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Mentaler Gallizismus und transkulturelles Erzählen

2017
978-3-8233-9052-7
Gunter Narr Verlag 
Kurt Hahn

Französische Lebens-, Denk- und Schreibstile erfreuen sich seit der Unabhängigkeit in Lateinamerika einer ausgeprägten Wertschätzung, die K. Hahns Studie auf dem Feld der hispanoamerikanischen Erzählliteratur erkundet. In Frage steht dabei die transkulturelle Übertragung bzw. Aneignung prestigeträchtiger Kulturimporte aus Paris, die im 19. Jahrhundert jenseits des Atlantiks sicheres Renommee verheißen. Dass gerade die kreative Bearbeitung des Fremden - französischer Prätexte, Darstellungsmuster und Diskurse - die Herausbildung eigener, dezidiert hispanoamerikanischer Literaturen befördert, leitet als Basisthese die Untersuchung. Sie gewährt damit einen vielfältigen Einblick in die global verzweigte Kultur-, Sozial- und nicht zuletzt Mediengeschichte, die das postkoloniale Lateinamerika seit jeher kennzeichnet.

Mentaler Gallizismus und transkulturelles Erzählen Kurt Hahn Fallstudien zu einer französischen Genealogie der hispanoamerikanischen Narrativik im 19. Jahrhundert Mentaler Gallizismus und transkulturelles Erzählen Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 5 · 2017 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum Kurt Hahn Mentaler Gallizismus und transkulturelles Erzählen Fallstudien zu einer französischen Genealogie der hispanoamerikanischen Narrativik im 19. Jahrhundert Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 2365-3094 ISBN 978-3-8233-8052-8 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Inhaltsverzeichnis Danksagung ...................................................................................................................... 9 Auftakt vor und nach 1800 .......................................................................................... 11 I Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie: Diskurse und Methoden........................................................................................................... 13 I.1 Vom morbus gallicus zum mentalen Gallizismus ........................................... 13 I.2 Ein französisches Lateinamerika? Zur (A-)Logik des kulturpolitischen Imperialismus ................................................................................................... 22 I.3 Zwischen Enteignung und Aneignung: Auf dem Weg zur narrativen Transkulturation .............................................................................................. 29 I.3.1 Teleologien der Kritik und Kritik der Teleologien: Die hispanoamerikanische Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts in der Forschung .......................................................................................... 30 I.3.2 Feldforschung - Narratives Schreiben als sozio- und transkulturelle Praxis .................................................................................................................. 39 I.3.3 Transkulturation und Prestigegewinn - Transkulturation und Autonomiezuwachs......................................................................................... 49 I.4 Methodische und argumentative Verdichtungen...................................... 58 I.4.1 Verdichtung I: Genealogische Systematisierung und narrative Modellierung .................................................................................................... 58 I.4.2 Verdichtung II: Medialität und transkulturelles Erzählen ....................... 64 I.4.3 Verdichtung III: Fiktionale Zeit-Räume der Übertragung ....................... 81 Globalisierungsnarrative um 1800 ............................................................................ 91 II „El Conductor Eléctrico“: Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours in J. J. Fernández de Lizardis El Periquillo Sarniento ..... 93 II.1 Der elektrische Leiter.......................................................................................... 93 II.2 Thesenbildung .................................................................................................. 96 II.3 Der Romancier als Feld- und Medienpionier ............................................. 99 II.3.1 Ein Habitus der Flexibilität: Der Roman im Zeichen medialer und ökonomischer Avantgarde ...........................................................................102 II.3.2 Vom Epitext zum Peritext: Elemente einer fiktionalen Marktanalyse 111 II.4 Der Romancier als Papagei - Zwischen Imitation und Transkulturation ............................................................................................119 II.4.1 Eklektizismus und taktische Filterung.......................................................123 II.4.2 Supplementäre Vater-Fiktionen und die Korrektur des gefährlichen Rousseau..........................................................................................................132 II.4.3 Lizardis Utopie des bürgerlichen Patriarchats .........................................147 II.5 Eine Logik des Kompromisses: Vom regionalen Fortschritt zum globalen Parcours...........................................................................................156 II.5.1 Imperfekte Perfektibilität und chronische Paradigmatisierung............157 II.5.2 Der pikareske Parcours: Nomadisieren und Moralisieren.....................164 II.5.3 Coda: Global Histories und Local Designs ....................................................173 6 Inhaltsverzeichnis Globalisierungsnarrative um 1900 ..........................................................................175 III Schwer verdaulich: Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung in J. A. Silvas De sobremesa ..................177 III.1 (Dis-)Kontinuität der imaginären Globalisierung........................................177 III.2 Thesenbildung ................................................................................................180 III.3 Leben und Schreiben im Marginalen .........................................................183 III.3.1 Sozialisation als Deplatzierung ...................................................................184 III.3.2 Der proteische Romancier ............................................................................191 III.4 Üppiger Nachtisch: Transkulturelle Einverleibungen ............................194 III.4.1 Dekadenter Vitalismus: Der multiple Held..................................................195 III.4.2 Hypertrophe Intertextualität und parodistischer Diskursverschleiß...202 III.5 Opfer des „high life cosmopolita“: Mediale Dezentrierungen..............215 III.5.1 Ubiquitäre Sinnesreize und vergebliche Vermittlung ............................216 III.5.2 Das Kommunikationsmonopol eines caudillo: Visionäre Mediokratie oder verzweifelte Farce? ...............................................................................221 III.6 Beder Entgrenzung, Entder Beschleunigung: Silvas globalisierte Innerlichkeit ....................................................................................................228 III.6.1 Modernes Babylon: Von Nicht-Orten und Nicht-Zeiten...........................228 III.6.2 Heterotope Klausuren der Subjektivität ....................................................233 Heterotopien I: Musealisierte Leere..........................................................................233 Heterotopien II: Margen der Selbstverschriftung ..................................................239 II .6.3 Coda: Globale Relativierung ........................................................................242 Ursprungsnarrative um 1860.....................................................................................247 IV Romantische Post aus dem Jenseits: Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur in J. Isaacs’ María ....................................................249 IV.1 Zurück statt vor - Ursprünge statt Gründungen.....................................249 IV.2 Thesenbildung ................................................................................................253 IV.3 Hacendado sin hacienda - Marías Bestimmtheit und Isaacs’ Unbestimmtheit..............................................................................................254 IV.3.1 Marías Leben nach dem Tod: Geschichte einer posthumen Emanzipation..................................................................................................255 IV.3.2 Im Niemandsland der Gesellschaft ............................................................258 IV.4 Qui perd gagne: Transkulturelle Idyllen des Anachronismus.................262 IV.4.1 Paradiesische Sujetlosigkeit und narrative Melancholie ........................263 IV.4.2 Intertextuelle Einführung in den Tod ........................................................270 IV.4.3 Realistische Korrespondenzlandschaften und tiefenperspektivischer Regionalismus.................................................................................................281 IV.5 Wiederkehr des Medialen ............................................................................290 IV.5.1 Das Urmedium der Natur und die verdrängte Technik.........................291 IV.5.2 Courriers de la mort..........................................................................................295 IV.6 Eine Kette der Supplemente.........................................................................301 I Inhaltsverzeichnis 7 Krisennarrative um 1880............................................................................................309 V Blutzoll: Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus in E. Cambaceres’ En la sangre ............................................311 V.1 Am Ende statt am Anfang - Krisen statt Ursprünge...............................311 V.2 Thesenbildung ................................................................................................317 V.3 Verdammt zum Risiko des Naturalismus .................................................318 V.3.1 Innovatives Erzählen als Privileg eines Rentiers.........................................319 V.3.2 Schlacht-Feld-Getümmel ..............................................................................323 V.4 Eine Frage des Medien-Formats und der symbolische Verrat ..............330 V.5 Transkulturation als Manipulation: Naturalismus und / oder / als Ideologie ..........................................................................................................334 V.5.1 „El dedo de la fatalidad“: Moralischer Determinismus? ........................337 V.5.2 Durchlässige Milieus .....................................................................................341 V.5.3 Erlebte Rede als gespaltene Rede ................................................................343 V.5.4 Inkonsistenzen einer Erfolgsformel............................................................347 V.6 Die Stadt als Phantom: Vom Chronotopos zur geschichtslosen Karte 351 V.6.1 Deskriptive Leerstellen .................................................................................352 V.6.2 Coda: Das Opfer der Stadt als Opfer der Transkulturation ...................359 Abgesang nach 1900....................................................................................................365 VI Vom Narrativ zur Ideologie, von der Transkulturation zur Autochthonie und wieder zurück...............................................................367 Literaturverzeichnis .....................................................................................................375 Personenregister ...........................................................................................................411 Danksagung Die vorliegende Untersuchung ist die überarbeitete Fassung einer Habilitationsschrift, die von der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt angenommen wurde. In ihrer gesamten Entstehungszeit konnte der Verfasser auf tatkräftige Kolleginnen und Kollegen, auf Freundinnen und Freunde bauen, ohne deren Mitschrift diese Studie ungeschrieben geblieben wäre. Allen voran möchte ich deshalb Herrn Professor Christian Wehr für seine freundschaftliche, ebenso geduldige wie stets anregende Unterstützung herzlich danken. Als unverzichtbare Beraterinnen und Berater müssen weiterhin Frau Professorin Barbara Kuhn und Herr Professor Bernhard Teuber Erwähnung finden, zumal sie hiesige Zeilen auch mit ihren Worten und erhellenden Kommentaren bedacht haben. Gleiches gilt für Herrn Professor Günter Butzer, dank dessen wohlwollender Begutachtung ich selbst über die Romania hinaus vergleichende Literaturwissenschaft betreiben darf. Zu nennen wären noch viele weitere Hände und Gehirne, Stimmen und Ohren, deren unverzichtbarer Anteil an der Genealogie dieser Genealogie jedoch weniger mit dem Präzisionsmaß der Kausalität als vielmehr mit dem Tiefenlot sogenannter Inspiration zu erfassen ist. Daher schreibe ich schlicht: Marita, Matthias, André, Judith, Horst, Victor, Sergej, Katrin, Alex, Birgit, Franz, Britta, Clemens, Andreas - Euch allen und vielen mehr danke ich für jahrelange Begleitung und Gespräche, für Eure Gedanken und Ermunterungen, für Euch. Ohne die kompetente Hilfe von Gabriella Lambrecht, die freundliche Aufnahme der Herausgeber der Buchreihe Orbis Romanicus, die jederzeit umwie nachsichtige Betreuung durch den Narr Francke Attempto Verlag und die großzügige finanzielle Förderung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften hätten hingegen diese Seiten niemals zwischen zwei Buchdeckel gefunden. Alles Weitere und so Vieles mehr verdanke ich indes meiner Familie und Dir, Girasol, allein Dir. Nürnberg, im Juli 2017. Auftakt vor und nach 1800 Aun así, las palabras solían ejercitarse más en el arte de esconder que en el arte de develar. O tal vez develaban algo. ¿Qué? , le confieso que yo lo ignoro. (Roberto Bolaño) 1 1 Roberto Bolaño, 2666 [2004], Barcelona: Anagrama 6 2010, 339. I Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie: Diskurse und Methoden I.1 Vom morbus gallicus zum mentalen Gallizismus Ende der 1770er Jahre kursiert in Quito und alsbald in anderen Teilen Hispanoamerikas ein Manuskript, das zunächst anonym bleibt und später unter dem sprechenden Pseudonym eines gewissen Dr. Don Javier de Cía, Apéstegui y Perochena, procurador y abogado de causas desesperadas firmiert. Als tatsächlicher Autor des Traktats zeichnet der mestizische Gelehrte Francisco Javier Eugenio de Santa Cruz y Espejo (1747-1795), der sich als Rechtsphilosoph, Mediziner sowie umtriebiger Erziehungs- und Gesundheitsreformer 1 einen - bei der alteingesessenen Oligarchie gefürchteten - Namen macht. Der gewundene Titel der Denkschrift verrät umgehend die literarische Filiation, in die sich Espejos Text einschreibt: El Nuevo Luciano de Quito o Despertador de los ingenios quiteños en nueve conversaciones eruditas para el estímulo de la literatura. Die Dialogsatire, als deren Diskursgründer der hier apostrophierte Lukian von Samosata (ca. 120-180 n. Chr.) gilt, gelangt im geistigen Klima des 18. Jahrhunderts zu neuer Aktualität, was auf europäischem Boden unter anderem Wielands Übersetzung des lukianischen Gesamtwerks oder Voltaires produktive Rezeption des antiken Satirikers dokumentieren. Dass die epistemische Konfiguration der Aufklärung, die hiermit ins Blickfeld rückt, auf der anderen Seite des Atlantiks neben der geistesgeschichtlichen meist eine politische, wenn nicht protonationale Tragweite entfaltet, ist hinlänglich bekannt. Folgerichtig hebt auch El Nuevo Luciano bei aller inhaltlichen Weitschweifigkeit zu einer regionalen Gesellschaftskritik an, die sich die erstarrten Hierarchien des Vizekönigreichs Neu- Granada und der Audiencia von Quito vornimmt, die die ebenso unmenschlichen wie ineffektiven Kolonialinstitutionen geißelt und die am Ende dennoch einen strahlenden Horizont möglicher Perfektibilität eröffnet: ¡Oh [pobre ciudad de Quito], si pudieses mejorar de condición, en la formación de tus niños, en la regularidad de tus jóvenes, en la sencillez de tus políticos, en la ciencia de tus doctores y en la ilustración divina y humana de todos tus miembros juntos! Podríamos ver entonces el buen artífice, el buen ciudadano, el buen padre, el buen maestro, el buen magistrado, el hombre 1 Beispielhaft für Espejos naturwissenschaftliche Reformschriften seien hier die medizinisch wegweisenden Reflexiones acerca de las viruelas genannt, die er 1785 ebenfalls unter einem Pseudonym veröffentlicht. 14 Auftakt vor und nach 1800 de letras, el hombre de bien, el hombre cristiano y el hombre capaz de constituir útilmente el vínculo y el todo de la sociedad humana. 2 Programmatisch konfrontiert stehen sich in Espejos didaktischem Zwiegespräch der engstirnige Doctor Miguel Murillo, seines Zeichens ein „sujeto estrafalario en el estilo, desatinado en sus pensamientos y envuelto en una infinidad de especies eruditas, vulgares y colocados en su cerebro con infinita confusión“, sowie der fortschrittlich gesinnte Doctor Luis Mera, ein „hombre de instrucción y de letras“ 3 gegenüber. In neun, mit unzähligen Zitaten und intertextuellen Verweisen durchsetzten Konversationen handelt das ungleiche Paar ein Themenspektrum ab, das von Kanzelrhetorik und Kunstschönheit über Moraltheologie und die Grundlegung der Menschenrechte bis zu konkreten Wirtschaftsfragen reicht. Der ehemalige Jesuit Mera hat dabei die Rolle des aufgeklärten Präzeptors, des „despertador de los ingenios“ - wie der Titel des Traktats besagt - inne, sucht er doch unentwegt Murillos reaktionäre Haltung zu korrigieren, was ihm trotz umfangreicher Redeanteile nur begrenzt gelingt. Ein Grund für das Scheitern der Belehrung, das umso mehr satirische Nuancen freisetzt, liegt zweifellos darin, dass Murillo Veränderungen, welcher Observanz sie auch sein mögen, rundweg als unspanisch und mithin für das koloniale virreinato als schädlich verdächtigt. In der Tat sind es vorrangig nicht aus dem Mutterland stammende Autoritäten, auf welche der Kontrahent Mera seine progressiven Ansichten zur Poetik, zu philosophischer und theologischer Methodik, zum Erziehungswesen und zur seiner Ansicht nach erforderlichen Restrukturierung der Gesellschaftsordnung gründet. Man braucht nicht einmal umfänglich Quellen, Namen und Werktitel zu spezifizieren, 4 um die formation discur- 2 So das Schlussplädoyer in El Nuevo Luciano, hier zitiert nach der Ausgabe: Eugenio de Espejo, El Nuevo Luciano de Quito [1779], hg. von Hernán Rodríguez Castelo, Guayaquil/ Quito: Clásicos Ariel 1980-81, Bd. 2, 232. 3 Espejo, El Nuevo Luciano, Bd. 1, 43-44 („Prefacio“). Zur Verortung von Espejos Werk im geistes- und sozialgeschichtlichen Panorama des Spätkolonialismus vgl. etwa Carlos Freile Granizo, Eugenio Espejo y su tiempo, Quito: Ed. Abya-Yala 2001, 31ff. sowie die bündige Einbettung bei Heinz Krumpel, Aufklärung und Romantik in Lateinamerika. Ein Beitrag zu Identität, Vergleich und Wechselwirkung zwischen lateinamerikanischem und europäischem Denken, Frankfurt/ Main u.a.: Lang 2004, 111ff. Einen regionalspezifischen Überblick zu Aufklärungsdiskursen bietet Ekkehart Keeding, Das Zeitalter der Aufklärung in der Provinz Quito, Köln u.a.: Böhlau 1983. 4 Neben jesuitischen Autoren, die Espejo auf allen Wissensfeldern bemüht, und neben Descartes, Fontenelle oder - eher in negativer Hinsicht - den Enzyklopädisten referiert Mera in Schlüsselfragen der Ästhetik, Rhetorik und (Religions-)Geschichte vor allem auf die Theoreme des Italieners Lodovico Antonio Muratori (u.a. Delle riflessioni sopra il buon gusto nelle scienze e nell‘arti, 1708), des Franzosen Dominique Bouhours (u.a. Les entretiens d’Ariste et d’Eugène, 1671) und die berühmten Reden des Jacques Bénigne Bossuet (z.B. Discours sur l’Histoire universelle, 1681). Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 15 sive 5 abzustecken, in der sich Mera als Sprachrohr seines Autors Espejo verortet wissen will. Für den groben Überblick genügt es, das Dreigestirn aus neoklassizistischer Ästhetik, einer Erkenntnistheorie in Descartes‘ Nachfolge und einer erfahrungsgeleiteten, von Malebranche inspirierten Pädagogik aufzurufen, um die gemäßigte Modernisierungstendenz anzudeuten, die der Parteigänger der ilustración gegen scholastische Kasuistik, barocken Schwulst und eine repressive Bildungs- und Sozialpolitik aufbietet. Derart perspektiviert, entbehrt aber das Vorurteil seines Gegenübers Murillo, sei es noch so borniert, nicht jeder Wahrheit. Dessen Diagnose lautet schließlich, dass Meras Reformpositionen allesamt vom Franzosentum infiziert seien, von einem regelrechten morbus gallicus, der die europäische Ideenlandschaft bereits fest im Griff hat und den wenige Jahre zuvor der spanische Altphilologe Juan de Iriarte (1701-1771) - Onkel des Fabeldichters Tomás de Iriarte - in seinem bissigen Epigramm CLXXXVII („De Hispanis Gallorum mores plus æquo affectantibus“) attackiert: Gallicus Hispanis habitus, saltatio, vestis, Lingua, cibus, morbus Gallicus ipse placet. „¡Que á España parezca bien Del Frances no solo el trage, Comidas, baile y lenguage, Sinó el mal Frances tambien! “ 6 Wo man auch hinschaue - so Iriarte und mit ihm Murillo als getreuer Untertan der Krone im Nuevo Luciano - machten sich französische Denk- und Sprechweisen, Sitten und Vorlieben breit und höhlten den altspanischen casticismo aus. Dass das vermeintlich intakte Kolonialregime zu Ende des 18. Jahrhunderts längst von der Spitze her bourbonisch infiltriert ist, weiß der dünkelhafte Doktor natürlich nur zu gut. Umso mehr ist es seines Erachtens zu beklagen, dass die kulturelle Syphilis nun gleichfalls in den überseeischen Territorien grassiert und gerade das Geistesleben in Hispanoamerika befällt. Unmissverständlich artikuliert Murillo daher in der vierten Unterredung, die die Kriterien des „buen gusto“ erörtert, seine Aversion 5 Vgl. Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris: Gallimard 1969, 44-54. 