand le Proviseur entra Perf. . ‘Wir hatten Arbeitsstunde, als der Direktor hereinkam.’ (Flaubert 2013 [1857], 5 gekürzt) Die Alternierung zwischen den beiden Tempora in den romanischen Sprachen lässt sich durch die aspektuelle Opposition zwischen einem perfektiven Vergangenheitstempus (Perfekt) und einem imperfektiven Vergangenheitstempus (Imperfekt) erklären. 74 The imperfect is said to express imperfective aspect, meaning that the denoted situation is presented without its boundaries, whereas the aorist is said to express perfective aspect, meaning the situation is presented „as a whole“, with its boundaries. (De Mulder 2010: 163) Es handelt sich dabei bekanntlich um eine Opposition, welche die germanischen Sprachen nicht aufweisen. So kodiert in den romanischen Sprachen das Imperfekt Innenperspektive und das Perfekt Außenperspektive auf vorzeitige Ereignisse, wie in Kapitel 4.3 herausgearbeitet wurde. Durch die Betrachtung perfektiver Ereignisse als nonadditiv und unteilbar erscheinen die Verbalereignisse im Perfekt in den romanischen Sprachen als konturiert und bilden daher den Vordergrund. Dagegen stellt die durch das Imperfekt ausgedrückte Innenperspektive Verbalereignisse als hintergrundiert dar und lässt sie durch ihre anaphorische Referenzialität auf ein perfektives Verb, das die Referenzzeit festlegt, als kotemporal neben jenen Ereignissen, auf die die Aufmerksamkeit gerichtet ist, erscheinen (Beispiel 39) (vgl. Weinrich 2001: 117). Auch die Handlungsprogression ist ein Ergebnis des abgeschlossenen Charakters der perfektiven Verbalvorgänge, der die Festlegung einer neuen Referenzzeit veranlasst. Dadurch verortet der Betrachter die Referenzzeit neu und so schreitet die Handlung voran. In Beispiel (40), einer Passage aus dem realistischen Roman Os Maias (1888) von Eça de Queirós, wird die narrative Progression durch die Verben im Perfekt erzeugt, die den Standort des Betrachters aktualisieren (sair, cruzar, refugiar, fixar, saltar, repicar, ir, deitar). Auf die Ereignisse, die im perfektiven Vergangenheitstempus ausgedrückt werden, blickt der Erzähler aus einer Außenperspektive in vollem Umfang. Dadurch werden diese Ereignisse gegenüber den kotemporalen, additiven Verbalvorgängen abgehoben. Kotemporalität wird durch Gerundium (sentindo), Infinitiv (sentir [ao 74 Manche Autoren bevorzugen es, von einer Selektionspräferenz zu sprechen: „[...] an imperfect will strongly prefer imperfective interpretations in the contexts in which it contrasts with the preterite [...]“ (Laca 2010: 199). Laca zieht daraus den Schluss, das Imperfekt sei im Spanischen aspektneutral, unterliegt bei dieser Einschätzung jedoch dem Fehlschluss, markierte, gesondert zu erklärende Formen mit in die Regel der Systematik der Tempusverteilung aufnehmen zu wollen. Es gibt jedoch gute Gründe dafür, jene abweichende Formen im Rahmen der zugrunde gelegten Tempustheorie zu erklären und als markierte Verwendungen zu klassifizieren, anstatt dem Imperfekt die Bedeutung der aspektuellen Komponente absprechen zu wollen. Diese aspektuelle Opposition weist bereits das Lateinische auf (vgl. Oldsjö 2001: 50). 86 sentir; Präposition ‘als’ + bestimmter Artikel + Infinitiv]) oder Imperfekt (entrava, havia, parecia, distinguia, pendia) ausgedrückt. Bei den Verbalvorgängen im Imperfekt fällt besonders auf, dass man nicht genau angeben kann, welche die Randgrenzen des in einen Verifikationsprozess einzubeziehenden Auswertungsintervalls sind. Angesichts dieses Mangels an referentieller Autonomie kann das Imperfekt immer nur vor einem expliziten sprachlichen Kontext adäquat gewertet werden − eine gesamtromanische Eigenschaft des Imperfekts (vgl. Becker 2010b). In Que havia de fazer? ist das Imperfekt durch die erlebte Rede zu erklären, in der Präsens zu Imperfekt wird. Handlungen, die den beschriebenen Ereignissen zeitlich vorausgegangen sind, werden im (analytischen) Plusquamperfekt wiedergegeben (tinha escrito). Das Konditional (teria, seria) wird als Futur der Vergangenheit verwendet, das heißt, um Verbalhandlungen nachzeitig zur Referenzzeit, jedoch vorzeitig zur Sprechzeit zu verorten. Der Betrachter befindet sich durch das double displacement, das Tempora veranlassen, vorzeitig zur Sprechzeit verortet. (40) Apenas Carlos saiu Perf. , Ega cruzou Perf. os braços desanimado, descoroçoado, sentindo Ger. bem que n-o teria Kond. coragem nunca de «dizer Inf. tudo». Que havia Imp. de fazer Inf. ? ... E de novo, insensivelmente, se refugiou Perf. na ideia de procurar Inf. o Vilaça, entregar Inf. -lhe o cofre da Monforte. N-o havia Imp. homem mais honesto, nem mais prático; e, pela mesma mediocridade do seu espírito burguês, quem melhor para encarar Inf. aquela catástrofe, sem paix-o e sem nervos? E esta «falta de nervos» do Vilaça, fixou Perf. -o definitivamente. Saltou Perf. ent-o da cama, numa impaciência, repicou Perf. a campainha. E enquanto o criado n-o entrava Imp. , foi Perf. , com o robe-de-chambre aos ombros, examinar Inf. o cofre da Monforte. Parecia Imp. , com efeito, uma velha caixa de charutos, embrulhada Part. num papel de dobras já sujas e gastas, com marcas de lacre onde se distinguia Imp. uma divisa que seria Kond. decerto a da Monforte - Pro amore. Na tampa tinha escrito PP , numa letra de mulher mal ensinada - Monsieur Guimaran, à Paris. Ao sentir Inf. passos, do criado, deitou Perf. -lhe por cima uma toalha, que pendia Imp. ao lado, numa cadeira. (Queirós 1997 [1888]: 605; Hervorhebungen B.M. 75 ) ‘Sogleich als Carlos den Raum verließ, kreuzte Ega die Arme enttäuscht und entmutigt und spürte, dass er niemals den Mut haben würde „alles zu sagen“. Was sollte er bloß machen? (...) Und wieder einmal verkroch er sich gefühllos in dem Gedanken, Vilaça aufzusuchen und ihm das Schatzkästchen von Monforte zu überreichen. 75 Die recte-Setzungen entsprechen Kursivierungen im Original. 87 Es gab keinen ehrlicheren Menschen, noch einen praktischeren, und aufgrund derselben Mittelmäßigkeit seines bürgerlichen Geistes, wer wäre wohl geeigneter um jener Katastrophe in die Augen zu blicken, ohne Leidenschaft und Nerven? Und dieser „Mangel an Nerven“ von Vilaça fixierte ihn endgültig. Daraufhin sprang er vom Bett und läutete ungeduldig die Glocke. Während der Diener noch nicht das Zimmer betrat, ging er mit seinem robe-de-chambre über den Schultern das Schatzkästchen von Monforte betrachten. Es sah eigentlich wie eine alte Zigarrenschatulle aus, eingewickelt in ein Papier mit schmutzigen, abgenutzten Faltknicken, mit Rückständen von Siegellack, auf dem man eine Devise erkennen konnte, die bestimmt jene von Monforte war - Pro amore. Auf dem Deckel war in einer schlecht erlernten Frauenschrift geschrieben - Monsieur Guimaran, in Paris. Als er die Schritte des Dieners vernahm, legte er ein Handtuch darüber, das seitlich an einem Stuhl hing.’ Im letzten Satz des Beispiels wird die Determinierung der Perspektive und des Fokus auf die Verbalhandlungen durch Tempus sehr deutlich. Im Vordergrund steht die Handlung des Versteckens des Schatzkästchens. Die Handlung wird folglich durch Außenperspektive fokussiert (deitou - Perfekt), während die Tatsache, dass das Tuch über dem Stuhl hing (pendia − Imperfekt), den bloßen Rahmen bildet und für die Handlung nur sekundär von Bedeutung ist, nämlich um zu erklären, woher das Tuch stammt. Folglich werden die Konturen/ Grenzen der Handlung pender nicht fokussiert und die Handlung wird zeitlich in der perfektiven Handlung verankert, an die sie temporal anaphorisch gebunden ist. Da keine temporale Progression stattfindet, ist auch keine narrative Progression zu verzeichnen. Die Handlungen sind kotemporal. Dass durch das aspektuelle Oppositionspaar Imperfekt-Perfekt in den romanischen Sprachen Perspektive ausgedrückt wird, wird besonders evident, wenn man die Verwendung des Temporaladverbials mitberücksichtigt. Temporaladverbialien, die nach Diewald (1991: 199) im textphorischen Zeigemodus verwendet werden, also von der Origo des Betrachters und nicht direkt von der Sprechzeit aus gerechnet werden, werden herangezogen, wenn der Erzähler das Verbalereignis aus einer Innenperspektive betrachten möchte, aber die Handlung beziehungsweise die Erzählung dennoch voranschreitet. So wird in Beispiel (41) ein Beschluss gefasst und umgesetzt. Dass das Beschlossene gemacht wird und dass Tomás in das Dorf zurückkehrt, wird im Perfekt ausgedrückt. Dadurch wird der abgeschlossene Charakter der Handlung fazer ‘machen’ (imperfektiver Verbalcharakter) und der Handlung voltar ‘zurückkehren’ (perfektiver Verbalcharakter) betont. Die Lokalisierung des Dorfes, die mit den vordergrundierten Verbalhandlungen kotemporal ist, drückt eine Allgemeingültigkeit zur Referenzzeit aus und stellt eine Hintergrundinformation dar; folglich wird die Lokalisierung im Imperfekt durch ein additives Verb 88 ausgedrückt, also eines mit inhärenter imperfektiver Aspektualität. Das Auftreten der Figur Tomás im Dorf ist hingegen ein punktuelles Ereignis, kodiert durch ein nonadditives Verb (aparecer ‘erscheinen’), das jedoch durch die Selektion des imperfektiven Aspekts als teilbar perspektiviert wird. Angesichts der eingenommenen Innenperspektive dient das Temporaladverbiale dazu, die aus rein logischen Gründen notwendige narrative Progression zu erzeugen und eine neue Referenzzeit festzulegen, was diesem Fall kotextuell geschieht. (41) E assim se fez Perf. . Tomás voltou Perf. à aldeia (que ficava Imp. a uns dez quilómetros da nossa) e algum tempo depois aparecia Imp. com uma extraordinária carrada de gente. (Ferreira 2002 [1959]: 18; Hervorhebungen B.M.) ‘Und es wurde auch so gemacht. Tomás kehrte ins Dorf zurück (das circa 10 Kilometer von unserem Dorf entfernt war) und erschien einige Zeit später mit einem außergewöhnlichen Haufen an Menschen.’ Das Zusammenspiel von Vordergrundierung, narrativer Progression und temporalen Verkettungen illustriert die Beschreibung des gemeinsamen Abendessens in Apariç-o (1959) von Vergílio Ferreira in Beispiel (42). Zunächst wird der Tisch im Imperfekt beschrieben. Das Ausziehen des Tischs (esticar) wird durch die Verwendung des Plusquamperfekts vorzeitig zur beschriebenen Szene lokalisiert. Die gesamte Beschreibung des Abendessens erfolgt ebenfalls als Rückblick im Zusammenspiel von Perfekt und Imperfekt als vorzeitig gegenüber der Sprechzeit. Angesichts der Nicht-Konturiertheit der Verbalereignisse durch die Selektion des Imperfekts ist lediglich eine Verortung als kotemporal zu jenen Ereignissen, die fokussiert werden, möglich. Die Festlegung des Perspektivenpunkts erfolgt durch das Perfekt des Verbs ficar, ein Verb mit perfektivem Verbalcharakter, das die Bewegung der Referenzzeit von der Betrachtung und der Beschreibung des zu großen Tischs hin zum Szenario jenes konkreten Abendessens auslöst. Die darauffolgende Beschreibung in (42) betrifft das Abendessen und wird durch die Verwendung des Imperfekts kotemporal zur Handlung des Sitzens am Tischende von Ana und ihrem Mann situiert. Da die Verbalhandlung unter Einbezug der boundaries des Ereignisses als Ganzes aus einer Außenperspektive fokussiert wird (perfektiver Aspekt), gewinnt diese an Salienz und nimmt eine Vordergrundposition ein. 89 (42) A mesa era Imp. excessivamente grande para quatro pessoas. Possivelmente tinha Imp. tabuleiros corrediços e Ana esticara PP -os até ao tamanho maior. Aos topos ficaram Perf. ela e o marido. Chico e eu aproximadamente ao meio, mas n-o frente a frente, de modo que os talheres n-o desenhavam Imp. bem um losango: Chico ficava Imp. mais perto de Alfredo e eu de Ana. A sala era Imp. enorme, com uma frialdade de grandes muros de sombra, e, apesar dos radiadores eléctricos, eu sentia Imp. -me arrepiado de nudez. Comíamos Imp em silêncio, com um tinir árido de talheres. Enchíamos Imp. a colher, parávamos Imp. como se a sopesássemos Imp. Konj. , engolíamos Imp. . Alfredo espalhava Imp. por sobre a mesa uma torrente de palavras, mas n-o nos atingiam Imp. , como a agitaç-o da superfície a uma profundeza. (Ferreira 2002 [1959]: 105; Hervorhebungen B.M.) ‘Der Tisch war viel zu groß für vier Personen. Vermutlich hatte er ausziehbare Elemente, die Ana ausgezogen hatte, um den Tisch länger zu machen. An den Enden des Tisches saßen ihr Mann und sie. Chico und ich ungefähr in der Mitte, jedoch nicht einander gegenüber, sodass das Besteck keinen richtigen Rhombus bildete: Chico war näher an Alfredo und ich an Ana. Das Zimmer war riesig, mit der Kühle großer Schattenwände, und trotz der Heizkörper schauderte es mich wegen der Kargheit. Wir aßen schweigend, begleitet durch ein trockenes Klirren des Bestecks. Wir füllten den Löffel, stoppten, als würden wir ihn abmessen, und schluckten herunter, während Alfredo über den Tisch einen Wortschwall verbreitete, der uns jedoch nicht berührte, ähnlich wie die Wellen an der Oberfläche die Tiefe.’ Im Deutschen, wo diese aspektuelle Opposition nicht zur Verfügung steht, wird narrative Progression durch Temporaladverbialien (dann, erst dann in Beispiel 43), durch syndetische (und in Beispiel 43 und 44) oder durch asyndetische Reihungen markiert, bei der Erzählthema und Erzählrhema durch lineare Abfolge im Satz kodiert sind (siehe auch besonders (2) in Beispiel (44)). (43) Als sie es dann wagten Prät. [= ‘den Blick zu heben und sich in die Augen zu sehen’, Anm. B.M.], verstohlen Prät. erst und dann ganz offen, da mussten Prät. sie lächeln. Sie waren Prät. außerordentlich stolz. Sie hatten zum ersten Mal etwas aus Liebe getan PP . (Süskind 1994 [1985]: 320) (44) (1) Grenouille stand Prät. auf dem Podest und hörte Prät. nicht zu. (2) Er beobachtetete Prät. mit größter Genugtuung die Wirkung eines ganz anderen Fluidums, eines viel realeren: seines eigenen. (3) Er hatte sich, den räumlichen Erfordernissen der Aula entsprechend, sehr stark parfümiert PP , und die Aura seines Duftes strahlte Prät. , kaum daß er das Podium bestiegen hatte PP , mächtig von ihm ab. (Süskind 1994 [1985]: 203) Die Beispiele zeigen: Es liegen zwei unterschiedliche Diskurstypen im Deutschen und in den romanischen Sprachen vor (vgl. Abraham 2007, 2008a; Abraham/ Conradie 2001), weil das Deutsche nicht über die Perfekt- 90 Imperfekt-Opposition verfügt, die eindeutig textstrukturierende Markierungen von Vordergrund und Hintergrund vornehmen kann. Eine weitere Einsicht aus den angestellten Betrachtungen ist die Tatsache, dass Ereignisse, die vorzeitig zur Referenzzeit stattgefunden haben, ebenfalls durch Plusquamperfekt vorzeitig verortet werden (44) und das Präteritum als Referenzzeit haben. Die ist ein wichtiges Argument für den Beibehalt des temporalen Werts der Tempora in fiktionalen Erzählungen (entgegen Banfield 1982, 2002; Hamburger 1987 [1957]). Die Gültigkeit des Präteritums beziehungsweise des vergangenheitsbezogenen aspektuellen Paars Perfekt-Imperfekt in den romanischen Sprachen als Grundtempora der Erzählsubstanz ist auf die Gattung der fiktionalen Erzählung beschränkt. Denn in der Lyrik (vgl. Aguiar e Silva 2002: 586) und im Drama (vgl. Pfister 2001: 359ff.) entspricht das Präsens dem unmarkierten Tempus im Sinne eines Grundtempus, was durch unterschiedliche Perspektivierungsmuster zu erklären ist. Dagegen stellt das Präsens als Leittempus im Roman einen massiven Umbruch dar, sowohl was die kodierte Perspektive als auch was das Textmuster anbelangt. Die Präsensdominanz im Drama ist durch die Wahl des Diskursmodus determiniert und insofern nicht überraschend, als auch in Romanen mit Vergangenheitstempora als Erzähltempora die dialogischen Passagen im Präsens wiedergegeben werden. Durch die Integration in der Erzählung wird deren zeitliche Verortung durch den Ko- und Kontext determiniert, in der sich die (fiktionale) kanonische Kommunikationssituation auf intradiegetischer Ebene entfaltet. Der figurale Sprecher dient in dialogischen Passagen als Zentrum der deiktischen Referenz, wodurch wir es mit einer verschobenen Referenz zu tun haben. (45) Nunca mais recobrou Perf. por inteiro a saúde. Abel, quando veio Perf. à casa da Vessada, de surpresa, escondendo Ger. o desejo de a ver com o pretexto de uma viagem pelas proximidades, penalizou Perf. -se bastante. - Vem Pr. comigo - disse Perf. -lhe. - Na cidade podes Pr. tratar-te. Lá há Pr. mais recursos. - Estive Perf. mal, mas agora isto é Pr. só velhice! (Bessa-Luís 2002 [1953]: 188) ‘Sie erholte sich nie wieder vollständig. Abel, als er überraschend in die casa da Vessada kam, verheimlichte seine Sehnsucht, sie zu sehen, unter dem Vorwand einer Reise in der Umgebung und verspürte tiefes Mitleid. − Komm mit mir - sagte er ihr. - In der Stadt kannst du dich behandeln lassen. Dort gibt es mehr Möglichkeiten. − Ich bin krank gewesen, aber das jetzt sind bloß Alterserscheinungen! ’ In Beispiel (45) erfolgt die Erzählung im Perfekt, die Dialoge, die sich innerhalb des betrachteten Zeitintervalls abspielen, sind hingegen präsentisch − 91 außer wenn die Figuren über vorzeitige Zeitintervalle sprechen, wie die Perfektform estive in der Rede von Quina belegt. Das Kranksein der Protagonistin Quina ist, wie durch ihre Tempuswahl markiert wird, vorzeitig gegenüber der sich zwischen Quina und Abel entfaltenden (fiktionalen) kanonischen Kommunikationssituation. Die dadurch entstehende Opposition zwischen ‘origo-inklusiv’ in dialogischen und ‘origo-exklusiv’ in nichtdialogischen Passagen ist der Grund, weshalb es so wichtig ist, eben zwischen ‘dialogischen’ und ‘nicht-dialogischen’ Passagen in Romanen zu unterscheiden (vgl. Zeman 2010), auch wenn erstere nicht mit ‘gesprochener Sprache’ gleichgesetzt werden dürfen (vgl. Goetsch 1985). Während die ‘nicht-dialogischen’ Passagen durch eine Entbindung von der Kommunikationssituation geprägt sind, zeigen sich die Dialoge dadurch charakterisiert, dass ein Bezug auf das ‘Hier und Jetzt’ des Sprechers fingiert wird [...]. (Zeman 2010: 39) Die direkte Rede in dialogischen Passagen im Roman und in figuralen Reden im Drama weisen Situationsbezug zu einer Ich-Origo auf, bei der man im Dialog, im Monolog (vgl. Maingueneau 2000: 129) sowie auch bei der prototypischen gesprochenen Sprache innerhalb der kanonischen Kommunikationssituation vom Sprecher als referenzielles deiktisches Zentrum ausgeht (vgl. Zeman 2010: 33). Dialog und ‘Mündlichkeit’ weisen folglich eine vergleichbare Setzung der Sprecher-Origo innerhalb des deiktischen Systems auf, was die temporale, lokale und personale Deixis betrifft (vgl. ebd.). 5.3 Zusammenfassung: Die Besonderheiten des (fiktionalen) narrativen Textes im Hinblick auf Tempusbeschreibungen Der Roman entspricht einer fiktionalen narrativen Diskurstradition, die das Ergebnis einer Weiterentwicklung des Epos und begünstigt durch das Aufkommen von Schriftlichkeit und der damit verbundenen Änderung der Auffassung von literarischer Fiktionalität ist. Da der Roman letztlich das Epos ersetzt hat, handelt es sich um zwei unterschiedliche Diskurstraditionen, wobei sich der Roman aus dem Epos heraus entwickelt. Beide Textgattungen können daher in den Entwicklungspfad einer Diskursdomäne des ‘fiktionalen narrativen Erzählens’ eingeschrieben werden. Die Unterteilung in zwei Diskurstraditionen ist durch tiefgreifende strukturelle, textpragmatische, syntaktische und semantische Unterschiede motiviert. Als Text ist der Roman ein sprachliches Konstrukt, in dem eine Welt geschaffen wird, die keine Entsprechung in der außersprachlichen Wirklichkeit haben muss, und er charakterisiert sich in der Regel aus pragmatischer Sicht durch ein ‘so tun als ob’. Selbst wenn Überlagerungen zwischen der außersprachlichen Wirklichkeit und der diegetischen textimmanenten Welt 92 vorliegen, gibt es in der Regel auch Abweichungen. So ist beispielsweise der Blickwinkel, der auf die diegetische Welt geworfen wird, durch den Erzähler determiniert und gelenkt. Der Erzähler muss dabei weder figural sein, noch darf er als eine notwendigerweise physische Entität missverstanden werden. Das Charakteristische am fiktionalen Text ist, dass er seine eigene Binnenpragmatik konstituiert, unabhängig von der Pragmatik der Kommunikation zwischen realem Autor und Leser. Deswegen muss für den Roman ein doppeltes Kommunikationsmodell angesetzt werden. In diesem Kapitel wurde dargestellt, dass Tempora weder in gewissen Diskurstraditionen noch im Zusammenhang mit dem fiktionalen Charakter des Erzählten ihren temporalen Wert aufgeben (entgegen Hamburger 1987 [1957]; Banfield 1982). Das Präteritum entspricht im Englischen und im Deutschen dem unmarkierten Erzähltempus im Roman. In den romanischen Sprachen hingegen ist das aspektuelle Paar Imperfekt/ Perfekt das unmarkierte Erzähltempus. Dies ist jedoch nicht auf einen Verlust der temporalen Werte der jeweiligen Tempora zurückzuführen, sondern durch die Auffassung von Fiktionalität und durch die Genese des Begriffs zu erklären. So glaubten die Menschen in primär mündlichen Kulturen noch an die Wahrheit des Inhalts von Sagen und Epen beziehungsweise die Texte wurden so gestaltet, dass von den Rezipienten erwartet wurde, dass sie an die ‘Wahrheit’ des Inhalts glaubten (vgl. Primavesi 2009). Die Perspektive drückte zunächst tatsächlich temporale Distanz aus, da die ‘Geschichte’ als etwas aufgefasst wurde, das irgendwo irgendwann einmal stattgefunden hatte. Mit dem Aufkommen der Schriftlichkeit verlor der Text seine unmittelbare Präsenz, die für die Aufführung durch epische Sänger charakteristisch war (vgl. Müller 2003). Das Konzept der diegetischen Welt blieb jedoch lange das des Epos, in dem die Erzählung ein geschlossenes Ganzes war, das eine Geschichte retrospektiv betrachtet wiedergibt. Dies ist jedoch rein konventionell, da der narrative Text wie jeder schriftliche Text sein eigenes abstraktes Referenzsystem konstituiert und sich erzählte Zeit und Erzählzeit zumindest fiktional überlappen können (narratives Präsens). Dies geschieht durch den Zusammenfall von Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit, was eine Verschiebung der diegetischen Ereignisse in das ‘Hier und Jetzt’ bewirkt, da keine Origo-Spaltung ausgelöst wird. Angesichts der gewonnenen Einsichten kann festgehalten werden, dass die fiktionalen narrativen schriftlich fixierten Texte wie alle schriftlich fixierten Texte medial bedingt ein abstrakt gesehenes deiktisches Referenzsystem aufweisen, in dem der deiktische Nullpunkt dem Standort des Erzählers entspricht. Aufgrund des Mangels an Referenz in der außersprachlichen Welt konstituiert sich der ‘Wahrheitswert’ der diegetischen Welt innerhalb des textimmanenten Referenz- und Wertesystems. Folglich behalten die Tempora in fiktionalen Erzählungen ihre temporale, zeitbezogene Bedeutung und können daher unter Rückgriff auf die traditionellen, in der Tempusforschung etablierten Parameter und Kriterien sehr wohl für linguistische Analysen herangezogen werden. Die 93 besonders intensive Ausschöpfung der Perspektivierungsmöglichkeiten unter Verwendung der grammatischen Kategorie Tempus ist vielmehr eine Bestätigung der von Coseriu formulierten Hypothese, dass die Sprachverwendung in der Dichtung einer Verwendung der „Sprache schlechthin, als Verwirklichung aller sprachlichen Möglichkeiten“ (Coseriu 1971: 184) entspreche. Demzufolge sind literarische Texte „der Ort der Entfaltung der funktionellen Vollkommenheit der Sprache“ (Coseriu 1971: 185). Aus dem bisher Dargestellten und dem pragmatischen Wert des Erzählten in Epos und Roman sowie der daraus resultierenden temporalen Lokalisierung der fiktionalen Welt ergibt sich bereits notwendigerweise eine Unterscheidung zwischen einem aoristischen Präsens (E,R<S) und einem narrativen Präsens (E,R,S) - zumindest, was die temporale Betrachtung anbelangt. Diese Hypothese soll anhand von konkreten Beispielen im Folgenden empirisch überprüft werden. 6. Das aoristische Präsens als Erzähltempus in antiken und mittelalterlichen narrativen Texten In dem wohl bekanntesten Erklärungsansatz für das Aufkommen des Präsens als Leittempus im Roman stellt Fleischman (1990 und 1991b) diese Präsensverwendung als ein Epiphänomen einer Reoralisierung des schriftlichen Diskurses dar. Diese These erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als nicht tragfähig. Ein erstes Indiz für die Unzulänglichkeit des Erklärungsansatzes geben die Distribution und das Funktionsspektrum des Präsens in antiken und mittelalterlichen Texten. Das Präsens als Erzähltempus in diesen Texten alterniert satzintern mit Präteritum in den germanischen Sprachen und mit Perfekt im Lateinischen und den romanischen Sprachen und erzeugt ebenso wie die Vergangenheitstempora narrative Progression. Das narrative Präsens in modernen Texten kann keine Sequenzialisierungen kodieren, sondern reiht die Ereignisse lediglich aneinander. Vieles deutet daraufhin, dass wir es mit zwei unterschiedlichen Phänomenen und folglich mit zwei unterschiedlichen Präsenstypen zu tun haben. Es stellt sich daher die Frage nach der Parallelität und Vergleichbarkeit der Präsensverwendungen, die Fleischman (1990) zu erkennen glaubt. Angesichts der Unmöglichkeit, das Präsens als Erzähltempus in den älteren Texten mittels eines rein temporallogischen Ansatzes zu erklären, und angesichts der in Kapitel 4.1 und 4.2 dargestellten engen Beziehung zwischen Tempus und Aspekt soll der von Leiss (2000: 73-80) vorgeschlagene Ansatz eines aspektuellen Präsens hier zur Diskussion kommen. Leiss selbst hat bereits auf die Plausibilität dieses Ansatzes zur Erklärung des vergangenheitsbezogenen Präsens im Lateinischen verwiesen (vgl. Leiss 2000: 216-221). Für die älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen konnte sich dieser Ansatz hingegen bisher noch nicht durchsetzen. Der Nachweis für ein aspektuelles Präsens im Lateinischen und in den älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen wäre daher ein wichtiges Indiz dafür, dass es sich um ein sprachübergreifendes Phänomen handelt, das aus noch zu klärenden Gründen verschwunden und das zwar nicht in allen älteren germanischen und romanischen Sprachstufen belegt ist, was jedoch auch auf die spärliche Quellenlage zurückzuführen sein könnte. Evidenzen für ein solches aspektuelles Präsens im Lateinischen erweisen sich als wichtiger Ausgangspunkt, da die romanischen Sprachen im Bereich der kommunikativen Nähe in einer Diglossiesituation Romanisch-Latein entstanden sind. Die Annahme, dass das Indogermanische über eine wesentlich differenziertere Aspektkategorie (vgl. Meier-Brügger 2000: 236; §304) und ein primär aspektuelles Verbalsystem verfügte (vgl. Palmer 2000: 333; Pinkster 1988: 336), stützt die Aspekthypothese. Aspekt ist demnach die wichtigste Kategorie des indogermanischen Verbs. Ein aspektuelles System im Indogermani- 95 schen lässt eine Affinität zwischen Aspekt und oralen Kulturen vermuten, wenn man berücksichtigt, dass die Regularisierungen im Rahmen eines Übergangs von einer Gesellschaft der primären Mündlichkeit zu einer literalisierten Gesellschaft graduell sind, weshalb durchaus Relikterscheinungen des Aspektsystems erwartbar sind. Die Fragen, ob eine Korrelation zwischen dem Spannungsfeld Mündlichkeit-Schriftlichkeit existiert und in welcher Form ein solcher Zusammenhang gegebenenfalls besteht, sind Gegenstand von Kapitel 9.1. Tempus und Modus werden in einem dominant aspektuellen Verbalsystem über den Skopus der Aspektualität ausgedrückt, wie in Kapitel 8.2 am Beispiel des Russischen gezeigt wird. Betrachtet man die Möglichkeit zyklischer Entwicklungen innerhalb der Grammatik und der Sprachwandelprozesse, ist dieser Ansatz auch mit dem Zusammenbruch des altkirchenslawischen Tempussystems zugunsten eines stärker aspektuellen Systems im Russischen vereinbar - ein Beispiel einer literalisierten Hochkultur, die dennoch ein dominant aspektuelles Verbalsystem aufweist. Eine Einstufung des Präsens mit Vergangenheitsbezug im Mittelalter als aspektuelle Form ist in der älteren Forschungsliteratur durchaus weit verbreitet und gut erläutert, wurde jedoch von der neueren sprachwissenschaftlichen Forschung so gut wie nicht rezipiert (siehe hierzu Leiss 2000: 73-78). Und so stellt sich das „historische Präsens“ in älteren Sprachstufen wieder als vermeintlich rätselhaftes Phänomen dar (vgl. Koller 1951: 63). Bereits Rompelman hält fest, dass der Wechsel von Präsens zum Perfekt kein mangelndes Stilgefühl sein könne, sondern dass man, anstatt den Wechsel zu einseitig temporal zu interpretieren, das „historische Präsens“ (hier aoristisches Präsens 76 ) als ein Relikt aus einer Zeit betrachten solle, wo Präsens noch stärker eine aspektuelle Form war (vgl. Rompelman 1953: 80). Bei nonadditiven Verben blockiert die aspektuelle Semantik die eigentlich vom Präsens ausgedrückte Semantik ‘Hier und Jetzt’. So entspricht R 1 dem eigentlich vom Tempus lizenzierten Standort des Betrachters - wodurch die Ereignisse ins ‘Hier und Jetzt’ des Sprechers transponiert werden müssten. Das wird jedoch durch die aspektuelle Semantik der Verbform blockiert, die einen R 2 determiniert, der im Fall des aoristischen Präsens durch den Ko- und Kontext genauer determiniert wird, jedoch immer vorzeitig gegenüber der Sprechzeit (S) ist, es sei denn ein Temporaladverbiale legt ein nachzeitiges Zeitintervall fest. 76 Den Begriff führt Maingueneau (2000: 65-70) in die deutschsprachige Diskussion ein und er wird synonym für ‘historisches Präsens’ im weiteren Sinn verwendet; auch für Verwendungen, in denen die Präsensform nicht als funktionales Äquivalent zum passé simple betrachtet werden kann (vgl. Maingueneau 2000: 68). Für eine terminologische Präzisierung soll der Terminus im Folgenden auf solche Präsensvorkommen beschränkt werden, die lediglich bis ins Mittelalter nachweisbar sind und bei denen das Präsens durch eine temporale Reanalyse der aspektuell bedingt markierten Außenperspektive Ereignisse vorzeitig zur Referenzzeit lokalisiert. 96 Abbildung 4 - Die Semantik des aspektuellen Präsens nonadditiver Verben Um uns dieser Frage zu nähern, hilft zunächst ein Blick auf das Lateinische. Dies scheint zum einen aus sprachgenetischen Gründen geboten, zum anderen liefert die Arbeit von Oldsjö (2001) wichtige Indizien zur Bestätigung der eingangs formulierten Hypothese und steuert wichtige Elemente für eine kontrastive Betrachtung bei. 6.1 Das aoristische Präs ens im Latein 6.1.1 Das Präsens als Erzähltempus in der Forschungsliteratur zum Latein Das Lateinische entwickelt ein vollständiges grammatisches Verbalsystem mit der Möglichkeit, die chronologischen Beziehungen von Ereignissen anzuzeigen, die in der Zeit einzuordnen sind (vgl. Palmer 2000: 333). Dies ist eine Innovation gegenüber dem Altgriechischen. 77 Die zeitlichen Bestimmungen eines Verbalvorgangs können dadurch von der Gegenwart des Sprechenden (absoluter Tempusgebrauch) oder von der Zeit einer anderen Handlung aus bestimmt werden (relativer Tempusgebrauch) (vgl. Rubenbauer/ Hofmann 1995: 240; §208). Aspekt hingegen, der wohl eine große Rolle in einer Vorphase des Lateinischen gespielt hat, ist im Lateinischen selbst keine produktive grammatische Kategorie mehr und tritt vorwiegend residual auf (vgl. Pinkster 1988: 336). Das Präsens dient bereits im Lateinischen dazu, Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit in einem Zeitin- 77 Im klassischen Griechisch weisen die Verben fast immer aspektuell determinierte Paare auf, trotz einiger Vorbehalte in der Forschung gegenüber einer Kategorie ‘Aspekt’ im Griechischen. Dieser Frage kann hier nicht weiter nachgegangen werden (vide: Pinkster 1988: 337). Im klassischen Latein bilden nur noch die Imperfekta und die Perfekta ein solches Oppositionspaar (vgl. ebd.). 97 tervall zu situieren und diese in seiner prototypischen Grundbedeutung zusammenfallen zu lassen (vgl. Pinkster 1988: 340; Rubenbauer/ Hofmann 1995: 240; §209). Daneben kann das Präsens bereits im Lateinischen für allgemeingültige Wahrheiten verwendet werden (Bayer/ Lindauer 2005: 193, §172.1.2; Palmer 2000: 334 und Pinkster 1988: 340). In diesem Fall ist der Wahrheitswert auch am deiktischen Nullpunkt, im ‘Hier und Jetzt’ der Referenzzeit und Sprechzeit, angesiedelt. Ein Präsens pro futuro ist nur vereinzelt auffindbar, eigentlich nur bei Verben der Bewegung und bei unmittelbarer Determination der Situierung des Verbalvorgangs in der Nachzeitigkeit mittels Temporaladverbiale, das das Zeitintervall festlegt, wie Palmers Beispiele belegen (Palmer 2000: 334). 78 Besonders auffällig ist die Affinität zwischen nonadditiven Verben unter Berücksichtigung der Kategorien der Mereologie, also Verben mit perfektiver Aspektualität. Bei den Präsensformen dieser Verben ist semantisch ein unmittelbarer Gegenwartsbezug blockiert, weshalb das Präsens Verbalereignisse ausdrückt, die nachzeitig zur Sprechzeit sind. Dies belegt das folgende Beispiel aus Terenz’ Adelphoe. Die Brüder: (46) [...] ego hos conveniam Fut. Ind. ; post Tadv. huc redeo Pr. Ind. . ‘[...] ich werde mich mit ihnen treffen; dann kehre ich hierher zurück’ (Ter. Ad. 766 apud Palmer 2000: 334) Die temporale Lokalisierung des Verbalvorgangs redīre ‘zurückkommen’ wird im Beispiel anaphorisch determiniert durch das vorangehende synthetische Futur von convenīre und das Temporaladverbiale post, die eine Nachzeitigkeit des Verbalvorgangs gegenüber dem bereits durch futurische morphologische Markierung in der Nachzeitigkeit situierten Referenzverb. Eine ähnliche Determination der temporalen Lokalisierung des Verbalvorgangs in der Nachzeitigkeit mittels Temporaladverbiale liegt im folgenden Beispiel von Pinkster (1988) aus Ciceros Epistulae ad Atticum (48- 43 v. Chr.) vor: (47) Lentulus Spinther hodie apud me; cras Tadv. mane vadit Pr. . ‘Lentulus Spinther ist heute bei mir; morgen früh reist er ab.’ (Cicero, Epistulae ad Atticum, zit. nach: Pinkster 1988: 341) Das Temporaladverbiale cras mane determiniert das Zeitintervall. Das Temporaladverb cras ist deiktisch und nimmt Bezug auf den Sprechzeitpunkt der Äußerung und lokalisiert den Verbalvorgang am darauffolgenden Tag. Das Temporaladverb mane grenzt zusätzlich das Zeitintervall auf den ‘frühen Teil des darauffolgenden Tages’ ein. Die Präsensform nimmt das Temporaladverbiale als anaphorischen Anker und lokalisiert den Verbalvorgang in der Nachzeitigkeit gegenüber der Sprechzeit, begünstigt durch den non- 78 Die vergleichsweise geringe Bedeutung des praesens pro futuro im Lateinischen wird u.a. belegt durch die Tatsache, dass es in den Grammatiken meist gar nicht aufgeführt wird (Beispiel: Bayer/ Lindauer 2000: 193) oder lediglich als Randnote erscheint (vgl. Rubenbauer/ Hofmann 1995: 241; §209.3). 98 additiven, unteilbaren Charakter des Verbs ‘abreisen’. Die Begrenzungen der Möglichkeiten in der Verwendung des praesens pro futuro im Lateinischen sind identisch mit denen beim Präsens mit Vergangenheitsbezug in den modernen romanischen Sprachen. Das ist ein wichtiges Indiz für die Annahme einer retrospektiven Sprache im Sinn von Ultan (1978). Gleichzeitig ist eine Verwendung des sogenannten praesens historicum weitaus häufiger und es wurde in Kontexten verwendet, wo der temporale Rahmen der Verbalvorgänge „durch die einleitenden und abschließenden Perfecta [sic! ] gebildet wird“ (Palmer 2000: 334). In dieser Verwendung entspricht das Präsens einem Aorist Perfekt und ersetzt nur in Ausnahmefällen ein Imperfekt, wie Palmer (2000: 334) festhält. Das Präsens als Erzähltempus ist bereits im Lateinischen zahlreich belegt und ist nach Pinksters Einschätzung dort die meistgebrauchte Erzählzeit (Pinkster 1988: 341). In den gängigen lateinischen Grammatiken wird diese Verwendung als ein Mittel zur „Verlebendigung“ der erzählten Ereignisse dargestellt (vgl. Bayer/ Lindauer 2005: 193; Rubenbauer/ Hofmann 1995: 241). § 172.1. Vorgänge in der Vergangenheit, die in lebhafter Erzählung so dargestellt werden, als trügen sie sich gegenwärtig zu (historisches Präsens). (Bayer/ Lindauer 2005: 193) Die Probleme mit der Deutung jener Passagen als präsentisch wird bereits in dem folgenden Beispiel deutlich, wo in der Übersetzung die morphologisch präsentischen Formen korrekterweise durch Präteritum wiedergegeben werden: 79 (48) Caesari cum id nuntiatum esset eos [=Helvetios] per provinciam nostram iter facere conari, maturat ab urbe proficisci et quam maximis potest itineribus in Galliam ulteriorem contendit et ad Genavam pervenit. Provinciae toti quam maximum potest militum numerum imperat - erat omnino in Gallia ulteriore legio una -; pontem qui erat ad Genavam iubet rescindi. (Caesar 2004: 12, Hervorhebungen B.M.) (49) ‘Als Caesar gemeldet wurde, die Helvetier versuchten durch unsere Provinz zu marschieren, brach er rasch von Rom auf, begab sich in Gewaltmärschen nach dem jenseitigen Gallien und gelangte in die Nähe von Genf. 79 Bayer/ Lindauer (2005) merken hierzu lediglich an, dass die Wiedergabe im Präsens oft treffender ist, ohne jedoch die Kontexte dazu anzugeben. Allerdings ist zu beachten, dass es sich um eine primär für den Schulunterricht bestimmte Grammatik handelt und dort wird der Schwerpunkt vor allem auf die ‘korrekte’ Identifizierung der Tempora gelegt und nicht auf die sinngetreue Wiedergabe der Perspektive, die durch das Tempus vermittelt wird. Eine präsentische Interpretation ist jedoch auch in der Forschungsliteratur weit verbreitet. 99 Der gesamten Provinz gab er Befehl, eine möglichst große Zahl Soldaten zu stellen […]; die Brücke bei Genf ließ er abbrechen.’ (Bayer/ Lindauer 2005: 193) Ausschlaggebend für diese Übersetzung ist die Tatsache, dass das moderne Präsens mit seiner stärker temporalen Bedeutung diesen abgeschlossenen Charakter vergangener Handlungen nicht mehr ausdrücken kann. Die eindeutige zeitliche Lokalisierung in der Vergangenheit erfordert die Form nūntiātum esset, die „ausschließlich als vorzeitig gegenüber einem Zeitpunkt in der Vergangenheit aufgefaßt werden kann“ (Pinkster 1988: 364), weshalb hier für die Präsensformen der Terminus aoristisches Präsens angebracht scheint. Um eine prototypische Präsensbedeutung zu entfalten, müsste das Präsens jedoch eine gegenwärtige Lokalisierung der Verbalvorgänge innerhalb der consecutio temporum ermöglichen, sei es in der realen, außersprachlichen Welt oder in jener fiktionalen, die der Geschichte zugrundeliegt, die durch die Erzählung vermittelt wird (vgl. Oldsjö 2001: 363, Fußnote 670). Viel offensichtlicher wird die Notwendigkeit einer genaueren Bestimmung jedoch, wenn man bedenkt, dass das Präsens das häufigste Erzähltempus ist, und wenn man vor diesem Hintergrund die vagen Erklärungsansätze betrachtet, die Pinkster aus der Forschung aufgreift und für die er sofort Gegenbeispiele in zentralen Werken der lateinischen Literatur findet (vgl. Pinkster 1988: 342) - in jenen Werken, die Modellcharakter für den Sprachgebrauch hatten. Auch Pinkster sieht aufgrund der eingeschränkten Gültigkeit jener Ansätze die Notwendigkeit einer genaueren Untersuchung zum „historischen Präsens“ (= ‘Präsens als Erzähltempus’ qua aspektuelles oder aoristisches Präsens im Sinne der hier vorgeschlagenen Terminologie), das in Abwechslung mit Vergangenheitstempora innerhalb desselben Satzes auftritt (vgl. Pinkster 1988: 342) und abgeschlossene, sukzessive Ereignisse ausdrückt (vgl. Pinkster 1988: 364), also aus mereologischer Sicht unteilbare Verbalvorgänge (vgl. Devine/ Stephens 2006: 160). In dieser Alternanz liegt auch das Hauptproblem einer semantischen Deutung dieses in den Grammatiken als „historisches Präsens“ aufgeführten Tempus (aoristisches oder aspektuelles Präsens) als Verbform mit präsentischem Temporalwert. Denn dies würde einen ständigen Wechsel der Perspektive kodieren, selbst auf der Ebene des Satzes, bedingt durch die Alternierung zwischen Trennung und Zusammenfall von Sprechzeit, Ereigniszeit und Referenzzeit. Aus kognitiv-linguistischer Sicht erscheint dies nicht plausibel. Bei den Beschreibungen blieb jedoch meistens die Aspektualität der Verbformen unbeachtet. Und wie Pinkster anhand von prominenten Beispielen festhält, kommt dieses Erzähltempus Präsens sowohl am Ende von Büchern vor, unter anderem im letzten Buch von Vergils Aeneis (vgl. Pinkster 1988: 342; Fußnote 17), als auch am Anfang von Tacitus’ Erzählungen (vgl. Pinkster 1988: 342). 100 6.1.2 Das Präsens als Erzähltempus in historiografischen narrativen Werken Das Inkompatibilitätsproblem einer präsentischen Bedeutung und der zeitlichen Lokalisierung von Ereignissen auf der consecutio temporum in lateinischen Erzähltexten greift Oldsjö (2001) in seiner Monografie zu Tempus und Aspekt in Caesars historiografischen Berichten auf, die aus textstruktureller Sicht ein narrativ-erzählendes Diskursmuster aufweisen. 80 Anhand eines Vergleichs der Werke diverser Historiker zeigt Oldsjö, dass das Präsens als Erzähltempus sehr ähnliche Eigenschaften wie das Perfekt erkennen lässt (Oldsjö 2001: 273). Durch seine Auswertung historiografischer narrativer Werke von Caesar, Livius, Velleius Paterculus, Florus und Eutropius 81 kommt Oldsjö zu dem Ergebnis, dass das Präsens mit 3 010 Realisierungen in 14 410 ausgewerteten Verbalereignissen 82 nach dem Perfekt mit 8 228 Einträgen das wichtigste Erzähltempus ist (vide: Oldsjö 2001: 279; Tabelle 9.4B). Für die Fragestellung dieser Arbeit fällt dabei besonders Caesars Werk mit 1 832 Belegen des aoristischen Präsens in 4 798 Verbvorkommen ins Auge, womit das Präsens das dominante Erzähltempus und im Sinne von Weinrich (2001 [1964]: 29) das Leittempus der Erzählung ist, gefolgt von 1 617 Perfektformen und 1 025 Imperfektformen (vgl. Oldsjö 2001: 279; Tabelle 9.4B). Das Präsens macht somit immerhin 38,2% der Verbformen der Erzählung aus. Diese Zahlen sind durchaus beeindruckend und müssen als Ausgangspunkt für eine empirisch orientierte Annäherung an das aoristische Präsens herangezogen werden. Dennoch bergen solche quantitativen Studien zwei Probleme: Zum einen berücksichtigen sie die Vorkommenskontexte nicht ausreichend. Zum anderen lassen sie außer Acht, dass trotz der Existenz des aspektuellen aoristischen Präsens in den älteren Sprachstufen - wie dargestellt werden soll - das Präsens daneben durchaus auch in 80 Die Berücksichtigung der lateinischen historiografischen Berichte erweist sich als gerechtfertigt, da sich aus kommunikationstheoretischer Sicht ein Erzähler an einen (virtuellen) Leser richtet und vorzeitige historische Ereignisse erzählt. Der einzige Unterschied zu fiktionalen Erzählungen besteht bestenfalls in der (zumindest partiellen) außersprachlichen Referenzialität der geschilderten Ereignisse. 81 Das von Oldsjö quantitativ ausgewertete Korpus umfasst Ab urbe condita libri (Bücher 2, 5, 10, 21, 22, 30, 38 und 45) von Livius, Breviarium ab urbe condita von Eutropius und Vellei Paterculi Historiarum ad M. Vinicium consulem libri duo von Velleius Paterculus (Oldsjö 2001: 254-255). Außerdem wertete Oldsjö L. Annaei Flori epitomae de Tito Livio bellorum omnium annorum DCC libri II (Kapitel 1: 22 Bellum Punicum secundum und 2: 13 Bellum civile Caesaris et Pompei) von Florus und Caesars De Bello Gallico und De Bello Civili aus (Oldsjö 2001: 254-255). 82 Oldsjö (2001) zählt die Präsensvorkommen in Buch 1,1 von De Bello Gallico mit, diese sind jedoch als prototypische Präsensformen zu bewerten (vgl. Beispiel 53). Die dadurch erforderlichen Anpassungen wurden vorgenommen und sind im Folgenden nicht weiter vermerkt. Bei den Beispielen handelt es sich nicht um aoristische Präsensformen, wie die Verbalmorphologie determiniert, da sowohl der Verbalcharakter als auch die Aktionsart imperfektive Aspektualität aufweisen und keine Perfektivierer vorliegen. 101 seinen Funktionen als aktuelles und als generelles Präsens vorkommen kann, was für die mittelalterlichen Epen durchaus von Bedeutung ist. Diese Formen werden jedoch in den meisten Studien nicht differenziert, sondern die Autoren begnügen sich mit einfachen Zählungen der Präsensvorkommen. Des Weiteren ist auch die Repräsentativität der Werke in die Betrachtung mit einzubeziehen. Während es bei modernen Werken der Gegenwartsliteratur geradezu unmöglich ist, eine repräsentative Menge zu selegieren, liegt uns aus der Antike und dem Mittelalter lediglich ein fragmentarischer Bruchteil der verfassten Werke vor. 83 Bedenkt man dann noch Faktoren wie den persönlichen Autorenstil und die bereits besprochene hochgradige Freiheit an sprachlicher Entfaltung in literarischen Werken, wird offensichtlich, dass eine rein quantitative Datenerhebung auf diesem Gebiet mit größter Vorsicht zu betrachten ist. Es besteht natürlich kein Zweifel daran, dass auktoriale sprachliche Kreativität auch nur in Konformität oder im bewussten Bruch mit den konventionalisierten Gebrauchsnormen erfolgen kann und die Möglichkeiten des Systems einer Sprache hier durchaus Grenzen setzen. Aus den genannten Gründen wird in der vorliegenden Arbeit auch eine qualitative Studie bevorzugt und quantitative Daten sollen nur punktuell mit einfließen. Caesars Werk unterscheidet sich mit seiner Präferenz für das Präsens als Erzähltempus maßgeblich von dem der anderen Historiografen, bei denen bei weitem das Perfekt dominiert. Bei Livius macht das Präsens lediglich 16,3% der Verbformen aus, bei Velleius Paterculus 3,4%, bei Florus 6,9% und bei Eutropius 2,4% (vgl. Oldsjö 2001: 279, besonders die Tabellen 9.4B und 9.5). So stehen bei Livius 4 079 Perfektformen 1 084 Präsensformen gegenüber, bei Velleius Paterculus 865 Perfektformen 37 Präsensformen, bei Florus 189 Perfektformen 18 Präsensformen und bei Eutropius 1 478 Perfektformen lediglich 37 Präsensformen (vgl. ebd.). 83 Wären beispielsweise die beiden Abhandlungen von Caesar nicht überliefert, würde sich die Bedeutung des aoristischen Präsens im Lateinischen aus heutiger Sicht komplett modifizieren. Deswegen soll in der vorliegenden Studie auch lediglich das aoristische Präsens beschrieben werden, um den Irrtum aufzudecken, der jenen Forschungen zugrunde liegt, die davon ausgehen, die Semantik der Präsensform nonadditiver Verben mit perfektiver Aspektualität (aoristisches Präsens) und additiver Verben mit imperfektiver Aspektualität (prototypische, klassische Präsensformen) sei dieselbe. 102 Grafik 1 - Perfekt und aoristisches Präsens in ausgewählten lateinischen historiografischen narrativen Werken (Oldsjö 2001: 282) Die grafische Darstellung der Distribution der zwei wichtigsten Erzähltempora lässt eine Korrelation zwischen narrativem Perfekt und dem Präsens als Erzähltempus (aoristisches Präsens) vermuten, die für die These der funktionalen Äquivalenz zwischen aoristischem Präsens und narrativem Perfekt spricht. Imperfekt dient zur Vermittlung von Hintergrundinformationen. 84 Oldsjö (2001) bezeichnet das aspektuelle, aoristische Präsens angesichts der Verwendung als Tempus, das narrative Progression der Erzählstränge erzeugt, als „narratives Präsens“, was für seinen Forschungshorizont und seine Fragestellung auch plausibel erscheint. Im Hinblick auf eine Beschreibung des Präsens als durchgängiges Erzähltempus in neueren Romanen, in denen sich Ereigniszeit, Referenzzeit und (fiktionale) Erzählzeit an ein- und demselben Sprecherstandpunkt innerhalb eines einzigen Zeitintervalls der consecutio temporum befinden, erweist sich der Begriff narratives Präsens für diese letztere Verwendung mit prototypischer präsentischer Bedeutung als sinnvoller. Dagegen sind die Begriffe aspektuelles oder aoristisches Präsens adäquater für jene Verwendung in der römischen Antike. Ein Vergleich der Tempusdistributionen und des Rhythmus der historiografischen narrativen Werke unter Berücksichtigung der Länge der Texte und der erzählten Zeit zeigt, 85 dass das Präsens eine vergleichsweise 84 Dieses verhält sich in seiner Distribution daher auch komplementär zu dem aoristischen Präsens und dem narrativen Perfekt, wie Oldsjö (2001: 283) zeigt. 85 Oldsjö (2001) betont, dass diese Methode einen Zusammenhang zwischen der erzählten Zeit und der Tempuswahl herzustellen, lediglich dazu dienen kann, um einen ersten Eindruck von der Tempusdistribution zu gewinnen. Schließlich ist dies nicht das einzige Kriterium, welches die Tempusselektion innerhalb eines narrativen Textes determiniert, wie Oldsjö am Beispiel von Livius’ Werk nahelegt, wo Buch 2 den größten Zeitraum an erzählter Zeit abdeckt, das Präsens aber gleichzeitig am 103 langsamere narrative Progression als das Perfekt auslöst. Der Erzählrhythmus wird primär durch die Opposition zwischen perfektiver und imperfektiver Aspektualität determiniert, also in der Regel durch das Zusammenwirken von Perfekt und Imperfekt (vgl. Oldsjö 2001: 281). Der narrative Rhythmus der Erzählung ist daher ein Resultat der selegierten Perspektiven des Erzählers, vor allem innerhalb der aspektuellen Dichotomie in Innen- und Außenperspektive und innerhalb der Möglichkeiten des jeweiligen einzelsprachlichen Verbalsystems. Folglich kann der Rhythmus die Verwendung des Präsens nicht erklären, sondern die Möglichkeiten, Verbalvorgänge zu situieren, zu lokalisieren und zu betrachten, können umgekehrt lediglich zur Erklärung des narrativen Rhythmus einer Erzählung herangezogen werden. Nichtsdestotrotz widerlegen die Einsichten bezüglich des Erzählrhythmus die in der Forschung weit verbreitete ‘Verlebendigungshypothese’. Denn in jenen Passagen, in denen die Handlungen besonders schnell aufeinander folgen, setzt selbst Caesar das Perfekt ein (vgl. Oldsjö 2001: 281). Gleichzeitig erfolgt in Werken mit einer schnelleren narrativen Progression weniger Wechsel zwischen Präsens und Perfekt und das Perfekt dominiert dort (vgl. Oldsjö 2001: 282). The main conclusion we can draw is that alternations between the perfect and the present of narration are less frequent in narratives of quicker pace. (Oldsjö 2001: 282) Einen vielversprechenderen Erklärungsansatz hingegen bietet die These von Oldsjö (2001), das aoristische Präsens anhand seiner Vorkommen als funktionales Äquivalent zum narrativen Perfekt zu bestimmen. Eine syntaktische Analyse zeigt, dass das aoristische Präsens weitestgehend ein Tempus des Matrixsatzes ist (vgl. auch Menge 2005: 181). 86 So kommt das aoristische Präsens lediglich 63 Mal in subordinierten Nebensätzen vor, wohingegen es 1 659 Mal in Hauptsätzen (96,4%) begegnet, wie Oldsjös Auswertungen von De Bello Gallico (ca. 52 v. Chr.) und De Bello Civili (ca. 48/ 47 v. Chr.) ergeben (vgl. Oldsjö 2001: 322). wenigsten oft vorkommt (vgl. Oldsjö 2001: 284-285). Dies leuchtet besonders dann ein, wenn man bedenkt, dass die Perspektivierung der Ereignisse letztlich durch den Autor determiniert wird und die Zahl der abgedeckten Jahre durch die erzählte Zeit und nicht durch die Materialselektion und Perspektivierung des Autors zustande kommt (vgl. Oldsjö 2001: 285). 86 Kritisch anzumerken ist, dass Menge trotz aller dagegen sprechenden Evidenzen zu den Anhängern der Verlebendigungshypothese zählt (vgl. Menge 2005: 181). 104 Grafik 2 - Verteilung der Vorkommen des aoristischen Präsens auf Haupt- und Nebensatz in Caesars historiografischen Werken (Oldsjö 2001: 322) In dieser Verteilung ist das aoristische Präsens mit dem narrativen Perfekt vergleichbar, wo in denselben Werken nach Oldsjös Angaben 1 436 Vorkommen in Hauptsätzen 178 Vorkommen in indikativischen subordinierten Sätzen gegenüber stehen. Grafik 3 - Verteilung der Vorkommen des Perfekts auf Haupt- und Nebensatz in Caesars historiografischen Werken (Oldsjö 2001: 321) Ein weiteres wichtiges Indiz für die abgeschlossene, vorzeitige Semantik der Verbalvorgänge im Präsens liefert eine Betrachtung der Distributionen nach Büchern. So variiert die Zahl der Präsensformen zwischen 8,1% im zweiten Buch von De Bello Gallico und 61,6% in De Bello Civili. Sowohl das Hintergrundtempus Imperfekt als auch das Tempus zum Ausdruck von Vorzeitigkeit in der Vergangenheit, Plusquamperfekt, bleiben in ihrer Häufigkeit von dieser Varianz unbeeinträchtigt. Die Zahl der Perfektformen hingegen steigt und fällt in umgekehrtem Maß zum Einsatz der Präsensformen. Das indiziert klar eine Korrelation zwischen beiden Tempora und liefert einen wichtigen Beleg für die Hypothese der funktionalen Äquivalenz von aoristischem Präsens und narrativem Perfekt. 96,4% 3,6% Hauptsatz Nebensatz 89% 11% Hauptsatz Nebensatz 105 Grafik 4 - Verteilung der Vorkommen des aoristischen Präsens, 87 des Perfekts, des Imperfekts und des Plusquamperfekts in Prozent auf Haupt- und Nebensatz in den Büchern von Caesars De Bello Gallico 88 87 Der Balken mit der Angabe zum narrativen Perfekt und aoristischen Präsens umfasst jene Formen, die sowohl das eine als auch das andere Tempus sein können und deren klare Zuordnung aufgrund der funktionalen Äquivalenz unmöglich ist. Das Gleiche gilt auch für Grafik 5. 88 Die Grafik wurde nach den Zahlen von Oldsjö (2001: 311-312, dort Tabellen 10.5A und 10.6A) erstellt. 106 Grafik 5 - Verteilung der Vorkommen des aoristischen Präsens, des Perfekts, des Imperfekts und des Plusquamperfekts in Prozent auf Haupt- und Nebensatz in den Büchern von Caesars De Bello Civili 89 Die beiden Grafiken 4 und 5 zeigen, dass die Zahl der Perfekta zurückgeht, wenn die Zahl der Präsensformen steigt und vice versa. Nachdem das Präsens nicht für Vorgänge und Verbalhandlungen verwendet wird, die einen präsentischen temporalen Wert haben, sondern für abgeschlossene und vergangene, wie noch anhand exemplarischer Passagen skizziert werden soll, müssen die beiden Formen funktionale Äquivalente darstellen. Auch die aspektuelle Zuweisung des Präsens wird besonders deutlich, wenn man die Tempusdistribution in De Bello Gallico genauer untersucht. Vorder- und Hintergrund, die durch die Opposition perfektiver und imperfektiver Aspekt gekennzeichnet werden, werden in De Bello Gallico und in De Bello Civili durch die Opposition aoristisches Präsens und Perfekt versus Imperfekt gekennzeichnet. [...] only telic situations are perceived as successive on the time-line of narrative. Atelic situations (states and processes) do not bring the narrative forward. [...] The 89 Die Grafik wurde nach den Zahlen von Oldsjö (2001: 310 und 311, dort Tabellen 10.5B und 10.6B) erstellt (vgl. auch Oldsjö 2001: 347-349). 107 perfective aspect is the normal viewpoint for telic situations and the imperfect aspect is the normal choice for atelic situations. Consequently, there are close relations between the perfective aspect and the serial foreground as well as between the imperfective aspect and the concomitant background. When the imperfective aspect is adopted for telic situations, their telicity is generally cancelled and they are turned into ongoing processes. (Oldsjö 2001: 492) So entsteht in (50) aus De Bello Civili (Buch 2,26) eine Innenperspektive durch den imperfektiven Aspekt, den das Imperfekt kodiert, wohingegen die Handlungsstränge durch das aoristische Präsens ausgedrückt werden. (50) Nondum opere castrorum perfecto equites ex statione nuntiant APr. magna auxilia equitum peditumque ab rege missa Uticam venire; eodemque tempore Tadvb. vis magna pulveris cernebatur Imp. , et vestigio temporis Tadvb. primum agmen erat Imp. in conspectu. Novitate rei Curio permotus praemittit APr. equites, qui primum impetum sustineant ac morentur; ipse celeriter ab opere deductis legionibus aciem instruit APr. . (Caesar 2005: 138; Hervorhebungen B.M.) ‘Noch war die Verschanzung des Lagers nicht fertig, als die Reisvorposten meldeten, starke Hilfstruppen zu Pferd und zu Fuss, vom König geschickt, kämen nach Utica; zur gleichen Zeit sah man eine riesige Staubwolke, und gleich darauf kam die Vorhut in Sicht. Curio, von der unerwarteten Neuigkeit betroffen, schickte Reiter vor, um den ersten Angriff abzufangen und aufzuhalten; er selbst zog die Legionen rasch von der Schanzarbeit ab und ordnete sie zur Schlacht.’ Veranlasst durch das Imperfekt, wird in dieser Passage der (virtuelle) Leser in die Mitte der Ereignisse versetzt und nimmt eine Innenperspektive ein. Die Reaktion von König Curio und seine Handlungen, um sich auf die nähernde Gefahr vorzubereiten, werden mit dem aoristischen Präsens ausgedrückt, und folglich als nonadditiv in vollem Umfang von einer Außenperspektive betrachtet. Die Verwendung des Imperfekts in einem präsentischen Rahmenkontext und die Temporaladverbialien eodem tempore und vestigio temporis, die zusätzlich die Lokalisierung innerhalb eines Zeitintervalls determinieren, sind eindeutige Evidenzen für die zeitliche Lokalisierung der Verbalvorgänge in der Vorzeitigkeit. Durch die unmittelbare Abfolge der Ereignisse soll dem (fiktionalen) Leser der Eindruck vermittelt werden, er befinde sich inmitten des diegetischen Geschehens. Hintergrundinformationen werden im Imperfekt kodiert, während Hauptereignisse und der Eindruck von Bewegung durch die Außenperspektive auf die Verbalhandlungen, die unter Berücksichtigung ihrer Konturen betrachtet werden, im aoristischen Präsens ausgedrückt wird. Durch die geschlossenen Konturen der Verbalhandlungen treten diese „nach vorne“ (vgl. Leiss 2000: 75). Die äußerst starke Tempusalternanz zwischen aoristischem Präsens und narrativem Perfekt für Ereignisse innerhalb desselben Zeitintervalls und sogar innerhalb eines einzigen Satzes ist ein weiteres zentrales Indiz für die zeitliche Lokalisierung der Vorgänge in der Vorzeitigkeit. Exemplarisch 108 dafür zieht Oldsjö (2001: 353-354) folgende Passage, ebenfalls aus De Bello Civili (Buch 1,18), heran: (51) Interim Caesari nuntiatur APr. Passiv Sulmonenses, quod oppidum a Corfinio VII milium intervallo abest, cupere ea facere quae vellet, sed a Q. Lucretio senatore et Attio Paeligno prohiberi, qui id oppidum VII cohortium praesidio tenebant. Mittit APr. eo M. Antonium cum legionis XII cohortibus V. Sulmonenses simulatque signa nostra viderunt, portas aperuerunt Perf. universique, et oppidani et milites, obviam gratulantes Antonio exierunt Perf. . Lucretius et Attius de muro se deiecerunt Perf. . Attius ad Antonium deductus petit APr. ut ad Caesarem mitteretur Imp. Konj. . Antonius cum cohortibus et Attio eodem die quo profectus erat revertitur APr. Passiv . Caesar eas cohortes cum exercitu suo coniunxit Perf. Attiumque incolumem dimisit Perf. . Caesar primis diebus castra magnis operibus munire et ex finitimis municipiis frumentum comportare reliquasque copias exspectare instituit APr./ Perf. (? ) . Eo triduo legio VIII ad eum venit APr./ Perf. (? ) cohortesque ex novis Galliae dilectibus XXII equitesque ab rege Norico circiter CCC. Quorum adventu altera castra ad alteram oppidi partem ponit APr. ; his castris Curionem praefecit Perf. . Reliquis diebus oppidum vallo castellisque circumvenire instituit APr./ Perf. (? ) . Cuius operis maxima parte effecta eodem fere tempore missi ad Pompeium revertuntur APr. Passiv . (Caesar 2005: 26, Hervorhebungen B.M. 90 ) ‘Inzwischen erfuhr Caesar, die Einwohner von Sulmo, das sieben Meilen von Corfinium entfernt liegt, wollten sich ihm gerne anschliessen, würden jedoch von dem Senator Q. Lucretius und dem Paeligner Attius daran gehindert, die die Stadt mit einer Besatzung von sieben Cohorten besetzt hielten. Er schickte M. Antonius mit fünf Cohorten der 13. Legion dorthin. Kaum sahen die Leute von Sulmo unsere Feldzeichen, rissen sie die Tore auf und alle, Bürger wie Soldaten, strömten unter Freudenrufen zu Antonius hinaus. Lucretius und Attius sprangen von der Mauer herab. Attius wurde Antonius vorgeführt und bat, zu Caesar gebracht zu werden. Antonius kam mit den Cohorten und Attius noch am selben Tag zurück, an dem er ausgerückt war. Caesar gliederte diese Cohorten seinem Heer ein und ließ Attius frei, ohne ihm etwas anzutun. In den nächsten Tagen begann Caesar sein Lager stark zu befestigen und aus den naheliegenden Städten Verpflegung heranzuholen; auch wartete er auf den Rest seiner Truppen. 90 Das Fragezeichen bei der Glossierung der Verben bedeutet, dass aufgrund der Formidentität nicht endgültig entschieden werden kann, ob es sich um ein aoristisches Präsens oder ein narratives Perfekt handelt, da - wie der zweite Satz im Beispiel exemplarisch belegt - die Formen auch innerhalb eines Satzes alternieren können. 109 Innerhalb von drei Tagen stiess die 8. Legion zu ihm, dazu 22 Cohorten von den neuen Aushebungen in Gallien und etwa 300 Reiter vom König von Noricum. Nach deren Ankunft schlug er ein zweites Lager auf der anderen Seite der Stadt, das er Curio unterstellte. In den folgenden Tagen begann er die Stadt mit Wall und Schantzwerken einzuschliessen. Als der größte Teil dieser Werke fertig war, kamen fast zur selben Zeit die Boten an Pompeius zurück.’ Auffällig ist in dieser Passage, dass in der Abfolge sowohl das Präsens als auch das Perfekt zuerst auftreten können und dass beide Tempora die Fähigkeit besitzen, Szenen abzuschließen (vgl. hierzu auch das Ende des sechsten Buches von Vergils Aeneis). Dies sind wichtige Indizien dafür, dass ein Verbalvorgang im aoristischen Präsens das Merkmal [+ PERFEKTIV ] aufweist. Ein weiteres Argument, das Oldsjö (2001) in seiner Arbeit jedoch nicht untersucht: Vorzeitige Vorgänge werden durch Plusquamperfekt ausgedrückt, wie Beispiel (52) aus De Bello Gallico (Buch 3,6) exemplarisch belegt. Hätte nun das Präsens einen präsentischen Wert, so müssten die vorzeitigen Verbalvorgänge mit Perfekt ausgedrückt werden, da die Referenzzeit eines Plusquamperfekts bezüglich der Sprechzeit vergangen/ vorzeitig sein muss. Das aoristische Präsens ist demzufolge [+ VERGANGEN ]. (52) Quod iussi sunt Perf. Passiv , faciunt APr. ac subito omnibus portis eruptione facta neque cognoscendi quid fieret Imp. neque sui colligendi hostibus facultatem relinquunt APr. . Ita commutata fortuna eos qui in spem potiundorum castrorum venerant PP , undique circumventos intercipiunt APr. et ex hominum milibus amplius triginta, quem numerum barbarorum ad castra venisse constabat Imp. , plus tertia parte interfecta reliquos perterritos in fugam coniciunt APr. ac ne in locis quidem superioribus consistere patiuntur APr. Passiv . Sic omnibus hostium copiis fusis armisque exutis se intra munitiones suas recipiunt APr. . (Caesar 2008: 140; Hervorhebungen B.M) ‘Sie handelten befehlsgemäß, machten plötzlich aus allen Toren einen Ausfall, so dass den Feinden keine Gelegenheit blieb zu erkennen, was vor sich ging, oder gar sich zu sammeln. So wandte sich das Glück. Während die Feinde in die Hoffnung gekommen waren, sich des Lagers zu bemächtigen, kreisten unsere Soldaten sie jetzt überall ein, fingen sie ab und töteten aus einer Zahl, die 30.000 überstieg, mehr als ein Drittel; es stand fest dass so viele Feinde zum Lager gekommen waren. Die übrigen, die nun Panik ergriff, schlugen sie in die Flucht und ließen nicht einmal zu, dass sie oben auf den Höhen halt machten. 110 Als sie so alle Truppen der Feinde vertrieben und den Toten die Waffen abgenommen hatten, zogen sie sich in die Lagerbefestigung zurück.’ (vgl. Caesar 2008: 141) 91 Auch in dieser Passage werden neben der Handlung liegende Umstände, die das hintergrundierte Geschehen bilden, mittels Imperfekt beschrieben, während das vordergrundierte Geschehen, welches der bewegten Darstellung entspricht und die Abfolge der Verbalvorgänge und folglich der Handlung vorantreibt, durch das aoristische Präsens ausgedrückt wird. Außerdem sind die Verben im aoristischen Präsens im Gegensatz zu den Verben im Perfekt fast ausschließlich präfigierte Verben oder Verben, die nonadditive Ereignisse sprachlich kodieren, wie diese Passage belegt. Die Präfixe dienen im Bezug auf die Aktionsart des Verbs dazu, die Begrenztheit der Handlung auszudrücken, sei es in Bezug auf den Ausgangspunkt (inzeptive oder inchoative Aktionsart) oder den Zielpunkt (terminative Aktionsart) der Handlung (vgl. Leiss 2000: 79). Sie determinieren durch das Merkmal [+ BEGRENZT ] der Perspektivierung der Handlung auch das aspektuelle Merkmal [+ PERFEKTIV ]. Berücksichtigt man die Werke von Caesar vollständig, fällt eine Inkompatibilität von statischen, durativen und iterativen Verben mit dem aoristischen Präsens auf. 92 Des Weiteren fällt in (52) auf, dass bei facĕre zwar ein additives Verb vorliegt, das in diesem Fall aber durch das Adverb subĭtō perfektiviert wird. Die perfektive Lesart wird in diesem Fall durch das Adverb determiniert, nicht durch die Verbalsemantik. 93 Das Adverbiale veranlasst in diesem Fall die räumliche Distanz, die perfektive Verben charakterisiert, und blockiert eine Innenperspektive auf die Verbalhandlung. Einen weiteren wichtigen Punkt im Hinblick auf eine Bewertung des aoristischen Präsens als aspektuelles Präsens mit den Merkmalen [+ VERGANGEN ] und [+ PERFEKTIV ] liefert Oldsjös Einsicht, dass das aoristische Präsens und das Perfekt im Vergleich zu anderen Tempora auffallend häufig in Adverbialsätzen mit quam (Oldsjö 2001: 333 und 338) und ubi (Oldsjö 2001: 331) vorkommen. Die Austauschbarkeit im selben syntaktischen Kontext untermauert zusätzlich die Annahme einer semantischen Äquivalenz und der Auffassung, dass beide Tempora dieselbe grammatische Aufgabe erfüllen. Wie eingangs gezeigt wurde, hat das Präsens bereits im Lateinischen mehrere Funktionen und ist die neutrale Kategorie, die für Tempus unmarkiert ist, im Sinn von Jakobson (1971a). Das Präsens von nonadditiven Verben weist das Merkmal 91 Die wiedergegeben deutsche Version wurde unter Abgleich mit der zitierten Übersetzung von B.M. angefertigt. Ebenso im Folgenden, wenn bei der Übersetzung „vgl.“ angegeben wird. 92 Vgl. hierzu für das Lateinische im Allgemeinen auch Koller (1951: 74). 93 Die abgeschlossenen Konturen einer Verbalhandlung harmonieren mit einer vordergrundierenden Perspektive (vgl. Leiss 2000: 75), gleichzeitig impliziert eine dadurch kodierte holistische Perspektive, dass der Standpunkt der betrachtenden Origo außerhalb der Verbalsituation liegt. 111 [+ VERGANGENHEITSBEZOGEN ] auf, da das Tempussystem (wohl) retrospektiv war. Die additiven Verben hingegen entfalten eine protoypische präsentische Bedeutung. Diese Differenzierung innerhalb der morphologischen Präsensformen berücksichtigt Oldsjö (2001) nicht, weshalb er alle Präsensformen als aoristisches Präsens einstuft. Da es in den historiografischen Traktaten weitestgehend keine Erzählerkommentare gibt und auch die wenigen dialogischen Passagen nicht im Präsens wiedergeben werden, sind Oldsjös Zahlen zur Tempusverteilung auch weitestgehend zutreffend (vgl. Fußnoten 83 und 84). Dennoch muss vor dieser Einsicht der Anfang des ersten Buches von De Bello Gallico (Buch 1,1) noch einmal genauer betrachtet werden (Beispiel 53), denn die Erzählung beginnt zwar präsentisch, die Verben sind jedoch alle additiv. So wird zu Beginn die geografische Lage des Gebietes der Gallier im Präsens beschrieben. Die Passage könnte natürlich perspektivisch ebenfalls in der Vergangenheit gegenüber der Erzählzeit lokalisiert sein. Dafür würde die Einsicht in der Forschung sprechen, dass die Einleitung, in der Gallien in seinen Teilen vorgestellt wird, erst gegen Ende des gallischen Krieges verfasst wurde (vgl. Deißmann 2008: 632). Die Verortung des deiktischen Bezugspunkts des Referenzsystems im schriftlichen Text besteht jedoch unabhängig von der chronologischen außersprachlichen Zeit und wird durch den Autor beliebig festgelegt, je nachdem, wo er den Erzähler innerhalb der diegetischen Welt verortet. Eine Berücksichtigung morphosyntaktischer Kriterien blockiert eine vergangenheitsbezogene Lesart und bestätigt die im Hinblick auf die Präsensverwendungen insgesamt sehr treffsichere Tempuswahl in der deutschen Übersetzung von Deißmann (Caesar 2008). Die Verben sind additiv und haben folglich eine präsentische Bedeutung. (53) Gallia est omnis divisa Perf. Passiv in partes tres, quarum unam incolunt Pr. Belgae, aliam Aquitani, tertiam qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur Pr. Passiv . Hi omnes lingua, institutis, legibus inter se differunt Pr. . Gallos ab Aquitanis Garunna flumen, a Belgis Matrona et Sequana dividit Pr. . Horum omnium fortissimi sunt Pr. Belgae, propterea quod a cultu atque humanitate provinciae longissime absunt Pr. , minimeque ad eos mercatores saepe commeant Pr. atque ea quae ad effeminandos animos pertinent Pr. , important, proximique sunt Pr. Germanis, qui trans Rhenum incolunt Pr. , quibuscum continenter bellum gerunt Pr. . Qua de causa Helvetii quoque reliquos Gallos virtute praecedunt Pr. , quod fere cotidianis proeliis cum Germanis contendunt Pr. , cum aut suis finibus eos prohibent Pr. aut ipsi in eorum finibus bellum gerunt Pr. . Eorum una pars, quam Gallos obtinere dictum est Perf. Passiv , initium capit a flumine Rhodano, continetur Pr. Passiv Garumna flumine, Oceano, finibus Belgarum, attingit Pr. etiam ab Sequanis et Helvetiis flumen Rhenum, vergit Pr. ad septentriones. 