6 Juan de Iriarte, Epigramas profanos, in: Ders., Obras sueltas de D. Juan de Iriarte. Publicadas en obsequio de la literatura, a expensas de varios caballeros amantes del ingenio y del mérito, Madrid: Mena 1774, Bd. 1, 1-184, hier 56. Den Brückenschlag zwischen Espejos Satire und der ‚Franzosenkrankenheit‘ verdanke ich Michael Rössners Lateinamerikanischer Literaturgeschichte (Stuttgart/ Weimar: Metzler ²2002, 119). Als Geschlechtskrankheit, die auf eine angeblich laxe Sexualmoral in Frankreich hindeute, treffen wir den morbus gallicus prominent bereits in der Renaissance, so im Lehrgedicht „Syphilis sive Morbus Gallicus“, das der Arzt und Dichter Girolamo Fracastoro 1530 in Druck gibt. Zur Begriffs- und Kulturgeschichte der Infektion siehe Birgit Adam, Die Strafe der Venus. Eine Kulturgeschichte der Geschlechtskrankheiten, München: Orbis 2001, 29ff. sowie Anja Schonlau, Syphilis in der Literatur. Über Ästhetik, Moral, Genie und Medizin (1880-2000), Würzburg: Königshausen&Neumann 2005, 25ff. 16 Auftakt vor und nach 1800 gegen das überhandnehmende französische Gedankengut in der Heimat: „[M]e duelen estos libros franceses“, konstatiert er pauschal und moniert, dass sich auch und besonders „los españoles con su mucho saber“ der Mode beugten „por estar todos galicados“ 7 . Gänzlich anders bewertet das sein Widersacher Mera, zumal er der spanischen Intelligenzija, mit Ausnahme des unfehlbaren Padre Feijoo, den Sinn für Geschmacksfragen weitgehend abspricht und ihr eine „ridícula pedantería“ nachsagt, die sie als „perfectos monos“, als unbedarfte Epigonen „de los franceses“ 8 entlarve. Wäre es in dieser Hinsicht nicht ratsam, die notwendige Erneuerung der hispanoamerikanischen Kultur(en) in Absehung vom bisherigen Vorbild zu bewerkstelligen und sich der spanischen Indoktrination zu entziehen? Wäre es nicht vielversprechend - so legen Mera und Espejos Dialoge überhaupt nahe -, der Stagnation der madre patria auszuweichen und sich gleich an die „lectura de los modernos“ 9 zu halten? Kurzum: Wäre es nicht das Zukunftsträchtigste für das spätere Großkolumbien (und das noch spätere Ecuador) sowie für den gesamten Kontinent, den Machtverlust Spaniens zum Anlass einer an Frankreich ausgerichteten Reorientierung zu nehmen? Eingedenk des somit fortgesetzten Eurozentrismus gilt es die historische Indexikalität zu erkennen, die der selbstbewussten Frankophilie in El Nuevo Luciano zukommt. Was Espejo seinem fiktiven Alter Ego Doctor Mera in den Mund legt, impliziert 1779 beträchtliche Sprengkraft und wird spätestens im Zuge der Unabhängigkeitskämpfe faktische Resonanz erfahren. Nicht umsonst wähnt man die Aufständischen, die sich 1809 in Quito gegen die vizekönigliche Autorität erheben, in unmittelbarer Nachkommenschaft des hellsichtigen Vordenkers und bezichtigt sie buchstäblich als „herederos de los proyectos sediciosos de un antiguo vecino, nombrado Espejo, que hace años falleció en aquella capital“ 10 . Zum Leidwesen der Traditionalisten, die der Pedant Murillo idealtypisch verkörpert, sollten der Ex-Jesuist Mera und sein Autor Espejo auch insofern Recht behalten, als der morbus gallicus die größte Ansteckungsgefahr auf intellektuellem und, damit verbunden, ästhetischem Terrain birgt. Binnen weniger Jahrzehnte wird die Franzosenkrankheit die spanischen Signaturen weitgehend verdrängt haben und zum transatlantischen Fixpunkt des hispanobzw. lateinamerikanischen 11 Kulturbetriebs aufgestiegen sein. 7 Beide Zitate: Espejo, El Nuevo Luciano, Bd. 1, 99 und 97. 8 Alle vorangehenden Zitate: Espejo, El Nuevo Luciano, Bd. 1, 97. 9 Espejo, El Nuevo Luciano, Bd. 1, 97. 10 Die Aussage entstammt der Korrespondenz, die der damalige Präsident des Cabildo von Quito (Molina) mit der spanischen Zentralregierung führt; zitiert nach: Claudio Mena Villamar, El Quito rebelde (1809-1812), Quito: Abya-Ayala 1997, 31. 11 Das terminologische Changieren zwischen Lateinamerika und Hispanoamerika trägt dem Umstand Rechnung, dass der Kulturimport aus Frankreich im 19. Jahrhundert zweifellos ein gesamtkontinentales Phänomen darstellt, wohingegen sich der hiesige Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 17 Das präkolumbische Erbe sei hier keineswegs unterschlagen, doch ob der unvermindert breiten Verleugnung vorerst zurückgestellt. Frankreich hingegen oder vielmehr als französisch erachtete Diskurse 12 besitzen eine Faszination, die im Laufe des 19. Jahrhunderts Verhaltensweisen und Lebensstile, Argumentations- und Handlungsschemata prägt, die mithin eigene Dispositive 13 generiert und ideologische wie wissenschaftliche Weichenstellungen motiviert. Nicht zuletzt erfasst ihre Strahlkraft die hispanoamerikanischen (Erzähl-)Literaturen, um die es den folgenden Ausführungen zu tun ist und die als solche ebenso wenig nur diskursiv wie zwangsläufig „konterdiskursiv“ 14 verfahren, die gleichwohl immer an diskursiven Dominanten teilhaben. Als kontinentale Konstante entwertet derlei Partizipation im vorliegenden Fall zwar weder regionale und historische Unterschiede noch enthebt sie der Kautelen, die der Wiederkehr einsinniger Abhängigkeiten vorbeugen müssen. Nichtsdestoweniger bestätigt die Retrospektive den Befund, dass neben Englands ökonomischer Potenz allen voran die Kulturmacht Frankreich als Maßstab der jungen, um Konsolidierung ringenden Staaten fungiert. Untersuchungsbereich auf den hispanoamerikanischen Raum und dessen Erzählliteratur beschränkt. 12 Den schillernden Terminus des Diskurses, der fortan in Michel Foucaults wissensarchäologischem Sinn verstanden sei (vgl. L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France prononcée le 2 décembre 1970, Paris: Gallimard 1971), präzisiert Michael Titzmann als über soziale Leitsemantiken organisiertes Denk- und Argumentationsschema („Kulturelles Wissen - Diskurs - Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung“, in: ZFSL 99/ 1 (1989), 47-61). Einen luziden Versuch, die kursierenden Begriffstraditionen zu systematisieren, bietet Andreas Mahler, „Diskurs. Versuch einer Entwirrung“, in: ZFSL 120/ 2 (2010), 153-173. 13 Ein Jahr nach dem ersten Band der Histoire de la sexualité (La volonté du savoir, Paris: Gallimard 1976), wo der Terminus Anwendung findet, definiert Michel Foucault ein Dispositiv als „ensemble résolument hétérogène, comportant des discours, des institutions, des aménagements architecturaux, des décisions réglementaires, des lois, des mesures administratives, des énoncés scientifiques, des propositions philosophiques, morales, philanthropiques, bref: du dit, aussi bien que du non-dit. Le dispositif luimême, c’est le réseau qu’on peut établir entre ces éléments.“ („Le jeu de Michel Foucault (entretien)“ [1977], in: Michel Foucault, Dits et écrits, hg. von Daniel Defert / François Ewald, Paris: Gallimard 1994, Bd. 3, hier 298-329, hier 299). 14 Als „contre-discours“ begreift Michel Foucault (Les mots et les choses: une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard 1966, 58f./ 313) ursprünglich eine intransitive, rein materielle Semiose, wie sie laut dem Wissenssoziologen etwa die Texte Mallarmés oder Artauds inszenieren. Das Konzept hat seit längerem eine Bedeutungserweiterung erfahren und wird gemeinhin als literarische Immunisierung gegen die Übermacht offizieller Diskursdominanten verstanden. Siehe näherhin Rainer Warning, „Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault“, in: Ders., Die Phantasie der Realisten, München: Fink 1999, 313-345 sowie Achim Geisenhanslüke, Foucault und die Literatur. Eine diskurskritische Untersuchung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, 213ff. 18 Auftakt vor und nach 1800 Zugespitzt heißt das: Nicht ausschließlich als „capitale littéraire“ 15 , sondern überhaupt als Hauptstadt der Kunst- und Wissensproduktion ist Paris während des 19. Jahrhunderts nahezu unumstritten in Hispanoamerika, zumal es eine Projektionsfläche mit sicherem Symbolwert und beliebig dehnbarem Imaginationsradius bietet. Geographische oder soziopolitische Realitäten der Seine-Metropole und ihres hexagonalen Umlands fallen hierbei kaum ins Gewicht. So müssen sich auch jene, die im Namen erwachender Nationalismen einen radikalen Bruch mit Europa fordern, an dem abarbeiten, was die spanische Sprache seit dem 18. Jahrhundert mit dem Terminus des afrancesamiento adressiert und gemeinhin denunziert. 16 Selbst erklärte Patrioten im größtenteils unabhängigen Hispanoamerika kommen nicht umhin, die stetig wachsende Präsenz des französischen Kulturguts auf dem Subkontinent zur Kenntnis zu nehmen und als irreversibles Faktum immerhin zu tolerieren. Da hilft es wenig, dass prominente Volkserzieher vom Schlage eines José Martí im afrancesamiento ein gefährliches Dekadenzsyndrom erkennen wollen: „[L]os engendros franceses, el bizantismo moral, la imitación servil de un pueblo enfermo, no convienen a una patria naciente […].“ 17 Martí und andere mögen noch so wettern, auch sie wissen um die Reichweite der 15 Walter Benjamins berühmter Aufsatz „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ ([1935], in: Ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1974, 170-184) findet auch in der Lateinamerikanistik breite Aufnahme. Im hiesigen Zusammenhang greift sie Jean-Claude Villegas als Titel seiner materialreichen Studie Paris, capitale littéraire de l’Amérique latine (Dijon: Éd. Univ. 2007) auf, die der Anziehungskraft der französischen Kapitale auf lateinamerikanische Autorinnen und Autoren allerdings erst ab 1900 nachgeht. Um 1870 beginnt der Forschungszeitraum der dichten, an der transnationalen histoire croisée orientierten Untersuchung von Jens Streckert, Die Hauptstadt Lateinamerikas. Eine Geschichte der Lateinamerikaner im Paris der Dritten Republik (1870-1940), Köln: Böhlau 2013. Vgl. ferner die betreffenden Beiträge in Jacques Maurice (Hg.), París y el mundo ibérico e iberoamericano, Paris: Univ. Paris X - Nanterre 1998, 231ff. 16 Eine der ersten pejorativen Verwendungen des Verbums „afrancesar“ erscheint 1727 im Teatro Crítico Universal des spanischen Aufklärers und Polyhistors Benito Jerónimo Feijoo; siehe Diccionario histórico de la lengua española (Madrid: Real Academia Española 1972, Bd. 1, 928), wo sich unter den entsprechenden Lemmata weitere Belege aus der spanischsprachigen Literatur und Lexik finden. Gegenwärtig definiert der Diccionario de la lengua española (Madrid: Real Academia Española 22 2001, Bd. 1, 58) als „afrancesado/ s“ entweder „[el] que admira excesivamente o imita a los franceses“ oder spezifischer „los españoles que en la Guerra de la Independencia siguieron al partido de Napoleón“. Die Semantiken des über die koloniale Machtzentrale vermittelten Begriffs rekonstruieren politisch Miguel Ártola, Los afrancesados, Madrid: Alianza 1989 und kulturgeschichtlich im Kontext der spanischen Aufklärung Christian von Tschilschke, Identität der Aufklärung / Aufklärung der Identität. Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/ Main: Vervuert 2009, 72-99. 17 So Martí am 27.8.1876 in der Revista Universal (México); zitiert nach: José Martí, „‚La cadena de hierro‘, drama de Agustín Cuenca“, in: Ders., Obras completas, La Habana: Ed. de Ciencias Sociales 1975, Bd. 6, 453-457, hier 457. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 19 Infiltration, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts längst im psychosozialen Bewusstsein, in moralischen und ästhetischen Bewertungsmaßstäben sowie im praktischen Handeln vieler Hispanoamerikanerinnen und Hispanoamerikaner sedimentiert ist. Geradezu ‚ohnmächtig‘ konstatiert demnach der Mexikaner Ignacio Manuel Altamirano - der sich für sein Projekt einer mexikanischen Nationalliteratur übrigens selbst zuweilen auf französische Vorbilder wie Hugo und Lamartine beruft 18 - die um sich greifende „Gallomanie“, 19 in deren Bannkreis sogar militärische und politische Erfolge verblassen: México habrá podido combatir la intervención política de la Francia; pero será impotente para combatir la intervención moral. Vestimos a la francesa, comemos a la francesa, vivimos a la francesa, pensamos a la francesa. Trajes, peinados, joyas, alimentos, libros, música, bailes, todo lo debemos recibir de París. Nuestra sangre era americana antes; pero hoy con los filtros franceses parece también francesa. 20 Es ist leicht zu ermessen, wie weit sich Altamiranos skeptische Bestandsaufnahme von der Einschätzung des Aufklärers Santa Cruz y Espejo entfernt hat. Vermag Letzterer die Adaption französischer Repräsentations- und Wahrnehmungsmuster noch als vielversprechendes Antidoton gegen die Verkrustung der spätkolonialen Gesellschaft aufzubieten, so scheint sich dieses Heilmittel gut hundert Jahre später zum zwiespältigen pharmakon gewandelt zu haben. Je weiter das 19. Jahrhundert voranschreitet, desto intrikater, ja mitunter schizophrener mutet die Gratwanderung an, auf der zwischen dem Anspruch autonomer Kulturhoheit und der Omnipräsenz äußerer Einflüsse, zwischen Identitätsforderungen und Alteritätserfahrungen die Erfindung oder die Idee eines unabhängigen Lateinamerikas verhandelt wird. 21 Eben- 18 Der Spagat zwischen reklamierter Originalität und dem stetigen Rekurs auf die europäische, v.a. französische Literatur prägt Altamiranos Erzählprosa ebenso wie seine Zeitschrift El Renacimiento. Vgl. hierzu beispielsweise Karl Hölz, „Liebe auf mexikanisch. Patriotisches Denken und romantischer Sentimentalismus im Werk von Ignacio M. Altamirano“, in: Iberoamericana 8/ 22-23 (1984), 5-29. 