112 Belgae ab extremis Galliae finibus oriuntur Pr. Passiv , pertinent Pr. ad inferiorem partem fluminis Rheni, spectant Pr. in septentrionem et orientem solem. Aquitania a Garunna flumine ad Pyrenaeos montes et eam partem Oceani quae est Pr. ad Hispaniam pertinet Pr. ; spectat Pr. inter occasum solis et septentriones. (Caesar 2008: 4; Hervorhebungen B.M.) ‘Das Gesamtgebiet Galliens ist in drei Teile geteilt: in dem einen leben die Belger, in einem zweiten die Aquitaner und in einem dritten die Völker, die in der Landessprache Kelten heißen, bei uns jedoch Gallier. Sie unterscheiden sich alle nach Sprache, Tradition und Recht. Der Fluss Garonne trennt das Gebiet der Gallier von dem der Aquitaner, während die Flüsse Marne und Seine ihr Land gegen das der Belger abgrenzen. Die Belger sind von allen erwähnten Stämmen die tapfersten, weil sie von der verfeinerten Lebensweise und der hochentwickelten Zivilisation der römischen Provinz am weitesten entfernt sind. Denn nur selten gelangen Händler zu ihnen mit Waren, die die Lebensweise verweichlichen können. Zudem leben sie in unmittelbarer Nähe der Germanen, die das Gebiet jenseits des Rheins bewohnen und sich ständig im Kriegszustand mit den Belgern befinden. Aus demselben Grund übertreffen auch die Helvetier die übrigen Gallier an Tapferkeit, weil sie fast täglich mit den Germanen zu kämpfen haben. Denn entweder müssen sie die Einfälle der Germanen in ihr Gebiet abwehren, oder aber sie kämpfen selbst auf germanischem Gebiet. Der Teil des Landes, in dem, wie schon gesagt, die Gallier leben, beginnt an der Rhône und wird durch die Garonne, den Ozean und das Gebiet der Belger begrenzt. Er berührt sogar in nächster Nachbarschaft zum Land der Sequaner und Helvetier den Rhein und erstreckt sich dann nach Norden. Das Gebiet der Belger beginnt am äußersten Ende Galliens und erstreckt sich bis zum Unterlauf des Rheins. Es liegt gegen Nordosten. Aquitanien erstreckt sich von der Garonne bis zu den Pyrenäen und zu dem Teil des Ozeans, den auch die spanische Küste berührt. Es weist nach Nordwesten’. (vgl. Caesar 2008: 5) So beginnt De Bello Gallico mit einem Passiv Perfekt, einer primär aspektuellen Form, da es sich um ein Resultativum handelt. Es steht somit nicht der Verbalvorgang ‘Unterteilung Galliens’ im Vordergrund, sondern das Ergebnis ‘Unterteiltsein’. Der Prozess, der zur Dreiteilung Galliens geführt hat, wird ausgeblendet. Der Verbalvorgang zu Beginn der Erzählung wird somit vorzeitig zur (fiktionalen) Erzählsituation verortet, jedoch lediglich in seinem Resultat betrachtet. Die beiden darauffolgenden Verben im Präsens (incolunt) und im Präsens Passiv (appellantur) verorten die Verbalvorgänge in der Kommunikationssituation zwischen Erzähler und Leser. Die homogene Einhaltung des Präsens und die temporale Konkordanz zwischen den diversen Verbformen innerhalb der Passage (Beispiel: dictum 113 est 94 ) sowie zwischen Haupt- und Nebensätzen lassen wenig Zweifel daran, dass hier ein allgemeingültiges Präsens vorliegt. Betrachtet man die Semantik der Verben, fällt auf, dass es sich um additive Verben, also Verben mit imperfektiver Aspektualität, handelt. Bei den Verbalvorgängen in der diskutierten Passage werden ausschließlich durative und stative Verben herangezogen. Durch die Nicht-Spaltung von Betrachter (Referenzzeit) und Sprecher (Sprechzeit) und den Zusammenfall von Ereignis- und Sprechzeit werden die beschriebenen Ereignisse auf der Ebene der Diegese in die (fiktionale) Sprechsituation transponiert. Hier hat die externe Referenz in der außersprachlichen Welt eine Bedeutung. Die Beschreibung Galliens entspricht der Situation vor der Eroberung durch Caesar, wodurch die Ereignisse eindeutig in der Vergangenheit lokalisiert werden können. Dies geschieht jedoch nur durch kontextuelles Wissen; auf sprachlicher Ebene gibt es keine Anweisung, da weder eine Spaltung in Betrachter und Erzähler erfolgt noch ein Temporaladverbiale das Zeitintervall begrenzt. Es handelt sich daher um einen Erzählerkommentar - in Form einer Anrede des (virtuellen) Lesers durch den Erzähler im ‘Hier und Jetzt’ der kanonischen Kommunikationssituation, die dem Text zugrunde liegt. Für ein vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens fehlt der temporale Anker, denn das Präsens kann von sich aus keine temporale Lokalisierung mit dem Merkmal [+ VER - GANGEN ] veranlassen. Da ausschließlich imperfektive stative und durative Verben vorliegen und weder progressionsfähige Verbalereignisse noch Temporaladverbialien, Präpositionen oder Konjunktionen vorkommen, die eine narrative Progression veranlassen würden, handelt es sich auch nicht um eine Form von „frühem narrativen Präsens“. Es handelt sich vielmehr um eine Zustandsbeschreibung. Im weiteren Verlauf des Textes von De Bello Gallico hingegen spaltet der Erzähler sein I CH -H IER -J ETZT in betrachtende und erzählende Origo. Der Bruch erfolgt unmittelbar im darauffolgenden Abschnitt, wo die Erzählung beginnt: Apud Helvetio longe nobilissimus fuit Perf. ditissimus Orgetorix. 95 (Caesar 2008: 4). Ab hier lässt sich die beschriebene Tempusalternanz zwischen Perfekt und Präsens beobachten. Die Annahme, das aoristische Präsens und das Perfekt seien austauschbare funktionale Äquivalente im Lateinischen, ist somit sowohl quantitativ als auch qualitativ ausreichend untermauert. Oldsjö (2001) liefert das von Pinkster (1988) formulierte Forschungsdesiderat, das sogenannte historische Präsens qua aoristisches Präsens genauer zu beschreiben. In seiner quali- 94 Die Verwendung des aspektuellen passiven Perfekts indiziert, dass in der Erzählung Ereignis- und Referenzzeit mit der (fiktionalen) Sprechzeit zusammenfallen. Das bedeutet, dass das Präsens in seiner eigentlichen präsentischen Grundbedeutung verwendet wird. Eine Vorzeitigkeit in der Vergangenheit müsste durch ein indikativisches, passives Plusquamperfekt kodiert werden. 95 ‘Orgetorix war bei den Helvetiern der weitaus vornehmste und reichste Mann.’ (vgl. Caesar 2008: 5 und 7). 114 tativen Analyse liefert Oldsjö überzeugende Belege dafür, dass das aoristische Präsens und das Perfekt unter gleichen Umständen für gleiche Verbalvorgänge herangezogen werden (vgl. Oldsjö 2001: 359). Gleichzeitig widerlegt er die Annahme, dass Verben der mentalen Vorgänge als Verben imperfektiver Aspektualität betrachtet werden sollten, da sie durch die Verwendung des aoristischen Präsens die dahinterstehenden Entscheidungen und nicht die Meinungen fokussieren (vide: Oldsjö 2001: 355). Die Analyse von Oldsjö schließt für Caesars Werk auch einen Zusammenhang zwischen einer inhaltlichen Determinierung der Präsensverwendungen und der Annahme aus, es werde an narrativen Kernpunkten herangezogen, um diese besonders lebhaft und ikonisch zu gestalten (vgl. Oldsjö 2001: 370). 96 [...] it is the dramatic use of the present of narration that is the exception in Caesar’s narrative. (Oldsjö 2001: 364; Kursivierung im Original) Die durch Oldsjös (2001) Arbeit gewonnenen Einsichten bilden einen wichtigen Grundstein für die Betrachtung der Tempusverwendung in den älteren Epen der romanischen Einzelsprachen. Dort wird für eindeutig in der Vorzeitigkeit lokalisierte Vorgänge ebenfalls das Präsens in der Erzählsubstanz verwendet. Angesichts der genetischen Affinität zwischen den romanischen Einzelsprachen und dem Lateinischen und aufgrund der Verteilung auf die kommunikative Nähe und die kommunikative Distanz liegt die Annahme nahe, dass jenes aoristische Präsens noch als Relikt besonders in Diskurstraditionen der ‘elaborierten Mündlichkeit’ vorkommt. Diese sind konzeptionell sehr hoch entwickelt und deshalb wohl auf Autoren mit hohem Bildungsgrad zurückzuführen. Die jeweiligen Autoren waren in der Regel auch des Lateinischen mächtig und mit literarischen Werken aus dem klassischen Latein vertraut. Tradiert wurden die Texte dann von Sängern, die oftmals den niedrigeren Schichten angehörten und sich durch das Rezitieren und Aufführen von Epen ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Arbeit von Oldsjö (2001) ist zusätzlich von Bedeutung, weil sie die Auffassung, das aspektuelle oder aoristische Präsens sei ein Phänomen, das man in Zusammenhang mit einer dominant mündlichen Kultur erklären müsse (u.a. Fleischman 1990) in ein ganz anderes Licht stellt und neue Fragen aufwirft, auf die in Kapitel 9.1 näher eingegangen wird. Außerdem zeigen die gewonnenen Einsichten bezüglich des Lateinischen, dass eine Vergleichbarkeit des Präsens als Tempus der Erzählsubstanz in älteren und in modernen Texten, wie sie Fleischmans (1990; 1991b) Ansatz zugrunde legt, fragwürdig erscheint. Um eine Übertragung der von Oldsjö (2001) gewonnen Einsichten auf die älteren Sprachstufen der romanischen Einzelsprachen plausibel zu machen, wird im folgenden Abschnitt kurz deren Genese im Spannungsfeld von 96 Diesen Ansatz vertreten unter anderem Hofmann/ Szantyr (1972: 307) und Kühner/ Stegmann/ Thierfelder (1962: 115). 115 Mündlichkeit und Schriftlichkeit in einer durch diglossische Sprachsituation charakterisierten Gesellschaft erläutert werden. Sodann wird anhand von zwei Epen die Übertragbarkeit der formulierten Hypothesen empirisch überprüft. 6.2 Der ‘Untergang’ des aoristischen Präsens im Zuge der Entwicklung vom Lateinischen zu den romanischen Einzelsprachen Das aoristische Präsens ist charakteristisch für die Sprachen der Antike 97 und die älteren Sprachstufen unserer modernen Volkssprachen und wird als ein Funktionsäquivalent zum Perfekt eingesetzt, wie Detges (2006: 49) und Oldsjö (2001) festhalten. 98 Man findet Belege für das aoristische Präsens sowohl im Lateinischen als auch im Altfranzösischen und im Altspanischen, während das Phänomen in den germanischen Sprachen eher selten dokumentiert ist. Gleichwohl liefert das Altisländische Belege, welche es zumindest ermöglichen, über die Existenz eines aspektuellen aoristischen Präsens in älteren Sprachstufen der germanischen Sprachen zu spekulieren. Einen Vergleich des Präsensgebrauchs als Tempus der Erzählsubstanz in den älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen und im Lateinischen legen die sprachhistorische Entwicklung vom Lateinischen zu den romanischen Einzelsprachen und das Verhältnis von Nähesprache und Distanzsprache in der lateinisch-romanischen Diachronie nahe. Gleichzeitig liefert die Reorganisation des Nähebereichs im Rahmen der Ausgliederung der romanischen Einzelsprachen auch eine Erkärung für vermeintliche Unsicherheiten oder gar Inkongruenzen in der Verwendung des Präsens mit Vergangenheitsbedeutung, im Sinne eines aoristischen Präsens, in Texten der älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen. Das Präsens verlor sukzessive seine aspektuell determinierten Verwendungsrestriktionen und wurde einheitlich zu einem Tempus, das unabhängig von der aspektuellen Semantik des Verbstamms Ereignisse und Verbalhandlungen im ‘hic et nunc’ der Sprechzeit lokalisierte. Aspektualitätsbedingte Inkompatibilitäten mit einer ‘Hier und Jetzt’-Perspektive gewannen sukzessive eine futurische Lesart. 97 Überlieferungen liegen ausschließlich für die konzeptionelle Distanzsprache vor, was jedoch auf eine mediale Kontiguität des uns aus älteren Epochen überlieferten sprachlichen Materials zurückzuführen ist. Die Nachweisbarkeit in medial schriftlich wie auch in medial phonischen Diskursen (auch wenn uns diese nur in schriftlicher Form vorliegen) legt die Vermutung nahe, dass das aoristische Präsens sowohl in der gesprochenen Sprache im engeren Sinn als auch in der geschriebenen Sprache vorkam. 98 Dies invalidiert jedoch Detges’ Einschätzung, das historische Präsens habe einen präsentischen Temporalwert (Detges 2006: 49). Das mag für das moderne Präsens als Erzähltempus zutreffend sein, kann aber keineswegs per Analogie auf das Präsens in der Erzählsubstanz in mittelalterlichen Texten übertragen werden. 116 Die Gewohnheit, das (perfektive) Präsens mit Vergangenheitsbezug im Lateinischen zu benutzen oder zumindest die Möglichkeit, dies zu tun, führten dazu, dass die frühen Schreiber der romanischen Einzelsprachen Unsicherheiten im Gebrauch der Tempora aufweisen. Deshalb folgen sie teilweise gemäß ihrem Sprachgefühl für die Verwendung der Tempora in den neu sich herausbildenden romanischen Einzelsprachen immer noch ihrer Intuition, die vom Lateinischen der distanzsprachlichen Diskurstraditionen geprägt ist. Diese sprachliche Konstellation begünstigte die Übertragung von Diskursregeln, Textmustern und Textstrukturregeln innerhalb diverser Diskurstraditionen, besonders in den konzeptionell distanzsprachlichen Diskurstraditionen der ‘elaborierten Mündlichkeit’. Der Ursprung des präsentischen Erzählens, das in De Bello Gallico von Caesar aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. vorherrscht, ist ungewiss. In der Forschung dominiert die Ansicht, die Anfänge seien in mündlichen literarischen Traditionen zu suchen und es sei als eine Art Relikt aus jener Tradition mit in die Schriftlichkeit eingegangen. Diese Hypothese zu stützen ist genauso unmöglich wie sie endgültig zu widerlegen, da uns die überlieferten Dokumente aus jener Zeit nur einen Zugang zur geschriebenen Sprache ermöglichen und auch hierfür nur Fragmente der literarischen Gesamtproduktion überliefert sind. Die am Beispiel des Altfranzösischen und des Altspanischen aufgestellten Hypothesen von Fleischman (1990), das „historische Präsens“ sei ein Charakteristikum einer oralen, nicht-literalisierten Kultur und dessen zunehmende Verwendung in der Gegenwart sei mittels ‘Reoralisierung’ zu erklären, verlieren jedoch an Plausibilität, 99 wenn man die Produktivität jenes präsentischen Erzählens im Lateinischen in Diskurstraditionen der konzeptionellen Schriftlichkeit berücksichtigt. Bei den altromanischen Epen handelt es sich um eine mündliche, literarische, narrative Diskurstradition und die Entstehung der Texte ist wesentlich früher zu datieren als ihre Verschriftung. Folglich stammen die Texte aus einer Zeit, in welcher der Abbau des Aspektsystems noch nicht so fortgeschritten war wie zum Zeitpunkt der steigenden Literalisierung der Gesellschaft im Spätmittelalter. Angesichts mangelnder präskriptiver Normen für die Verschriftung wurden die Texte ohne die zahlreichen Regularisierungen niedergeschrieben, 100 die bei jüngeren Überlieferungen durch die Schreiber vollzogen wurden. Dies erklärt vermutlich auch, weshalb es 99 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den theoretisch-methodischen Problemen der Reoralisierungshypothese siehe Kapitel 9.1. 100 Dennoch darf dies nicht über die Probleme der zahlreichen Versuche hinwegtäuschen, ‘historische Mündlichkeit’ anhand jener mittelalterlichen Texte zu rekonstruieren. Zeman (2010) belegt am Beispiel der dialogischen Passagen in den Versepen, die bezüglich „Strukturen wie Kontraktionen, Satzlänge und Satzkomplexität“ (Zeman 2010: 37) keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlich der Opposition ‘dialogischer’ versus ‘nicht-dialogischer’ Passagen aufweisen, dass sich bereits bei diesen Texten das Problem der ‘fingierten Mündlichkeit’ stellt (vgl. ebd.). Außerdem ist mit der medialen Transposition eine erhöhte Elaboriertheit per se verbunden (vgl. Kapitel 9.1.1). 117 keine Belege für ein aspektuelles, aoristisches Präsens im Altportugiesischen gibt, wo der älteste (fiktionale) narrative Text, A Demanda do Santo Graal, zwar aus dem 13. Jahrhundert stammt, jedoch lediglich in Form einer Abschrift aus dem 15. Jahrhundert vorliegt (vgl. Ribeiro/ Kato 2009: 383). Es liegt nahe, dass diese Formen, selbst wenn sie dort belegt gewesen wären, im Rahmen der Erstellung sukzessiver Abschriften durch die Kopisten gemäß der sich etablierenden im Rahmen der Standardisierungsprozesse der romanischen Einzelsprachen etablierenden präskriptiven Norm umgeschrieben worden wären. Somit liegt uns hinsichtlich des Tempus- und Modusgebrauchs lediglich eine regularisierte Form vor (vgl. Koch/ Oesterreicher 1994: 591). Die romanischen Sprachen haben sich in einem kontinuierlichen Prozess, dem sogenannten lateinisch-romanischen Kontinuum, aus dem Lateinischen herausgebildet. Die romanischen Sprachen waren zunächst auf die Domäne der medialen Mündlichkeit und konzeptionellen Nähesprache beschränkt und eroberten sukzessive die nähesprachlichen schriftlichen Texte. Innerhalb des lateinischen Varietätenraums stehen sich das klassische Latein als Distanzsprache und das ‘Vulgärlatein’ als Komplex der Varietäten der Nähesprache gegenüber. Das klassische Latein ist ein normiertes, fixiertes und elaboriertes Latein, das als „exemplarische Sprachform“ nicht mehr für Innovationen aus der lebendigen, gesprochenen Sprache offen war (vgl. Beltrán Lloris 2005). Die lateinische Distanzsprache ist seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten gekennzeichnet durch eine andauernde relative Erstarrung und Abkoppelung von der Nähesprache. Bedingt durch Faktoren wie Expansion des Imperiums, Kolonialisierung und Sprachkontakt sowie Zusammenbruch des Imperiums, erlebte die Nähesprache, also das lebendige Vulgärlatein, das natürlich nie kodifiziert und homogen gewesen war, einerseits eine Akzeleration des sprachlichen Wandels, der die Kluft zum klassischen Latein bzw. zum Spätlatein vertiefte, andererseits die Zunahme der zentrifugalen Entwicklungen, die eine starke diatopische Differenzierung zur Folge hatte. (Koch/ Oesterreicher 2011: 137-138) Angesichts der mangelnden Flexibilität des klassischen Lateins, das die Norm im literarischen Gebrauch und in der formellen Rede darstellt, waren immer breitere Schichten der Gesellschaft des Lateinischen nicht mehr mächtig. Seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten entsteht eine Diglossiesituation im Sinn von Ferguson (1959: 336), bei der der Abstand zwischen Nähe- und Distanzbereich immer größer wird, sodass innerhalb des Distanzbereichs eine (fonische) Kommunikation zwischen „schriftlateinischkundigen litterati und nähesprachlich bewanderten illiterati in derselben 118 Sprachform nicht mehr möglich war“ (vgl. Koch 2003: 114), was dem Ende der ‘vertikalen Kommunikation’ 101 entspricht (vgl. Abbildung 5). Wo die präskriptive Norm eine jahrhundertelange Immobilität aufweist, führt die wachsende Diskrepanz zwischen Distanz- und Nähebereich früher oder später unweigerlich zu einer Diglossiesituation [...]. Dies ist z. B. im romanischlateinischen Mittelalter zu beobachten, wo das Schriftlatein schließlich als mehr oder weniger erstarrte H-Varietät von den romanischen Volkssprachen als L- Varietäten absticht [...] (Koch/ Oesterreicher 1994: 599) Das Ende der vertikalen Kommunikation bildet den „Katalysator für eine verstärkte Verschriftung volkssprachlicher Idiome“ (Koch 2003: 116), besonders wenn diese mit einer Verschriftlichung einhergeht. Dies führte zur Entstehung eigener Einzelsprachen, die das Lateinische je nach Sprachgebiet zwischen 800 und 1100/ 1200 n. Chr. ablösten. Abbildung 5 - Modell der Entwicklung der Beziehung von lateinischer Hochsprache (Schriftlatein) und gesprochenem Latein (Sprechlatein) und die Entstehung der romanischen Sprachen (adaptiert nach Berschin/ Felixberger/ Goebl 2008: 62; vgl. auch Koch 2003: 115) Die Karolingische Reform ab Mitte des 8. Jahrhunderts mit dem Streben Karls des Großen (768-814) nach einer verstärkten Orientierung am klassischen Latein und einer kulturellen Hinwendung zur Antike blieb weitestgehend utopisch: Trotz der Bemühungen um die Rückkehr zu einem klassischen Standard, in einer Gesellschaft, in der lediglich eine Minderheit die Kunst des Lesens und Schreibens beherrschte, kam verstärkt das Bewusstsein auf, dass „zwei verschiedene Sprachen vorlagen, neben der lateinischen Schriftsprache die romanische Volkssprache“ (Berschin/ Felixberger/ Goebl 2008: 183). Die Varietäten des Nähebereichs konnten dadurch 101 Unter dem Ende der vertikalen Kommunikation versteht man das Ende der Interkomprehension zwischen high und low variety, also zwischen den Sprachen der kommunikativen Nähe und der Distanz (vgl. Banniard 1992: 421-422; 489-492). 119 eine Identität als romanische Idiome erringen, denn sukzessive wurde man sich der Heterogenität innerhalb der Sprechsprache im Sinne der Existenz mehrerer romanischer Sprachen bewusst, welche zunächst einen bunten Teppich nähesprachlicher Idiome mit begrenztem Kommunikationsradius bildeten (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 138). Die Verschriftlichung der volkssprachlichen romanischen Idiome erfolgte im Zeichen des Kontakts und Austauschs von Sprachformen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit, der somit ausschlaggebend für die Herausbildung und Etablierung der einzelnen romanischen Schreibstandards war (vgl. Koch/ Oesterreicher 1985: 33). Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass sich der Verschriftlichungsprozess sukzessive auf einzelne Diskurstraditionen der Distanz erweitert und über Etappen des Teilausbaus erfolgt und Sprachen dann zu voll ausgebauten Schriftsprachen werden, wenn dieser Prozess abgeschlossen ist (vgl. Oesterreicher 1993: 276). Bei der passage à l’écrit des langues romanes entwickelten diese im Mittelalter sukzessive Ausdrucksmittel für den Distanzbereich, der bis dahin dem Lateinischen vorbehalten war (vgl. Oesterreicher 1993: 276). Die Entstehung der Schriftsprache geht folglich mit dem Prozess des extensiven Ausbaus einher, da das gesprochene Idiom dadurch „in die Diskurstraditionen des Distanzbereichs einer Kommunikationsgemeinschaft einrückt“ (vgl. ebd.) und „ein Maximum an kommunikativen Funktionen und Diskurstraditionen im Distanzbereich“ (Koch/ Oesterreicher 1994: 589) übernimmt. Gleichzeitig motiviert dieser Prozess den intensiven Ausbau, da die Kommunikationsgemeinschaft sprachliche Ausdrucksmittel entwickelt, die für die konzeptionelle Schriftlichkeit erforderlich sind (vgl. ebd.; Koch/ Oesterreicher 2011: 136). 102 Dementsprechend gestaltet sich also der Übergang zur Schriftlichkeit: stets nur Stück für Stück in einzelnen Diskurstraditionen, erst allmählich dann immer mehr Diskurstraditionen erfassend, bis flächendeckend eine ganze Einzelsprache in die Schriftlichkeit eingedrungen ist. Dies ist der Prozeß, den man in Präzisierung einer von Kloss [1978: 37ff.] eingeführten Terminologie als ‘extensiven Ausbau’ bezeichnen könnte. (Koch 1997: 58) Die sukzessive Verschriftung von zunächst mündlich vorgetragenen Texten führt zu dem Aufkommen eines Bewusstseins für den Verlust von suprasegmentaler Information der gesprochenen Sprache. Die sprachlichen Einheiten, die in der gesprochenen Sprache durch Intonation markiert werden, können fehlen, ebenso wie die Vorder- und Hintergrundierung von Infor- 102 Ab dem 12./ 13. Jahrhundert konsolidieren sich dann verschiedene plurizentrische Schreibtraditionen romanischer Distanzsprache, die man als scriptae bezeichnet (vgl. Koch 2003: 116; Koch/ Oesterreicher 2011: 139). Vereinheitlichungs- und Selektionstendenzen führen sukzessive zur Homogenisierung und zur Konzentration auf wenige Ausstrahlzentren mit wirtschaftlichem, kulturellem oder politischem Prestige - ein wichtiger Schritt in Richtung der Standardisierung, die zu den heute bekannten romanischen Nationalsprachen geführt hat (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 140). 120 mation, und auch Ironie kann nicht mehr intonatorisch markiert werden. Dieser Informativitätsverlust wird durch das Setzen von Spatien, Satzzeichen und durch hypotaktische Satzkonstruktionen und die Verwendung eines differenzierten Systems von Konjunktionen kompensiert. So ist auch geschriebene Sprache nicht komplexer als gesprochene Sprache und der intensive Ausbau darf nicht als ‘Neuerfindung’ grammatischer Funktionen missverstanden werden, sondern ist ein Mechanismus, um gewisse grammatische Funktionen auf segmentaler Ebene explizit zu machen. Geschriebene Sprache ist folglich auf segmentaler Ebene expliziter als gesprochene Sprache. Die Literalisierung hat tiefgehende kulturelle und psychologische Effekte, 103 wie Koch/ Oesterreicher (1985: 31) hervorheben, darunter auch die zunehmende Bedeutung einer Situierung in der Zeit (vgl. Ong 2002: 96). Dies führte im Rahmen einer Verinnerlichung der Literalisierung zur chronologisch-episodischen Sequenzierung narrativer Texte (vgl. Ong 2002: 144) und war ein entscheidender Faktor für die narrative Strukturierung mit Plot und Klimax (vgl. Ong 2002: 141). 104 Außerdem veränderte die Schriftlichkeit die Auffassung von literarischer Fiktionalität und die Ansprüche an literarische Werke entscheidend, wie bereits gezeigt wurde. Die Genese der Diskurstradition des Romans ist ein Produkt des psychologischen und kulturellen Wandels, der mit dem Übergang von einer dominant oralen zu einer Schriftkultur einherging, und des dadurch entstandenen Umbruchs in der menschlichen Vorstellungskraft und Imagination. Auf der Ebene der Makrostruktur wurde die Erzählung in Form einer Distanzierung gegenüber dem Erzählten aus der Epen- und Sagatradition im Roman übernommen, die zum Beispiel durch eine eindeutige temporale Distanzierung der Ereignisse mittels Vergangenheitstempora auf der Ebene der Perspektive zum Ausdruck kam. Die entsprechende, auf der Ebene der Diskursregeln festgelegte Perspektivierung wurde bereits in Kapitel 5 erläutert. 103 Ong (2002) zeigt, dass die Verbreitung des schriftlichen Mediums sich determinierend auf die Strukturierung der Gedanken und deren Vermittlung auswirkt. Ong zieht dazu das Beispiel von Thomas von Aquin heran, der seine Manuskripte zu Summa theologiae in einem ‘quasi-oralen’ Format strukturiert, in dem er zunächst zu Beginn jeder Sektion die jeweils zu bearbeitende Frage aufführt, dann die Einwände gegen seine Position auflistet, seine eigene Position formuliert und schließlich der Reihenfolge nach alle Einwände beantwortet (vgl. Ong 2002: 94). Ong zufolge weisen demnach oral formulierte Gedanken andere Konturen auf als schriftlich formulierte (vgl. ebd.). 104 Laut Ong tauchen klimatische lineare Plots in narrativen Texten erst mit Verschriftlichung, gesellschaftlicher Literalisierung und ihrer Verinnerlichung auf, da bis zur Zeit von Jane Austen (1775-1817) narrative Texte eher episodisch waren (vgl. Ong 2002: 141). Seine vollkommene Ausformung erreicht dieses diskursive Muster dann im Detektivroman, dessen Anfang mit Edgar Allan Poes The Murders in the Rue Morgue meistens auf 1841 datiert wird (vgl. ebd.). 121 Durch die graduelle Konsolidierung der romanischen einzelsprachlichen Tempussysteme ist auch ein vereinzelter Gebrauch des aoristischen Präsens in den ersten Romanen nicht vollkommen ausgeschlossen. Denn obwohl die Literalisierung zwar gewissermaßen den Prozess des ‘Untergangs’ des aspektuellen aoristischen Präsens begünstigte (vgl. Kapitel 9.1.3), verlief der Prozess der Interiorisierung der Literalisierung graduell. Die Menschen in ‘neu’ literalisierten Gesellschaften wiesen folglich auch noch zahlreiche Denkmuster und Gedankenstrukturierungen auf, die man aus heutiger Sicht als ‘Überreste’ der Denkmuster einer primär oralen Gesellschaft werten kann (vide: Ong 2002, dort Kapitel 4). Dies reflektiert sich unter anderem in der Unsicherheit im Gebrauch gewisser grammatischer Formen, die Ausdruck einer noch nähesprachlich geprägten Schreibkompetenz ist (vgl. Oesterreicher 1993: 280, Fußnote 41). Für die Frage nach dem Präsens als Erzähltempus ist relevant, dass der Zusammenbruch des Aspektsystems in Korrelation mit der Literalisierung der Gesellschaft steht, da im Rahmen dieses Prozesses die aspektuellen Formen einen Zugewinn an temporaler Semantik erfahren. Eine direkte Verbindung zwischen dem Lateinischen und den älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen, die einen Vergleich der Präsensverwendung als Tempus der Erzählsubstanz rechtfertigt, konnte angesichts der genetischen Entwicklungslinie durch dieses Kapitel ebenfalls ausreichend begründet werden. 6.3 Das aspektuelle, aoristische Präsens im Altspanischen und im Altfranzösischen: Poema de Mio Çid und La Chanson de Roland Das Präsens wies bereits im Altspanischen und im Altfranzösischen folgende Funktionen auf: (1) Ausdruck gegenwärtiger Ereignisse; (2) Sprachliche Kodierung zukünftiger Ereignisse unter unmittelbarer Anbindung an ein Temporaladverbiale; (3) Versprachlichung von Allgemeingültigem; (4) Ausdruck von vergangenheitsbezogen vorzeitigen Ereignissen (vgl. Buridant 2000: 290-291; Moreno de Alba 2006: 20-21). Die Funktionen des Präsens als Erzähltempus in den älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen sind bis heute nicht hinreichend erklärt worden. Viele Forscher gehen weiterhin von einer ‘Tempusverwirrung’ im Altspanischen und im Altfranzösischen aus (vgl. Schweizer 1974: 7-22; Weinrich 2001: 238). Entscheidende Gründe hierfür sind abweichende Tempusdistri- 122 butionen und die unterschiedliche funktionale Relevanz einzelner Tempora. So ist etwa auffällig, dass (1) im Rolandslied (Entstehung zwischen 1075 und 1110) in 2 670 Verbalokkurrenzen lediglich 23 Imperfektformen auftreten, (2) die Auxiliarisierung mit HABERE sowohl im Altspanischen als auch im Altfranzösischen noch vorwiegend als aspektuelle Resultativform verwendet wird (vgl. Detges 2001, 2006), sowie (3) das Präsens als Erzähltempus eingesetzt wird, mit 1 754 Okkurrenzen im Rolandslied 105 und 839 Okkurrenzen im El Poema de Mio Çid 106 (fortan Çid, Entstehung zwischen 1195 und 1207) in nicht-dialogischen Passagen - in diesen macht das Präsens 70% der Verbalokkurrenzen in beiden Werken aus, 107 neben 527 passé simple-Formen im altfranzösischen Text und 1 065 indefinido-Formen im altspanischen Text (vgl. Schweizer 1974: 36, 37, 84). Das Präsens stellt somit das Leittempus im Rolandslied dar und ist das zweitwichtigste Erzähltempus im Çid. Die Alternierung zwischen Perfekt (passé simple bzw. indefinido) und Präsens entspricht aus heutiger Sicht einem „bunten Wechsel“ der Tempora (vgl. Weinrich 2001: 238), da er nicht den gängigen Distributionsmustern in den modernen Sprachstufen entspricht. Dies hat zu der weit verbreiteten Meinung geführt, es lasse sich keine Systematik dabei erkennen (vgl. ebd.). Dass diese Annahme als unhaltbar gelten darf, ist angesichts der in Kapitel 4 festgehaltenen Funktionen der grammatischen Kategorien des ATM-Komplexes deutlich geworden, ebenso wie die Annahme, Tempusmarkierungen könnten aus sprachökonomischen Gründen wegfallen (vgl. Fleischman 1991a, 1991b). Tempora älterer Sprachstufen vor dem Hintergrund der Systematik unserer heutiger Verbalkategorien erklären zu wollen, hat oftmals fehlerhafte Rückschlüsse und Fehlinterpretationen zur Folge. So ist beispielsweise unbedingt zu beachten, dass Aspektualität in älteren Sprachstufen eine völlig anders gelagerte und wichtigere Funktion innehatte als in den Verbalkategorien und Tempussystemen der modernen romanischen Sprachen (vgl. Penny 2009: 163). Pennys Einschätzungen zufolge ist das altspanische Tempussystem noch weitestgehend identisch mit dem des 105 Die Beispiele aus der Chanson de Roland werden nach der kritischen Ausgabe von Segre (1989) zitiert. 106 Die Beispiele aus dem Poema de Mio Çid werden im Folgenden nach der kritischen Ausgabe von Michael (1991) zitiert. 107 Die Zahlen entsprechen Zählungen durch den Verfasser und dem Abgleich mit den Daten von Gilman (1961) und Schweizer (1974). Erzählerkommentare an den Adressaten bzw. Anreden, die sich an das Publikum richten und auf den Umstand der mündlichen Tradierung und Aufführung des Textes zurückzuführen sind und sich gewissermaßen aus der diegetischen Welt herausbewegen bzw. richten, blieben bei der Zählung unberücksichtigt (Beispiele: sabet, v. 572, 602, 610, u.a., oder oíd, v. 1127, 1603, u.a.). 123 klassischen Lateins (vgl. Penny 2009: 163-169). Dies leuchtet besonders ein, wenn man die für den Sprachraum charakteristische Diglossiesituation mit funktionaler Distribution des klassischen Lateins und des Vulgärlateins berücksichtigt (vgl. Kapitel 6.2). Bereits in Kapitel 6.1.2 wurde die Bedeutung des Präsens in der Erzählsubstanz nicht als ein prototypisches Präsens zum Ausdruck von Gegenwartsbezug angesetzt, sondern die Präsensformen der perfektiven Verben als ein funktionales Äquivalent zum Perfekt herausgearbeitet. Betrachtet man die Bedeutung, die dem Präsens als Tempus der nicht-dialogischen Passagen zukommt (839 Okkurrenzen im Poema de Mio Çid, 1 754 Okkurrenzen in der Chanson de Roland, 1 479 von 2 927 Okkurrenzen im Yvain von Chrétien de Troyes), liegt die Annahme nahe, dass das aoristische Präsens in den älteren Sprachstufen noch erhalten ist, da es angesichts seiner quantitativen Dominanz noch als Erzähltempus Verwendung finden muss. Bei der Distribution ist besonders interessant zu konstatieren, dass das Präsens sowohl das dominante Tempus in den Figurenreden als auch in den Erzählerreden darstellt (vgl. die Auswertungen in Wigger 1978: 44-45). So weist der Yvain 1 479 Okkurrenzen in der Erzählerrede (von insgesamt 2 927 Verbalokkurrenzen) auf, gegenüber 1 271 Belegen in der Figurenrede (von insgesamt 2 390 Verbalokkurrenzen) (vgl. ebd.). Die Hypothese, es handle sich ähnlich wie im Lateinischen um ein aoristisches Präsens, das Handlungsprogression markiert und Ereignisse vordergrundiert, hat die Forschung bis heute nicht systematisch weiter verfolgt (vgl. Gilman 1961: 95-104; Hatcher 1942; Schweizer 1974: 55-64; und 107-118; Wigger 1978: 127-162 u.a.). Die meisten Autoren deuten die Tempuswahl als einen Versuch, die Ereignisse durch die Erzeugung einer Innenperspektive zu ‘verlebendigen’, bei der die Ereignisse in ihrem Verlauf betrachtet werden, um den Verlust an situativer Präsenz durch die Verschriftlichung zu kompensieren. Dieser Ansatz erklärt jedoch nicht die syntaktische Distribution des Präsens in jenen älteren Texten und es bleibt ungeklärt, was mit ‘Verlebendigung’ gemeint ist. Das zu klären wäre jedoch unabdingbar, da das Präsens in sehr unterschiedlichen Ko- und Kontexten verwendet wird. Buridant beschreibt das Erzähltempus Präsens als „expressives Präsens auf der Ebene der Diegese“ (Buridant 2000: 362-363), dessen zeitliche Lokalisierung die Ereignisse im passé simple verankert. Er geht somit von einer Funktionsäquivalenz des Präsens zum Imperfekt aus, mit dem Unterschied, dass das Präsens lediglich den Beginn der Handlung fokussiert (vgl. Buridant 2000: 362). Buridants Ansatz erweist sich allerdings als inkohärent, wenn er später festhält, dass das Präsens insbesondere zur Enkodierung von Ereignissen auf der diegetischen Ebene funktionalisiert wird, die mit einer schnellen narrativen Progression verbunden sind, wie etwa Kampfszenen (vgl. Buridant 2000: 362-363). Ein Tempus, das Hintergrundinformationen kodiert und lediglich durch anaphorischen Verweis auf das vorangehende 124 perfektive Verb zeitlich verankert ist, ohne dass seine Konturen fokussiert werden, kann keine narrative Progression erzeugen und folglich diese auch nicht beschleunigen. Auch metrische Argumente, wie sie etwa Weinrich (2001: 238-239) vorbringt, erweisen sich als ungeeignet für eine Erklärung der Tempusdistribution angesichts der hochgradigen Frequenz des Präsens - welches im Rolandslied (mit 65% der Verbalokkurrenzen gegenüber 20% der Okkurrenzen im passé simple) sogar das dominante Erzähltempus ist (vgl. Schweizer 1974: 84). Die Notwendigkeit, zwischen dialogischen und nicht-dialogischen Passagen zu differenzieren, resultiert aus der Tatsache, dass in dialogischen Passagen, die in der direkten Rede wiedergeben werden, eine Verschiebung des Referenzsystems stattfindet (vgl. Wigger 1978 und Zeman 2010). Die Tempora sind in diesem Fall in der (fiktionalen) kanonischen Kommunikationssituation verankert, der ein ‘Hier und Jetzt’ auf diegetischer Ebene entspricht, das im Kontext der dialogischen Situation verortet ist. Der Nullpunkt des deiktischen Koordinatensystems verschiebt sich und stimmt mit dem des figuralen Produzierers (Sprechers) der Aussage überein. Dies wird besonders durch den Ausdruck nachzeitiger Ereignisse durch das Futur deutlich, das innerhalb der Erzählsubstanz, also in den nicht-dialogischen Passagen, keine Rolle spielt. (54) Spidiós’ Perf. el caboso de cuer e de veluntad, sueltan APr. las rriendas e piensan APr. de aguijar; dixo Perf. Martín Antolínez: „Veré Fut. a la mugier a todo mio solaz, castigar los he Fut. cómmo abrán Fut. a far. (Çid, vv. 226-229, Hervorhebungen B.M.) ‘Entschlossenen Herzens nahm der treffliche Recke Abschied. Sie liessen die Zügel schiessen und gaben den Pferden die Sporen 108 Da sprach Martín Antolínez: „Ich werde meine Gattin noch einmal sehen, zu meiner großen Freude, und werde den Meinen Anweisung geben, wie sie sich zu verhalten haben.’ Die zeitbezogene referentielle Verrechnung des Futurs erfolgt vom fiktionalen Sprechzeitintervall innerhalb der Erzählung aus. Das Präsens in 108 Im Altspanischen drückt penssar de das Fassen eines Beschlusses aus, wodurch das Verbalereignis perfektivisch ist. Das Verb wird in den quantitativen Auszählungen lediglich als penssar aufgeführt und als ein Argument für den imperfektiven Charakter der Verben der Erzählsubstanz herangezogen (vgl. hierzu Gilman 1961: 43; Schweizer 1974: 38). 125 dialogischen Passagen ist folglich, sofern es sich um additive Verben handelt, auch als prototypisches Präsens zu betrachten. (55) En este castiello grand aver avemos preso PC , los moros yazen Pr. muertos, de bivos pocos veo Pr. ; (Çid, vv. 617-618, Hervorhebungen B.M.) ‘In dieser Festung haben wir reiche Beute gemacht, die Mauren liegen tot am Boden, lebend sehe ich nur wenige.’ In (55) determiniert der additive Charakter der Verben (altsp. yazer und ver) eine präsentische Lesart. Die Verbalperiphrase aver + Partizip hingegen kann in diesem Kontext sowohl eine temporale (‘unmittelbare Vorzeitigkeit’ zu den im Präsens kodierten Ereignissen) als auch eine aspektuell-resultative Lesart (‘abgeschlossen zum Zeitpunkt der Betrachtung’) haben. Ein weiteres Problem bei der Beschreibung der Präsensokkurrenzen in älteren Texten besteht darin, dass meistens sowohl der Koals auch der Kontext und vor allem das Vorkommen von perfektivierenden Adverbien unberücksichtigt bleiben. Dies verfälscht die Sicht und hinderte die Forschung bisweilen daran, den Begriff des aspektuellen aoristischen Präsens zur Erklärung des Präsens als Erzähltempus in mittelalterlichen Texten fruchtbar zu machen. Das aoristische Präsens tritt in Erzählsequenzen im passé simple bei Ereignissen auf, die jeweils in vollem Umfang und als sequentiell betrachtet werden. So ist eine temporale oder aspektuelle Kontrastierung in folgendem Beispiel eindeutig auszuschließen, da gerade die Ankunft der Schlüsselfigur im Präsens ausgedrückt wird (vgl. auch Blumenthal 1986: 47) (56) Cuntre lui vient APr. sis cumpainz Oliver, Vint Perf. i Gerins e li proz quens Gerers, E vint Perf. i Otes, si i vint Perf. Berengers, E vint Perf. i Astors e Anseïs li fiers, Vint Perf. i Gerart de Rossillon li veillz, Venuz i est PC li riches dux Gaifiers. (Chanson de Roland, vv. 793-798, Hervorhebungen B.M.) ‘Zu ihm gesellte sich sein Gefährte Olivier Gérin kam hinzu und der tapfere Graf Gérier, Es kamen hinzu Othon und Bérenger 126 Und ebenso Astor und der alte Anséis Und der stolze Gérard von Roussillon; Der mächtige Herzog Gaifier war hinzugekommen.’ Die Verwendung des Präsens als Haupthandlungsträger ist durchaus charakteristisch für das Rolandslied (vgl. Schweizer 1974: 112-113). Im Hinblick auf die Erzeugung narrativer Progression weist das aspektuelle Präsens in (56) ebenfalls keinen Unterschied zum passé simple auf, obwohl die Verwendung häufig in Verbindung mit Handlungen des Protagonisten durchaus die Annahme nahelegt, dass durch die Verwendung des aspektuellen Präsens eine Kontrastierung der Perspektive in den älteren Sprachstufen möglich war - gewissermaßen ein unterschiedliches Zooming der Ereignisse (vgl. Wehr 1984: 109ff.). Dennoch muss diese Präsensverwendung in ihrer Dynamik von jener des vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens differenziert werden, schon alleine aus syntaktischen Gründen. In (56) wird die Sequenz mit einem Resultativum beendet („venuz est“), bei dem das periphrastische Perfekt lediglich den abgeschlossenen Charakter zur Referenzzeit ausdrückt. Die Passage ist ein eindeutiger Beleg für die Fähigkeit dieses Präsens, narrative Progression zu erzeugen und Handlungen in der Vergangenheit zu situieren. Im Altspanischen findet man ebenfalls zahlreiche Belege für derartige Erzählsequenzen mit Alternierung zwischen indefinido und aspektuellem, aoristischem Präsens (57) und (58). (57) Violo Perf. el atalaya e tanxo Perf. el esquina, prestas son APr. las mesnadas de las yentes christianas, adóbanse APr. de coraçon e dan APr. salto de la villa. (Çid, vv. 1673-1675, Hervorhebungen B.M.) ‘Das sah der Wächter und läutete die Glocke; Die Streitkräfte von den christlichen Leuten standen bereit. Sie bewaffneten sich frohen Herzens und stürmten aus der Stadt hervor.’ (58) Quando lo sopo Perf. el buen Campeador, apriessa cavalga APr. , a rreçebirlos salió Perf. . (Çid, vv. 1916-1917, Hervorhebungen B.M.) ‘Als dies der tapfere Campeador erfuhr, Stieg er schnell zu Pferd und ritt hinaus, sie zu empfangen.’ Das Präsens dient dabei häufig dazu, dynamische Haupthandlungen zu schildern ((58) und (59)). Besonders in Kampfszenen erfolgt die Ereignissequenzierung und die narrative Progression häufig im aoristischen Präsens. 127 (59) Brochent APr. les bien, tutes les resnes lasquent APr. . Par grant vertut vait ferir ‘gehen’ + Inf. l’uns li altre. Tuz lur escuz i fruissent APr. e esquassent APr. , Lur osbercs rumpent APr. e lur cengles depiecent APr. , Les alves turnent APr. , les seles cheent APr. a tere. (Chanson de Roland, vv. 3877-3881, Hervorhebungen B.M.) ‘Sie gaben ihnen kräftig die Sporen und gaben die Zügel völlig frei. Mit voller Kraft griff einer den anderen an. Ihre Schilde zerbarsten und zersplitterten Ihre Panzerhemden wurden zerfetzt, die Sattelgurte rissen entzwei, Die Pauschen drehten weg, und die Sättel fielen zu Boden.’ Vorgänge und Ereignisse, bei denen zweifellos eine Handlungsprogression stattfindet, wie etwa R EISEN (60), werden ebenfalls fast ausschließlich im aoristischen Präsens kodiert. (60) Salién Imp. de Valençia, aguijan APr. e espolonavan Imp. . (Çid, v. 2009, Hervorhebungen B.M.) ‘Sie verließen Valencia und gaben ihren Pferden die Sporen.’ (61) Laisent APr. marbrise e si laisent APr. Marbrose, [...] A icel jur venent APr. a Sarraguce. (Chanson de Roland, vv. 2641-2642 und 2645, Hervorhebungen B.M.) ‘Sie ließen Marbrose und Marbrise hinter sich [...]’ An jenem Tag erreichten Sie Saragossa.’ In Beispiel (61) handelt es sich um punktuelle Ereignisse, wie der nonadditive Charakter der Verben vorgibt. Ereignisse, die den Hintergrund bilden, werden hingegen im Imperfekt ausgedrückt (60). Dieser Kontrast kann im Neuspanischen nur durch das indefinido und Imperfekt ausgedrückt werden. Die Selektion des Imperfekts zum Ausdruck hintergrundierter Handlungen ist ein wichtiges Indiz für den vergangenen Charakter der im aoristischen Präsens kodierten Verbalhandlungen. Bei Alternanzen zwischen passé simple und aoristischem Präsens ist weiter von Bedeutung, dass diese syntaktisch in unterschiedlicher Reihung auftreten ((62) und (63)): sowohl aoritisches Präsens gefolgt von passé simple als auch die umgekehrte Reihenfolge, wie bereits Blumenthal (1986: 48) konstatiert. Er zieht jedoch den Schluss, dass eine Unterscheidung zwischen Zustand und Ereignis im Altfranzösischen nicht wie im Neufranzösischen ausgedrückt werden muss. Auch in diesem Fall wird die lineare Struktur 128 durch Aneinanderreihung vordergrundierter Ereignisse verkannt. Die gleiche Alternanz lässt sich auch im Altspanischen (64) und (65) beobachten. (62) Halt sunt APr. li pui e li val tenebrus, Les roches bises, les destreiz merveillus. Le jur passerent Perf. Franceis a grant dulur (Chanson de Roland, vv. 814-816; Hervorhebungen B.M.) ‘Hoch waren die Berge und die Täler finster, Die Felsen düster, die engen Wege bedrohlich. Den Tag verbrachten die Franken in größter Mühsal.’ (63) Bels fut Perf. li vespres e li soleilz fut cler. Les dis mulez fait APr. Charles establer. (Chanson de Roland, vv. 157-158; Hervorhebungen B.M.) ‘Der frühe Abend war schön und die Sonne schien hell. Karl ließ die zehn Maultiere im Stall unterbringen.’ (64) Del castiello que prisieron Perf. todos rricos se parten APr. . (Çid, v. 540; Hervorhebungen B.M.) ‘Von der Festung, die sie eroberten, brachen sie alle bereichert auf.’ (65) Non lo detardan APr. , todos tres se apartaron Perf. . (Çid, v. 105; Hervorhebungen B.M.) ‘Sie zögerten nicht lange, alle drei zogen sich zurück.’ Selbst im Werk von Chrétien findet man noch Verwendungen des aoristischen Präsens, trotz der vermeintlichen Tempusregulierung, die in der Forschungsliteratur häufig zur Annahme führt, bei Chrétien würden die Tempora bereits wie im Neufranzösischen verwendet (vgl. Wigger 1978). Interessante Beispiele liefern die folgenden Passagen aus Le Conte du Graal 109 : (66) Si alerent Perf. tost li cheval, Et li chevalier furent Perf. fort, Si s’antrehaoient Imp. de mort: Si se fierent Perf. que les eis croissent 109 Die zitierten Beispiele stammen aus der Ausgabe von Schöler-Beinhauer (1991). 129 Des escuz et les lances froissent APr. , Si porte APr. li uns l’autre jus; Mes tost refurent Perf. sailli sus […] (Le Conte du Graal, vv. 2668-2674, Hervorhebung B.M.) ‘Die Pferde liefen geschwind, und die Ritter waren stark, sie hassten einander tödlich: sie schlugen sich so heftig, dass die Bretter der Schilde krachten und die Lanzen brachen in Stücke, der eine warf den anderen vom Pferd; aber schnell waren sie wieder aufgesprungen […]’ (67) Quand il garda Perf. anviron a lui Si l’estut Perf. par lui sul lever. Que que il li deüst grever, Des qu’il voit APr. que feire l’estuet APr. Si se lieve APr. , que miauz ne puet APr. , Et chauce sanz aïe atandre Et puis reva Perf. ses armes prandre […] (Le Conte du Graal, vv. 3360-3368, Hervorhebung B.M.) ‘Als er um sich schaute, so musste er sich ganz alleine erheben. Wie lästig es ihm auch immer sein mochte, als er sah, dass er es tun musste, erhob er sich, denn es blieb ihm nichts anderes übrig und zog sich an, ohne auf die Hilfe zu warten, und ging dann und nahm seine Rüstung […]’ Das Gleiche gilt auch für Erec et Enide (68) (vgl. auch vv. 4179-4188), wo das Präsens ebenfalls narrative Progression markiert. Das Adverb si tritt gleichermaßen mit passé simple wie in Verbindung mit dem aoristischen Präsens auf. 130 (68) Erec se lieve APr. par matin, si se remet APr. an son chemin, ele devant et il derriers. (Erec et Enide, vv. 3115-3117, 110 Hervorhebungen B.M.) ‘Erec erhob sich früh und machte sich wieder auf den Weg Enide voraus und er hinterher.’ In diesen späteren Werken sind die Okkurrenzen jedoch wesentlich punktueller als im Çid oder im Rolandslied. Zur temporalen Situierung der Verbalereignisse im aoristischen Präsens ist wichtig festzuhalten, dass Ereignisse, die vorzeitig zur Referenzzeit sind, wie im Lateinischen, im Plusquamperfekt ausgedrückt werden, wie folgendes Beispiel belegt: (69) Li empereres out sa raisun fenie PP . Li quens Rollant, ki ne l’otriet APr. mie, En piez se drecet APr. , si li vint Perf. cuntredire. (Chanson de Roland, vv. 193-195, Hervorhebungen B.M.) ‘Der Kaiser hatte seine Rede beendet. Graf Roland, der ihm nicht zustimmte, stand auf und hob an, ihm zu widersprechen.’ Die Tempuswahl in (69) lässt keinen Zweifel an der vorzeitigen Lokalisierung der durch das aoristische Präsens versprachlichten Ereignisse. Angesichts der geringen Zahl an Imperfektformen und der häufigen Kombination von passé simple und aoristischem Präsens mit den Adverbien si, puis, apres, atant, die jeweils als Perfektivierer fungieren und den Gedanken der zeitlichen Abfolge bei linearen Ereignissen unterstreichen, zeigt sich, dass das Altfranzösische noch ein anderes narratives Muster aufweist. Der Kontrast zwischen Vordergrund und Hintergrund spielt noch nicht die Rolle, die er im Neufranzösischen innehat. Die Ereignisse werden vordergrundiert in einer linearen thematisch-rhematischen Progression dargestellt. (70) Quant l’ot APr. Rollant, si cumençat Perf. a rire (Chanson de Roland, v. 302; Hervorhebungen B.M.) ‘Als Roland das hörte, begann er zu lachen.’ Dies mag auch einer der Hauptgründe sein, weshalb das Präsens in den älteren Texten derart häufig als funktionales Äquivalent des Imperfekts miss- 110 Zitiert nach der Ausgabe von Gier (2007). 131 verstanden wird (vgl. Buridant 2000). Man geht hier vom heutigen Erzählmuster aus, das sich jedoch nicht auf die Epen älterer Sprachstufen übertragen lässt. Die Relevanz der Kategorie Aspektualität wird in (71) ersichtlich. Hier lizenziert die präsentische Verbform („ardent“) durchaus eine präsentische Lesart, was jedoch auf den additiven Charakter des Verbs zurückzuführen ist. Es wird ein Zustand beschrieben, als habe er Allgemeingültigkeit. Diese Verwendungen scheinen eine Art Vorgänger des vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens zu bilden, auch wenn sie noch nicht dieselbe Systematik aufweisen. (71) Vait le ferir ‘gehen’ + Inf. en l’escut a miracle: Pierres i ad, matistes e topazes, Esterminals e carbuncles ki ardent Pr. ; En Val Metas li dunat Perf. uns dïables, Si li tramist Perf. li amiralz Galafes. (Chanson de Roland, vv. 1499-1503, Hervorhebungen B.M.) ‘Er stürmte auf ihn zu und versetzte ihm einen Schlag auf den Schild: Edelsteine sind darauf, Amethyste und Topase, Diamanten und Karfunkel, die blitzen. Ein Teufel hatte es ihm in Val-Metas gegeben. Und der Emir Galafe hatte ihn ihm übergeben.’ Diese Verwendung des Präsens mit prototypischer präsentischer Semantik belegt den Umbruchcharakter der Verbalsysteme in den romanischen Sprachen in den älteren Sprachstufen. Auffallend ist in (71) auch die Verwendung der ‘gehen’+Infinitiv-Periphrase zum Ausdruck vorzeitiger Ereignisse, die im Neufranzösischen nicht mehr möglich ist. Die Korpora des Lateinischen belegen, dass es noch keine ‘gehen’ + Infinitiv-Konstruktion mit futurischer Bedeutung gab. Diese Einsicht ist im Hinblick auf die Annahme eines retrospektiven Tempussytems im Sinn von Ultan (1978) von Bedeutung. Demnach zeichnen sich retrospektive Sprachen durch die Ausrichtung des Funktionspotentials des formalen Präsens nonadditiver Verben aus (vgl. Leiss 2000: 78). Die Auswertungen des Lateinischen in Kapitel 6.1 legen die Annahme nahe, dass das Lateinische noch ein retrospektives Tempussystem hatte. Die älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen waren hingegen angesichts erster Abweichungen im systematischen Gebrauch wohl Tempussysteme im Umbruch. Dennoch findet man Beispiele - vor allem im Rolandslied -, wo die Verbalperiphrase (‘gehen’+ Infinitiv) Vergangenheitsbezug ausdrückt (72), aber auch im Çid ((73) und (74)). 132 (72) En mi le camp amdui s’entrencuntrerent Perf. , Si se vunt ferir ‘gehen’ + Inf. , granz colps s’entredunerent Perf. De lor espiez en lor targes roëes. (Chanson de Roland, vv. 3567-3569; Hervorhebungen B.M.) ‘Inmitten des Schlachtfelds trafen beide aufeinander, Und sie griffen einander an, versetzten einander mit ihren Speeren Gewaltige Schläge auf die mit Radmustern verzierten Schilde.’ (73) Al Çid besó Perf. la mano, la seña va tomar ‘gehen’ + Infinitiv . Abrieron Perf. las puertas, fuera un salto dan APr. , viéronlo Perf. las arrobdas de los moros, al almofalla se van tornar ‘gehen’ + Infinitiv . (Çid, vv. 692-694; Hervorhebungen B.M.) ‘Dem Çid küsste er die Hand und nahm sein Wappen. Sie öffneten die Tore und sprangen heraus, Es sahen ihn die berittenen Truppen der Mauren und kehrten zu ihrem Lager zurück.’ (74) Quando vio Perf. Mio Çid asomar Infinitiv a Minaya, el cavallo corriendo Ger. , valo abraçar ‘gehen’ + Infinitiv sin falla, besóle Perf. la boca e los oios de la cara. (Çid, vv. 919-921, Hervorhebungen B.M.) ‘Als Mio Çid Minaya erscheinen sah, das Ross im Galopp, ohne zu zögern ging er ihn umarmen, er küsste ihm den Mund und die Augen im Gesicht.’ Berchem (1973: 5) führt zahlreiche Verse im Poema de Mio Çid an, in denen ebefalls vorzeitige Ereignisse ausgedrückt werden. Weder das klassische Latein noch das Mittellatein kannte eine ‘gehen’ + Infinitiv-Konstruktion mit futurischer Lesart. Es liegt daher nahe, dass auch der zeitliche Bezug der ‘gehen’ + Infinitiv-Verbalperiphrase ein wichtiger Indikator für die Orientierung des Tempussystems einer Sprache ist. Die zitierten Beispiele und die Möglichkeit der syntaktischen Integration der ‘gehen’ + Infinitiv-Verbalperiphrase in Vergangenheitskontexten zum Ausdruck von vorzeitigen Ereignissen im Altfranzösischen und im Altspanischen, die auch im Okzitanischen belegt ist (vgl. Meyer-Lübke 1925: 106), kann neben der Semantik der morphologischen Präsensformen nonadditiver Verben als weiteres wichtiges Indiz dafür gewertet werden, dass die älteren Sprachstufen des Spanischen und des Französischen sowie das Lateinische zu den retrospek- 133 tiven Sprachen zu zählen sind oder zumindest noch starke Spuren eines solchen Systems aufweisen. Diese Annahme würde auch das Aufkommen des ‘gehen’ + Infinitiv-Perfekts im Altokzitanischen im 12. Jahrhundert und im Altkatalanischen Ende des 13. Jahrhunderts (Jacobs 2011: 242) erklären. Begünstigt wurde die Verbreitung möglicherweise durch den Vorbildcharakter und die Bedeutung der okzitanisch-provenzalischen Prosa und Dichtung jener Zeit (Jacobs 2011: 242-243). Diese Einsicht, dass die diachrone Entwicklung möglicherweise von einem retrospektiven hin zu einem prospektiven Tempussystem erfolgte, steht im Einklang mit Ultans typologischer Einteilung, derzufolge man retrospektive Tempussystem nur in nordamerikanischen Indianersprachen mit dominant mündlichen Kulturen findet (Ultan 1978: 88). Dies ist bedeutsam im Hinblick auf eine Erklärung des katalanischen perfet perifràstic, das ein Unikat innerhalb der romanischen Sprachen darstellt. Die Periphrase ‘gehen’ + Infinitiv kodiert hier Vergangenheitsbezug (75), was in der Forschung meist als ein „extrem ungewöhnlicher“ Fall von Grammatikalisierung bewertet wird (vgl. Pérez Saldanya/ Hualde 2003: 47). (75) El seu discurs va causar CP un gran impacte en l’auditori. ‘Seine Rede hatte große Wirkung auf das Publikum.’ (Beispiel aus: Detges 2004: 211) Im modernen Katalanisch ist das perfet perifràstic das dominante Vergangenheitstempus der gesprochenen Sprache und der nähesprachlichen Diskurstraditionen. Dagegen kann man immer noch eine häufige Präferenz des synthetischen Perfekts in der konzeptionellen Schriftlichkeit erkennen (Pérez Saldanya/ Hualde 2003: 58), obwohl das perfet perifràstic sukzessive Einzug in die distanzsprachlichen Diskurstraditionen erfährt. Betrachtet man jedoch diesen Konstruktionstyp in den älteren Stufen der romanischen Sprachen, scheint das Katalanische lediglich eine altromanische Konstruktion mit ihrer ursprünglichen Semantik weitergeführt zu haben. In den meisten anderen romanischen Sprachen wurde die periphrastische Konstruktion ‘gehen’ + Infinitiv ab dem 16./ 17. Jahrhundert als Futurform reanalysiert. Die entsprechende Periphrase zum Ausdruck vorzeitiger Ereignisse verlor gleichzeitig an Bedeutung, außer im Katalanischen und im Okzitanischen (einschließlich des okzitanischen Dialekts in der Guardia Piemontese; vgl. Berchem 1973: 34). Okkurrenzen der ‘gehen’ + Infinitiv- Konstruktion mit (eindeutig) futurischer Bedeutung sind im Çid und im Rolandslied nicht belegt. Im Poema de Mio Çid sticht heraus, dass neben dem aoristischen Präsens bereits eine Präsensform zur Aktualisierung von Verbalereignissen zu konstatieren ist, welches in seiner Verwendung dem vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens entspricht (76), das wir in den modernen romanischen und germanischen Sprachen finden. Es ist jedoch auf additive Verben beschränkt und veranlasst einen Perspektivenwechsel 134 von einer Außenhin zu einer Innenperspektive. Die Ereignisse werden aus der Sicht eines Beobachters auf intradiegetischer Ebene vermittelt. (76) Essa noch conducho les dio Perf. grand, a la mañana piensan (A)Pr. de cavalgar; çiéntol’ pidieron Perf. , mas él con dozientos’ va Pr. . Passan Pr. las montañas que son Pr. fieras e grandes passaron Perf. Mata de Toranz de tal guisa que ningún miedo non han Pr. [...] (Çid, vv. 1488-1492b, Hervorhebungen B.M.) ‘Diese Nacht gab er ihnen viel Proviant, Am Morgen ritten sie los; 111 um hundert hat man ihn gebeten, doch er zieht mit zweihundert. Sie durchqueren die Berge, die wild und hoch sind, sie zogen an der Mata de Toranz vorbei auf eine Weise, dass sie keine Furcht haben [...]’ Diese präsentischen Passagen übersetzen bereits ähnlich wie in zeitgenössischen Romanen einen Perspektivenwechsel. Allerdings bestand in den älteren Sprachen noch eine aspektuelle Restriktion (siehe u.a. auch Çid vv. 1821-1825), die es in den gegenwärtigen Romanen nicht mehr gibt, nämlich mit Verben, die je nach Ko- und Kontext beide Lesarten aufweisen, wie piensar. Daneben existiert noch ein weiterer sehr häufiger Präsensgebrauch, der jedoch weder mit dem aspektuellen, aoristischen Präsens noch mit dem vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens verwechselt werden darf: Der Sänger tritt aus der diegetischen Ebene heraus und wendet sich direkt an das Publikum. Er kommentiert Ereignisse und greift dafür auf das Präsens zurück. Die Ereignisse werden dabei in das hic et nunc des Erzählers (Sängers) und des Publikums (bzw. des virtuellen Lesers bei schriftlicher Fixierung) transponiert. Diese Strategie ist ein Charakteristikum des Epos als Erzähltext, die aus einer Kultur der primären Mündlichkeit überliefert ist, und daher trotz der hochgradigen Elaboriertheit des Textes insgesamt ein Merkmal der medialen Mündlichkeit des Diskurses. Solche Passagen sind relativ häufig im Çid. 111 Hier wäre auch durch den Kontext determiniert eine präsentische Lesart möglich: ‘Am Morgen reiten sie los’. Das Verb wird jedoch häufig als aoristisches Präsens im Werk eingesetzt, begünstigt durch den nonadditiven Charakter des Verbs. 135 (77) Afévos doña Ximena con sus fijas dó va llegando; señas dueñas las traen Pr. e adúzenlas Pr. adelant; ant el Campeador doña Ximena fincó Perf. los inoios amos. (Çid, vv. 262-264, Hervorhebung B.M.) ‘Seht nun doña Jimena, die mit ihren Töchtern daherkommt; Beide werden von Ammen getragen, die sie in den Armen halten; Vor dem Campeador beugte Doña Jimena beide Knie nieder.’ Das Heraustreten aus der Diegese wird durch das altspanische Adverb Afévos ‘Seht her’, eine aus dem Arabischen abgeleitete deverbale Form, veranlasst. Sie ist ein Produkt der medial mündlichen Konzeption des Textes. Die Einbindung des Publikums war für diese Diskurstradition von zentraler Bedeutung und findet sich in den Textstrukturen verankert. Es handelt sich um einen stilistischen Effekt, indem der Sänger so tut, als ob die besungenen Ereignisse durch seinen Gesang erneut stattfinden würden. Bei möglichen begleitenden Inszenierungen durch Spielmänner konnte der Kommentar auch dazu dienen, die Aufmerksamkeit auf die begleitende Aufführung zu richten. Dennoch darf dies nicht über die Existenz eines aoristischen Präsens in den älteren Sprachstufen des Spanischen und des Französischen hinwegtäuschen, das unbedingt bei Beschreibungen von Texten älterer Sprachstufen sowie Tempusbeschreibungen zur älteren Sprachstufe berücksichtigt werden muss. Bereits in späteren mittelalterlichen Werken, etwa dem Libro de Buen Amor (1330) von Juan Ruiz, Arcipreste de Hita, oder El Conde Lucanor (1335) von Don Juan Manuel ist diese Form nicht mehr nachzuweisen. 112 Abschließend ist noch festzuhalten, dass im Altportugiesischen keine Belege für das aoristische Präsens zu finden sind (vgl. Huber 1933). Dies ist wohl, wie bereits besprochen wurde, auf die Tatsache zurückzuführen, dass der älteste narrative Text (A demanda do Santo Graal) zwar aus dem 13. Jahrhundert stammt, jedoch lediglich in Form einer Abschrift aus dem 15. Jahrhundert vorliegt (vgl. Ribeiro/ Kato 2009: 383). Eine spätere Anpassung der Tempusverteilung im Laufe der Tradierung des Textes ist daher nicht auszuschließen, sodass der Blick auf die ursprünglichen Tempusverteilungen möglicherweise verdeckt ist. In A demanda do Santo Graal findet man, ähnlich wie in den altportugiesischen Chroniken, das Präsens nur in dialogischen Passagen, die jedoch angesichts der Verlagerung der deiktischen Referenz in die (fiktionale) kanonische Kommunikationssituation zwischen den miteinander sprechenden Figuren einen Sonderstatus besitzen. 112 Eine ausführliche diachrone Korpusauswertung durch Moreno de Alba (2006) belegt, dass das aoristische Präsens bis auf vereinzelte, in ihrer Frequenz vergleichsweise bedeutungslose Okkurrenzen weitestgehend auf das Poema de Mio Çid beschränkt ist (Moreno de Alba 2006: 72; Tabelle 12). 136 (78) [...] dizedes-me Pr. vos como padre que se eu babtismo quiser receber, que partirei Fut. desta batalha com onra? (Piel/ Nunes 1988: 386) ‘Ihr sagt mir als Vater, dass ich, wenn ich die Taufe empfangen möchte, ich aus diesem Krieg mit Ehre hervorgehen werde? ’ Die zeitliche Verankerung im ‘Hier und Jetzt’ der (fiktionalen) kanonischen Kommunikationssituation mit Verlagerung des Zentrums der deiktischen Referenz auf die Ebene der figuralen Kommunikation macht das Präsens für die kotemporale Verbalhandlung zu Sprech- und Referenzzeit ersichtlich und die Verwendung des Futurs zum Ausdruck von Handlungen, die nachzeitig zur Sprechzeit sind. Eine identische Präsensverwendung lässt sich in der Coronica Troiana em Linguoajem Purtugesa 113 beobachten. (79) Grande erro faço Pr. em dizer mal de tam allto cavalleyro [...] (García Martín 1998: 174) ‘Großes Unrecht tue ich darin so schlecht von so edlem Ritter zu sprechen [...]’ In beiden Fällen (78) und (79) liegt ein Präsens mit prototypischer präsentischer Semantik vor. Wie gezeigt werden konnte, handelt es sich bei dem aoristischen Präsens hingegen um ein Tempus mit den Merkmalen [+ VERGANGENHEITSBEZOGEN ] und [+ PERFEKTIV ], das vordergrundierte Ereignisse ausdrückt und Handlungsprogression markiert. Additive Verben treten mit Perfektivierern (Adverbien) auf und markieren Handlungsprogression. Diese Verwendung muss von jenen Präsensverwendungen unterschieden werden, bei denen sich der Sänger direkt an das Publikum richtet und Ereignisse mit dem Präsens ausdrückt. Es handelt sich in diesem Fall nicht um das beschriebene aspektuelle, aoristische Präsens, weil diese Erzählerreden an das Publikum vor dem Hintergrund des oralen Charakters der Epen zu erklären sind und der Aktualisierung der vermittelten Inhalte dienen. Der innerhalb des Textes festgelegte deiktische Nullpunkt wird bei dieser Verwendung auf die Sprechsituation zwischen epischem Dichter und Publikum übertragen (vgl. das Kommunikationsmodell in narrativen Texten; Abbildung 3). Insgesamt ist festzuhalten, dass unterschiedliche Präsenstypen in den mittelalterlichen Texten koexistieren. Dies darf insofern nicht überraschen, als das Präsens bereits in den älteren Sprachstufen polysem und damit auch polyfunktional war. Bei Analysen und Betrachtungen muss folglich, ähnlich wie bei gegenwärtigen Texten (vgl. Monville-Buston/ Waugh 1991), zwischen den unterschiedlichen Präsensverwendungen innerhalb eines Textes/ Diskurses unterschieden werden. 113 Beide Werke wurden vollständig nach abweichenden Verwendungen ausgewertet. Entsprechende Belege konnten nicht nachgewiesen werden. 137 6.4 Die Genese des analytischen romanischen Perfekts im Licht einer Neubewertung des ‘historischen Präsens ’ Vergleicht man das lateinische mit den romanischen Tempussystemen in ihrer Vielfalt und ihren Unterschieden, fällt besonders die Reanalyse von Aspekt zu Tempus auf, wobei in den älteren Sprachstufen die Kategorie Aspektualität noch eine stärkere Bedeutung aufweist (vgl. Penny 2009: 163- 164). Die tiefgründigen Veränderungen, die das Verbalsystem der romanischen Sprachen im Rahmen der temporalen Reanalyseprozesse von Aspekt durchlaufen hat, belegt unter anderem die Entstehung der analytischen Vergangenheitstempora in den romanischen Einzelsprachen. As part of the evolution from Latin to Romance, there occurred an overall shift in emphasis in the verbal system from the aspectual category of perfectivity to the temporal category of anteriority, a prime example being the evolution of the perfect paradigm j’ai chanté [...]