19 Nur nebenbei bemerkt sei hier, dass Die Gallomanie, oder die Erziehung nach der Mode der Titel eines Lustspiel[s] in drey Akten ist, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts (1785) in Breslau anonym gedruckt wird und das elektronisch einsehbar ist in: Staatsbibliothek zu Berlin (2013), URL: http: / / digital.staatsbibliothek-berlin.de/ werkansicht/ ? PPN= PPN749764562 (abgerufen am 5.3.2017). 20 So in seiner Zeitungschronik vom 3. Juli 1869; zitiert nach: Ignacio Manuel Altamirano, Crónicas de la semana (de „El Renacimiento“ 1869), México: Instituto Nacional de Bellas Artes 1969, 129-140, hier 138. 21 Das Konzept einer kreolischen „Idee“ des unabhängigen Lateinamerikas prägt Walter D. Mignolo, The Idea of Latin America, Oxford u.a.: Blackwell 2005, bes. 51-94. Mit dem Terminus der „Erfindung“ ist hingegen Edmundo O’Gormans breit rezipierte Studie (La invención de América: investigación acerca de la estructura histórica del Nuevo Mundo y del sentido de su devenir [1958], México: FCE 1984) aufgerufen, die zunächst 20 Auftakt vor und nach 1800 daher rührt, dass selbst tendenziell frankophile Schriftsteller und Politiker wie die beiden Argentinier Juan Bautista Alberdi 22 oder Domingo Faustino Sarmiento mit der Zeit nicht nur den Kontrast zwischen „esta Francia de nuestros sueños“ 23 und ihren durchaus ernüchternden Realerlebnissen eingestehen müssen. Vielmehr warnen auch sie zunehmend vor einem eilfertigen europeismo, der aufgrund divergenter Vorzeichen in der Heimat jedweden Emanzipationsbestrebungen zuwiderlaufen müsse: „¡Ai de la república en América si las ideas en Francia no se echan en otro molde! “ 24 Die ambivalente Haltung des späteren argentinischen Präsidenten, dessen Begeisterung für Frankreich allmählich dem US-amerikanischen Leitbild weicht, taugt in vielerlei Hinsicht als Exempel. 25 Denn gleich einer unausgesetzten Pendelbewegung alternieren im 19. Jahrhundert emphatische Affirmation und harsche Ablehnung der französischen Diskursimporte, deren manifester Niederschlag in der hispanoamerikanischen Geistesgeschichte - und vermutlich ebenso in der brasilianischen - nicht mehr zu leugnen ist. Mit Eintritt in das 20. Jahrhundert, näherhin 1912, bekennt sonach Ruben Darío in seiner rückblickenden Autobiografía: Yo soñaba con París desde niño, a punto de que cuando hacía mis oraciones rogaba a Dios que no me dejase morir sin conocer París. [...] Era la Ciudad del Arte, de la Belleza y de la Gloria; y sobre todo, era la capital del Amor, el reino del Ensueño. E iba yo a conocer París, a realizar la mayor ansia de mi vida. Y cuando en la estación de Saint-Lazare, pisé tierra parisiense, creí hallar suelo sagrado. 26 die diskursive Fixierung des Kolonialreichs problematisiert und die in jüngerer Vergangenheit auf die Unabhängigkeitsprozesse des 19. Jahrhunderts appliziert wurde; so etwa bei Nicolas Shumway, The Invention of Argentina, Berkeley u.a.: California UP 1991 oder bei Mary Louise Pratt (Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation [1992], London/ New York: Routledge ²2008, 107-194), die der „reinvention“ Lateinamerikas in der auf beiden Seiten des Atlantiks verfassten Reiseliteratur nachspürt. 22 Überschwänglich feiert Alberdi 1837 im Fragmento preliminar al estudio del derecho (hg. von Ricardo Grinberg, Buenos Aires: Biblos 1984, 96) die Vorreiterrolle Frankreichs: „A la España le debemos cadenas, a la Francia libertades […]; nuestras instituciones democráticas no son sino una parte de la historia de las ideas francesas.“ 23 Vgl. Domingo Faustino Sarmiento, Viajes por Europa, Africa i América 1845-1847, edición crítica, hg. von Javier Fernández, Madrid u.a.: ALLCA XX 1993/ 96, 75: „Avise usted a los míos, mi buen amigo, que he tocado tierra en Europa, que he abrazado, más bien dijera, esta Francia de nuestros sueños.“ 24 Sarmiento, Viajes por Europa, Africa i América, 96. Die Desillusion, die das Reisetagebuch trotz aller Bewunderung für die Metropole Paris verrät, hat vor allem politische Gründe, da Sarmiento im Frankreich vor der Februarrevolution 1848 eine restaurative Stimmungslage vorfindet. 25 Sarmientos Hinwendung zum sozioökonomischen Erfolgsmodell der USA, die während seiner Europa-Reise 1845-1847 Kontur gewinnt, rekonstruiert Florian Nelle, Atlantische Passagen - Paris am Schnittpunkt südamerikanischer Lebensläufe zwischen Unabhängigkeit und kubanischer Revolution, Berlin: tranvía/ W. Frey 1996, 114-166. 26 Rubén Darío, Autobiografía. Oro de Mallorca, Madrid: Mondadori 1990, 69. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 21 Dabei hatte der nicaraguanische Journalist und Paradedichter des Modernismo bereits in seinen umfangreichen Paris-Chroniken nicht mit Überschwang gespart. „París es el paraíso de la vida, Francia es el país de la Primavera y del Gozo para todos los humanos“ 27 , schwärmt Darío in einem, ursprünglich für La Nación verfassten Text zum französischen Nationalfeiertag 1898, um andernorts schließlich apodiktisch die universale, wiewohl besonders in Hispanobzw. Lateinamerika zu Tage tretende Geltung der Grande Nation festzuschreiben: „Toda gran voz humana se ha hecho oír en Hispanoamérica por el órgano de Francia. La América Latina, desde la revolución, ve en Francia su verdadera madre patria.“ 28 So konstatiert Darío 1903 und gibt damit zu verstehen, dass sogar das Interesse an anderen Ländern und Kulturen die „Zwischenstation“ Frankreich passieren muss, ehe es, gefiltert durch dessen „Relais- und Katalysatorfunktion“ 29 , jenseits des Atlantiks Fuß fassen kann. Der morbus gallicus, dessen rückwärtsgewandte Perhorreszierung im Nuevo Luciano 1779 noch als Zielscheibe satirischer Aggression diente, hat mittlerweile flächendeckend gestreut, gleich ob man ihn tatsächlich als Pathologie und sterile Überfeinerung desavouiert oder, wie weitaus häufiger, als unverzichtbare Schule der Zivilisation begrüßt. Als „galicismo de la mente“ 30 , als mentaler 27 Rubén Darío, „La fiesta de Francia“ [1898], in: Ders., Prosa dispersa (= Obras completas, Bd. 20), Madrid: Ed. Mundo Latino 1917, 123-132, hier 126. Einen Überblick zu Daríos Berichterstattung aus Frankreich gibt Francisca Noguerol Jiménez, „De parisitis y rastacuerismo: Rubén Darío en Francia“, in: Alfonso García Morales (Hg.), Rubén Darío - Estudios en el centenario de „Los Raros“ y „Prosas profanas“, Sevilla: Universidad de Sevilla 1998, 165-188. Daríos ambige Frankreich-Erfahrungen problematisieren detailliert Cristóbal Pera, Modernistas en París: el mito de París en la prosa modernista hispanoamericana, Bern u.a.: Lang 1997, 11-42; Nelle, Atlantische Passagen, 234-294 sowie Mariano Siskind (Cosmopolitan Desires. Global Modernity and World Literature in Latin America, Evanston: Northwestern UP 2014, 184-222, hier 191), der im entsprechenden Kapitel seiner wichtigen Studie nachweist, „[that] Darío posits the universal potential of his own literature to inscribe itself - alongside modernismo - as a structural function of the universality of French culture that should be understood in relation to the (French-mediated) global spread of modernist aesthetics in the last quarter of the nineteenth century.“ 28 So Darío in einer crónica namens „De la influencia alemana en la América Latina“ [1903], zitiert nach: Obras completas, Madrid: Aguado 1955, Bd. 4, 1160-1163, hier 1161. 29 Die beiden treffenden Formulierungen finden sich bei Christian von Tschilschke (Identität der Aufklärung, 77), der seinerseits die kapitale Rolle französischer Diskursimporte für „die nationale und kulturelle Identitätsbildung Spaniens“ hervorhebt. 30 Die Rede von Rubén Daríos „galicismo de la mente“ stammt vom spanischen Romancier und Kritiker Juan Valera, der in zwei veröffentlichten Briefen mitunter folgendermaßen zu Azul... Stellung nimmt: „Veo, pues, que no hay autor en castellano más francés que usted. Y lo digo para afirmar un hecho, sin elogio y sin censura. En todo caso, más bien lo digo como elogio. [...] Estando así disculpado el galicismo de la mente, es fuerza dar a usted alabanzas a manos llenas por lo perfecto y profundo de ese galicismo; porque el lenguaje persiste español, legítimo y de buena ley, y porque si no tiene un carácter nacional, posee carácter individual.“ („Carta a D. Rubén Da- 22 Auftakt vor und nach 1800 Gallizismus bildet er nicht nur das Fundament des ästhetizistischen Modernismo, sondern verfestigt sich zu einer symbolischen und kognitiven Matrix, die inzwischen in die hispanoamerikanische Selbstwahrnehmung eingegangen ist. I.2 Ein französisches Lateinamerika? Zur (A-)Logik des kulturpolitischen Imperialismus Indes: Versteht sich die pejorative Besetzung, die gemeinhin der Terminus des afrancesamiento mit sich führt, nicht allzu gut? Und weiter: Ist der Verdacht der Überfremdung nicht vollauf gerechtfertigt nach der gerade erfolgten oder mitunter noch andauernden Ablösung von Europa? Oder nochmals anders gefragt: Wie kommt es überhaupt, dass der Weg zu hispanoamerikanischer Eigenständigkeit mit einer willentlichen Ausrichtung an Frankreich einhergeht, die - offen zur Schau gestellt oder neurotisch verleugnet - jedenfalls neokoloniale Züge trägt? Schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts hatte doch beispielsweise Simón Rodríguez, seines Zeichens europakundiger Pädagoge und Bolívars langjähriger Mentor, die diesbezügliche Gefahr namhaft gemacht und auf eine suggestive Formel gebracht: „¡Vea la Europa cómo INVENTA / y la América cómo IMITA! “ 31 Die Warnung verhallt weitgehend ungehört. In der Folge werden Intellektuelle auf dem ganzen Kontinent - von José Victorino Lastarria in Chile bis José María Heredia y Heredia in Kuba, von José Joaquín de Olmedo in Ecuador bis Eugenio María de Hostos in Puerto Rico, von der Asociación de Mayo in Argentinien bis zur Academia de Letrán in Mexiko, nebst den allseits Bekannten (Bello, Sarmiento, Altamirano, Martí, Darío, Rodó, etc.) - ihr Plädoyer für kulturelle Selbstbestimmtheit mit mehr oder minder offenkundigem Blick nach Paris formulieren. Dabei scheuen sie nicht einmal davor zurück, jenen programmatischen An- und Aufruf zu konterkarieren, den der Universalgelehrte Andrés Bello 1823 an die ‚göttliche Dichtung‘ und eigentlich an alle lateinamerikanischen Musen richtet: río“ [22/ 29 de octubre de 1888], in: Rubén Darío, Azul... - Cantos de vida y esperanza, hg. von José M. Martínez, Madrid: Cátedra 1995, 103-111, hier 107). Darío selbst greift den Terminus acht Jahre später 1896 in dem - in La Nación abgedruckten und dem Kritiker Paul Groussac antwortenden - Artikel „Los colores del estandarte“ (Rubén Darío, Obras completas, Madrid: Aguado 1955, Bd. 4, 874-876, hier 874) auf, um die Innovationskraft seiner Schreibweise zu erläutern: „Los maestros que me han conducido al ‚galicismo mental‘ de que habla don Juan Valera, son algunos poetas parnasianos, para el verso, y usted [scil. Groussac], para la prosa. […] Mi éxito - sería ridículo no confesarlo - se ha debido a la novedad: la novedad ¿cuál ha sido? El sonado galicismo mental.“ 31 Simón Rodríguez, Sociedades Americanas [²1842], hg. von Oscar Rodríguez Ortiz, Caracas: Ayacucho 1990, 68. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 23 1 Divina Poesía [...], 7 tiempo es que dejes ya la culta Europa, que tu nativa rustiquez desama, y dirijas el vuelo adonde te abre 10 el mundo de Colón su grande escena. 32 Gewiss fällt Bellos Appell selbst schon einigermaßen ambivalent aus, sofern er „la culta Europa“ weiterhin als Geburtsstätte des Poetischen anerkennt und die „grande escena“ Amerikas unmissverständlich als Territorium europäischer Einschreibung, als „mundo de Colón“ ausweist. Ohne die koloniale Gründung in Frage zu stellen, lässt er aber keinerlei Zweifel daran, dass unter den gewandelten Vorzeichen der Independencia nur ein Perspektivenwechsel sowie die Besinnung auf eigene Schauplätze und Sujets zukunftsweisend sein können. Allein schon das stünde gegen die hier interessierende Affinität für Frankreich, die in der Retrospektive als verbindendes Signum der sich im 19. Jahrhundert formierenden Kulturgemeinschaften von Mexiko bis Feuerland erscheint. Wie Bellos lyrisches Credo signalisiert, handelt es sich dabei jedoch keineswegs um ein selbstevidentes Phänomen, das mit der Distanzierung von der einstigen Kolonialmacht, von einem allmählich in die internationale Bedeutungslosigkeit absinkenden Spanien hinreichend erklärt wäre. Die prekäre Interferenz von politischer Unabhängigkeit einerseits und kulturpragmatischer Dependenz andererseits ist gleichwohl nicht das einzige - obschon das schwerwiegendste - Argument, das gegen eine frei gewählte Orientierung an französischen Diskurstraditionen spricht. Hinzu kommt, dass es bei der versuchsweisen Inversion der Denkrichtung ausgerechnet Exponenten des Siècle des Lumières sind, die sich mit reichlich bornierten Kategorisierungen, ja Stigmatisierungen (Süd-)Amerikas hervortun. Noch lange bevor Hegel über die Geschichtslosigkeit des „unreifen“ 33 Kontinents schwadroniert und sogar noch ehe der niederländische Historiker und Philosoph Cornelis de Pauw 1768 seine aus heutiger Sicht rassistisch anmutenden Recherches philosophiques sur les Américains (ou Mémoires intéressants pour servir à l’histoire de l’espèce humaine) präsentiert, sucht so Mitte des 18. Jahrhunderts der Comte de Buffon in biologisch abenteuerli- 32 Andrés Bello, „Alocución a la Poesía (Fragmentos de un poema titulado ‚América‘)“ [1823]; zitiert nach: Antología, hg. von Giuseppe Bellini, Madrid: Castalia 2009, 74. 33 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, 1. Teilband/ Einleitung: Die Vernunft in der Geschichte [1822-1831], hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg: Felix Meiner 5 1955, 198-210 („Die Neue Welt“), hier 199. Hegels Abwertung schöpft die eurozentristischen Klischees über die „Inferiorität“ (ebd., 202) gerade des südlichen Amerikas voll aus (ebd., 200): „Von Amerika und seiner Kultur, wie sie namentlich in Mexiko und Peru sich ausgebildet hatte, haben wir zwar Nachrichten, aber bloß die, dass dieselbe eine ganz natürliche war, die untergehen musste, sowie der Geist sich ihr näherte. Physisch und geistig ohnmächtig hat sich Amerika immer gezeigt und zeigt sich noch jetzt so.“ 24 Auftakt vor und nach 1800 cher Manier die Degeneration der amerikanischen Vegetation zu beweisen. 34 An der Oberfläche sensibler als Buffons Histoire naturelle äußert sich in der zumeist als querelle d’Amérique rubrizierten Debatte 35 der Abbé Raynal. Seine Histoire des deux Indes (= Histoire philosophique et politique des établissements & du commerce des Européens dans les deux Indes, erstmals 1770) 36 , die unter Mitwirkung Diderots entstand, evoziert immerhin eine Gleichheitsutopie, weshalb sie die spanische Inquisition und französische Zensur zeitweilig auf den Index setzen. Nichtsdestoweniger schreibt Raynals ethnographisch-philosophischer Bestseller genau jene Naturalisierungsthese fest, die fortan die Perzeption Lateinamerikas vor Ort und im Ausland bestimmen wird. Allein die Umtriebe der spanischen Invasoren, so Raynal und seine Ghostwriter, hätten das einst fruchtbare Terrain Südamerikas entstellt, dessen jungfräulichen Ur- oder besser: Rohzustand die Histoire des deux Indes mit fragwürdigen Attributen abermals heraufbeschwört: „Une vaste terre en friche, l’humanité réduite à la condition animale, des campagnes sans récoltes, des trésors sans possesseurs, des sociètes sans police, des hommes sans mœurs. […] Mais l’image de la nature brute & sauvage, est déjà défigurée.“ 37 Die stereotype Sichtweise findet eine Verlängerung im rousseauistischen Ideal des bon sauvage oder, ausdrücklich fiktional, in den indianistischen Verklärungen der französischen Aufklärungsliteratur, angefangen von Voltaires Drama Alzire ou les Américains (1736) und Jean-Philippe Rameaus Opéra-Ballet Les Indes galantes (1735) bis hin zu Jean-François Marmontels Erfolgsroman Les Incas ou la destruction de l’empire du Pérou (1777), woran andere empfindsame Idyllen und noch Chateaubriands romantischer Nordamerika-Exotismus - wie er in Atala (1801) und René (1802) 34 Vgl. Georges-Louis Leclerc de Buffon, Histoire naturelle, générale et particulière, 1749- 89, 36 Bde. Buffon lanciert seine klimatheoretisch begründete Verfallsthese im sechsten, 1756 erschienenen Band der Histoire naturelle: „En Amérique […] le tigre, le lion, la panthère n’ont rien de redoutable que le nom; ce ne sont plus ces tyrans des forêts, ces ennemis de l’homme aussi fiers qu’intrépides, ces monstres altérés de sang et de carnage […]; ce sont des animaux qu’on peut dompter comme les autres, et presque apprivoiser. Ils ont donc dégénéré, si leur nature était la férocité jointe à la cruauté, ou plutôt ils n’ont qu’éprouvé l’influence du climat.“ (Hier zitiert nach: Histoire naturelle, hg. von Jean Varloot, Paris: Gallimard/ Folio 1984, 55f.). 35 Eine Rekonstruktion der querelle d’Amérique, die europäische Intellektuelle ebenso engagiert wie teilweise arrogant führen, bietet die inzwischen klassische Studie von Antonello Gerbi, La disputa del Nuovo Mondo: storia di una polemica [1955], a cura di Sandro Gerbi, Milano: Adelphi 2000. 36 Ich zitiere nach der dritten Ausgabe, an der Diderot trotz gewahrter Anonymität maßgeblichen Anteil hat: Guillaume-Thomas François Raynal, Histoire philosophique et politique des établissements & du commerce des Européens dans les deux Indes, Genève: Pellet 1780, 5 Bde. Erstmals erscheint die Histoire des deux Indes 1770 als sechsbändige Ausgabe in Amsterdam. 37 Raynal, Histoire des deux Indes, Bd. 3, VI. Buch, 205. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 25 begegnet - nahtlos anknüpfen können. 38 Geschuldet sind derlei plakative Konzeptualisierungen gewiss auch dem wissensgeschichtlichen Kontext, in dem sie entstehen und aus dem sie ihre angebliche Rechtfertigung beziehen. Die Arroganz, mit der Buffon und andere über den Atlantik schielen, erhebt schließlich den Anspruch, die Welt nach Identitäten und Differenzen zu klassifizieren, sie gleichsam enzyklopädisch zu erfassen und in eine taxonomisch klare Ordnung zu bannen, die eventuelle Heterogenitäten a priori zugunsten eindeutiger Repräsentierbarkeit zu tilgen sucht. 39 Dass sich hierbei im Übergang von der klassischen Episteme zum anthropozentrischen Zeitalter der Geschichte zunächst wenig ändert und lediglich Ausnahmefiguren wie der ortskundige Alexander von Humboldt einen pluralistischen Paradigmenwechsel antizipieren, 40 demonstriert nicht nur Hegels selbstgefälliger Eurozentrismus. Es zeigt auch und gerade der Blick nach Frankreich, wo im 19. Jahrhundert eine ganze Generation von Geographen, Hobby-Forschern und Reiseschriftstellern die Nachfolge der ungleich bekannteren und unter aufklärerischer Flagge segelnden Charles Marie de La Condamine, Louis Antoine de Bougainville oder Jean-François de La Pérouse antritt und sich in die südliche Hemisphäre aufmacht. Der Ertrag dieses regen Expeditions-Tourismus erschöpft sich aber allzu oft in der ebenso trivialen wie tendenziösen Diagnose, dass der natürliche Ressourcenreichtum Lateinamerikas unweigerlich dessen Zivilisationsarmut bedingt. 41 Die Perpetuierung chauvinistischer Klischees verweist auf eine geopolitische Konstellation, die in nuce den Erklärungsbedarf indiziert, den die Ubiquität der französischen Kultur auf dem politisch größtenteils dekolonisierten Kontinent hervorruft. Mit der euphemistisch verbrämten Devise der latinité 42 sucht Paris nämlich um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine 38 Die Wiederkehr eines (prä-)romantischen Exotismus wird im hispanoamerikanischen Roman des 19. Jahrhunderts und somit in Kapitel IV dieser Studie thematisch. 39 Die taxonomische Repräsentationsordnung der klassischen Episteme beschreibt Michel Foucault bekanntlich in Les mots et les choses, Kap. III-VI (60ff.). 40 Humboldts modernes Wissenschaftsverständnis hat Ottmar Ette in zahlreichen einschlägigen Publikationen extrapoliert; vgl. nur exemplarisch die Monographie Weltbewusstsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist: Velbrück 2002. 41 Andrea Pagni (Post/ Koloniale Reisen: Reiseberichte zwischen Frankreich und Argentinien im 19. Jahrhundert, Tübingen: Stauffenburg 1999) widmet den Argentinien-Expeditionen französischer Reisender eine materialreiche Studie, die im postkolonialistischen Sinn eine bivektorielle Perspektive ansetzt und der Gegenrichtung, d.h. den relatos de viaje argentinischer Autoren über Frankreich ebenfalls Beachtung schenkt. 42 Zur politischen Effektivität des latinité-Konzepts in Frankreich und Lateinamerika vgl. beispielsweise Frank Ibold, „Die Erfindung Lateinamerikas: Die Idee der latinité im Frankreich des 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf die Eigenwahrnehmung des südlichen Amerika“, in: Hans-Joachim König / Stefan Rinke (Hg.), Transatlantische Perzeptionen: Lateinamerika - USA - Europa in Geschichte und Gegenwart, Stutt- 26 Auftakt vor und nach 1800 globale Führungsrolle unter den romanischsprachigen Völkern geltend zu machen und damit in Konkurrenz zur angloamerikanischen Einflusssphäre zu treten. Gerade Mittel- und Südamerika, wo man nach Spaniens Zusammenbruch ein Machtvakuum wittert, gerät so in den strategischen Fokus, den saint-simonistische Ökonomen wie Michel Chevalier mit ihrer panlateinischen Doktrin ausloten. 43 Deren Bandbreite reicht von vagen Hegemonialphantasien und medialer Propaganda - wie u.a. der Gründung der kurzlebigen Revue des Races Latines (1857-1861) - bis hin zu aggressivem Territorialstreben, das sich in den 1830er und 1840er Jahren am Río de la Plata andeutet und das Napoléon III. schließlich mit der militärischen Intervention in Mexiko (1862-1867) durchzusetzen trachtet. Die Expansionsgelüste, deren historiographische Bewertung hier freilich nicht zu leisten ist, 44 entfalten ihr volles Problempotential erst in mittelbarer Konsequenz. Denn das eigentliche Dilemma zeichnet sich dort ab, wo einheimische Führungsschichten Frankreichs imperialistischen Gestus buchstäblich verinnerlichen und in Form symbolischer, juridischer oder gar kriegerischer Gewalt gegen minderprivilegierte Landsleute richten. Den schlagenden Beweis für derlei Internalisierung liefert das Toponym América Latina (bzw. Latinoamérica) selbst, das sein Debüt 1856 in einem Vortrag des liberalen chilenischen Schriftstellers Francisco Bilbao 45 sowie in einem Gedicht des Kolumbianers José María Torres Caicedo und sodann in der Pariser Revue des Races Latines (1861) feiert. 46 Obschon anfangs meist in einem Atemzug mit der französischen Mexiko-Invasion genannt, 47 macht gart: Heinz 1998, 77-98 und detailliert Käthe Panick, La race latine: Politischer Romanismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Bonn: Röhrscheid 1978, bes. 110ff. Verwiesen sei weiterhin auf die historiographisch erhellende Untersuchung L’idée latine ([1951], Toulouse: Inst. d’Études Occitanes 1962) des Romanisten Roger Barthe. Luzide aus heutiger Perspektive diskutiert die Thematik der Beitrag von Kai Nonnenmacher, „Die Ambivalenz eines romanischen Europa“, in: Romanische Studien 2 (2015), 7-17, hier 7-12, URL: http: / / www.romanischestudien.de/ index.php/ rst/ article/ view/ 83 (abgerufen am 16.1.2016). 