. (Fleischman 1982: 12) Die morphologische Form, die im modernen Spanisch und Französisch der periphrastischen Vergangenheit entspricht, war im Altspanischen und im Altfranzösischen ebenso wie im Lateinischen noch eine rein aspektuelle Form (vgl. Fleischman 1982: 99). Diese diachron sehr plausible These greift Detges (2001, 2006) auf. Er beschreibt die Entwicklung der Form ‘haben’ + Partizip von einer aspektuellen zu einer temporalen Form und die verschiedenen Stadien und semantischen Modifikationen, welche die Form dabei durchläuft. Ein Problem besteht lediglich darin, dass Detges der aspektuellen Form bereits im Altspanischen und im Altfranzösischen einen präsentischen temporalen Wert zuschreibt (vgl. Detges 2006: 49), da der Autor die Form als temporalsemantisch identisch mit jener Form betrachtet, die im Folgenden als vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens definiert wird. Die Annahme einer präsentischen Temporalsemantik für alle Präsensformen ist jedoch zu allgemein gegriffen, wie im vorherigen Kapitel gezeigt wurde. Angesichts der Einsicht, dass das aoristische Präsens einen inhärenten Vergangenheitswert aufweist, aufgrund der Inkompatibilität perfektiver Aspektualität mit einer ’Hier und Jetzt’-Perspektive, wäre die These von Detges (2001) mit Blick auf diese neuen Erkenntnisse zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Um die Argumentation nachvollziehbar zu machen, muss an dieser Stelle an die Entstehung des analytischen Perfekts in den romanischen Sprachen angeknüpft werden, das sich gemäß eines scheinbar universellen Grammatikalisierungspfades der Entstehung der analytischen ‘haben’ + Partizip Perfekt-Form entwickelt hat (vgl. Bybee/ Perkins/ Pagliuca 1994: 51-105; Dahl 1985: 129-144). Detges (2001: 78) zeigt in Anlehnung an Harris (1982: 62-63), dass vier Etappen bei der Entstehung des habere + Partizip als aoristisches Vergangenheitstempus zu unterscheiden sind, wobei sich 138 verschiedene Sprachen in unterschiedlichen Stadien entlang des Grammatikalisierungspfades befinden können: I II III IV Resultativkonstruktionen Keine temporale, sondern lediglich aspektuelle Funktion Perfekt I Wiederholte oder andauernde Handlungen in der Vergangenheit, deren Verlauf sich bis zur Sprechzeit erstreckt Perfekt II Vergangene Ereignisse mit Bedeutung für die Sprechzeit oder in unmittelbarer Nähe zu dieser Perfekt III Verbalhandlungen in der Vergangenheit ohne Bezug zur Gegenwart (aoristischer Wert) aport. tenho ouvydo (‘ich habe gehört’) port. tenho falado muito (‘ich habe in letzter Zeit viel gesprochen’) span. lo tengo hecho (‘ich habe es gemacht’) I) Vos he servido gran tiempo (Crónica de España 1482: 170 apud Detges 2001: 83) II) am. Span. Toda la vida he vivido aquí. (‘Ich habe mein ganzes Leben lang bis jetzt hier gelebt’) span. he estado a la muerte estos días (‘ich bin knapp dem Tod entgangen’) I) afrz. Li quens Rollant, il l’ad e prise e fraite. (‘Es ist erobert und zerstört durch den Grafen Roland’) (Chanson de Roland, v. 663 apud Detges 2006: 51) II) frz. Il a mangé maintenant. (‘Er hat nun aufgegessen.’) frz. J’ai vécu ici pendant 20 ans. (‘Ich wohne nun seit 20 Jahren hier.’) frz. Cette année, il n’a rien gagné. (‘Er hat dieses Jahr noch nichts verdient.’) frz. puis il m’a vu et il a dit... (‘Dann hat er mich gesehen und er hat gesagt...’) Tabelle 2 - Etappen der Entwicklung der Konstruktion ‘haben’ + Partizip Perfekt am Beispiel der romanischen Sprachen (nach Detges 2001: 77-78 und Detges 2006: 47) Diese vier Etappen zeigen nur unterschiedlichen Phasen der diachronen Entwicklung, sondern entsprechen aus synchroner Sicht stabilen Gebrauchsformen mit einer ebenfalls stabilen Semantik (vgl. Detges 2001: 78). Zur Entwicklung des analytischen Perfekts muss festgehalten werden, dass während des Mittelalters das ‘haben’-Perfekt eine primär aspektuelle Lesart hatte und ein Resultativum war, ähnlich wie im Lateinischen (vgl. Coseriu 1976: 99). Bei einem Satz wie episcopum invitatum habes (Gregor von Tours, Vitae Patrum) ist sowohl die Lesart 139 a) ‘Du hast den Bischof als geladenen Gast’ als auch b) ‘Jemand hat den Bischof eingeladen’/ ‘Du hast den Bischof eingeladen’ (Detges 2001: 87-88) möglich. In a) handelt es sich, wie Jacob zeigt, um einen gegenwärtigen, präsentischen Zustand mit Subjektrelevanz (vgl. Jacob 1996), bei dem das Ergebnis der Verbalhandlung von Bedeutung ist, weswegen man von einem Resultativum spricht. Bei der Lesart unter b) spielt die temporale Lesart eine wichtigere Rolle als die aspektuelle. In a) muss das Agens der vergangenen Handlung nicht notwendigerweise mit dem Subjekt des Satzes identisch sein. Das Agens der Einladung kann jemand anderes sein als das gastgebende Agens, anders als im Fall der Lesart b). Auch im Altspanischen und im Altfranzösischen treten morphologische Formen des perfecto compuesto und passé composé als Resultativum auf, teils in Alternanz mit dem Perfekt. Das hat in der Forschung häufig zu der Annahme geführt, es habe bereits im Mittelalter dieselbe Bedeutung wie in den modernen Sprachstufen gehabt, wie Detges kritisiert (vgl. Detges 2006: 49). Es handelt sich um eine Fehleinschätzung, welche die aspektuelle Bedeutung der Form als Resultativum verkennt (vgl. ebd.). (80) [...] dexado ha PC heredades e casas e palaçios; (Çid, v. 115, Hervorhebungen B.M.) ‘Zurückgelassen hat er sein Lehen, und seine Häuser und seine Paläste’ In (80) ist der Prozess des Zurücklassens tatsächlich vorzeitig, der Fokus liegt jedoch auf dem Ergebnis der Handlung: Lehen, Häuser und Paläste sind in der fernen Heimat. Die Verschiebung des Fokus auf den Prozess anstatt auf das Resultat führt zur Analyse der habere-Konstruktion als Perfektform zur Verortung von Ereignissen in der unmittelbaren Vorzeitigkeit zur Sprechzeit. Der stärkere Bezug zur Sprechzeit als beim indefinido - also beim aoristischen Perfekt, mit Ausnahme des Französischen - ist auf das semantische Zusammenwirken eines präsentischen Auxiliars und einer Partizipialform des Hilfsverbs (Partizip Perfekt) zurückzuführen, welche Abgeschlossenheit ausdrückt. Die Abgeschlossenheit des Verbalereignisses übersetzt einen Zustand aus Sicht des Betrachters bzw. im Hinblick auf die Referenzzeit. Im Hinblick auf den deiktischen Nullpunkt, den der Text konstituiert, ist dieser Zustand jedoch gerade nicht präsentisch, sondern tempusneutral und in der Regel rein aspektuell. Die zeitliche Referentialität ergibt sich aus dem Ko- und Kontext. Deshalb kann die Verbalform für kotemporale Ereignisse ausgehend von unterschiedlichen Referenzzeiten oder temporalen Ankern benutzt werden. Detges (2006: 49) greift für seine Argumentation einer präsentischen Semantik des zusammengesetzten Perfekts in den älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen auf ein Beispiel aus dem Altfranzösischen Epos Le charroi de Nîmes aus dem 12. Jahrhundert zurück (81). Die Hypothese basiert dabei auf der Annahme 140 einer präsentischen Temporalsemantik des ‘historischen Präsens’ (81.c). Der Vers 595 weist in unterschiedlichen Manuskripten drei unterschiedliche Tempora auf: (81.a) Si vit Passé Simple ester Guielin et Bertrant. 114 (81.b) Si a veuz Passé Composé Guyelin et Bertrant. 115 (81.c) Et voit (Aoristisches) Präsens ester Guielin et Bertrant. 116 (Beispiele apud Detges 2006: 49) Während in dem Beispiel das passé simple (81.a) und das Präsens (81.c) dieselbe grammatische Funktion erfüllen, drückt das passé composé (81.b) lediglich die Abgeschlossenheit der Handlung in Form einer Betrachtung des Resultats aus. So kann es die temporalen Formen zwar ersetzen, kodiert zugleich aber auch eine andere Perspektive, da der Fokus ein anderer ist. Das Resultativum veranlasst lediglich eine Außenperspektive auf das Verbalereignis, welches als begrenzt - also mit Anfang und Ende - betrachtet wird. Im Fall des Präsens ist voir zwar im Neufranzösischen ein additives Verb, in der älteren Sprachstufe hatte es jedoch noch häufiger als in der Gegenwart die Semantik ‘erblicken’, die wiederum nonadditiv ist. Im Fall von (81.c) liegt daher eine Lesart als aoristisches Präsens nahe, wodurch die Form ein funktionales Äquivalent zum passé simple wäre. Das Hauptproblem der temporalen Deutung von Detges (2006: 49) besteht darin, dass bei einem Resultativum das Ergebnis eines vorzeitigen Ereignisses betrachtet wird, weswegen die Aspektform eine stärkere Affinität zur Vergangenheit als zur Zukunft aufweist. Die ‘präsentische’ Semantik der Abgeschlossenheit muss folglich durch den Kontext zeitlich verankert werden. 117 [...] in O[ld] F[rench] narratives the passé composé [...] was not a temporal form, but had mainly aspectual (i.e. resultative) functions, then [it is] temporally marked as present tense. From the simple historical present [...] it distinguishes itself by the fact that it expresses a resultative aspect. (Detges 2006: 49) Durch den abgeschlossenen Charakter (perfektive Aspektualität) des Resultativums bildet diese zunächst aus temporaler Sicht neutrale Form mit der Zeit eine temporale Bedeutung [+ VERGANGEN ] aus. Dies gilt auch für die 114 ‘Und er [Graf William] sah Guielin und Bertrant dort stehen’ (vgl. Detges 2006: 49). 115 ‘Und er hat Guyelin und Bertrant gesehen’ (vgl. Detges 2006: 49). 116 Detges (2006: 49) spricht bei diesem Beispiel von einem „historischen Präsens“ und schlägt als Übersetzung vor: ‘Und er sieht Guielin und Bertrant’. 117 Es gibt vereinzelt Ko- und Kontexte, wo bereits im Lateinischen und mit steigender Tendenz im Altspanischen eine temporale Lesart nahelegt (vgl. Jacob 1996), jedoch nicht so systematisch wie die entsprechende Lesart im Neuspanischen aktiviert wird. Dies ist ein Argument für die Abhängigkeit der Kategorien Tempus und Aspekt, zwischen denen ein Kontinuum besteht. Dies belegt im Portugiesischen der ideologisch stark konnotierte Satz Tenho dito. (‘Ich habe gesprochen.’), bei dem ausschließlich eine aspektuelle Lesart möglich ist. 141 Formen des perfecto compuesto der Bewegungsverben, die im Altspanischen mit ser gebildet wurden: (82) De un día es llegado PC antes el rrey don Alfonso; (Çid, v. 2013; Hervorhebung B.M.) ‘Einen Tag früher ist König Alfons angekommen.’ Seit Mitte des 14. Jahrhunderts kann das perfecto compuesto im Spanischen als origo-inklusive Vergangenheitsform verwendet werden, um eine Handlung auszudrücken, die in der Vorzeitigkeit beginnt und bis zur Referenzzeit andauert (vgl. Tabelle 2, II). Diese Funktion, die dem present perfect im Englischen entspricht, ist heute noch der semantische temporale Hauptwert des analytischen Perfekts im amerikanischen Spanisch (vgl. Detges 2001: 83). Die aspektuelle Komponente ist noch vorhanden, wird jedoch gegenüber der temporalen abgebaut. Die Datierung auf das 14. Jahrhundert für den Wandel im Spanischen begründet Detges (2001) mit dem Aufkommen von Konstruktionen mit [- MENSCHLICHEN ] und [- BELEBTEN ] Subjekten, die eine Resultativkonstruktion erfordern (vgl. Detges 2001: 99). Der endgültige Umbruch findet dann im 15. Jahrhundert statt. Dann finden sich Belege, die eindeutig keine resultative Lesart mehr erlauben: (83) Y despues aca nunca Rey de Armenia ha auido PC paz. (Juan de Mandevilla (15. Jh.): Libro de las maravillas del mundo y del viaje de la Tierra Santa, apud Detges 2001: 104) ‘Und seitdem der König von Armenien hier ist, gab es nie wieder Frieden.’ Daneben stößt man auf zahlreiche Beispiele, bei denen nicht entschieden werden kann, ob es sich noch um ein Resultativum oder bereits um ein analytisches Perfekt handelt: (84) [A]quella moneda ha corrido PC tanto que quasi es gastada PC . (Juan de Mandevilla (15. Jh.): Libro de las maravillas del mundo y del viaje de la Tierra Santa, apud Detges 2001: 104) ‘Jene Münze ist schon so viel im Umlauf gewesen, dass sie fast verbraucht ist.’ Im Spanischen findet dieser Wandel von Aspekt zu Tempus deutlich später als im Französischen statt, wo er sich bereits zwischen 1000 und 1100 vollzog, zur gleichen Zeit wie im Altenglischen (vgl. Bergs/ Heine 2010: 103- 107), was durch den intensiven Sprachkontakt infolge der normannischen Eroberung zu erklären ist. 142 (85) Escababi i ad le chef trenchet PC ; (Chanson de Roland, v. 1555, Hervorhebung B.M.) ‘Escababi ist enthauptet.’ In Beispiel (85) wird das gegenwärtige Resultat eines vergangenen nonadditiven Verbalereignisses ausgedrückt. Es handelt sich um ein Resultativum, bei dem das partizipierende Subjekt eher mit dem Resultat der Handlung als Patiens verbunden ist und nicht als Agens im eigentlichen Sinn. Das Agens der Handlung wird hier ausgespart, weshalb es eher einer Art Passiv entspricht, wie Detges ausführt (Detges 2006: 50). Von zentraler Bedeutung ist jedoch Detges’ Einsicht, dass obwohl diese Form als relevant in der Forschungsliteratur erachtet wird (Buridant 2000: 378), sich etwa im Rolandslied weniger als 10 eindeutige Belege finden und sie daher für die Entwicklung des analytischen Perfekts in dieser Etappe der französischen Sprachgeschichte vernachlässigt werden kann. Von Bedeutung hingegen sind Resultativa mit realem, handlungsvollziehendem Agens, die vorzugsweise mit agentivischen perfektiven Verben 118 erscheinen, wie in Beispiel (86). Derartige Konstruktionen sind mit mehr als 350 Belegen im Rolandslied hochgradig frequent (Detges 2006: 51) und stellen den Ausgangspunkt für die Herausbildung des Perfekts dar. Bei der Entwicklung von Aspekt zu Tempus wird die aspektuelle Abgeschlossenheit der Resultativa temporal reanalysiert. (86) Li quens Rollant, il l’ad e prise e fraite PC ; (Chanson de Roland, v. 663, Hervorhebung B.M.) ‘Der Graf Roland hat sie erobert und zerstört.’ (= ‘Der Graf Roland ist ihr Eroberer und Zerstörer.’) Erste Indizien des Wandels von Aspekt zu Tempus findet man bereits sehr vereinzelt im Rolandslied. Hier tritt das imperfektive Verb servir bereits in einer passé composé-Konstruktion auf und additive Verben können keine resultative Bedeutung haben, weil sie die Handlung aus einer Innenperspektive betrachten, wie Detges (2006: 65) an dem folgenden Beispiel zeigt: (87) [...] jo vos ai mult servit PC ; (Chanson de Roland, v. 3492, Hervorhebung B.M.) ‘[...] Ich habe Euch schon oftmals gedient.’ In Beispiel (87), besonders angesichts seines singulären Charakters im Werk, ist schwer zu entscheiden, ob es sich um ein Resultativum handelt - wogegen die Aspektualität des Verbs eigentlich spricht -, oder ob es bereits ein erster Beleg eines Perfekts ist, das eine in der Vergangenheit wiederholte 118 Für eine ausführliche Besprechung und Erklärung von einzelnen, wenigen Ausnahmen siehe Detges (2006: 64-68), auf die hier jedoch angesichts ihres geringen Vorkommens nicht eingegangen werden muss, da sie auch Detges’ (2006) Theorie zur Entstehung des habere-Perfekts in den romanischen Sprachen nicht invalidieren. 143 Handlung ausdrückt, die sich bis zur Referenzzeit, die mit der Sprechzeit zusammenfällt, ausdehnt bzw. wiederholt (vgl. Detges 2006: 65). Festzuhalten bleibt, dass Verben mit imperfektiver Aspektualität ein erstes Indiz für den anlaufenden oder bevorstehenden Sprachwandel indizieren, wie Detges zu Recht hervorhebt. Bei dem grammatischen Wandelprozess handelt es sich um eine neu aufkommende diskursive Technik, und Diskursregeln sind prinzipiell übereinzelsprachlich. So erklärt auch die enge kulturelle Bindung zwischen Frankreich und England in dieser Zeit, warum sich der Sprachwandel zeitgleich im Französischen und im Englischen und erst viel später im Spanischen und Portugiesischen vollzieht. Die Verwendung der origo-inklusiven Vergangenheitsform für Verbalhandlungen, die bereits abgeschlossen sind, führt mittelbis langfristig dazu, dass die Form für jegliche Verbalhandlung in der Vergangenheit Verwendung findet, da die Sprecher die ausgedrückten Handlungen zunehmend als (potentiell) abgeschlossen empfinden. Durch diesen letzten Herausbildungsschritt entsteht im 18. Jahrhundert das aoristische passé composé im Französischen (vgl. Detges 2006: 69), 119 zumindest in der gesprochenen Sprache (vgl. Becker 2010a). Die durch Detges (2001, 2006) gewonnen Einsichten in das Aspektsystem und Tempussystem des Altspanischen und des Altfranzösischen sind insofern von Bedeutung für das vorliegende Vorhaben, als sie eine stärkere Ausprägung der Aspektkategorie in den älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen belegen und gleichzeitig die ATM-Hypothese bestätigen. Die Konsolidierung des passé composé als Aorist kann Beckers (2010a) sehr einleuchtender und empirisch überprüfbarer Argumentation zufolge lediglich für die gesprochene Sprache konstatiert werden. 120 In journalistischen und narrativen Prosatexten hingegen weisen passé composé und passé simple in diskursstruktureller Hinsicht, zur Kennzeichnung von Aktualitätsgraden und informationeller Relevanz sowie zur diskursfunktionalen Scheidung von Narration und Elaboration des Diskurstopiks durchaus relevante Unterschiede auf (vgl. Becker 2010a: 24). Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass die Opposition und damit die funktionale Identität der beiden Tempora [=passé composé und passé simple, Anm. B.M.] durchaus noch vital ist: für die Besprechung der unmittelbaren Bezugswelt mag sie zwar entbehrlich geworden sein, für spezifische Formen der kommunikativen Praxis bleibt sie jedoch ein grundlegendes und strukturgestaltendes Ausdrucksmittel. (Becker 2010a: 24) 119 Die Entstehung des aoristischen passé composé ist ein gradueller Prozess, der sich wohl zunächst in Situationen kommunikativer Nähe ausgebreitet hat und erst wesentlich später in die geschriebene Sprache eingedrungen ist. Dies deutet zumindest die Studie von Ossenkop an, die nachweist, dass man das passé composé in Kombination mit dem Adverb hier ‘gestern’ erst siebzig Jahre später in nicht-dialogischen Passagen von Erzähltexten findet (vgl. Ossenkop 1999: 193). 120 Zur Aoristisierung des passé composé in der nachklassischen Periode siehe Caudal/ Vetters (2000: 133-134). 144 Es gibt jedoch einen substantiellen Unterschied: Camus verwendete in der Schriftsprache das Tempus, welches in der gesprochenen Sprache für Vorgänge mit den Merkmalen [+ ABGESCHLOSSEN ], [+D ISTANZ ], [+V ORDERGRUND ] und [+P ERFEKTIV ] geläufig ist, um abgeschlossene Handlungen in der Vergangenheit auszudrücken. 121 Diese Übertragung des passé composé in seiner aoristischen Funktion in der gesprochenen Sprache bereitet jedoch Probleme und es erscheint fragwürdig, ob der Leser die Ereignisse mit derselben Perspektivik wie Vorgänge und Ereignisse im passé simple betrachtet, wie einerseits die Kritik zu L’Étranger und andererseits Beckers Beschreibung des passé composé und des passé simple (vgl. Becker 2010a) nahelegt. Es findet jedoch zumindest zunächst durch die Verwendung als Leittempus im Roman kein Sprachwandel statt, da das Tempus keine Modifikation seiner Semantik erfährt. Diese hat bereits zuvor in der gesprochenen Sprache stattgefunden. Camus’ Absicht besteht darin, eine Brücke über eine zunehmende Kluft zwischen geschriebener und gesprochener Sprache zu schlagen (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 269-270). Durch den vergleichsweise stärker origo-inklusiven Charakter des passé composé und den stärker origo-exklusiven Charakter des passé simplé ist letzteres besser geeignet, um narrative Progression zu erzeugen. Da die im passé simple ausgedrückten Handlungen die Merkmale [+ PERFEKTIV ] und eben besonders [+ BEGRENZT ] deutlich stärker als das passé composé aufweisen, erscheinen sie stärker gegenüber dem Betrachter abgegrenzt. Dies führte dazu, dass sie, obwohl sie eigentlich als funktionale Äquivalente gedacht waren, unterschiedliche Perspektiven kodieren, was jedoch wohl eher ein zunächst unbeabsichtigter Nebeneffekt war. Der Ausgang des Grammatikalisierungsrennens des passé simple und des passé composé im Französischen ist daher derzeit vollkommen offen. Zwei Szenarien sind möglich: 1) Angesichts der morphologischen Irregularität der Formen des passé simple und der damit verbundenen Schwierigkeiten beim Spracherwerb befindet sich das Tempus im ‘Aussterben’. Das passé composé übernimmt alleine die Rolle des aoristischen Vergangeheitstempus (in der geschriebenen und in der gesprochenen Sprache). Für diese Hypothese spricht die steigende Popularität des passé composé als Erzähltempus in der Literatur seit Camus. 2) Das passé composé verankert sich als origo-inklusives, vergangenheitsbezogenes Erzähltempus und das passé simple als origo-exklusives, narratives, progressionsförderndes und vergangenheitsbezogenes Erzähltempus. Aufgrund differenzierter Funktionen im Hinblick auf die Perspektivierung von Verbalvorgängen in der Vorzeitigkeit gegenüber dem deikti- 121 Bezüglich des passé composé ist festzuhalten, dass es mittlerweile als Aorist in der gesprochenen Sprache verwendet wird und das passé simple vollständig ersetzt hat. In der geschriebenen Sprache steht es dagegen in Konkurrenz zum passé simple (vgl. De Mulder 2010: 162). 145 schen Nullpunkt bleiben beide erhalten. Diese Hypothese legen die Urteile von muttersprachlichen Informanten nahe, die Becker (2010a) im Rahmen seiner Studie erhob. Diese belegt, dass die Leser das passé composé als Erzähltempus wenig akzeptieren. Dasselbe zeigt die im Rahmen der vorliegenden Arbeit durchgeführte empirische Studie zur Leserbewertung des narrativen Präsens. In diesem Abschnitt konnte einerseits die Annahme einer stärkeren Bedeutung der Kategorie Aspekt in älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen bestätigt werden, wie sie bereits Penny (2009: 163) für das Altspanische konstatiert hatte. Das analytische Perfekt konnte als Resultativum und somit als aspektuelle Form definiert werden. Angesichts der hierarchischen Relation zwischen Aspekt und Tempus konnte es daher auch als funktionales Äquivalent für das aoristische Präsens und das Perfekt eingesetzt werden, ohne dass es jedoch eine äquivalente temporale Bedeutung erlangt hätte. Der perfektive Charakter des Resultativums drückt indes keine Lokalisierung der Verbalhandlung in der Vorzeitigkeit aus, sondern lediglich ihren abgeschlossenen Charakter, was natürlich impliziert, dass die zum Resultat führende Handlung vorzeitig war. Die ausgedrückte Perspektive ist jedoch eine andere, weshalb sich eine Argumentation mit den temporalen Werten in diesem Zusammenhang als unzulänglich erwies. 6.5 Das aspektuelle, aoristische Präsens in den germanischen Sprachen In den hier berücksichtigten germanischen Sprachen (Gotisch, Althochdeutsch, Altenglisch) ist die Form des aspektuellen, aoristischen Präsens nicht belegt (vgl. Zeman 2010: 153-154). Dennoch findet man innerhalb der germanischen Sprachen das aoristische Präsens durchaus im Altisländischen, wie Leiss am Beispiel der Sagaliteratur zeigt (vgl. Leiss 2000: 73-80). Die Sagaliteratur umfasst im engeren Sinn nach Schier (1970: 1-5) erzählende Prosawerke, die in Island zwischen Mitte des 12. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden. Sie ist anscheinend eine genuin isländische Schöpfung (vgl. Schier 1970: 5) und entspricht der schriftlichen Ausarbeitung zunächst mündlich tradierter Geschichten (vgl. Schier 1970: 3). Das aspektuelle, aoristische Präsens in der altisländischen Sagaliteratur weist eine starke Affinität zur V1-Stellung auf, charakterisiert sich durch die Merkmale [+ DEFINIT ] aus referenzieller Sicht, [+ VERGANGENHEITS - BEZOGEN ] und [+ PERFEKTIV ], alterniert mit Vergangenheitstempora innerhalb desselben Satzes und kodiert vordergrundierte Verbalvorgänge (vgl. Leiss 2000: 43-80). Das herausstechende Charakteristikum dieses aspektuellen Präsens ist seine Fähigkeit, narrative Progression zu erzeugen. Das heißt, das 146 aoristische Präsens markiert den Ereignisfortgang, wie Abbildung 6 verdeutlicht. 122 Abbildung 6 - Vertextungsstrategie beim aspektuellen, aoristischen Präsens Die Fähigkeit des aspektuellen, aoristischen Präsens, narrative Progression zu erzeugen, ist ein wichtiger Indikator für seine aspektuelle Perfektivität. Denn nur perfektive Verben können narrative Progression erzeugen, wie in Kapitel 5.2 dargestellt wurde. (88) hann bjó Prät. í Ǫrnólfsdal; þat var Prät. nǫkkuru ofar en nú Adv. stendr APr. (V1) bœrinn; var Prät. þar mart bœja upp í frá. (Hœnsa-þóris saga, apud Leiss 2000: 91, Hervorhebung B.M.) ‘Er bewohnte Ǫrnólfsdal; das war etwas oberhalb von der Stelle, wo sich zur Zeit der Hof befindet. Da oben gab es viele Gehöfte.’ (Leiss 2000: 91) Mit Blick auf (88) ist wichtig festzuhalten, dass es sich nicht um ein aoristisches Präsens im strengen Sinn handelt, wie Leiss betont. Dennoch weist das Verb die Merkmale der Nonadditivität und der Nichtteilbarkeit auf (vgl. Leiss 2000: 91-92). Die Verwendung des perfektiven Temporaladverbs nú veranlasst die Perfektivität von stendr. Perfektivierungen durch Adverbialien waren bereits in den lateinischen Texten beobachtet worden. Diese Beobachtung bestätigt Dessì Schmids (2014) Ansatz, dass Aspektualität als universale Grundkategorie eine onomasiologisch fundierte Kategorie ist, bei deren Versprachlichung unterschiedliche Kategorien interagieren. 122 Zur Semantik des aspektuellen Präsens im Spannungsfeld von aspektueller und temporaler Semantik vergleiche Abbildung 6. 147 (89) Nú Adv. líðr APr. sumar, ok Konjunktion kemr APr. vetr ok Konjunktion er APr. snimma nauðamikill norðr um Hlíðina, en viðrbúningr lítill; fellr APr. mǫnnum þungt. (Hœnsa-þóris saga, apud Leiss 2000: 96, Hervorhebungen B.M.) ‘Dann ging der Sommer zu Ende, und der Winter brach herein, und er stellte sich schon früh im Norden um das Hlíð herum als extrem streng, die Vorkehrungen dagegen als schlecht heraus; die Leute traf es hart.’ (Leiss 2000: 96-97) In (89) erweist sich der Vergangenheitsbezug wesentlich eindeutiger als in Beispiel (88) und nicht nur das Merkmal [+ PERFEKTIV ], sondern auch das Merkmal [+ VERGANGENHEITSBEZOGEN ] ist erfüllt. Die Kompatibilität und die Affinität zwischen aoristischem Präsens und nú ‘nun’/ ‘dann’/ ‘daraufhin’ ist insgesamt in den von Leiss (2000) berücksichtigten Sagatexten auffällig. Für die vorliegende Analyse ist dies insofern von Bedeutung, als das Adverb nicht gegenwartsbezogen verwendet wird und in den altisländischen Texten die Funktion eines Perfektivierungsmarkers übernimmt (vgl. Leiss 2000: 96). Im Althochdeutschen und im Gotischen ist die Verwendung eines aoristischen Präsens nur ein einziges Mal im Ludwigslied belegt (vgl. Hempel 1966: 423), weshalb dessen Existenz ungeklärt bleibt. Angesichts der sprachübergreifenden Evidenzen und der Spuren eines Aspektsystems in Aspektpaaren wie taujan und ga-taujan ‘tun’ und ‘machen’ im Gotischen (vgl. Leiss 2000: 120), bei denen das ga-Verb den perfektiven Aspektpartner bildet, und des allgemeinen Aspektverlustes im Deutschen (vgl. Donhauser/ Schrodt 2003) bleibt die Frage offen, inwiefern es schlichtweg an Belegen für das aoristische Präsens fehlt oder ob dieser Präsenstyp im Gotischen und im Althochdeutschen überhaupt nicht existierte. In der gegenwärtigen Forschung herrscht weitestgehend Konsens darüber, dass es im Gotischen und im Althochdeutschen kein aoristisches Präsens gibt (vgl. Eroms 1997: 11). Ansonsten weist das Präsens dort bereits nahezu dieselben Funktionen wie im Gegenwartsdeutschen auf. Allerdings kommt erst im Frühneuhochdeutschen ein Präsens zur Bezeichnung von Verbalvorgängen in der Vergangenheit auf (laut Herchenbach (1911: 148) im 14. und 15. Jahrhundert) und verbreitet sich dann vor allem ab dem 16. Jahrhundert mit einer gewissen Affinität zu Prosatexten (vgl. Behagel 1924: 696; Zeman 2010: 154-155). Es handelt sich jedoch hierbei nicht um ein aspektuelles, aoristisches Präsens, sondern um ein vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens, dessen Vergangenheitsbezug kontextuell oder durch Temporaladverbialien hergestellt wird. Auch für das Englische ist ein aspektuelles, aoristisches Präsens nicht belegt (vgl. Görlach 2002: 83; Smith 2005: 101). Es bleibt an dieser Stelle noch festzuhalten, dass die notwendige Unterscheidung im Neuenglischen zwischen einem simple present und einer Progressivform present continuous hier irrelevant ist, da die Progressivformen bis ins Mittelenglische weitestgehend unbekannt sind und sich erst im Neuenglischen durchsetzen (vgl. Görlach 2002: 83; Smith 2005: 102-103). Die wenigen Belege aus dem Altenglischen 148 entsprechen einer Imitatio lateinischer Quellen, haben jedoch noch keine funktional gesonderte Ausprägung (vgl. Görlach 2002: 84). Nachdem die continuous form zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert zunächst einer fakultativen Variante entsprach, erfolgte die Festlegung der ausgedrückten aspektuellen Opposition erst im 18. Jahrhundert (vgl. Görlach 2002: 85). Ein Präsens mit Vergangenheitsbezug kommt erst im Chaucerian English auf, ist hier jedoch bereits weit verbreitet (vide Smith 2005: 101). Auch hier handelt es sich bei dem vermeintlichen historischen Präsens in Smiths Terminologie um erste Formen eines anaphorischen markierten Präsens mit Vergangenheitsbezug, bei dem der Kontext die temporale Verortung determiniert. Die von Smith (2005: 101) aufgeführten Beispiele belegen, dass es sich vorwiegend um additive und nonadditive Verben mit Frequentativ-Angabe handelt, die eine futurische Lesart blockieren. Die Existenz eines aoristischen Präsens in den älteren Sprachstufen des Deutschen und des Englischen muss angesichts der Quellenlage unbestätigt bleiben. Hierfür mag es jedoch eine Erklärung geben. In retrospektiven Sprachen entsteht aus perfektiven Präsensformen ein Vergangenheitstempus, so wie im Altisländischen oder in den älteren Stufen der romanischen Sprachen und im Latein. Gemeinsam haben diese Sprachen, dass sie jeweils gut grammatikalisierte Futurformen aufweisen, die sich mit allen Verben ohne aspektuelle Restriktionen bilden lassen. Anders ist die Situation hingegen im Englischen und im Deutschen, wo das Präsens bereits im Altenglischen Futur ausdrückt. Der nachzeitige, futurische Zeitbezug wird im Altenglischen durch Temporaladverbialien hergestellt (90) (vgl. Görlach 2002: 83; Smith 2005: 59). (90) On morgenne Tadvb. , gā Präs. ic þǣm tō dūnum. ‘Am Morgen werde ich in die Berge gehen.’ (Beispiel aus Smith 2005: 59) Aus dem hier Dargestellten ergibt sich, dass sowohl das Althochdeutsche und das Gotische wie auch das Altenglische bereits prospektive Sprachen im Sinn von Ultan (1978) sind, während das Altisländische noch zu den retrospektiven Sprachen zählt (vgl. Leiss 2000: 78). Die Variation innerhalb derselben Sprachfamilie indiziert den Umbruch, in dem sich die Sprachen zu diesem Zeitpunkt befinden. Angesichts der beschriebenen Sachlage kann zwar kein aspektuelles, aoristisches Präsens für die älteren Sprachstufen des Englischen und des Deutschen angesetzt werden. Dessen Existenz lässt sich jedoch im Hinblick auf ältere Sprachstufen des Germanischen auch nicht kategorisch ausschließen, wie die Ausführungen zum Altisländischen gezeigt haben. 149 6.6 Zusammenfassung: Das aspektuelle Präsens in mittelalterlichen narrativen Diskurstraditionen Im vorhergehenden Kapitel wurde das aoristische Präsens am Beispiel von lateinischen historiografischen Werken, altromanischen Epen und altisländischen Sagas beschrieben. Die Berücksichtigung der lateinischen Historiografie geht auf Kellner (2009) zurück, die angesichts der inhärenten Subjektivität der Beschreibungen der Historiografie das Merkmal der Fiktionalität zuweist. Davon abgesehen haben schriftliche Texte allgemein einen deiktischen Nullpunkt (t 0 ), den der Text konstituiert und der a priori weder automatisch mit dem Zeitintervall des Schreibens des Werkes noch mit dem Zeitintervall des Lesens durch den Adressaten gleichgesetzt werden kann. Die Selektion der berücksichtigten Texte erfolgte unter Einschluss der ältesten narrativen Erzähltexte des Französischen von Chrétien de Troyes, die - im Gegensatz zu den Epen Chanson de Roland und Poema de Mio Çid - den ersten Werken einer zunehmend literarisierten Gesellschaft entsprechen und folglich nicht bloß Verschriftungen von Texten einer Gesellschaft primärer Mündlichkeit sind, sondern verschriftlichte Erzähltexte. Dadurch konnte bereits ein zentrales Argument von Fleischman (1990) widerlegt werden, die das präsentische Erzählen als eine Eigenschaft oraler Kulturen sieht. Es wurde gezeigt, dass das Präsens in den älteren Sprachstufen der romanischen und der germanischen Sprachen eine aspektuelle Form ist, welche die Merkmale [+V ERGANGENHEITSBEZOGEN ] und [+P ERFEKTIV ] aufweist. Es handelt sich folglich um ein aoristisches Präsens, wodurch sich auch die Möglichkeit der Alternierung mit Perfekta innerhalb eines Satzes erklären lässt. Aspektuell bedingt besteht eine Inkompatibilität zwischen Ereigniszeit einerseits und Referenz- und Sprechzeit andererseits, da eine Innenperspektive eine Betrachtung des Ereignisses unter Berücksichtigung seiner Konturen unmöglich macht. Die aspektuelle Semantik der Verben in einer Sprachstufe, in der die grammatische Kategorie Aspekt noch eine prominentere Rolle als in unseren modernen Volkssprachen spielte, definiert eine vorzeitige Lokalisierung der Verbalhandlungen. Dieses aoristische Präsens ist den perfektiven Verben vorbehalten und indiziert, dass es sich bei den Sprachen, in denen dieses Tempus nachweisbar ist, um retrospektive Sprachen im Sinn von Ultan (1978) handelt. Diese Einschätzung konnte zusätzlich im Fall des Lateinischen durch die Abwesenheit eines ‘gehen’+Infinitiv-Futurs belegt werden. Im Altspanischen und im Altfranzösischen, welche die Konstruktion aufweisen, drückt diese teils noch vorzeitige Verbalvorgänge aus. Die Tatsache, dass die periphrastische Konstruktion auch schon eine futurische Lesart aufweist, zeigt den Umbruch, in dem sich die jeweiligen Verbalsysteme zu dieser Zeit befinden. Es handelt sich dabei um Regularisierungen von Aspekt, Tempus und Modus im Rahmen des Verschriftlichungsprozesses. 150 Das aoristische Präsens ist, ähnlich wie das periphrastische Perfekt, ein Indiz für die jeweils noch stärker aspektuellen Verbalsysteme der älteren Sprachstufen. In den romanischen Sprachen sind innerhalb der narrativen Verkettung sowohl die Reihenfolge aoristisches Präsens - Perfekt als auch die umgekehrte Reihenfolge möglich, während das aoristische Präsens im Altisländischen eine Affinität zu V1 aufweist, wie Leiss (2000) beschreibt. Gemeinsam ist dem aoristischen Präsens in den verglichenen romanischen und germanischen Sprachen die Eigenschaft, Ereignisse zu vordergrundieren sowie Ereignisvorantrieb zu kodieren. Die Verbalformen treten häufig kombiniert mit Adverbien auf, die als Perfektivierer in den jeweiligen Sprachen dienen. Gegenüber dem Lateinischen zeichnet sich im Verbalsystem der romanischen Sprachen bereits deutlich der Abbau der Kategorie Aspekt ab, da nicht mehr dieselben Möglichkeiten bestehen, durch Präfigierung Aspektpartner zu bilden und daher nicht mehr dieselbe Auslastung an Aspektpartnern gewährleistet ist. Dennoch spielt die Kategorie Aspekt eine im Vergleich zu den neuspanischen und neufranzösischen Verbalsystemen prominente Rolle. Im folgenden Kapitel sollen nun im Kontrast zu diesem aspektuellen, vergangenheitskodierenden Präsens erzählende Präsenstypen mit ‘Hier und Jetzt’-Semantik beschrieben werden. Im Gegensatz zum aspektuellen, aoristischen Präsens verorten diese die vergangenen Ereignisse nicht in der Vorzeitigkeit, sondern transponieren vergangene Ereignisse in die Gegenwart des Erzählers oder aktualisieren durch den Kontext eindeutig in der Vergangenheit verortete Ereignisse. Wie zu zeigen sein wird, ist trotz der unterschiedlich kodierten Perspektiven die den Präsensformen zugrunde liegende Temporalsemantik dieselbe (E,R,S). Lediglich der Kotext oder der Kontext veranlassen die (möglicherweise) unterschiedlichen Perspektivierungen. Das antike und mittelalterliche aoristische Präsens ist hingegen ein Vergangenheitstempus, wie Verweise auf Vor- oder Nachzeitigkeit belegen. Diese werden jeweils von einer vergangenen Referenzzeit aus verrechnet. Außerdem besteht die Möglichkeit, bei syndetischen oder asyndetischen Reihungen von Ereignissen zwischen aoristischem Präsens und Perfekt/ Präteritum zu alternieren. Ebenso kann das aoristische Präsens das erste Glied der narrativen Kette bilden, in ihrem Inneren vorkommen oder als Abschlussglied der Kette verwendet werden, jeweils um Verbalvorgänge in der Vorzeitigkeit gegenüber der Sprechzeit auszudrücken. 7. Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische und das narrative Präsens zum Ausdruck zweier unterschiedlicher Perspektiven Im vorherigen Kapitel wurde das aoristische Präsens beschrieben, das Verbalereignisse ausdrückt, die durch die aspektuelle Inkompatibilität der Verben mit einer prototypischen präsentischen Innenperspektive eindeutig vorzeitig zur Erzählzeit temporal verortet sind (E,R<S). Es handelt sich natürlich nicht um ein Vergangenheitstempus im eigentlichen Sinn, sondern vielmehr wurden Fälle, die heutzutage in unseren prospektiven Sprachen futurisch reinterpretiert würden, in Folge eines aspektuellen oder kontextuellen Ausschlusses einer hic et nunc-Perspektive als vergangenheitsbezogen reinterpretiert. Die Kategorie Aspekt spielte besonders im Lateinischen noch eine viel stärkere Rolle als in den modernen romanischen Sprachen. Deshalb verwendeten die Autoren noch mit viel größerer Selbstverständlichkeit nonadditive Verben als Vergangenheitsformen. Die Perspektivierung der Ereignisse in der fiktionalen Welt als vorzeitig zur Erzählung lässt sich in Anlehnung an die Ausführungen in Kapitel 5 auf die Konzeptualisierung von Fiktionalität in diachroner Perspektive zurückführen. Der vermeintlich obligatorische ‘Charakter’ des Perspektivierungsmusters ist folglich auf der Ebene der Diskursnorm verankert und kann nicht durch eine Notwendigkeit des Systems erklärt werden (vgl. Kapitel 3.4). Denn Tempus drückt die Perspektive auf die Ereignisse in Bezug auf einen deiktischen Nullpunkt aus und dieser kann beliebig gesetzt werden. Dies gilt besonders in fiktionalen narrativen Texten, deren Ereignisse keine außersprachliche Referenz aufweisen. Es handelt sich um ein wichtiges Indiz dafür, dass literarische Texte als aktuelle Diskurse/ Texte im Spannungsfeld von einzelsprachlichen Sprachregeln und sprachübergreifenden Diskursregeln der jeweiligen Diskurstraditionen entstehen (vgl. Oesterreicher 2011a: 27; Oesterreicher 2011b: 891-894). Der Romanautor greift dabei auf die ihm zur Verfügung stehenden Wissenskontexte zurück, also kognitiv-epistemische Kontexte in Form von Kenntnis bestimmter anderer Texte und seines Wissens über bestimmte Diskurs- oder Texttraditionen (Interdiskursivität) (vgl. Oesterreicher 2008a: 146-147). Eine Abweichung von den konventionalisierten Erzählmustern und den durch diese kodierten Perspektivierungsmustern ruft in der Regel Verwirrung beim Leser hervor, da das literarische Werk nicht im Rahmen der zur Verfügung stehenden Wissenskontexte ohne Weiteres erklärbar ist und vor allem einen Bruch mit der Konvention und den etablierten Normen darstellt. Dies wird offensichtlich, wenn man die Besprechung präsentischer Romane in Hamburger (1987 [1957]: 111) oder Weinrich (2001 [1964]: 113-114) oder die Kritik an der Selektion des Präsens 152 als Erzähltempus von Greiner (2009) betrachtet. Im Folgenden wird daher die Genese des narrativen Präsens unter Berücksichtigung der wichtigsten Herausbildungsetappen dargestellt und das narrative Präsens gegenüber dem Präsens abgegrenzt, das innerhalb einer Erzählung mit Vergangenheitstempora als Erzähltempus einen Perspektivenwechsel erzeugt und eine Aktualisierung der Vergangenheit ermöglicht (vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens). Als wichtiges gemeinsames Merkmal muss der funktionale Aspekt herangezogen werden, da beide Präsensverwendungen aus Sicht der ausgedrückten inhärenten Temporalsemantik identisch zu beschreiben sind (E,R,S). Die Tatsache, dass die temporale, zeitbezogene Verortung der Ereignisse nicht dieselbe ist, wie dargestellt wird, ist darauf zurückzuführen, dass die vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Form in eindeutig vergangenen Kontexten Reinterpretationsprozesse im Leser anregt, um Sinnkonstanz zu schaffen, da es sich um eine markierte Verwendung handelt. Bei der unmarkierten Erzählung durchgängig im Präsens hingegen werden die Geschehnisse der Diegese in das hic et nunc des Erzählers und des (virtuellen) Lesers transponiert. Dies lässt sich an der temporalen Einbettung zeigen. Eine Auffassung wie die von Ballweg (1984), dass durch das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens Sprechzeit und Referenzzeit auseinanderfallen, erweist sich als hinfällig, da dies der Beschreibung von Vergangenheitstempora entspricht. Das Präsens kann unmöglich dieselbe Perspektive wie ein Vergangenheitstempus ausdrücken, wie bereits Leiss (1992: 249-250) nahelegt. Die Lokalisierung der Ereignisse in der Vergangenheit erfolgt über Temporaladverbialien oder den Ko- oder Kontext, ist jedoch nicht durch die Temporalsemantik der präsentischen Form determiniert. Das Präsens von additiven Verben kann von sich aus keine Distanzierung gegenüber der kanonischen Kommunikationssituation lizenzieren. Die temporale Distanz nonadditiver Verben ist durch eine Reanalyse der ausgedrückten räumlichen Distanz des Betrachters gegenüber dem Ereignis durch das Auseinanderfallen von Referenzzeit und Ereigniszeit determiniert, wie in Kapitel 4.4 gezeigt wurde. Im vorliegenden Kapitel geht es nun darum, die beiden Präsenstypen mit prototypischer präsentischer Bedeutung als Erzähltempora zu beschreiben. Dieser Arbeitsschritt ist erforderlich, um das narrative Präsens gegenüber dem bei weitem besser beschriebenen vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens abzugrenzen, das verwendet wird, um Handlungen in der Vorzeitigkeit auszudrücken, wobei die Verortung durch den Ko- und Kontext determiniert wird. Darauf folgen kurze Ausführungen zu dem Erzählerkommentar, der sich in seiner temporalen Verortung ambig verhält, da er sowohl Ähnlichkeiten zum vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen als auch zum narrativen Präsens aufweisen kann, wie an Beispielen aus dem Portugiesischen gezeigt wird. Die Betrachtung des Erzählerkommentars ist wichtig, weil er bereits die Möglichkeit einer Lokalisierung 153 des Gesagten im ‘Hier und Jetzt’ in der dem Roman zugrunde liegenden Erzählsituation zwischen Erzähler und (virtuellem) Leser impliziert und uns Einsichten bezüglich der Kommunikation zwischen Erzähler und virtuellem Leser liefert. Bevor das narrative Präsens in seiner markierten und unmarkierten Variante beschrieben wird, also als Leittempus in der Kodierung einzelner Episoden (markiert) oder gesamter Romane (unmarkiert), sollen kurz die wichtigsten ‘Vorreiter’ der präsentischen Romane besprochen werden, unter besonderer Berücksichtigung des nouveau roman. Denn es waren die avantgardistischen Experimente auf der Ebene einzelner Diskurse im nouveau roman, die letztlich das narrative Präsens ins Leben gerufen haben, auch wenn es sich erst ein halbes Jahrhundert später auf der Ebene der Diskursnorm etablieren konnte. 7.1 Das vergangenheits aktualisierende, perspektivische Präsens Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens ist jenes, das in den traditionellen Grammatiken dem Prototyp des ‘historischen Präsens’ entspricht (vgl. Cunha/ Cintra 1999: 449; Dudenredaktion 2009: 506-507; Greenbaum 1996: 257-258; Rojo/ Veiga 1999: 2892). Es findet sich bei Handlungen, die eindeutig in der Vergangenheit lokalisiert sind, wie der Ko- oder Kontext oder das Temporaladverbiale determinieren. Es handelt sich um eine markierte Verwendung, da die morphologische Unmarkiertheit massiv gegen die Erwartung einer anaphorischen Tempusmarkierung verstößt, um die Abweichung von der natürlichen Präsupposition des ‘Hier und Jetzt’ zu signalisieren. Es entspricht folglich einer Hervorhebung innerhalb der narrativen Textsequenzierung. Diese Funktion kann das Präsens nur in eindeutigen Vergangenheitskontexten entfalten (vgl. Kapitel 4.4), da es selbst nicht die Fähigkeit besitzt, die Origo in Sprecher und Betrachter zu spalten, sondern sich eben gerade durch deren Koinzidenz charakterisiert (vgl. Leiss 1992: 250). Da es Passagen nur durch die markierte Abwesenheit der erwarteten morphologischen Markierung hervorheben kann, ist es eigentlich auch kein Erzähltempus wie das zuvor beschriebene aspektuelle, aoristische Präsens oder das im Folgenden zu behandelnde narrative Präsens. Dennoch muss es hier aufgegriffen werden, um es von gerade jenem narrativen Präsens abzugrenzen, das sich durch die Entfaltung einer prototypischen präsentischen Bedeutung charakterisiert. Bereits Leiss (1992) schätzt diesen Präsenstypus als eine der potentiell universalen Formen ein. Als stilistisches Phänomen zählt das historische Präsens sicher zu den potentiell universalen Präsenskandidaten. (Leiss 1992: 251) Im Roman erweist sich dieser Präsenstyp als sehr geläufig. Dabei fällt auf, dass es zwischen dem ‘Untergang’ des aspektuellen, aoristischen Präsens und dem Aufkommen dieses vergangenheitsaktualisierenden, perspekti- 154 vischen Präsens in den diversen Sprachen eine Phase gab, in der das Präsens nicht zum Ausdruck vergangener Ereignisse herangezogen wurde. Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens versprachlicht Verbalvorgänge unter Simulation der Identität von Referenzzeit und Sprechzeit, ohne jedoch den Vergangenheitsbezug aufzuheben, der durch den Kound/ oder Kontext determiniert wird (vgl. Maingueneau 2000: 65-70), und erweist sich daher als besonders geeignet, um eine Aktualisierung der ausgedrückten Verbalereignisse zu erzeugen. Während im Deutschen dieser Präsenstyp ähnlich wie im Englischen (vgl. Smith 2005: 101) wohl erst im 14./ 15. Jahrhundert aufkam (Herchenbach 1911: 113ff.), gibt es in den romanischen Sprachen auch eine Phase, in der das Präsens weitestgehend auf dialogische Passagen in direkter Rede innerhalb der Erzählung beschränkt ist. In diesen Fällen handelt es sich um ein gegenwartsbezogenes, prototypisches Präsens. Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass die direkte Rede referentiell nicht gegenüber dem deiktischen Nullpunkt der fiktionalen Welt, der hier als Sprechzeit gefasst wird, verrechnet wird, sondern gegenüber einem verschobenen Referenzpunkt innerhalb der (fiktionalen) kanonischen Kommunikationssituation zwischen den als Gesprächspartnern beteiligten Figuren. Die Annahme, dass es eine Phase gab, in der das Präsens mit Vergangenheitsbezug weitestgehend verdrängt war, beruht auf der Auswertung der spätmittelalterlichen spanischen Werke El Conde Lucanor und Libro de Buen Amor sowie der altportugiesischen Werke A Demanda do Santo Graal und Coronica Troiana em Limguoajem Purtugesa im Rahmen der Untersuchung des aspektuellen, aoristischen Präsens in Kapitel 6.4 Dieses Ergebnis bestätigen die empirischen Untersuchungen von Moreno de Alba zum Präsens mit Vergangenheitsbezug (vide: Moreno de Alba 2006: 72; Tabelle 12), wobei ihm besonders dessen seltener Gebrauch in La Celestina und El ingenioso hidalgo don Quijote de la Mancha auffällt. Eine ausführliche Erklärung zur Genese des vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens würde wohl für eine eigene Untersuchung ausreichen. Diese Verwendung ist möglicherweise auf eine irrtümliche Reanalyse in Form einer temporalen Deutung der Präsensverwendung in Antike und Mittelalter zurückzuführen, als das Verständnis für das wesentlich stärker aspektuelle Verbalsystem nicht mehr in den Sprechern verankert war. Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens wurde als Kompensationsstrategie für die räumliche und physische Präsenz, die für das Epos charakteristisch war, eingeführt. Die Simulierung der Identität von Referenz- und Sprechzeit zielte in diesem Zusammenhang wohl darauf ab, die aktualisierende Bedeutung dieses anaphorischen, markierten Präsens zu nutzen, um zumindest fiktiv die Simultaneität von Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit wiederherzustellen und dadurch im Leser sinnkonstanzstiftende Reinterpretationsmechanismen zu aktivieren. Durch das Präsens entsteht ein Shifting von der Vergangenheit in die Gegenwart (vgl. Grewendorf 1984), woraus sich die Bedeutung einer aktualisierten Vergangenheit ergibt (vgl. Leiss 1992: 155 251). Die geäußerte Verbalhandlung wird dadurch so perspektiviert, als fände sie noch einmal statt (zumindest fiktiv), obwohl sie in der Vergangenheit verankert bleibt. In diesem Zusammenhang spielen Temporaladverbialien eine wichtige Rolle, da sie das Zeitintervall begrenzen können, innerhalb dessen die durch das Verb ausgedrückte Verbalhandlung Gültigkeit besitzt. Tempusmorpheme können zwar zeitliche Verortungen vornehmen, sind jedoch nicht imstande, Zeitintervalle so zu definieren, dass sie diese konkret eingrenzen und konturieren (vgl. Móia 2003). Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens kommt sowohl in den germanischen als auch in den romanischen Sprachen vor, wie ein Blick in die Grammatiken der jeweiligen Sprachen bestätigt. Dieser Präsenstyp zeichnet sich durch eine Einbettung der Präsensformen in einen explizit vergangenen Kontext aus. Dies bestätigt besonders die Versprachlichung vorzeitiger Ereignisse durch das Plusquamperfekt. (91) Jeder hier hat Pr. seine Gegenwart. Jeder hier berührt Pr. mit seinen Gummigaloschen oder Holzschuhen den Boden, und sei es zwölf Meter unterhalb der Erde im Keller, und sei es auf dem Schweigebrett. Wenn der Albert Gion und ich nicht gerade arbeiten Pr. , sitzen Pr. wir dort auf der Bank aus zwei Steinen und einem Brett. Im Drahtgitter brennt Pr. die Glühbirne, im offenen Eisenkorb ein Koksfeuer. Wir ruhen Pr. uns aus und schweigen Pr. . Oft frage Pr. ich mich, kann Pr. ich noch rechnen. [...] Kann Pr. ich noch lesen. Zu Weihnachten hatte ich von meinem Vater ein Buch bekommen PP [...]. (Müller 2009: 215) Die Passage ist eindeutig durch den vorangehenden Kotext in der Vorzeitigkeit gegenüber dem deiktischen Nullpunkt des Textes (= Sprechzeit) lokalisiert. Die im Präsens ausgedrückten Ereignisse sind ebenfalls vorzeitig, wie die Einbindung am Ende der Passage durch Plusquamperfekt bestätigt, um ein gegenüber der Referenzzeit vorzeitiges Ereignis sprachlich zu kodieren. Das kodierte ‘Hier und Jetzt’ ist dasjenige des Betrachters, der durch die Vergangenheitstempora im umrahmenden Kontext in der Vergangenheit verortet ist. Es ist nicht das ‘Hier und Jetzt’ des Erzählers. Durch das Präsens wird jedoch die Identität von Referenzzeit und Sprechzeit simuliert, wodurch eine aktualisierende Reinterpretation der erzählten Ereignisse stattfindet, hervorgerufen durch ein Shifting von der Vergangenheit in die Gegenwart. Dies wird besonders durch die Unbegrenztheit der ausgedrückten Verbalereignisse nach rechts begünstigt. Im Imperfekt der romanischen Sprachen werden die Ereignisse zwar auch als unbounded betrachtet, durch die kodierte temporale Abgeschlossenheit fehlt jedoch der Bezug zur Gegenwart, den das Präsens (zumindest fiktiv) wiederherstellt (vgl. Maingueneau 2000: 68). Mittels Identitätssimulation werden die Ereignisse so perspektiviert, als spielten sie sich noch einmal ab, beziehungsweise der Sprecher versetzt in der ‘Gegenwart’ der Sprechzeit (fiktiv) den Betrachter noch einmal in die erzählte Situation, indem er auf die Markierung der temporalen Distanz verzichtet. Dadurch entsteht jener Effekt, den der Leser auf der 156 Suche nach Sinnkonstanz als eine Aktualisierung der eindeutig vergangenen Ereignisse interpretiert. Die Lesart wird semantisch und grammatisch dadurch akzeptabel, dass der Leser die Perspektive als eine getrennte von der aktuellen des Erzählers identifiziert. Aus diesem Grund wird das Präsens zum Ausdruck vergangenheitsbezogener Ereignisse auch oftmals als ein Shifting der Betrachter-Origo in die Vergangenheit gedeutet (vgl. Ballweg 1984; Maingueneau 2000). Das Problem bei dieser Deutung besteht darin, dass sich historische oder erzählte Ereignisse nicht wiederholen können. Durch Sprache hingegen kann der Erzähler die vergangenen Ereignisse unter dem Bewusstsein ihrer chronologischen Verortung in der Gegenwart ‘abrufen’. Dies ist eine artenspezifische Fähigkeit des Menschen, die ihm nur durch Sprache, genauer durch die grammatische Kategorie Tempus, möglich ist. Es handelt sich hierbei um ein ‘so tun, als ob’ der Erzähler die Ereignisse noch einmal ‘erlebte’ beziehungsweise ‘betrachtete’, was angesichts der Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit unmöglich ist; eine perspektivische Illusion, die der Mensch jedoch durch den Rückgriff auf Sprache vollbringen kann. Im Deutschen entkommt selbst Thomas Mann diesem vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens nicht, obwohl er bereits im Vorwort zu Der Zauberberg (1924) kund tut, dies zu beabsichtigen: Um aber einen klaren Sachverhalt nicht künstlich zu verdunkeln: die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, daß sie vor einer gewissen, Leben und Bewußtsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt... Sie spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. (Mann 2008 [1924]: 9) In Der Zauberberg dient das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens dazu, das Betrachtete zu aktualisieren und durch die Tempusselektion ein simuliertes Shifting in die ‘Gegenwart’ nachzuahmen, um dem Leser eine Innenperspektive zu vermitteln, so als betrachtete dieser die Landschaft und die ausgedrückten Ereignisse selbst. Die Gegenwart ist natürlich auch in diesem Fall nur jene der dislozierten Betrachter-Origo. So wird die Handlung eindeutig in der Vergangenheit lokalisiert: (92) Ein einfacher junger Mensch reiste Prät. im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr Prät. auf Besuch für drei Tage. (Mann 2008 [1924]: 11; Hervorhebungen B.M.) Der Verlauf der Reise wird jedoch trotz der eindeutigen Lokalisierung in der Vorzeitigkeit im Präsens erzählt. 157 (93) [...] Es ist Pr. eine Schmalspurbahn, die man nach längerem Herumstehen in windiger und wenig reizvoller Gegend besteigt Pr. , und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar zugkräftige Maschine sich in Bewegung setzt Pr. , beginnt Pr. der eigentliche abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht enden zu wollen Pr. scheint. Denn Station Landquart liegt Pr. vergleichsweise noch in mäßiger Höhe; jetzt aber geht Pr. es auf wilder, drangvoller Felsenstraße allen Ernstes ins Hochgebirge. (Mann 2008 [1924]: 11; Hervorhebungen B.M) Durch das Temporaladverb jetzt und die Präsensformen wird der Leser dazu veranlasst, die Perspektive des Betrachters mit jener des Protagonisten gleichzusetzen oder zumindest vom selben Perspektivierungsort aus zu verrechnen, um Sinnkonstanz zu schaffen. Diese Reinterpretation wird durch die Auflösung der temporalen und personellen Distanz eines in der 3. Person berichtenden Erzählers durch die kodierte Innenperspektive ohne temporale Distanz veranlasst. Gleichzeitig jedoch wird diese Perspektive durch die Verwendung des Präsens trotz eindeutiger zeitlicher Verortung der Ereignisse in der Vorzeitigkeit auch aktualisiert. Im nächsten Absatz bereits fährt die Erzählung präterital fort. Eine ähnliche Aktualisierung der Perspektive auf die Ereignisse liegt in der folgenden Passage aus Viagens na Minha Terra (1846) von Almeida Garrett vor: (94) Amanheceu Perf. hoje um belo dia, puro e sublime. Dorme Pr. nas cavernas do padre Éolo aquele vento seco e duro, flagelo dos Estios portugueses. Suspira Pr. no ar uma vibraç-o branda e suave que regenera Pr. e dá Pr. vida. (Garrett 2001 [1846]: 242, Hervorhebungen B.M.) ‘Es wurde Morgen. Ein schöner, reiner und erhabener Tag. In den Höhlen des Vaters Aiolos schläft jener trockene Wind, die Plage der portugiesischen Sommer. Ein zartes und sanftes Lüftchen atmet, das regeneriert und Leben schenkt.’ Die vergangene Referenzzeit und die Verortung des Betrachters in der Vergangenheit werden durch das Perfekt ausgedrückt. Das ‘Hier und Jetzt’ ist folglich jenes des Betrachters und nicht das des Erzählers (vgl. Veiga/ Rojo 1999: 2892). Die temporale Lokalisierung legt der Kontext fest. Durch das Präsens wird die Perspektive des Betrachters aktualisiert, so als befände er sich unmittelbar vor Ort und betrachtete kotemporal mit dem Leseakt den Tag (vgl. Veiga/ Rojo 1999: 2891-2892). Dies ist natürlich nur als kognitiver Prozess möglich und beruht auf den höheren kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die es ihm ermöglichen, mittels Vergangenheitstempora seine Origo in Sprecher und in Betrachter zu spalten und letztere in die Vor- oder Nachzeitigkeit zu dislozieren. Gleichzeitig kann der Mensch aber auch die entgegengesetzte Bewegung durchführen und seine Origo bündeln, obwohl die historischen oder die fiktionalen erzählten Ereignisse eigentlich in der 158 Vorzeitigkeit stattfanden. Die Ereignisse sind jeweils dieselben, die Perspektive ist jedoch eine andere. Die eindeutige Lokalisierung in der Vergangenheit wird beispielsweise ganz offensichtlich in der folgenden Episode zur Errichtung des Klosters von Mafra aus Memorial do Convento von José Saramago (1984). Dabei werden die Ereignisse auf der Baustelle zunächst im Perfekt eingeleitet (vgl. Saramago 1999 [1984]: 248-250), dann wird jedoch in das Präsens gewechselt. Vorzeitige Ereignisse werden im Plusquamperfekt ausgedrückt und die weitere narrative Progression im Folgenden wird wieder im Perfekt kodiert. Dadurch wird deutlich, dass das ‘Hier und Jetzt’ das des Betrachters und nicht des Sprechers ist. (95) Agora avançam Pr. os carpinteiros, com maços, trados e formões abrem Pr. , a espaços, na espessa plataforma, ao rente da laje, janelas rectangulares onde v-o encaixando e batendo cunhas, depois fixam-nas Pr. com pregos grossos, é Pr. um trabalho que leva Pr. o seu tempo, o resto do pessoal está Pr. por aí, descansando pelas sombras, os bois ruminam Pr. e sacodem Pr. os moscardos, o calor é muito. Tocara PP para o jantar quando os carpinteiros acabaram Perf. a tarefa [...] (Saramago 1999 [1984]: 250-251, Hervorhebungen B.M.) ‘Nun schreiten die Schreiner vor mit Holzhämmern, Hohlbohrern und Formen und öffnen mit Abständen in der dicken Plattform dicht an der Steinplatte rechteckige Fenster, in die sie Spaltkeile einsetzen und fest schlagen, dann befestigen sie diese mit dicken Nägeln. Eine Arbeit, die ihre Zeit braucht. Der Rest der Arbeiter ist währenddessen in der Umgebung verteilt und ruht sich im Schatten aus. Die Ochsen käuen wieder und schütteln die Bremsen von sich; es ist sehr heiß. Es hatte zum Abendessen geläutet, als die Schreiner mit der Arbeit fertig waren’. Besonders interessant in dieser Episode aus Memorial do Convento ist, dass immer wieder Teile der vorzeitigen erzählten Geschehnisse durch das Präsens aktualisiert werden, dabei der Vergangenheitsbezug jedoch immer wieder durch Vergangenheitstempora markiert wird. Anders als beim aspektuellen, aoristischen Präsens erfolgt der Wechsel jedoch nicht innerhalb desselben Satzes. Wie gezeigt wurde, kodiert das vergangenheitsaktualisierende Präsens Ereignisse in der Vorzeitigkeit, simuliert jedoch die Identität von Referenz- und Sprechzeit. Dadurch können unterschiedliche Effekte erzeugt werden, die alle gemeinsam haben, dass der Betrachter die vergangenen Ereignisse als kotemporal perspektiviert und damit aktualisiert. Dennoch werden die Ereignisse durch den Ko- und Kontext explizit an einem anderen Punkt der Zeitlinie als der Sprecher/ Erzähler verortet. Der Konflikt, den die Verwendung auslöst, besteht darin, dass das Tempus eine perspektivische Leistung ausdrückt, die im Widerspruch zur Verortung der Ereignisse, des Betrachters und des Sprechers steht. Das zwingt den Leser zu Reinterpretationen, um Sinnkonstanz herzustellen. Festzuhalten bleibt, dass das die Semantik des Verbs keine Spaltung der Origo in Sprecher und Betrachter 159 veranlasst und dass das ‘Hier und Jetzt’ nicht das des Sprechers ist, der die erzählten Geschehnisse aus einer retrospektiven Perspektive betrachtet. Abbildung 7 - Perspektivierung des Verbalereignisses bei vergangenheitsaktualisierendem, perspektivischem Präsens: E = durch den Kontext festgelegte Ereigniszeit. Trotzdem findet keine Spaltung von Betrachter und Sprecher (S) statt, wie R 1 darstellt. Gleichzeitig wird jedoch die Perspektive eines Beobachters oder einer Figur, die die das Verbalgeschenen aus einer konturlosen Innenperspektive betrachtet, eingenommen (R 2 ). Die Präsensverwendung ermöglicht es dem Sprecher, die Vergangenheit zu aktualisieren (94). Außerdem kann der Betrachter bei einem nicht-figuralen Erzähler die Perspektive einzelner Figuren aufgreifen und aktualisieren (93). Diese letztere Möglichkeit interpretiert der Leser als Perspektivenwechsel und deutet sie als Betrachtung aus der Perspektive der Figur in der jeweiligen Situation. Die im einzelnen Leser ausgelösten Interpretationen bei der Schaffung von Sinnkonstanz können hierbei deutlich weiter gehen als das, was das Verb und die Tempusselektion neutral und objektiv zum Ausdruck bringen. Dieser Präsenstyp ist in allen prospektiven Sprachen, die über eine unmarkierte Präsensform verfügen, möglich, zumindest aus Sicht des sprachlichen Systems. Seine Etablierung und Produktivität in literarischen Texten hängt stark von den konventionalisierten Diskursnormen ab. Im Gegensatz zum aspektuellen, aoristischen Präsens handelt es sich hierbei zunächst und vorwiegend um additive Verben, die eine prototypische präsentische Bedeutung entfalten. Im Rahmen des Bedeutungsverlusts der Kategorie Aspekt zugunsten der Kategorie Tempus geht die aspektuelle Restriktion verloren und es können sowohl additive als auch nonadditive Verben vorkommen. Man findet das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens auch im Englischen (96), im Französischen ((97) und (98)) und im Spanischen (99). 160 (96) If the funeral had been PP yesterday, I could Prät . not recollect it better. The very air of the best parlour, when I went Prät. in at the door, the bright condition of the fire, the shining of the wine in the decanters, the patterns of the glasses and plates, the faint sweet smell of cake, the odour of Miss Murdstone’s dress, and our black clothes. Mr. Chillip is Pr. in the room, and comes Pr. to speak to me. ‘And how is Pr Master David? ’ he says Pr. , kindly. 123 I cannot Pr. tell him very well. I give Pr. him my hand, which he holds Pr. in his. (Dickens 2000 [1850]: 114; Hervorhebungen B.M.) (97) Je regardois Imp. avec inquiétude la lumière des lampes presque consumées qui menaçoient Imp. de s'éteindre. Tout à coup une harmonie semblable au chœur lointain des esprits célestes sort Pr. du fond de ces demeures sépulcrales: ces divins accents expiroient Imp. et renaissoient Imp. tout à tour; ils sembloient Imp. s’adoucir encore en s’égarant dans les routes tortueuses du souterrain. Je me lève Pr. , et je m’avance Pr. vers les lieux d’où s’échappent Pr. ces magiques concerts: je découvre Pr. une salle iluminée. (Chateaubriand 1865 [1809]: 82; Hervorhebungen B.M.) ‘Ich betrachtete mit Beunruhigung das fast erloschene Licht der Laternen, welches auszugehen drohte. Plötzlich erklingt eine Melodie aus der Tiefe dieser Grabesstätte, die dem Chor der Geister im Paradies gleicht: Diese göttlichen Klänge verstummten und ertönten der Reihe nach wieder; sie schienen zusätzlich dadurch gedämpft zu werden, dass sie sich in den verwinkelten Straßen des Untergrundes verirrten. Ich stehe auf und gehe in Richtung dieser Orte, von denen diese magischen Konzerte entweichen: Ich entdecke einen beleuchteten Saal.’ (98) Enfin, ils descendirent Perf. dans le parterre. C’est Pr. une vaste rectangle, laissant voir d’un seul coup d’œil ses larges allées jaunes, ses carrés de gazon, ses rubans de buis, ses ifs en pyramide [...] et cette exhalaison des siècles, engourdissante et funèbre comme un parfum de momie, se fait Pr. sentir même aux têtes naïves. Rosanette bâillait Imp. démesurément. Ils s’en retournèrent Perf. à l’hôtel. (Flaubert 2008 [1869]: 353) ‘Sodann stiegen sie in den Garten hinunter. Er ist ein großes Rechteck, das alles auf einmal dem Auge darbietet: seine breiten gelben Alleen, seine Rasenquadrate, seine Bänder von Buchsbäumen, seine zu Pyramiden gestutzten Taxushecken [...] und dieser Hauch der Jahrhunderte, dumpf und leichenhaft wie der Geruch einer Mumie, ist auch für einfache Intelligenzen wahrnehmbar. Rosanette gähnte ungeheuerlich. Sie gingen wieder in ihr Hotel.’ (vgl. Flaubert 1977: 365-366) 123 Die Verbformen is und says sind keine vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Verwendungen des Präsens (vgl. hierzu Kapitel 4). Verba dicendi stellen einen Sonderfall dar und die Verben in der direkten Rede sind im ‘Hier und Jetzt’ der Diegese verankert, da eine Innenperspektive eingenommen wird. 161 (99) De camino aproveché Perf. para interrogar mi acompañante acerca de lo que había contado PP el Sumo Sacerdote sobre la desaparición de su familia, pero Jesús, que era Imp. recién nacido cuando se produjeron Perf. los hechos, no guardaba Imp. recuerdo alguno del episodio y nunca había oído PP a sus padres mencionar la razón de su ausencia ni el motivo del regreso, por lo que no pudo PP despejar la incógnita. Al llegar frente a las termas nos sale Pr. al paso un pillete harapiento, algo mayor que Jesús, de facciones toscas y mirada febril. Jesús me dice Pr. que es su primo Juan, hijo del mismo Zacarías que veló Perf. por el patrimonio de José durante la ausencia de la familia. (Mendoza 2008: 39; Hervorhebungen B.M.) ‘Auf dem Weg habe ich die Gelegenheit genutzt und meinen Begleiter befragt, was der Hohepriester über das Verschwinden seiner Familie gesagt hatte, aber Jesús, der ein Neugeborener war, als die Ereignisse stattfanden, hatte keinerlei Erinnerung an die Ereignisse und hatte seine Eltern niemals der Grund für ihre Abwesenheit oder für ihre Rückkehr erwähnen gehört, weshalb er das Rätsel nicht lösen konnte. Als wir vor der Therme ankamen, kommt plötzlich ein lumpiger Gauner heraus, ein wenig größer als Jesús, mit groben Gesichtszügen und fieberndem Blick. Jesús sagt mir, dass es sein Cousin Juan sein, Sohn desselben Zacarías, der nach dem Besitz von José während der Abwesenheit der Familie gesehen hat.’ In (96-99) werden die unterschiedlichen Perspektiven besonders deutlich. Die Erzählung vorzeitiger Ereignisse wird in (99) durch „Al llegar frente a las termas“ unterbrochen. Es findet ein Perspektivenwechsel statt. Der Erzähler aktualisiert das eindeutig vorzeitige Ereignis durch die Selektion des Präsens so, als ob es sich erneut abspielen würde. In (98) erfolgt die komplette Beschreibung des Gartens aus figuraler oder figurenähnlicher Innenperspektive aus einem Blickwinkel von jemandem, der selbst den Garten betrachtet. Die Erzählung hingegen im Allgemeinen entspricht dem klassischen narrativen Erzählmuster. Dieser Präsenstyp ist kein Tempus, das die narrative Progression vorantreibt, da es keine Aktualisierung der Referenzzeit vornimmt und den Betrachter nicht neu verortet. Es handelt sich vielmehr um ein anaphorisches Präsens, denn der ‘Jetzt-Punkt’ beim historischen oder erzählten Ereignis (vgl. Avanessian/ Hennig 2013a: 4 124 ) und die Lokalisierung des Betrachters 124 Avanessian/ Hennig (2013a) sprechen bei dieser Präsensverwendung von deiktischem Präsens. Der Terminus erweist sich jedoch als problematisch, da die Lokalisierung eben gerade nicht gegenüber dem Sprecher vorgenommen wird. Vielmehr determinieren ein temporaler Anker oder der Kontext die Lokalisierung und erzeugen ein Spannungsfeld zur vom Verb kodierten Perspektive. Außerdem fallen beim Präsens Ereignis-, Referenz- und Sprechzeit zusammen, sodass keine ‘Zeigegeste’ ausgedrückt wird. Deshalb wurde in der vorliegenden Arbeit die Bezeichnung anaphorisches Präsens durch vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens ersetzt. 162 werden durch den Kontext zeitlich verankert (vgl. Rojo/ Veiga 1999: 2891). Anders als beim aspektuellen, aoristischen Präsens findet keine Spaltung von Sprecher und Betrachter statt und es ist nicht das Verb, das eine Lokalisierung der ausgedrückten Ereignisse in der Vorzeitigkeit gegenüber der Sprechzeit erzeugt. Deshalb wird die Verschiebung als ein Shifting von der Vergangenheit hin zur Gegenwart gelesen. Abbildung 8 - Vertextungsmuster bei der Verwendung des vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens Das Textmuster selbst bleibt unbeeinflusst von der markierten Präsensverwendung und entspricht folglich im Fall der romanischen Sprachen einer thematischen Entfaltung, ausdrückt durch die textstrukturierende Vordergrund-versus-Hintergrund-Opposition, die im narrativen Erzähltext sowohl perspektivisch als auch informationsstrukturell funktionalisiert wird (vgl. Kap. 5.2); ebenso im Deutschen, mit Dominanz der narrativen Kodierung durch eine lineare Abfolge von Thema und Rhema im Satz (vgl. Abraham 2008: 295). Das Englische nimmt eine gewisse Mittelstellung zwischen dem Deutschen und den romanischen Sprachen ein, da es zwar keine systematische Opposition zwischen Perfekt und Imperfekt wie die romanischen Sprachen aufweist, jedoch über die Progressivformen verfügt, um Hintergrund zu markieren (vgl. Bertinetto 2000). Diese ermöglichen es unter anderem, nonadditiven Verben eine progressive Lesart zu verleihen (Beispiel: fall > falling), weshalb im Englischen die nonadditiven Verben auch eher präsens-resistent sind und anstatt dessen durch die Progressivform die Kotemporalität zur Sprechzeit ausdrücken (E,R,S) (vgl. Langacker 2008: 147-148). Folglich muss im Englischen Kotemporalität durch She is sleeping. Versprachlicht und kann nicht durch She sleeps. ausgedrückt werden. Eine Abgrenzung gegenüber dem Erzählerkommentar erweist sich oftmals als schwierig, da die Präsensverwendung in diesem gewissermaßen eine Hybridform zwischen vergangenheitsaktualisierendem, perspektivi- 163 schem Präsens und narrativem Präsens darstellt, wie die temporale kontextuelle Einbettung deutlich macht. Dies ist der Gegenstand des folgenden Abschnitts. 