43 Zu Chevalier siehe die umfangreiche Studie von Fiorenza Taricone, Il sansimoniano Michel Chevalier: industrialismo e liberalismo, Firenze: Ed. Toscano 2006, bes. 295ff. 44 Zu Frankreichs Mexiko-Invasion vgl. etwa Alain Gouttman, La guerre du Méxique (1862-1867): le mirage américain de Napoléon III, Paris: Perrin 2008. 45 „Iniciativa de la América - Idea de un Congreso Federal de las Repúblicas“ (22./ 24.6. 1856); hier zitiert nach der Ausgabe: Francisco Bilbao, Iniciativa de la América - Idea de un Congreso Federal de las Repúblicas, México: UNAM 1978, 5-27. 46 Angaben nach: Miguel Rojas Mix, Los cien nombres de América. Eso que descubrió Colón [1991], San José: Ed. de la Universidad de Costa Rica 1997, 343ff. Torres Caicedos’ Gedicht trägt den sprechenden Titel „Las dos Américas“; besagter Aufsatz aus der Revue des Races Latines stammt aus der Feder von L.M. Tisserand und heißt bündig „Situation de la latinité“. 47 Vgl. den wegweisenden Artikel von John Leddy Phelan, „Pan-Latinism, French Intervention in Mexico (1861-1867) and the Genesis of the Idea of Latin America“, in: Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 27 der Terminus schnell die Runde und vermag sich alsbald als kontinentale Selbstbezeichnung zu behaupten. Die keineswegs nur begriffliche Assimilation, deren Umstände vielfach rekonstruiert wurden, 48 ebnet den Weg für einen „internal colonialism“ 49 , wie er Walter Mignolo zufolge die Genese der lateinamerikanischen Staaten von Beginn an begleitet und nachhaltig bestimmen sollte. Weiterhin im Visier fremder Machtansprüche, reproduzieren Letztere nun in ihrer inneren Ordnung vergleichbare Herrschaftsgefälle, wie sie ehedem von außen, aus Europa aufoktroyiert wurden. Mit der Latinität liefert noch dazu ein in Frankreich geprägtes Ideologem die Legitimationsbasis, um soziale wie ethnische Barrieren aufrechtzuerhalten und einmal mehr die indigenen Wurzeln in den offiziellen Gedächtnisarchiven möglichst tief zu vergraben: Of course, he [scil. Torres Caicedo who defended a very commom geopolitical position along the lines of French imperial interests] does not „represent“ everything that was being thought at the time, but he certainly „represents“ a sector of the intelligentsia for whom, until recently, France „represented“ the ideal in politics and literary culture. „Latinidad“ came to refer to a Spanish and Portuguese government and an educated civil society in America that turned its face to France and its back to Spain and Portugal. In the same way as John Locke and other British thinkers, like David Hume and Thomas Hobbes, are associated with the political culture of the US, Jean-Jacques Rousseau, Montesquieu and Voltaire are associated with the political culture of „Latin“ America. 50 All das sind letztlich bekannte Faktoren, deren Diskussion jedoch in der Lateinamerikaforschung der letzten Jahrzehnte und vorwiegend im Zuge der postcolonial studies neuen Auftrieb erhalten hat. Dem postkolonialistischen Anliegen, die oftmals verborgene Resistenz subalterner bzw. autochthoner Kulturformationen nachzuweisen, suchen diese Zeilen indes keine weiteren Nuancen hinzuzufügen. Angesichts der ungewöhnlichen Unabhängigkeitsgeschichte des Subkontinents, die beinahe ausschließlich die Juan A. Ortega y Medina (Hg.), Conciencia y autenticidad históricas. Escritos en homenaje a Edmundo O’Gorman, México: UNAM 1968, 279-298. 48 Die Verstrickungen des Lateinamerika-Konzepts mit dem französischen Imperialismus resümiert Joseph Jurt, „Entstehung und Entwicklung der LATEINamerika-Idee“, in: Lendemains: France - Amérique latine 7/ 27 (1982), 17-26. Die (kultur-)politischen Implikationen diskutieren im Kontext des nation-building Titus Heydenreich („América Latina - ‚lateinisches‘ Amerika? Zur politischen Brisanz eines Adjektivs im 19. Jahrhundert“, in: Ute Guthunz / Thomas Fischer (Hg.), Lateinamerika zwischen Europa und den USA. Wechselwirkungen, Wahrnehmungen und Transformationsprozesse in Politik, Ökonomie und Kultur, Frankfurt/ Main: Vervuert 1995, 229-245) sowie die umfangreichen Monographien von Arturo Ardao (Génesis de la idea y el nombre de América Latina, Caracas: Centro de Estudios Latinoamericanos Rómulo Gallegos 1980) und Rojas Mix (Cien nombres de América, bes. 343ff.). 49 Vgl. Mignolo, Idea of Latin America, 51-94, hier 65. 50 So wiederum Mignolo, Idea of Latin America, 59. 28 Auftakt vor und nach 1800 kreolischen Eliten schreiben, bliebe und bleibt dies ohnehin ein prekäres Unterfangen. 51 Die weitere Aufmerksamkeit gilt daher weniger der politischen Makroperspektive jener zweiten Erfindung Lateinamerikas, die gemeinhin unter dem Lemma des nation-building firmiert und deren Aporien die historiographische Entmystifizierung fortdauernder Kolonialismen zu Tage fördert. 52 Nicht zu unterschlagen ist dennoch die punktuelle Brisanz, die in der Konstitutionsphase der jungen Staaten dem Vorrang der französischen Kultur eignet. Ungeachtet ihrer überregionalen Rekurrenz ist auch sie alles andere als eine Selbstverständlichkeit, sondern birgt im Einzelnen beträchtliche Sprengkraft, die umso mehr nach Begründungen verlangt: Begründungen, welche sich nicht im Modus von Pauschalhypothesen geben lassen, die dann sämtliche Sektoren der Alltagskultur und der Diskurspraxis integrieren würden. Angesichts des mannigfaltigen Panoramas, das die Gemeinwesen Hispanoamerikas im 19. Jahrhundert bieten, muss sich das Sicht- und Suchfeld dieser Studie notwendigerweise begrenzt, wenn man so will: selektiv ausnehmen. Gleichwohl verrät nur die mikrologische Rekonstruktion, weshalb soziale Akteure, allen voran Kulturschaffende und Literaten auf dem ganzen Kontinent aus Frankreich stammende Repräsentations- und Vertextungsmodi aufgreifen und welche Motivationen, Verfahren und Intentionen dabei jeweils virulent werden. 51 Perspektiven und Problemfelder der postcolonial studies in der Lateinamerikaforschung benennen Jorge J. Klor de Alva, „The Postcolonization of the (Latin)American Experience: A Reconsideration of ‚Colonialism‘, ‚Postcolonialism‘, and ‚Mestizaje‘“, in: Gyan Prakash (Hg.), After Colonialism: Imperial Histories and Postcolonial Displacements, Princeton: UP 1995, 241-275 und Carlos J. Alonso, The Burden of Modernity. The Rhetoric of Cultural Discourse in Spanish America, Oxford/ New York: Oxford UP 1998, 3-49. Einen Überblick zum postkolonialistischen Forschungsparadigma in den Lateinamerikastudien geben unter anderem Alfonso de Toro, „La postcolonialidad en Latinoamérica en la era de la globalización. ¿Cambio de paradigma en el pensamiento teórico-cultural latinoamericano? “, in: Ders. / Fernando de Toro (Hg.), El debate de la postcolonialidad en Latinoamérica. Una postmodernidad periférica o cambio de paradigma en el pensamiento latinoamericano, Frankfurt/ Main: Iberoamericana/ Vervuert 1999, 31-77; Mabel Moraña et al. (Hg.), Coloniality at Large: Latin America and the Postcolonial Debate, Durham u.a.: Duke UP 2008 sowie Jaime Hanneken, Imagining the Postcolonial. Discipline, Poetics, Practice in Latin American and Francophone Discourse, Albany: Suny Press 2015, 1-17. 52 Siehe hierzu exemplarisch die Beiträge in Hans-Joachim König / Marianne Wiesebron (Hg.), Nation Building in Nineteenth Century Latin America: Dilemmas and Conflicts, Leiden: CNWS 1998. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 29 I.3 Zwischen Enteignung und Aneignung: Auf dem Weg zur narrativen Transkulturation Besagte Selektivität schmälert nicht unbedingt den Erklärungsradius, den in dieser Hinsicht die ins Auge gefasste Erzählprosa Hispanoamerikas aufspannt. Als signifikanter Ausschnitt der kulturellen Produktion wird sie im Zentrum nachfolgender Überlegungen stehen, wobei die elementare Doppelstruktur des Literarischen, das als freies Spiel der Einbildungskraft zugleich die lebensweltlichen Verhältnisse summiert, zum Ausgangswert genommen sei. Als tatsächlicher Messwert taugt das generische Merkmal fiktionaler Wirklichkeitsmodellierung 53 freilich erst, sobald die Interferenz von lebensweltlicher Referentialisierbarkeit und imaginativer Entgrenzung als Spannungsverhältnis begriffen wird, auf das es jeweils neu zu reagieren gilt. Zerreißproben dieser Art bietet das hispanoamerikanische Erzählen zuhauf, was von der Forschung umfangreich vermerkt 54 und bezüglich deren Anfänge nicht selten moniert wurde. Die Narrativik des 19. Jahrhunderts - so unscharf und vorläufig eine derartige Zusammenschau auch sein mag - sah sich lange Zeit mit Bewertungsmaßstäben und Urteilen konfrontiert, die sie kategorial verfehlten, ihre literarästhetische Relevanz einschränkten oder sogar von offener Geringschätzung zeugten. 55 Vor diesem Hintergrund sei an den ebenso trivialen wie aufschlussreichen Befund erinnert, dass gerade kein Roman zum berühmtesten Prosatext des Säkulums avancierte, wie es die zeitgenössisch gültige Gattungshierarchie erwarten ließe. Mit Sarmientos Civilización y barbarie -Vida de Juan Facundo Quiroga (1845) wurde und wird diese Auszeichnung hingegen einem kulturge- 53 Als „sekundäres modellbildendes System“, das sich die „primäre“ Sprache aneignet, um ein Weltmodell zu entwerfen, definiert den literarischen Text bekanntlich Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte [1972], München: Fink 1989, 22ff. Die Wirklichkeitsbilanzierung als Leistung literarischer Fiktion profiliert seinerseits Wolfgang Iser, u.a. in „Die Wirklichkeit der Fiktion - Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells“, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München: Fink 1975, 277-324. 54 Fernando Aínsa fasst daher die imaginative Schärfung kultureller Identität als Konstituens hispanoamerikanischer Erzählliteratur; seine monumentale Studie Identidad cultural de Iberoamérica en su narrativa (Madrid: Gredos 1986, 23f.) hebt entsprechend emphatisch an: „Lo real y lo imaginario han formado una indisoluble pareja en la historia del continente [...]. Gracias al esfuerzo de comprensión imaginativa que ha propiciado la narrativa, se ha podido sintetizar la esencia de una cultura y ha sido posible la visión integral de la identidad americana. Una identidad que, por otra parte, siempre resulta algo ‚más‘ que el simple inventario de un patrimonio cultural.“ 55 Rekurrente Vorbehalte, die einer fundierten Erforschung des hispanoamerikanischen Romans des 19. Jahrhunderts lange im Wege standen, resümiert Wilfrido H. Corral, „Hacia una poética hispanoamericana de la novela decimonónica (1): El texto“, in: Beatriz González-Stephan et al. (Hg.), Esplendores y miserias del siglo XIX: cultura y sociedad en América Latina, Caracas: Monte Avila 1995, 307-330. 30 Auftakt vor und nach 1800 schichtlich interessierten Essay zuteil, der seinerseits natürlich sämtliche Optionen der Fiktionalisierung ausreizt. I.3.1 Teleologien der Kritik und Kritik der Teleologien: Die hispanoamerikanische Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts in der Forschung Fragt man nach den Ursachen, die das beharrliche Misstrauen gegen die narrativen Fiktionen der postindependencia 56 speisen, so zeichnen sich grosso modo drei Deutungsvarianten ab. Obschon in ihrer Argumentationsrichtung sehr verschieden, fußen sie allesamt auf einem - entweder rück- oder vorwärts gerichteten - Verdacht des Supplementären, der genau genommen die ursprungsverhaftete oder teleologische Vergleichsfolie der betreffenden Interpretationen offenbart. Unmissverständlich zeigt sich das in einem Zugang, der die nachkoloniale Erzählliteratur als größtenteils vernachlässigbare, da ästhetisch mediokre Vorgeschichte des um die Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzenden Booms ansieht. Gemäß einer Logik linearer Progression käme so in den durchkomponierten Texten von Borges, Carpentier, Rulfo, Cortázar, Fuentes, García Márquez, Allende, Vargas Llosa, usw. ein Potential zum Durchbruch, das Romane und andere Subgattungen der Gründerzeit in thematischen Nuancen, verstreuten Motiven oder latenten Ereignismomenten zwar durchaus insinuierten. Aber das, was ehedem die simple Oberfläche schematischer Plots und Figurenprofile verdeckte, schöpften nunmehr die Suggestivität (neo-)fantastischer Kurzprosa, die Vielstimmigkeit des realismo mágico und des real maravilloso 57 sowie die Abgründigkeit (pseudo-)historischer Diktatorenromane oder neobarocker Erzählexperimente aus. Ohne jeweils ausdrücklich formuliert zu sein, begründet die Annahme sukzessiver Qualitätssteigerung die Systematik einschlägiger Literaturgeschichten und diachron zugeschnittener Fachpublikationen. Wesentliche Konfliktherde der hispanoamerikanischen Kulturen wie die Präsenz einer übermächtigen Natur 58 oder die Frage kollektiver 56 Begriff nach: Walter D. Mignolo, Historias locales / diseños globales. Colonialidad, conocimientos subalternos y pensamiento fronterizo, Madrid: Akal 2003, 203/ 205. 57 Über die Entwicklung des realismo mágico und die europäischen Wurzeln des Terminus informiert Michael Scheffel, Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung, Tübingen: Stauffenburg 1990. Eine Poetologie realistisch-wunderbaren Erzählens entwirft luzide Irlemar Chiampi, El realismo maravilloso. Forma e ideología en la novela hispanoamericana, Caracas: Monte Avila 1983. 58 Beispielhaft sei auf Klaus-Dieter Ertlers Kleine Geschichte des lateinamerikanischen Romans (Strömungen - Autoren - Werke, Tübingen: Narr 2002, 101) verwiesen, die etwa im kolumbianischen Erfolgsroman María (1867) die Antizipation einer ebenso wunderbar wie unheimlichen Natur erkennt, deren mythische Dimension und prekäre Extension aber erst bei Alejo Carpentier oder anderen Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts auf angemessenem Reflexionsniveau ausfabuliert findet. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 31 Identitätsstiftung 59 seien in den Narrativen des 19. Jahrhunderts zwar präfiguriert, doch erst die benannten Meistererzähler/ innen hätten das entsprechende Instrumentarium, um sie mit adäquaten Gestaltungsmustern und hinreichendem Wirklichkeitssinn zu behandeln. Der finalistische Zug solcher Einschätzungen rührt offenkundig aus dem Glauben an eine fortschreitende Emanzipation, an deren Ende nicht zuletzt die Ablösung von auswärtigen, diesseits - oder je nach Standpunkt: jenseits - des Atlantiks entstandenen und auf amerikanischem Boden lediglich nachempfundenen Diskurstypen stünde. In diesen Zusammenhang gehört denn auch ein zweiter hartnäckiger Vorbehalt, dem sich die hispanoamerikanische Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts teils bis heute ausgesetzt sieht. Im Versuch, an den internationalen Kanon anzuschließen, drohe sie zu einer Kopie europäischer Prätexte und „Systemreferenzen“ 60 herabzusinken, der allenfalls dokumentarischer Wert zukäme. Angefangen von der moraldidaktisch-programmatischen Prosa der Aufklärung über die wirkmächtige intimistische oder politische Romantik und die realistisch-naturalistischen Repertoires bis zu den ästhetizistischen Varianten des Fin de Siècle, stets blieben die narrativen Entwürfe exogenen Filiationen verhaftet. Je nach globaler oder regionaler Perspektivierung - so diese Lesart - bestätige sich demnach der Topos kultureller Verspätung oder gar der Vorwurf eines gesellschaftsfernen Eskapismus, der so manchen Prosafiktionen der Zeit zur Last gelegt wurde. Und tatsächlich erschließt sich das hier in Frage stehende Romanspektrum nicht ohne die Berücksichtigung europäischer, insbesondere französischer Modelle. Dennoch resultieren daraus nicht zwangsläufig monodimensionale Textabgüsse, die sich allein mit ihrer „Anlehnung an Europa“ 61 zufrieden gäben. Statt überkom- 59 Vgl. hierzu Aínsa, Identidad cultural, bes. 113-128; Carlos Rincón, Teorías y poéticas de la novela: localizaciones latinoamericanas y globalización cultural, Berlin: Gaudig&Veit 2004, 13ff./ 155ff. und den Überblick bei Antonio Benítez-Rojo, „The Nineteenth-Century Spanish American Novel“, in: Roberto González Echevarría / Enrique Pupo-Walker (Hg.), The Cambridge History of Latin American Literature, Cambridge u.a.: Cambridge UP 1996, Bd. 1, 417-489. 60 Zum Terminus vgl. kontrovers Manfred Pfister, „Bezugsfelder der Intertextualität (Zur Systemreferenz)“, in: Ulrich Broich / Ders. (Hg.), Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, 52-58 und Klaus W. Hempfer, „Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard)“, in: Michael Titzmann (Hg.), Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen: Niemeyer 1991, 7-43. 61 So wiederum exemplarisch ein Urteil zur lateinamerikanischen Romanproduktion zwischen 1830 und 1880, die laut Leo Pollmann (Geschichte des lateinamerikanischen Romans, Bd. 1: Die literarische Selbstentdeckung (1810-1929), Berlin: E. Schmidt 1982, 87) „aufs Ganze gesehen im Zeichen einer Anlehnung an Europa“ stehe. Mehr oder minder explizit unterstellen auch folgende Synopsen zur hispanoamerikanischen Narrativik des 19. Jahrhunderts die Nachahmung europäischer Darstellungsmuster, v.a. diverser Spielarten der Romantik: Manuel Antonio Arango L., Origen y evolución de la 32 Auftakt vor und nach 1800 mene Hegemonien zuzuspitzen und das okzidentale Ursprungsdenken zu forcieren, wäre vielmehr das Spannungsfeld zu erkunden, in dem die hispanoamerikanische Narrativik seit jeher ihren Ort hat. Dass Letztere seit den 1990er Jahren auch überaus differenzierte Hermeneutiken auf den Plan ruft, ist zweifelsohne den Impulsen poststrukturalistischer Literatur- und Kulturwissenschaft zu verdanken. Geschult an Michel Foucaults Diskursarchäologie, an dekonstruktivistischer Semiologie sowie an der politischen Sensibilität der postcolonial studies, bezieht diese dritte Deutungsoption dennoch einen diskutablen Standpunkt, indem sie Romane und andere narrative Texte als unmittelbare Fortsetzung wissens- und machtstrategischer Absichten erachtet. Trotz der theoretischen Objektivierung, die jüngeren Forschungsansätzen gemein ist, laufen derartige Rückprojektionen stets Gefahr, den Konstruktcharakter literarischen Erzählens auszublenden und so seine Eigengesetzlichkeit, anders gesagt: seine Poetizität und letztlich seine Fiktionalität zu unterschätzen. Entsprechend diskutabel bleibt eine Optik, die den hispanoamerikanischen Roman des 19. Jahrhunderts vordringlich „durch die Tendenz zur unvermittelten Auseinandersetzung mit den besonderen Lebensbedingungen […] sowie den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Problemen gekennzeichnet“ 62 sieht. Die hohe Quantität zeitgenössischer Schemaliteratur - nicht unbedingt Trivialliteratur - legt sicherlich nahe, extrafiktionale Funktionszusammenhänge in den Vordergrund zu rücken. Deshalb ist es nur zu begrüßen, dass sich zwei der einflussreichsten Abhandlungen auf diesem Gebiet dem Sachverhalt mit originellen Thesenbildungen stellen. Die Rede ist zum einen von Roberto González Echevarrías 1990 erschienener Studie Myth and Archive - A Theory of Latin American Narrative, die davon ausgeht, dass die novela hispanoamericana, Bogotá: Tercer Mundo 1988, 51-225; Fernando Alegría, Nueva historia de la novela hispanoamericana, Hanover: Ed. del Norte 1986, 21-101 oder Donald L. Shaw, A Companion to Modern Spanish American Fiction, Woodbridge: Tamesis 2002, 1-18. Die intertextuelle Kreativität der transatlantischen Literaturkontakte profilieren dagegen Spezialuntersuchungen wie John S. Brushwood, Genteel Barbarism: Experiments in Analysis of Nineteenth-Century Spanish-American Novels, London u.a.: Nebraska UP 1981; Sabine Schlickers, El lado oscuro de la modernización: Estudios sobre la novela naturalista hispanoamericana, Frankfurt/ Main: Iberoamericana/ Vervuert 2003; Andreas Kurz, Die Entstehung modernistischer Ästhetik und ihre Umsetzung in die Prosa in Mexiko. Die Verarbeitung der französischen Literatur des fin de siècle, Amsterdam u.a.: Rodopi 2005 oder Lee Joan Skinner, History Lessons: Refiguring the Nineteenth-Century Historical Novel in Spanish America, Newark: Cuesta 2006. Ausgewogenene Panoramen zum hispanoamerikanischen Roman des 19. Jahrhunderts bieten ferner Naomi Lindstrom, „The Nineteenth-Century Latin American Novel“, in: Efraín Kristal (Hg.), The Cambridge Companion to the Latin American Novel, Cambridge: UP 2005, 23-43 und Benítez-Rojo, „The Nineteenth-Century Spanish American Novel“, 417-489. 62 Harald Wentzlaff-Eggebert, „Einleitung“, in: Volker Roloff / Ders. (Hg.), Der hispanoamerikanische Roman, Darmstadt: WBG 1992, Bd. 1, 1-6, hier 2f. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 33 Entwicklungskurve lateinamerikanischer Narrativik weniger innerliterarischen Traditionen denn vielmehr diskurs- und kulturgeschichtlichen Epochenkonstellationen folgt: My point of departure is that I do not think it is satisfactory to treat the narrative as if it were a self-contained form of discourse, nor a raw reflection of socio-political conditions. In my view the relationships that the narrative establishes with non-literary forms of discourse are much more productive and determining than those it has with its own tradition, with other forms of literature, or with the brute factuality of history. 63 Der Nullpunkt der Erzählprosa auf dem Kontinent fände sich so in den Rechtstraktaten, Chroniken und cartas de relación, die als textuelles Regulativ die Wissensarchivierung und Machtakquirierung im spanischen Kolonialreich organisieren. 64 Von hier aus zieht González Echevarría eine Linie bis zu den Schreibweisen des magischen Realismus, ohne in der Sukzession bestimmender Metaerzählungen - welche vom juridischen über das naturwissenschaftliche zum anthropologischen Paradigma fortschreitet 65 - die epistemologischen Brüche zu übergehen. Dessen ungeachtet ist die Beweisführung von Myth and Archive deutlich auf die stilistischen Innovationen und das anthropologische Imaginäre eines Alejo Carpentier oder Gabriel García Márquez zugeschnitten, die zu ihrer Zeit augenscheinlich keine genuin literarischen Wurzeln in der Heimat vorfanden. Mit voller Härte trifft diese Teleologie die narrative Produktion des 19. Jahrhunderts, der González Echevarría jedwede zukunftsweisende Qualität abspricht. Unverhohlen bekundet der kubanischstämmige Forscher seine Geringschätzung für gewisse Schlüsseltexte und für eine seiner Meinung nach reaktionäre Philologie, die diese überhaupt erst prämiert hätte: Conventional literary history, following a philological model, masks what I take as the true history of narrative prose. Sarmiento and Euclides da Cunha are more important in that history than José Mármol or Jorge Isaacs. Only by applying mechanically a model of literary history, drawn from European 63 Roberto González Echevarría, Myth and Archive. A Theory of Latin American Narrative, New York u.a.: Cambridge UP 1990, IX. 64 Siehe dazu das zweite Kapitel in Myth and Archive, 43-92. 