7.2 Der Erzählerkommentar an der Schnittstelle zwischen vergangenheitsaktualisierendem und narrativem Präsens Wie bereits in Kapitel 6.1.2 anhand von De Bello Gallico und in Kapitel 6.3 am Beispiel von Poema de Mio Çid erläutert wurde, muss zwischen Präsens als Erzähltempus und Präsens zur Anrede des Lesers/ Publikums differenziert werden. Letzteres, der Erzählerkommentar (vide Reis/ Lopes 2011: 108-109; Stanzel 2001: 204), ermöglicht es, eine Erzählung in ihrer narrativen Progression durch Assertionen, Kommentare oder Überlegungen zu unterbrechen. In diesen Unterbrechungen bespricht der Erzähler die Ereignisse der Diegese. Während im Fall von De Bello Gallico der (virtuelle) Leser durch die erzählende Figur historisch kontextualisiert wird, werden im Çid Ereignisse der Diegese kommentiert und die bevorstehenden Geschehnisse zur Sinnstiftung für die ‘gegenwärtig’ erzählten Handlungen antizipiert. Die Erzählung wird kurzfristig in ihrem Fortlauf suspendiert. Der präsentische Erzählerkommentar hat bisher in der linguistischen Forschung kein besonderes Interesse gefunden. Das hängt möglicherweise auch mit der Schwierigkeit zusammen, diesen mit der Referenzzeit in Bezug zu setzen (vgl. Klein 1994: 136). Gemeinsam ist den Erzählerkommentaren, dass sie die (wieder-)erzählten Ereignisse aus der narrativen Verkettung herausheben. Es gilt jedoch zwei Typen von Erzählerkommentaren zu unterscheiden, abhängig von ihren möglichen temporalen Einbettungen. Bei Typ 1 bespricht der Erzähler Ereignisse der Diegese und die Referenzzeit ist eindeutig in der Vorzeitigkeit am Zeitpunkt der Ereignisse in der Geschichte situiert. Bei Typ 2 steigt der Erzähler komplett aus der diegetischen Ebene aus und formuliert beispielsweise metaliterarische Reflexionen. Im ersten Fall wird durch die simulierte Identität von Sprechzeit und Referenzzeit die Bedeutung der ausgedrückten Ereignisse aktualisiert. Der Kommentar wirkt zwar präsentisch, trotzdem ist der Vergangenheitsbezug nicht aufgehoben, wie die Kodierung der Vorzeitigkeit durch Plusquamperfekt in den folgenden Beispielen verdeutlicht. 164 (100) Relembro Pr. . [...] Um longo abraço quente, quente de ternura, sufoca-nos Pr. a todos na procura de um refúgio, de uma alegria perdida quando? onde? o sonho n-o é Pr. de nunca. O que é Pr. vivo, o que é Pr. real é Pr. aquela ceia vulgar, com uma sopa, vários pratos, doces e uma necessidade de preencher os espaços de silêncio com o que há Pr. de único na hora e n-o sabemos Pr. e nos foge Pr. . Sobre esse vazio enorme, para a comoç-o e o alarme, o meu irm-o Evaristo fala Pr. dos seus negócios, 200 contos, 500 contos, a casa Varela, em Lisboa, 400 contos de encomendas, a de Crispim & C. a , do Porto, a guerra acabara PP , agora era Imp. quanto pudessem Imp. Konj . produzir. (Ferreira 2002 [1959]: 19; Hervorhebungen B.M.) ‘Ich erinnere. [...] Eine lange, warme Umarmung, warm und voller Zärtlichkeit, erdrückt uns alle auf der Suche nach einem Zufluchtsort nach einer verlorenen Freude. Aber verloren wann? Wo? Der Traum ist von niemals. Das, was lebendig ist, das, was wirklich ist, ist dieses vulgäre Abendessen mit einer Suppe, verschiedenen Hauptgerichten, Süßem und der Notwendigkeit, Schweigepausen zu füllen, mit dem, was es Einmaliges zu jener Stunde gibt, was wir nicht wissen und uns davonläuft. Über jene immense Leere, zur Gemütsaufruhr und Aufregung, spricht mein Bruder Evaristo von seinen Geschäften, 200.000 Escudos, 500.000 Escudos, das Haus Varela, in Lissabon, Bestellungen im Wert von 400.000 Escudos, das Haus Crispim & C. a , in Porto, der Krieg hatte aufgehört und nun ging es darum, was sie produzieren konnten.’ Mittels des Präsens vorwiegend additiver Verben bringt der Erzähler die vergangenen Ereignisse zu einer zumindest fiktiven neuen Entfaltung. Durch den simulierten Zusammenfall von Referenz- und Sprechzeit werden die Ereignisse so perspektiviert, als fänden sie noch einmal statt, obwohl sie eindeutig im vergangenen Kontext ihres Vorkommens verortet bleiben, wie das Plusquamperfekt zur Kodierung vorzeitiger Ereignisse offensichtlich macht. Gleichzeitig richtet sich der Erzähler durch relembro explizit an den (virtuellen) Leser und stellt eine Verbindung zur Sprechzeit her - im vorher definierten weiten Sinn, der für schriftliche Texte erforderlich ist. Das kodierte ‘Hier und Jetzt’ ist in diesem Fall das des idealen virtuellen Lesers bei relembro, der sich im Idealfall mit den realen Lesern in diesem Zusammenhang deckt. Dasselbe lässt sich auch in folgendem Erzählerkommentar aus der Liebesgeschichte Amor de Perdiç-o (1995 [1862]) von Camilo Castelo Branco beobachten: 165 (101) O marido também deixou Perf. anedotas que ainda agora se repetem Pr. . Duas contarei Fut. somente, para n-o enfadar. Acontecera PP um lavrador mandarlhe o presente de uma vitela [...] (Branco 1995 [1862]: 34; Hervorhebungen B.M.) ‘Der Ehemann hat auch einige Anekdoten hinterlassen, die noch bis heute wiederholt werden. Zwei werde ich bloß erzählen, um nicht zu langweilen. Es war passiert, dass ein Bauer ein Kalb als Geschenk schickte [...]’ In Beispiel (101) ist die temporale Struktur besonders interessant und lässt keinen Zweifel an der perspektivierenden Funktion von Tempora. Die Referenzzeit ist zunächst das ‘Hier und Jetzt’ des Erzählers und des (virtuellen) Lesers. Der Erzähler kündigt dem Adressaten an, dass es zur Sprechzeit - also dem deiktischen Nullpunkt des Referenzsystems, das dem Text zugrunde liegt - Geschichten über den Ehemann gibt, die noch immer erzählt werden. Diese ‘Gegenwart’ darf nicht mit der des realen Lesers gleichgesetzt werden. Den Akt des Erzählens zweier Geschichten, der folgen wird, drückt der Erzähler durch das Futur aus. Die Verortung der erzählten Ereignisse hingegen erfolgt wiederum vorzeitig in Bezug auf die Erzählung, wie das Plusquamperfekt ausdrückt. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass der Erzähler komplett aus der diegetischen Ebene aussteigt und zum Beispiel metaliterarische Reflexionen formuliert. In diesem Fall findet die Kommunikation im ‘Hier und Jetzt’ zwischen Erzähler und virtuellem Leser statt. Der Kommentar wird in die ‘Gegenwart’ transponiert. (102) Os poetas cansam-nos Pr. a paciência a falarem do amor da mulher aos quinze anos, como paix-o perigosa, única e inflexível. Alguns prosadores de romances dizem Pr. o mesmo. Enganam-se Pr. ambos. O amor aos quinze anos é Pr. uma brincadeira; é Pr. a última manifestaç-o do amor às bonecas; é Pr. tentativa de avezinha que ensaia o voo fora do ninho, sempre com os olhos fitos na m-e-ave, que está Pr. fronde próxima chamando: tanto sabe Pr. a primeira o que é amar muito como a segunda o que é Pr. voar para longe. (Branco 1995 [1862]: 39; Hervorhebungen B.M.) ‘Die Dichter erschöpfen unsere Geduld, indem sie von der Liebe der 15jährigen Frau sprechen, als gefährliche Liebe, einzigartig und kompromisslos. Manche Romanciers sagen dasselbe. Beide haben Unrecht. Die Liebe mit 15 Jahren ist ein Spiel, ein letzter Ausdruck der Liebe zu den Puppen; es ist der Versuch eines Vögelchens, das außerhalb des Nestes erste Flugversuche startet, immer mit den Augen auf den Mutter-Vogel gerichtet, der dicht davor steht und ruft: die Erste weiß genauso viel davon, was es bedeutet zu lieben, wie die Zweite davon, was es bedeutet weit zu fliegen.’ Die narrative Progression wird in diesem Fall aufgehalten und der Erzähler formuliert einige Gedanken zur Liebe junger Menschen, da die 166 Protagonisten des Romans noch sehr jung sind und eine für ihr Alter ungewöhnliche Liebe erfahren. Die Verben entfalten sich in ihrer prototypischen präsentischen Bedeutung. Gegenüber dem virtuellen Leser ist die Geschichte, die der Erzählung zugrunde liegt, vorzeitig. Das narrative Präsens dagegen, so soll gezeigt werden, transponiert die fiktionalen Ereignisse in das ‘Hier und Jetzt’ des Erzählers und des (virtuellen) Lesers. Der Erzählerkommentar ist bereits seit der Antike Bestandteil narrativer Texte und wohl ein Relikt aus der Zeit oraler Kultur, in der die Erzählungen inszeniert wurden und sich der Erzähler (= epischer Dichter) an das Publikum wenden konnte. Er bietet somit ein Indiz dafür, dass literarische Fiktionalität auch eine ‘Hier und Jetzt’-Dimension haben kann, zumindest innerhalb des textinhärenten Referenzsystems. Die zwei Typen von Erzählerkommentaren sind ein allgemeines Merkmal der Literatur der hier zu vergleichenden Sprachen mit ähnlichen Entfaltungsebenen. Der Leserkommentar ist ein wichtiger Vorreiter für den Wechsel der zeitlichen Ebenen innerhalb des narrativen Erzähltextes, denn er belegt bereits die Möglichkeit von Transpositionen in die ‘Gegenwart’ von der Ebene der Erzählung aus, wenn auch noch unter thematischer Loslösung von der Erzählung. Die hier vorgestellten Überlegungen zum Erzählerkommentar müssen nicht weiter ausgeführt werden, da es sich dabei nicht um Formen des narrativen Präsens handelt. Dennoch mussten die Erzählerkommentare berücksichtigt werden, da sie die ersten textstrategisch-funktionalen Verwendungen jener zeitlichen Ebene darstellen, in die in den modernen Romanen die Ereignisse durch das narrative Präsens transponiert werden: das hic et nunc von Erzähler und (virtuellem) Leser. Festzuhalten bleibt, dass sich der Erzählerkommentar an der Schnittstelle zwischen vergangenheitsaktualisierendem, perspektivischem und narrativem Präsens befindet. 7.3 Der nouve au roman und das Aufkommen des narrativen Präsens Das Aufkommen des Präsens als Erzähltempus steht in engem Zusammenhang mit dem Wunsch diverser Autoren Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts, mit den konventionalisierten Diskursmustern und Diskursregeln zu brechen. Im Hinblick auf das narrative Präsens ist wohl Virginia Woolf Vorreiterin, die in ihrer Kurzerzählung The Mark on the Wall bereits 1917 einen ersten wichtigen Schritt zur Einführung eines Präsens als Erzähltempus vollzieht. Die Erzählung beginnt zwar im klassischen Stil mit einer zeitlichen Lokalisierung in der Vorzeitigkeit, der Schatten an der Wand, um den sich die Erzählung dreht, entfaltet jedoch zahlreiche Gedanken zum zeitgenössischen Geschehen sowie existenzialistische Überlegungen in der Erzählinstanz, die allesamt im Präsens ausgedrückt werden. 167 (103) Perhaps it was Prät. the middle of January in this present year that I first looked Pr. up and saw Prät. the mark on the wall. In order to fix a date it is Pr. necessary to remember, what one saw Prät. . So now I think Pr. of the fire; the steady film of yellow light upon the page of my book; the three chrysanthemums in the round glass bowl on the mantelpiece. Yes, it must have been PPerf. the winter time, and we had just finished PP our tea, for I remember Pr. that I was Prät. smoking a cigarette when I looked Prät. up and saw Prät. the mark on the wall for the first time. (Woolf 2003 [1917]: 59; Hervorhebungen B.M.) Während die vergangenen Ereignisse noch mittels Vergangenheitstempora ausgedrückt werden, werden die Gedanken des Erzählers im Präsens kodiert, vor allem mit Verben der mentalen Vorgänge (vgl. Fleischman 1990: 293-294). Der Erzähler versucht, die Gedanken, die jener Schatten an der Wand auslöste, zu aktualisieren und wieder aufzurufen. Durch die Verwendung des Präsens werden jene Gedanken in das hic et nunc der Kommunikationssituation zwischen Erzähler und (virtuellem) Leser transponiert. Die ursprüngliche Versprachlichung der Gedanken ist eindeutig in der Vorzeitigkeit gegenüber der Sprechzeit lokalisiert, dennoch können diese beliebig oft ‘reaktiviert’ werden, da sie keine physische oder physikalische außersprachliche Existenz haben. Die diversen Assoziationen und Gedanken, die dieser Schatten an der Wand in dem Erzähler erweckte, werden im Präsens ausgedrückt und dem Leser in einer thematisch-rhematischen ikonischen Aneinanderreihung präsentiert. Gewissermaßen durchläuft der Erzähler das gesamte Gedankenspiel, das der Schatten an der Wand evozierte, zumindest fiktiv noch einmal. Es wäre jedoch verfrüht, hier schon ein narratives Präsens anzusetzen, da vielmehr oftmals voneinander dissoziierte Gedanken aneinandergereiht werden, ohne dass narrative Progression im engeren Sinn erkennbar wäre. Dennoch liefern die Erzählung und ihr Experimentalismus eine wichtige Bedingung für die Genese eines narrativen Präsens als Erzähltempus. Abgeschlossen wird die Erzählung mit der Auflösung des Enigmas in der Vorzeitigkeit, wie die Tempuswahl verdeutlicht: ‘Der Schatten an der Wand war eine Schnecke’ (104). (104) ‘Though it’s Pr. no good buying newspapers... Nothing ever happens Pr. . Curse this war; God damn this war! ... All the same, I don’t see Pr. why we should have Kond. a snail on our wall.’ Ah, the mark on the wall! It was Prät. a snail. (Woolf 2003 [1917]: 68; Hervorhebungen B.M.) Die Präsensverwendung in dieser Kurzerzählung ist von Bedeutung, da es sich hier um einen Bericht von Gedanken handelt, die sich bereits in der Vorzeitigkeit entfaltet hatten, aber durch das Präsens in die Gegenwart des Erzählers transponiert werden. Sprecher und Betrachter fallen zusammen. Darin unterscheidet sich The Mark on the Wall von dem Roman The Waves (1992 [1931]), in dem die präsentischen Erzählungen durch den Bericht der Geschehnisse durch Figuren in direkter Rede erfolgen und somit eine 168 Verschiebung der Referenzzeit vorliegt. Die Erzählsituation zwischen den Jugendlichen wird hingegen in der Vorzeitigkeit lokalisiert, wie die wenigen Passagen der narrativen Erzählsubstanz belegen (vgl. z.B. Woolf 1992 [1931]: 139-140). Dennoch ist auch dieses Erzählen vorwiegend im Präsens ein untypisches Diskursmuster für einen Roman, weshalb auch dieses Werk in seiner Bedeutung für die Genese des narrativen Präsens nicht vernachlässigt werden darf. Den endgültigen Aufschwung erlebt das narrative Präsens durch die avantgardistische Bewegung des nouveau roman um die Schriftsteller Samuel Beckett, Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet, Michel Butor und Claude Simon, die sich Mitte des 20. Jahrhunderts gegen die lange etablierten und konventionalisierten Diskursregeln der Diskurstradition Roman richteten und mit diesen in der Gestaltung ihrer Diskurse brachen. Wichtige Ziele dieser Avantgarde waren die Dramatisierung des kreativen Prozesses und die Dekonstruktion der Erzählkonventionen. Die einzelnen Werke sind als Experimente auf der Ebene individueller Diskurse zu werten. Die Affinität zum Präsens als Leittempus einiger Autoren dieser literarischen Bewegung trug wesentlich zur ‘Initialzündung’ des Präsens als Erzähltempus im Roman bei und dazu, dass es sich sukzessive durch steigende Popularität und immer breitere Verwendung am Ende des 20. Jahrhunderts in den hier betrachteten Sprachen etablieren konnte. Das wichtigste Werk im Hinblick auf das narrative Präsens ist wohl La Jalousie (1957) von Alain Robbe-Grillet. Eine Handlung im klassischen Sinn weist das Werk nicht auf, vielmehr werden Träume, Halluzinationen, Erinnerungen und Vorstellungen des Protagonisten erzählt, eines Plantagenbesitzers, der überzeugt ist, seine Frau betrüge ihn mit einem benachbarten Plantagenbesitzer. Ähnlich wie bei Woolfs The Mark on the Wall bilden innere mentale Zustände den Kern der Erzählung. Dennoch bekommt der Leser die Beobachtungen des Protagonisten im Präsens vermittelt (105). (105) Devant lui, sur l’autre rive, s’étend Pr. une pièce en trapèze, curviligne du côté de l’eau, dont tous les bananiers ont été récoltés PC Passiv à une date plus ou moins récente. Il est Pr. facile d’y compter les souches, les troncs abattus pour la coupe laissant en place un court moignon terminé par une cicatrice en forme de disque, blanc ou jaunâtre selon son état de fraîcheur. (Robbe-Grillet 1957: 80; Hervorhebungen B.M.) ‘Vor ihm, auf dem anderen Ufer, dehnt sich ein trapezförmiges, an der Wasserseite krummliniges Feld aus, dessen Bananenbäume alle erst vor kurzem abgeerntet wurden. Es ist leicht, dort die Wurzelstöcke zu zählen, da die bei der Ernte gekappten Stämme kurze Stümpfe hinterlassen, die in scheibenförmigen, je nach ihrer Frische weißen oder gelblichen Narben enden.’ Eine explizite kalendarische Verankerung liegt nicht vor. Die ausgedrückte Perspektive entspricht einer ‘Hier und Jetzt’-Betrachtung, da das Erzähltempus das Präsens ist (106). Das verdeutlicht besonders die Verwendung 169 des passé composé, des origo-inklusiven Vergangenheitstempus zur Kodierung vorzeitiger Ereignisse in demselben Roman (107): (106) Maintenant l’ombre du pilier - le pilier qui soutient Pr. l’angle sud-ouest du toit - divise Pr. en deux parties égales l’angle correspondent de la terrasse. Cette terrasse est Pr. une large galerie couverte, entourant la maison sur trois de ses côtés. (Robbe-Grillet 1957: 9; Hervorhebungen B.M.) ‘Nun trennt der Schatten des Pfeilers - des Pfeilers, der die Südwestecke des Daches stützt - den entsprechenden Winkel der Terrasse in zwei gleiche Teile. Diese Terrasse ist eine breite, überdachte, das Haus an drei Seiten umgebende Galerie.’ (107) Le boy n’a pas encore atteint PC la petite table que la voix de A... se fait entendre Pr. , précise et mesurée; elle demande Pr. de placer la lampe dans la salle à manger, après avoir pris soin d’en fermer les fenêtres, comme chaque soir. [...] A... n’a pas détourné PC la tête pour s’adresser au boy. Son visage recevait Imp. les rayons de la lampe sur le côté droit. Ce profil vivement éclairé persiste Pr. ensuite sur la retine. (Robbe-Grillet 1957: 140; Hervorhebungen B.M.) ‘Der Boy hat den kleinen Tisch noch nicht erreicht, als schon die deutliche und gemessene Stimme von A... zu hören ist; sie bittet darum, die Lampe wie jeden Abend nach vorhergehendem Schließen der Fenster ins Esszimmer zu stellen. [...] A... hat ihren Kopf nicht gewendet, als sie mit dem Boy sprach. Die Strahlen der Lampe fielen auf die rechte Seite ihres Gesichts. Dieses hellbeleuchtete Profil bleibt sodann auf der Netzhaut haften.’ Ein weiteres Beispiel für einen avantgardistischen Roman, in dem Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit (E,R,S) zusammenfallen, ist Michel Butors La Modification (1957). Der Roman erweist sich aus unterschiedlichen Gründen als besonders interessant. Die Erzählzeit umspannt weniger als 24 Stunden, da die Erzählung mit der Abfahrt des Protagonisten im Zug von Paris in Richtung Rom beginnt und mit seiner Ankunft in Rom-Termini endet. Der Protagonist befindet sich auf dem Weg zu seiner Geliebten Cécile, die er mit seinem Besuch überraschen möchte, um ihr mitzuteilen, dass er seiner Ehefrau Henriette die Wahrheit sagen und sie verlassen wird. Cécile plant er dafür nach Paris mitzunehmen. Während der Zugfahrt kommen ihm jedoch Zweifel, denn er gelangt zu der Einsicht, dass seine Faszination für Cécile eng an das Heimliche und Mysteriöse gebunden ist und sie in Paris ihren Reiz verlieren würde. Rom steht insofern für das Pagane, Paris steht für die christlichen Werte. Aus linguistischer Sicht ist interessant, dass die Ereignisse durch das Präsens als Erzähltempus zum deiktischen Referenzpunkt des Textes transponiert werden und Erzählzeit und Referenzzeit zusammenfallen. Die Zugfahrt wird in das Zeitintervall der Sprechzeit transponiert, weshalb der Erzählung eine Temporalsemantik mit 170 den Merkmalen [+G EGENWART / +J ETZT ] entspricht. Außerdem erfolgt die gesamte Erzählung in der 2. Person, sodass die Erzählung gewissermaßen an eine Bühnenanweisung in einem Drama oder an eine Regieanweisung in einem Film erinnert. (108) Vous avez mis PC le pied gauche sur la rainure de cuivre, et de votre épaule droite vous essayez Pr. en vain de pousser un peu plus le panneau coulissant. Vous vous introduisez Pr. par l’étroite ouverture en frottant contre ses bords, puis, votre valise couverte de granuleux cuir sombre couleur d’épaisse bouteille, votre valise assez petite d’homme habitué aux longs voyages, vous l’arrachez Pr. par sa poigné collante, avec vos doigts qui se sont échauffés PC , si peu lourde qu’elle soit, de l’avoir portée jusqu’ici, vous la soulevez Pr. et vous sentez Pr. vos muscles et vos tendons se dessiner non seulement dans vos phalanges, dans votre paume, votre poignet et votre bras, mais dans votre épaule aussi, dans toute la moitié du dos et dans vos vertèbres depuis votre cou jusqu’aux reins. Non. Ce n’est Pr. pas seulement l’heure, à peine matinale, qui est Pr. responsable de cette faiblesse inhabituelle, c’est Pr. déjà l’âge qui cherche à vous convaincre de sa domination sur votre corps, et pourtant, vous venez seulement d’atteindre Passé récent les quarante-cinq ans. (Butor 1992 [1957]: 7; Hervorhebungen B.M.) ‘Du hast den linken Fuß auf die Messingschiene gesetzt und versuchst vergeblich, mit der rechten Schulter die Schiebetür etwas weiter aufzustoßen. Du zwängst dich durch die schmale Öffnung und nimmst deinen dunklen, flaschengrünen Koffer aus genarbtem Leder, diesen nicht zu großen Koffer eines Mannes, der zu reisen gewohnt ist, ergreifst ihn mit der rechten Hand, die trotz seines geringen Gewichtes warm geworden ist, weil du ihn bis hierher getragen hast, hebst ihn hoch an dem klebrigen, feuchten Griff und spürst, wie nicht nur die Muskeln und Sehnen deiner Fingerglieder, deiner Handfläche, deines Handgelenkes und deines Armes sich anspannen, sondern auch die deiner Schulter, der rechten Hälfte deines Rückens und die der Wirbelsäule vom Hals bis zu den Hüften. Nein, für diese ungewöhnliche Schwäche ist nicht nur die kaum noch morgendliche Stunde verantwortlich, es ist auch das Alter, das dich von seiner Herrschaft über deinen Körper zu überzeugen versucht, und doch hast du gerade erst die Fünfundvierzig erreicht.’ Auffällig ist in diesem Roman auch, dass Vorzeitigkeit durch passé récent kodiert wird (108), nachzeitige Ereignisse hingegen im Futur ausgedrückt werden (109). Dies belegt, dass die Ereignisse durch die Identität von Referenz- und Sprechzeit in das hic et nunc der dem Text zugrunde liegenden Kommunikationssituation transponiert werden. 171 (109) Quand le soleil se couchera Fut. , vous rentrerez Fut. via Monte della Farina pour chercher vos manteaux, et il est probable que ce dont Cécile aura Fut. envie, ce sera Fut. d’aller dîner dans une pizzeria du quartier, étudiant en chemin les programmes des cinémas mais seulement pour le lendemain soir, parce que demain vous sentirez Fut. retomber sur vous la fatigue de la nuit précédente inconfortable et troublée [...] (Butor 1992 [1957]: 7; Hervorhebungen B.M.) ‘Wenn die Sonne untergeht, werdet ihr in die Via Monte della Farina zurückkehren, um eure Mäntel zu holen, und wahrscheinlich wird Cécile Lust haben, in einer der Pizzerias des Viertels zu Abend zu essen, und unterwegs werdet ihr auf Kinoprogramme achten, doch nur im Hinblick auf den nächsten Abend, denn morgen wird dich die Müdigkeit der unbequemen und wirren vorausgegangenen Nacht überfallen [...]’ In dem Roman La Modification fällt vor allem die häufige Kodierung nachzeitiger Ereignisse durch das Futur als Erzähltempus auf. Dieses Erzählmuster, charakterisiert durch die Erzählung in der zweiten Person, erzeugt die Illusion einer inneren Stimme, die Anweisungen gibt. Die Präsensverwendungen im nouveau roman haben noch einen vergleichsweise starken experimentellen Charakter und entsprechen noch einzelnen Diskursen auf der Ebene der parole. Die Etablierung auf der Ebene der Norm erreicht das Erzählmuster erst nach einer gewissen Ausreifung Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts. In jenen späteren Romanen weist das Präsens auch keine Restriktionen auf Reflexionen oder innere Monologe auf, sondern ist ein voll funktionsfähiges Erzähltempus in Konkurrenz zu den Vergangenheitstempora. Dennoch bleiben die Wurzeln dieses Diskurs- und Perspektivierungsmusters die Experimente einer Gruppe avantgardistischer Autoren. Im folgenden Abschnitt wird die Präsensverwendung in diesen späteren Romanen beschrieben. 7.4 Das narrative Präsens und die Genese eines neuen Erzählmusters In den Romanen ab den 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts setzt sich immer häufiger das Präsens als Leittempus fiktionaler Erzählungen durch. Es handelt sich dabei keineswegs um ein einzelsprachliches Phänomen, sondern um eine Verwendung, die ein neues narratives Erzählmuster kodiert, das sich weit über die Grenzen einer Einzelsprache hinaus durchsetzt. Die Geschichten in den präsentischen Romanen können kalendarischtemporal verankert sein, müssen es aber nicht. Die Geschichten narrativer Texte müssen als geschlossene Systeme aufgefasst werden und sind in der Regel temporal angebunden, da sie sich, bedingt durch die Themen und die 172 Beschreibungen, in einen bestimmten historischen Kontext einschreiben. 125 Diese kontextuelle historische Verankerung hat jedoch nichts mit Temporalität im eigentlichen Sinn zu tun. Der Autor determiniert durch die Tempusselektion bei der sprachlichen Kodierung des fiktionalen Textes die Perspektive auf das Erzählte. Die dem klassischen Roman zugrunde liegende retrospektive Betrachtung der Ereignisse mit Spaltung des Erzählers in Sprecher (qua Erzählinstanz) und Betrachter ist eine Frage der übereinzelsprachlichen Diskursnormen und entspricht keiner Notwendigkeit, die im sprachlichen System verankert ist. Aufgrund des geschlossenen Systems der Geschichte, die dem narrativen Text zugrunde liegt, sind die Ereignisse der Geschichte aus zeitlich-logischer Sicht vorzeitig zu ihrer Erzählung. In den mittelalterlichen Epen und Sagen war die Geschichte ebenfalls abgeschlossen und vorzeitig, da sie bereits bekannt war und durch die Aufführung oder Erzählung lediglich aktualisiert wurde. Beim narrativen Präsens wird der Zusammenfall von Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit simuliert, um ein Shifting von der Vergangenheit in die Gegenwart zu erzeugen. Abbildung 9 - Semantik des narrativen Präsens: ausgedrückte Perspektive auf die Verbalereignisse Die Möglichkeit, durch das Präsens vergangene Ereignisse zumindest fiktiv in die Gegenwart der Sprecher-Origo zu transponieren, widerspricht einer Auffassung des Präsens als Atemporalis (vgl. Engel 1977; Vennemann 1987; Zeller 1994) und der Auffassung, man könne das Präsens dann verwenden, wenn es nicht notwendig ist, Informationen über die temporale Lokalisierung von historischen oder erzählten Geschehnissen zu liefern (vgl. Declerck 2006: 179). Das Präsens kodiert sehr wohl eine temporale Lokalisierung (vgl. Kapitel 4.4), sonst wäre auch der Aktualisierungseffekt der Vergangenheit, den das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens veranlasst, nicht möglich. 125 Vgl. z.B.: Die Märsche der Truppen des portugiesischen Diktators Salazar in den Fernsehnachrichten im Haus vom Engenheiro in O delfim (2002 [1968]: 71) von José Cardoso Pires. 173 Ein Beispiel für die (fiktive) Transposition der Ereignisse aus ihrem Kontext in die dem narrativen Text zugrunde liegende Kommunikationssituation - unter Simulierung von Kotemporalität - liefert uns für das Portugiesische der Roman O delfim von José Cardoso Pires (2002 [1968]). Bereits in der ersten Zeile erfolgt die Perspektivierung im ‘Hier und Jetzt’. (110) Cá estou Pr. . Precisamente no mesmo quarto onde, faz Pr. hoje um ano, me instalei Perf. na minha primeira visita à aldeia e onde, com curiosidade e divertimento fui Perf. anotando Ger. as minhas conversas com Tomás Manuel da Palma Bravo, o Engenheiro. (Pires 2002 [1968]: 35; Hervorhebungen B.M.) ‘Hier bin ich. Genau im selben Zimmer, wo ich mich heute vor einem Jahr niedergelassen habe während meines ersten Besuchs im Dorf, bei dem ich mit Vergnügen und Neugierde meine Unterhaltungen mit Tomás Manuel da Palma Bravo, dem Ingenieur, notiert habe.’ Das Perfekt wird in der Passage verwendet, um vorzeitige Ereignisse auszudrücken, was ein erstes Indiz dafür ist, dass die Perspektivierung der narrativen Ereignisse aus einer hic et nunc-Perspektive erfolgt. Bei einer Situierung in der Vorzeitigkeit gegenüber der Sprechzeit müssten Ereignisse, die vorzeitig zur Referenzzeit geschehen, im Plusquamperfekt enkodiert werden. Eine Kotemporalität der im Perfekt ausgedrückten Ereignisse kann durch das Temporaladverbiale hoje há um ano (‘heute vor einem Jahr’) ausgeschlossen werden, das klar besagt, dass es sich um vorzeitige Ereignisse handelt. Selbst ein Perspektivenwechsel vom auktorialen Ich-Erzähler hin zu einer charakteristischen Außenperspektive einer Er-Erzählung erfolgt unter Beibehaltung des Präsens als Leittempus. (111) Temos Pr. pois, o Autor instalado na janela duma pens-o de caçadores. (Pires 2002 [1968]: 36; Hervorhebungen B.M.) ‘Nun haben wir den Autor am Fenster einer Jägerpension sitzend.’ Die perspektivischen Leistungen von Tempusalternanzen gehen verloren und müssen folglich explizit durch alternative sprachliche Kodierungsmittel ausgedrückt werden. Auffällig ist in diesem Antidetektivroman, dass auf intradiegetischer Ebene sogar vorzeitige Beispielgeschichten zur Hauptgeschichte des Werks mit Tomás als Erzähler durchgängig im Präsens erzählt und somit in die (fiktionale) kanonische Kommunikationssituation zwischen Tomás und dem Erzähler transponiert werden (Beispiel: „Die Geschichte der ‘verführten’ Tochter“ 126 , vide: Pires 2002 [1968]: 92-95). Die Opposition zwi- 126 Die Geschichte der Vorfahren des Ingenieurs, in deren Rahmen sich bereits die Dekadenz der einstigen Adelsfamilie ankündigt, in Kapitel XV, wird vorzeitig und mit Vergangenheitstempora erzählt. Dies geschieht wohl aus Gründen der Perspektivierung. In einem Fall ist es das Ziel, den unmittelbaren Bezug zur Gegenwart der Figuren und des Betrachters herzustellen und die Ereignisse in die Gegenwart zu transponieren. Im 174 schen Hintergrund und Vordergrund, Haupt- und Nebenstrang der Erzählung und das narrative Relief werden aufgegeben. Anstelle eines Diskursmusters, das sich durch das Zusammenspiel von perfektivem Perfekt und imperfektivem Imperfekt zur Erzeugung narrativer Progression definiert, wird auf ein Modell des Fortschreitens der Ereignisse durch das ikonische Prinzip der sequentiellen Nachordnung der Verben im Text zurückgegriffen. Die erzeugte Perspektive ähnelt der eines Films. Alles wird dem Leser in einer ‘Hier und Jetzt’-Perspektive in gereihter Form präsentiert und die Relevanz der Ereignisse kann er sich lediglich gemäß der Griceschen konversationellen Maximen erschließen. Wenn etwas in der fiktionalen Welt sprachlich enkodiert wird, ist es relevant für die Erzählung. Die narrative Entfaltung ist dabei thematisch-rhematisch. Bezeichnend für die beabsichtigte Perspektivierung ist die Tatsache, dass die fiktionale Welt erst auf der letzten Seite (112), im letzten Absatz des Romans zeitlich verortet wird, was den Leser zu einer hic et nunc-Lektüre zwingt. (112) Desta maneira, o Autor em visita despede-se Pr. de um companheiro de serões e de uma Ofélia local [...] na véspera do dia de Todos os Santos e de todos os caçadores, o primeiro mês de Novembro de mil novecentos e sessenta e seis. (Pires 2002 [1968]: 264, Hervorhebungen B.M.) ‘So verabschiedet sich der durchreisende Autor von einem Kumpel langer gemeinsamer Abende und einer lokalen Ophelia [...] am Vortag von Allerheiligen und von allen Jägern, am erste Novembertag 1966.’ Durch die fast durchgängige Präsensverwendung und das dadurch kodierte Nicht-Auseinandertreten von Sprechzeit und Referenzzeit werden die Ereignisse in die Gegenwart transponiert. So verliert beim Einsatz des narrativen Präsens nicht etwa das Tempus Präsens seine temporale Bedeutung. Vielmehr determiniert das ‘so tun als ob’, das Fiktion charakterisiert und fiktionalen Texten zugrunde liegt, dass die Handlungen der Erzählungen zumindest fiktional kotemporal zum deiktischen Nullpunkt der erzählten Welt situiert werden. Dies erweckt beim Leser die Illusion eines ‘Miterlebens’. Die Tempuswahl ist demzufolge eine Frage der Perspektive und erzeugt höchste Unmittelbarkeit der Darstellung. Romane mit erzählten fiktionalen Geschehnissen wie Balada da Praia dos C-es (1982) von José Cardoso Pires, Para Sempre (1983) von Vergílio Ferreira, Sei lá (1999) von Margarida Rebelo Pinto haben das Präsens als Leittempus, ebenso wie Romane, die auf historischen Fakten basieren, wie A Estrela de Joana (2007). Dieser handelt von der ermordeten Joana Cipriano, die im September 2004 zunächst als vermisst gemeldet wurde und bei der sich herausstellte, dass sie von ihrer eigenen Familie getötet und vermutlich an Schweine verfüttert worden war, sodass ihre Leiche nie gefunden wurde. zweiten Fall hingegen soll gezeigt werden, dass sich der Untergang der Familie schon über Generationen hin angekündigt hat (vgl. Pires 2002 [1968]: 134-137). 175 Der Verfasser ist einer der involvierten Ermittler der Mordkommission. Daneben muss zwischen Romanen, die eine kalendarische temporale Verankerung wie O Delfim (2002 [1968]) von José Cardoso Pires aufweisen, und jenen, die wie Sei lá (1999) von Margarida Rebelo Pinto auf diese verzichten, unterschieden werden. Die von Roth (2000) angedeutete Annahme, die Selektion des Präsens als Erzähltempus sei eine Frage der “schriftstellerischen Erfahrung” der Autoren, widerlegen Namen wie Vergílio Ferreira und José Cardoso Pires, zwei der prestigeträchtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Außerdem fällt auf, dass eigentlich kein Schriftsteller ausschließlich im narrativen Präsens schreibt. Dies belegt zum Beispiel das Werk von Rodrigo Guedes de Carvalho, der in Canário (2007) das narrative Präsens als Leittempus selegiert, in Daqui a nada (1992) hingegen das für die romanischen Sprachen typische Erzählmuster mit der Alternanz zwischen Perfekt für Vordergrund und Imperfekt für Hintergrund verwendet. Dasselbe kann man für das Französische in dem Werk von Jean-Marie Gustave Le Clézio beobachten, der das narrative Präsens in Désert (1980) verwendet, in Onitsha (1991) hingegen auf Vergangenheitstempora als Leittempus zurückgreift. Die Tempuswahl ist somit kein Ausdruck der Reife eines Schriftstellers. Der Autor wählt das Tempus im Hinblick auf die Perspektive, die er dem Leser auf das Erzählte gewähren möchte, die temporale Verortung der konstitutiven Ereignisse der Geschichte und um dem Wunsch nach variierenden Erzählmuster-Optionen gerecht zu werden. Im letzten Fall handelt es sich um eine Frage der literarischen Kreativität. Für die linguistische Beschreibung des narrativen Präsens lässt sich festhalten, dass es keine ersichtlichen Restriktionen in seiner Anwendbarkeit aufweist. Bedeutsam ist außerdem die Tatsache, dass nachzeitige Ereignisse im Futur ausgedrückt werden (vgl. Beispiele 113 und 114), was belegt, dass die Ereignisse nicht mehr eindeutig in der Vergangenheit verortet sind, obwohl eigentlich E<S gilt. (113) Em face disso, vou chamar Fut. (‘gehen’ + Infinitiv) a Deolinda. Vou chamá-la Fut. (‘gehen’ + Infinitiv) daqui aos berros. (Ferreira 2008 [1983]: 71; Hervorhebungen B.M.) ‘Angesichts dessen werde ich Deolinda rufen. Ich werde sie von hier aus brüllend rufen.’ 176 (114) Alguém abre Pr. a garrafa de cachaça. Lívia atravessa Pr. o grupo e chega até à porta... Ouve Pr. o ruído do mar sereno, ruído sempre igual, ruído de todos os días. Guma n-o deve Pr. tardar e sem dúvida a virá Fut. procurar na casa de Judith. (Amado 2001 [1936]: 24; Hervorhebungen B.M.) ‘Jemand öffnet die Flasche Cachaça. Lívia, durchquert die Gruppe und erreicht die Tür... Sie hört das Geräusch des ruhigen Meeres, ein immer identisches Geräusch, ein alltägliches Geräusch. Guma wird nicht mehr lange brauchen und er wird zweifellos kommen und sie bei Judith suchen.’ Die Beispiele (113) und (114) belegen, dass durch die Tempuswahl ein Shifting der Ereignisse in die Gegenwart der Sprechzeit vollzogen wird. Der Betrachter befindet sich gegenüber dem Sprecher nicht in der Vorzeitigkeit, wie die Tempuswahl explizit zeigt. Das Vorantreiben der narrativen Ereignisse findet entweder über syndetische oder asyndetische Reihungen statt, wobei bei letzteren die vergleichsweise kürzeren Sätze auffallen. (115) Alcanço Pr. e balanço Pr. port-o de ferro [...] que o porteiro vem Pr. abrir andando depressa e chegando devagar, como um boneco de cordas. (Buarque 2001 [1991]: 84; Hervorhebungen B.M.) ‘Ich erreiche und rüttele das Metalltor [...], das der Pförtner schnell gehend und langsam ankommend öffnen kommt, wie eine Marionette.’ Die Reihungen der Ereignisse erinnern an die narrative Struktur mittelalterlicher Texte, was die Abwesenheit von Hintergrund und die narrative syndetische Struktur anbelangt. Das Präsens entfaltet in (115) seine prototypische Bedeutung. Auch wenn sich die Romane, in denen die Erzählung mittels Erzählpräsentien erfolgt, einen substantiellen Verlust an hintergrundierten Informationen aufweisen, können diese dennoch durch Progressivformen markiert werden (vgl. Bertinetto 2000): (116) Reentro Pr. na cozinha e me sento Pr. junto à mesa. A Avó Dulcineusa canta Pr. a sua lengalenga enquanto vai vigiando Pr. Progr. a panela, no brandeamento do lume. (Couto 2003: 148, Hervorhebungen B.M.) ‘Ich gehe zurück in die Küche und setze mich an den Tisch. Oma Dulcineusa singt ihre Litaneien, während sie den Topf auf sanfter Flamme auf dem Ofen bewacht.’ Schließlich kann das narrative Präsens markiert oder unmarkiert verwendet werden. Bei einer unmarkierten Verwendung ist es durchgängig das Leittempus der Erzählung, außer um vorzeitige oder nachzeitige Ereignisse auszudrücken. Als markiertes Tempus werden einzelne Episoden meist in Form von einzelnen Kapiteln im Präsens erzählt, wodurch die Ereignisse in die Gegenwart transponiert werden und innerhalb des narrativen Erzähltextes markiert erscheinen (Beispiel: In Apariç-o von Vergílio Ferreira ist das narrative Präsens das Erzähltempus in den Kapiteln XI, XVII und XXII; 177 (Ferreira 2002 [1959]): 129-138; 189-196; 237-242). Der restliche Roman weist das traditionelle romanische Erzählmuster (Perfekt/ Imperfekt) auf. Der Tempuswechsel ist als Perspektivenwechsel zu verstehen. Die Beschreibung des narrativen Präsens für das Portugiesische kann angesichts der Ähnlichkeiten der Präsenssysteme weitestgehend auf das Spanische übertragen werden. Auch hier ist das narrative Präsens als Erzähltempus, das vergangene Ereignisse in die Gegenwart der Sprechzeit transponiert, produktiv. Die temporale Verortung wird eindeutig durch den Ausdruck vorzeitiger Ereignisse mit origo-inklusivem P AST -Tempus und origo-exklusivem P AST -Tempus geleistet, je nachdem ob eine Anbindung an die Sprechzeit besteht oder nicht. (117) El gitanito, a la luz de un farol, cuenta Pr. un monton de calderilla. El día no se le dio Perf. mal: ha reunido PC , cantando desde la una de la tarde hasta las once de la noche, un duro y sessenta céntimos. (Cela 1990 [1951]: 127; Hervorhebungen BM) ‘Der Zigeunerknabe zählt eine Menge Kupfergeld im Licht einer Straßenlaterne. Der Tag war nicht schlecht: er hat 5 Peseten und 60 Cent singend von ein Uhr nachmittags bis elf Uhr abends zusammengebracht.’ Sein Großstadtroman La Colmena (1951), in dem Cela das Madrid der Nachkriegsjahre portraitiert, weist 152 Abschnitte auf, die im Präsens beginnen, 43 mit Vergangenheit und einen mit Futur. In 81 der 206 Szenen wechselt das Erzähltempus ein oder mehrere Male (vgl. Eberenz 1981: 223), was die perspektivische Leistung von Tempus unterstreicht. Die klare Dominanz des Präsens als Erzähltempus ermöglicht es jedoch, das Werk als einen vergleichsweise frühen Roman im narrativen Präsens aufzuführen. Eberenz (ebd.) weist bereits darauf hin, dass das Präsens kein geeignetes Ereignisverkettungstempus ist, sondern dass diese Ereignisse vielmehr ohne Markierung ihrer Konturen aneinandergereiht erscheinen, wodurch sich die Opposition zwischen den Formen, welche die Erzählung vorantreiben, und denen, die beschreibender Natur sind, auflöst (vgl. Maingueneau 2000: 68). Dadurch ergibt sich auch die perspektivische Besonderheit, die das Präsens als Leittempus der Erzählsubstanz versprachlicht. Ein wesentlicher Unterschied gegenüber dem Portugiesischen besteht darin, dass im Spanischen Hintergrundereignisse häufig durch perfecto compuesto ausgedrückt werden (118), das im Spanischen anders als im gesprochenen Französisch jedoch nicht aoristisch ist. Damit werden die entsprechenden Verbalereignisse als unmittelbar vorzeitig mit Bezug zur Gegenwart fokussiert, wodurch der Aufmerksamkeitsfokus auf die kotemporalen Ereignisse gelenkt wird und die im PC kodierten Ereignisse den narrativen Hintergrund bilden. 178 (118) Por la mañana, ella pasa Pr. a despedirse por el barco. Baldo se ha afeitado PC y acicaldado PC lo mejor posible pero la tristeza por la marcha de Martina le hace Pr. tener cara de ahogado. (Iturbe 2008: 289; Hervorhebungen B.M.) ‘Morgens geht sie am Schiff vorbei, um sich zu verabschieden. Baldo hat sich rasiert und geschniegelt, aber seine Trauer über das Weggehen von Martina lässt ihn fertig aussehen.’ Das Temporaladverbiale lokalisiert die Verbalvorgänge zeitlich. Mittels der durchgängig präsentischen Erzählung entsteht jedoch ein Shifting in die Gegenwart, das eine präsentische Reinterpretation veranlasst. Dadurch hat der Leser den Eindruck, an den Handlungen teilzuhaben, und er perspektiviert diese, als wäre ihr Ausgang noch offen. Die dadurch bewirkte Illusion ist identisch mit jener, die ein Film im Zuschauer auslöst, daher auch die Vergleichbarkeit der Perspektivierungsmuster, für die in Kapitel 10 als Erklärungsansatz plädiert wird. Die Markierung von Vor- und Nachzeitigkeit von einem hic et nunc wird in folgender Passage aus La Higuera (2006) von Ramiro Pinilla besonders gut ersichtlich: (119) Ha dejado PC de llover. Desde hace seis días, en esta tierra española ningún enemigo puede escapar a nosotros. Luis, Salvador, Eduardo, Fructuoso y yo recorremos Pr. las calles de Getxo con el equilibrio espiritual que ha de sentir Fut. el zorro en un gallinero. Pedro Alberto se reunirá Fut. más tarde con nosotros en la comísaría. (Pinilla 2006: 68; Hervorhebungen B.M.) ‘Es hat aufgehört zu regnen. Seit sechs Tagen kann kein Feind in dieser Gegend Spaniens vor uns entkommen. Luis, Salvador, Eduardo, Fructuoso und ich durchlaufen die Straßen von Getxo mit der geistigen Ausgewogenheit, die wohl ein Fuchs in einem Hühnerstall verspürt. Pedro Alberto wird sich uns später auf der Wache anschließen.’ Die Unmöglichkeit des Präsens, Ereignisverkettung und narrative Progression zu erzeugen, wird besonders gut in der Episode ersichtlich, in der der Gerichtsdiener Cipriana aufsucht. Er kommt mehrfach mit jeweils unterschiedlichen Angeboten. Die Verbalvorgänge sind im Präsens ausgedrückt und da die Ereignisse nicht verkettet und sequenziert werden können, wird die narrative Progression binnen 13 Zeilen vier Mal durch Temporaladverbialien geleistet, welche die Referenzzeit neu verorten: a media mañana - ‘Mitte des Vormittags’, el día siguiente - ‘am nächsten Tag’, wieder el día siguiente und schließlich el mismo día por la tarde - ‘am selben Tag am Nachmittag’ (vgl. Pinilla 2006: 236-237). Aus der Familie der germanischen Sprachen eignet sich das Englische besonders gut zum Vergleich mit den iberoromanischen Sprachen, da es ebenfalls eine Progressivform für das Präsens aufweist und das einfache Präsens in der Regel nur Allgemeingültiges oder iterative Ereignisse ausdrückt. Dennoch fällt in den untersuchten englischen und spanischen Romanen auf, dass das einfache Präsens als Erzähltempus herangezogen wird (120). So entstehen etwas unterschiedliche semantische Effekte durch die Verwen- 179 dung des Präsens als narratives Tempus, dennoch ist sprachübergreifend die eingenommene Perspektive ‘Hier und Jetzt’. Einen Erklärungsansatz hierfür liefert möglicherweise die funktionale Überlappung des Präsens zur sprachlichen Kodierung kotemporaler und allgemeingültiger Sachverhalte. Die fiktionalen Welten haben Allgemeingültigkeit, da es sich bei den zugrunde liegenden Geschichten um geschlossene Systeme handelt, die durch die Lektüre aktualisiert werden. Das drückt das Präsens besonders präzise durch seine Semantik aus. (120) There is Pr. a ring at the doorbell: two young policemen in spruce new uniforms, ready to begin their investigations. Lucy emerges Pr. from her room looking haggard, wearing the same clothes as yesterday. She refuses Pr. breakfast. With the police following behind in their van, Bev drives Pr. them out to the farm. The corpses of the dogs lie Pr. in the cage where they fell Prät. . The bulldog Katy is Pr. still around: they catch Pr. a glimpse of her skulking near the stable, keeping her distance. Of Petrus there is Pr. no sign. Indoors, the two policemen take Pr. off their caps, truck Pr. them under their arms. He stands Pr. back, leaves it to Lucy to take them through the story she has elected PPerf. to tell. They listen Pr. respectfully, taking down her word, the pen darting nervously across the pages of the notebook. They are Pr. of her generation, but edgy of her nevertheless, as if she were Prät. a creature polluted and her pollution could leap Kond. across to them, soil them. (Coetzee 2008 [1999]: 108; Hervorhebungen B.M.) In (120) werden die Ereignisse durch das narrative Präsens in die Sprechzeit transponiert. Kotemporalität und Hintergrund werden durch die Progressivform ausgedrückt (looking, following, skulking, keeping, taking, darting). Die infiniten Formen werden temporal durch die finiten Formen verortet. Vorzeitigkeit wird für Ereignisse, die origo-exklusiv betrachtet werden (E,R<S), durch Präteritum markiert (fell) und für vorzeitige Ereignisse, die origo-inklusiv betrachtet werden (E<R,S), durch present perfect (has elected). Im Fall des present perfect (has elected) wird das Ereignis nach rechts offen perspektiviert und Betrachter und Sprecher fallen zusammen; ähnlich beim perfecto compuesto im Spanischen (siehe Beispiele (117) und (118)). Die Betrachtung der fiktionalen Welt erfolgt eindeutig aus dem ‘Hier und Jetzt’. Da die Ereignisse faktisch vor der Sprechzeit liegen müssen, belegt die Passage sehr gut, dass das narrative Präsens ein Shifting vorzeitiger erzählter oder historischer Ereignisse in die ‘Gegenwart’ veranlasst. Der reale Leser wiederum kann diese Gegenwart mit seiner eigenen identifizieren oder nicht. Eine pragmatische Funktionalisierung der Perspektive liegt zum Beispiel in O delfim, La colmena und Disgrace vor. In Coetzees Roman werden die gesellschaftliche und moralische Verwahrlosung der zeitgenössischen südafrikanischen Gesellschaft und die hohe Kriminalität problematisiert. La colmena (1951) portraitiert das ausschweifende Alltagsleben in Madrid. Und 180 in O delfim (1968) wird die patriarchalische zeitgenössische Ständegesellschaft im Estado Novo kritisiert, ein veraltetes gesellschaftliches Strukturmodell, das nicht mehr zeitgemäß war. Diese Kritik stellt gleichzeitig auch eine Kritik an der herrschenden Staatsform oder gesellschaftlichen Missständen zur Zeit der Erscheinung der Romane dar. Abschließend ist zum Englischen festzuhalten, dass hintergrundierte Information durch die Progressivform present continuous (is raining) oder durch present participles (going, thinking) ausgedrückt werden können (121). (121) It is raining Pr. Progr. . He sits Pr. Back and looks Pr. at the giant windscreen wipers going back and forth on the front window. Thinking about England. Newcastle. (Raisin 2011: 96; Hervorhebungen B.M.) Im französischen Sprachraum ist das narrative Präsens ebenso produktiv wie in der Iberoromania. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass das Französische über keine rein verbale periphrastische Progressivform verfügt, sondern diese Form wird mit der Periphrase être en train de faire qc. kodiert. Das narrative Muster der präsentischen Erzähltexte charakterisiert sich wie in den besprochenen Sprachen durch eine lineare thematisch-rhematische Entfaltung (122) Alors elle arrive Pr. devant le grand plateau de pierre blanche qui s’étend Pr. jusqu’aux limites de l’horizon, jusqu’au ciel. La lumière est Pr. éblouissante, le vent froid coupe Pr. les lèvres et met Pr. des larmes dans les yeux. Lalla regarde Pr. de toutes ses forces, jusqu’à ce que son cœur batte Pr. Subj. à grands coups sourds dans sa gorge et dans ses tempes, jusqu’à ce qu’un voile rouge couvre le ciel, et qu’elle entende Pr. dans ses oreilles les voix inconnues qui parlent Pr. et qui marmonnent Pr. toutes ensemble. Puis elle avance Pr. au milieu du plateau de pierres, là où ne vivent Pr. que les scorpions et les serpents. Il n’y a plus de chemin sur le plateau. Ce ne sont Pr. que des blocs brisés, aigus comme des couteaux, où la lumière fait des étincelles. Il n’y a Pr. pas d’arbres, ni d’herbe, seulement le vent qui vient Pr. du centre de l’espace. C’est là que l’homme vient Pr. quelquefois à sa rencontre. Elle ne sait Pr. pas qui il est Pr. , ni d’où il vient Pr. . (Le Clézio 1980: 94-95; Hervorhebungen B.M.) ‘Dann steht sie vor dem großen Plateau aus weißem Stein, das sich bis zu den Grenzen des Horizonts, bis zum Himmel erstreckt. Das Licht blendet, der kühle Wind schneidet in die Lippen, treibt Tränen in die Augen. Lalla schaut mit aller Kraft, bis ihr das Herz mit dumpfen Schlägen in Hals und Schläfen pocht und sie die unbekannten Stimmen hört, die alle durcheinander reden und murmeln. 181 Dann geht sie bis zur Mitte des Steinplateaus, wo nur noch Skorpione und Schlangen leben. Auf dem Plateau gibt es keinen Weg mehr, nur geborstene Blöcke mit messerscharfen Kanten, auf denen das Licht Funken schlägt, weder Bäume noch Gras, nur den Wind, der aus dem Zentrum des Alls kommt. Dort begegnet sie manchmal dem Mann. Sie weiß nicht, wer er ist, noch woher er kommt.’ Die Geschehnisse werden durchgängig im Präsens erzählt, das keine Handlungsprogression markieren kann. Die Progression ist ein Ergebnis der sequentiellen, linearen Nachordnung der Verben im Text, um den Fortgang der Handlung auszudrücken. 127 Zusätzlich werden Temporaladverbien benutzt, um narrative Progression zu erzeugen und den Betrachter immer wieder neu zu verorten (Beispiele: alors, puis). Die Ikonizität des Prinzips der sequentiellen Nachordnung von Verben verhindert Hintergrundierungen, da die Ereignisse alle auf derselben perspektivischen Ebene aneinandergereiht ausgedrückt werden. (123) Elle se lève Pr. , m’embrasse Pr. et s’en retourne Pr. chez les Pallières à son labeur d’esclave moderne. Après son départ, je reste Pr. assise devant ma tasse de thé vide. Il reste Pr. un mendiant, que je grignote Pr. par gourmandise avec les dents de devant, comme une souris. (Barbery 2006: 200; Hervorhebungen B.M.) ‘Sie steht auf, umarmt mich und kehrt zurück zur Familie Pallière zu ihrer Arbeit als moderne Sklavin. Nach ihrem Aufbruch bleibe ich vor meiner leeren Tasse sitzen. Es ist ein mendiant [‘Schokoladenkuchen’, Anm. B.M.] übrig, den ich aus Schlemmerei mit den Schneidezähnen anbeiße wie eine Maus.’ In der Regel weisen die Texte eine Alternanz zwischen syndetischen und asyndetischen Reihungen auf (124). (124) Alors elle s’assoit Pr. à côté du vieil homme, et elle regarde Pr. par la porte entrouverte la lumière de la nuit. Elle écoute Pr. la respiration sifflante, elle entend Pr. le bruit mauvais du vent au-dehors, qui roule Pr. les boîtes de conserve et fait Pr. battre les tôles. Puis elle s’endort Pr. , comme cela, assise, la tête appuyée contre ses genoux. De temps en temps, la respiration suffocante du vieux Naman la réveille Pr. [...]. (Le Clézio 1980: 208; Hervorhebungen B.M.) 127 Dasselbe narrative Muster findet man unter anderem auch in Le chercheur d’or von Le Clézio (1985), Une désolation (1999) von Yasmina Reza, La petite fille de Monsieur Linh (2005) von Philippe Claudel, Du rêve pour les oufs (2006) von Faïza Guène, No et moi (2007) von Delphine de Vigan, Le Portrait (2007) von Pierre Assouline und Plus belle sera la vie (2007) von Stéphanie Bern. 182 ‘Nun setzt sie sich neben den alten Mann und blickt durch die halboffene Tür in das Licht der Nacht. Sie lauscht auf seinen pfeifenden Atem, hört das böse Heulen des Windes draußen, der Konservendosen hin- und herrollt und das Wellblech klappern lässt. Dann schläft sie ein, einfach so, im Sitzen, den Kopf auf die Knie gelegt. Ab und zu wird sie von den schweren Atemzügen des alten Naman wach [...].’ Der erste Satz in (124) weist eine syndetische Reihung auf (et), der zweite eine asyndetische (zwischen écoute und entend). Auffällig ist wieder der häufige Gebrauch von Temporaladverbien, um temporale Progression zu markieren (alors, puis, de temps en temps). Auch im Französischen werden durch das narrative Präsens die vergangenen erzählten Ereignisse in die Gegenwart transponiert (E,R,S), wie der Ausdruck von nachzeitigen Ereignissen belegt. (125) Anouk constitue Pr. petit à petit un stock alimentaire que Laure pourra Fut. rapporter chez elle, quand elle sortira Fut. . (Vigan 2009 [2001]: 84; Hervorhebungen B.M.) ‘Anouk stellt nach und nach eine Lebensmittelreserve zusammen, die Laure zu sich nach Hause mitnehmen kann, wenn sie geht.’ Vorzeitige Ereignisse werden häufig durch passé composé kodiert (126). Die Situierung der im passé composé ausgedrückten Ereignisse in der Vergangenheit dient gleichzeitig einer Hintergrundierungsstrategie. Ereignisse, die eigentlich alle temporal vor der Sprechzeit verortet sind, werden durch das Präsens in die ‘Gegenwart’ von Referenz- und Sprechzeit transponiert, die zumindest fiktiv zusammenfallen. Ereignisse, die im passé composé kodiert werden, treten daher in den Hintergrund. Denn durch den origo-inklusiven Charakter des passé composé in Erzähltexten (vgl. Becker 2010a) wird ihre Relevanz für die Gegenwart deutlich, gleichzeitig werden die Ereignisse jedoch nicht mit derselben diskursiven Prominenz ausgedrückt. (126) J’ai passé CP l’après-midi chez Tantie Mariatou. Elle m’a fait CP des tresses couchées sur le haut de la tête, à la façon américaine, avec les nattes qui se croisent Pr. . Je lui demande Pr. souvent cette coiffure [...]. (Guène 2006: 80, Hervorhebungen B.M.) ‘Ich habe die Mittagspause bei meinem Tantchen Mariatou verbracht. Sie hat mir Zöpfe oben um den Kopf geflochten, im amerikanischen Stil, wo sich die Zöpfe miteinander verflechten. Ich bitte sie oft um diese Frisur.’ Die sprachübergreifende Verbreitung des narrativen Präsens ist nicht überraschend, da sich Diskurstraditionen im Spannungsfeld von einzelsprachlichen Regeln und sprachübergreifenden Diskursregeln entfalten. So ist das narrative Präsens auch im Deutschen weit verbreitet. Ähnlich wie das Französische verfügt das Deutsche auch nur über eine präpositionale Verbalperiphrase als funktionales Äquivalent zur verbalen Progressivform im Eng- 183 lischen oder im Spanischen. Die Verwendung erfuhr eine gewisse Stigmatisierung, weil der Präsenstyp besonders mit der Popliteratur ins Licht der Aufmerksamkeit geriet. Dabei handelt es sich um eine avantgardistische Stilbewegung, welche die Werte der Konsumgesellschaft anpries und sich gegen barocke Sprachspiele in literarischen Werken richtete und für eine Verwendung der Sprache, so wie gesprochen wird, plädierte. Mit der Popliteratur hielten folglich auch massiv Elemente der gesprochenen Sprache Einzug in den literarischen Diskurs (vgl. Baßler 2005 und 2007). Das narrative Präsens wurde als ein Korrelat dieser literarischen Bewegung gesehen, ungeachtet der Tatsache, dass das Präsens auch in zahlreichen anderen Romanen als Leittempus vorkam. Dass das narrative Präsens nicht das Schreibtempus einer Gruppe junger, unerfahrener Schriftsteller ist, wie oft über die Popliteraten gesagt wurde, belegt beispielsweise das Werk der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek (Beispiele: Lust (1989) oder Die Klavierspielerin (1983)). (127) Da er [‘Klemmer’, Anm. B.M.] als Zuneigung diagnostiziert Pr. , was ihn mit Erika vereint Pr. , gibt Pr. Klemmer wieder einmal nicht auf, sondern setzt Pr. sich erneut stramm fest, mit den Vorderbeinen flink sondierend, mit den Hinterbeinen eilfertig nachsetzend. (Jelinek 2007 [1983]: 163; Hervorhebungen B.M.) In Crazy (1999) von Benjamin Lebert, einem autobiografischen Roman, in dem die Ereignisse folglich vorzeitig (E<S) sind, wird die Perspektive bereits in den ersten Zeilen durch das Lokaladverb und durch die Tempusselektion deutlich. Die vergangenen erzählten Geschehnisse werden in die Gegenwart des Erzählers transponiert. (128) Hier soll Pr. ich also bleiben. Wenn möglich bis zum Abitur. Das ist Pr. der Vorsatz. Ich stehe Pr. auf dem Parkplatz des Internats Schloß Neuseelen und schaue Pr. mich um. Meine Eltern stehen Pr. neben mir. (Lebert 2000 [1999]: 9; Hervorhebungen B.M.) Die eingenommene hic et nunc-Perspektive wird durch den Ausdruck vorzeitiger Ereignisse im Perfekt (PC) (129) besonders deutlich. Da die Ereignisse eigentlich alle vorzeitig lokalisiert sind, scheinen jene, die nicht in die Gegenwart transponiert werden, dennoch durch den origo-inklusiven Charakter des analytischen Perfekts einen unmittelbaren Bezug zu dieser Gegenwart als Hintergrund aus Sicht der narrativen Kette aufzuweisen. Das analytische Perfekt dient folglich dazu, Nebenereignisse bei Erzählungen im narrativen Präsens auszudrücken. Wie Abraham (2008a: 301) zu Recht festhält, entsteht die Schnittstelle zwischen Präsens und analytischem Perfekt durch das Auxiliar, welches das Präsens mit einbezieht und gleichzeitig durch das Anteriorpartizip eine hintergrundierende Komponente in sich trägt. Das gilt auch für Romane im narrativen Präsens im Spanischen und auch für das Französische (vgl. Becker 2010a). 184 (129) Janosch liegt Pr. im Bett. Und hat sich die Decke über den Kopf gezogen PC . Immer wieder lugen Pr. seine blauen Augen daraus hervor. Ich sitze Pr. am Rand des Bettes. So, daß er seine Füße ausstrecken kann Pr. . (Lebert 2000 [1999]: 44; Hervorhebungen B.M) Im Fall von Crazy ist festzuhalten, dass der Roman ähnlich wie O delfim, Désert oder Disgrace bis auf wenige Ausnahmen im narrativen Präsens wiedergegeben wird. 128 Und selbst das Ende der autobiografischen Geschichte über die Erfahrungen des jungen Benjamins im Internat Neuseelen wird im Präsens wiedergegeben. (130) „Schöne Ferien“ brummt Pr. er [‘Internatsleiter Richter’] in sich hinein. Marschiert Pr. an uns vorbei. In den Landorf-Gang. Wir steigen Pr. die Treppen hinab. Es ist Pr. eine lange Treppe. Als wir unten sind Pr. , stelle Pr. ich die Reisetasche auf den Boden. Ich bin Pr. erschöpft. (Lebert 2000 [1999]: 175; Hervorhebungen B.M) Auch im Deutschen zeichnen sich narrative Texte im Präsens durch eine erhöhte Verwendung von Temporaladverbialien (131) aus, da das Präsens weder als Ereignisverkettungstempus geeignet (vgl. Abraham 2008: 301) noch imstande ist, narrative Progression zu erzeugen. (131) Am nächsten Morgen, am Samstag, fährt Pr. Edith frühzeitig zum Einkaufen los. Gegen Mittag werden wir ein Picknick machen Fut. [...] (Genazino 2008: 29) In (131) wird der Gegenwartsbezug des narrativen Präsens besonders durch den Ausdruck nachzeitiger Geschehnisse im Futur deutlich (werden ein Picknick machen), eine allgemeine Eigenschaft der Romane im narrativen Präsens. Das zeigt auch das folgende Beispiel aus Die Klavierspielerin von Elfriede Jelinek. (132) Die häusliche Abendessenfreude, die sich heute ungewollt hinauszögert Pr. , ist Pr. das schwarze Loch für den Stern Erika. Sie weiß Pr. , diese mütterliche Umschlingung wird sie restlos auffressen Fut. und verdauen Fut. , und doch wird sie von ihr magisch angezogen. (Jelinek 2007 [1983]: 120; Hervorhebungen B.M.) Das narrative Präsens weist keine aspektuellen Restriktionen auf, wobei die präsentische Bedeutung bei nonadditiven Verben mithilfe von Temporaladverbien hergestellt wird. 128 Das Präsens als Leittempus findet man unter anderem auch in Lust (1989) von Elfriede Jelinek, Flughunde (1996) von Marcel Beyer, Soloalbum (1998) von Benjamin von Stuckrad-Barre, Geschichte vom alten Kind (1999) von Jenny Erpenbeck, Abrauschen (2001) von Kathrin Röggla, Familienpackung (2005) von Susanne Fröhlich, Freigang (2005) von Ulrich Woelk und Die Schattenboxerin (2006) von Inka Parei. 185 (133) Trotz Mamas Zeichnungen finde Pr. ich das Grab nicht. [...] Und dann finde Pr. ich es. (Kuttner 2009: 32; Hervorhebungen B.M.) In (133) blockiert das Temporaladverb dann die futurische Lesart, die sich eigentlich bei nonadditiven, perfektiven Verben im Deutschen einstellt. Wie in den anderen berücksichtigten Sprachen wird auch im Deutschen die Unfähigkeit des narrativen Präsens, narrative Progression zu erzeugen, durch gehäufte syndetische Reihungen kompensiert. (134) Ich liege Pr. im Bett und werde gestreichelt. Sehr langsam beruhige Pr. ich mich. Mama holt Pr. Zigaretten und legt Pr. sie mir aufs Bett. (Kuttner 2009: 101; Hervorhebungen B.M.) Der Vergleich des Englischen, Deutschen, Portugiesischen, Spanischen und Französischen hat gezeigt, dass das narrative Präsens ein sprachübergreifend anzutreffendes Phänomen ist und in den jeweiligen Sprachen ein ähnliches Text- und Perspektivierungsmuster kodiert. Die starke Expansion des narrativen Präsens, obwohl es kein geeignetes Ereignisverkettungstempus ist, ist auf seine einzigartige perspektivische Leistung zurückzuführen, die gleichzeitig auch bestätigt, dass das Präsens eine temporale Bedeutung hat. Die vorgenommene Beschreibung des narrativen Präsens konnte zeigen, dass die Verbalereignisse der fiktionalen Welt durch die Tempusselektion an den Nullpunkt des textimmanenten Referenzsystems transponiert werden und dadurch im ‘Hier und Jetzt’ von Erzähler und (virtuellem) Leser verortet werden. Diese Strategie zielt oftmals darauf ab, dass sich der reale Leser mit seinem virtuellen Pendant identifiziert und die Ereignisse in seiner gegenwärtigen, außersprachlichen, realen Welt verortet. Das Erzählmuster von Romanen im narrativen Präsens weist eine starke Affinität zur linearen thematisch-rhematischen Entfaltung der Ereignisse auf. In den romanischen Sprachen wird durch die Verwendung des narrativen Präsens auf die perspektivische Möglichkeit der Vorder- und Hintergrundierung von Ereignissen verzichtet, die durch Imperfekt und Perfekt möglich wäre. Als tertia comparationis werden Progressivformen herangezogen, ohne dass diesen jedoch die Bedeutung und Frequenz der Imperfekta zukäme. Insgesamt darf ihre Frequenz zur Kodierung hintergrundierter Information in präsentischen Romanen nicht überbewertet werden. Das Perfekt im Deutschen, das zusammengesetzte Perfekt im Spanischen und das present perfect im Englischen werden ebenfalls herangezogen, um Hintergrund zu markieren, da die Ereignisse durch die Tempusselektion als (E<R,S) kodiert werden. Dadurch sind sie zwar origo-inklusiv wie das Präsens und weisen daher einen starken Bezug zur Gegenwart auf, dennoch werden die jeweiligen Ereignisse als vorzeitig gegenüber den Ereignissen im narrativen Präsens gekennzeichnet. Beide Tempora sind ungeeignet zur Ereignisverkettung, weshalb das erzeugte narrative Diskursmuster eine sequentielle Nachordnung der Verbalereignisse kodiert, bei der auf Temporaladverbien und Konjunktionen zurückgegriffen werden muss, um narrative Progression zu erzeugen oder 186 diese zu beschleunigen. Aus temporalsemantischer Sicht ist das narrative Präsens, obwohl es vergangene Ereignisse ausdrückt, als ein Präsenstempus aufzufassen, da es ein Shifting der Ereignisse von der Vergangenheit in die Gegenwart auslöst. Referenzzeit und Sprechzeit sind im selben Zeitintervall verortet und es wird ein Zusammenfall mit der Ereigniszeit (perspektivisch) simuliert. So holt das Tempus den versprachlichten Gegenstand an Sprecher und Hörer heran und erzeugt höchste Unmittelbarkeit der Darstellung. Abbildung 10 - Das Vertextungsmuster durch das narrative Präsens Abbildung 10 verdeutlicht die simulierte Transposition der Ereignisse und Sachverhalte als Ganze aus dem temporalen Rahmen, in dem sie verortet sind, in das Zeitintervall von Sprech- und Referenzzeit. Diese durch die Perspektive determinierte Dislokation zeigt bereits Abbildung 9, wo die Aufhebung der durch den Ko- und Kontext determinierten Ereigniszeit (E 1 ) zugunsten einer simulierten temporalen Verortung des Verbalereignisses, nämlich E 2 , dargestellt ist. Durch das Präsens als Erzähltempus wird der chronologische Fortgang der Ereignisse aufgehoben oder zumindest nicht mehr durch das Tempus und die Retrospektivität kodiert. Es „wird nicht mehr jenes geordnete Zusammenspiel vorausgesetzt, bei dem der prospektive Fabelverlauf durch das Sujet retrospektiv eingeholt wird“ (Avanessian/ Hennig 2013b: 140). Dieses alternative Erzählmuster ist in seinem avantgardistischen innovativen Potenzial derart einzigartig, dass Avanessian/ Hennig (ebd.) sogar von einer „Neubegründung des Romans“ sprechen. Durch die kodierte Perspektive werden die Verbalereignisse nicht aktualisiert (vgl. Gerbe 2010: 428-430), sondern in ihrem Verlauf betrachtet, unabhängig von ihrer temporalen Verortung. Dadurch werden sie zu einer Art Prototypen (vgl. Gerbe 2010: 452), die bei jeder Lektüre aktualisiert werden. Hierfür spricht auch die Verwendung des einfachen Präsens in Sprachen, wo eine Differenzierungsmöglichkeit durch ein progressives Präsens be- 187 steht. Natürlich bietet das Präsens als Erzähltempus dasselbe kreative Potential wie das Präteritum und kann für kotemporale, nachzeitige oder vorzeitige Ereignisse aus der Sicht der Erzählsituation (t 0 ) eingesetzt werden. Diese werden allesamt aus einer hic et nunc-Perspektive betrachtet. Die Wahl des narrativen Präsens als Erzähltempus in den Romanen Um rio chamado tempo, uma casa chamada terra (2002) oder Venenos de Deus. Remédios do Diabo (2008) von dem mosambikanischen Schriftsteller Mia Couto oder in Estorvo (1991) von dem brasilianischen Autor Chico Buarque zeigen, dass das dadurch kodierte alternative Perspektivierungsmuster durchaus in den unterschiedlichen Standardvarietäten der hier berücksichtigten plurizentrischen Sprachen vorkommt (Oesterreicher 2001a). Das lässt sich sowohl in jüngeren, sich erst herausbildenden Standards beobachten - die derzeit noch zu den nicht-dominanten Varietäten zählen -, wie im Fall des angolanischen oder des mosambikanischen Portugiesisch, als auch in konsolidierten Standardvarietäten, wie im Fall des brasilianischen Portugiesisch, dessen Standard dem europäischen Portugiesisch ebenbürtig ist und aufgrund des gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Prestige Brasiliens sogar auf internationaler Ebene das europäische Portugiesisch überholt hat (vide Arden/ Meisnitzer 2013). Für den germanischen Sprachraum belegen Disgrace (1999) von dem Südafrikaner John Maxwell Coetzee für das Englische und Die Klavierspielerin (1983) von der Österreicherin Elfriede Jelinek für das Deutsche das Vorkommen des narrativen Präsens in unterschiedlichen Nationalstandards der jeweiligen historischen Sprachen. 7.5 Zusammenfassung: Das narrative Präsens und die Kodierung einer neuen Perspektive auf die erzählte Welt Das vorhergehende Kapitel widmete sich zwei Präsenstypen, die sich durch die Entfaltung ihres prototypischen präsentischen Temporalwerts auszeichnen - im Gegensatz zu dem in Kapitel 6 behandelten aoristischen Präsens, einem ‘Vergangenheitstempus’. Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens entspricht einer markierten Verwendung, da es innerhalb klassischer Erzählmuster mit P AST -Tempora verwendet wird und daher einen Verstoß gegen die Erwartung einer anaphorischen morphologischen Tempusmarkierung darstellt. Durch die kontextuelle Integration der ausgedrückten Verbalvorgänge sind diese gegenüber der Sprechzeit eindeutig in der Vorzeitigkeit lokalisiert. Trotzdem wird durch die Tempusselektion eine Identität von Sprech- und Referenzzeit simuliert, die einem Shifting der Verbalereignisse von der ‘Vergangenheit’ in Richtung ‘Gegenwart’ entspricht. Den semantischen Konflikt zwischen Tempus und temporaler Verortung des Verbalereignisses lösen Reinterpretationsmechanismen auf, die im Leser bei dem Versuch, Sinn- 188 konstanz zu stiften, ausgelöst werden. Dadurch kann ein Perspektivenwechsel ausgedrückt werden, wenn die Mittlerinstanz beispielsweise ein nichtfiguraler Erzähler ist, der die Ereignisse aus der Distanz erzählt und in der betroffenen Passage die Perspektivierung aus dem ‘Hier und Jetzt’ des Betrachters vornimmt. Dabei erfolgt die temporale Verortung/ Perspektivierung unter Simulation eines Zusammenfalls von Sprecher (qua Erzähler) und Betrachter. Die erzählten fiktiven oder historischen Ereignisse der Vergangenheit werden so perspektiviert, als ob sie sich erneut ereigneten. Diese Möglichkeit ergibt sich aus dem Spannungsfeld zwischen temporaler Verortung der Ereignisse und ihrer Perspektivierung. Das Tempus gibt in diesem Fall nicht seine Bedeutung auf, sondern wird vielmehr markiert verwendet, wodurch eine Hervorhebung der entsprechend kodierten Ereignisse innerhalb der narrativen Kette erzeugt wird. Dieser Präsenstyp wurde als anaphorisches Tempus bezeichnet, da die temporale Verortung durch den unmittelbaren Kontext determiniert wird. Anders als beispielsweise ein Imperfekt in den romanischen Sprachen verweist das Tempus jedoch durch seine Semantik nicht explizit auf den Temporalanker, sondern die Verortung der Verbalereignisse wird durch die lineare Entfaltung des Textes determiniert. Eine solche markierte Form liegt beim narrativen Präsens hingegen nicht vor. Dieser Präsenstyp und das durch ihn eröffnete narrative Erzählmuster ist auf avantgardistische Experimente auf der Ebene einzelner Diskurse in der Stilepoche des nouveau roman zurückzuführen, entstanden aus dem Bedürfnis, mit den etablierten Diskursregeln zu brechen. Angesichts der soliden Etablierung der Diskursregeln des Romans konnte sich das neue, alternative Erzählmuster erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts durchsetzen. Das narrative Präsens teilt mit dem vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens seine Temporalsemantik. Da es jedoch durchgängig zur Erzählung ganzer Episoden innerhalb eines Romans oder als durchgängiges Leittempus verwendet wird, werden nicht die für das perspektivische Präsens charakteristischen Reinterpretationsprozesse aktiviert. Die Verbalgeschehnisse werden durch den Zusammenfall von Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit in die Gegenwart der Sprecher-Origo des Erzählers und des (virtuellen) Lesers transponiert, wodurch die Illusion einer Betrachtung im Verlauf entsteht. Bei diesem narrativen Erzählmuster geht die Markierung von Vorder- und Hintergrund zugunsten einer ikonisch-linearen Textentfaltung des Typs Thema-Rhema-Progression verloren. Die narrative Progression wird anders als beim aoristischen Präsens auch nicht durch das Präsens erzeugt, sondern der Ereignisvorantrieb erfolgt über Temporaladverbien und häufigere syndetische Reihungen. Im Englischen, im Spanischen und im brasilianischen Portugiesisch können hintergrundierte Ereignisse durch Progressivformen kodiert werden, dies ist jedoch in den berücksichtigten literarischen Werken nicht sehr häufig belegt. Bezüglich des erzeugten narrativen Erzählmusters lässt sich die von Fleischman (1990; 1991a, 1991b) angenommene Verbindung zu den mittel- 189 alterlichen Epen im Fall der romanischen Sprachen erklären. Denn die präsentischen Romane weisen eine Analogie zu den mittelalterlichen Epen auf - jedoch nicht, was die Temporalsemantik des Präsens anbelangt, wie Fleischman (1990) nahelegt, sondern hinsichtlich der eingenommenen Perspektive. Durch die Verwendung des narrativen Präsens wird das Fortschreiten der Ereignisse durch das ikonische Prinzip der sequentiellen Nachordnung der Verben im Text ausgedrückt. Dieses Prinzip liegt auch dem Film zugrunde, was einen intermedialen Einfluss als Erklärungsansatz für das Aufkommen des neuen Perspektivierungsmusters wahrscheinlich macht (siehe Kapitel 10). Dagegen erweist sich der von Fleischman (1990) vorgeschlagene Erklärungsansatz im Rahmen der Mündlichkeits- und Schriftlichkeitsforschung als unzulänglich (vergleiche die Kritik an Fleischmans Ansatz in Kapitel 9.1.1 und 9.1.2). Der Erzählerkommentar konnte als eine Hybridform zwischen narrativem und anaphorischem, markiertem Präsens beschrieben werden. Denn die Kommentierung der Ereignisse und die Assertionen über diese lassen sich sowohl am Standort des Betrachters als auch des Erzählers verorten, wie anhand der temporalen kontextuellen Einbettung belegt wurde. Die Bedeutung des präsentischen Erzählerkommentars für das vorliegende Vorhaben ist durch die Einsicht begründet, dass der Betrachter an die Sprecher- Origo des Erzählers zurückkehren und direkte Anreden des (virtuellen) Lesers vollziehen kann. Das narrative Präsens konnte sowohl in exemplarisch untersuchten Sprachen zweier unterschiedlicher Sprachfamilien belegt als auch in unterschiedlichen Standardvarietäten innerhalb plurizentrischer Sprachen nachgewiesen werden. Die bisher gewonnenen Erkenntnisse bezüglich der unterschiedlichen (Erzähl-)Präsentien lassen sich so zusammenfassen: 1) Das aoristische Präsens ist ein aspektuelles Präsens. Aufgrund der Inkompatibilität perfektiver Aspektualität mit einer prototypischen präsentischen Semantik wegen der ausgedrückten Außenperspektive, da die Verbalereignisse als bounded betrachtet werden, werden die aspektuell perfektiven Formen temporal reinterpretiert - in prospektiven Sprachen mit zukunftsbezogener Bedeutung, in retrospektiven Sprachen mit vergangenheitsbezogener Bedeutung. Wie dargestellt wurde, sind Latein und die älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen aufgrund der Übertragung und der dadurch bedingten engen Affinität zum lateinischen Verbalsystem wohl noch retrospektiv. Das Altisländische ist innerhalb der Familie der germanischen Sprachen ebenfalls retrospektiv. Dadurch entfaltet die morphologische Präsensform nonadditiver Verben eine perfektive Vergangenheitsbedeutung. Einzelne Belege von additiven Verben sind durch begleitende Perfektivierungsmarker oder Unsicherheiten seitens der Sprecher angesichts des Umbruchcharakters des Verbalsystems im 11.-13. Jahrhundert erklärbar. 2) Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens ist ein Präsenstyp mit gegenwartsbezogener Semantik, das jedoch Ereignisse in der 190 Vergangenheit kodiert. Es drückt nicht die Gegenwart des Sprechers, sondern des Betrachters aus, der durch den Ko- und Kontext determiniert in der Vergangenheit lokalisiert ist. Durch die Tempuswahl wird Identität von Sprech- und Referenzzeit simuliert. Dieser Präsenstyp entfaltet seine Wirkung im Spannungsfeld zwischen eigentlicher temporaler Verortung der Ereignisse, die besonders deutlich wird, wenn man die Tempusselektion zum Ausdruck von Vor- und Nachzeitigkeit berücksichtigt, und das durch das Präsens bewirkte (fiktive) Shifting der Ereignisse von der Vergangenheit in die Gegenwart. Dieses Spannungsfeld löst im Leser Reinterpretationsprozesse aus, um Sinnkonstanz zu stiften, und ermöglicht dem perspektivischen Präsens seinen Effekt der Aktualisierung von Vergangenheit und des Perspektivenwechsels. 3) Das narrative Präsens ist ein Erzähltempus und kodiert wie das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens vorzeitige historische oder fiktive erzählte Ereignisse. Da es jedoch durchgängig verwendet wird, geht der markierte Effekt des perspektivischen Präsens (in der Fachliteratur meist historisches Präsens) verloren und die Ereignisse werden, obwohl sie eigentlich vorzeitig sind, in die Gegenwart transponiert, da Referenzzeit und Sprechzeit konstant zusammenfallen. Es handelt sich dabei natürlich um ein ‘so tun, als ob’, aber die Ereignisse werden aus ihrem vergangenen Kontext ‘herausgehoben’ und in die ‘Gegenwart’ von Sprecher und Adressat beziehungsweise Erzähler und (virtuellem) Leser transponiert (Shifting), wie die Tempusselektion zum Ausdruck von Vor- und Nachzeitigkeit belegt. 8. Die Frage nach dem narrativen Präsens in Aspektsprachen am Beispiel des Russischen Um den semantischen Wert des narrativen Präsens zu klären, sollen nun noch die slawischen Sprachen betrachtet werden. Denn diese verfügen über ein ausgebautes Aspektsystem und sind aus typologischer Sicht als Aspektsprachen zu bewerten. Wenn das Präsens temporale Bedeutung hat, muss es in den slawischen Sprachen mit den imperfektiven Formen des Präsens wiedergegeben werden. Angesichts der skizzierten Verschränkung der grammatischen Kategorien Aspekt und Tempus und der Einsicht, dass Tempora sowohl aspektuelle als auch temporale Aufgaben erfüllen (vgl. Kapitel 4.1 und 4.2), ist an dieser Stelle die Betrachtung einer Aspektsprache sinnvoll. Sie verspricht neue Einsichten, da die Verbalsysteme der bisher betrachteten Sprachen keine oder nur noch reliktweise aspektuelle Paare aufweisen (Beispiel: Perfekt und Imperfekt in den romanischen Sprachen). Nur so ist eine eindeutige Verortung der Präsenstypen mit vermeintlich temporalem Wert im Spannungsfeld von Aspektualität und Temporalität möglich. Natürlich schließt ein Sprachgebrauchswandel, der durch die temporale Aufgabe des Tempus motiviert ist, aspektuelle Implikationen nicht aus. Dieser Schritt soll in diesem Kapitel im Rahmen einiger Überlegungen zur Möglichkeit der Verwendung und Produktivität eines narrativen Präsens in den slawischen Sprachen am Beispiel des Russischen nachvollzogen werden. In der Forschung zum narrativen Präsens im Russischen herrscht nach wie vor ebenso Dissens bezüglich der Frage nach dessen Existenz und der eines vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen, markierten Präsens wie bezüglich der Frage, ob lediglich imperfektive oder auch perfektive Verben solche Präsenstypen bilden können. Diese Diskussion wird besonders durch die Tatsache erschwert, dass in der Regel die Beispiele weitestgehend ausgespart werden und dass, sofern man Beispiele findet, diese oftmals aus unterschiedlichen Diskurstraditionen stammen. Genau das erscheint angesichts der in Kapitel 5.2 herausgearbeiteten Einsichten zu dem unmarkierten Tempusgebrauch innerhalb der einzelnen Diskurstraditionen jedoch als unzulässig, da die kodierten Textmuster unterschiedlich sind. Da das Russische typologisch zu den Aspektsprachen zählt, erweisen sich die hier gewonnenen Einsichten als wichtige Hinweise für den hier vorgenommenen Erklärungsansatz des narrativen Präsens, der auf dessen temporal-perspektivischen Aufgaben basiert. 192 8.1 Restriktionen des Präsens als Erzähltempus im Russischen Bevor das narrative Präsens näher betrachtet wird, sollen zunächst die Fragen geklärt werden, ob das Präsens im Russischen überhaupt vorzeitige Ereignisse ausdrücken kann und ob es ein vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens gibt. Sollte sich diese Annahmen bestätigen, sollen Aspektrestriktionen überprüft werden. 129 Abschließend sollen Gründe für die Annahme, dass das narrative Präsens im Russischen möglich wäre, aber nicht verwendet werde, untersucht werden. Dazu muss der Begriff der Diskursnorm herangezogen werden. Ein möglicher Erklärungsansatz wäre, dass das Perspektivierungsmuster, welches durch das narrative Präsens ausgedrückt wird, auf das Russische übertragen wurde, jedoch weitestgehend auf der Ebene der individuellen Diskurse verhaftet blieb und noch keinen Eingang auf der Ebene der Diskursnorm fand. Eine Erklärung hierfür wäre die mangelnde Möglichkeit, mit imperfektiven Präsensformen narrative Progression zu erzeugen und die Blockade der perfektiven Präsensformen im Russischen, da sie eine futurische Lesart ausdrücken. Das Russische weist im Vergleich zu den germanischen und romanischen Sprachen ein stark reduziertes Tempusparadigma auf und viele Funktionen, die in diesen Sprachen mittels der Verbalkategorie Tempus versprachlicht werden, werden im Russischen durch das Zusammenspiel von Tempus und Aspekt ausgedrückt. Dies bestätigt, dass es keine ‘ärmeren’ oder ‘schlechteren’ Sprachen gibt (vgl. hierzu Harlow 1998), sondern dass es vielmehr in unterschiedlichen Sprachen innerhalb des grammatischen Inventars verschiedene Möglichkeiten gibt, gewisse Perspektivierungen vorzunehmen. Das Phänomen des narrativen Präsens soll dabei keineswegs erschöpfend für das Russische beschrieben werden, sondern es soll dazu dienen, die Argumentation der vorliegenden Arbeit zu stützen, einige Anregungen und Hypothesen typologischer Natur zu rechtfertigen und die Bedeutung des narrativen Präsens im zeitgenössischen Sprachgebrauch zu belegen. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht folglich die Frage, ob im 129 Shirokova (2008) geht in ihrer Magisterarbeit der in der Russistik kontrovers diskutierten Frage nach, ob das ‘historische Präsens’ im Russischen nur mit imperfektiven oder auch mit perfektiven Verben gebildet werden kann (vgl. Shirokova 2008: 75). In der Forschung wird üblicherweise kaum bis gar nicht zwischen einem Präsens, das die Handlung mittels Perspektivierung in die Erzählgegenwart transponiert (hier narratives Präsens), und einem Präsens, bei dem mittels präteritalem Kontext ein Perspektivenwechsel oder eine Aktualisierung vorzeitiger Ereignisse stattfindet (hier vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens), differen- ziert. Daher bleibt offen, welche Formen des Präsens als Erzähltempus im Russischen existieren und welche möglicherweise auch mit perfektiven Präsensformen gebildet werden können. Am Ende ihrer Studie kommt Shirokova (2008) zu dem ernüchternden Fazit, es gebe zwar keine Belege für ein narratives Präsens im Russischen, es sei aber prinzipiell möglich. 193 Russischen stellvertretend für die slawischen Sprachen ein vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens und ein narratives Präsens (markiert oder unmarkiert) existieren. 8.2 Tempus und Aspekt im Russischen Im Russischen als prototypischer Aspektsprache (vgl. Lehmann 1999: 214) erfüllt lediglich das imperfektive Präsens die semantischen Anforderungen eines präsentischen Tempus (vgl. Kohls 2000: 97). Die perfektive Form hat im Russischen (und auch in anderen slawischen Sprachen) bereits einen Grammatikalisierungsprozess durchlaufen, der zur temporalen Reanalyse der aspektuell determinierten Außenperspektive und zu deren Inkompatibilität mit der prototypischen Präsensbedeutung, aufgrund des Auseinanderfallens von Ereigniszeit und Referenzzeit, führte. Deswegen drückt im Russischen als prospektiver Sprache (vgl. Ultan 1978) das perfektive Präsens Futur aus (vgl. Kohls 2000: 102). Dieser Reanalyseprozess liefert ein weiteres Indiz für die in Kapitel 4.1 konstatierten Abhängigkeiten zwischen den ATM-Kategorien. Auch im Fall des Russischen weisen besonders die Kategorien Aspekt und Tempus eine enge funktionale Interaktion auf. Die Perspektive, die ein Verb vermittelt, hängt stark von der Interaktion zwischen seinem Aspekt, seiner Aktionsart und seinem Verbalcharakter ab (vgl. Lehmann 1999: 217). Die enge Verknüpfung von Tempus und Aspekt zeigt sich nicht nur in der [...] Asymmetrie des Tempussystems, sondern auch in der semant. Interpretation der einzelnen Tempusformen, die häufig von der Aspektzugehörigkeit abhängig ist. (Mehlig 1999: 184) Trotz der engen Verknüpfung und der starken Abhängigkeit zwischen den grammatischen Kategorien Tempus und Aspekt ist aus sprachfunktionalen Gründen eine Trennung der beiden unabdingbar. Die für die slawischen Sprachen charakteristische grammatische Kategorie des Aspekts 130 dient 130 In Bezug auf die Kategorie Aspekt kommt in der russischen Fachliteratur die Diskussion um die Unterscheidung zwischen aktionalistischem Ansatz, vertreten unter anderen durch Mazon (1914) und Maslov (1959), und temporalistischem Ansatz auf, vertreten durch Koschmieder (1934) und Bondarko (1971). Der aktionalistische Ansatz betrachtet Aspekt als eine Kategorie, die determiniert, ob eine Handlung als Ganzheit oder nicht betrachtet wird (vgl. Maslov 1959: 309). Der temporalistische Ansatz hingegen beschreibt Tempus und Aspekt als eine Einheit, wobei imperfektiver Aspekt für Handlungen im Verlauf und perfektiver Aspekt für abgeschlossene Handlungen verwendet wird (vgl. Bondarko 1971: 180-195). Wie jedoch in der theoretischen Vorüberlegung diskutiert wurde, herrscht ein metonymisches Verhältnis zwischen beiden Ansätzen, da nur eine abgeschlossene Handlung als Ganzheit betrachtet werden kann. Ebenfalls in Kontiguität zu den diskutierten Funktionen steht aus textlinguistischer Sicht die textgliedernde Funktion, die Gurevič (1971: 79) in die Diskussion in der russischen Sprachwissenschaft einbrachte. Demnach hat der 194 dazu, festzulegen, wie das Ereignis oder die Verbalhandlung im Hinblick auf ihre Konturen betrachtet wird. Es handelt sich folglich um eine räumliche Perspektivenkategorie (vgl. Kapitel 4.1 und 4.3). Gegen einen temporalistischen Ansatz, der bis heute in der Forschung zum Russischen weit verbreitet ist (vgl. Vogel 1996: 163), spricht der Verlust an Trennschärfe gegenüber der Kategorie Tempus. Aus temporaler Sicht wird bestenfalls die innere zeitliche Strukturierung eines Verbalereignisses ausgedrückt, die im engeren Sinn jedoch eher eine räumlich-perspektivische als eine zeitliche Kategorie ist. Im Fall des imperfektiven Aspekts wird die Handlung als nicht abgeschlossen oder als zeitlich unbegrenzt betrachtet (vgl. Comrie 1995: 1245- 1246; Uspenskij 1975: 86). Das ist durch die Tatsache bedingt, dass der Betrachter das Verbalereignis von innen betrachtet und folglich nicht dessen Konturen berücksichtigt. So unterscheidet das Russische zwischen der Form on pročital knigu (‘er hat das Buch gelesen’: perfektiver Aspekt), wodurch unter Einschluss von Anfang und Ende der Verbalhandlung, also der Konturen des Ereignisses, ein einziger vollständiger Leseakt eines Buches ausgedrückt wird, und on čital knigu (‘er war dabei, das Buch zu lesen’: imperfektiver Aspekt), was eine andauernde Situation ohne Festlegung der Konturen/ Grenzen der Verbalhandlung (vgl. Comrie 1995: 1244-1245) beschreibt. Bezüglich der morphologischen Bildung der Aspektpaare ist wichtig festzuhalten, dass Perfektivierungen mittels Präfigierungen (Beispiel: délat’ (Imperfektiv) und s-délat’ (Perfektiv) ‘tun’, ‘machen’), Imperfektivierungen hingegen durch Suffigierungen (razvárit’ - ‘zerkochen’ (Perfektiv) und razvárivat’ - ‘gerade dabei sein, etwas zu zerkochen’ (Imperfektiv 131 )) erfolgen (vgl. Vogel 1996: 162). Der Aspekt im Russischen ist, wie die Beispiele belegen, derivational, da die funktionale grammatische Opposition formal auf Wortbildungsprozesse zurückzuführen ist (Lehmann 1999: 215). 132 Der Aspekt ist stark pragmatisch, da er nicht wie die Aktionsart von perfektive Aspekt eine sequenzielle Bedeutung, der imperfektive Aspekt hingegen nicht. Lediglich der perfektive Aspekt markiert narrative Progression. Dieser Ansatz für die Erklärung von Aspekt fand in der russischen Sprachwissenschaft jedoch kaum Beachtung (vgl. Lehmann 1984: 93). 131 Das Lexem zeigt, dass das Russische „erst auf dem Weg zur Grammatikalisierung seiner Aktionsart in Richtung Aspekt“ (Vogel 1996: 163) ist, denn razvárit’ ist perfektiv, da es die Konturen des Verbalvorgangs mit einbezieht (vgl. Vogel 1996: 162). Es geht auf das Simplex várit ‘kochen’ zurück, weist diesem gegenüber jedoch einen semantischen Unterschied auf und die Präfigierung hat folglich neben einer aspektuellgrammatischen Funktion auch eine lexikalische. Bei Aspekt als grammatischer Kategorie zum Ausdruck der Opposition [+/ - BOUNDED ] sollte die Opposition lediglich eine aspektuell-grammatische Funktion ausdrücken, was jedoch nur die sekundäre Imperfektivierung von razvárit’ (perfektiv) > razvárivat (imperfektiv) leistet. Dies stellt jedoch keineswegs das Russische als Prototyp einer Aspektsprache in Frage. 132 Wenn sich die Kategorie Aspekt vollständig ausgebildet hat, existiert jede Verbbedeutung in zwei Ausformungen. Dies ist im Russischen (noch) nicht der Fall, da es einaspektige Verben gibt. Zweiaspektige Verben sind nach Vogel (1996) ähnlich dem 195 der lexikalischen Semantik des Verbs bestimmt und folglich dem Verb inhärent ist, sondern durch die Sichtweise des Sprechers determiniert wird (vgl. Vogel 1996: 161-162). Im Gegensatz zu Aspekt ist die Aktionsart monoperspektivierend, da sie die Perspektive festlegt, während beim Aspekt der Sprecher zwischen zwei Perspektiven wählen kann. Dennoch ist als Antwort auf die von Dessì Schmid (2014: 48) formulierte Frage: „Aspekt und Aktionsart - zwei Kategorien? “ wichtig festzuhalten, dass „Aspekt konzeptionell und historisch auf den Aktionsarten aufbaut“ (Vogel 1996: 163) und es daher Übergangszonen zwischen den beiden ‘Kategorien’ gibt, die folglich eigentlich ein Kontinuum bilden. Aus temporaler Sicht unterscheiden die slawischen Sprachen morphologisch zwischen ‘vergangenen’ und ‘nicht-vergangenen’ Ereignissen und besitzen keine eigene morphologische Form, um die Zukunft auszudrücken, wie bereits im Rahmen der Besprechung der Relation zwischen Aspekt und Tempus angerissen wurde. Dieses Tempus-Aspekt-System ist asymmetrisch: Im ipf. Aspekt verfügt das Russ. über drei Tempusformen, nämlich Präteritum, Präsens und Futur, im pf. Aspekt dagegen nur über zwei Tempusformen, nämlich Präteritum und Präsens. Dem Russ. fehlt wie den meisten slawischen Sprachen eine pf. Futurform als Formkategorie, d.h. eine Form, die sich analog zum ipf. Futur aus Kopula und pf. Infinitiv zusammensetzen würde. (Mehlig 1999: 183) Da aber aus kognitiv-psychologischer Sicht ein Bewusstsein und eine Weltbetrachtung mit einer Differenzierung zwischen ‘Vorzeitigkeit’ und ‘Nachzeitigkeit’ bestehen, was wohl einer anthropologischen Grundkategorie des menschlichen Denkens entspricht, übernimmt das Präsens als morphologisch am wenigsten markierte Form die Funktion, Verbalereignisse in der Nachzeitigkeit zu versprachlichen, jedoch nur die perfektiven Formen − anders als noch im Kirchenslawischen (vgl. Bruns 2007: 253). Neben dem Präsens der perfektiven Verben verfügt das Russische noch über ein periphrastisches Futur, welches jedoch wesentlich seltener gebraucht wird und ähnlich wie das passé simple im Französischen auf die geschriebene Sprache beschränkt ist. Ein Präsens pro futuro wie in den germanischen oder den romanischen Sprachen hingegen, also imperfektive Präsensformen, die Ereignisse nachzeitig lokalisieren, findet man im Russischen nicht. Eine Ausnahme bilden Verben der Bewegung zum Ausdruck eines fest geplanten künftigen Geschehens (vgl. Kirschbaum 2006: 31). Aus funktionaler Sicht kann man demzufolge dem Russischen natürlich die Existenz eines Futurs nicht absprechen. Numerus als grammatisch-flexivische Kategorie zu bewerten und in einer Sprache mit voll ausgebildetem Aspektsystem ist das durchgehend der Fall, im Russischen jedoch nur bei sogenannten sekundären Imperfektivierungen (vgl. Vogel 1996: 162-163). Da die Aspektpaare immer mittels eines Derivationsverfahrens gebildet werden, ist die Kategorie Aspekt aus diachron morphologischer Sicht derivational und lediglich aus einer synchron-funktionalen Sicht flexivisch. 196 Im Russischen kann das Präsens in Kombination mit einem Temporaladverbiale, welches das Zeitintervall angibt, in welchem die Handlung vollzogen wurde, auch Ereignisse in der Vergangenheit ausdrücken (vgl. Mulisch 1993: 177). Es handelt sich dabei um einen anaphorischen Gebrauch, der rein perspektivisch determiniert ist, und das Präsens erscheint in diesem Fall in einem präteritalen Umfeld. Das entspricht einem vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens in der hier vorgeschlagenen Terminologie. Das Temporaladverbiale veranlasst eine zeitliche Verortung der Ereignisse vorzeitig gegenüber der Sprechzeit, ohne dass jedoch eine Spaltung in Sprecher und Betrachter stattfindet. Die Funktion des perfektiven und folglich aspektuell markierten Präsens lässt sich durch das gut grammatikalisierte Vergangenheitssystem des Russischen im Gegensatz zum Futur erklären. Aus typologischer Sicht erklärt dies auch, warum das Russische zu den Past- und non-Past-Sprachen gezählt wird. In the East and West Slavic languages, where there is independently a clear morphological distinction between Past and non-Past, the Perfective non-Past has been almost completely commandeered to express future time reference, to the extent that many descriptions of languages like Russian describe this as the Perfective Future, even though it is morphologically parallel to the Imperfective Present [...]. (Comrie 1995: 1250) Interessant sind im Russischen die Möglichkeiten, die sich aus dem Zusammenspiel aus Tempus und Aspekt und der dadurch kodierten Relation zur Referenzzeit ergeben. Denn das Russische kennt lediglich das Präteritum, das Präsens und das Futur (ausgedrückt durch das perfektive Präsens). Die weiteren Zeitbezüge, die beispielsweise durch Plusquamperfekt ausgedrückt werden, können natürlich im Russischen auch durch das Zusammenspiel von Tempus und Aspekt enkodiert werden. Ein Beispiel hierfür liefern in (135) die Verbformen uznal und čuvstvoval. Das perfektive Präsens drückt im Russischen Nachzeitigkeit sowohl im Fall einer Perspektivierung, bei der Sprechzeit und Referenzzeit zusammenfallen, aus als auch in Situationen, wo die Referenzzeit - durch den Kontext determiniert - eindeutig vorzeitig gegenüber der Sprechzeit lokalisiert ist. Dies erklärt die oftmals leichtfertig vorgebrachte Meinung, auch ein perfektives Präsens könne als ‘historisches Präsens’ im Russischen verwendet werden. Die morphologische Form des Präsens kann tatsächlich, wie das Beispiel belegt, Ereignisse vorzeitig gegenüber der Sprechzeit lokalisieren, es handelt sich in diesem Fall funktional jedoch um ein Futur der Vergangenheit und nicht um ein vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens. Das perfektive Präsens kann im Russischen aufgrund seines aspektuellen Werts sowohl ‘Zukunft’ als auch ‘Zukunft in der Vergangenheit’ kodieren, während in den germanischen und in den romanischen Sprachen für ein Futur der Vergangenheit ein Konditional herangezogen werden müsste. 197 (135) Andrej ne tol’ko uznal Pf. Prät. (I), čto on umret Pf. Präs. (II), no on čuvstvoval Ipf. Prät. (III), čto on umiraet Ipf. Pr. (IV), čto on uže umer Pf. Prät. na polovinu (V). (Beispiel leicht modifiziert nach: Lehmann 1984: 91) Wörtlich - ‘Andrej hatte nicht nur erfahren, dass er sterben wird, sondern er spürte bereits, dass er im Sterben liegt, dass er schon halb gestorben war.’ Sinngemäß - ‘Andrej hatte nicht nur erfahren, dass er sterben würde, sondern er spürte bereits, dass er im Sterben lag, dass ein Teil von ihm (die Seele) schon gestorben war’/ ‘er schon auf halben Weg hinüber war.’ Das Ereignis ‘sterben’ steht in (135) als Verb im Nebensatz nachzeitig zu dem Verb des Hauptsatzes ‘erfahren’, welches den temporalen Anker bildet, und entspricht daher einem Futur der Vergangenheit. Würden Sprechzeit und Referenzzeit zusammenfallen, würde ebenfalls dieselbe Form verwendet. 133 Das perfektive Präsens umret veranlasst als nonadditives Verb eine neue Verortung des Betrachters. Der aspektuell abgeschlossene Charakter des perfektiven Präteritums uznal determiniert die Lokalisierung in der Vorzeitigkeit und ermöglicht sowohl eine Interpretation als Präteritum als auch als Plusquamperfekt. In diesem Fall waren sich muttersprachliche Probanden, denen der Satz vorgelegt wurde, einig, dass das Zusammenwirken von Aspekt und Aktionsart eine temporale Deutung als ‘vorzeitig’ veranlasst. Für Kotemporalität und eine Lokalisierung innerhalb desselben Zeitintervalls müsste in diesem Fall der imperfektive Aspektpartner znal ‘dabei gewesen sein, etwas zu erfahren’ selegiert werden. Die aspektuelle Distanz des Betrachters gegenüber dem Ereignis und die damit verbundene Abgeschlossenheit wird bei der favorisierten Lesart temporal reanalysiert, und zwar als vorzeitig gegenüber čuvstvoval (Paraphrase: ‘Andrej hatte nicht nur erfahren (…), sondern er fing bereits an zu spüren’). Dieser vermeintlich simple Satz zeigt die Komplexität der zeitlichen Verortungen von Ereignissen im Russischen, bedingt durch die Übernahme temporaler Aufgaben durch die Kategorie Aspekt. Die Reduzierung und Aufgabe des differenzierten gemeinslawischen Tempussystems im Russischen (vgl. Mehlig 1999: 183), welche auch die semantische Funktionsübernahme durch die morphologische Form des perfektiven Präsens erklärt, ist eine Folge der Generalisierung des Aspektsystems im Russischen, obwohl bereits das Altkirchenslawische ab dem 9. Jahrhundert ein aspektuelles System mit einer Unterscheidung zwischen 133 Eine Disambiguierung könnte in diesem Fall eine syntaktische Erweiterung durch znaesi ‘weißt du’ bewirken. Das imperfektive Präsens, welches Sprechzeit, Referenzzeit und Ereigniszeit zusammenfallen lässt, würde in diesem Fall die Äußerung im hic et nunc verankern. In diesem Fall würde auch die imperfektive präsentische Form umiraet eine prototypische semantische Bedeutung entfalten. Andrej wäre bei dieser Lesart noch nicht gestorben. 198 perfektivem und imperfektivem Aspekt (Aorist vs. Imperfekt) aufwies, jedoch nicht so ausgeprägt wie im Russischen (vgl. Bruns 2007: 253; Vogel 1996: 163). Eine abschließende Frage, die noch geklärt werden muss, ist, inwiefern perfektives Präsens auch eine präsentische Bedeutung entfalten kann und unter welchen Bedingungen, da es eigentlich durch die Reanalyse seiner aspektuell bedingten Inkompatibilität mit einer ‘Hier und Jetzt’-Lesart Verbalereignisse in der Nachzeitigkeit gegenüber der Sprechzeit und modale Lesarten versprachlicht (vgl. Mehling 1999: 189-190). Betrachtet man die von Mehlig gelieferten Beispiele ((136)-(138)), so fällt auf, dass es sich um iterative Ereignisse handelt, die unter gewissen, im Kotext spezifizierten Bedingungen oder unter bestimmten Umständen immer wieder auftreten (137 und 138), oder um wiederholte Okkurrenzen desselben Ereignisses (136). Die Futurimplikation der perfektiven Verben wird in den Beispielen durch die jeweiligen Frequentativ-Angaben aufgehoben. (136) Krugom tišina. Liš’ vremja ot vremeni gde-to zapoët Perfektives Präsens ptica i opjat’ ticho. ‘Rundherum ist es still. Nur hin und wieder singt irgendwo ein Vogel.’ (137) On ne vsegda vozvraščaetsja Imperfektives Präsens domoy v sem’ časov. Byvaet, čto zaderžitsja Perfektives Präsens i prichodit Imperfektives Präsens tol’ko v devjat’. ‘Er kommt nicht immer um sieben Uhr nach Hause. Manchmal wird er aufgehalten und kommt erst um neun Uhr.’ (138) Sachar rastvoritsja Perfektives Präsens , esli dobaviš Perfektives Präsens vodu. ‘Zucker löst sich auf, wenn man Wasser hinzufügt.’ (Beispiele aus: Mehlig 1999: 189-190, Hervorhebungen B.M.) Wenn wie in (138) eine perfektive Verbalform (zaderjitsja) und eine imperfektive (prichodit) im Präsens vorliegen, determiniert die aspektuelle Opposition, dass das perfektive Ereignis den temporalen Anker als Referenzzeit für die imperfektive Verbalform bildet. Diese wird als kotemporal perspektiviert, ohne dass ihre Konturen berücksichtigt werden und ohne dass der Betrachter neu verortet wird. Das perfektive Verbalereignis legt die Bedingung fest, unter der das imperfektive Verbalereignis eintritt. Die Perspektive ist dadurch iterativ. Um die für iterative Ereignisse definitorische Wiederholung derselben beziehungsweise ihr vermehrtes Auftreten auszudrücken, muss der Vorgang unter Berücksichtigung seiner Konturen betrachtet werden [- ADDITIV ]. Durch die Wahl des imperfektiven Aspekts gleichen die Verbalvorgänge von der Perspektivierung einem Massennomen, während die Pluralität, die in den Beispielen ausgedrückt wird (‘mehrere Ereignisse/ Vorgängen eines bestimmten Typs’), nur möglich ist, wenn die Ereignisse als finites Ganzes wie Individuativa betrachtet werden (vgl. Vogel 1996: 156). 199 For this very reason verbal aspect is compared with techniques of nominal quantification the equation being: Mass nouns and imperfective aspect have identical mereological features. So do count nouns and perfective aspect. (Leiss 2007: 83) Bei perfektivem Aspekt tritt das Ereignis zum ersten Mal vor der Sprechzeit ein und seine Wiederholungen dehnen sich über das Zeitintervall der Sprechzeit/ Referenzzeit aus, das Ereignis wird jedoch als punktuell betrachtet (Abbildung 12). Das ist immer dann der Fall, wenn bestimmte determinierende Bedingungen gegeben sind oder ein Ereignis beschrieben wird, das immer wieder vorkommt (iterativ), dabei jedoch nicht die notwendige Allgemeingültigkeit einer allgemeinen Wahrheit, wie ‘Zucker löst sich in Wasser auf’ (Abbildung 11), besitzt. Abbildung 11 - Generelle und allgemeingültige Wahrheiten im Präsens werden nicht-individualisiert als indefinit perspektiviert (= imperfektiver Aspekt): Sachar rastvorjaetsja Imperfektives Präsens v vode. 134 (‘Zucker löst sich in Wasser auf.’). Abbildung 12 - Sachverhalte, die sich unter gewissen Umständen immer wieder wiederholen, werden individualisiert und semantisch als finit betrachtet (= perfektiver Aspekt): Sachar rastvoritsja Perfektives Präsens , esli dobaviš' vodu. (‘Zucker löst sich auf, wenn man Wasser hinzufügt.’) Diese Möglichkeit, zwischen zwei unterschiedlichen Perspektiven zu wählen, erklärt auch, weswegen in gewissen Kontexten das perfektive Präsens ‘präsentische’ Semantik entfaltet (Beispiele 148-150). Diese Differenzierungsmöglichkeit mittels der Verbformen besteht in den germanischen und romanischen Sprachen nicht, wo das Präsens sowohl Allgemeingültigkeit als auch Iterativität mit denselben Formen ausdrückt und perspektivische Spezifizierungen mittels Adverbialien determiniert werden müssen. Die bisher gewonnenen Einsichten bestätigen die von Leiss formulierte Hypothese, dass lediglich additive Verben, also Verben mit imperfektiver Aspektualität, wirklich ‘präsentisch’ verwendet werden können (vgl. Leiss 134 Ein perfektives Präsens in diesem Satz würde eine futurische Lesart determinieren. 200 1992) und dass perfektive Aspektualität, bei der die Verbalhandlung als ein homogenes Ganzes betrachtet wird, nicht gut mit einer hic et nunc-Perspektive vereinbar ist. Der russische Aspekt ist Comrie zufolge das Ergebnis einer Entwicklung von morphologischer telischer Aspektualität hin zu grammatischem Aspekt (vgl. Comrie 1995: 1247), da das Perfektivierungspräfix in den altslawischen Texten zunächst eine rein lexikalische Funktion hatte, in den modernen slawischen Sprachen jedoch vollständig in das Aspektoppositionssystem integriert wurde (Beispiele: čitat versus pro-čitat ‘lesen’ oder lezt versus prolezt ‘klettern’) (ebd.), was trotz des konzeptuellen Unterschieds auf die enge Bindung zwischen Aktionsart und Aspekt hindeutet. Im folgenden Abschnitt soll nun die Frage geklärt werden, wie das Präsens als Leittempus in narrativen Texten im Russischen vorkommt. 135 8.3 Das Präsens als Erzähltempus im Russischen Im Russischen erfolgen prototypische Erzählungen, ähnlich wie in den germanischen und in den romanischen Sprachen, im Vergangenheitstempus Präteritum. Die Perspektivierung in fiktionalen Erzählungen ist folglich aus temporaler Sicht identisch mit jener in den germanischen und romanischen Sprachen und dient dazu, eine gewisse Distanz zum Erzählten zu schaffen. Das entspricht den konventionalisierten und für den Roman typischen Diskursregeln. Die Präteritalformen werden in der slawistischen Forschungsliteratur als ‘Distanzkategorie’ im Sinn von Thieroff erklärt (vgl. Thieroff 1994: 132), als Versuch, das Problem des hic et nunc in fiktionalen narrativen Texten zu überbrücken. Es bleibt kritisch anzumerken, dass jener Auffassung zufolge die Tempuswahl nicht dazu dient, Vorzeitigkeit auszudrücken, sondern die Distanz des realen oder fiktiven Erzählers zum Erzählten zu markieren (vgl. Mehlig 1999: 192). Diese Distanz wird jedoch gerade durch die gewählte temporale Perspektive erzeugt und funktionalisiert dafür die temporale Semantik des Präteritums, da es die Ereignisse und Vorgänge auf diegetischer Ebene in einem vorzeitigen Zeitintervall gegenüber jenem, von dem aus die Erzählung erfolgt, situiert. Betrachtet man die russische Literatur, findet man kaum Belege für das narrative Präsens. Auch in der literarischen Produktion jüngerer Autoren lässt sich das narrative Präsens nicht nachweisen, wie Shirokova (2008: 75) in ihrer empirischen Untersuchung feststellt, 136 obwohl die Möglichkeit einer 135 Dass das Präsens die Funktion des Leittempus einnehmen kann, zeigt bereits Bondarko, der es als erzählendes Präsens bezeichnet (Bondarko 1967: 104). 136 Kritisch anzumerken ist, dass Shirokova ähnlich wie Roth (2000) dem Irrtum unterliegt, das narrative Präsens sei ein „Schreibstil“ (eigentlich ein Perspektivierungsmuster, wie dargestellt), der charakteristisch für eine „neue Schriftstellergeneration“ junger Autoren sei (vgl. Shirokova 2008: 69). 201 solchen Verwendung in der Forschungsliteratur immer wieder hervorgehoben wird. 8.3.1 Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens im Russischen Das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens dient dazu, einen Perspektivenwechsel zu erzeugen. Es ist markiert, da die Verbalhandlung zwar im Präsens ausgedrückt wird, jedoch in der Vergangenheit situiert ist. Die Situierung wird kontextuell oder durch ein Temporaladverbiale determiniert. Im Fall des Russischen als prospektiver Sprache kommt dafür lediglich das imperfektive Präsens infrage, da nur additive, teilbare und nicht-holistische Verben eine Innenperspektive zulassen. Nonadditive, perfektive, terminative Verben im Russischen hingegen drücken durch die Reanalyse der Inkompatibilität mit einer hic et nunc-Perspektive Nachzeitigkeit aus. Das perspektivische Präsens mit seiner kontextuell determinierten Lokalisierung der Verbalereignisse in der Vorzeitigkeit findet man im Russischen relativ häufig, wenn sich der Erzähler in die ‘erlebte’ Situation versetzt, wie die folgende Beschreibung von Karl Iwanowitsch in Kindheit (1852) von Tolstoj zeigt: (139) Kak teper’ vižu Ipf. Pr. ja pered soboj dlinnuju figuru v vatočnom chalate i v krasnoj šapočke, iz-pod kotoroj vidnejutsja Ipf. Pr. redkie sedye volosy. On sidit Ipf. Pr. podle stolika, na kotorom stoit Ipf. Pr. kružok s parikmacherom, brosavšim ten’ na ego lico; v odnoj ruke on deržit Ipf. Pr. knigu, drugaja pokoitsja Ipf. Pr. na ručke kresel, podle nego ležat Ipf. Pr. časy s narisovannym egerem na ciferblate, kletčatyj platok, čërnaja kruglaja tabakerka, zelënyj futljar dlja očkov, ščipcy na lotočke. Vsë eto tak činno, akkuratno lezit Ipf. Pr. na svoëm meste, čto po odnomu etomu porjadku možno zaključit’ Inf. , čto u Karla Ivanyča sovest’ čista i duša pokojna. (Tolstoj 1978: 14; Hervorhebungen B.M.) ‘Als ob es jetzt wäre, sehe ich ihn vor mir: die lange Gestalt im wattierten Schlafrock und mit dem roten Käppchen, unter dem die spärlichen grauen Haare hervorschauen. Er sitzt an einem Tischchen, und darauf steht die Scheibe mit dem Friseur, die sein Gesicht beschattet; in der einen Hand hält er ein Buch, die andere lehnt auf der Sessellehne, neben ihm liegt eine Taschenuhr, auf deren Ziffernblatt ein Jäger gemalt ist, sein kariertes Taschentuch, seine schwarze, runde Tabakdose, sein grünes Brillenfutteral und auf einer Unterschale die Lichtschere. Das alles liegt so ehrbar genau auf seinem Platz, daß man schon aus dieser Ordnung schließen kann, daß Karl Iwanowitschs Gewissen rein und seine Seele ruhig ist.’ (Tolstoj 1976: 10-11; Hervorhebungen B.M.) Die Gestalt und das Umfeld, in dem der Erzähler Iwanowitsch zum ersten Mal sieht, werden mittels Zusammenspiel von imperfektivem Aspekt und 202 Präsens [+H IER ], [+J ETZT ] aus einer temporal distanzlosen Innenperspektive betrachtet. Durch Kak teper’ (‘Als ob es gestern wäre...’) wird jedoch die Lokalisierung der Verbalhandlungen in der Vorzeitigkeit determiniert. Wie in Anlehnung an Leiss (2012) gezeigt wurde, besteht der wesentliche Unterschied zwischen Temporaladverbiale und Tempus darin, dass Tempus eine Aufspaltung des Sprechers/ Erzählers in Sprecher und Betrachter (bzw. Sprecher- und Betrachter-Origo) bewirkt, die sich an unterschiedlichen Orten befinden können, das sogenannte double displacement. Temporaladverbialien hingegen als shifters im Sinn von Jakobson (1971c [1957]) selegieren immer nur eine der beiden Perspektiven, nämlich die des Betrachters oder des Sprechers, und verweisen vom jeweiligen Standort auf das Ereignis (vgl. Leiss 2012: 50-53). In (139) entsteht eine Aktualisierung der Vergangenheit durch das Spannungsfeld zwischen zeitlicher Verortung durch das Adverbiale und das vom Präsens veranlasste Shifting von ‘Vergangenheit’ in Richtung ‘Gegenwart’. Die Begegnung mit Iwanowitsch aus der Sicht der erlebenden Figur zu jenem Zeitpunkt in der Vergangenheit wird so beschrieben, als würde sie noch einmal stattfinden, obwohl durch das Temporaladverbiale eine eindeutige Lokalisierung in der Vergangenheit determiniert wird. Das ausgedrückte ‘Jetzt’ entspricht natürlich nicht dem ‘Jetzt’ des Erzählers, sondern des Betrachters. Das Spannungsfeld zwischen zeitlicher Verortung der Verbalereignisse und selegiertem Tempus bzw. selegierter Perspektive kann wiederum weitere Interpretationen veranlassen, etwa einen Wechsel von der Perspektive des Erzählers zur Perspektive der erlebenden Figur (vgl. Rojo/ Veiga 1999: 2892). Es handelt sich dabei um sekundäre Interpretationen des Lesers, veranlasst durch den Versuch, Sinnkonstanz zu stiften. Das obige Textbeispiel belegt die Notwendigkeit, Tempora transphrastisch zu betrachten, denn eine zeitliche Verortung der Ereignisse allein vom Tempus ausgehend wäre unmöglich. Durch das Zusammenspiel von temporaler Semantik und Kontext sowie der Fähigkeit von Temporaladverbialien, Zeitintervalle für den Gültigkeitsanspruch der durch die Verben enkodierten Ereignisse festzulegen, erweisen sich Tempora besonders in der fiktionalen Literatur als produktiv zur Erzeugung von Perspektive. Diese Funktion können sie natürlich auch bei Erzählungen über Ereignisse mit referenziellem Bezug zur wirklichen Welt entfalten. Bezüglich der in der russischen Fachliteratur kontrovers diskutierten Frage, ob das perfektive Präsens als vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens verwendet werden kann, ist festzuhalten, dass dies möglich ist, wenn die semantische Futurimplikation perfektiver Verben durch Frequentativ-Angaben aufgehoben wird. Eine entsprechende Verwendung ist zum Beispiel in Kapitel IX in Dostojewskijs Zapiski iz mertvogo doma (1860) (‘Aufzeichnungen aus einem Totenhaus’) belegt (140). 203 (140) Poddadut Pf. Pr. i par zastelet Pf. Pr. gustym, gorjačim oblakom vsju banju i vsë zagogočet Pf. Pr. zakričit Pf. Pr. . Iz oblaka para zamel’kajut Pf. Pr. izbitye spiny, britye golovy, skrjučennye ruki, nogi [...]. (Dostoevskij 1900: 115; Hervorhebungen B.M.) (141) Wieder wird Wasser auf die glühenden Steine im heißen Ofen geworfen und wieder steigt aus der oberen Ofentür eine heiße, undurchdringliche Dampfwolke empor und erfüllt den ganzen Raum - alles schnattert und schreit. Allmählich sieht man dann wieder in der grauweißen Dampfwolke die zerhauenen Rücken, die halbrasierten Schädel, die gekrümmten Beine und Arme [...] (Dostojewski 2008: 185- 186; Hervorhebungen B.M.) Durch die (aspektsensitive) Tempuswahl wird ausgedrückt, dass sich das Verbalereignis im betrachteten Zeitintervall ständig wiederholt. Im Deutschen (und auch in den anderen hier berücksichtigten Sprachen) muss für diesen wiederkehrenden Charakter ein Adverbiale Wieder... und wieder in Verbindung mit Präsensformen herangezogen werden. Wie in diesem Abschnitt gezeigt wurde, ist ein vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens im Russischen mit imperfektivem Präsens möglich. Das Präsens in dieser Verwendung verstößt massiv gegen die kontextuelle Erwartung. Als Fazit ist Bondarko (1959) Recht zu geben, der festhält, dass das markierte vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens im Russischen (und in den slawischen Sprachen im Allgemeinen) auf das imperfektive Präsens beschränkt ist. Dies steht im Einklang mit der Auffassung, dass im Russischen lediglich das imperfektive Präsens eine prototypische präsentische Semantik entfaltet. Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, dass im Russischen auch ein narratives Präsens möglich, jedoch weitestgehend auf übersetzte literarische Werke beschränkt ist. 8.3.2 Das narrative Präsens im Russischen Das narrative Präsens entspricht einem Gebrauch des Präsens in seiner prototypischen temporalen Grundbedeutung (E,R,S). Dies wird besonders durch die Tempuswahl beim Ausdruck von Vor- oder Nachzeitigkeit deutlich, wie bereits gezeigt wurde. Der Erzähler ist der Vermittler der Betrachtungsperspektive auf die fiktionale diegetische Welt. Die fiktionale Welt eröffnet sich dem Leser über die Mittlerinstanz des Erzählers, selbst dann, wenn dieser zu keinem Zeitpunkt explizit in Erscheinung tritt. Der Leser hat nur durch den Erzähler Zugang zur fiktionalen Welt, so wie der Zuschauer eines Films nur durch das Auge der Kamera Einblick in die fiktionale Welt des Films hat und in der Wahl seiner Betrachtungsperspektive nicht frei ist. Vorder- und Hintergrundierungen der Ereignisse der Geschichte werden durch die Erzählung determiniert. Im Roman geschieht dies durch Tempus, im Film durch die Kameraführung. 204 Im Gegensatz zum vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens wird beim narrativen Präsens die zeitliche Lokalisierung nicht durch den unmittelbaren morphosyntaktischen Kontext determiniert, sondern die diegetischen Ereignisse werden allenfalls sporadisch oder sogar nur einmalig und aus textueller Sicht weiträumig chronologisch-kalendarisch lokalisiert, ohne dass diese kalendarische Verortung jedoch die Perspektive auf die Verbalereignisse beeinflussen würde, die durch das Tempus festgelegt wird. Die Ereignisse in der fiktionalen Welt werden aus einer Perspektive mit Zusammenfall von Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit betrachtet und entfalten sich demzufolge nach dem thematisch-rhematischen Prinzip. Das durchgängige, unmarkierte narrative Präsens gibt es in den autochthon russischen Werken den vorgenommenen Recherchen zufolge nicht. 137 Dennoch gibt es bei Tolstoj in Knabenalter (1854) einen sehr frühen Beleg dafür, dass im sprachlichen System die Möglichkeit einer solchen ‘Hier und Jetzt’-Erzählung durchaus gegeben ist. Die gesamte Episode des Umzugs nach Moskau wird im imperfektiven Präsens geschildert. Die Ereignisse sind in diesem Fall nicht wie beim vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens durch den unmittelbaren Kontext in der Vergangenheit verortet, sondern eine weiträumige Passage wird eigentlich durch die Tempusselektion in das ‘Hier und Jetzt’ des Erzählers transponiert. Es besteht daher keine unmittelbare Markierung mehr innerhalb des Diskurses, sondern lediglich aus textstruktureller Perspektive eine Markierung der Episode als Ganzes. Ähnlich wie das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens bewirkt das narrative Präsens einen Bruch im Perspektivierungsmuster aus textstruktureller Sicht, wodurch die präsentisch ausgedrückten Ereignisse an Prominenz gewinnen und markiert erscheinen (markiertes narratives Präsens). Die Realisierungsmöglichkeit eines markierten narrativen Präsens lizenziert bereits die Möglichkeit einer Erzählung im Präsens im Russischen, die nur aufgrund des Festhaltens an den entsprechenden diskursiven Gestaltungsnormen für die Diskurstradition Roman (noch) nicht auf Vormarsch ist. Deswegen blieb die Tempusselektion von Tolstoj bereits Mitte des 19. Jahrhunderts trotz des Gewinns aus Sicht der Perspektivik auch weitestgehend ohne Nachahmung. Die Erzählung der Episode des Umzugs nach Moskau im ersten und zweiten Kapitel von Knabenalter beginnt mit dem präsentischen Passiv von 137 Natürlich sind Auswertungen literarischer Werke immer nur stichprobenartig möglich, weswegen vereinzelte Ausnahmen nicht ausgeschlossen werden können. Dies bleibt jedoch ohne Auswirkung für die Argumentation, da ausländische präsentische Werke bereits im imperfektiven Präsens übersetzt werden. Die Tatsache, dass das narrative Präsens im Russischen noch eher ein Phänomen der individuellen Diskurse ist, wird dadurch deutlich, dass selbst junge russische Autoren wie Sorokin und Pelevin, die um einen innovativen Schreibstil und einen Bruch der konventionalisierten Regeln innerhalb der Diskurstradition bemüht sind, davon keinen Gebrauch machen. 205 podat’ und wird im imperfektiven Präsens fortgeführt, wie die Verbalformen von sadit’sja und echat’ belegen (142). Da die fiktionale Welt mittels Sprache konstituiert wird und es keine außersprachlichen Referenzen gibt, werden die Ereignisse der Diegese in diesem Fall durch die Tempuswahl (zumindest fiktiv) in das hic et nunc des Erzählers transponiert. (142) Snova podany Passiv dva ekipaža k krylcu Petrovskogo doma: odin-kareta, v kotoruju sadjatsja Ipf. Pr. Mimi, Katen’ka, Ljubočka, gorničnaja i sam prikazčik. Jakov, na kozlach; drugoj-brička, v kotoroj edem Ipf. Pr. my s Volodej i nedavno vzjatyj s obroka lakej Vasilij. 138 (Tolstoj 1978: 111; Hervorhebungen B.M.) Tolstoj bricht somit sehr früh die etablierten Diskursregeln, um die Perspektivik zu modifizieren, und das in einem Zeitalter, in dem die Verwendung des narrativen Präsens noch eindeutig als Phänomen auf der Ebene der individuellen Diskurse und im Kontext der Literatur als avantgardistisches Experiment betrachtet werden muss. Der vorliegende Bruch der konventionalisierten Regeln zur sprachlichen Gestaltung der Diskurstradition ist vermutlich auch ein Grund, weswegen der deutsche Übersetzer in den präsentischen Episoden der fiktionalen Erzählung das Präteritum beibehält (143). Die im Original erzeugte Perspektive mit (zumindest fiktiver) ‘unmittelbarer’ Betrachtung der Verbalhandlungen geht dadurch verloren. Die Markierung der Episode des Umzugs des Protagonisten nach Moskau auf morphosyntaktischer Ebene durch die Präsensverwendung wird annulliert, da der Verstoß gegen die Erwartung der morphologischen Markierung für vorzeitige Ereignisse im Original in der deutschen Übersetzung nicht wiedergegeben wird. Die dadurch kodierte Perspektive geht ebenfalls verloren, da kein Shifting der Ereignisse in die Gegenwart stattfindet, wie es im Original geschieht. (143) Wieder fuhren zwei Wagen an der Freitreppe des Gutshauses von Petrowskoje vor: eine Kutsche, in die Mimi, Katenka, Ljubotschka, ein Dienstmädchen und der Verwalter Jakov in eigener Person stiegen - er setzte sich auf den Bock -, und eine Britschka, in der ich und Wolodja und der bisher zinspflichtige, kürzlich als Diener angenommene Wasilij fahren sollten. (Tolstoj 1976: 135) Um die Perspektivik im Russischen wiederzugeben, hätte man die Passage wie in (144) übersetzen müssen, was jedoch einen Verstoß gegen die konventionalisierten Diskursregeln des Romans im deutschen Sprachraum zur Zeit der Anfertigung der Übersetzung dargestellt hätte. Zudem war die Verwendung des narrativen Präsens Ziel heftiger Kritik von zeitgenössischen Literaten und Kritikern (vgl. Hamburger (1987 [1957]) und Weinrich (2001 [1964]) u.a.). 138 Eine Übersetzung folgt unter (143) und (144), da sie kritisch diskutiert werden soll. 206 (144) ‘Wieder werden zwei Wagen an der Freitreppe des Gutshauses von Petrowskoje vorgefahren: eine Kutsche, in die Mimi, Katenka, Ljubotschka, ein Dienstmädchen und der Verwalter Jakov in eigener Person steigen - er setzt sich auf den Bock -, und eine Britschka, in der ich und Wolodja und der bisher zinspflichtige, kürzlich als Diener angenommene Wasilij fahren sollen.’ Die Tempusverwirrung ist vermutlich eine ‘Blendung’ des Übersetzers durch die herrschenden Diskursregeln, denn selbst Weinrich, der seine ‘Tempusbibel’ (Tempus - Besprochene und erzählte Welt; 1964) zu einer Zeit verfasste, in der das narrative Präsens aufkam, lässt es weitestgehend unberücksichtigt, da es im Widerspruch zu den konventionalisierten Diskursregeln steht und eigentlich bis ins 21. Jahrhundert als marginale, „stilistisch schlechte“ Erscheinung auf der Ebene der individuellen Diskurse gewertet wird. Eine andere Erklärung könnte in einer Verwechslung mit dem aoristischen Präsens in der mittelalterlichen Literatur liegen, das selbst in der Forschung bis dato meistens als identisch in seinem Gebrauch betrachtet wurde, trotz der hier ausgearbeiteten syntaktischen und funktionalen Unterschiede, die in der Forschung oftmals nicht berücksichtigt wurden (vgl. jedoch Leiss 2000; Abraham 2008 u.a.), wie beispielsweise die ‘Reoralisierungshypothese’ von Fleischman (1990) belegt. Das aoristische Präsens muss korrekterweise mit einem perfektiven Vergangenheitstempus übersetzt werden, nicht aber das narrative Präsens oder das vergangenheitsaktualisierende, perspektivische Präsens. Ähnlich wie in den anderen hier betrachteten Sprachen werden vorzeitige Ereignisse innerhalb der präsentischen Erzählung mit Präteritum ausgedrückt. Nachdem die vorzeitigen Ereignisse erzählt wurden, fährt die Erzählung im Präsens fort, wie die präsentische Verwendung der Verben ostanavlivat’, razvlekat’ und vseljat’ belegen. Ein Wechsel der Perspektivik zurück zu Vergangenheitstempora erfolgt erst am Ende des zweiten Kapitels. (145) Redko provël Pf. Prät. ja neskol’ko dnej - ne skažu Perf. Pr. (‘Futur der Vergangenheit’) veselo: mne eščë kak-to sovestno bylo Ipf. Prät. predavat’sja Inf. vesel’ju, no tak prijatno, chorošo, kak četyre dnja našego putešestvija. […] Zdes’, naprotiv, besprestanno novye živopisnye mesta i predmety ostanavlivajut Ipf. Pr. i razvlekajut Imp. Pr. moë vnimanie, a vesennjaja priroda vseljaet Ipf. Pr. v dušu otradnye čuvstva - dovol’stva nastojaščim i svetloj nadeždy na buduščee. (Tolstoj 1978: 111-112; Hervorhebungen B.M.) ‘Nur selten habe ich eine Reihe von Tagen, ich würde nicht sagen so froh, denn ich schämte mich irgendwie, mich der Fröhlichkeit zu überlassen, aber so angenehm und gut verlebt wie die vier Tage unserer Reise. […] 207 Hier hingegen ziehen immer neue malerische Orte und Dinge meine Aufmerksamkeit an und lenken mich ab, und die Frühlingsnatur ruft beglückende Gefühle in meiner Seele wach - die Zufriedenheit mit der Gegenwart und lichte Hoffnungen auf die Zukunft.’ (vgl. Tolstoj 1976: 135-136, Anpassung der Tempora B.M.) Das analysierte Beispiel bestätigt die zu Beginn des Kapitels formulierte Hypothese, dass im Russischen ein narratives Präsens möglich ist, das durch die imperfektive Präsensformen versprachlicht wird. Ein perfektives Präsens würde hingegen eine futurische Lesart evozieren, sofern keine Frequentativ- Angaben die futurische Lesart explizit blockieren. 8.3.3 Das narrative Präsens in Übersetzungen Wie in Kapitel 10 gezeigt wird, lässt sich die Popularität des narrativen Präsens besonders seit den 1990er-Jahren durch das damit verbundene Perspektivierungsmuster erklären, das dem des Films ähnlich ist. Lediglich die Verwendung eines Präsens ermöglicht es, die betrachteten Vorgänge und Ereignisse (zumindest fiktiv) innerhalb desselben Zeitintervalls der Sprechzeit und der Referenzzeit zu lokalisieren, was einer hic et nunc- Perspektive entspricht, unabhängig von der kalendarischen temporalen Verortung. Dieses Perspektivierungsmuster wird zunächst auf der Ebene individueller Diskurse realisiert und hat sich in den romanischen und den germanischen Sprachen bereits auf der Ebene der Diskursnormen durchgesetzt, anders als in den slawischen Sprachen. Angesichts der Exklusivität der durch das (imperfektive) Präsens eingenommenen Perspektive wird es in Übersetzungen dennoch beibehalten, obwohl es den Diskursnormen der Zielsprache eigentlich weitestgehend fremd ist. Eine Etablierung des Diskursnormenwandels und des entsprechenden Vertextungsmusters innerhalb der narrativen fiktionalen Diskurstraditionen in den slawischen Sprachen lässt sich jedoch mittelbis langfristig nicht ausschließen, da Texte immer im Spannungsfeld von ‘Wirklichkeit’, d.h. von bereits Erzähltem, einerseits und Wissenskontexten andererseits entstehen und rezipiert werden (vgl. Albrecht 2005: 91; Koch 1997; Oesterreicher 2008a: 147). Ferner kann das Perspektivierungsmuster vor allem auf der Basis der durch das narrative Präsens eröffneten exklusiven Perspektivierungsmöglichkeiten übertragen werden. Angesichts der globalen Konkurrenz zwischen Film und Buch ist eine derartige Entwicklung sogar wahrscheinlich, auch wenn sich derzeit noch kein Aussterben des klassischen Erzähl-/ Perspektivierungsmusters im Roman abzeichnet: Beide Formen konkurrieren zwar, die Vergangenheitstempora als Erzähltempus dominieren jedoch weiterhin mit großem Abstand. Da bei Übersetzungen nicht die Übertragung des Wortlauts, sondern eine möglichst exakte Vermittlung des Inhalts des Ausgangstextes im Vordergrund steht, was eine möglichst getreue Wiedergabe der Perspektive 208 voraussetzt, ist davon auszugehen, dass in Übersetzungen von Werken im Präsens entweder das Tempus beibehalten wird - selbst wenn es untypisch für die Zielsprache ist - oder ein tertium comparationis zur Erzeugung der entsprechenden Perspektive herangezogen wird. Letzteres erweist sich jedoch angesichts der semantischen Eigenschaft des Präsens, dass Sprech- und Referenzzeit nicht auseinanderfallen, als schwierig; eine Eigenschaft, die kein anderes Tempus aufweist. Werke, deren Verfasser mit einem Nobelpreis ausgezeichnet worden sind, erweisen sich als geeignete Quelle, um diese Thesen zu überprüfen, da sie meistens spätestens nach der Auszeichnung in zahlreiche Sprachen übersetzt werden. Im Folgenden richten wir daher einen Blick in Werke von Nobelpreisträgern, die in dieser Arbeit berücksichtigt wurden, um zu klären, wie die temporale Perspektive in diesen Fällen im Russischen wiedergegeben wird. Das Werk Disgrace des Südafrikaners Coetzee bietet sich dafür an. Wie Beispiel (146) zeigt, fallen die Ereignisse der Diegese, Referenzzeit und Sprechzeit (zumindest fiktiv) zusammen und die Erzählung erfolgt aus einer hic et nunc-Perspektive (E,R,S). Diese Perspektive wird in der russischen Übersetzung durch die Verwendung des imperfektiven Präsens als Erzähltempus erzeugt, obwohl russischen narrativen Texten der Diskurstradition Roman das imperfektive Präsens als durchgehendes Erzähltempus weitestgehend unbekannt ist. Die Ereignisse werden in einer Weise verkettet erzählt, als ob sie simultan zum Erzählakt geschehen würden. Dadurch, dass der Leser die diegetische Welt immer aus einer Innenperspektive betrachtet, was durch die Kategorie Aspekt ausgedrückt wird, und aus temporaler Sicht die Ereignisse aus der distanzlosen Perspektive des ‘Hier und Jetzt’ betrachtet, werden diese in die Erzählzeit transponiert. (146) Dlja čeloveka ego vozrasta, pjatidesjatidvuchletnego, razvedënnogo, on, na ego vzgljad, rešil Pf. Prät. problemu seksa dovol’no uspešno. Po četvergam posle poludnja, on edet Ipf. Pr. v Grin-Pojnt. Rovno v dva časa on nažimaet Ipf. Pr. knopku zvonka na dveri mnogokvartirnogo doma Vindzor-Menšns, nazyvaet Ipf. Pr. svoë imja i vchodit Ipf. Pr. . U dveri s nomerom 113 stoit Ipf. Pr. , podžidaja ego, Soraja. On prochodit Ipf. Pr. prjamikom v spal’nju, prijatno pachnuščuju, mjagko osveščënnuju i razdevaetsja Ipf. Pr. . Soraja pojavljaetsja Ipf. Pr. iz vannoy, sbrasyvaet Ipf. Pr. chalat i proskal’zyvaet Ipf. Pr. v postel’ pod bok k nemu. - Skučal Ipf. Prät. po mne? sprašivaet ona. - Ja po tebe vse vremja skučaju Ipf. Pr. ,otvečaet Ipf. Pr. on. On gladit Ipf. Pr. ee ne tronutoe solncem medovo-smugloe telo, zastavljaet Ipf. Pr. ee vytjanut’sja rjadom s soboj, celuet Ipf. Pr. ej grudi; oni ljubjat Ipf. Pr. drug družku. (Kutzee 2010: 3, Hervorhebungen B.M.) 209 ‘Für einen Mann seines Alters, zweiundfünfzig, geschieden, hat er seiner Ansicht nach das Sexproblem recht gut im Griff. Donnerstag nachmittags fährt er immer nach Green Point. Pünktlich um zwei drückt er auf den Summer am Eingang der Windsor Mansions, sagt seinen Namen und geht hinein. An der Tür von Nr. 113 wartet Soraya auf ihn. Er geht gleich ins Schlafzimmer, das angenehm riecht und in weißes Licht getaucht ist, und zieht sich aus. Soraya kommt aus dem Bad, läßt ihren Morgenmantel fallen und schlüpft neben ihm ins Bett. “Hab ich dir gefehlt? ” fragt sie. “Du fehlst mir immer”, erwidert er. Er streichelt ihren honigbraunen Körper, der nicht von der Sonne gebräunt ist; er legt sie hin, küßt ihre Brüste; sie lieben sich.’ (Coetzee 2009c: 5; Hervorhebungen B.M.) Das Erzähltempus in dieser Passage ist einheitlich das imperfektive Präsens (edet, nažimaet, nazyvaet, vchodit, stoit, prochodit, razdevaetsja, pojavljaetsja, sbrasyvaet, proskal’zyvaet, skučaju, otvečaet, gladit, zastavljaet, celuet und ljubjat ‘fährt, drückt, nennt, kommt rein, steht, geht durch, zieht sich aus, erscheint, lässt fallen, schlüpft, hat Sehnsucht, antwortet, streichelt, zwingt, küsst’ und ‘lieben sich’) und die temporale Perspektivierung bleibt im gesamten Werk konstant. Aus aspektueller Sicht wird eine Innenperspektive eingenommen (edet ‘er ist dabei zu fahren’, nažimaet ‘er ist dabei zu drücken’, und so weiter). Präteritum wird lediglich für Verbalhandlungen herangezogen, die sich vorzeitig zum Sprechzeitintervall ereigneten, so beispielsweise bei der Lösung des Sexproblems (rešat’ ‘lösen’), das bereits vorzeitig gegenüber den betrachteten Ereignissen gelöst wurde und daher als Ganzes mittels perfektivem Aspekt betrachtet wird. Die Frage nach der Sehnsucht in der dialogischen Passage wird im imperfektiven Präteritum ausgedrückt, da sie sich auf ein unbegrenztes Zeitintervall in der Vorzeitigkeit bezieht (skučat’ ‘Sehnsucht haben’). Aus lexikalisch-semantischer Sicht ist es wichtig anzumerken, dass sowohl nonadditive (vchodit’ ‘hereinkommen’) als auch additive (echat’ ‘fahren’) Verben im Präsens verwendet werden. Dass es sich bei dem für diese Übersetzung gewählten Textmuster um keinen Einzelfall oder möglicherweise um eine misslungene Übersetzung handelt, zeigt die russische Übersetzung von Chercheur d’Or von Le Clézio. Auch hier ist das Erzähltempus das imperfektive Präsens, wie Beispiel (147) belegt. 210 (147) Iz samoj dali moich vospominanij, naskolko ja mogu pomnit’ Ipf. Pr. , do menja donositsja Ipf. Pr. šum morja. Mešajas’ v iglach kazuarin s vetrom-vetrom, kotoryj ne prekraščaetsja Ipf. Pr. ni na minutu, daže esli ujti Inf. Pf. s berega i uglubit’sja Inf. Pf. v trostnikovye polja,šum etot napolnjaet Ipf. Pr. moë detstvo. Ja slyšu Ipf. Pr. ego i segodnja vnutri sebja, on so mnoj, gde by ja ni byl Ipf. Prät. . Medlennij, besprestannyj rokot voln, čto b’jutsja Ipf. Pr. vdali o korallovyj bar’er i prichodjat Ipf. Pr. umirat’ Inf. Ipf. na pesok Riv’er-Nuara. Ne bylo Ipf. Prät. dnja, čtoby ja ne pošel Pf. Prät. k morju, ne bylo Ipf. Prät. noči, čtoby ja ne prosnulsja Pf. Prät. s mokroj ot pota spinoj, ne sel Pf. Prät. v svoej pochodnoj krovati i, razdvinuv moskitnuju setku, ne stal Pf. Prät. bespokojno vslušivat’sja Inf. Ipf. v šum priboja, ispolnennyj neponjatnogo željanija. 139 (Leklezio 2009 o.S., zit. nach: http: / / lib.rus.ec/ b/ 259753/ read, Hervorhebungen B.M.) ‘Immer, soweit ich zurückdenken kann, hab ich das Meer gehört. Und den Wind in den Schuppenblättchen der Kasuarinen, einen Wind, der nie aufhört, auch nicht, wenn man sich von der Küste entfernt und durch die Zuckerrohrfelder geht. Dieses Geräusch hat meine Kindheit gewiegt. Ich höre es auch jetzt, tief in mir, ich trage es überall mit hin. Das langsame, unermüdliche Geräusch der Wellen, die sich draußen an den Korallenbänken brechen und an der Rivière Noire im Sand verlaufen. Nicht einen Tag, ohne dass ich ans Meer gehe, nicht eine Nacht, ohne dass ich aufwache, mit schweißnassem Rücken auf meinem Feldbett sitze, das Moskitonetz beiseite schiebe und auf die Gezeiten lausche, ruhelos, erfüllt von einer Sehnsucht, die ich nicht begreife.’ 140 (Le Clézio 2008a: 13, Hervorhebungen B.M.) Die Erzählperspektive der Ereignisse auf diegetischer Ebene ist folglich das ‘Hier und Jetzt’. Der Wechsel in das imperfektive Präteritum im zweiten Teil des Absatzes erklärt sich durch die Vorzeitigkeit der Verbalhandlungen gegenüber der Sprechzeit. Sie entsprechen Handlungen des Subjekts, die dieses in der Vorzeitigkeit begonnen hat und immer wieder bis zur Gegenwart wiederholt hat - daher die Selektion des perfektiven Aspekts. Die Tatsache, dass das Erzähltempus in unterschiedlichen Werken beibehalten wird, die aus verschiedenen Sprachen übersetzt wurden, obwohl das Perspektivierungsmuster relativ untypisch für das Russische ist, ist neben der Nicht-Einhaltung der Tempuswahl in der deutschen Übersetzung von Tolstoj (vgl. (143) und (144)) ein wichtiges Indiz für die Vorsicht, die in der kontrastiven Linguistik bei der Einbeziehung von Übersetzungen 139 Im Deutschen drückt das Präsens mit dem Temporaladverbiale „Nicht einen Tag, ohne dass (...)“ die iterative Struktur, die im Russischen mittels Präteritum wiedergegeben wird, am besten aus, daher die Abweichung der Tempora. Im Weiteren fährt die Erzählung dann wieder im imperfektiven Präsens fort. 140 Die Tempusverteilungen weichen in der deutschen und in der russischen Übersetzung stark voneinander ab. Da das Beispiel jedoch lediglich belegen soll, dass es zahlreiche Beispiele von übersetzten Romanen gibt, in denen das narrative Präsens im Russischen beibehalten wurde, wurden die Tempora in der deutschen Übersetzung in diesem Beispiel lediglich zu einer besseren Orientierung des Lesers markiert. 211 geboten sein muss. Diese spielen zwar zur Erforschung von koverten Kodierungsstrategien und funktionalen Äquivalenten eine wichtige Rolle, können aber auch durchaus irreführend sein, wenn sie nicht mit großer Sorgfalt ausgewertet werden. Im Fall der slawischen Sprachen ist das narrative Präsens nicht auf das Russische beschränkt, sondern es kommt unter ähnlichen Umständen im Polnischen vor, ebenfalls einer Aspektsprache, auch wenn dort das Aspektsystem schwächer ist als im Russischen oder in Anlehnung an die Bewertung des russischen Aspektsystems von Vogel (1996) noch nicht so stark grammatikalisiert ist. So wird Disgrace von Coetzee ins Polnische im Präsens übersetzt, obwohl der Tempusgebrauch untypisch für die Sprache ist. Dies geht aus im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Sprecherbefragungen hervor, die zeigen, dass dieser Tempusgebrauch in fiktionalen narrativen Texten abgelehnt wird und beim Lesen des Textes anfänglich auf Befremden stößt. In Beispiel (148) erfolgt die Erzählung wie im Original im Präsens. Lediglich vorzeitige Vorgänge und Ereignisse werden im Präteritum erzählt - perfektiv, sofern in der Vergangenheit abgeschlossen, und imperfektiv in Fällen, in denen die Konturen des Ereignisses ausgeblendet werden. (148) Uważa, że jak na mężczyznę w tym wieku ma Ipf. Präs. pięćdziesiąt dwa lata i jest Ipf. Präs. rozwiedziony - problem seksu rozwiązał Pf. Prät. nie najgorzej. W każdy czwartek popołudniu jedzie Ipf. Präs. autem do Green Point. Równo o drugiej naciska Ipf. Präs. guzikdomofonu przy wejściu do Windsor Mansions, przedstawia się Ipf. Präs. i wchodzi Ipf. Präs. . Wdrzwiach numeru sto trzynaście czeka Ipf. Präs. na niego Soraya. On idzie Ipf. Präs. prosto dosypialni, wypełnionej miłym zapachem i łagodnym światłem, i rozbiera się Ipf. Präs. . Soraya wychodzi Ipf. Präs. z łazienki, upuszcza Ipf. Präs. szlafrok na podłogę, wślizguje Ipf. Präs. się dołóżka i kładzie Ipf. Präs. obok gościa. „Tęskniłeś Imp. Prät. ” za mną? - pyta Ipf. Pr. . - „Stale za tobą tęsknię Ipf. Präs. ”- odpowiada Ipf. Präs. on. Głaszcze Ipf. Präs. jej ciało barwyciemnego miodu, nietknięte słońcem; rozciąga Ipf. Präs. ją na łóżku, całuje Ipf. Präs. jej piersi; kochają Ipf. Präs. się. (Coetzee 2003: 1, Hervorhebungen B.M.) ‘Für einen Mann seines Alters, zweiundfünfzig, geschieden, hat er seiner Ansicht nach das Sexproblem recht gut im Griff. Donnerstag nachmittags fährt er immer nach Green Point. Pünktlich um zwei drückt er auf den Summer am Eingang der Windsor Mansions, sagt seinen Namen und geht hinein. An der Tür von Nr. 113 wartet Soraya auf ihn. 212 Er geht gleich ins Schlafzimmer, das angenehm riecht und in weißes Licht getaucht ist, und zieht sich aus. Soraya kommt aus dem Bad, lässt ihren Morgenmantel fallen und schlüpft neben ihm ins Bett. “Hab ich dir gefehlt? ” fragt sie. “Du fehlst mir immer”, erwidert er. Er streichelt ihren Honigbraunen Körper, der nicht von der Sonne gebräunt ist; er legt sie hin, küßt ihre Brüste; sie lieben sich.’ (Coetzee 2009c: 5; Hervorhebungen B.M.) Das Beispiel zeigt, dass auch im Polnischen das (imperfektive) Präsens das Leittempus der Erzählung ist. Die einzigen Ausnahmen bilden, wie im Russischen, das perfektive Präteritum rozwiązał, das eine abgeschlossene Handlung in der Vorzeitigkeit zum deiktischen Nullpunkt der fiktionalen Erzählung markiert, die so paraphrasiert werden kann: ‘Er hat zur Erzählzeit das Sexproblem gelöst und der Vorgang ist abgeschlossen’, und das imperfektive Präteritum tęskniłeś, das sich auf einen Verbalvorgang bezieht, der vorzeitig zur Erzählzeit ist und einen unbegrenzten Zeitraum umfasst. Diese Tempusverteilung wird in der polnischen Übersetzung des Werks rigoros eingehalten. Es handelt sich folglich um die Strategie der Kodierung der narrativen Progression durch die lineare Abfolge von Erzählthema und Erzählrhema (vgl. Abraham 2008: 295). Angesichts der Tatsache, dass in den slawischen Sprachen das narrative präsentische Erzählmuster noch nicht so stark etabliert ist, bleibt es spannend, zu beobachten, ob es sich durchsetzen wird. Die Konkurrenz des Buchs zum Film und die Notwendigkeit literarischer Kreativität könnten eine Etablierung des narrativen Präsens begünstigen. Ebenfalls könnte die Interdiskursivität, im Sinn von Koch (1997), die Durchsetzung des Erzählmusters fördern, da es in den Sprachen in den übersetzten Werken zumindest vorliegt und eine imitatio daher nicht auszuschließen ist. Zugleich gilt es in diesem Zusammenhang herauszustellen, dass die eingenommene Perspektive auch nicht mithilfe anderer sprachlichen Mittel in derselben Form kodiert werden kann, zumindest nicht über Tempus. Die Beobachtung dieser Entwicklung bleibt folglich ein Forschungsdesiderat, da sie wichtige Einsichten in die Entwicklung des Sprachgebrauchs innerhalb bestimmter Diskurstraditionen im Spannungsfeld von einzelsprachlichen Sprachregeln und übereinzelsprachlichen Diskursregeln vermittelt. 213 8.4 Zusammenfassung: Diskursnorm und Perspektivik - Das narrative Präsens in übersetzten und in autochthonen russischen Romanen Dieser letzte Abschnitt widmet sich der Frage nach der Reichweite des narrativen Präsens, insbesondere mit Blick auf die Möglichkeit eines narrativen und eines vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens in den slawischen Sprachen. Die Berücksichtigung von Aspektsprachen erweist sich als interessant um festzuhalten, welche Perspektive gewählt wird, sofern der Sprecher eine Wahlmöglichkeit hat. Die Verwendung des imperfektiven Präsens als Erzähltempus in Romanen in beiden Fällen ist ein wichtiges zusätzliches Indiz dafür, dass die Ereignisse auf der Ebene der Diegese mittels Tempusselektion von einem Referenzpunkt im hic et nunc betrachtet werden. Außerdem ist aus typologischer Sicht wichtig zu konstatieren, dass beide Präsenstypen sowohl in der Familie der romanischen, der germanischen sowie der slawischen Sprachen möglich ist. Das legt die Annahme nahe, dass es sich um potentiell universale Präsenskandidaten handelt, d.h., dass es in allen Sprachen, die ein Präsens aufweisen, die beschriebenen Aufgaben der beiden Verwendungen erfüllen kann. So konnte durch eine Auswertung der Daten zur russischen Literatur sowohl die Existenz eines vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens als auch eines narrativen Präsens belegt und beschrieben werden. Das bestätigt Bondarkos (1959) Vermutung, dass lediglich das imperfektive Präsens als vergangenheitsaktualisierendes, perspektivisches Präsens (in seinen Worten ein historisches Präsens) verwendet werden kann. Diese Hypothese konnte auch für das narrative Präsens bestätigt werden. Die einzige Ausnahme tritt ein, wenn mehrere Ereignisse eines Sachverhaltes individualisiert betrachtet werden [+ TOTALITÄT ], also als definite Ereignisse, iterativ oder als mehrfache Realisierungen eines Ereignisses desselben Typus, in der Regel kombiniert mit Frequentativ-Angaben. Auch bei den zwei letztgenannten Möglichkeiten werden die Ereignisse in ihrer ‘Totalität’ und als ‘finit’ betrachtet. In diesem Fall wird das perfektive Präsens gegenwartsbezogen verwendet (siehe Beispiele (136)-(138)), wobei der Kontext die futurische Lesart blockiert. Diese Verwendung ist jedoch im Vergleich zu der Zahl an Fällen, in denen das perfektive Präsens eine futurische Lesart durch temporale Reanalyse der aspektuellen Abgeschlossenheit lizenziert, vernachlässigbar gering und durch die Tatsache zu erklären, dass es sich beim Russischen um eine artikellose Sprache handelt (vgl. Leiss 1992: 25-26). Artikel und Aspekt sind insofern funktionale Äquivalente, da sie „wortartenneutral als die grammatische Kategorie der Totalität/ Nichttotalität“ bezeichnet werden können (Leiss 2000: 14). 214 Die etwas überraschende Aussage, es gebe ein narratives Präsens - in der Forschung undifferenziert mit dem vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens in der Sammelkategorie historisches Präsens zusammengefasst -, konnte ebenfalls erklärt werden. So ist das narrative Präsens in seiner markierten Verwendung auf eine Episode innerhalb der Erzählung, die dadurch hervorgehoben wird, beschränkt. Diese Funktion des Präsens ist bereits für die Mitte des 19. Jahrhunderts in Tolstojs Werk belegt, blieb jedoch als narrative Perspektivierungsstrategie im Russischen vergleichsweise unproduktiv. Die Tempusverwendung blieb somit ein sprachliches Phänomen der individuellen Diskurse. Bei Übersetzungen forciert die besondere ausgedrückte Perspektive mit einer unmittelbaren Betrachtung der Verbalvorgänge neuerdings jedoch den Rückgriff auf das imperfektive Präsens als Leittempus der Erzählung, obwohl es als ein Bruch der Diskursnormen betrachtet wird, wie die Bewertung als „merkwürdig“ von Seiten slawischer L1-Sprecher belegt. 141 Es scheint derzeit offen zu sein, ob sich das narrative Präsens in einem zweiten Anlauf, begünstigt durch die intermediale Kompetiton mit dem Film, in den slawischen Sprachen durchsetzen wird. Dies wäre ein Fall von Intermedialität (vide Kapitel 10.2) und Interdiskursivität, da die vorliegenden Übersetzungen ausgezeichneter literarischer Meisterwerke im Präsens zusätzlich eine Durchsetzung des ‘neuen’ Vertextungsmusters fördern. 141 Die herangezogenen Texte wurden in Form von Passagen acht russischen und fünf polnischen L1-Sprecher vorgelegt. Alle Befragten empfanden die Tempuswahl als „merkwürdig“, „ungewohnt“ und gaben dennoch an, dass ihnen dieses Phänomen noch nie aufgefallen war, selbst wenn sie die Werke schon gelesen hatten. 9. Neubewertung des Präsens als Erzähltempus im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie von Sprach- und Diskurswandel Anhand der Beschreibungen des Präsens als Erzähltempus in antiken und mittelalterlichen versus in gegenwärtigen Texten wurde ersichtlich, dass es sich hier um zwei unterschiedliche und nicht vergleichbare Präsenstypen handelt: Das Präsens der nonadditiven Verben in der Antike und teils im Mittelalter war als aoristische Form in einem retrospektiven Tempussystem durch das Merkmal [+ VERGANGENHEITSBEZOGEN ] charakterisiert, welches das Präsens in den modernen, im Rahmen dieser Untersuchung verglichenen Sprachen nicht mehr aufweist. Außerdem wurde anhand der ausgewählten Texte aufgezeigt, dass das aspektuelle, aoristische Präsens nicht nur ein Phänomen der medialen Mündlichkeit darstellt, sondern auch in sprachlich-stilistisch hochgradig elaborierten Diskurstraditionen Verwendung findet (vgl. 6.1). Ein ‘Reoralisierungsansatz’ scheint daher zu knapp gefasst, um die Entstehung des narrativen Präsens in neueren Romanen zu erklären. Auch aus methodologischer Sicht ist dieser Ansatz so nicht haltbar. Deshalb steht im Folgenden zunächst die Frage im Mittelpunkt, ob das Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit für das mittelalterliche aspektuelle, aoristische oder für das moderne narrative Präsens von Bedeutung ist. Ferner gilt es, mögliche Korrelationen zwischen Verbsystemwandel und dem Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt soll angesichts der herausgearbeiteten Merkmale des aspektuellen, aoristischen und des narrativen Präsens und deren Entstehungskontexte untersucht werden, ob es sich bei den jeweiligen Entstehungsprozessen um Sprachwandel oder um Diskurswandel handelt. Die Opposition lässt sich an zwei Fragen festmachen: 1) Liegt ein funktional-semantischer Wandel einer grammatischen Kategorie im Sprachgebrauch vor, also ein Wandel eines Sprachelements? 2) Oder ist eine diskursive Funktionserweiterung unter Beibehalt der semantischen Merkmale und der damit verbundenen grammatischen Funktionen, in diesem Fall der temporalen Aufgaben, also ein Wandel auf der Ebene der Diskursnorm, erkennbar? Die Frage nach dem Wandeltyp ist bei der vorliegenden Betrachtung relevant, da das aspektuelle, aoristische Präsens ‘untergegangen’ ist und das Präsens damit sein Merkmal [+ VERGANGENHEITSBEZOGEN ] verloren und seine aspektuelle Aufgabe aufgegeben hat. Verben mit lexikalisch-semantisch perfektiver Aspektualität wurden daraufhin aufgrund ihrer Unteilbarkeit und Nonadditivität temporal als Futur reinterpretiert. Die Erklärung dafür ist der Wandel von einem retrospektiven hin zu einem prospektiven Sprach- 216 system, sowohl im Fall der modernen romanischen als auch der germanischen Sprachen. Diese temporale Reanalyse von perfektiver Aspektualität wurde bereits in Kapitel 8.2 am Beispiel des russischen Futurs erläutert. In den romanischen und germanischen Sprachen werden Verben im Präsens mit perfektiver Aspektualität, sei es lexikalischer oder semantisch-lexikalischer Natur, temporal als [+ ZUKUNFTSBEZOGEN ] reinterpretiert (Beispiele: port. chegar ‘ankommen’ und dt. finden 142 ), da sie keine prototypische präsentische Bedeutung entfalten können. Das narrative Präsens hingegen entspricht den Merkmalen [+ GEGENWARTSBEZOGEN ], [- BEGRENZT ], [- ABGE - SCHLOSSEN ], [+ IMPERFEKTIV ] und hat somit eine prototypische präsentische Bedeutung. Dennoch wird der Gebrauch auf eine spezifische funktionale Domäne, in der Präteritum in den germanischen Sprachen und Perfekt/ Imperfekt in den romanischen Sprachen über Jahrhunderte hinweg Exklusivität hatten, erweitert. 9.1 Das aspektuelle, aoristische und das narrative Präsens im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit In Anlehnung an Fleischman (1990, 1991a und 1991b) hat sich in der Forschung die Ansicht weit verbreitet, das narrative Präsens sei ein Indiz für eine ‘Reoralisierung’ unserer zeitgenössischen Gesellschaft im Zeitalter der Massenmedien. Diesem Ansatz zufolge ist das Präsens als Leittempus durch eine Reorientierung am Duktus der Mündlichkeit in Form einer Reoralisierung des schriftlichen Diskurses zu verstehen. Fleischman (1990) differenziert jedoch bei ihrem Ansatz nicht ausreichend zwischen konzeptioneller und medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit und berücksichtigt nicht, dass es sich beim Präsens als Erzähltempus im Mittelalter um ein anderes Phänomen handelt als beim Präsens als Erzähltempus in modernen Werken, nämlich um ein aspektuelles Präsens. So weist Fleischmans Erklärungsansatz zwei schwerwiegende methodische Fehler auf: 1) Eine Enwicklung hin zum Duktus der Mündlichkeit hieße eine Verschiebung der Diskurstradition in Richtung Nähesprache im Nähe-Distanz-Kontinuum nach Koch/ Oesterreicher (1985). Die mittelalterlichen Epen waren aber eine Diskurstradition der ‘elaborierten Mündlichkeit’ und somit konzeptionell distanzsprachlich. 2) Eine semantisch-funktionale Analogie, wie sie Fleischman (1990, 1991b) herstellt, ist angesichts der vorgenommenen Beschreibungen der jeweiligen Präsensformen als unterschiedliche Präsenstypen nicht möglich. 142 Verben mit perfektiver Aspektualität bilden daher im Deutschen in der Regel auch kein werden-Futur. So hat die Aussage Ich werde ihn finden einen modalen Charakter: ‘Ich muss ihn finden’ (≠ Ich finde ihn.). Ich finde ihn hingegen hat eine futurische Lesart. 217 Fleischman (1990, 1991b) zufolge gibt es innerhalb der Diskurstradition Roman nur zwei Extremkategorien, die eine präsentische Erzählung zulassen: innere Monologe und objektive Beobachtungen eines Geschehens (vgl. Fleischman 1990: 306). Beiden Typen, die sie in den Ausprägungen des nouveau roman beobachtet, spricht sie aber zugleich den narrativen Charakter ab (vgl. Fleischman 1990: 285). Ein Roman, der durchgehend ein innerer Monolog ist (Beispiele: Butor (1957): La Modification oder Simon (1960): La route des Flandres), nähert sich Fleischman (1990) zufolge dem „lyrischen Sprechen“ im Sinn von Weich (1998) an. Eine Erzählung, in der diegetische Ereignisse hingegen durchgängig von innen, origo-inklusiv betrachtet und ebenso vermittelt werden, in der Sehen und Sprechen vermeintlich synchron verlaufen und in der Beschreibungen die Oberhand über Ereignisse gewinnen (Beispiel: Robbe-Grillet La Jalousie (1957)), ähnelt einer kotemporalen Berichterstattung über ein aktuelles, gegenwärtiges und fortlaufendes Ereignis („current reports“) (vgl. Fleischman 1991b: 91-92). Texts that rely on the PR [ ESENT ] tense are texts that in different but not dissimilar ways have moved away from the narrative prototype toward the monologic (lyric) or dialogic (drama) genres, whose unmarked tense is likewise the PR . In so doing these texts privilege a METALINGUISTIC function of the PR , which [...] according to my theory of tense and narrativity, is to announce a language that cannot be narrative according to the rules of narrative’s own game. (Fleischman 1990: 310) Angesichts der thematischen und inhaltlichen Heterogenität und enormen Vielfalt an Romanen, die besonders ab Mitte der 1990er-Jahre das (narrative) Präsens als Leittempus selegieren, überzeugt die von Fleischman vorgeschlagene Engführung nicht. Betrachtet man exemplarisch den Roman O Delfim (1968) von José Cardoso Pires oder den Debütroman Crazy (1999) von Benjamin Lebert, besteht kein Zweifel an der narrativen Progression der Erzählung, im Fall des portugiesischen Romans sogar mit mehreren Erzählsträngen. Somit ist auch Fleischmans Deutung des Präsens als Leittempus in Romanen als eine Aussage über die Sprache des Textes, der damit dem Adressaten signalisiert „this is not a narrative“ (Fleischman 1991b: 93), hinfällig. Sieht man einmal von Fleischmans (1990) thematischer Restriktion ab, so erweist sich ihr Erklärungsansatz für einen Wandel des Erzähltempus mittels der Entwicklungen der narrativen Diskurstradition im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowohl aus theoretischer als auch aus methodischer Sicht als problematisch. Bereits eine genaue Betrachtung der Vielfalt an Romanen, die das Präsens als Erzähltempus aufweisen, lassen jeden Versuch unzulänglich erscheinen, das narrative Präsens als eine Folge eines massiven Einbruchs von Mündlichkeitsmerkmalen in das Medium der Schriftlichkeit zu deuten. Das Kapitel wird daher mit der Klärung der Frage abschließen, ob die neueren Romane im (narrativen) Präsens eine stärkere Affinität zum Pol der Nähesprachlichkeit aufweisen. 218 9.1.1 Das Dilemma der ‘historischen Mündlichkeitsforschung’ Wie Zeman darlegt, bereitet der Begriff Mündlichkeit bereits bei synchronen Sprachbetrachtungen Probleme, da er nicht prototypisch, wie in der Forschung üblich, mit gesprochener Sprache gleichgesetzt werden darf (vide Zeman 2010: 18). Gleichzeitig erweist sich die Heterogenität der Kriterien, die zur Einstufung eines sprachlichen Phänomens als mündlich herangezogen werden, als problematisch, da eine Vielfalt an Erscheinungen auf unterschiedlichen Zugriffsebenen als Merkmale der vermeintlichen ‘Mündlichkeit’ gedeutet werden. Eine rein mediale Definition versagt angesichts des kontinualen Übergangs von kommunikativer Nähe zu kommunikativer Distanz im Sinn von Koch/ Oesterreicher (1985; 1990; 2007a; 2011) und der grundsätzlichen Möglichkeit, den Diskurs entgegen den medial determinierten Erwartungen zu strukturieren. In bestimmten Kontexten ist es sogar notwendig, Kommunikationsprofile zu erstellen, die von der medialen Prototypik abweichen, beispielsweise bei der Konzeptualisierung eines medial oralen Vorstellungsgesprächs (vgl. konzeptionelles Relief des Vorstellungsgesprächs in: Koch/ Oesterreicher 2011: 9). Eine Suche nach systemlinguistischen Differenzen zwischen gesprochener und geschriebener Sprache erweist sich dadurch als äußerst schwierig und führt zur Infragestellung eines Konzepts der ‘gesprochenen Sprache’. Fiehler betont explizit, dass diese ‘an sich’ nicht existiere und bestenfalls in Form unterschiedlicher Praktiken und als Abstraktion fassbar sei (vgl. Fiehler 2000: 103; Zeman 2010: 19). Angesichts der Problematik des Konzepts ‘Mündlichkeit’ in der gegenwärtigen synchronen Sprachbetrachtung lässt sich erahnen, wie problematisch der Begriff in Bezug auf retrospektive Betrachtungen von Sprache ist. Hier kommt nämlich erschwerend hinzu, dass man weder direkten Zugang zu gesprochener Sprache noch zu dem jeweiligen Beziehungsgefüge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit hat, welches in diachroner Perspektive konstanten Modifikationen ausgesetzt ist (vgl. Hennig 2007: 1). Eine Erfassung ‘historischer Mündlichkeit’ erweist sich folglich sowohl aus theoretischer als auch aus methodischer Sicht als äußerst schwierig (vgl. Zeman 2010: 20). Hinzu kommt, dass die der Vergangenheit angehörigen, nichtelaborierten Formen der primären Mündlichkeit unwiderruflich verloren sind, weil sie per definitionem nicht tradierbar sind, wie Koch/ Oesterreicher (1985: 31) festhalten. Ein zentrales Problem bei der Rekonstruktion der ‘historischen Mündlichkeit’ besteht auch in der Verschränkung zwischen Phänomenen, die typisch für die mediale Oralität (z.B. mnemonische Techniken) sind, und Phänomenen, die konkrete Indizien der konzeptionellen Nähesprache sind (z.B. Satzabbrüche und Reparaturmechanismen) und die in Bezug auf ältere 219 Sprachstufen nicht immer eindeutig zugewiesen werden können. 143 Eine klare Unterscheidung zwischen Merkmalen, die durch das Medium und die Konzeption determiniert sind, ist jedoch unabdingbar (vgl. Zumthor 1987), wie sich bei den Epen zeigt und wie bereits aus dem folgenden Zitat von De Mauro (1970) hervorgeht: In realtà, tanto l’uso scritto quanto il parlato possono oscillare tra uso formale e uso informale della lingua: queste due nozioni, meno note e adoperate delle nozioni di ‘lingua scritta’ e ‘lingua parlata’, meritano forse una più attenta considerazione. 144 (De Mauro 1970: 176) So stellen Epen eine Diskurstradition dar, die medial mündlich ist; sie weisen folglich typische Charakteristika von ‘Oralität’ auf. Gleichzeitig sind sie aber hochgradig elaboriert und besitzen aus konzeptioneller Sicht auch zahlreiche sprachliche Erscheinungen, die sie näher am Distanzpol als am Nähepol situieren (vgl. Zeman 2010: 23). Ein Beispiel für die hochgradige stilistische Elaboriertheit der Texte stellen die Formeln als Versatzstücke dar (formulaic style). In Bezug auf die ‘historische Mündlichkeit’ ist es wichtig festzuhalten, dass die diachrone Linguistik bemüht ist, Informationen über die Nähesprache älterer Sprachstufen durch den Rückgriff auf die sogenannten Sprachdenkmäler zu erschließen (vgl. für die romanischen Sprachen Tagliavini 1998: 160-176, §46). Dies sind Texte aus der mehr oder weniger nähesprachlichen Kommunikation, die jedoch medial schriftlich festgehalten sind. Es kann folglich nicht von Oralität im engeren Sinn gesprochen werden, da wir nur zu schriftlich überlieferten, abgedruckten Formen Zugang haben (vgl. Koch/ Oesterreicher 1985: 18; Untermann 1995: 94). Der Medienwechsel (vgl. medium-transferability 145 in: Koch/ Oesterreicher 2007b: 349) veranlasst bereits diverse Veränderungen in Form von Korrekturen, Anpassungen und Modifikationen und ist mit einer erhöhten Elaboriertheit verbunden. Die schriftliche Fixierung ermöglicht uns lediglich einen ‘gefilterten’ und folglich ‘korrumpierten’ Zugang zu den sprachlichen Daten der gesprochenen Sprache älterer Sprachstufen (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 4). 143 Diese grundsätzliche Verschränkung bildet den Ausgangspunkt für das Modell des Nähe-Distanz-Kontinuums von Koch/ Oesterreicher (1985: 23). Es greift die von Söll getroffene und als notwendig postulierte Unterscheidung zwischen Medium und Konzeption (vgl. Söll 1985 [1974]: 17-25) auf und stellt das Spannungsfeld zwischen dem Medium der Realisierung (phonisch versus graphisch) und der Konzeption einer Äußerung (geschrieben versus gesprochen) dar (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 3-4 und 14). 144 ‘In Wirklichkeit können sowohl der schriftliche als auch der mündliche Gebrauch zwischen formellem und informellem Gebrauch der Sprache oszillieren: Diese zwei Konzepte sind weniger bekannt und gebräuchlich als diejenigen der ‘geschriebenen Sprache’ und der ‘gesprochenen Sprache’ und verdienen vielleicht mehr Aufmerksamkeit’. 145 Zum Begriff der medium transferability siehe Lyons (1981: 11). 220 Diese Methode der Arbeit mit den ältesten Sprachdenkmälern ermöglicht es zwar, vereinzelte, für die Nähesprache charakteristische Phänomene herauszuarbeiten, gibt dabei jedoch keine Aufschlüsse über die exakte Relevanz innerhalb des Spannungsfeldes von medialer und konzeptioneller Mündlichkeit der betrachteten Zeit. Für eine derartige Bewertung fehlt uns der Zugriff auf das Beziehungsgefüge von Mündlichkeit und Schriftlichkeit der betreffenden Epochen (vgl. Hennig 2007: 1). Die jeweilige historische Bedingtheit von ‘Mündlichkeit’ ist bei einer retrospektiven Betrachtung nicht ermittelbar, wodurch der eigentliche Forschungsgegenstand ein Konzept ist, das heterogene sprachliche Phänomene umfasst. Diese manifestieren sich auf unterschiedlichen Zugriffsebenen, bei denen eine Trennung von universalen und historischen nähesprachlichen Phänomenen nicht getroffen werden kann, wie Zeman (2010) zeigt. Auch Faktoren der Markierung innerhalb des Diasystems können bei einer solchen retrospektiven Betrachtung nur marginal ermittelt und damit nicht mit der erforderlichen Sorgfalt getrennt werden. Dies macht die Annahmen einer eigenen Ebene ‘Nähe/ Distanz’ für Erscheinungen, die im Sinne von Koch/ Oesterreicher (2011: 17) charakteristisch für die ‘gesprochene Sprache’ sind, erforderlich. Ein Grund hierfür ist zum Beispiel die starke Affinität der gesprochenen Sprache zur diatopischen Markierung. Den einzigen Zugriff auf diatopische Markierungen, die als solche relativ eindeutig zugeordnet werden können, liefern uns vereinzelte Reden in den Komödien von Plautus und Terenz (ca. 200 v. Chr.), die Satiren von Horaz (ca. 30 v. Chr.) oder die berühmte Szene vom „Gastmahl des Trimalchio“ in Petrons Satyricon (60 n. Chr.), wo sich betrunkene Freigelassene unterhalten und dementsprechend diastratische und diatopische Merkmale der Nähesprache in ihre Reden eingeflossen sind (vgl. Müller-Lancé 2006: 63). Und auch diese sprachlichen Merkmale müssen als Mittel zur Stilisierung von sozialen Prototypen gesehen und dürfen nicht mit ‘natürlicher Spontansprache’ verwechselt werden. Bei Ciceros Epistulae ad Atticum, den Briefen an seinen Freund und Verleger Atticus (ca. 60 v. Chr.), hingegen herrscht zwar große Vertrautheit zwischen den Kommunikationspartnern, was eine Affinität des Schreibstils zur Nähesprache auf diaphasischer Ebene motiviert, eine starke diatopische Markierung und eine niedrige diastratische Markierung sind dagegen wohl aufgrund des hohen Bildungsgrades der Kommunikationspartner weitestgehend auszuschließen. Bei den Beispielen für Nähesprache aus der Literatur, die in der Forschung als Quellen des Vulgärlateins unter den Begriffen „Autoren (vor- )klassischer Zeit“ (vgl. Müller-Lancé 2006: 63) oder „lateinische Autoren“ (vgl. Kiesler 2006: 35-36; Tagliavini 1998: 161-163) aufgegriffen werden, handelt es sich vorwiegend um figurale Charakterisierungen. Diese werden mittels prototypischer diastratischer beziehungsweise diatopischer Markierungen oder unter Kennzeichnung ihrer geografischen Herkunft als einer bestimmten Volksschicht zugehörig ausgezeichnet. Es handelt sich dabei jedoch um stilisierte Phänomene, die als prototypisch für gewisse markierte 221 Redensarten erachtet wurden und von denen man sich erhoffte, sie würden es dem zeitgenössischen Publikum ermöglichen, die jeweilige soziale Zugehörigkeit der Figuren zu erkennen. Beziehungsweise handelt es sich um Phänomene, die aufgrund ihrer Markiertheit einen komischen Effekt erzeugen sollten. Die Repräsentativität jener Markierungen muss jedoch vor dem Hintergrund einer fingierten Mündlichkeit im Sinne von Goetsch (1985) betrachtet werden. Ihr linguistischer Wert ist selbst bei der Untersuchung gegenwärtiger sprachlicher Phänomene äußerst fragwürdig, da man lediglich ein Bündel an prototypischen sprachlichen Merkmalen selegiert, die besonders auffällig sind, die jedoch nicht die mundartliche Redeweise in ihrer vollen Komplexität wiedergeben. Außerdem ist es retrospektiv sehr schwer zu entscheiden, welche sprachlichen Merkmale integriert wurden, um diatopische Einfärbung zu schaffen, und welche, um den Dialog vermeintlich als gesprochensprachlich zu charakterisieren. Wie Zeman (2010) in Bezug auf das Versepos hervorhebt, muss man hierbei auch berücksichtigen, dass sich insgesamt die dialogischen Passagen von ihrer Elaboriertheit her nicht wesentlich von den nicht-dialogischen Passagen fiktionaler literarischer Werke unterscheiden: Der Dialog unterscheidet sich in Bezug auf seine Eignung zur Untersuchung „Historischer Mündlichkeit“ nicht von den übrigen Textpassagen, da dem gesamten Versepos die gleichen Rezeptions- und Produktionsbedingungen als Voraussetzung zugrunde liegen. (Zeman 2010: 32) Diese Einsicht kann durchaus verallgemeinert und auf Romane und sämtliche andere fiktionale Diskurstraditionen übertragen werden (vgl. Goetsch 1985: 213-214). Selbst vermeintlich dialogische Passagen in gewissen Diskurstraditionen der Unterhaltungspresse oder in der Berichterstattung in Tageszeitungen weisen einen identischen konstruierten und elaborierten Charakter auf. Die wichtigste allgemeine Aufgabe fingierter Mündlichkeit ist nicht die Integration einzelner Merkmale der gesprochenen Sprache in den geschriebenen Text und auch nicht die Kritik an der Schriftlichkeit, sondern die Herstellung der Illusion einer Sprache der Nähe. [...] [S]chriftliches Erzählen [strebt] nämlich nicht danach, den Leser durch einen hohen Reflexions- oder Abstraktionsgrad, durch Objektivität oder durch logische Argumente zu überzeugen. Vielmehr will es den Leser zur Lektüre bewegen, ihn fesseln, seine Phantasietätigkeit anregen und ihm Identifikationsangebote machen. Vor allem will es ihn zur Konstituierung der Erzählwelt im Akt des Lesens auffordern. (Goetsch 1985: 217-218) Bei Texten aus älteren Sprachstufen kommt erschwerend hinzu, dass im Kontext von Massenmedien und globaler Mobilität der Zugang zu diasystematischen und besonders diatopischen Varietäten ein anderer ist als er im Mittelalter war, wo die meisten Menschen kaum jemals die Grenzen ihres Dorfes oder ihrer Stadt überschritten. Dennoch bleiben diese Möglichkeiten wohl der einzige und beste Zugriff, den die diachrone Linguistik auf nähesprachliche Phänomene älterer 222 Sprachstufen hat. Der Erkenntnisgewinn hinsichtlich einer differenzierten Bewertung von ‘Mündlichkeit’ ist jedoch eher gering, da diasystematische Phänomene nicht in derselben Schärfe herausgefiltert werden können wie bei synchronen Betrachtungen der zeitgenössischen Sprache, wo ein Zugriff auf das Beziehungsgefüge von Mündlichkeit und Schriftlichkeit gegeben ist. Eine solche Differenzierung erweist sich als operativ unabdingbar, da die Dimension ‘gesprochen/ geschrieben’ im Sinn von Koch/ Oesterreicher innerhalb der Varietätenkette neben diaphasischer, diastratischer und diatopischer Dimension der Varietäten einer Einzelsprache (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 15) eine eigenständige Dimension bildet. Der Grund hierfür: Eine adäquate Modellierung des einzelsprachlichen Varietätenraums erfordert die Berücksichtigung eigenständiger Phänomene einer Varietätendimension ‘gesprochen/ geschrieben’, die dort vorliegt, wo man für sprachliche Erscheinungen keine der drei diasystematischen Markierungen ansetzen kann, und die man lediglich durch die Kommunikationsbedingungen der Nähe erklären kann: (149.a) frz. Je ne l’ai pas lu, le livre. (149.b) sp. No lo he leído el libro. (149.c) port. N-o o li, o livro. (149.d) dt. Ich habe es nicht gelesen, das Buch. (149.e) eng. I haven’t read it, the book. (Beispiele (149.a) und (149.b) aus: Koch/ Oesterreicher 2011: 16) Daraus ergibt sich folgende Modellierung für den einzelsprachlichen Varietätenraum zwischen Nähe und Distanz nach Koch/ Oesterreicher (1990: 15): Abbildung 13 - Der einzelsprachliche Varietätenraum zwischen Nähe und Distanz (nach Koch/ Oesterreicher 2011: 17, leicht modifiziert) Koch/ Oesterreicher weisen bei ihrer Modellierung der Varietätenkette für eine historische Einzelsprache darauf hin, dass die drei diasystematischen 223 Varietätendimensionen nicht zusammenhanglos nebeneinander stehen, sondern dass zwischen den Dimensionen der Sprachvarietäten gerichtete, unidirektionale Beziehungen bestehen (im Schema durch Pfeile markiert) (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 16). Außerdem betonen Koch/ Oesterreicher, dass die Varietätendimension ‘gesprochen/ geschrieben’ als Endpunkt der Varietätenkette Elemente aller drei anderen diasystematischen Dimensionen sekundär aufnehmen kann (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 17). Diese Einsicht stellt die historische Mündlichkeitsforschung vor enorme Schwierigkeiten, da eine sorgfältige Differenzierung zwischen diasystematischer Markierung und Charakteristika der konzeptionellen Mündlichkeit bei einer retrospektiven Betrachtung älterer Sprachstufen nahezu unmöglich ist. Um jedoch den ausschließlich mündlichen Charakter im konzeptionellen Sinn einer Erscheinung wie im Beispiel (149) zu erfassen, muss die Möglichkeit einer primären diasystematischen Markierung ausgeschlossen werden können. Ein direkter Zugriff auf ‘historische Mündlichkeit’ bleibt bei retrospektiven Betrachtungen somit verwehrt. Hinzu kommt, dass Merkmale wie Stilisierung, Elaboriertheit und Konventionalisierung ebenfalls nicht eindeutig von den Merkmalen der Mündlichkeit zu trennen sind, wie Zeman in eindrucksvoller Weise herausarbeitet (vgl. Zeman 2010: 21-29). Diese kritische Einschätzung soll keineswegs die Relevanz der Erforschung der ‘historischen Mündlichkeit’ in Frage stellen, die im Hinblick auf die Genese der romanischen Sprachen von großer Bedeutung ist (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 135-142). Bei dem in Kapitel 6.2 vertretenen Erklärungsansatz zur Entstehung der romanischen Einzelsprachen ist es methodisch nicht erforderlich, zwischen den Zugriffsebenen von ‘oralen’ und ‘gesprochensprachlichen’ Erscheinungen grundsätzlich zu unterscheiden. Eine Integration beider Elemente ist durchaus legitim. Die ältesten Sprachdenkmäler umfassen in der Regel durch mangelnde Schreibkompetenz der Verfasser bedingte Glossen und Korrekturen, teils jedoch auch Hyperkorrekturen und Fehler. Dabei handelt es sich vorwiegend um konzeptionell determinierte Phänomene, also um Einflüsse dessen, was unter der Abstraktion ‘gesprochene Sprache’ subsumiert werden kann. Des Weiteren schlagen auch aus diesem Grund Koch/ Oesterreicher (1985) den Begriff Nähesprache vor, der determiniert, dass die Phänomene, die als ‘nähesprachlich’ kategorisiert werden, typisch für Situationen der sprachlichen Kommunikation sind, in denen gewisse Kommunikationsbedingungen gegeben sind (vide Koch/ Oesterreicher 2011: 7). Diese Bedingungen ermöglichen es, die kommunikative Situation, in der das sprachliche Phänomen auftritt, als kommunikative Nähe zu definieren, sowohl was die diasystematischen Markierungen als auch was die Bewertung konzeptionell und medial [+ MÜNDLICH ] betrifft. Die Zuordnung hängt dann jeweils von dem Zusammenspiel der diversen Parameter ab. Deswegen ist eben eine ‘Predigt’ medial [+ MÜNDLICH ], aber konzeptionell [- MÜNDLICH ] und folglich der kommunikativen Distanz zuzuordnen, obwohl die relative Situierung näher 224 am Pol der kommunikativen Nähe ist als beispielsweise bei wissenschaftlichen Vorträgen (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 13). Bei der Erklärung der Genese der romanischen Sprachen wird lediglich die Dominanz nähesprachlicher Besonderheiten in der Entwicklung sowohl auf grammatikalischer als auch auf lexikalischer Ebene hervorgehoben, was oftmals auch zur irrtümlichen Gleichsetzung von Vulgärlatein mit gesprochenem Latein der kommunikativen Nähe geführt hat (vgl. Müller-Lancé 2006: 58 und Kap. 6.2). 9.1.2 Die Unzulänglichkeit der Reoralisierungshypothese als Erklärungsansatz für das narrative Präsens Fleischmans (1990) Reoralisierungshypothese beruht auf der Auffassung, dass aufgrund des Primats der gesprochenen Sprache im Mittelalter die sprachliche Struktur der damaligen Gesellschaft grundsätzlich von der Nähesprachlichkeit geprägt gewesen sei (vgl. Fleischman 1990: 22), weshalb auch schriftliche Texte im ‘Duktus der Mündlichkeit’ stünden. Die Voraussetzung eines Duktus der Mündlichkeit in einer nicht-literalisierten Gesellschaft impliziert jedoch ein grundlegendes Problem der Operationalisierbarkeit dieses Konzeptes der ‘Mündlichkeit’ bei der Erklärung grammatischer Phänomene, auf das Zeman (2010) hinweist. Wenn die Sprache innerhalb einer nicht-literalisierten Kultur durch eine allgemeine orale Durchdringung geprägt ist, ist eine Isolierung mündlicher Merkmale untersagt, da es nicht möglich ist, die ‘mündlichen’ Strukturprinzipien herauszukristallisieren. Dies wäre jedoch erforderlich, um eine ‘Reoralisierungstheorie’ im Sinne von Fleischman (1990 und 1991b) rechtfertigen zu können (vgl. Zeman 2010: 22). Fleischman (1990 und 1991b) versäumt es, Evidenzen zu liefern, wie sie zu der Einsicht gelangt ist, dass die Textstrukturierung mittelalterlicher Texte entscheidend durch das Muster der damaligen gesprochenen Sprache determiniert war. Dies jedoch wird präsupponiert bei einer Analogiesetzung zu einer Verschiebung des Romans im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Richtung des Pols der Nähesprachlichkeit als determinierenden Grund für die Wahl des Präsens als Leittempus im Sinn von Fleischman (1990). Angesichts der bisher aufgezeigten Probleme bezüglich der ‘historischen Mündlichkeit’ als Forschungsgegenstand ist es wichtig festzuhalten, dass ein ganzheitliches Konzept sowohl ‘orale’ als auch ‘gesprochensprachliche’ Elemente umfassen muss, da sich diese methodisch bei diachronen Betrachtungen nicht voneinander trennen lassen. Dennoch muss bei der Auffassung von ‘historischer Mündlichkeit’ als ‘gesprochene Sprache’ zwischen der Zugriffsebene der ‘Oralität’ und der ‘Mündlichkeit’ im Hinblick auf die Diskurstraditionen der ‘elaborierten Mündlichkeit’ unterschieden werden, die sich nicht einfach als medial fonisch und konzeptionell distanzsprachlich einstufen lassen. Das zeigt Zeman (2010: 23) am Beispiel der Versepen. Die oralen Merkmale umfassen demzufolge Phänomene, „die auf die historisch 225 bedingten Produktions-, Performanz- und Rezeptionsbedingungen zurückgeführt werden können“ (Zeman 2010: 23) und auf der sprachlichen Ebene nicht durch die Kommunikationssituation determiniert werden. Die Zugriffsebene der ‘Mündlichkeit’ umfasst die konkreten ‘gesprochensprachlichen’ Elemente. Ein Versepos erweist sich demzufolge aufgrund seiner Reim- und Versstruktur und des allgemeinen Formelgehalts als grundsätzlich oral ‘geprägt’ (= mnemonische Techniken 146 ). Gleichzeitig spricht aber genau die dadurch erzielte hochgradige Elaboriertheit und die komplexe stilistische Konstruktion gegen eine Bewertung der Versepen als ‘mündlich’ (vgl. Zeman 2010: 23). Sowohl beim Rolandslied als auch bei dem Poema de Mio Çid handelt es sich um Verschriftungen medial mündlicher Texte, sogenannter mündlicher Dichtung 147 , die jedoch für einen medial fonischen Diskurs aufgrund ihrer Formelhaftigkeit einen hohen Grad an Elaboriertheit aufweisen, (Beispiele: in Bezug auf den Çid „el que en buen ora çinxo espada“ (Çid, v. 78) (‘der zu guter Stunde sein Schwert gegürtet hat’) oder „el de la luenga barba“ (Çid, v. 1226) (‘der mit dem langen Bart’), etc.), weswegen man von einer ‘elaborierten Mündlichkeit’ im Sinn von Koch/ Oesterreicher (2007b: 357) sprechen muss. Die Distanzdiskurse […] funktionieren auf Grund der medialen Vorgabe ganz anders als in schriftlichen Kulturen, heben sich jedoch zugleich, z.B. auf Grund ihrer Formelhaftigkeit, deutlich von den Nähediskursen des Alltags ab. (Koch/ Oesterreicher 2007b: 357) Das Beispiel der Diskurstradition des Epos mit seinen „Spuren distanzsprachlicher, elaborierter Mündlichkeit“ (Koch/ Oesterreicher 1985: 30) belegt in sehr einleuchtender Weise die von Zeman hervorgehobene Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen ‘Oralität’ und ‘Mündlichkeit’ und verdeutlicht, weswegen nicht jeder ‘mündliche’ Text für Rekonstruktionsversuche der gesprochenen Sprache herangezogen werden kann (vgl. Zeman 2010: 23). Diese Einsicht ist im Hinblick auf unsere einleitende Frage von Bedeutung, weil Epen aus konzeptioneller Sicht näher am Distanzpol als am Nähepol im Nähe-Distanz-Kontinuum (vide Koch/ Oesterreicher 2011: 13) situiert sind. Bei der Annahme einer Orientierung am Duktus der Mündlichkeit in der modernen Gesellschaft läge jedoch eine Verschiebung der Diskurstradition Roman innerhalb des Nähe-Distanz-Kontinuums in Richtung des nähesprachlichen Pols vor. Es handelt sich folglich um unterschiedliche und nicht vergleichbare Phänomene. Auch die herausgearbeiteten Eigenschaften der Präsensverwendungen in mittelalterlichen 146 Daneben sind auch Wiederholungen, Rhythmus und Melodie sprachliche Mittel, die der Memorisierung in Gedächtniskulturen dienen, und die charakteristisch für Gesellschaften primärer Mündlichkeit sind (Koch/ Oesterreicher 1985: 30). 147 Der Begriff entspricht einer Übersetzung von Walter Ongs Terminus oral poetry, der aus ontogenetischer Sicht adäquater als mündliche Literatur (oral literature) erscheint. 226 Epen und in den neueren präsentischen Romanen vor allem auf syntaktischer Ebene zeigen, dass es sich wegen der funktionalen Unterschiede des Präsens auch aus semantischer Sicht um grundsätzlich unterschiedliche Phänomene handelt. Angesichts der unterschiedlichen Richtungen möglicher Verschiebungen der relativen Positionierung innerhalb des Nähe- Distanz-Kontinuums ist jedoch jegliche Entwicklungsanalogie grundsätzlich ausgeschlossen. Fleischmans Hypothese des Präsens als Leittempus in zeitgenössischen Romanen als Epiphänomen einer ‘Reoralisierung’ erweist sich demzufolge als nicht haltbar, da sie auf einer mangelnden Berücksichtigung der konzeptionellen Profile mittelalterlicher Epen und der damit verbundenen sprachlichen Implikationen beruht. Davon abgesehen ist insgesamt der in der Forschung durchaus verbreitete und für die Erklärung zahlreicher sprachlicher Phänomene fruchtbar gemachte Terminus Reoralisierung unglücklich gewählt und methodisch außerordentlich problematisch. Denn er evoziert fälschlicherweise eine Assoziation mit dem Medium und impliziert eine Metapher der ‘Rückkehr’, die irreführend ist, wie Oesterreicher (1993: 283) festhält. Außerdem wurde das Konzept der ‘Reoralisierung’ auf unterschiedliche Diskurstraditionen angewandt, ohne dabei die allgemeine Problematik der ‘historischen Mündlichkeit’ ausreichend zu reflektieren und meistens ohne die konzeptionellen und medialen Aspekte in Hinblick auf eine Vergleichbarkeit ausreichend zu berücksichtigen. So wurde die Aussage, unsere Gesellschaft orientiere sich zunehmend wieder am Duktus der gesprochenen Sprache (= ‘Reoralisierung’) zu wenig im Hinblick auf die Komplexität der damit verbundenen Implikationen betrachtet. Denn selbst wenn sich die Schriftlichkeit wieder stärker am Duktus der Mündlichkeit orientierte (= ‘Schreiben im Duktus der Mündlichkeit’; vgl. Schlieben-Lange 1983: 81), so wäre das Ergebnis keine primäre Mündlichkeit wie im Mittelalter, wo der gesamte Bereich der grafischen Realisierung fehlte beziehungsweise im Fall der romanischen Sprachen durch das Lateinische ausgefüllt wurde, zu welchem aber nur eine kleine gesellschaftliche Elite Zugang hatte. Das Ergebnis wäre vielmehr eine sekundäre Mündlichkeit mit einem Bewusstsein für Schriftlichkeit im konzeptionellen Sinn und mit deren Implikationen. […] I style the orality of a culture totally untouched by any knowledge of writing or print, ‘primary orality’. It is ‘primary’ by contrast with the ‘second orality’ of present-day high-technology culture, in which a new orality is sustained by telephone, radio, television, and other electronic devices that depend for their existence and functioning on writing and print. Today primary oral culture in the strict sense hardly exists, since every culture knows of writing and has some experience of its effects. (Ong 2002: 11) Eine Rückkehr zu einer weiträumigen oder gar flächendeckenden dominanten oralen Kultur mit den dadurch determinierten Denkmustern und Gedankenstrukturen (vide Ong 2002: 94), die vergleichbar mit der 227 mittelalterlichen wäre, erscheint demzufolge aus heutiger Sicht undenkbar, obwohl es Ongs Einschätzung zufolge immer noch hunderte von Sprachen gibt, die nicht verschriftlicht sind (vgl. Ong 2002: 7). Abschließend ist Fleischmans (1990) Hypothese noch entgegenzuhalten, dass das Präsens in seiner charakteristischen Gebrauchsweise in narrativen Erzähltexten als ‘aoristisches Präsens’ bereits in antiken lateinischen Texten dokumentiert ist. Ein Beispiel sind die narrativen Berichte von Gaius Julius Caesar, besonders De Bello Gallico (vide 6.1.2), einem sowohl medial als auch konzeptionell schriftlichen beziehungsweise distanzsprachlichen Werk, wie der Gebrauch des klassischen Lateins im Stil der Goldenen Latinität belegt. Die angenommene Beschränkung des Phänomens auf die gesprochene Sprache kann demzufolge ausgeschlossen werden. 9.1.3 Der ‘Untergang’ des aspektuellen, aoristischen Präsens im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit Die hier vorgenommene Beschreibung des Präsens als Erzähltempus in antiken und mittelalterlichen Texten bestätigt die Hypothese von Leiss (2000), die das Präsens im Altisländischen als ein aspektuelles Präsens sieht, genauer als ein aoristisches Präsens. Dies gilt auch für das Lateinische (vgl. Oldsjö 2001) und die älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen. Der ‘Untergang’ des aoristischen Präsens ist nach den herausgearbeiteten Evidenzen als eine Folge der Entwicklung eines stärker aspektuellen Verbalsystems im Lateinischen zu einem stärker temporalen System in den romanischen Sprachen zu verstehen (vgl. Fleischman 1982: 12; Penny 2009: 163). Der Zusammenbruch des Aspektsystems liefert folglich die Erklärung für das Verschwinden dieses einstmals so produktiven Präsenstyps mit seinen Merkmalen [+ PERFEKTIVITÄT ] und [+ VERGANGENHEITSBEZUG ]. Die temporale Reanalyse des analytischen Perfekts folgt ebenfalls aus dem Zusammenbruch des Aspektsystems, wie in Kapitel 6.4 gezeigt wurde. Im Fall der romanischen Sprachen ging dieser Umbruch des Verbalsystems mit der Überführung der Sprachen in das schriftliche Medium einher. Die Schriftlichkeit hat den Prozess der temporalen Reanalyse wohl ermöglicht und vermutlich bis zu einem gewissen Grad beschleunigt, hat ihn jedoch nicht notwendigerweise zur Konsequenz. So ist auch kein eindeutiger enger Zusammenhang nachweisbar, aber der relativ plötzliche Abbruch der Belege des aspektuellen, aoristischen Präsens deutet darauf hin, dass das aspektuelle Präsens im Rahmen der Regularisierungsprozesse, die zur Ausbildung eigener grammatischer Kategorien der romanischen Sprachen aus den Kategorien der lateinischen Grammatik geführt haben, endgültig ‘unterging’. Diese Regularisierungsprozesse gingen mit dem Prozess der Verschriftlichung einher. Der mit dem Aufkommen der Schriftlichkeit verbundene wesentliche Umbruch war die Modifikation der Referenzstrukturen und die Notwendigkeit, vieles, was vorher durch suprasegmentale 228 Information kodiert und durch nonverbale Zeichen ausgedrückt worden war, sprachlich zu kodieren, um dieselbe Perspektive - in unserem Fall auf die Ereignisse der diegetischen Welt - zu erzeugen. Dies entspricht den medial bedingten Versprachlichungsstrategien nach Koch/ Oesterreicher (2011: 10-14), um den Mangel an Informativität zu kompensieren, der mit der Verschriftung von mündlich vorgetragenen Texten einherging. Diese Versprachlichungsstrategien, die zu mehr Explizitheit auf segmentaler Ebene in der geschriebenen Sprache führen, entsprechen wiederum dem intensiven Ausbau der (romanischen) Sprachen (vgl. Koch/ Oesterreicher 2008b: 2585-2586) (vgl. Kapitel 6.2). Die Herausbildung der gesamten Kompensationsstrategien umfasst das, was Oesterreicher (1993) als Verschriftlichungsprozess definiert. Dies widerlegt auch Ansätze, die davon ausgehen, dass literalisierte Sprachkulturen komplexere Sprachen aufweisen als Sprachen in Gesellschaften primärer Mündlichkeit. Die grammatischen Funktionen werden lediglich teilweise durch das Zusammenspiel von sprachlichen und parasprachlichen kommunikativen Mitteln realisiert 148 . Es handelt sich dabei jedoch um die punktuelle Herausbildung funktionaler Äquivalente für grammatische Funktionen, die durchaus existierten, jedoch im fonischen Medium nicht zusätzlich sprachlich kodiert werden müssen. Das sind Grammatikalisierungsprozesse, die durch den Medienwechsel und den damit verbundenen Verlust an räumlicher Unmittelbarkeit hinsichtlich des Adressaten ausgelöst werden. Der kommunikative Verlust an ‘Präsenz’ und ‘Lebendigkeit’, der den nähesprachlichen Kontext des Gebrauchs der romanischen Sprachen charakterisiert, führt zur Herausbildung von Kompensationsstrategien für die Textproduktion in medialer Schriftlichkeit (vgl. Oesterreicher 2008b: 210). Demzufolge kann die Verschriftlichung der romanischen Sprachen zwar nicht als auslösender ‘Motor’ für den Sprachwandel im Bereich des Verbalsystems betrachtet werden, aber dieser mediengeschichtliche Prozess förderte die syntaktische Präzision und Integration, wie Koch/ Oesterreicher (1994: 591) festhalten. Das bewirkte unter anderem eine Regularisierung von Tempus und Modusgebrauch, zum Beispiel die Entwicklung des Plusquamperfekts oder des ‘haben’-Perfekts in den romanischen Sprachen. Die Tatsache, dass die Formen teilweise trotzdem einige Zeit in der literalisierten Gesellschaft vorkommen, lässt sich durch die Dauer bis zur Verinnerlichung der Literalität durch die Sprechergemeinschaften erklären (vgl. Ong 2002: 92-94). Der ‘Untergang’ des aoristischen Präsens ist somit im Rahmen des Zusammenbruchs des Aspektsystems und im Zusammenhang mit dem allgemeinen, sprachübergreifenden Wandel von stärker aspektuellen zu 148 In diesem Zusammenhang kann als Beispiel auf die alternativen sprachlichen Kodierungsmöglichkeiten von Abtönungsverfahren verwiesen werden, die in den romanischen Sprachen nicht durch eine eigene Wortartenklasse wie im Deutschen realisiert werden, die Modalpartikeln (vgl. Waltereit 2006). Die Intonation und die Prosodie spielen dabei in der gesprochenen Sprache eine wichtige Rolle. 229 stärker temporalen Verbalsystemen zu erklären. Bei diesem Prozess setzen sich die temporalen Lesarten durch, regularisieren sich und werden präskriptiv, während die aspektuellen Lesarten sukzessive verdrängt werden (zum Beispiel Aspekt > Tempus bei ‘haben’ + Partizip Perfekt; Untergang des aspektuellen, aoristischen Präsens). Betrachtet man die Studien aus der Indogermanistik, so herrscht dort weitestgehend Konsens, dass die wichtigste Kategorie des indogermanischen Verbs ‘Aspekt’ und nicht ‘Tempus’ war. Die räumliche Position der betrachtenden Origo und die Perspektive auf die Verbalvorgänge waren demzufolge wichtiger als die zeitliche Lokalisierung, die erst in späteren Sprachentwicklungsstufen sukzessive durch Reanalyse abgeleitet wurde. Die Auffassung über die Entwicklung der Verbalsysteme in der Indogermanistik stimmt mit der von Leiss (2000) formulierten These überein, Aspekt sei eine grundlegende Kategorie des grammatischen Systems, eine Art ‘Stützmauer’ der sprachlichen Architektonik (vgl. Leiss 2000: 25). 149 Bereits im Indogermanischen markiert Aspekt die Opposition ‘Totalität’/ ‘Nichttotalität’, weshalb als Lesart eine räumliche Lokalisierung einer temporalen zunächst vorgezogen werden muss. 150 Dies steht auch im Einklang mit der Entwicklungslogik des ATM-Komplexes (vgl. Kapitel 4.1). Im breiten Rahmen eines Erklärungsansatzes für den Zusammenbruch des Aspektsystems zugunsten eines Tempussystems spielt das Spannungsfeld Mündlichkeit-Schriftlichkeit durchaus eine wichtige Rolle. Denn das Aufkommen von Schriftlichkeit löste allgemein einen mentalitätsgeschichtlichen Wandel aus (vgl. Schaefer 1996: 50ff.). Die Schrift macht es dem Menschen erst möglich, sich mit seinen eigenen Gedanken auseinanderzusetzen und sich gleichermaßen als Subjekt und als Objekt zu erfahren. Zugleich werden Wörter in ihren Bedeutungen stärker verfügbar gemacht und dadurch ‘objektiviert’ (vgl. Schaefer 1996: 51). Die damit verbundene ‘Objektivierung’ und ‘Distanzierung’ begünstigen das Aufkommen von literarischer ‘Fiktionalität’, wie Schaefer (1996) darstellt. Sowohl beim mentalitätsgeschichtlichen Wandel als auch bei den Veränderungen im Sprachsystem handelt es sich um Phänomene, die durch die Schriftlichkeit ermöglicht und teils begünstigt werden. Dennoch ist Vorsicht vor kurzgeschlossenen Kausalitätspostulaten geboten, wie Assmann/ Assmann (1983: 278) zu Recht betonen. Schaefer warnt unter Bezugnahme auf Assmann/ Assmann (1983) davor, dem Medium in solchen Erklärungszusammenhängen einen anderen Status als den der Bereitstellung einer Ermöglichungsstruktur zuzuschreiben 149 Zur Rolle der Kategorie Aspekt am Beispiel des Deutschen siehe Leiss (2002a und 2002b). 150 In den indogermanischen Grammatiken wird die Funktion von Aspekt meistens als ‘zeitliche Betrachtung des Verbalvorgangs in seinem Handlungsablauf’ definiert. Dennoch gibt es gute Gründe, gerade das Merkmal [+ ZEITBEZOGEN ] bei der Definition von Aspekt auszuklammern, um das grammatische Phänomen eindeutig gegenüber Tempus abgrenzen zu können (vgl. Kapitel 4.3). 230 (vgl. Schaefer 1996: 51). Den mentalitätsgeschichtlichen Wandel beeinflusst seinerseits der mediengeschichtliche Wandel, da durch das Aufkommen der Schriftlichkeit Gedanken anders strukturiert werden (vgl. Ong 2002: 94). High literacy fosters truly written composition, in which the author composes a text which is precisely a text, puts his or her words together on paper. This gives thought different contours from those of orally sustained thought. (Ong 2002: 94) Ein Aufkommen des Bewusstseins für ‘Zeitlichkeit’ scheint eng an das Aufkommen von Schriftlichkeit gebunden zu sein. Das würde erklären, warum die temporale Perspektivierung nicht dieselbe Relevanz hatte wie heutzutage (vide Ong 2002: 96-97). Sprachlich drückt sich dies in einer räumlichen Perspektivierung aus, bei der Handlungen hinsichtlich ihres Verlaufs von einer Innen- oder Außenperspektive betrachtet werden (= Aspekt). Natürlich waren auch temporale Lokalisierungen im gleichen Umfang wie heute möglich, das Verbalsystem war jedoch nicht nach ‘Temporalität’ ausgerichtet und die Gedanken wurden folglich anders strukturiert. Dabei ist Ongs (2002) Überlegung zuzustimmen, wonach unser zeitlich-kalendarisches Bewusstsein eng an die Schrift gebunden ist (unter anderem Tageszeitungen, gedruckte Kalender), genauer genommen sogar an den Druck (vgl. Ong 2002: 96). Before writing was deeply interiorized by print, people did not feel themselves situated every moment of their lives in abstract computed time of any sort. (Ong 2002: 96) Die zunehmende Verinnerlichung von Schrift durch die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg im 15. Jahrhundert und die Korrelation mit einem steigenden kalendarischen Bewusstsein in der breiten Bevölkerung sind ein starkes Indiz dafür, dass in Gesellschaften primärer Oralität die Verbalkategorie Aspekt dominiert, in literalisierten Gesellschaften hingegen Tempus. Die Perspektive auf die Welt modifiziert sich demzufolge bedingt durch den mediengeschichtlichen Wandel. 151 Solche Prozesse sind natürlich gradueller, kontinuierlicher Natur, weshalb keine perfekte Übereinstimmung der sprachexternen und der sprachinternen Faktoren erwartet werden dürfen. Ein Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch des Aspektsystems und dem Aufkommen von Schriftlichkeit, in Form der damit verbundenen „Bereitstellung einer Ermöglichungsstruktur“ (Schaefer 1996: 51), lässt sich kaum bestreiten. Insofern ist es falsch, zu behaupten, das Aufkommen der Schriftlichkeit habe notwendigerweise den Zusammenbruch des Aspektsystems zur Folge gehabt, aber es hat wichtige Bedingungen für die Möglichkeiten neuer Orientierungen geschaffen, die der Mensch auf sprachlicher Ebene ausschöpfen konnte (vgl. Assmann/ Assmann 1983: 278). Daher kann der 151 Diese Hypothese ist auch ein wichtiger möglicher Erklärungsansatz für das Aufkommen des narrativen Präsens im Zeitalter der analogen Massenmedien (vgl. Kapitel 10.2). 231 Mündlichkeits-Schriftlichkeits-Ansatz nicht als kausaler Erklärungsansatz herangezogen werden, der ‘Untergang’ des aspektuellen, aoristischen Präsens kann aber durchaus in einen Zusammenhang mit dem medien- und mentalitätsgeschichtlichen Wandel im 12. Jahrhundert gesetzt werden (im Fall der romanischen Sprachen), da dieser wohl wesentlich den Zusammenbruch des Aspektsystems determiniert hat. Die stärkere Bedeutung der Kategorie Aspekt im Lateinischen im Vergleich zu den romanischen Einzelsprachen, obwohl die römische Gesellschaft durchaus eine literalisierte Gesellschaft war, leuchtet im Rahmen der hier formulierten Hypothese ein, wenn man bedenkt, dass Latein bis in das 4. Vorchristliche Jahrhundert eine kleine Regionalsprache der kommunikativen Nähe im Raum Latium war (vgl. Stroh 2004: 78-79). Auch die Verschriftlichung des Lateinischen war folglich zur Zeit der Expansion des römischen Reichs noch nicht so tief verinnerlicht, dass schon alle damit verbundenen mentalitätsgeschichtlichen Veränderungen abgeschlossen gewesen sein müssen, besonders wenn man bedenkt, dass die Menschen der Schrift zunächst mit Skepsis und Zurückhaltung begegnen, wie Ong (2002: 95-99) zeigt. Der Aspekt im Lateinischen darf daher als ein Relikt aus einer Kultur der primären Mündlichkeit aufgefasst werden, welches sich als grammatische Kategorie bis in die ältesten Sprachstufen der romanischen Sprachen hält. Aspektsysteme in modernen Volkssprachen (zum Beispiel dem Russischen) sind hingegen im Rahmen zyklischer Tendenzen der Grammatikalisierungsprozesse zu verstehen. Das legen ein Vergleich mit dem Altkirchenslawischen und die Einsicht in der Russistik, dass sich das Aspektsystem im Russischen (vgl. Vogel 1996: 175) durch die sogenannte sekundäre Imperfektivierung (vgl. Kapitel 8.2) erst noch herausbildet, nahe. Das Aussterben des aspektuellen, aoristischen Präsens kann somit sprachübergreifend mit dem Aufkommen der Schriftlichkeit und den dadurch modifizierten sprachlichen Möglichkeiten korreliert werden. Im Rahmen der temporalen Reanalysen geht auch das aspektuelle Präsens verloren, weshalb zwar ein Zusammenhang besteht, das Spannungsfeld Mündlichkeit-Schriftlichkeit jedoch nicht das Motiv des Sprachwandelprozesses liefert. Es besteht lediglich ein Zusammenhang zwischen dem mediengeschichtlichen und dem damit einhergehenden mentalitätsgeschichtlichen Wandel und dem beschriebenen Sprachwandelprozess im weiteren Sinne. 9.1.4 Das narrative Präsens im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit Nachdem im vorherigen Abschnitt ein Zusammenhang zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit und dem ‘Untergang’ des aoristischen Präsens im weiteren Sinn hergestellt werden konnte, soll nun überprüft werden, ob auch das narrative Präsens im Spannungsfeld von Mündlichkeit 232 und Schriftlichkeit zu betrachten ist. Es muss noch einmal betont werden, dass aufgrund der Beschreibung der Präsensverwendungen in Antike und Mittelalter und in der Gegenwart von unterschiedlichen Präsenstypen ausgegangen werden muss. Das eine ist aspektuell, das andere ist temporal. Außerdem war unter 9.1.2 die Unzulänglichkeit der ‘Reoralisierungshypothese’ besprochen worden, unter anderem aufgrund der Annahme unterschiedlicher konzeptioneller Profile von Epos und Roman, sofern sich eine Bewegung des Romans in Richtung des nähesprachlichen Pols beweisen lässt. Auf lexikalischer und morphosyntaktischer Ebene liegen dafür keine Indizien vor, da die Komplexität der Strukturierung identisch ist, der Wortschatz zwar unterschiedlich komplex und elaboriert ausfallen kann, jedoch kein notwendiger Zusammenhang zur Tempuswahl erkennbar ist. Auf syntaktischer Ebene fallen lediglich die Präferenz für kürzere Satzeinheiten und eine gewisse Tendenz zur Vereinfachung auf. Besonders Subordinationen werden durch koordinative Satzstrukturierungen der Form und ersetzt, wobei die Kopulativkonjunktion häufig durch Ellipse ausgespart wird. (150) V-o Pr. Pela aldeia, Ø ficam Pr. Por lá algum tempo, Ø eu continuo Pr. Parado à porta do quintal. (Ferreira 2004 [1965]: 177; Hervorhebungen B.M.) ‘Sie gehen durch das Dorf, verbleiben dort einige Zeit. Ich bleibe an das Gartentor gelehnt.’ Zwischen den beiden Handlungen, die im ersten Teilsatz aufeinander folgen, findet die Progression lediglich aus kausal-logischen Gründen statt, determiniert durch den außersprachlichen Wissenskontext. Denn sowohl ir (‘gehen’) als auch ficar (‘bleiben’) sind additive Verben und lediglich die kausale Logik determiniert, dass die implizierten Subjektreferenten zuerst ‘durch das Dorf laufen’ und dann ‘dort einige Zeit verbleiben’. Auf sprachlicher Ebene wird die Reihung der Verbalvorgänge jedoch nicht explizit kodiert. Es liegt folglich eine asyndetische Reihung vor. Im Fall der zweiten Ellipse ist es schwer zu determinieren, ob ebenfalls die koordinierende Kopulativkonjunktion e (‘und’) ausgespart wird oder die subordinierende Temporalkonjunktion enquanto (‘während’). Angesichts der syntaktischen Struktur des gesamten Satzes und der Vermeidung zweier kopulativ koordinierter Teilsätze ist die Ellipse einer Subordination naheliegend. Durch den Wegfall der Konjunktion findet keine Subordinierung mehr statt, sondern die Verbalsituation wird koordinativ zu den anderen beiden Verbalvorgängen in Form einer Asyndese kodiert. Durch das Präsens gibt es keine Hintergrundierungen mehr. Alles, was fokussiert wird, wird vordergrundiert betrachtet und das narrative Relief wird zu einem großen Teil eingeebnet. Unterschiedliche perspektivische Ebenen innerhalb der diegetischen Welt, unterschiedliche Ebenen der Kommunikation in Form von Erzählerkommentaren an den Leser auf einer anderen Ebene als die Erzählung selbst, die in Romanen mit traditionellen Erzählmuster durch 233 Tempuswechsel enkodiert werden (vgl. Kapitel 7.2), werden aufgelöst. Sogar intradiegetische Erzählungen als Analepse 152 werden teilweise in der hic et nunc-Perspektive erzählt. Ein Teil der Subordinationen fällt ebenfalls dieser aus perspektivischer Sicht linearen Darstellung der Ereignisse zum Opfer, obwohl diese durchaus möglich sind, dann jedoch innerhalb desselben Zeitintervalls, auf das Präsens referiert. Durch das narrative Präsens wird alles linear und aus einer Innenperspektive betrachtet. Die narrative Progression ist durch den Wissenskontext des Adressaten und durch die damit verbundene kausale Logik determiniert und erfolgt mittels logischer Interpretation der asyndetischen syntagmatischen Aneinanderreihung von Verbalvorgängen. Das wird deutlich, wenn man die Passage in ihrem Fortlauf weiter betrachtet: (151) Em frente, o carro abandonado, com todos os vidros corridos. Até que enfim regressam Pr. . N-o pela rua por onde foram Perf. E vai Pr. Dar à rampa que leva Pr. À igreja e ao adro e à casa onde morou Perf. O Padre Marques, mas pela outra que vai Pr. Dar a que sai Pr. Do adro e passa Pr. Pela capela da Misericórdia. (Ferreira 2004 [1965]: 177; Hervorhebungen B.M.) ‘Gegenüber das verlassene Auto mit allen Fenstern heruntergelassen. Bis sie endlich zurückkommen. Nicht über die Straße, über die sie gegangen sind (und) die zur Steigung führt, die zur Kirche und zum Kirchplatz führt, wo der Pfarrer Marques gewohnt hat, sondern über die Straße, in die jene mündet, die vom Kirchplatz wegführt und an der Kapelle der Misericórdia vorbeiführt’ Die narrative Progression wird lediglich durch die Verbalsemantik und die durch diese suggerierte Kausalitätslogik markiert. Um ‘zurückkommen zu können’ (regressar), muss einige Zeit vergangen sein, da das sprechende Subjekt zuvor ausgedrückt hatte, dass die implizierten Subjektreferenten, vier Mitglieder der Presse, wie aus dem Kontext hervorgeht, einige Zeit im Dorf verweilten. Außerdem kommen die Protagonisten über eine andere Straße als sie gegangen sind. Besonders fällt die häufige Verwendung der Kopulativkonjunktion e (‘und’) auf, um das Voranschreiten der Handlung zu markieren. Dies ist ein wichtiges Indiz für die lineare, perspektivisch eindimensionale Struktur des narrativen Textes, die angesichts der üblichen Markierung von Vordergrund durch Perfekt und Hintergrund durch Imperfekt untypisch für das Erzählmuster der romanischen Sprachen ist. In (152) sind sowohl an den Leser gerichtete Erzählerkommentare (a) als auch der Erzählstrang (b) auf derselben temporalen Ebene situiert - ein 152 Wie am Beispiel von José Cardoso Pires O Delfim (1968) dargestellt wurde, können sogar Erzählungen innerhalb der Haupterzählung in Form von eigenen Erzählsträngen, deren Ereignisse auf der Zeitachse der Diegese vorzeitig gegenüber den Ereignissen der Haupterzählung lokalisiert sind, im Präsens erzählt werden. So werden sämtliche zeitlich-temporale Dimensionen der Erzählung in die Gegenwart der (fiktionalen) Erzählsituation transportiert (E,R,S) (vgl. Kapitel 7.4). 234 Charakteristikum präsentischer Romane - beziehungsweise sind gemäß der consecutio temporum asyndetisch aneinander gereiht, da sie im erweiterten Sinn innerhalb desselben Zeitintervalls situiert sind, 153 da (E,R,S) gilt. (152) (a) That is Pr. Where he ought to end it. But he does Pr. Not. (b) On Sunday morning he drives Pr. To the empty campus and lets Pr. Himself into the department office. 154 (Coetzee 2008 [1999]: 18; Hervorhebungen B.M.) Ein weiteres wichtiges Indiz im Hinblick auf die Frage nach einer Korrelation zwischen dem Spannungsgefüge Mündlichkeit-Schriftlichkeit und den präsentischen Romanen liefert der Referenzbezug, „bei dem entscheidend ist, wie nahe die bezeichneten Gegenstände und Personen der Sprecher-Origo (ego-hic-nunc) sind“ (Koch/ Oesterreicher 2011: 7; vgl. Bühler 1965: 102ff.). So befinden sich auf der Ebene der fiktionalen Kommunikationssituation Erzähler und (fiktionaler) Leser, Produzent und Rezipient in demselben deiktischen Zeigefeld (hic et nunc). Der Situationsbezug der Origo des Erzählers entspricht somit bei präsentischen Erzählungen aufgrund des origo-inklusiven Referenzbezugs dem prototypischen Referenzbezug der gesprochenen Sprache (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 78; Diewald 1991: 28). Dadurch ergibt sich ein narrativer Nähediskurs (vgl. Koch/ Oesterreicher 2011: 74ff.), der unter anderem durch dasselbe temporale Bezugssystem für Erzählerkommentare und Erzählung deutlich wird (vgl. Beispiel (152)). Die referentielle Differenz zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem der diegetischen Ereignisse, die meistens vor der fiktionalen Kommunikationssituation situiert sind, verschwindet. Die fiktionalen Ereignisse werden, unabhängig von möglichen lexikalisch-kalendarischen Spezifizierungen und Verankerungen der Diegese, in die Gegenwart der Erzählsituation transponiert. Diese Möglichkeit entspricht der Perspektivierung im Film - unabhägig von der temporalen Verankerung der Geschichte - und ist ein starkes Indiz für die primär perspektivische Leistung von Tempus: Der Erzähler wählt die Perspektive auf die Ereignisse. Die temporale Perspektivik in präsentischen Romanen ist identisch mit jener im Dialog in einer face-to-face Kommunikationssituation und indiziert Nähe der Kommunikationspartner und der Ereignisse auf der diegetischen Ebene. Im Sinn von Diewald befindet sich das Deixisobjekt im selben Bereich wie die Origo (vgl. Diewald 1991: 113). Das narrative Präsens ist daher eine mögliche Kompensationsstrategie für die medial bedingt nicht gegebene ‘Präsenz’ und ‘Lebendigkeit’, die mit der Textproduktion in 153 Die Übersetzungen ins Französische (Coetzee 2001: 27), Spanische (Coetzee 2009a: 27), Portugiesische (Coetzee 2009b: 23) und Deutsche (Coetzee 2009c: 26) belegen, dass die unterschiedlichen Ebenen der Erzählung und der Erzählerkommentare in allen hier betrachteten Sprachen bei präsentischen Erzählungen eingeebnet werden. 154 Das Demonstrativum that markiert ‘origo-exklusiv’, bezieht sich jedoch anaphorisch auf den unmittelbaren Kotext und steht somit nicht im Widerspruch zu einer hic et nunc-Betrachtung der Diegese. Gleichzeitig determiniert es narrative Progression, die das Präsens mit der ausgedrückten Innenperspektive nicht veranlassen kann. 235 medialer Schriftlichkeit einhergeht (vgl. Oesterreicher 2008b: 210). Es ist ein mögliches Verfahren zur Vergegenwärtigung und Verlebendigung der Erzählung, determiniert durch die kodierte Perspektivik. Die sprachliche Strategie dient dazu, eine gewisse Performatisierung eines an und für sich nichtperformativen Mediums zu erzielen, nämlich dem Buch (vgl. Rajewsky 2002: 124-125). Durch die Tempusselektion wird physische Nähe zwischen den Ereignissen und den Kommunikationspartnern erzeugt, die an der Kommunikationssituation die dem Roman zugrunde liegt beteiligt sind. Eine Erzählung im Präsens veranlasst folglich eine Perspektive auf die diegetische Welt, die der prototypischen Perspektive der Nähesprache entspricht. Im Vergleich zu klassischen Romanen mit Vergangenheitstempora als Erzähltempus findet also durchaus eine Bewegung der relativen Situierung des Romans innerhalb des Nähe-Distanz-Kontinuums in Richtung Pol der Nähesprachlichkeit statt. Diese Verschiebung darf angesichts der Vielzahl der zu berücksichtigenden Kriterien bei der Bemessung der relativen Situierung sowohl im Bereich der Kommunikationsbedingungen als auch der Versprachlichungsstrategien natürlich nicht überbewertet werden (vgl. hierzu Koch/ Oesterreicher 2011: 6-13). Die Perspektive verändert sich durch das Präsens als Erzähltempus entscheidend und ist durchaus vor dem Hintergrund des Spannungsfeldes von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu betrachten. Die Verwendung des Präsens als Leittempus in Romanen lässt sich jedoch nicht im Rahmen des Spannungsfeldes Mündlichkeit-Schriftlichkeit erklären und darf keineswegs als eine Neuorientirung am Duktus der gesprochenen Sprache interpretiert werden. Das Präsens als Leittempus ist zwar auch unter Autoren beliebt, die im Rahmen avantgardistischer gegenwärtiger literarischer Bewegungen wie der Popliteratur in Deutschland die Botschaft vermitteln „Man schreibt nicht mehr wie gedruckt“ und die für eine Neuorientierung des literarischen Leitideals an der gesprochenen Sprache stehen, 155 es handelt sich jedoch um ein Epiphänomen. Ein Erklärungsansatz, der im Umkehrschluss versucht, die steigende Popularität des Präsens als Leittempus durch eine Reoralisierung unserer modernen Gesellschaften und einer steigenden Orientierung am Duktus der Mündlichkeit zu erklären, erweist sich folglich als unzulänglich. Die Parallelen zwischen gesprochener Sprache und den 155 Diese Besonderheit der deutschen Literatur des dominierenden narrativen Präsens in einer literaturästhetischen Bewegung, die für eine Aufwertung der gesprochenen Sprache steht, begründet auch die Stigmatisierung seitens der Kritik (vgl. Greiner 2009) und den Erklärungsansatz des narrativen Präsens im Deutschen als einer Folge von einem Wechsel des Leitmediums und einem damit einhergehenden massiven Einbruch von Mündlichkeitsmerkmalen in das Medium der Schriftlichkeit (Roth 2000). Roths Korpus beschränkt sich auf Romane der Popliteratur, weshalb die postulierte These angesichts ihrer empirischen Quellen nachvollziehbar ist, besonders aus sprachtypologischer Sicht, aber für das Deutsche - man denke beispielsweise an die präsentischen Romane Die Klavierspielerin (1983) oder Lust (1989) von Elfriede Jelinek - zu eng gegriffen ist. 236 präsentischen Romanen können vielmehr auf der Ebene der Perspektivik ausgemacht werden, wo nicht, wie per konventionalisierten Diskursregeln determiniert, eine Erzählung von Ereignissen aus temporaler Distanz erfolgt, sondern aus der Perspektive der natürlichen Präsupposition, und der Autor den Leser nicht zwingt, die menschliche, artenspezifische Fähigkeit des Perspektivenwechsels auszuschöpfen. Und das, obwohl die Geschehnisse der Diegese im Roman eigentlich vorzeitig zum Zeitpunkt des Erzählens verortet sind. Diese Einsicht steht nicht im Widerspruch zu einer Auffassung von Fiktionalität als Resultat der höheren kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die nur durch Sprache möglich ist. Die erforderlichen Dislokationen der Betrachter-Origo innerhalb der diegetischen, fiktionalen Welt oder der Transposition der Geschehnisse auf der Ebene der Diegese in die ‘Gegenwart’ der dem Text zugrundeliegenden prototypischen Erzählsituation mit den damit einhergehenden Auswirkungen für die kognitive Verarbeitung, die eine Analogiesetzung oder zumindest eine kognitive Verarbeitung, die jener der Inputs durch einen Film nahe kommt (vgl. Kapitel 10), bewirkt, sind nur durch Sprache möglich. Ebenso wird das Konzept ‘Fiktionalität’ durch Sprache maßgeblich determiniert, wobei in fiktionalen Erzählungen die notwendige Negation der natürlichen Präsuppositionen von ego, hic et nunc auch erst durch Sprache möglich wird. Erst eine Verinnerlichung dieser Möglichkeit der Negation der natürlichen Präsuppositionen lässt wiederum eine Aufhebung derselben und die damit verbundenen Entwicklungen einer fiktionalen Erzählung aus perspektivischer Sicht zu. Das narrative Präsens ist folglich hinsichtlich seiner perspektivischen Leistung vor dem Hintergrund von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu betrachten. Dieses Spannungsfeld liefert jedoch keinen notwendigen Erklärungsansatz für die steigende Konkurrenz des Präsens zu den bislang prototypischen Erzähltempora der geschriebenen Sprache und für die sukzessive Eroberung einer vorher für das Präteritum in den germanischen Sprachen und das Perfekt (perfektives Past-Tempus) in den romanischen Sprachen reservierten spezifischen funktionalen Domäne. Hintergrundinformationen, die in den romanischen Sprachen durch die aspektuelle Opposition sprachlich kodiert wurden, werden ebenfalls durch das Präsens ausgedrückt. Dadurch erscheinen sie aus Sicht der Verbalsemantik jedoch nicht mehr als Hintergrund, sondern werden wie bei einer simultanen Erzählung in Form einer Berichterstattung von Ereignissen asyndetisch aneinandergereiht sprachlich enkodiert und dementsprechend perspektiviert. Das narrative Präsens veranlasst folglich eine thematisch-rhematische narrative Progression. 237 9.2 Das aspektuelle, aoristische und das narrative Präsens im Spannungsfeld von Sprach- und Diskurswandel Wie Koch (1997: 46-49; 53) gezeigt hat, muss notwendigerweise zwischen Diskursregeln 156 und Sprachregeln unterschieden werden. Beide prägen die Gestaltung individueller Diskurse, da im Diskurs auf individueller Ebene „universale, diskurstraditionelle und einzelsprachliche konzeptionelle Optionen synthetisiert sind“ (Koch/ Oesterreicher 2007b: 353). […] im Sprechen (oder Schreiben) folgen wir nicht nur den Regeln einer sprachlichen Technik, sondern wir folgen neben den rein ‘sprachlichen Regeln’ notwendig auch Diskursregeln, die die Einzelsprache transzendieren. (Oesterreicher 2009a: 62) Der Untergang des aspektuellen, aoristischen Präsens ist ein Sprachwandelphänomen, da das Präsens von nonadditiven, telischen Verben seine Funktion verliert, vergangene Ereignisse auszudrücken, die in diversen Diskurstraditionen 157 attestiert ist. Dieser Sprachwandel ist das Ergebnis des Umbruchs von einem Aspektzu einem Tempussystem, der sich aus sprachtypologischer Sicht zeitgleich in diversen Sprachen innerhalb der Sprachfamilie der indogermanischen Sprachen vollzogen hat. Die sprachüber- 156 Diskursregeln determinieren Perspektivierungsmuster oftmals übereinzelsprachlich. Die Diskursregeln sind historische Regelzusammenhänge oder Techniken, welche die Diskursgestaltung determinieren, die dem Sprechen natürlich nachgeordnet sind und im Sprechen ‘genutzt’ werden (Oesterreicher 2001b: 1559). 157 Oesterreicher (1997) versteht unter Diskurstraditionen Abstraktionen, „die aus ganz bestimmten kommunikativ fundierten Identifizierungs-, Konstatierungs-, Habitualisierungs- und Legitimierungsprozessen resultieren“ (Oesterreicher 1997: 24). Diese Einsicht basiert auf den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und Wissenssoziologie (vgl. Oesterreicher 1997: 24). Diskurstraditionen unterliegen demzufolge ganz bestimmten kommunikativ-konzeptionellen Kriterien. Dennoch warnt Oesterreicher (1997: 29) zu recht davor, Diskurstraditionen reduktionistisch als das Ergebnis einer mechanistischen Anwendung von diskurstraditionellen Regeln zu sehen, da Diskursschemata zwar sowohl Diskursproduktion als auch Diskursrezeption steuern, diese jedoch nicht-deterministisch realisiert werden. Dies belegt in unserem Fall der Wandel innerhalb der Diskurstradition Roman. Oesterreicher zufolge sind Diskurstraditionen einmal in Relation zur historischen Sprache zu bestimmen „als der Gesamtheit einzelsprachlicher Techniken und Varietäten“, zweitens müssen Diskurstraditionen in Bezug auf ihr Verhältnis zum Einzeldiskurs bestimmt werden, „der als kommunikativ situierter, kontextualisierter und individuierter Diskurs eine konkrete, referentielle Relation zur außersprachlichen Wirklichkeit herstellen kann (oder aber eben dies ‘verweigert’)“. Diskurstraditionen müssen auf Aspekte der Sprechtätigkeit bezogen werden, wodurch auf „außersprachliche und übereinzelsprachliche kontextuelle, verbalisierungsbezogene, motivationale und argumentative Strategien der Produktion, Rezeption und Transmission von Diskursen und Texten Bezug genommen wird“ (Oesterreicher 2009a: 58-59) (vgl. zu der Frage ‘Textsorten’ oder ‘Diskurstraditionen’ Koch/ Oesterreicher 2008a: 210-211). 238 greifenden Aspektrelikte deuten auf ein mögliches Aspektsystem, das dem Indogermanischen zugrunde lag. Die Verbreitung des Phänomens suggeriert, dass das Präsens nonadditiver Verben sowohl in der gesprochenen als auch in der geschriebenen Sprache aoristisch war. Es ist sowohl in Diskursen, die medial bedingte orale Merkmale aufweisen, etwa den mittelalterlichen Epen (Chanson de Roland und El Poema de Mio Çid), als auch in medial schriftlichen Diskursen (Caesars De Bello Gallico) vertreten. Da bei den Epen ein Medienwechsel in Form einer Verschriftung vorliegt, variieren beide Diskurstraditionen auch im Hinblick auf ihr konzeptionelles Profil. Denn orale Kulturen verfügen zwar über eine kommunikative Distanz, die infolge der medialen Affinität der konzeptionellen Profile aber anders ist als bei medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit (vgl. Selig 1996; Zumthor 1972). Dies lässt sich anhand der Mischung prototypischer Parameter für jeweils unterschiedliche Profile erklären. Das Vorkommen des aspektuellen, aoristischen Präsens in beiden konzeptionell doch stark divergierenden Diskurstraditionen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein Phänomen handelt, das sowohl in der geschriebenen als auch in der gesprochenen Sprache vorkam, vor allem, weil es auch im Lateinischen dokumentiert ist − der Sprache der kommunikativen Distanz. Möglicherweise handelt es sich um ein Relikt aus dem Latein, das im Rahmen der Verschriftlichung der romanischen Einzelsprachen, die zu einem Zeitpunkt stattfand, als der Abbau des Aspektsystems schon fortgeschritten war, nicht übernommen wurde und folglich keinen Eingang in die ersten präskriptiven Grammatiken der romanischen Einzelsprachen fand. Demzufolge koinzidieren Verschriftlichung der romanischen Einzelsprachen und Untergang des aspektuellen, aoristischen Präsens zwar, der ‘Motor’ des Sprachwandels war jedoch die Entwicklung von einem aspektuellen zu einem temporalen Verbalsystem und nicht die Literalisierung der Gesellschaft. Bei dem Aufkommen des narrativen Präsens hingegen handelt es sich zunächst um einen Bruch der diskurstraditionellen Regeln des nouveau roman. Hier werden die Konventionen des sprachlichen Gebrauchs innerhalb der Diskurstradition durchbrochen, die besagen, dass fiktionale (aber auch reale) Erzählungen aus einer retrospektiven Perspektive und daher in der Vergangenheit erfolgen (vgl. Fleischman 1991b: 79). In narration the rule is ‘live first, tell later’ (or for vicarious narrations ‘observe first, tell later’) […] (Fleischman 1991b: 83) Dieser Verstoß gegen die gesellschaftlich konventionalisierten Diskursregeln für narrative Texte erfolgt auf der Ebene eines einzelnen Diskurses (parole), der, wie Oesterreicher (1997: 21) darstellt, im Spannungsfeld von einzelsprachlichen und diskurstraditionellen Regeln gestaltet wird. Zu dieser Schlussfolgerung gelangt der Autor vor dem Hintergrund, dass Diskurstraditionen „keineswegs in den Regeln einer Einzelsprache enthalten sind, dass sie aber teilweise den Einsatz bestimmter Sprachvarietäten und 239 Verbalisierungsmuster selegieren“ und ihre Grenzen nicht immer mit den Grenzen der Sprachgemeinschaften zusammenfallen (Oesterreicher 1997: 20). Demzufolge ist ein Diskurs in mündlicher oder schriftlicher Realisierung und in beliebiger Extension auch niemals nur „die Aktualisierung einer historischen Einzelsprache“ (Oesterreicher 1997: 19). Das wurde in Bezug auf das Phänomen des narrativen Präsens für das Russische und das Polnische gezeigt, wo bestimmte Textstrukturmuster in Übersetzungen vorkommen, obwohl dies, wie die autochthonen Texte belegen, letzteren Sprachen weitaus fremder ist als den romanischen oder den germanischen Sprachen. Diese von Sprachgemeinschaften im Prinzip unabhängigen Traditionen weisen ein jeweils historisch zu bestimmendes und unter Umständen auch wandelbares konzeptionelles Profil auf […] (Koch/ Oesterreicher 1994: 598) Die sprachliche Kreativität eines switching des Erzähltempus wie bei Albert Camus mit der Aufwertung des passé composé und des Präsens im nouveau roman ist aufgrund der Voraussetzung einer nicht-deterministischen Realisierung der Diskursmuster, die Oesterreicher (1997: 29-30) unterstreicht, und aufgrund variabler Fixierungsgrade bezüglich der formalen, inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung der einzelnen Diskurstypen möglich. Die Gestaltungsfreiheit ist im Fall der Diskurstradition Roman besonders hoch, da die Generizität der diskurstraditionellen Muster nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass „Diskurstraditionen in der Regel konstitutiv ganz unterschiedliche diskursive Teilkomponenten aufweisen können, deren implizite Kommunikationsbedingungen und Verbalisierungsmuster beträchtlich voneinander abweichen“ (Oesterreicher 1997: 31). Wird die Abweichung zu groß, kann es zu einem diskurstraditionellen Wandel kommen und neue Diskurstraditionen können generiert werden. Ein solcher Wandel liegt bei der Genese des Romans vor. Die Diskurstradition der epischen Narration erfuhr zahlreiche Veränderungen und reagierte auf neue Anforderungen im Rahmen der Literalisierung der Gesellschaft, sodass sich sukzessive ein neues Erzählmuster im Duktus der Schriftlichkeit herausbildete, das in die Diskurstradition des Romans mündete (vgl. Jauss 1962). Daher scheint es auch plausibel, beide Diskurstraditionen in einer kontinualen Relation zueinander zu betrachten und miteinander zu vergleichen, obwohl es sich, wie die Verbalisierungs- und Textkodierungsstrategien determinieren, um unterschiedliche Diskurstraditionen handelt, die in einem Ablösungsprozess zueinander stehen. 158 Die 158 ‘Ablösungsprozess’ im Sinn, dass der Roman zum dominierenden narrativen Erzählschema wird, denn das Epos existiert durchaus weiter, wie im Portugiesischen etwa durch Os Lusíadas (1572) von Luís Vaz de Camões bezeugt. Die Diskurstradition Epos war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr produktiv und somit gewissermaßen funktionslos geworden, was laut Koch (1997: 65) in ihrer „Ästhetisierung“ mündete. So handelt es sich bei Os Lusíadas um eine für die Renaissance typische imitatio der klassischen Vorbilder. 240 Gattungsbezeichnungen erweisen sich dabei eher als problematisch, da von einem abrupten Umbruch keineswegs die Rede sein kann. Vielmehr ist die Entstehung des Romans ein Ergebnis der instabilen Gattungsrealität, die sich hinter der tendenziell konservativen und stabilen Gattungsbezeichnung verbirgt. Es handelt sich hierbei um einen kontinualen Prozess, da Diskurstraditionen nicht ex nihilo entstehen (vide Koch 1997: 59; 63-65). Im Verlauf dieses Prozesses entstehen aus gattungstheoretischer Sicht diverse Hybriddiskurse. Das große Spektrum an Variabilität innerhalb der Diskurstradition Roman lässt sich mit Oesterreicher (1997: 32) durch die Kompositionalität der Diskurstradition erklären, in der ein Wechsel von „expositorischer, narrativer und fiktionaler Haltung, Exordialtopik, Rahmenhandlungen, Dialogszenen […]“ (Oesterreicher 1997: 32) erfolgt. Der Roman erweist sich demzufolge als besonders polymorphe Diskurstradition im Spannungsfeld von Konvention und Innovation. Bei der Genese des narrativen Präsens, das auf die jeweilige Sprechzeit des Erzählers bezogen ist und im Gegensatz zum narrativen Präteritum keine Verlagerung des Betrachters gegenüber der Sprechzeit auslöst, handelt es sich um einen Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Die weitere Entwicklung, die Konsequenzen und die Ausbreitung dieses Bruchs mit den Diskursregeln, der mit der Anwendung des semantisch prototypischen Präsens als Leittempus einhergeht und determinierend ein über Jahrhunderte vermeintlich stabiles Perspektivierungsmuster in (fiktionalen) Erzählungen grundlegend verändert, ist noch vollkommen offen. Festzuhalten ist jedoch, dass auch ein solcher Wandel der Diskursregeln durchaus einen Wandel des Sprachgebrauchs darstellt, und zwar im Sinne einer „Verschiebung des Usus“ nach Paul (vgl. Paul 1995: 32-34; §17-18). Somit liegt ein Diskurswandel vor. 9.3 Zusammenfassung: Das aspektuelle, aoristische und das narrative Präsens - zwei unterschiedliche Phänomene In diesem Kapitel konnte zunächst gezeigt werden, dass eine ‘Reoralisierungshypothese’, wie sie Fleischman (1990) vorschlägt, für eine Erklärung des narrativen Präsens nicht trägt, da zwei sich syntaktisch komplett unterschiedlich verhaltende Präsenstypen verglichen werden. Fleischman (1990; 1991b) berücksichtig bei ihren Überlegungen das konzeptionelle Profil der mittelalterlichen Epen zu wenig, weshalb sie mit Blick auf die Nähesprachlichkeit mittelalterlicher Epen unzulässige Schlüsse zieht. Der Untergang des aspektuellen, aoristischen Präsens ist im Rahmen des Spannungsfelds von Aspektualität und Temporalität und der Verschränkungen zwischen diesen beiden Kategorien erklärbar. Es ist vor dem Hintergrund der allgemeinenen Entwicklung von einem Aspektzu einem 241 Tempussystem sowohl in den germanischen als auch in den romanischen Sprachen zu betrachten. Während es sich bei dem Untergang des aspektuellen, aoristischen Präsens um ein Sprachwandelphänomen handelt, da das Präsens (nonadditiver Verben) eine seiner (grammatischen) Funktionen durch Reanalyse verliert, ist das narrative Präsens das Ergebnis eines Wandels der Diskursregeln des Romans. Aus semantischer Sicht erlebt das Präsens in seinem narrativen Gebrauch als Leittempus keinen semantischen Wandel, sondern wird in seiner prototypischen Bedeutung verwendet. Es besteht daher weder eine Analogie zwischen den beiden Formen, wie die Reoralisierungshypothese suggeriert, noch können die beiden Verwendungen verglichen werden. Es bleibt lediglich festzuhalten, dass zum einen die Perspektive, die das narrative Präsens ausdrückt, hinsichtlich der deiktischen Referenzialität jener der Nähesprache entspricht. Zum anderen wurde der Umbruch von einem Verbalsystem mit Primat der Kategorie Aspekt des Indogermanischen hin zu einem System, in dem das Primat durch die grammatische Kategorie Tempus übernommen wird, in den modernen Volkssprachen durch die Literalisierung der Gesellschaft und das Aufkommen von Schriftlichkeit wohl begünstigt, da diese Entwicklungen wichtige Ermöglichungsstrukturen schufen. Mit dem zeitgenössischen mediengeschichtlichen Wandel geht ein mentalitätsgeschichtlicher Wandel einher, der mit jenem vergleichbar ist, den das Aufkommen von Schriftlichkeit ausgelöst hat. Es stellt sich daher die Frage, ob der scheinbar analoge Charakter des Films nicht substantiell die perspektivischen Möglichkeiten auf Fiktion revolutionierte und den klassischen retrospektiven Blick auf Erzählungen überflüssig macht, wenn nicht sogar ein Stück entfremdet. Die Perspektive auf die Diegese determiniert im Wesentlichen der Autor durch die Tempusselektion. Diese gibt vor, ob ein retrospektiver oder ein kotemporaler Blick auf die Ereignisse geworfen, ob eine Innen- oder eine Außenperspektive eingenommen wird. Erste Indizien für die Suche nach einem Erklärungsansatz in der Intermedialitätsforschung lieferte bereits die in Kapitel 2.3 vorgestellte Autorenbefragung durch Roth (2000). Denn trotz einer gewissen Heterogenität der Antworten und eines unbestreitbaren ad-hoc-Charakters ist die kodierte ‘Perspektivik’ ein häufig genannter gemeinsamer Nenner. Die Hypothese des narrativen Präsens als eine Frage der Perspektivik und die Frage nach einem intermedialen Einfluss werden daher im folgenden Kapitel diskutiert. 10. Das narrative Präsens als Mittel zum Erzählen im ‘Hier und Jetzt’ Über mehrere Jahrhunderte determinierten das Präteritum in den germanischen Sprachen und das aspektuell bestimmte Zusammenspiel von Perfekt (‘Vordergrund’) und Imperfekt (‘Hintergrund’) in den romanischen Sprachen das zeitliche Perspektivierungsmuster innerhalb der Diskurstradition Roman. Vor diesem Hintergrund ist die Akzeptanz und vor allem die fast explosionsartige Verwendung des Präsens als neues Leittempus besonders ab den 1990er-Jahren durchaus überraschend und erklärungsbedürftig. Das Präsens besetzt sukzessive spezifische funktionale Domänen, die vorher den Vergangenheitstempora vorbehalten waren. Eine Erscheinung, die im nouveau roman auf der Ebene der parole noch als literarische Kreativität gedeutet werden muss, um die konventionalisierten Perspektivierungsmuster und damit auch Textstrukturierungsmuster zu durchbrechen, findet nun weite Akzeptanz. So muss man eigentlich trotz der Abneigung einiger Kritiker von einer Etablierung und Durchsetzung auf der Ebene der Diskursnormen sprechen. Es fällt auf, dass die Expansion des narrativen Präsens mit der Verbreitung des Kinos und dann des Fernsehens als dominante unterhaltende Massenmedien einhergeht. Eine Erklärungshypothese ist daher die Konkurrenz zum Film, der sich durch eine hic-et-nunc-Perspektivierung der fiktionalen Welt charakterisiert, die dem Zuschauer auf der Leinwand präsentiert wird. Die Perspektive im Film entspricht den Merkmalen [+ GEGEN - WÄRTIG ], [+A NTEILNAHME AM GESCHEHEN ], [- BEGRENZT ] und [- DISTANZ ], also einer Innenperspektive auf die diegetische Welt. Besonders die beiden letztgenannten Merkmale, die beim Film visuell erzeugt werden, beinhalten in linguistischer Terminologie das Merkmal [+ IMPERFEKTIV ]. Angesichts der herausgearbeiteten Bedeutung der Tempora als Perspektivierungsinstrument der Welt und im Hinblick auf die Optimierung unserer kognitiven Fähigkeiten liegt die Annahme einer Beeinflussung durch den analogen beziehungsweise semi-analogen Charakter zahlreicher moderner Medien (Beispiel: Chat) und der Simulierung von Simultaneität der Ereignisse im Film sehr nahe. Diese Hypothese gilt es folglich durch einen Blick in die Forschungsliteratur zur Literatur- und Medienwissenschaft als Erklärungsansatz zu überprüfen. Die in diesen Disziplinen formulierten Erklärungsansätze sollen dann mit den Ergebnissen der hier vorgenommenen Beschreibung des narrativen Präsens korreliert werden. Sollte sich ein solcher Ansatz bestätigen, wäre zu klären, wie die Leser über präsentische Erzählungen denken und ob sie ein solches Perspektivierungsmuster als vertretbar erachten. Gleichzeitig ist aber auch zu testen, ob Tempus ‘bewusst’ wahrgenommen wird und welche Rolle es bei der Lektüre von 243 Romanen spielt. Hier lassen die Ergebnisse einer Pilotstudie zum Präsens als Erzähltempus im Deutschen von Christina Roth (2000) nämlich vermuten, dass den Lesern Tempus bei der Lektüre nicht (bewusst) auffällt, sondern ihnen gegebenenfalls die dadurch erzeugte Perspektive Probleme bereitet, sofern sie überhaupt eine Besonderheit bemerken. Die Studie von Roth hat zudem gezeigt, dass die Kritik an der Perspektive, die mit der Verwendung eines in seiner Bedeutung prototypisch präsentischen narrativen Präsens verbunden ist, eigentlich nur durch den Verstoß gegen weitestgehend verinnerlichte Vertextungsmuster und Konventionen bedingt ist, die man mit dem Roman assoziert. Mit anderen Worten: Die durch die Diskurstradition erzeugten Erwartungen werden nicht erfüllt. Ebenfalls muss überprüft werden, ob die Kritik berechtigt ist, dass bei der Verwendung des Präsens als Leittempus die narrativen Texte um die Möglichkeit der Hintergrundierung von Ereignissen und Vorgängen beraubt würden, da alle Ereignisse perspektivisch als von zentraler Bedeutung für den Erzählstrang präsentiert werden. Eine Bestätigung dieser Hypothese würde einerseits den hier aufgegriffenen Ansatz von Tempus als deiktische Perspektivierungskategorie untermauern und andererseits den Brückenschlag zum Film bestätigen. Weiter würde es den Annahmen entsprechen, die den auktorialen ad-hoc-Erklärungsansätzen über die Rolle von Tempus zur Erstellung der Perspektive im Roman zugrunde liegen (vgl. Kapitel 2.2). Die Tatsache, dass das Phänomen des präsentischen Erzählens in Deutschland besonders im Rahmen der Popliteratur mit ihrer avantgardistischen Forderung nach einem Primat der gesprochenen Sprache und der Befreiung von Konventionen in Erscheinung trat (vgl. Baßler 2005 und 2007), und die Tatsache, dass es sich um einen relativ jungen Diskursmuster- und Perspektivierungsmusterwandel handelt, würde auch die ablehnende Haltung seitens der Forscher (vgl. Hamburger 1987 [1957]: 111-114; Weinrich 2001 [1964]: 112-114) und der Kritiker (Greiner 2009: 49) erklären. Diese konnte jedoch keineswegs die Durchsetzung des Präsens als Leittempus in neueren Romanen hemmen. 10.1 Der Siegeszug des ‘ falschen Präsens ’ Heutzutage herrscht die Auffassung vor, die Journalisten seien für die Gegenwart zuständig, die Dichter für die Vergangenheit. Trotzdem unterwirft sich die Literatur immer mehr dem Diktat der Gegenwart und zahlreiche Autoren verfallen dabei einer Präferenz für ein ‘falsches Präsens’, wie der deutsche Journalist und Literaturkritiker Ulrich Greiner konsterniert feststellte (Greiner 2009: 59). Immerhin sorgte dieser ‘ungewöhnliche’ Tempusgebrauch für so viel Aufsehen, dass ihm eine ganze Kolumne im prestigeträchtigen Feuilleton von Die Zeit gewidmet wurde und Greiner selbst sich der Sache annahm. Der Kontrast, den der Autor zwischen jenen 244 großen Schriftstellern ausmacht, die das „Präteritum bevorzugen“ und das Präsens gelegentlich „zur Steigerung der Intensität“ verwenden, und jenen jüngeren Autoren, bei denen das Präsens völlig die Erzählung dominiert, ist wohl geprägt durch die Kontroverse, welche die sogenannte Popliteratur (vide: Baßler 2007: 123-124; POP - LITERATUR ) um die Jahrtausendwende in Deutschland verursachte (Greiner 2009: 59). Baßler zufolge charakterisiert sich diese postmoderne Textsorte durch die „Ästhetik der kommerziellen Jugendkultur, Medien- und Warenwelt (Populärkultur)“ (Baßler 2007: 123) und ist inhaltlich von der Alltags-, Jugend- und Gegenwartskultur geprägt. Es handelt sich bei der Popliteratur um eine bewusst kunstlose Prosa, bei der spannungserzeugende narrative Verfahren absichtlich ausgeklammert werden (vgl. ebd.). Dass einer solchen Strömung zeitgenössisch heftige Kritik entgegengebracht und ihr der literarische Wert abgesprochen wurde, verwundert daher nicht. Gleichzeitig wurde das narrative Präsens als ein charakteristisches Merkmal der Popliteratur in eine wertende und vorurteilsbelastete Schublade gesteckt, nämlich als ein Phänomen, das typisch für sehr junge und unerfahrene Autoren sei. Dieses Profil entspricht der Mehrheit der Autoren, deren Werke ab Mitte der 1990er-Jahre in Deutschland zur Gattung der Popliteratur gehören (vgl. Baßler 2007: 124). Es handelte sich vorwiegend um Debütromane junger Autoren. Auch der kommerzielle Erfolg und die hochgradige Popularität jener Romane konnte an der Kritik nichts ändern. Doch der Eindruck täuscht, wie aus den im empirischen Teil herangezogenen Werken hervorgeht. Die Verwendung des Präsens als narratives Leittempus ist bei weitem kein derart junges Phänomen, wie es oft dargestellt wird. Bereits in Hans Falladas Kleiner Mann - was nun? (1932) ist das Präsens das Leittempus der Erzählung. Auch Nobelpreisträger wie der Südafrikaner John Maxwell Coetzee (Disgrace, 1999) oder der Franzose Jean- Marie Gustave Le Clézio (Désert, 1980; Le Chercheur d’or, 1985) sind dem Präsens als Erzähltempus zugeneigt. Die Kritik an jener Neigung zum Präsens als Leittempus scheint weder seiner Verbreitung noch seiner Beliebtheit zu schaden. Angesichts dieser Beobachtung, die die Hypothese widerlegt, es handele sich um ein für junge Autoren charakteristisches Phänomen (Roth 2000: 80; Greiner 2009: 59), stellt sich die Frage, welche externen sprachgeschichtlichen Faktoren im Sinne von Blumenthal (2003) Ermöglichungsstrukturen bereitstellen oder die Durchsetzung des narrativen Präsens zumindest begünstigen. Eine denkbare Antwort ist angesichts der zeitgleichen steigenden Popularität und Etablierung des Kinos in der Intermedialitätsforschung zu suchen. Denn im Film werden die Ereignisse der Diegese immer aus einer ‘Hier und Jetzt’-Perspektive betrachtet. 245 10.2 Der Einfluss des Films auf die Erzählstruktur des Romans Das narrative Präsens erzeugt einen Wandel der Perspektive auf die Ereignisse im Text, da es dazu führt, dass Betrachter und Erzähler nicht auseinandertreten und Sprech- und Referenzzeit nicht auseinanderfallen. Bei einer durchgängig präsentischen Erzählung werden die Ereignisse und Vorgänge in der Gegenwart [+ JETZT ] des Erzählers und des (fiktionalen) Lesers situiert. Der ideale oder fiktionale Leser verschafft dabei dem realen Leser den Blick auf die Ebene der Diegese. Erzählte Zeit wird bei präsentischem Erzählen aufgrund der Merkmale des prototypischen Präsens [+ GEGENWÄRTIG ], [+ HIER ], [+ IMPERFEKTIV ] in die ‘Gegenwart’ des Erzählers transponiert und kotemporal zur Erzählzeit gesetzt. Da unsere Gedanken maßgeblich mittels Sprache determiniert und strukturiert werden und eine Dislokation in fiktionale Welten erst durch sprachliche Mittel überhaupt möglich wird, verankert das narrative Präsens die fiktionale Welt in der ‘Gegenwart’ der (fiktionalen) Erzählsituation, die den Rahmen der Erzählung bildet. Da ‘Fiktionalität’ und die dazu erforderliche Imagination einer höheren kognitiven Fähigkeit entsprechen, die nur durch Sprache als Perspektivierungsinstrument möglich ist, ist die ‘Fiktionalität’ ein Forschungsgegenstand, der auch für die Linguistik von einer gewissen Relevanz ist. Eine weiterführende Erforschung des Phänomens kann wohl nur sinnvoll in Form einer interdisziplinären Annäherung erfolgen, an der die Linguistik maßgeblich beteiligt ist. Ein Autor kann nur im Rahmen der gesellschaftlich akzeptierten Konventionen (Ebene der Norm) eine Perspektive auf die diegetische Welt im literarischen Werk erzeugen. Das Mittel dazu ist die Grammatik. Schließlich wirkt sich jeder grammatische Wandelprozess auf die selegierten sprachlichen Mittel und Realisierungsmöglichkeiten aus und jede Veränderung im narrativen System ist nur durch eine entsprechende Modifikation auf sprachlicher Ebene möglich. Die Determination des Prozesses verläuft in der Regel unilateral, das heißt, Grammatikwandel führt zu Textwandel. Man denke an die Auswirkungen des ‘Aussterbens’ des aspektuellen, aoristischen Präsens: Die Texte müssen anders kodiert und alternative sprachliche Kodierungsmittel müssen verwendet werden, da das Präsens nicht mehr die Funktion erfüllt, ‘abgeschlossene Vergangenheit’ auszudrücken. Jener Wandel in der Ausrichtung des Sprachsystems determiniert, dass in mittelalterlichen Texten ein praesens pro futuro nur in direkter Verbindung mit einem Temporaladverbiale vorkommt, welches die nachzeitige Lokalisierung gegenüber der Referenzzeit determiniert. Nonadditive Verben im Präsens drücken hingegen noch [+ VERGANGENHEITSBEZOGEN ] und [+ PERFEKTIV ] aus. Die Tempussysteme der modernen germanischen und romanischen Sprachen verhalten sich diametral entgegengesetzt. Das veranlasst die Interpretation eines in seiner Auslegung ‘invertierten’ Tempus- 246 systems und erklärt den Wandel in der Verwendung der am niedrigsten morphologisch markierten Verbalform, dem Präsens. Es handelt sich bei den antiken und mittelalterlichen, stärker aspektuellen Tempussytemen um retrospektive Tempussysteme im Sinn von Ultan (1978). Beim Wandel einer primär aspektuellen hin zu einer primär temporalen Semantik stehen grundsätzlich zwei nichtpräsentische Zeitbezüge zur Verfügung: [+ VER - GANGENHEITSBEZOGEN ] und [+ ZUKUNFTSBEZOGEN ]. Die romanischen und die germanischen Sprachen entwickeln sich von retrospektiven Aspektsprachen, bei denen die unmarkierte Form der perfektiven Verben ‘Vergangenheitsbezug’ kodiert, zu prospektiven Sprachen. Das narrative Präsens wird durch den nouveau roman der 1950er- und 1960er-Jahre besonders populär. Als entscheidendes Werk dafür ist La jalousie (1957) von Alain Robbe-Grillet zu nennen. 159 Es ist in seiner Bedeutung für die Etablierung des narrativen Präsens mit der Rolle von L’Étranger (1942) von Albert Camus für die Durchsetzung der Verwendung des passé composé als Leittempus der Erzählung im Französischen vergleichbar. Die Verwendung des passé composé als Erzähltempus durch Camus ist eine Antwort auf das starke Auseinanderklaffen von gesprochener und geschriebener Sprache mit fast schon diglossischer Tendenz. Das ist ein Charakteristikum des Französischen und erstreckt sich auf zahlreiche Bereiche der Grammatik (vide: Massot 2008). Unabhängig davon, ob sich das passé composé im Roman als aoristisches Erzähltempus konsolidieren wird, erweist sich der Begriff der Interdiskursivität (vgl. Koch 1997) aus methodologischer Sicht als sehr brauchbar. Denn der Wandel im Tempusgebrauch entspricht einem Rückgriff auf Diskurstraditionen der gesprochenen Sprache, wo der Grammatikalisierungsprozess und der damit verbundene semantische Wandel des passé composé bereits wesentlich weiter fortgeschritten sind als in der aus sprachlicher Sicht hochgradig konventionalisierten und normierten Diskurstradition des Romans. 160 159 Robbe-Grillet war die treibende Kraft und der Gesetzgeber der neuen Bewegung. Von zentraler Bedeutung ist sein Manifest „Pour un nouveau roman“, das erste Manifest der Gruppe (Coenen-Mennemeier 1996: 2). Auch der erste Roman auf dem Weg zur Entstehung des neuen Romantyps ist von Robbe-Grillet: Les gommes (1953) (vgl. Coenen-Mennemeier 1996: 27-31). Angesichts der Tatsache, dass der wohl meistgelesene Roman der Bewegung La modification (1957) von Michel Butor ist (vgl. Coenen-Mennemeier 1996: 85), ist die Bedeutung von La jalousie durch den radikalen Umbruch der Konventionen auf der Ebene der Diskursstruktur zu erklären. So radikalisiert der Roman den ‘Ansatz der Chronologiezerstörung’ durch seinen gänzlichen Verzicht auf Vergangenheitstempora und setzt Erlebtes, Erinnertes und Vorgestelltes auf eine Ebene im Tempusgebrauch, so dass die verschiedenen Ebenen aus Sicht der Tempora nicht mehr unterschieden werden können (vgl. Coenen- Mennemeier 1996: 38). Das Werk stellt somit einen wichtigen Meilenstein in der Demontage des alten, konventionalisierten Erzählschemas dar (vgl. Coenen- Mennemeier 1996: 42), der aus linguistischer Sicht durch eine ‘neue’ Perspektivierung der Ereignisse auf diegetischer Ebene erzielt wird. 160 Siehe Detges (2006) zur diachronen Entwicklung des passé composé. 247 Im Fall der Verwendung des temporalen Präsens findet hingegen eine „De(kon)struktion der narrativen Struktur“ statt (vgl. Rajewsky 2002: 144), um eine Performatisierung eines an sich nicht performativen Mediums vorzunehmen, nämlich des Buches, um weiter eine Verschmelzung von Erzähler und Betrachter zu suggerieren und um schließlich eine Koinzidenz (= ‘Kotemporalität’) von Geschichte (histoire) und Erzählung (narration) zu erzeugen (vgl. Rajewsky 2002: 124-125). Diese „Versprachlichung eines Ereigniszusammenhangs selbst“ (Hempfer 1999: 164) entspricht dem Darstellungsmodus des Films, dem das grammatische Tempus Präsens hinsichtlich der Perspektivierung unterliegt (vgl. Rajewsky 2002: 125). Im Film wird durch Ausschöpfung der medialen Möglichkeiten die Illusion erweckt, die Figuren handelten unmittelbar vor den Augen des Zuschauers. So wird die Performativität des Films erzeugt (vgl. ebd.). Die Verwendung des narrativen Präsens spricht die Leser in ihrer medialen Erfahrung an, da der fiktionale narrative Text durchgehend in Relation zum Diskurssystem des Films gestaltet ist. 161 Man kann folglich mit dem Neuansatz in der Intertextualitätsdebatte der 1990er-Jahre, der den Begriff der Intermedialität analog zu Intertextualität zur Bezeichnung der Theorie der Beziehungen zwischen den Medien und den Produkten der verschiedenen Medien durchsetzte und Stichworte wie „Film und Literatur“ oder „filmische Schreibweise“ verdrängte (vgl. Rajewsky 2003: 35), von Begünstigung durch intermedialen Einfluss bei der Etablierung des durch das narrative Präsens kodierten Erzähl- und Perspektivierungsmusters sprechen. Dieser intermediale Bezug zwischen dem narrativen Diskursmuster des Romans und dem des Films geht mit einer kontinuierlichen, wenn auch systemverschobenen „Applikation und Einhaltung von teils präskriptiven, teils restriktiven Regeln“ (Rajewsky 2002: 125) einher. Der narrative fiktionale literarische Text kann nicht dieselben medialen Möglichkeiten wie der Film ausschöpfen, da ihm weder Bild noch Ton zur Verfügung stehen und die zugrundeliegende Semiose eine grundsätzlich andere ist. Deshalb ist der Ansatz eines Einflusses nach wie vor umstritten, da er nur schwer nachweisbar ist. Die Analogie ist jedoch so offensichtlich, dass eine gänzliche Dissoziation wesentlich unwahrscheinlicher erscheint. Die stetige Berührung 161 Zur Verknüpfung der Nouveaux Romanciers und dem Universum des Films siehe Coenen-Mennemeier (1996: 150-156). Das Wirken zahlreicher Autoren in beiden Bereichen legt eine ‘Diskurskontamination’ im Sinn von Rajewsky (2002; 2003) nahe. Rajewsky unterscheidet zwischen zwei Arten der intermedialen Systemreferenzen, also Bezugnahmen eines Textes auf ein semiotisches System, bei der die Mediengrenzen überschritten werden (vgl. Rajewsky 2002: 205): jene, bei denen diese thematisiert wird („Systemerwähnung“), und jene, bei denen bestimmte Elemente und Strukturen des Bezugssystems durchgehend reproduziert werden („Systemkontamination“). In letzterem Fall werden „Elemente und/ oder Strukturen, die konventionell als einem fremdmedialen System zugehörig wahrgenommen werden und auf dieses verweisen, mit Mitteln des kontaktnehmenden Mediums […] imitiert bzw. simuliert oder (teil-)reproduziert“ (Rajewsky 2003: 372). 248 mit fiktionalen filmischen Produkten ab den ersten Lebensjahren determiniert wohl entscheidend unsere Vorstellung von Fiktionalität und eine ‘natürlich’ erscheinende Perspektive auf fiktionale Welten und deren Ereignisse. Und so werden fremdmediale Regeln als Gestaltungsprinzipien der Vertextungsverfahren eingesetzt, um eine möglichst ‘bildliche’ Erzählung zu schaffen. Dies wird durch die Innenperspektive ermöglicht und durch die Tempuswahl ausgedrückt. 162 So entsteht Kotemporalität von erzählter Zeit und Erzählzeit. Das Tempus veranlasst eine Verschiebung der erzählten Zeit in die Erzählzeit (vgl. Rajewsky 2002: 125-126). Die „fremdmediale Kontamination“ des Perspektivierungsmusters bewirkt bei der Betrachtung der Ereignisse auf Seiten des Lesers über den Erzähler eine filmbezogene Rezeptionslenkung (= Kameraperspektive) (vgl. Rajewsky 2002: 126). Durch das narrative Präsens wird eigentlich Vergangenes oder Gegenwärtiges (sofern keine kalendarische temporale Lokalisierung der Handlungen stattfindet) aus einer Perspektive ohne temporale Distanz betrachtet. Da der Text die temporale Perspektivik auf die Handlungen vorgibt, ist es möglich, die Ereignisse in der diegetischen Welt durch die Tempuswahl in das ‘Hier und Jetzt’ der Kommunikationssituation zwischen Erzähler und Leser zu transponieren. Diese Verschiebung der erzählten Ereignisse in die ‘Gegenwart’ des Erzählers und des (virtuellen) Lesers entspricht einer Aktualisierung der Ereignisse in der fiktionalen Welt, die sich kotemporal zur Kommunikationssituation im narrativen literarischen Text zwischen Erzähler und (virtuellem) Leser entfaltet. Diese Transposition kann durchaus pragmatisch motiviert sein, um eine Identifikation des realen Lesers mit dem virtuellen Leser zu erzeugen und ersteren dazu zu veranlassen, die Ereignisse der fiktionalen Welt mit seiner realen, außersprachlichen Welt abzugleichen. Ein Beispiel hierfür ist Cardoso Pires’ O Delfim (1968), wo durch die Tempuswahl die Dekonstruktion des Patriarchats auf diegetischer Ebene im ‘Hier und Jetzt’ lokalisiert wird, also am deiktischen Nullpunkt. Diese Lokalisierung zielt jedoch auf eine Identifikation des realen Lesers mit den diegetischen Ereignissen und ist somit eine Einladung zu einer kritischen Reflexion über die zeitgenössische politische Situation Portugals. Aus texthermeneutischer Sicht handelt es sich folglich auch nicht um einen Detektivroman, wie dem Leser zunächst suggeriert wird, sondern um einen Antidetektivroman und bei einer genaueren Analyse um einen der wohl wichtigsten Widerstandsromane im Estado Novo. 163 162 Die Geschichte eines Romans muss nicht notwendigerweise kalendarisch verortet sein. Bei einer Erzählung im narrativen Präsens ohne kalendarische Verortung muss der Leser notwendigerweise die Erzählung zunächst in seiner zeitgenössischen Welt verankern. Das verlangt der Zusammenfall von Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit durch die präsentische Erzählung. 163 Estado Novo (‘Neuer Staat’) ist eine von António Oliveira de Salazar (1889-1970) eingeführte Bezeichnung für die autoritäre Staatsstruktur des salazaristischen Regimes, das in Portugal zwischen 1933 und 1974 herrschte. 249 In Texten, in denen die Handlung kalendarisch verortet ist, wird diese temporale Lokalisierung durch die Perspektivierung mittels Tempus ‘aufgehoben’ beziehungsweise bei der Kodierung des Perspektivierungsmusters unberücksichtigt gelassen. Da Betrachtzeit und Sprechzeit zusammenfallen, werden die Ereignisse der Diegese in das Zeitintervall des (fiktionalen) Lesers transponiert. Der Vergangenheitsbezug wird, anders als beim vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens, aufgehoben. Eigentlich Vergangenes wird als Gegenwärtiges vermittelt, wie es auch der Film mit seiner ihm typischen Gegenwärtigkeit des Geschehens macht, unabhängig davon, wann die Ereignisse der ebenfalls narrativ organisierten filmischen Erzählung tatsächlich stattgefunden haben (vgl. Rajewsky 2002: 127). Die Vertextungsverfahren von Film und Buch sind diametral entgegengesetzt: Im Film wird das Geschehen präsentisch vermittelt, im Fall eines Rückblicks muss folglich die Illusion der Vergangenheit hergestellt werden. Im Roman hingegen muss die Illusion einer Gegenwärtigkeit erzeugt werden (vgl. ebd.), was die Wahl eines entsprechenden Perspektivierungsmusters erfordert, für das die Grammatik das notwendige Werkzeug bereitstellt. Die unterschiedliche Perspektive auf die Ereignisse ist medial bedingt. Das narrative Präsens ist somit eine Antwort auf den ‘Druck’, fiktionale Welten aus einer Innenperspektive zu betrachten und die dort stattfindenden Ereignisse in ihrem Verlauf und nicht auf retrospektive Weise zu perspektivieren. Dazu erforderte es jedoch keinen Grammatikwandel, sondern das Präsens erlebt in seiner prototypischen Bedeutung und entsprechenden Erfüllung seiner grammatischen Aufgaben vielmehr eine funktionale Erweiterung. Das narrative Präsens entspricht somit einem Wandel der textuellen Perspektivierung durch eine Veränderung des Textstrukturmusters. Es liegt keine Veränderung eines Sprachelements vor, also kein Sprachwandel im engeren Sinne. Allerdings verändern sich die Sprachgebrauchsnormen. Dieses Erzählmodell bietet dem Autor echte Vorteile, und so gewinnt das narrative Präsens in diversen Sprachen seit den 1990er-Jahren stark an Popularität und das Modell der Romanstrukturierung wandelt sich massiv. Denn die Verwendung des Präsens als Erzähltempus erfordert aufgrund seiner stärkeren Affinität zu imperfektiver Aspektualität alternative Verfahren zur Erzeugung von narrativer Progression und zur Vorder- und Hintergrundierung. Die perspektivischen Leistungen, die das narrative Präsens im Gegensatz zum Zusammenspiel von Imperfekt und aoristischem Perfekt in den romanischen Sprachen oder zum Präteritum in den germanischen Sprachen nicht erzeugen kann, übernehmen tertia comparatonis. Deshalb weist das Präsens als Erzähltempus keine Einschränkungen in der narrativen Leistung gegenüber den Vergangenheitstempora auf. Nur die sprachlichen Kodierungsstrategien variieren. Bei Verwendung des narrativen Präsens verändert sich die narrative Textstruktur durch die Abweichung vom konventionellen Erzählmuster 250 mittels Verschiebung der Prinzipien der filmischen Kommunikation in das literarische System grundlegend (vgl. Rajewsky 2002: 128). Eine Applikation und Einhaltung der Regel der Gegenwärtigkeit der filmischen Geschehensvermittlung wird also nicht nur vorgetäuscht, sondern tatsächlich, freilich in das literarische Medium verschoben, vollzogen. (Rajewsky 2002: 127) Dabei ist es wichtig, mit Rajewsky (2002: 133) festzuhalten, dass es sich bei der Verwendung des narrativen Präsens um keine Aktualisierung oder Realisierung des fremdmedialen Systems handelt, also nicht um eine Umsetzung jener Merkmale, sondern vielmehr um eine Übertragung von Prinzipien des filmischen Erzählens auf das literarische Erzählen. Im Unterschied zur Systemerwähnung wird bei der Systemkontamination zur Erzeugung des Textes ein System verwendet, das sich zwar notwendigerweise der Instrumente und Mittel der Literatur bedient, zugleich aber fremdmedial ‘kontaminiert’ und damit im Vergleich zu einem konventionellen Erzählen grundlegend in Richtung auf das kontaktgebende System modifiziert ist. […] Eine Systemkontamination qua Translation zielt auf fremdmediale Spezifika des Bezugssystems und schließt insofern eine direkte Übernahme von Regeln des Bezugssystems aus. Die fraglichen Regeln sind […] an die fremdmediale Spezifik des kontaktgebenden Systems gebunden und können mit den Instrumenten und Mitteln der Literatur in ihrer fremdmedialen Spezifik nicht befolgt werden. Eine Verschiebung von […] Regeln des Bezugsystems in das literarische System impliziert […] daß die Regeln in uneigentlicher Form, d.h. nur dem Prinzip nach befolgt und somit wesentliche Gestaltungs-, Kommunikationsund/ oder Konstruktionsprinzipien des fremdmedialen Systems den Vertextungsverfahren unterlegt und zu Bedingungen des Erzählens gemacht werden. (Rajewsky 2003: 374-375, Hervorhebungen im Original) Das Präsens ist das grammatische Mittel und das ‘Instrument der Literatur’, das die Perspektive des filmischen Erzählens am besten im literarischen Erzählen wiedergibt. Das narrative Präsens kann folglich als eine ‘Antwort’ der Literatur auf die Konkurrenz der neuen Medien eingestuft werden, im konkreten Fall der fiktional-narrativen literarischen Erzählung durch den Film. Ein weiteres Indiz dafür liefert uns die einschlägige Literatur zum Robbe-Grilletschen Text, die nicht nur die Verwendung der sogenannten camera eye-Technik unterstreicht, sondern auch deutliche Strukturhomologien innerhalb der Vertextungsverfahren zwischen Text und Film nachweist (vgl. Rajewsky 2002: 147-148, besonders auch Fußnote 57). Rajewskys (2002) Deutung des narrativen Präsens 164 als eines Verfahrens, um Geschichte und Erzählung als kotemporal zu perspektivieren und die Gegenwärtigkeit der Ereignisse in der fiktionalen diegetischen Welt vorzutäuschen, konnte aus linguistischer Sicht bestätigt werden, Denn das 164 Es ist wichtig festzuhalten, dass Rajewsky (2002) den Begriff narratives Präsens nicht verwendet, sondern lediglich von einem Erzählen im Präsens spricht. Die terminologische Präzisierung entspricht einer Anforderung im Rahmen der hier zugrunde gelegten Beschreibungen. 251 narrative Präsens führt semantisch bedingt dazu, dass die Ereignisse ohne temporale Distanz perspektiviert werden und die Merkmale [+ GEGENWARTS - BEZOGEN ], [- ABGESCHLOSSEN ] und [- DISTANZ ] aufweisen. Die Handlungen und Ereignisse auf diegetischer Ebene werden dadurch unabhängig von ihrer chronologisch-kalendarischen Lokalisierung in die Gegenwart transponiert (E,R,S) (vgl. Delfim (2002 [1968]) von José Cardoso Pires). Fiktionalität wird somit in der Literatur durch Grammatik erzeugt, aber nicht, wie oft in der Forschung angenommen wurde, durch eine Grammatik der Fiktionalität im Sinne gesonderter grammatischer Funktionen einzelner grammatischer Kategorien (vgl. Hamburger 1987: 85-91; 102; 111 und 112), sondern durch die vorhandenen perspektivierenden Leistungen von Grammatik. Insofern weisen Erzählungen und Romane im narrativen Präsens eigentlich einen höheren Grad an ‘Fiktionalität’ oder aus konzeptioneller Sicht eine stärker elaborierte Fiktionalität auf, da die Geschichte unabhängig von ihrem thematisch-inhaltlichen Rahmen in das hic et nunc des (fiktionalen) Lesers transponiert wird. Da dies ausschließlich durch Sprache möglich ist, bestätigt sich ferner die eingangs formulierte Ansicht, Sprache determiniere Denken. Bachtin (1988) sieht wesentliche Unterschiede zwischen Epos und Roman. Demnach stelllt das Epos das ‘vollkommen abgeschlossene’ Vergangene dar und lediglich dem Roman räumt Bachtin eine Sphäre der ‘unabgeschlossenen Gegenwart’ ein und betrachtet ihn somit als ‘Kontaktzone’ mit der Erfahrungsgegenwart des Lesers 165 (vgl. Bachtin 1988: 516). Dies wirft natürlich sowohl aus inhaltlicher als auch aus medialer Sicht durch die schriftliche Fixierung Probleme auf, da sich Themen und Perspektivierungsmuster mit der Zeit modifizieren, was einen Film, ein Bild oder ein literarisches Werk in eine gewisse Epoche einschreibt. Dennoch ermöglicht das narrative Präsens ein Perspektivierungsmuster, das genau jenen Eigenschaften des Romans, die Bachtin (1988) als wesentliche Unterschiede gegenüber der ebenfalls narrativen Diskurstradition des Epos hervorhebt, in besonderem Maße gerecht wird. Durch den (zumindest fiktiven) Zusammenfall von Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit kann der Erzähler durch die Verwendung des narrativen Präsens vergangene Ereignisse in die ‘Gegenwart’ der narrativen Erzählsituation transponieren. Es handelt sich entgegen Ballweg (1984: 250) um ein Shifting der Ereignisse von der Vergangenheit in Gegenwart. Im Bachtinschen Sinn werden die erzählten Ereignisse dadurch so betrachtet, als wäre ihr Ausgang noch nicht bestimmt (vgl. Bachtin 1988: 528). Ein Blick in die Intermedialitätsforschung stützt also die eingangs formulierte Hypothese, das narrative Präsens könnte eine grammatische Technik sein, um den Wahrnehmungsmustern des Menschen in einem 165 Diesen Kontakt mit der Erfahrungsgegenwart des Lesers und die Sphäre der Unabgeschlossenheit postulieren daher viele Literaturwissenschaftler und Narratologen als Grundbedingung für Fiktionalität im modernen Sinn (vgl. Witte 2010: 187). 252 Zeitalter der Massenmedien und des Films gerecht zu werden und um das Perspektivierungsmuster den damit verbundenen Herausforderungen anzupassen. Bei präsentischen Romanen liegt eine Systemkontamination qua Translation vor, bei der auf das System Film Bezug genommen wird (vgl. Rajewsky 2002: 157). Außerdem wird das durch das narrative Präsens erzeugte Perspektivierungsmuster der Anforderung an Romane in besonderem Maß gerecht, durch die temporale Perspektive auf die Ereignisse der Diegese eine Kontaktzone mit der Erfahrungswelt des Lesers herzustellen (vgl. Bachtin 1988: 516). In einem weiteren Schritt wird nun die Perspektivierungshypothese anhand von Tests mit Probanden überprüft. 10.3 Das narrative Präsens aus der Perspektive des Lesers Wie bereits die Ergebnisse der Autorenbefragung in der Studie von Roth (2000) zeigen, haben Autoren in der Regel kein tieferes Bewusstsein für die Verwendung des Präsens als Erzähltempus in ihren Romanen, deuten jedoch in ihren ad-hoc-Erklärungsansätzen wiederholt die erzeugte Perspektive als Motiv für ihre Tempuswahl an (vgl. Kapitel 2.3). Nun soll untersucht werden, ob den Lesern die Verwendung des Präsens als Erzähltempus auffällt. Diese Frage erscheint vor dem Hintergrund der Studien zur Textverarbeitung aus den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Psycholinguistik durchaus gerechtfertigt. Die neuere Forschung zur Textverarbeitung nimmt anders als die traditionelle Forschung an, dass der Leser keine komplexen Inferenzen beim Lesen erstellt (vgl. hierzu McKoon/ Ratcliff 1992: 445). Man geht hingegen von einer minimalistischen Hypothese aus, derzufolge sich die kognitive Verarbeitung auf leicht zugängliche Information im Text und daraus ableitbare Inferenzen beschränkt und der Leser eine räumlich kohärente Darstellung der Teile des Textes, die gerade kognitiv verarbeitet werden, inferiert (vgl. McKoon/ Ratcliff 1992: 440; McKoon/ Ratcliff 1998: 26). Temporale Inferenzen spielen bei einer ersten Annäherung keine nennenswerte Rolle. According to this hypothesis [= ‘minimalist hypothesis’, Anmerkung B.M.], the only inferences that are encoded automatically during reading are those that are based on easily available information, either from explicit statements in the text or from general knowledge, and those that are required to make statements in the text locally coherent. […] automatically encoded minimalist inferences provide the basic representation of textual information from which more goal-directed, purposeful inferences are constructed. (McKoon/ Ratcliff 1992: 440) Der Fokus des Lesers auf die leicht zugänglichen Kerninformationen des Textes und auf die kohärente räumliche Darstellung legt die Hypothese nahe, dass Tempus determiniert, wie der Leser die Diegese perspektiviert, der Leser aber keinen höheren Bewusstseinsgrad für die Tempuswahl auf- 253 weist und folglich auch nicht für die Verwendung des narrativen Präsens. Diese abgeleitete Hypothese gilt es nun mittels Testverfahren zu überprüfen. Außerdem sollen im Rahmen der leserorientierten Tests mögliche ‘Vorteile’ oder auch ‘Nachteile’ eines präsentischen Erzählens in der geschriebenen Sprache herausgearbeitet werden. Ziel ist es, dadurch den in dem vorausgehenden Abschnitt 10.2 erarbeiteten Erklärungsansatz durch weitere Indizien zu bestätigen und dadurch einen Erklärungsansatz für den ‘Siegeszug’ des narrativen Präsens zu formulieren. Bei den Tests mit Probanden für die jeweiligen dieser Untersuchung zugrunde liegenden Sprachen liegt das Augenmerk auf den Auswirkungen des präsentischen Erzählens auf Rezeption und Perzeption durch den Leser. Die Erhebung wurde mittels Fragebögen unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt. Die Fragebögen bestanden jeweils aus drei Teilen und wurden für die fünf betrachteten Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch angefertigt. Vorweg wurden soziolinguistisch relevante Fragen zur Person gestellt, um die Vergleichbarkeit der Probandenpopulation zu garantieren, und dann wurden die Fragebögen anonymisiert. Die Stichproben für die jeweiligen Sprachen sollten im Hinblick auf die Gender- und die Altersdistribution homogen sein. Die Datenerhebungen wurden in den jeweiligen Ländern durchgeführt und die Fragebögen hierzu in Papierform vorgelegt. 166 Am Ende der Erhebung wurden schließlich 20 Probanden pro Sprache berücksichtigt, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse im Hinblick auf die Parameter Gender und Altersdistribution zu gewährleisten. Zur Zusammenstellung der Probandenpopulation siehe Tabellen (3) und (4). Deutsch Englisch Portugiesisch Spanisch Französisch Männlich (♂) 8 7 6 6 6 Weiblich (♀) 12 13 14 14 14 Gesamtzahl der Probanden 20 20 20 20 20 Tabelle 3 - Geschlechterverteilung der Probanden 166 Die Befragungen für das Deutsche, das Spanische und das Portugiesische erfolgten zwischen März und September 2009, für das Französische zwischen September und November 2010 und für das Englische zwischen August und Oktober 2011. 254 Deutsch Englisch Portugiesisch Spanisch Französisch 15-30 Jahre 5 5 5 6 6 30-45 Jahre 9 10 10 10 7 45-60 Jahre 5 4 3 3 7 > 60 Jahre 1 1 2 1 0 Gesamtzahl der Probanden 20 20 20 20 20 Tabelle 4 - Verteilung der Probanden nach Alter Umfangreichere Auswertungen für das Portugiesische und das Deutsche bestätigten indes die Ergebnisse, da diese aus statistischer Sicht keine signifikante Variation aufwiesen, 167 wenn man die Zahl der Probanden erhöhte. Dies belegt, dass die Zahl der gewählten Testpersonen statistisch repräsentativ ist, um Aussagen bezüglich der zu überprüfenden Hypothesen treffen zu können. Die Schulbildung der Probanden stellte ebenfalls einen wichtigen Parameter dar. Es galt zu vermeiden, dass die Probandengruppen im Bildungsgrad stark voneinander abwichen und dass Leser ohne regelmäßige Lesegewohnheiten befragt würden, deren Einschätzungen ohne einen gewissen Bewusstseinsgrad für Erzählmuster im Roman komplett spontan erfolgen würden. Fragen zu den Romantypen und den Faktoren, welche die Auswahl der gekauften Romane am meisten beeinflussen, sollten hingegen primär dazu dienen, um von einer konditionierten Lektüre der im ersten Teil vorgestellten Romanpassagen abzulenken. Um eine unnatürliche Lenkung der Aufmerksamkeit der Leser auf die Tempora zu vermeiden, wurde den Probanden der Fragebogen als Teil einer Studie zur Ästhetik neuerer Romane vorgestellt. Durch die Verteilung der Testpersonen in vier beziehungsweise de facto vorwiegend drei Altersgruppen (vgl. Tabelle 4) konnte eine signifikante Varianz nach dem Kriterium Alter ausgeschlossen werden. Anzumerken bleibt jedoch, dass entgegen den für alle Sprachen konstatierten Erwartungen die Zahl der Leser ab 45 Jahren, die das Präsens als Erzähltempus bevorzugen, leicht höher ist als die der jüngeren Leser. In einem ersten Teil der Leserbefragung wurden den Probanden jeweils vier Textpassagen für die jeweiligen Sprachen aus unterschiedlichen Romanen vorgelegt: 168 zwei im traditionellen Erzähltempus, zwei im narrativen Präsens. Die Leser sollten diese hinsichtlich folgender Parameter bewerten: 167 Für das Deutsche wurde die Untersuchung auf 120, für das Portugiesisch auf 48 Befragungen ausgeweitet, um die Repräsentativität der Ergebnisse zu überprüfen. 168 Für das Deutsche wurden für das Präteritum Passagen aus Das Parfüm (1985) von Patrick Süskind und aus Nachtzug nach Lissabon (2004) von Pascal Mercier vorgelegt 255 a. Die Passage wirkt ruhig. Versus Die Passage wirkt lebhaft/ hektisch. b. Die Passage wirkt erzähltypisch. Versus Die Passage wirkt unkonventionell. c. Die Passage wirkt literarisch. Versus Die Passage wirkt wie gesprochene Sprache. d. Der Leser betrachtet das Ereignis aus der Distanz. Versus Der Leser hat das Gefühl, an der Handlung teilzunehmen oder diese mitzuerleben. Die Bewertung konnten die Leser durch die Wahl der kontinuierlich gestaffelten Option (++); (+) in die jeweiligen Richtungen oder als neutral angeben. Die Textpassagen wurden den Probanden ohne Angabe des Autors vorgelegt, um eine Beeinflussung der Leserurteile zu vermeiden. 169 Nach der Bewertung der Texte wurden die Probanden gebeten, ihren Favoriten anzugeben und die Handlungen auf der Ebene der Diegese auf einer Zeitachse zu lokalisieren. Dieser Test zeigt eindeutig, dass die Leser Tempus nicht bewusst wahrnehmen beziehungsweise dass dieses keinen und für das narrative Präsens aus Crazy (1999) von Benjamin Lebert und aus Die Klavierspielerin (1983) von Elfriede Jelinek. Für das Englische wurden Disgrace (1999) von John Maxwell Coetzee und Waterline (2011) von Ross Raisin für das narrative Präsens und Sacred Hearts (2010) von Sarah Dunant und The Hotel New Hampshire (1981) von John Irving für das Präteritum herangezogen. Für das Französische wurde eine Passage aus Désert (1980) von J.M.G. Le Clézio und eine aus Je vais bien, ne t’en fais pas (1999) von Olivier Adam für das narrative Präsens herangezogen und eine Passage aus Toutes ces choses qu’on ne s’est pas dites (2009) von Marc Levy und eine aus Le portrait (2007) von Pierre Assouline für die Kombination aus passé simple und imparfait als Erzähltempus. Für das Spanische wurden für das narrative Präsens Textpassagen aus La vieja sirena (1990) von José Luís Sampedro und aus Días de sal (2008) von Antonio Iturbe verwendet und aus Tengo miedo torero (2001) von Pedro Lemebel und Los Santos Inocentes (1981) von Miguel Delibes für die Erzählung im indefinido und imperfecto. Für das Portugiesische wurden Textpassagen aus Alegria Breve (1965) von Vergílio Ferreira und aus Sei lá (1999) von Margarida Rebelo Pinto für das narrative Präsens herangezogen und aus A Ilha das Trevas (2002) von José Rodrigues dos Santos und aus Alma (1995) von Manuel Alegre für die Kombination pretérito perfeito und pretérito imperfeito als Tempus der Erzählsubstanz. 169 Eine vorausgehende Pilotstudie für das Deutsche und das Portugiesische mit offenen Antworten, auf der die zur Auswahl gestellten Antworten basieren, um die Auswertung für diese Arbeit zu erleichtern, hatte gezeigt, dass besonders im Portugiesischen die Probanden oftmals subjektive Faktoren bei ihren Bewertungen der Textpassagen mit verrechnen. So wurde die Klassifikation von Textpassagen von Vergílio Ferreira stark von subjektiven Faktoren wie der verpflichtenden Auseinandersetzung mit seinem Werk im Rahmen der exames nacionais (‘Abitur’), besonders mit dem stark vom Existenzialismus von Sartre geprägten Werk A Apariç-o (1959) und dem schweren Zugang, den die Leser als Schüler zu seinem Werk hatten, geprägt. Bei Widerstandsautoren hingegen zeichnete sich bei zahlreichen Lesern eine ungleich positivere Einstellung ab, wie das Beispiel von José Cardoso Pires O Delfim (1968) zeigt. Um eine Beeinflussung durch solche subjektiven Kriterien auszuschließen, wurden die Texte in den jeweiligen Tests anonymisiert. 256 Einfluss auf eine zeitliche Verortung der Ereignisse hat. Es wurde deutlich, dass lexikalische Selektionen und die syntaktische Strukturierung die Bewertung der Leser bezüglich der Lebhaftigkeit der Passage viel stärker beeinflussen als das Tempus. Die vom Leser empfundene Distanz zu den erzählten Ereignissen wird zwar durch Tempus determiniert und es besteht folglich eine Interdependenz zwischen Tempuswahl und Perspektivierung, jedoch handelt es sich hierbei lediglich um ein begünstigendes Erzählmuster. Dies zeigt sich besonders am Beispiel der romanischen Sprachen, wo insgesamt zwar eine viel eindeutigere Assoziation zwischen Vergangenheitstempora und Distanz der Ereignisse besteht als in den germanischen Sprachen, und dennoch im Fall der folgenden präsentischen Textpassage (153) aus Antonio Iturbes Roman Días de sal (2008) 60% (12/ 20) 170 der Probanden der Auffassung sind, dass der Leser die Ereignisse aus der Entfernung betrachtet. (153) Una mañana sin resaca decide abandonar su búnker de sábanas y mantas revueltas y exponerse a la luz del sol para acercarse hasta los astilleros con la intención de ver a su amigo Adri y pedirle trabajo. Piensa que tal vez podría proponerle que abriese un departamento de comunicación y publicidad, indispensable en unos astilleros importantes y en plena expansión como los suyos. O puede que tal vez no tenga cubierta la parte de marketing, eso que nadie sabe exactamente lo que es, pero que llena la boca de muchos ejecutivos que confunden la publicidad con el marketing, como la velocidad con el tocino. […] Busca con la mirada el letrero que anuncie los astilleros Calduch, ojeando los mejores talleres situados en la entrada del muelle, pero no lo encuentra. Desfila ante una hilera de portones que salpican chispas de soplete con una banda musical de sierras mecánicas y voces de operarios tratando de hacerse entender a gritos por encima del ruido. Por fin, al final de la avenida de talleres adosados con vistas al mar encuentra el letrero anunciador de Calduch […] (Iturbe 2008: 76-77) ‘Eines Morgens ohne Rausch beschließt er, seinen Bunker aus Bettlaken und aufgewühlten Decken zu verlassen und sich dem Sonnenlicht auszusetzen, um in Richtung Schiffswerft zu gehen mit der Absicht, seinen Freund Adri zu treffen und ihn um Arbeit zu bitten. Er denkt, dass er ihm vielleicht vorschlagen könnte, eine Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit und Werbung zu eröffnen, unabdingbar in wichtigen Schiffswerften, und vor allem, wenn diese gerade am Expandieren sind, wie die seinigen. Oder vielleicht hat er den Marketingbereich nicht abgedeckt, diesen Bereich, von dem keiner weiß, was es wirklich ist, der jedoch den Mund zahlreicher Führungskräfte füllt, die Werbung und Marketing verwechseln, so wie die Geschwindigkeit mit dem Speck. […] 170 Absoluter Wert: 12 von 20 Probanden. 257 Er sucht nach dem Schild, das die Schiffswerften Calduch ankündigt, und blickt dafür auf die besten Werkstätten am Eingang des Hafendamms, aber er findet es nicht. Er läuft an einer Reihe von Toren entlang, aus denen Schneidebrennerfunken herausspritzen zur Melodie einer Band, bestehend aus mechanischen Sägen und Stimmen von Bauarbeitern, die sich bemühen, in dem ganzen Lärm verstanden zu werden. Am Ende der Straße mit aneinander gereihten Werkstätten mit Blick aufs Meer findet er endlich das Schild, das Calduch ankündigt […].’ Ein vergleichbares Urteil fällen die portugiesischen Leser bezüglich Passage (154) aus Vergílio Ferreiras Werk Alegria Breve (2004 [1965]), bei der 70% der Probanden (14/ 20) empfinden, dass die Ereignisse aus der Ferne betrachtet werden. (154) Para um lado e outro do altar há uma espécie de degraus. Vanda ent-o volta-se devagar, os braços ao longo do corpo, e de um a um desce os degraus até às lajes do ch-o. Descalça? N-o lhe vejo os pés. Rituais, as vestes arrastam-se no lajedo, prolongam-se ao excessivo de nós e do instante. Vem pelo meio da capela, pára. É curioso olhar o altar sem o santo - que é que isto significa? Um altar mutilado. A santa veio até mim. Parou a meio da pequena coxia, um pouco à minha frente. Devo ser imensamente forte - nevará outra vez? Olho pela janela, o ar torna-se denso. Imóvel, à espera, meu coraç-o escuta. Cai neve de novo, vejo-a. E mais do que nunca o mundo é deserto. Como flores num sepulcro, cai neve. Que desprezo do céu? Ou piedade. Flores que tombam, pétalas derradeiras, amontoadas, para cobrirem bem a campa, a separarem dos nossos pecados, do pecado e da glória de continuarmos vivos - Águeda. As estacas escuras, um pouco desordenadas - dorme. Preciso de ir à vila. Abro a janela, cai neve. N-o muita. O ar frio cristaliza a memória. É límpida, exacta, fixa. Tempo de nunca. Cerro um pouco os olhos, sombras que passam, fino indício, sinos, ó alegria branca, ternura breve, inverosímil, na obscuridade de mim, e tanto. Tanto, que n-o sou eu aí, mas apenas o involuntário e o estranho e o alheio de magnitude, do resistente invisível n-o apagado ainda como os vulcões extintos. Cai neve. Ent-o eu próprio dou um passo. Vanda aguarda sempre, as pregas da túnica desenham a curva da sua ascens-o. Denso, o seu corpo pesa. Entre ambos estou eu. Centro da minha divindade. Estende-me um braço. (Ferreira 2004 [1965]: 118-119) ‘Auf die eine und die andere Seite des Altars führen eine Art Stufen. Vanda dreht sich langsam um, die Arme am Körper entlang, und geht Stufe um Stufe die Treppe hinunter bis zu den Steinplatten des Bodens. Barfuß? Ich sehe ihre Füße nicht. Rituale. 258 Die Gewänder schleifen über die Steinplatten und verlängern sich in den Exzess der Knoten und des Augenblicks. Sie kommt durch die Mitte der Kapelle; bleibt stehen. Es ist merkwürdig den Altar ohne den Heiligen zu betrachten. Was bedeutet das? Ein verstümmelter Altar. Die Heilige kam zu mir her. Sie blieb inmitten des schmalen Gangs stehen, ein Stückchen vor mir. Ich muss sehr stark sein - wird es wieder schneien? Ich schaue beim Fenster hinaus, die Luft wird dick. Regungslos wartend lauscht mein Herz. Es fällt wieder Schnee. Ich sehe ihn. Und mehr denn je zuvor ist die Welt verlassen. Wie Blumen auf ein Grab, so fällt der Schnee. Was für eine Verachtung des Himmels? Oder Mitleid? Blumen, die fallen, letzte Blütenblätter gehäuft, um das Grab gut zu bedenken und es von unseren Sünden zu trennen, von der Sünde und der Ehre, dass wir weiterhin am Leben sind - Águeda. Die dunklen Tragpfähle, ein wenig unsortiert - schlaf. Ich muss in den Ort. Ich öffne das Fenster. Es schneit. Nicht viel. Die kalte Luft kristallisiert die Gedanken. Sie ist exakt, rein und fest. Zeit des Niemals. Ich schließe ein wenig die Augen, Schatten, die vorbeiziehen, ein sanftes Anzeichen, Glocken, oh weiße Freude, vergängliche Zärtlichkeit, unwahrscheinlich, in der Vergessenheit meiner selbst und viel. So viel bin ich nicht dort, sondern nur der Unfreiwillige und der Seltsame und der Gleichgültige gegenüber Wichtigkeit des unsichtbaren Widerstandes, jedoch nicht erloschen wie erloschene Vulkane. Es schneit./ / Dann gehe ich selbst einen Schritt. Vanda wartet immer, die Falten ihrer Tunika zeichnen die Kurven ihres Aufgangs. Angespannt wiegt ihr Körper. Zwischen beiden bin ich. Zentrum meiner Göttlichkeit. Sie streckt mir einen Arm entgegen.’ Bei Paul Merciers Nachtzug nach Lissabon (2006 [2004]) (155) sind 70% (14/ 20) der Testpersonen der Auffassung, an der Handlung teilzunehmen oder diese mitzuerleben, obwohl die Erzählung im Präteritum erfolgt. Dasselbe gilt für eine den Testpersonen vorgelegte Passage aus Patrick Süskinds Roman Das Parfüm (1985). (155) Gregorius stand an der Theke einer kleinen Bar und trank einen Kaffee. Es war schon das zweite Mal, daß er hier stand. Vor einer Stunde war er auf die Rua Luz Soriano gestoßen und hatte nach wenigen Schritten vor Prados blauer Praxis gestanden, einem dreistöckigen Haus, das einmal wegen der blauen Kacheln insgesamt blau wirkte, aber viel mehr noch, weil sämtliche Fenster von hohen Rundbögen überwölbt wurden, die mit leuchtendem Ultramarin ausgemalt waren. […] Die Klingel war ohne Namenschild. Mit pochendem Herzen hatte Gregorius die Tür mit Messingklopfer betrachtet. Als läge meine ganze Zukunft hinter dieser Tür, hatte er gedacht. 259 Dann war er ein paar Häuser weiter in die Bar gegangen und hatte gegen das bedrohliche Gefühl angekämpft, daß er dabei war, sich zu entgleiten. (Mercier 2006 [2004]: 120) Bei einer Passage aus dem Roman von Elfriede Jelinek Die Klavierspielerin (2007 [1983]) empfinden hingegen 60% (12/ 20) der Probanden, dass die Erzählung rückblickend auf die Ereignisse erfolgt. Außerdem sind durchaus 80% der Befragten (16/ 20) der Meinung, dass die Passage literarisch wirkt und sogar 85% (17/ 20) werten sie als erzähltypisch und konventionell. (156) Dieser formlose Kadaver, diese Klavierlehrerin, der man den Beruf ansieht, kann sich schließlich noch entwickeln, denn zu alt ist er gar nicht, dieser schlaffe Gewebesack. Sie ist sogar relativ jung, vergleicht man sie mit ihrer Mutter. Dieses krankhaft verkrümmte, am Idealen hängende Witzwesen, veridiotet und verschwärmt, nur geistig lebend, wird von diesem jungen Mann auf das Diesseits umgepolt werden. […] Walter Klemmer fährt im Sommer und schon im Frühjahr auf Wildwassern Paddelboot, sogar Tore umrundet er dabei. Er bezwingt ein Element und Erika Kohut, seine Lehrerin wird er auch noch unterwerfen. […] Herr Klemmer, der sich zu ihr durchwindet, strahlt sie aus festlich eingestimmten blauen Augen an. Er greift mit beiden Händen nach einer Pianistinnenhand und sagt küßdiehand und daß er über gar keine Worte verfügt, Frau Professor. Erikas Mama sticht zwischen die beiden hinein und untersagt den Händedruck nachdrücklich. Es soll kein Zeichen der Freundschaft und Verbundenheit geben, weil das die Sehnen verbiegen könnte, und dann wäre das Spiel beeinträchtigt. (Jelinek 2007 [1983]: 69-71) Im Fall des Französischen bewerten sogar 95% (19/ 20) die Passage (143) aus Le Clézios Roman Désert (2008 [1980]) als elaboriert und literarisch und 75% (15/ 20) empfinden die Passage als erzähltypisch und konventionell, obwohl die Erzählung im Präsens erfolgt. 90% der Testpersonen nehmen die zitierte Passage als ruhig wahr. (157) C’est ici que vit celui que Lalla appelle Es Ser, le Secret, parce que personne ne sait son nom. Alors elle arrive devant le grand plateau de pierre blanche qui s’étend jusqu’aux limites de l’horizon, jusqu’au ciel. La lumière est éblouissante, le vent froid coupe les lèvres et met des larmes dans les yeux. Lalla regarde de toutes ses forces, jusqu’à ce que son cœur batte à grands coups sourds dans sa gorge et dans ses tempes, jusqu’à ce qu’un voile rouge couvre le ciel, et qu’elle entende dans ses oreilles les voix inconnues qui parlent et qui marmonnent toutes ensemble. Puis elle avance au milieu du plateau de pierres, là où ne vivent que les scorpions et les serpents. 260 Il n’y a plus de chemin sur le plateau. Ce ne sont que des blocs brisés, aigus comme des couteaux, où la lumière fait des étincelles. Il n’y a pas d’arbres, ni d’herbe, seulement le vent qui vient du centre de l’espace. C’est là que l’homme vient quelquefois à sa rencontre. Elle ne sait pas qui il est, ni d’où il vient. Il est effrayant quelquefois, et d’autres fois il est très doux et très calme, plein d’une beauté céleste. Elle ne voit de lui que ses yeux, parce que son visage est voilé d’un linge bleu, comme celui des guerriers du désert. Il porte un grand manteau blanc qui étincelle comme le sel au soleil. Ses yeux brûlent d’un feu étrange et sombre, dans l’ombre de son turban bleu, et Lalla sent la chaleur de son regard qui passe sur son visage et sur son corps, comme quand on s’approche d’un brasier. (Le Clézio 2008b [1985]: 94-95) ‘Hier wohnt der Mann, den Lalla Es Ser nennt, den Geheimnisvollen, weil niemand seinen Namen kennt. Dann steht sie vor dem großen Plateau aus weißem Stein, das sich bis zu den Grenzen des Horizonts, bis zum Himmel erstreckt. Das Licht blendet, der kühle Wind schneidet in die Lippen, treibt Tränen in die Augen. Lalla schaut mit aller Kraft, bis ihr das Herz mit dumpfen Schlägen in Hals und Schläfen pocht und sie die unbekannten Stimmen hört, die alle durcheinander reden und murmeln. Dann geht sie bis zur Mitte des Steinplateaus, wo nur noch Skorpione und Schlangen leben. Auf dem Plateau gibt es keinen Weg mehr, nur geborstene Blöcke mit messerscharfen Kanten, auf denen das Licht Funken schlägt, weder Bäume noch Gras, nur den Wind, der aus dem Zentrum des Alls kommt. Dort begegnet sie manchmal dem Mann. Sie weiß nicht, wer er ist, noch woher er kommt. Manchmal ist er furchterregend, dann wieder sanft und sehr ruhig, erfüllt von einer überirdischen Schönheit. Sie sieht nur seine Augen, denn sein Gesicht ist mit einem blauen Tuch verschleiert wie bei den Kriegern der Wüste. Er trägt einen langen weißen Mantel, der wie Salz in der Sonne funkelt. Im Schatten seines blauen Turbans glimmt ein seltsames, düsteres Feuer in seinen Augen, und Lalla spürt die Hitze seines Blicks, der über ihr Gesicht und ihren Körper gleitet, so wie wenn man sich einer Feuersglut nähert.’ Die enge Verbindung zwischen Diaphasik und der Wortschatzselektion belegt Crazy ( 28 2000 [1999]) von Benjamin Lebert (158), wo lediglich ein Proband der Auffassung ist, der Text wirke literarisch, während ihn 70% (14/ 20) stilistisch als gesprochene Sprache einstufen. Immerhin 25% (5/ 20) der Testpersonen bewerten das Erzählmuster als neutral. Und dennoch empfinden lediglich 35% den Text als unkonventionell, gegenüber 40%, die ihn für relativ erzähltypisch halten. 171 171 Es fällt auf, dass keiner der befragten Probanden die Textpassage mit (++) als erzähltypisch oder unkonventionell beurteilt, sondern lediglich mit (+). Die hohe Zahl an unentschlossenen (5 Probanden bewerten die Passage als neutral) und die Ausge- 261 (158) Zum Abendessen gibt es Vanillecroissants. Das ist gut. Viele Schüler darunter Zehnt-, Elft- und Zwölftkläßler, sind zu einer Kunstausstellung gefahren. So bleibt mehr für uns übrig. Der dicke Felix hat Extratüten mitgebracht. Er will ein paar Croissants nach oben mitnehmen. Wir verstecken die Tüten unter dem Tisch. In regelmäßigen Abständen holen wir Nachschlag. Das fällt nicht auf. Florian hat sogar ein wenig Kakao aufgetrieben. Das gelingt selten, sagt Janosch. Zum Abschluß gibt es Obst. Wir sind begeistert. Auch Troy lacht. Er nimmt sich noch ein Croissant. Draußen schneit es. Hagelkörner prasseln gegen das große Fenster. Es ist laut. (Lebert 2000: 38) Die hier exemplarisch vorgestellten Ergebnisse indizieren, dass die neue Tendenz, das Präsens als Erzähltempus zu verwenden, von den Lesern eher unbemerkt bleibt und sich die Tempuswahl nicht wesentlich auf die Rezeption des literarischen Textes als solches auswirkt. Berücksichtigt man nun noch den dritten Teil des Tests, wo die Probanden unter anderem angeben sollten, welches Tempus sie für einen eigenen Roman als Erzähltempus selegieren würden, 172 so zeigt sich eine Diskrepanz zwischen der Diskursnorm, die eine reflektierte Antwort konditioniert, und der Selektion von Passagen, die den Leser am meisten ansprechen. Entsprechend der in den Köpfen der Leser etablierten Diskursnorm für Romane bevorzugen 75% der deutschen und 60% der englischen Probanden das Präteritum als Erzähltempus, gegenüber 55% der spanischen, 55% der französischen und 50% der portugiesischen Probanden, die das Zusammenspiel aus Perfekt für vordergrundierte und Imperfekt für hintergrundierte Handlungen bevorzugen. Betrachtet man den ersten Teil der Befragung, so fällt auf, dass trotz einer allgemeinen Präferenz für das konventionelle Textmuster mit Vergangenheitstempora als Erzähltempus die Zahl jener Probanden, die präsentische Textpassagen selegierten, nicht auffallend geringer ist. Eine Ausnahme bildet das Deutsche. Hier fiel die Befragung jedoch in einen Zeitraum, in dem die Diskussion um das Präsens als Erzähltempus in der Öffentlichkeit und den Medien vergleichsweise stark präsent war (vgl. Greiner 2009), was eine gewisse Abweichung erklärt. Betrachtet man hingegen die Tempuswahl, wenn die Probanden selber einen Roman verfassen würden, schneidet das Präsens deutlich schlechter ab. Die Erklärung hierfür: In dem Moment, wo man die Probanden nach dem Tempus fragt, das sie wählen würden, um einen Roman zu verfassen, machen sich die Befragten die etablierte, konventionalisierte Diskursnorm bewusst und sie antworten vor diesem Hintergrund. wogenheit zwischen den Bewertungen als erzähltypisch und als unkonventionell mit vergleichsweise großer Zurückhaltung bei der Einschätzung belegen die Spannung, die aus der Kombination einer relativ klassischen und unmarkierten syntaktischen Struktur mit einem diaphasisch sehr niedrig markierten Wortschatz entsteht. 172 Bei der Benennung von Gründen waren Mehrfachnennungen möglich. Es handelte sich um eine Frage mit offener Antwortmöglichkeit. Die Befragten konnten zusätzlich zu den vorgegebenen Wahlmöglichkeiten beliebig viele eigene Gründe ergänzen. 262 Bei der Produktion von Erzählungen greift der Produzent auf Aspekte der makrostrukturellen Planung zurück, die standardisiert und als Strategiewissen abgespeichert sind (vgl. Stutterheim/ Kohlmann 2003: 443). Die Produktion eines bestimmten Texttyps oder einer bestimmten Textsorte ist daher das Resultat eines schemagesteuerten Produktionsprozesses (vgl. Hermann/ Kilian/ Dittrich/ Deryer 1992), bei dem die Produzenten auf gruppenbezogene Wissensbestände über bestimmte Texte und bestimmte Diskurs- oder Texttraditionen und die damit verbundenen Textmuster und Vertextungsstrategien zurückgreifen (vgl. Oesterreicher 2008a: 147). Anteil der Probanden, die eine präsentische Textpassage in Teil I des Tests bevorzugen Anteil der Probanden, die einen Roman im Präsens verfassen würden Deutsch 25% 20% Englisch 40% 25% Portugiesisch 50% 35% Spanisch 55% 25% Französisch 55% 40% 173 Tabelle 5 - Präferenz der Leser für präsentische Erzählungen im Spannungsfeld von ‘Bewusstsein’ und ‘Unbewusstsein’ für das selegierte Erzähltempus, in Prozent Wie in Tabelle 5 zu sehen ist, kommen bei diesem gewissermaßen automatisierten Rückgriff die konventionalisierten Diskursnormen zum Tragen. Bei der Lektüre hingegen spielen die Diskursnormen erst eine Rolle, wenn es Interferenzen oder Störungen bei der Rezeption und Perzeption der 173 Hier fällt die vergleichsweise hohe Zahl der Probanden auf, die das Präsens selegieren würden, gegenüber lediglich 15% (3/ 20), die das passé composé verwenden würden. Dies ist eine wichtige Bestätigung der Einschätzung von Becker (2010a), dass das passé composé in literarischen Texten eine andere Funktion als das passé simple hat, da es in journalistischen und in narrativen Prosatexten ‘origo-inklusiv’ ist, während das passé simple ‘origo-exklusiv’ in der hier verwendeten Terminologie ist. Das heißt, beim passé composé befindet sich der Betrachter am Standort des Sprechers und bildet eine Einheit mit diesem. Diese Perspektive ist jedoch nur noch in den eben erwähnten Diskurstraditionen auffindbar. In der gesprochenen Sprache ist das passé composé aoristisch. Becker (2010a: 7-8) verwendet die Terminologie „anaphorisch“ für das passé simple und „deiktisch“ für das passé composé, was durch unterschiedliche Konzeptualisierungen der narrativen Progression bedingt ist. Nach Becker verweist das passé simple „bei der Lokalisierung eines Ereignisses auf das jeweils vorangehende als sein Referenzbzw. Diskurszeitpunkt im Rahmen der temporalen Interpretation“ (Becker 2010a: 7) und mit jeder neuen Ereignisprädikation ‘wandert’ dieser Referenzpunkt in der Entfaltung der textlichen Produktion. Das passé simple hat laut Becker inhärent die Fähigkeit zur Sequenzialisierung von Ereignissen. Im Gegensatz zu der hier vertreten Auffassung ist der ‘Motor’ der narrativen Progression das Verb, das den Referenzzeitpunkt gewissermaßen durch die anaphorische Referenz zwischen den Verben ‘schiebt’ und nicht durch ‘Neuverrechnungen’ der Betrachter-Origo gegenüber dem Sprecher. Der Auslöser der Progressionsdynamik ist also in den jeweiligen Konzeptionalisierungen ein unterschiedlicher. Bezüglich der Rolle des perfektiven passé simple zur Erzeugung narrativer Progression stimmen die beiden Auffassungen jedoch überein. 263 Narration gibt. Dies geschieht zum Beispiel bei der Popliteratur durch einen massiven Bruch der konventionalisierten Normen auf diversen textuellen Ebenen (Lexik, Syntax, Diskursstrukturierung, erzeugte Perspektive, u.a.). Die relativ hohe Akzeptanz des Präsens als Erzähltempus im Französischen überrascht eher, ließ sich jedoch durch die zusätzliche Auswertung von 10 Probanden in ihrer Tendenz bestätigen. Dagegen zeigen die Zahlen insgesamt die Diskrepanz zwischen etablierter Diskursnorm, die tief im Bewusstsein der Leser verankert ist, und tatsächlicher Präferenz der Leser. Voraussetzung ist natürlich, dass ihre Aufmerksamkeit nicht durch einen radikalen Bruch auf der Ebene des Textmusters gestört ist, das heißt durch Korrelierung diverser sprachlicher Phänomene, die gegen die konventionalisierten Erzählmuster verstoßen. Dies ist der Fall in der Popliteratur (vgl. Baßler 2005; 2007), wo der Leser am Diskurs Anstoß nimmt und dadurch seine Aufmerksamkeit unter anderem auch auf das Erzähltempus gelenkt wird. 174 Romane, die insgesamt dem klassischen Erzählmuster literarischer narrativer Texte entsprechen und dennoch im Präsens erzählt werden, wie Disgrace (1999) von Coetzee oder O delfim (1968) von Pires, sind bei den Lesern beliebter als Romane, in denen ein klassisches Erzählmuster und die klassische Perspektivik vorliegen. Probanden, die im Fall des Deutschen das Präsens bei vorgelegten Passagen bevorzugen, nannten als Gründe, dass die Erzählung dadurch lebhafter und spannender gestaltet wird (2/ 4) und machen ihre Wahl vom Inhalt abhängig (1/ 4). Für das Englische gaben 3 der Testpersonen die Unmittelbarkeit der diegetischen Ereignisse, die das Präsens ausdrücken würde, an und 2 den leichteren Zugang zur Erzählung und die Steigerung der Spannung. Diese Einsicht widerspricht Petsch (1942), der die Spannung im Roman als durch den Gegensatz aus „einer Fernzeit, die nie so wiederkehrt […] - und den Augenblick der Gegenwart“ (Petsch 1942: 163) bewirkt betrachtet. Seiner Meinung nach reißt das Präsens das Vergangene in die Gegenwart des Lesers und verhindert die Entstehung von Spannung. Die Probanden hingegen empfinden, dass man beim Präsens das Gefühl hat, das Geschehen 174 Dies widerlegt die weit verbreitete Auffassung, eine präsentische Erzählung sei chaotischer als eine mit Vergangenheitstempora als Leittempus (vgl. Ermatinger 1939: 360). Die Wahrnehmung einer Erzählung als chaotisch ist allenfalls das Resultat eines Zusammenspiels der syntaktischen Strukturierung, der Markierung von Sequenzen und Progression durch Adverbialien, der Wahl des Wortschatzes und der Entfaltung oder Nicht-Entfaltung diverser Erzählstränge, die auch in präsentischen Romanen möglich ist. Weit mehr als von der Tempuswahl hängt diese Wirkung von der Aneinanderreihung von Ereignissen auf der Ebene der Diegese ab. Ob die narrative Struktur den Eindruck des Chaos vermittelt, hängt von Ein- und Ausblendungen von Ereignissen und der zusätzlichen Verwendung von Textgliederungsmarkern ab, die auch den Verlust an Vorder- und Hintergrund bei einer durchgehend präsentischen Erzählung kompensieren und helfen, das Unvermögen von Präsensformen additiver Verben, narrative Progression zu markieren, zu überbrücken. 264 auf diegetischer Ebene mitzuerleben und auf derselben Ebene wie die Figuren zu betrachten, was den Eindruck erweckt, der Ausgang der Handlung wäre noch offen. Für das Spanische begründeten 2 der 5 Probanden, die das Präsens bevorzugen, ihre Wahl mit der Annäherung des Lesers an den Inhalt der Erzählung, 2 weitere nannten die Steigerung der Spannung, da im Leser der Eindruck erweckt wird, er würde die Ereignisse kopräsent erleben beziehungsweise vermittelt bekommen. Ebenfalls 2 Probanden nannten als Motiv ihrer Präferenz für das Präsens als Erzähltempus die Verständniserleichterung und den dadurch leichteren Zugang zur Geschichte, die der Erzählung zugrunde liegt, wodurch das plaisir de lire gesteigert wird. Ein Befragter gab zusätzlich die narrative Dynamik an, die das Präsens bewirkt. Für das Französische erwähnten 2 Probanden (2/ 5) die Kreativität, 2 die Annäherung an die narrative Struktur des Films, 2 die Annäherung des Lesers an die Ereignisse der Diegese und 1 Proband nannte das gesteigerte Realitätsempfinden hinsichtlich der Ereignisse der Diegese als Gründe für eine Präferenz des Präsens als Erzähltempus (entgegen Kluge 1961: 100). Für das Portugiesische schließlich gaben 4 der 7 Probanden, die das Präsens als Erzähltempus bevorzugten, die Annäherung des Erzählers und der diegetischen Ereignisse als Grund an, 2 die vermittelte Perspektive, 2 die Steigerung der Spannung, da der Ausgang der Erzählung so vermittelt wird, als wäre er noch offen, und 2 die Erleichterung des Verständnisses und die dadurch bewirkte Steigerung der Lesefreude. Die Erklärungsansätze fallen also ähnlich wie bei den Autoren (vgl. Kapitel 2.3) heterogen aus. Dennoch lässt sich eine Modifizierung in der Betrachtung der Ereignisse als gemeinsamer Nenner der Erklärungsansätze durch die Probanden herauskristallisieren und eine Annäherung an das Medium Film. Dagegen nennen die Gegner sprachübergreifend die Konvention und die Sequenzierung der Ereignisse neben der Trennung von Geschichte und Erzählung als Gründe für ihre Präferenz. Auch das Verständnis ist ein häufig genannter Grund für die Bevorzugung eines Vergangenheitstempus als Erzähltempus. In linguistischer Terminologie begünstigt das Präsens eine perspektivische Unmittelbarkeit der temporalen Betrachtung. Diese Einsicht bestätigt die Annahme, dass das narrative Präsens die Geschehnisse der Diegese in die Gegenwart von Erzähler und Leser transponiert, die wiederum temporal kopräsent sind. Auch Betrachter und Erzähler sind kopräsent und werden nicht gespalten. Durch das narrative Präsens entsteht eine (fiktionale) hic et nunc-Kommunikationssituation, wodurch sich die Ereignisse der Diegese unmittelbar vor dem Auge des Lesers abspielen, so wie beim Film. Deshalb können beide Perspektivierungsmuster in Relation zueinander gesetzt werden. Die Diskrepanz zwischen bevorzugtem Tempus in der vorgelegten Erzählpassage und der Tempuswahl, falls die Probanden selbst einen Roman verfassen müssten, bestätigt die eingangs formulierte Hypothese, dass 265 die Leser die Tempusverwendung nicht bemerken und dass, ähnlich wie bei den Autoren, kein hoher Bewusstseinsgrad hinsichtlich der Verwendung des Präsens festzustellen ist. Auch die Aufforderung, das Geschehen im Roman gegenüber dem Beobachter zu lokalisieren, ergibt im Fall des Deutschen, dass 25% (5/ 20) die präsentischen Passagen in der Vergangenheit lokalisieren und 15% (3/ 20) Ereignisse, die im Präteritum kodiert sind, in der Gegenwart verorten. Die Verbalereignisse in der Passage von Elfriede Jelinek (156) lokalisierten 30% (6/ 20) der Probanden in der Zukunft. Ähnliche Schwankungen sind in allen herangezogenen Sprachen zu beobachten,. Das Deutsche bleibt mit der hohen Zahl an ‘Verortungen’ von Ereignissen im narrativen Präsens in der Zukunft dabei eine Ausnahme. In den anderen Sprachen variiert die Verortung in der Zukunft bei präsentischen Textpassagen zwischen 5% und 10%. Das auffallend hohe Vorkommen im Deutschen lässt sich jedoch durch die Ambivalenz des Präsens in den zwei Tempussystemen des Deutschen nach Leiss (1992) erklären. Demzufolge verfügen die nonadditiven Verben über kein Futur I werden + Infinitiv, da diese Fügung zum modalen System gehört, während die additiven Verben ein Futur I aufweisen (vgl. Leiss 1992: 226). Die Form werden + Infinitiv ist bei additiven Verben eindeutig temporal (ebd.). Nonadditive Verben hingegen kodieren Futur über die (morphologische) Präsensform, die aufgrund ihrer Nonadditivität semantisch präsens-inkompatibel ist. Dieser wesentliche Unterschied veranlasst auch die von Leiss vorgenommene Einteilung in das Tempussystem der additiven und das der nonadditiven Verben und liefert einen Erklärungsansatz für eine vergleichsweise starke Tendenz der Leser, die im Präsens ausgedrückten Ereignisse zukünftig zu lokalisieren. Die Tendenz zu Diskrepanzen zwischen den angegebenen Präferenzen von Textpassagen und dem Bewusstsein für die Diskursnormen des Romans werden noch deutlicher, wenn man den zweiten Teil des entworfenen Tests berücksichtigt. Hier wurde den Probanden jeweils dieselbe Textpassage einmal mit narrativem Präsens und einmal mit klassischem Erzähltempus [+ VERGANGEN ] vorgelegt und sie sollten sich entscheiden, welche Passage sie bevorzugen. Außerdem hatten sie anzugeben, ob ihnen Unterschiede auffielen. Und schließlich sollten sie die Textpassagen wiederum bezüglich der im ersten Teil herangezogenen Parameter bewerten. Selbst bei dieser offensichtlichen Gegenüberstellung (siehe (159) und (160); Textgrundlage für das Deutsche 175 ) fiel einer stark variierenden Zahl von Lesern der Unterschied im Erzähltempus nicht von alleine auf: Während im Französischen 100% der Probanden den Unterschied bemerkten, fiel er im Deutschen 25%, im Englischen 30%, im Portugiesischen 35% und im Spanischen sogar 45% 175 Für das Englische wurde eine Passage aus Gioconda (2011) von Lucille Turner verwendet, für das Französische aus No et moi (2007) von Delphine de Vigain, für das Spanische aus Los príncipes valientes (2007) von Javier Pérez Andújar und für das Portugiesische aus A Ilha das Trevas (2002) von José Rodrigues dos Santos. 266 der Probanden nicht auf. Sie machten Unterschiede zwischen den Passagen an anderen Aspekten fest, wie der Nähe des Lesers zu den Ereignissen oder der Perspektive, konnten jedoch nicht auf Anhieb die sprachliche Ursache ausmachen. In der individuellen Bewertung der Textpassagen nach bestimmten Parametern fielen vor allem die eindeutigen Unterschiede zwischen der Einschätzung bezüglich der temporalen Distanz der Ereignisse und dem Eindruck des Lesers auf, er habe an den erzählten Ereignissen Anteil beziehungsweise diese spielten sich unmittelbar vor seinen Augen ab. Diese Unmittelbarkeit sahen die Probanden eindeutig durch das narrative Präsens bewirkt. Zwischen der Lebhaftigkeit der Schilderung der Ereignisse und dem gewählten Erzähltempus sahen hingegen nur die deutschen Probanden eine Korrelation zur Verwendung des narrativen Präsens: 13 von 20 Probanden empfanden die Passage im Präsens als [+ LEBHAFT ], was eine Folge der unmittelbaren Betrachtung der Ereignisse und der Innenperspektive ist. In den anderen Sprachen sahen die Leser keinen notwendigen Zusammenhang und empfanden die Passage mit der Schilderung der Ereignisse im Präsens nicht wesentlich ‘lebhafter’ als die in den konventionellen Erzähltempora. Auch sahen die Probanden keinen Zusammenhang zwischen dem Merkmal [+/ - MÜNDLICH ] und dem narrativen Präsens. (159) Textpassage im Präsens Als ich das Café verlasse, ist es Nachmittag geworden. Die Straßenbahnen, orangefarbene, quietschende Raupen aus ungarischer Produktion, quälen sich mit Schulkindern und Halbtagssekretärinnen den Schienenhügel hinauf in Richtung Prenzlauer Berg. Ich biege um die Ecke, klopfe die lauwarme Pfeife an der zerschossenen Fassade von Nummer vierzehn ab und trete ein. […] In zwölf langsamen Schritten durchquere ich den Hof, als Atemübung und zum Warmwerden nehme ich die Treppen der vier Stockwerke im Laufschritt. Vor Dunkels Wohnung gehe ich in eine tiefe Stellung und zerstöre das Türschloß mit einem seitlichen Fußtritt, knapp unterhalb der Zierleiste. Am Ende des Flures fällt ein staubiger Strahl aus Dunkels halbgeöffnetem Zimmer auf die Diele. (Parei 2006: 21-22) (160) Textpassage (modifiziert) im Präteritum Als ich das Café verließ, war es Nachmittag geworden. Die Straßenbahnen, orangefarbene, quietschende Raupen aus ungarischer Produktion, quälten sich mit Schulkindern und Halbtagssekretärinnen den Schienenhügel hinauf in Richtung Prenzlauer Berg. Ich bog um die Ecke, klopfte die lauwarme Pfeife an der zerschossenen Fassade von Nummer vierzehn ab und trat ein. […] 267 In zwölf langsamen Schritten durchquerte ich den Hof, als Atemübung und zum Warmwerden nahm ich die Treppen der vier Stockwerke im Laufschritt. Vor Dunkels Wohnung ging ich in eine tiefe Stellung und zerstörte das Türschloß mit einem seitlichen Fußtritt, knapp unterhalb der Zierleiste. Am Ende des Flures fiel ein staubiger Strahl aus Dunkels halbgeöffnetem Zimmer auf die Diele. Bezüglich der Präferenzen bei einer direkten Gegenüberstellung derselben Passage im konventionellen Erzähltempus Präteritum oder im Präsens bevorzugten die Probanden das konventionelle Erzähltempus, unabhängig davon, in welchem Tempus die Originalpassage verfasst war. Das zeigten entsprechende Variationen im vorgenommenen Test. Konventionelles Erzähltempus [+ VERGANGEN ] Narratives Präsens Deutsch 13 7 Englisch 12 8 Französisch 11 9 Spanisch 11 9 Portugiesisch 14 6 Tabelle 6 - Erzähltempuspräferenz der Probanden bei direkter Kontrastierung derselben Passage in Präsens versus Präteritum für die germanischen Sprachen oder Präsens versus Perfekt/ Imperfekt für die romanischen Sprachen Anteil der Probanden, die eine präsentische Textpassage bevorzugten, ohne eine Bewusstseinslenkung auf Tempus Anteil der Probanden, die bei einer Gegenüberstellung im Rahmen einer Austauschprobe die präsentische Erzählung favorisierten Anteil der Probanden, die einen Roman im Präsens verfassen würden Deutsch 25% 35% 20% Englisch 40% 30% 25% Französisch 50% 50% 40% Spanisch 55% 45% 25% Portugiesisch 50% 30% 35% Tabelle 7 - Präferenz für das narrative Präsens im Überblick für die diversen Abschnitte des Tests Eine Betrachtung von Tabelle 7 indiziert bereits die Inhomogenität der Tempuspräferenzen in den verschiedenen Abschnitten des Tests aus rein quantitativen Gründen. Viel interessanter ist jedoch eine Einzelbetrachtung der Fragebögen, welche die Ergebnisse noch viel heterogener ausfallen lässt. So 268 selegieren zum Beispiel für das Deutsche 7 Probanden eine Passage im Präsens, von diesen würde jedoch lediglich einer auch das Präsens als Erzähltempus selbst wählen. Das Bild wiederholt sich für alle betrachteten Sprachen und zeigt, dass die Leser die Tempusverwendung nicht bemerken. Als Fazit aus dieser empirischen Studie ist festzuhalten, dass in der Einschätzung der Leser die klassischen Erzähltempora der Vergangenheit in der Regel gegenüber dem narrativen Präsens immer noch leicht favorisiert werden. Dabei dürfen die Rolle der verinnerlichten konventionellen Diskursnorm und die Habitualisierung des klassischen Erzählmusters nicht unterschätzt werden. Berücksichtigt man die Tatsache, dass ein narratives Erzählen unter retrospektiver Betrachtung der Ereignisse für die Diskurstradition Roman über mehrere Jahrhunderte hinweg normativ war, ist es eher überraschend, wie schnell sich der Wandel des Erzähltempus sprachübergreifend besonders ab dem letzten Quartal des 20. Jahrhunderts verbreitet. Das neue Erzähltempus in den geschriebenen Gegenwartssprachen kann zwar nicht das Buch ‘performativisieren’, es ermöglicht jedoch, eine Perspektivik zu schaffen, welche der des Films sehr nahe kommt. Angesichts des massiven Einflusses der neuen Massenmedien mit ihrem analogen oder im Fall des Films ‘scheinanalogen’ Charakter überrascht es auch nicht, dass sich trotz der kategorischen Ablehnung des Präsens als Erzähltempus Romane im Präsens als äußerst populär erweisen, wenn man Leser ‘urteilen’ lässt, ohne den Fokus auf die Tempora zu lenken. Die in präsentischen Romanen vermittelte Perspektivik ist den Lesern durchaus vertraut. Angesichts der starken Variation der Präferenzen und Einschätzungen bezüglich der Tempuswahl in den unterschiedlichen Abschnitten des Tests bestätigte sich die Annahme, dass Leser nicht bewusst realisieren, in welchem Tempus ein Roman verfasst ist, sondern dass sie in einem automatischen Prozess die dadurch vermittelten Perspektiven einnehmen. Die neue Tendenz in der Verwendung der Erzähltempora wird somit weder bewusst erkannt noch angemessen erklärt, und zwar weder von Lesern noch von Autoren. Die Hypothese, dass das Präsens als Erzähltempus im Sinne eines narrativen Präsens nicht notwendigerweise bemerkt wird, bestätigt sich durch die Abweichung der Angaben in den diversen Abschnitten des Tests. Die Aufmerksamkeit des Lesers ist anscheinend vollkommen von der Handlung in Anspruch genommen, sodass er nicht auf die Tempusformen achtet. Ein Erklärungsansatz für den Wandel des Erzähltempus kann daher nicht auf empirischer Basis anhand von Tests mit Probanden ermittelt werden, da sie keinen höheren Bewusstseinsgrad für den Sprachgebrauchswandel innerhalb der Diskurstradition aufweisen. Dennoch verdeutlichte die Datenerhebung mittels Testverfahren einige wichtige Einsichten bezüglich der perspektivischen Veränderung, die das Präsens bewirkt, und bestätigte damit die Hypothesen, die von der Beschreibung des narrativen Präsens abgeleitet wurden. 269 10.4 Zusammenfassung: Das narrative Präsens als grammatisches Instrument zur Simulierung von ‘filmischer’ Perspektive in Romanen Im vorhergehenden Abschnitt konnte anhand der Intermedialitätsforschung ungeachtet aller Kritik ein Erklärungsansatz für die Verbreitung und die steigende Popularität des narrativen Präsens formuliert werden. Ähnlich wie beim Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit muss hervorgehoben werden, dass der Wandel des Erzähltempus nicht als notwendiges Ergebnis des steigenden Einflusses von Kino und Film betrachtet werden darf, jedoch stellt dieser mediengeschichtliche Wandel eine wichtige Ermöglichungsstruktur für den Wandel des Erzähltempus dar, da es sich um eine Systemkontamination des literarischen Erzählmusters handelt. Es erscheint dem modernen Leser vollkommen natürlich, fiktionale Ereignisse unabhängig von ihrer zeitlichen Verortung in einer ‘Hier und Jetzt’-Perspektive zu betrachten, da er die Perspektive aus dem Medium Film gewohnt ist. Das Verfahren der Transposition von vergangenen Ereignissen in die Gegenwart findet in der kinematografischen Erzählung ebenfalls Anwendung. Natürlich kann die Semiose eines Films nicht mit der eines Romans verglichen werden und ein Roman kann nicht ‘performativisiert’ werden. Dennoch stellt das Erzählmuster in präsentischen Romanen durch die kodierte Perspektive auf die Ereignisse auf der Ebene der Diegese eine intermediale Systemkontamination dar und somit eine maximale Annäherung an ein fremdmediales Erzählmuster − sofern man davon ausgeht, dass Filme ‘erzählen’. Durch seine prototypisch präsentischen Merkmale und durch seine Semantik erweist sich das narrative Präsens demzufolge als ideales grammatisches Mittel, um eine Perspektive auf die Vorgänge der diegetischen Welt zu erzeugen, die der filmischen vergleichbar ist. Das Präsens als Erzähltempus transponiert die Ereignisse in das ‘Hier und Jetzt’ der Kommunikationssituation, die dem literarischen narrativen Text zugrunde liegt (vgl. Abbildung 3). Somit wird die typische Perspektive des Films auf die Ereignisse simuliert. Gleichzeitig steigert der offene Charakter der Verbalvorgänge die Spannung beim Leser, wie die Studie mit Probanden gezeigt hat. Leser achten bei der Lektüre nicht bewusst auf das Erzähltempus, was wiederum empirisch belegt, dass eine vermeintliche Ablehnung des Präsens als Erzähltempus durch die diskursive Normierung der Erzähltradition und nicht durch die vom Präsens vermittelte Leseerfahrung bedingt ist. Das Tempus ist nicht notwendigerweise ausschlaggebend für eine ‘Verortung’ der Geschichte auf der Zeitachse, sondern determiniert in erster Linie die Perspektive auf die fiktionale diegetische Welt. Außerdem müssen fiktionale narrative Texte nicht über eine Referenz in der außersprachlichen Wirklichkeit verfügen. Wenn eine solche gegeben ist, selegiert der Autor das zur Verfügung stehende Material und setzt durch den Erzähler den deik- 270 tischen Nullpunkt fest, welcher auch die temporale Perspektive determiniert. Der Fokus des Lesers scheint bei Romanen vielmehr durch Parameter wie die Wortwahl festgelegt zu werden, da sich diese hinsichtlich der ‘Orientierung’ auf der Ebene der Diegese viel stärker bei den Bewertungen durch die Leser niederschlägt als die Tempuswahl. Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass die Leser, sofern keine Tempusalternierung vorliegt, durch die Aufhebung der zeitlichen Distanz das Gefühl einer gesteigerten Anteilnahme am Geschehen haben. Dies ist bei Vergangenheitstempora als Leittempora der Erzählung nicht in diesem Maß gegeben, da ein Vergangenheitstempus eine Spaltung von Sprecher/ Erzähler und Betrachter determiniert. Gleichzeitig verlieren die Handlungen jedoch auch ihre Konturen, was sich auf ihr Fortschreiten auswirkt (dies wird durch Adverbien, Präpositionen und Konjunktionen kompensiert). Die Handlungen werden durch die distanzlose Innenperspektive als unabgeschlossen ([- FINIT ] und [- BE - GRENZT ]) präsentiert. Das erklärt auch ein gewisses ‘unwohles Gefühl’ des Lesers bei der Lektüre jener präsentischen Romane, sofern die alternativen sprachlichen Mittel wie Adverbien, Konjunktionen und Präpositionen nicht im erforderlichen Maße die Funktionen kompensieren, die das Präsens aspektuell bedingt nicht erfüllen kann. Der Leser hat in diesem Fall das Gefühl, die Vorgänge nicht vollständig im Blick zu haben, was der Autor natürlich auch absichtlich vermitteln kann. Eine weitere zentrale Erkenntnis dieses Kapitels liegt in der empirischen Bestätigung, dass Tempus nicht primär einer ‘objektiven’ chronologischzeitlichen Lokalisierung der Verbalereignisse dient, sondern vielmehr eine diskursstrukturierende Funktion hat und die Perspektive des Erzählers auf die Ereignisse ausdrückt. Damit soll den Tempora keineswegs der temporale Wert abgesprochen werden. Denn schließlich handelt es sich bei der Perspektivierung durch den Erzähler um eine temporale Fokussierung der Ereignisse, die jedoch vom Erzähler in der geschriebenen bzw. Sprecher in der gesprochenen Sprache selbst festgelegt wird und nicht der chronologischen zeitlichen Verankerung der Ereignisse entsprechen muss, obwohl diese natürlich den breiten Rahmen für die Selektionsmöglichkeiten des Sprechers oder des Erzählers vorgibt. Dies erklärt auch, weshalb man das narrative Präsens nicht in der Berichterstattung in der Presse findet, 176 außer vereinzelt in der Reportage. Auch in diesem Fall handelt es sich wieder um eine Systemkontamination der Printmedien durch die telejournalistische Berichterstattung. 176 Eine empirische Studie von Annemarie Eigner, die in Form einer Bachelorarbeit an der LMU 2013 mit dem Titel Tempus und Perspektive am Beispiel der Berichterstattung in spanischen und portugiesischen Tageszeitungen: Überlegungen zum historischen Präsens vorgelegt wurde, belegt am Beispiel des Spanischen und des Portugiesischen, das zwar das klassische historische Präsens vorkommt, also ein vergangenheitsaktualisierendes oder perspektivisches Präsens in der hier verwendeten Terminologie, dem narrativen Präsens hingegen keine nennenswerte Bedeutung zukommt. 11. Zusammenfassung und Ausblick: Neubewertung des Präsens als Erzähltempus in diachroner Perspektive im Spannungsfeld von Aspektualität und Temporalität Die vorliegende Arbeit ist vor dem Hintergrund der Beobachtung entstanden, dass immer mehr Romane im Präsens verfasst werden und dass es zwar zahlreiche Kritik an dem dadurch kodierten narrativen Erzählmuster gibt, jedoch kaum plausible Erklärungsansätze für seine steigende Popularität vorliegen. Die Annäherung an das Thema erfolgte über die Frage, ob im Hinblick auf die Vertreter der Auffassung von Präsens als Atemporalis (Engel 1977; Vennemann 1987; Zeller 1994) eine Schnittstelle zwischen Tempus und Zeit anzusetzen ist. Das zeitliche Denken und die zeitliche Strukturierung von Abläufen gehen von einer jener höheren menschlichen kognitiven Fähigkeiten aus, die nur durch Sprache möglich sind. So hat der Mensch nur über Sprache Zugang zur ‘Zeit’ und kann diese nur sprachlich definieren und konzeptualisieren. Mit unserem zeitlichen Denken geht eine temporale Verortung von Ereignissen einher, die sprachlich kodiert wird. Tempus determiniert primär die Perspektive auf die Verbalereignisse und diese müssen immer unter Festlegung einer relativen zeitlichen Verortung des Sprechers (Erzählzeit) und des Betrachters (Referenzzeit) zueinander versprachlicht werden. Eine atemporale Perspektive ist nicht möglich, denn selbst bei zeitlosen Erzählungen legt der Sprecher durch die Selektion der Erzähltempora fest, aus welcher Perspektive der Betrachter die Ereignisse sieht. Im Rahmen der Überlegungen zu Tempus und Beschreibungsmethoden zeigte sich, dass sich die Reichenbachsche Terminologie von Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit 177 immer noch am besten für Tempusbeschreibungen eignet. Da das Augenmerk auf schriftlich fixierten Texten liegt, muss die ‘Sprechzeit’ gewissermaßen als deiktischer Nullpunkt innerhalb eines abstrakt gesehenen Referenzsystems aufgefasst werden, das im Text selbst verankert ist. Von Temporaladverbialien unterscheidet sich Tempus durch das hervorgerufene double displacement, das einerseits einen Referenzpunkt verankert, von dem aus der Betrachter die Ereignisse perspektiviert. Andererseits erfolgt über die Mittlerinstanz des Betrachters die zeitbezogene Verortung des Verbalvorganges gegenüber dem Betrachter selbst und der Sprecher- Origo. Temporaladverbialien verweisen auf das Ereignis entweder vom 177 Reichenbach (1960 [1947]) spricht um genau zu sein von Zeitpunkten (vgl. Reichenbach 1960 [1947]: 288ff.), wie jedoch dargestellt wurde, umfassen sowohl Verbalals auch Sprechereignis Zeitintervalle, weshalb Sprechzeit oder Sprechzeitintervallen terminologisch adäquater sind (vgl. Bennett/ Partee 2004 [1978]; Partee 2004 [1973]). 272 Standort des Sprechers oder von dem des Betrachters aus und sind somit monoperspektivisch. Daraus folgt, dass Temporaladverbialien deiktisch sind, Tempus hingegen als anaphorische Kategorie beschrieben werden muss. Dies steht nicht im Widerspruch zu einer Unterteilung in anaphorische Tempora einerseits, die aufgrund ihrer aspektuellen Natur keine neue Referenzzeit verorten, sondern anaphorisch auf vorausgehende (perfektive) Tempora innerhalb der Erzählkette verweisen, und deiktische Tempora andererseits, die neue Referenzzeiten gegenüber der Sprechzeit verorten und dadurch narrative Progression erzeugen (vgl. Smith 2004). Die perfektiven Verben bilden den temporalen Anker für die imperfektiven Verben. Es handelt sich um Betrachtungen unterschiedlicher Funktionsebenen der Tempora. Die grammatische Kategorie Tempus ist ein Bestandteil des TMA- Komplexes, der unter Berücksichtigung der sprachgenetischen Logik und der Sprachentwicklungslogik besser als ATM-Komplex zu bezeichnen ist. Tempus ist mithin eine deiktische Kategorie, die es dem Sprecher ermöglicht, die Sprecher-Origo in zwei Personen zu spalten: Sprecher und Betrachter. Aspekt hingegen ist nicht-deiktisch. So ist es ein artenspezifisches Charakteristikum des Menschen, dass er kognitiv seinen Standort verlegen und beispielsweise seine Betrachter-Origo in die Vorzeitigkeit dislozieren kann, um Geschehnisse zu verfolgen. Dies ist durch Vergangenheitstempora möglich, bei denen der Betrachter mittels markierten Tempusgebrauchs gegenüber der Sprecher-Origo in die Vorzeitigkeit versetzt wird. Das Präsens als unmarkierte morphologische Form drückt die natürliche Präsupposition eines ‘Hier und Jetzt’ aus. Das Präsens kann jedoch durchaus markiert verwendet werden, wenn es Ereignisse ausdrückt, die eindeutig in der Vergangenheit lokalisiert sind. Durch die Wahl des morphologisch unmarkierten Tempus wird massiv gegen die Erwartung verstoßen, dass mit dem Ausdruck von Vergangenheitsbezug morphologische Markierungen einhergehen. Durch die Tempusselektion wird ein Zusammenfall von Referenz- und Sprechzeit simuliert, der eine Verschiebung historischer oder erzählter Verbalereignisse von der Vergangenheit in Richtung Gegenwart ausdrückt und nicht eine Zurückversetzung des Betrachters, wie etwa bei Vergangenheitstempora - im Gegensatz zu Ballwegs (1984) Vorschlag. Dadurch entsteht auch der aktualisierende Effekt des vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens zum Ausdruck vorzeitiger Ereignisse. Diese Verwendung wird in der Literatur meistens als historisches Präsens aufgeführt. Sie ist nicht nur in der gesprochenen Sprache frequent, sondern erweist sich auch in der Literatur als produktiv. Das kodierte ‘Hier und Jetzt’ ist nicht das des Sprechers, sondern das des Betrachters und durch die simulierte Identität von Referenz- und Sprechzeit werden die Ereignisse aktualisiert, so als würden sie noch einmal stattfinden, ohne dass jedoch der Vergangenheitsbezug aufgehoben wird. Der Effekt: Der Leser wechselt von der Perspektive der Erzählinstanz - unabhängig davon, ob es sich um einen 273 homo- oder heterodiegetischen Erzähler handelt, und unabhängig von der (dominanten) Fokalisierung - zur Perspektive eines Beobachters, der sich inmitten der Ereignisse befindet. Das narrative Präsens hingegen veranlasst eine Transposition vorzeitiger Ereignisse in das ‘Hier und Jetzt’ der Sprechzeit, die dem schriftlich fixierten Text zugrunde liegt und simuliert dadurch ebenfalls Identität von Referenz- und Sprechzeit. Der Vergangenheitsbezug ist dabei jedoch nicht mehr explizit und wird zumindest fiktiv aufgehoben, wie der Ausdruck nachzeitiger Ereignisse im Futur und vorzeitiger Ereignisse im Präteritum oder im Perfekt bzw. im analytischen oder im synthetischen Perfekt in den romanischen Sprachen zeigt. An der Verortung der Ereignisse in der Vergangenheit besteht in beiden Fällen kein Zweifel, die Perspektivierung erfolgt jedoch beim vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens ohne Aufhebung des Vergangenheitsbezuges, beim narrativen Präsens hingegen unter fiktiver Aufhebung des Vergangenheitsbezuges. Durch Tempus ist es dem Menschen folglich möglich, sich in der Zeit sowohl in Richtung Vorals auch in Richtung Nachzeitigkeit von seiner Origo zu entfernen und vergangene Ereignisse (zumindest fiktiv) in die Gegenwart zu transponieren, so als würden sie noch einmal kotemporal zur Erzählsituation stattfinden und wahrgenommen werden. Für sich genommen erweist sich die Kategorie Tempus allerdings als nicht hinreichend, um die für mittelalterliche Texte charakteristische Alternierung zwischen morphologischer Präsensform und Vergangenheitstempus zu erklären. Deshalb wurde angesichts der Verschränkungen innerhalb des ATM-Komplexes die Kategorie Aspekt herangezogen. Das Präsens nonadditiver Verben charakterisiert sich in seiner Verwendung in den älteren Texten durch die Merkmale [+V ERGANGENHEITSBEZOGEN ] und [+P ERFEKTIV ]. Basierend auf seinen semantischen Merkmalen wurde das aspektuelle Präsens genauer als ein aoristisches Präsens definiert. In manchen Fällen im Lateinischen und besonders in den hier berücksichtigten älteren romanischen Sprachstufen definieren Aspektmarker die Semantik der Verbform. Das ist ein wichtiges Indiz für die Notwendigkeit, die Kategorie Aspektualität durch ein onomasiologisches Modell, welches die Kategorie als Kontinuum auffasst, bei deren sprachlicher Realisierung diverse sprachliche Elemente miteinander interagieren, zu erklären, wie von Dessì Schmid (2014) vorgeschlagen. 178 Wegen der aspektuellen Sensibilität des Präsens in der älteren Sprachstufe und der semantischen, systematischen, funktionalen Opposition zwischen additiven und non-additiven 178 Das Modell von Dessì Schmid fasst Aspektualität als eine „komplexe, interaktionale Kategorie“ auf. Ihre Komplexität betrifft dabei im Wesentlichen zwei Ebenen: „einerseits die Ebene der onomasiologischen Fundierung der Kategorie als solcher, andererseits diejenige der vielfältigen miteinander interagierenden Elemente, durch die die Aspektualität in der Beschreibung von Sachverhalten konkret versprachlicht wird“ (Dessì Schmid 2014: 224-225). 274 Verbformen bzw. Verbformen perfektiver und imperfektiver Aspektualität im weiteren Sinne konnte es kaum überraschen, dass die nonadditiven Verben keine prototypisch präsentische Bedeutung entfalten. Das semantische Merkmal [+ BOUNDED ] ist nicht mit einer prototypisch präsentischen Bedeutung kompatibel. Erstaunlicher ist vielmehr, dass die Form nicht wie etwa im Russischen Zukunftsbezug ausdrückt, sondern Vergangenheitsbezug. Dies lässt sich jedoch angesichts der gut grammatikalisierten Futurformen im Lateinischen, im Altfranzösischen, im Altspanischen und im Altisländischen sprachtypologisch erklären. Nach Ultan (1978) drücken nonadditive Präsensformen entweder Vergangenheits- oder Zukunftsbezug aus. Dementsprechend unterteilt man in retrospektive und prospektive Sprachen. Angesichts der Verwendungen des Präsens in narrativen Erzähltexten haben wir es in den älteren Stufen der hier betrachteten Sprachen möglicherweise noch mit retrospektiven Sprachen zu tun. Diese Annahme wurde durch die vorliegende Studie unter Einbezug eines in der Forschung bisher unbeachteten Aspekts zusätzlich bekräftigt, nämlich durch die Verwendung der eigentlich prototypischen Futurperiphrase ‘gehen’+Infinitiv mit Vergangenheitsbedeutung im Altspanischen und Altfranzösischen und dem Fehlen dieser Konstruktion im Lateinischen. Die gesammelten Evidenzen deuten an, es könnte sich dabei um ein weiteres relevantes Merkmal bei der Kategorisierung von Sprachen in retro- und prospektiv handeln. Zur Beschreibung des aspektuellen, aoristischen Präsens ist weiter festzuhalten, dass es imstande ist, Referenzzeiten neu zu verorten beziehungsweise zu aktualisieren. So wird narrative Progression erzeugt. Seine perfektive Aspektualität dient dazu, Ereignisse durch ihre Konturierung als bounded in den Vordergrund zu stellen. In der Terminologie von Reichenbach (1960 [1947]) entspricht ihm folglich die Formel (E, R <S). Die Literalisierung der Gesellschaft im Mittelalter führte zu einer profunden kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Revolution, die wohl wichtige Bedingungen für den Zusammenbruch der Aspektsysteme mit sich brachte. Insofern ist der ‘Untergang’ des aspektuellen, aoristischen Präsens durch eine Entwicklung von stärker aspektuellen hin zu stärker temporalen Verbalsystemen zu erklären. Das Aufkommen von Schriftlichkeit lieferte hierzu begünstigende Rahmenbedingungen. Grundsätzlich zu unterscheiden ist hiervon das narrative Präsens, welches als Erzähltempus in neueren Romanen erscheint. Durch den kodierten Zusammenfall von Ereigniszeit, Referenzzeit und Sprechzeit werden die erzählten Geschehnisse der fiktionalen Welt zum deiktischen Nullpunkt des Referenzsystems transponiert. Das entspricht einer Verschiebung der erzählten Ereignisse in die ‘Gegenwart’, wodurch das Präsens seine prototypische Bedeutung entfaltet. Die Genese dieses Erzählmusters ist auf avantgardistische Experimente mit narrativen diskursiven Strategien und Erzählmustern im nouveau roman zurückzuführen sowie auf den für diese 275 Bewegung charakteristischen Wunsch nach einem Bruch mit konventionalisierten Erzählmustern. Dieses Phänomen auf der Ebene der parole fand entsprechend Anklang und wurde weiter produktiv angewendet, sodass man es heute als ein konkurrierendes, alternatives Erzählmuster zu präteritalen oder Perfekt-/ Imperfekt-Erzählmustern werten muss. Das neue, durch das narrative Präsens enkodierte Erzählmuster konnte sich in den romanischen und den germanischen Sprachen trotz einiger anhaltender Kritik bereits auf der Ebene der Diskursregeln und Diskursnormen weitestgehend behaupten. Dies bestätigt die Leichtigkeit, mit der Autoren zwischen dem einen und dem anderen narrativen Erzählmuster wechseln. Gewisse Vorbehalte von Seiten der Leser sind durch den radikalen Wechsel des Betrachtungswinkels und folglich der Perspektive auf die Diegese motiviert sowie durch die lange Dominanz der diegetischen Ereignisperspektivierung als vorzeitig. Dies war jedoch rein konventionell festgelegt, wenn es auch natürlich historisch durch die Entwicklung der narrativen Erzähltraditionen bedingt war. Beim narrativen Präsens muss man zwischen zwei Verwendungen unterscheiden: 1) markierte Verwendung: wenn lediglich einzelne Episoden der Erzählung im Präsens erzählt werden, 2) unmarkierte Verwendung: wenn die Erzählung durchgängig im Präsens erfolgt, wodurch jeglicher Hervorhebungseffekt verloren geht. Vorzeitige Ereignisse werden dabei in den romanischen Sprachen durch synthetisches oder analytisches Perfekt, in den germanischen Sprachen hingegen durch Präteritum oder zusammengesetztes Perfekt kodiert. Nachzeitige Ereignisse werden mit den regulären Futurformen ausgedrückt. Im Vergleich zu klassischen Erzählungen fallen die häufigen asyndetischen Reihungen der Ereignisse auf, oftmals unter Verzicht von Hintergrundmarkierungen. Dadurch wird eine Perspektive enkodiert, die eigentlich eher typisch für die simultane Erzählung von Ereignissen in der Berichterstattung im Fernsehen ist, also in der gesprochenen Sprache. Das narrative Präsens markiert von sich aus keinen Ereignisfortgang, sondern begnügt sich mit einem Fortschreiten der Ereignisse durch das ikonische Prinzip der sequentiellen Nachordnung der Verben im Text, um den Fortgang der Handlung auszudrücken. Dabei findet im Vergleich zu traditionellen Erzählstrukturen häufiger ein Rückgriff auf Konjunktionen oder Adverbien statt. Das Prinzip der ikonischen sequentiellen Nachordnung liegt auch dem Film zugrunde, was einen intermedialen Einfluss als Erklärungsansatz nahelegt. Außerdem wird durch die Transposition der Ereignisse in die Gegenwart des Betrachters eine ‘Hier und Jetzt’-Perspektive simuliert, die, wie gezeigt wurde, Analogien zu der des Films aufweist. Dabei fällt zudem die zeitliche Parallelität der Verbreitung von Film und narrativem Präsens als Erzähltempus im Roman auf. Natürlich stehen dem Film zur Erzeugung von Perspektive andere Möglichkeiten zur Verfügung als dem Roman. Die 276 Affinität lässt sich dennoch dadurch erklären, dass sich auch beim Film eine (ab-)geschlossene Geschichte vermeintlich vor den Augen des Zuschauers entfaltet. Beim narrativen Präsens wird dem Leser ebenfalls der Eindruck vermittelt, er habe Teil an der Geschichte und der Ausgang sei offen. Dieser fiktionale Effekt wird über Sprache, genauer über die Tempusselektion, erzeugt. Das narrative Präsens wiederum muss vom vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens unterschieden werden, welches markiert ist, weil es einen ‘Bruch’ innerhalb des Erzählflusses verursacht. Die Verbalereignisse sind vorzeitig zur Sprechzeit, wie der Ko- und Kontext klarstellen. Es unterscheidet sich vom narrativen Präsens, weil Vorzeitigkeit mit Plusquamperfekt und Nachzeitigkeit mit Futur der Vergangenheit ausgedrückt werden. Das bestätigt die Annahme einer Verortung der durch das Präsens ausgedrückten Ereignisse in der Vergangenheit. Das Präsens ist somit in einen anderen syntaktischen Kontext eingebettet als im Fall des narrativen Präsens, wodurch das Bedürfnis nach Sinnkonstanz im Leser Reinterpretationsprozesse auslöst. Einerseits bewirken diese eine Aktualisierung vergangener Ereignisse. Andererseits kann die Tempuswahl auch perspektivisch bedingt sein, um den Leser zu veranlassen, den Betrachter mit gewissen Figuren der Diegese zu identifizieren und eine Aktualisierung der Ereignisse aus deren Blickwinkel vorzunehmen. Das narrative Präsens hingegen erweist sich als besonders geeignet, um eine Überlappung von Erzählzeit und erzählter Zeit zu suggerieren und dadurch gewisse Effekte zu erzeugen, wie zum Beispiel eine direkte Inbezugsetzung des Erzählten zur eigenen Lebenswelt. Aus einem avantgardistischen Experiment, bei dem die Autoren unmittelbar auf den Film Bezug nahmen, entwickelte sich ein durchaus produktives Erzählmuster, das dem klassischen Muster mit Vergangenheitstempora in keiner Weise nachsteht, obwohl gewisse Diskursstrukturen (Vordervs. Hintergrund, Kotemporalität, etc.) durch tertia comparationis sprachlich kodiert werden müssen. Anhand der herausgearbeiteten Möglichkeiten, durch Tempusselektion unterschiedliche Perspektivierungen zu veranlassen, wird die Fähigkeit von Sprache offenbar, Vorstellungen in unserem Denken zu erwecken. Diese Erkenntnis bestätigt zudem, dass ein wesentlicher Teil des menschlichen Denkens und der Kognition sprachbasiert ist. Dadurch widerlegt sie die Cartesianische Annahme, dass Gedanken unabhängig von Sprache existieren und diese ihnen lediglich Ausdruck verleiht. Die vorliegende Arbeit konnte somit zeigen, dass Tempora in fiktionalen narrativen Texten nicht ihre temporale Bedeutung aufgeben, sondern unter deren Einsatz Ereignisse auf der Ebene der Diegese verorten und unterschiedliche Möglichkeiten der Perspektivierung bereitstellen. Die von Fleischman (1990) vorgeschlagene Reoralisierungshypothese konnte insofern widerlegt werden, als hier Diskurstraditionen unterschiedlicher konzeptioneller Profile verglichen werden und das Konzept der ‘historischen 277 Mündlichkeit’ angesichts der Unmöglichkeit, auf das jeweilige diachrone Gefüge von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zuzugreifen, in das sich die Diskurse einschreiben, für einen plausiblen Erklärungsansatz kaum operationalisierbar ist. Allerdings wäre genau das erforderlich, um typisch mündliche Merkmale herauszuarbeiten und gegebenenfalls als Erklärungsansatz für Sprachwandel fruchtbar zu machen. Außerdem stellen Variationen im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit lediglich ein Potential für Sprachwandel oder Veränderungen im Sprachgebrauch dar, ohne diese jedoch zwingend auszulösen. Die Expansion des präsentischen Erzählens wurde wesentlich durch den globalen Aufschwung des Films begünstigt, durch Interdiskursivität im Sinn von Koch (1997) sowie durch den sprachübergreifenden Charakter von Diskursregeln und diskursiven Strategien. Die Tatsache, dass die konventionalisierte Diskursnorm auch eine hemmende Wirkung auf die Expansion neuer Diskursmuster haben kann, belegen Abweichungen in Übersetzungen und die bis dato geringe Produktivität und Verbreitung des narrativen Präsens im russischen Sprachraum trotz seiner frühen Verwendung bei Tolstoj Mitte des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig kommt in den slawischen Sprachen die systematische Grammatikalisierung des perfektiven Präsens als ‘Futur’ erschwerend hinzu. Bei dem ‘Untergang’ des aspektuellen, aoristischen Präsens liegt ein Sprachwandelprozess vor - das Präsens nonadditiver Verben verliert seine Fähigkeit Verbalvorgänge in der Vorzeitigkeit zu verorten. Beim narrativen Präsens handelt es sich dagegen um die Eroberung eines Funktionsbereichs, der zuvor in den germanischen Sprachen dem Präteritum und in den romanischen Sprachen dem Zusammenspiel von Perfekt und Imperfekt vorbehalten war. Das Präsens selbst verändert dadurch weder seine inhärente Semantik, noch seine inhärente Fähigkeit, Ereignisse zeitlich zu lokalisieren. Vielmehr erlebt dieses Tempus eine Ausbreitung in Bereiche innerhalb der Diskurstradition Roman, die ihm vorher aufgrund der gattungsspezifischen Konventionen bezüglich der Perspektivierung der Ereignisse der Diegese vorenthalten waren. Einen Bedeutungswandel hingegen erfährt das Präsens nicht. Deshalb darf auch nicht von einem Sprachwandel, sondern muss von einem Diskurswandel in Form des Wandels der Diskursregeln gesprochen werden. Aus derzeitiger Sicht ist nicht zu erwarten, dass die Vergangenheitstempora aus ihrer Funktion als Leittempora im Roman verdrängt werden, da es bisher keine Autoren gibt die ihre Romane ausschließlich im Präsens verfassen. Die Wahl scheint vielmehr durch perspektivische Absichten motiviert zu sein, wie die Beschreibung des narrativen Präsens zeigt. Autoren und Leser selbst weisen kein höheres Bewusstsein für die Tempusverwendungen auf und können auch nur ad-hoc-Erklärungen liefern, die jedoch (in der Regel) über das einzelne betrachtete Werk hinaus keine Gültigkeit haben. 278 Ein wichtiges Ziel dieser Arbeit ist es, texthermeneutischen Ansätzen Analyseinstrumente an die Hand zu geben, mit denen die durch Tempus erzeugten Perspektiven sprachwissenschaftlich angemessen beschrieben werden können. Dadurch würde die offensichtliche Willkür bei den Deutungen überwunden, was Tempus in den einzelnen Texten im Hinblick auf die Verortung von Ereignissen zu leisten vermag. So wäre der Weg frei für Interpretationen, die Perspektive nicht als arbiträres Phänomen betrachten. Weiter hat die hier geführte Argumentation die in der Narratologie heftige und kontroverse Diskussion um die Möglichkeit der Auflösung des Erzählers in modernen narrativen Texten insofern entkräften können, als es ja gerade der Erzähler ist, der die Perspektive erzeugt. Den Erzähler aus dem Roman zu verbannen, käme in etwa dem Versuch gleich, im Medium Film ohne Kameraperspektive auskommen zu wollen. Für die Linguistik liefert diese Arbeit einen Erklärungs- und Beschreibungsansatz für das narrative Präsens aus temporalsemantischer Sicht. Aus textlinguistischer Perspektive wurden die diskursiven Strategien nachgezeichnet, mithilfe derer die narrative Progression in präsentischen Erzählungen erzeugt wird. Durch die Darstellungen wurde die Auffassung widerlegt, dass Präsens eine Verlagerung des Betrachters in die Vergangenheit erzeugen könne. Das Präsens ist allein in der Lage, Identität von Sprechzeit, Referenzzeit und Ereigniszeit auszudrücken und dadurch vergangene Ereignisse in die Gegenwart des Betrachters zu transponieren. Während Vergangenheitstempora ein Shifting der Betrachter-Origo in die Vorzeitigkeit gegenüber der Sprechzeit erzeugen und sich die Referenzzeit von der Sprechzeit hin zu den betrachteten Verbalvorgängen verschiebt, veranlasst ein präsentisches Erzählen ein Shifting der historischen oder erzählten Ereignisse in die Gegenwart des Sprechers oder des deiktischen Nullpunkts im Fall von Romanen und Erzählungen. Erfolgt die Erzählung durchgängig im Präsens, wird dadurch eine Kotemporalität von Erzähltem und Erzählzeit suggeriert. Dies ist natürlich als Effekt der sinnkonstanzstiftenden kognitiven Interpretationsprozesse zu deuten, die Tempus im Leser auslösen, und entspricht damit der Erzeugung einer Illusion. Darin besteht schließlich auch der semantisch-funktionale und unüberwindbare Unterschied zwischen Vergangenheitstempora und Präsens. In präsentischen Erzähltexten kann ein temporaler Anker - wie zum Beispiel ein Temporaladverbiale oder der Kontext - eine Verortung der Ereignisse der Diegese vorzeitig gegenüber der Sprechzeit determinieren. Hierdurch wird der Leser auf der Suche nach Sinnkonstanz zu Reinterpretationsprozessen angestiftet, die oftmals perspektivisch funktionalisiert sind. Dies ermöglicht sekundäre Interpretationen, die eine Figur als Betrachter determinieren beziehungsweise seinen Standort als jenen identifizieren, von dem aus die Betrachtung der fiktionalen Welt erfolgt (vgl. Rojo/ Veiga 1999: 2892). Durch die Tempusselektion werden die Ereignisse aktualisiert, und zwar entweder aus dem neutralen Blickwinkel des Erzählers mit Kameraperspektive oder 279 aus dem Blickwinkel einzelner Figuren, durch deren Augen der Betrachter die Ereignisse der Diegese ‘sieht’. Neben diesen Lösungsansätzen für diverse Problemkomplexe rund um das Thema Präsens wurden zugleich neue Fragestellungen aufgeworfen: 1) Die Auseinandersetzung mit ‘Narrativität’ erweist sich als ein wichtiges Forschungsgebiet, bei dessen Diskussion auch die Linguistik beteiligt werden sollte. 2) In der Fiktionalitätsdiskussion können sprachwissenschaftliche Beiträge weiterführen. 3) Untersuchungen zu den formalen und diskursiven Mitteln, die bei der Erzeugung einer ‘hic et nunc’-Perspektive zum Einsatz kommen, wären wünschenswert. 4) Die Erforschung der Möglichkeiten von temporalen Shiftings in sogenannten tenseless languages ist ein wichtiges Forschungsdesiderat. Wenn diese Arbeit dazu beiträgt, dass künftig Romane unter Berücksichtigung der zugrundeliegenden temporalen Muster interpretiert werden und das narrative Präsens nicht weiter als stilistischer ‘Fehlgriff’ abgetan, sondern als mögliches diskursiv-narratives Erzählmuster akzeptiert wird, ist ein wesentliches Ziel erfüllt. Denn selbst die auffallende Einebnung des Reliefs zwischen narrativem Hintergrund und Vordergrund, bei der nur noch eine syndetisch oder asyndetisch gereihte Betrachtungsebene kodiert wird, wird bei Bedarf durch Adverbialien kompensiert. Deshalb wäre es ein Irrtum, das Präsens im Vergleich zu den Vergangenheitstempora in seiner Funktion als Erzähltempus als minderwertig zu betrachten. Hier besteht auch ein Anknüpfungspunkt an die mittelalterlichen Epen, bei denen die geringe Verwendung von Tempora zur Kodierung von Hintergrundinformation heraussticht. In diesem Punkt wäre Fleischman (1990) sogar zuzustimmen, dass die in dieser Diskurstradition üblichen narrativen Erzählmuster angesichts der geringeren Bedeutung der Ebene des Hintergrunds gewisse Ähnlichkeiten mit der textuellen Strukturierung mittelalterlicher Epen aus primär oralen Kulturen aufweisen. Die Ähnlichkeiten sind indes auf diesen Aspekt beschränkt. Die Gründe hierfür und die jeweils veranlassten Perspektiven sind aus temporalsemantischer Sicht sehr verschieden, lediglich in der narrativen Entfaltung sind gewisse Parallelen erkennbar. Der seit Jahrzehnten andauernden Kritik am narrativen Präsens lässt sich folgende Aussage von Victor Hugo entgegen halten: C’est en vain que nos Josués littéraires crient à la langue de s’arrêter ; les langues ni le soleil ne s’arrêtent plus. Le jour où elles se fixent, c’est que elles meurent. 179 (Hugo 1827: 31) 179 ‘Umsonst schreien unsere literarischen Josuas, die Sprache solle stehen bleiben: weder die Sprache noch die Sonne werden jemals stehen bleiben. Der Tag, an dem sie sich immobilisieren, ist der Tag, an dem sie sterben.’ 280 Das Zitat macht letztendlich auf einen wichtigen Aspekt bei der Genese dieses neuen Erzähl- und Perspektivierungsmusters aufmerksam: Auch Erzählmuster nutzen sich ab und erweisen sich irgendwann als Fesseln für die Kreativität des Autors, die von der Suche nach neuen Perspektivierungsmöglichkeiten und -alternativen diskursiven und narrativen Strategien lebt. Durch den Einzug des Präsens in die Reihe der Erzähltempora und die dadurch kodierte Perspektive hat der Roman eine höchst innovative Auffrischung und Aufwertung seiner Erzählmuster erfahren, wie es nur selten zuvor in der Geschichte dieser literarischen Gattung geschah, und liefert durch die kodierte Perspektive eine gedruckte Antwort auf den Film. Abkürzungsverzeichnis Adv. Adverb Advb. Adverbiale Apr Aoristisches aspektuelles Präsens dt. Deutsch eng. Englisch Fut. Futur fr. Französisch Ger. Gerundium Imp. Imperfekt Ind. Indikativ Inf. Infinitiv Ipf. Imperfektiv Kond. Konditional Konj. Konjunktiv lat. Latein PC Analytisches oder zusammengesetztes Perfekt (compound past) Perf. Perfekt (port. Pretérito Perfeito; span. Indefinido; frz. Passé Simple) Pf. Perfektiv (Aspekt) port. Portugiesisch PP Plusquamperfekt Pperf. Present Perfect Pr. Präsens Prät. Präteritum Progr. Progressivform span. Spanisch Subj. Subjonctif/ Subjuntivo Tadv. Temporaladverb Tadvb. Temporaladverbiale Abbildungsverzeichnis Abbildungen Abbildung 1 - Das Complex Moving Time-Modell (Evans 2004: 215) 24 Abbildung 2 - Das Complex Moving Ego-Modell (Evans 2004: 219) 24 Abbildung 3 - Strukturmodell (fiktionaler) narrativer Kommunikation 81 Abbildung 4 - Die Semantik des aspektuellen Präsens nonadditiver Verben 96 Abbildung 5 - Modell der Entwicklung der Beziehung von lateinischer Hochsprache (Schriftlatein) und gesprochenem Latein (Sprechlatein) und die Entstehung der romanischen Sprachen (adaptiert nach Berschin/ Felixberger/ Goebl 2008: 62; vgl. auch Koch 2003: 115) 118 Abbildung 6 - Vertextungsstrategie beim aspektuellen, aoristischen Präsens 146 Abbildung 7 - Perspektivierung des Verbalereignisses bei vergangenheitsaktualisierendem, perspektivischem Präsens 159 Abbildung 8 - Vertextungsmuster bei der Verwendung des vergangenheitsaktualisierenden, perspektivischen Präsens 162 Abbildung 9 - Semantik des narrativen Präsens: ausgedrückte Perspektive auf die Verbalereignisse 172 Abbildung 10 - Das Vertextungsmuster durch das narrative Präsens 186 Abbildung 11 - Generelle und allgemeingültige Wahrheiten im Präsens werden nicht-individualisiert als indefinit perspektiviert 199 Abildung 12 - Sachverhalte, die sich unter gewissen Umständen immer wieder wiederholen, werden individualisiert und semantisch als finit betrachtet 199 Abbildung 13 - Der einzelsprachliche Varietätenraum zwischen Nähe und Distanz (nach Koch/ Oesterreicher 2011: 17, leicht modifiziert) 222 283 Grafiken Grafik 1 - Perfekt und aoristisches Präsens in ausgewählten lateinischen historiografischen narrativen Werken (Oldsjö 2001: 282) 102 Grafik 2 - Verteilung der Vorkommen des aoristischen Präsens auf Haupt- und Nebensatz in Caesars historiografischen Werken (Oldsjö 2001: 322) 104 Grafik 3 - Verteilung der Vorkommen des Perfekts auf Haupt- und Nebensatz in Caesars historiografischen Werken (Oldsjö 2001: 321) 104 Grafik 4 - Verteilung der Vorkommen des aoristischen Präsens, des Perfekts, des Imperfekts und des Plusquamperfekts in Prozent auf Haupt- und Nebensatz in den Büchern von Caesars De Bello Gallico 105 Grafik 5 - Verteilung der Vorkommen des aoristischen Präsens, des Perfekts, des Imperfekts und des Plusquamperfekts in Prozent auf Haupt- und Nebensatz in den Büchern von Caesars De Bello Civili 106 Tabellen Tabelle 1 - Aspekt, Tempus und Modus im Spracherwerb von Kindern 52 Tabelle 2 - Etappen der Entwicklung der Konstruktion ‘haben’ + Partizip Perfekt am Beispiel der romanischen Sprachen (nach Detges 2001: 77-78 und Detges 2006: 47) 138 Tabelle 3 - Geschlechterverteilung der Probanden 253 Tabelle 4 - Verteilung der Probanden nach Alter 254 Tabelle 5 - Präferenz der Leser für präsentische Erzählungen im Spannungsfeld von ‘Bewusstsein’ und ‘Unbewusstsein’ für das selegierte Erzähltempus, in Prozent 262 Tabelle 6 - Erzähltempuspräferenz der Probanden bei direkter Kontrastierung derselben Passage in Präsens versus Präteritum für die germanischen Sprachen oder Präsens versus Perfekt/ Imperfekt für die romanischen Sprachen 267 Tabelle 7 - Präferenz für das narrative Präsens im Überblick für die diversen Abschnitte des Tests, in Prozent 267 Bibliografie Literarische Quellen 180 Amado, Jorge ( 2 2001 [1936]): Mar Morto. 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ISBN 978-3-8233-8001-6 Meisnitzer Das Präsens als Erzähltempus im Roman Anna Marcos Nickol Das Präsens als Erzähltempus im Roman Benjamin Meisnitzer Eine gedruckte Antwort auf den Film