65 Bündig resümiert González Echevarría die besagte Dominantenverschiebung gegen Ende des ersten Kapitels seiner Studie namens „A clearing in the jungle: from Santa Monica to Macondo“; dort heißt es unter anderem (Myth and Archive, 40): „[…] I plan to analyze the main forms that Latin American narrative has assumed in relation to three kinds of hegemonic discourse, the first of which is foundational both for the novel and for Latin American narrative in general: legal discourse during the colonial period; the scientific, during the nineteenth century until the crisis of the 1920s; the anthropological, during the twentieth century, up to Los pasos perdidos and Cien años de soledad.“ 34 Auftakt vor und nach 1800 sources, can Amalia and María play a significant role in the history of Latin American narrative. 66 Einzig ideologisch verblendete Periodisierungen konnten, so González Echevarría, die Romane eines José Mármol oder Jorges Isaacs ins literarische Gedächtnis des Kontinents aufnehmen. Als eigentlich neue masterstory, die die frühneuzeitlichen Rechtstexte beerbt, kristallisiere sich hingegen nach der Independencia der ethnographische Reisebericht heraus. 67 Dass es sich hierbei abermals um eine europäische Legitimationsquelle handelt, 68 deren (pseudo-)wissenschaftlicher Erkenntnisse sich lateinamerikanische Autorinnen und Autoren wiederum nur nachrangig zur Vermessung und symbolischen Aneignung ihrer Kulturen bedienen, stört González Echevarría offensichtlich wenig: If the first discoverers and settlers appropriated Latin America by means of legal discourse, these new conquistadors did so with the aid of scientific discourse, which allowed them to name again (as if for the first time) the flora and fauna of the New World. This discourse had its own rhetoric, which differs considerably from what we identify as scientific today. These travelers wrote accounts in the form of diaries and travelogues that did not fall entirely outside literature. There was, in fact, a promiscuous complicity between literature and scientific reportage that made it relatively easy for Latin American writers to assimilate these narratives. 69 66 González Echevarría, Myth and Archive, X. 67 González Echevarría untermauert sein vernichtendes Urteil zum lateinamerikanischen Roman des 19. Jahrhunderts im dritten Kapitel (Myth and Archive, 103): „Conventional literary history, which focuses on works that fall within the sphere of influence of European literature such as Jorge Isaacs’ María (1867) and José Mármol’s Amalia (1851, 1855), hardly take into account the powerful influence of scientific travel books on those very novels and on Latin American narrative of the nineteenth century in general.“ Die Wissensmacht ethnographischer Reiseliteratur theoretisiert James Clifford, „On Ethnographic Authority“, in: Representations 2 (1983), 118-146. Raumtheoretisch erschließt den hermeneutischen Radius des Reisenarrativs Ottmar Ette, Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerswist: Velbrück 2001, 21ff. Vgl. ferner die materialreichen Fallstudien von Friedrich Wolfzettel, Reiseberichte und mythische Struktur (Romanistische Aufsätze 1983-2002), Stuttgart: Steiner 2003. Für den lateinamerikanischen Kontext sind besonders Pratts (Imperial Eyes) und Pagnis (Post/ Koloniale Reisen) Studien und der Sammelband von Walther L. Bernecker / Gertrut Krömer (Hg.), Die Wiederentdeckung Lateinamerikas. Die Erfahrung des Subkontinents in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/ Main: Vervuert 1997 hervorzuheben. Den Parallelismus zwischen Reisebericht und literarischer Fiktion akzentuieren die Beiträge in Sonia Mattalia et al. (Hg.), El viaje en la literatura hispanoamericana: el espíritu colombino, Madrid u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2008. 68 Am argentinischen Beispiel demonstriert dies Adolfo Prieto, Los viajeros ingleses y la emergencia de la literatura argentina, 1820-1850 [1996], Buenos Aires: FCE 2003, 27ff. 69 González Echevarría, Myth and Archive, 96. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 35 Konsequenter- und bedauerlicherweise befasst sich González Echevarría dann auch gar nicht näher mit frühen Romanen des größtenteils unabhängigen Lateinamerikas. 70 Mit Sarmientos Civilización y barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga (1845) und Euclides da Cunhas Os Sertões. Campanha de Canudos (1902) 71 wendet er sich sogleich jener Mischgattung zu, die essayistische und narrative Momente engführt und deren nichtsdestoweniger erzählte Geschichten immer schon politische Sprengkraft signalisieren. So verdienstvoll Myth and Archive für die Diskursarchäologie der lateinamerikanischen Prosa sein mag, so grobmaschig bleibt gleichwohl das Raster der Studie, sobald genauer der Umschlagpunkt zwischen autoritativer Wissensmacht und imaginativer Erzählmacht zu lokalisieren wäre. Ein Roman oder ein cuento gibt bei González Echevarría allein dann Aufschluss über herrschende Repräsentationsordnungen, wenn er oder es deren epistemische Bruchlinien unbewusst hervortreibt oder selbstreflexiv ausstellt. Mutmaßlich konformistische Werke wie jene, die im Umkreis der Staatengründungen entstehen, fallen hingegen dem Verdikt imitatorischer Assimilation zum Opfer und werden in Myth and Archive kurzerhand dem zeitgenössischen grand récit einverleibt. 72 Ebendieser argumentativen und historischen Lücke nimmt sich 1991 jedoch Doris Sommer in ihrer wichtigen Monographie Foundational Fictions. The National Romances of Latin America 73 an, welche dem lateinamerikanischen Erzählen des 19. Jahrhunderts neue Aufmerksamkeit verschaffte und die Forschungsaktivität nachhaltig stimulierte. Ihre breite Rezeption verdankt die Untersuchung sicherlich der sensiblen Verschränkung einer historisch brisanten Basishypothese mit einem gattungstypologisch überzeugenden Methodendesign. Indem Sommer nämlich Benedict Andersons berühmte Theoretisierung des Nationalbewusstseins 74 mit Michel Foucaults Analyse des Sexualitätsdispositivs 75 korreliert, vermag sie genau die kanonischen Romane, die González Eche- 70 Eine ähnliche Leerstelle findet sich in Carlos Fuentes’ umfangreichem Essayband La gran novela latinoamericana (Madrid: Alfaguara 2011, 71-89), der dem 19. Jahrhundert ebenfalls nur wenige Seiten widmet. 71 Vgl. hierzu das dritte Kapitel in Myth and Archive, 93-141. 72 Zur Vostellung sinnstiftender Großerzählungen, die spätestens in der Postmoderne brüchig werden, siehe die bekannten Ausführungen bei Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris: Minuit 1979, bes. 63ff. 73 Vgl. Doris Sommer, Foundational Fictions. The National Romances of Latin America, Berkeley: California UP 1991, besonders die methodischen Auftaktkapitel „Irresistible romance“ (ebd., 1-29; separat erschienen in: Homi K. Bhabha (Hg.), Nation and Narration, New York/ London: Routledge 1990, 71-98) und „Love and country: an allegorical speculation“ (Sommer, Foundational Fictions, 30-51). 74 Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [1983], London/ New York: Verso 1991, 47-65 (zum kreolischen nationbuilding in Lateinamerika). 75 Vgl. Michel Foucault, Histoire de la sexualité I. La volonté de savoir [1976], Paris: Gallimard 1994. 36 Auftakt vor und nach 1800 varría allzu schnell von ihrem - angeblich unrechtmäßig bestiegenen - Sockel stößt, als gemeinschaftsbildende Gründungsfiktionen zu beschreiben. 76 Als Fluchtlinie auf den ersten Blick schlicht gebauter, meist melodramatischer Plots gibt sich nunmehr ein zu errichtender oder mit sich zu versöhnender Staatskörper zu erkennen, den der narrative Äußerungsakt eigens erotisiert: The interchangeability between nation and sex here is mutually reinforcing. And it is possible, through their overlapping analogies to religion, to see sex and nation helping each other to displace earlier attachments. At least this mutual incitement of love and country is felt in the Latin American novels that helped to train generations of patriots in the appropriately productive passions of liberal intercourse. [...] Love plots and political plotting keep overlapping with each other. 77 Sommer zufolge ist es insbesondere eine Rhetorik der Allegorie, die die heterosexuelle Libido als Äquivalent und Triebfeder eines prospektiven Patriotismus in Szene zu setzen erlaubt. 78 Das Verweisspiel der allegorischen Interferenzen bewirkt, dass Eros und Polis, Liebes- und Staatsaffären stetig aufeinander bezogen bleiben und dass die biologische Geburt - die fiktionsintern eventuell statthat oder in Aussicht gestellt wird - stets die Zeugung einer Nation konnotiert. Weder privates noch öffentliches Begehren markieren dabei einen unverrückbaren Letzthorizont, bedroht doch beide eine Instabilität, wie sie in den Jahren nach der Unabhängigkeit zahlreichen lateinamerikanischen Ländern gemein ist. Entsprechend tragische Konfliktlösungen sind daher keine Seltenheit in den von Sommer herangezogenen Romanen. Was aber auf Ebene der Figuren bzw. der idealtypischen 76 Unter den hispanoamerikanischen Romanen des 19. Jahrhunderts, denen Sommer ausführliche Lektüren widmet, rangieren José Mármols Amalia, Gertrudis Gómez de Avellanedas Sab, Jorge Isaacs’ María, Alberto Blest Ganas Martín Rivas, Manuel de Jesús Galváns Enriquillo oder das Versepos Tabaré von Juan Zorrilla de San Martín. 77 Sommer, Foundational Fictions, 40f. 78 Sommer (Foundational Fictions, bes. 42-25) beruft sich hierbei suggestiv auf Paul de Mans („The Rhetoric of Temporality“ [1969], in: Ders., Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, Minneapolis: Minnesota UP ²1983, 187-228, bes. 206ff.) und Walter Benjamins (Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928], in: Ders., Gesammelte Schriften: Werkausgabe, hg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1980, Bd. I.1, bes. 336ff.) maßgebliche Beobachtungen zur Differentialität der Allegorie. Im engeren thematischen Horizont fußt ihr Konzept nationalallegorischer Fiktionen aber auf Fredric Jamesons wegweisenden Bemerkungen in „Third-World Literature in the Era of Multinational Capitalism“ (in: Social Text 15 (1986), 65-88, hier 69), wo die Literatur ehemaliger Kolonialstaaten u.a. so umrissen ist: „Third World texts, even those which are seemingly private and invested with a properly libidinal dynamic - necessarily project a political dimension in the form of national allegory: the story of the private individual destiny is always an allegory of the embattled situation of the public third-world culture and society.“ Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 37 Protagonistenpaare als Scheitern aufzufassen wäre, erachtet die US-amerikanische Forscherin als umso intensiveren Rezeptionseffekt. Die imaginierte Familien- und Staatsgemeinschaft, die im romanesken Handlungsfortgang noch enttäuschte Utopie bleibt, harrt sonach ihrer außerliterarischen Verwirklichung; die Lesergemeinde soll sie als Projekt erkennen, das realisierbar würde, sobald soziale, regionale und - zumindest notdürftig - auch ethnische Animositäten überwunden sind. Es versteht sich von selbst, dass diese „pacification“ 79 , die idealiter auch bisher randständige Bevölkerungssektoren berücksichtigt, lediglich unter Führung einer kreolischen Ober- und Bildungsschicht gelingt, der gemeinhin die sensiblen Heldinnen und Helden jener Erzähltexte entstammen. Statt koloniale Rangordnungen ernsthaft in Frage zu stellen, werden derlei Nationalromanzen, die - literarhistorisch gewendet - Gattungsreminiszenzen des Epos mit dem sentimentalen Roman verquicken, laut Sommer als gesellschaftliches Inzitament wirksam. Trotz beachtlicher Unterschiede in der Ausführung instituieren sie allesamt eine regelrechte „logic of love“, die Intimität immer schon politisch auflädt und auf diese Weise erstaunlich konsistente Narrative generiert: The novels share a particular kind of intimacy. Read together, they reveal remarkable points of contact in both plot and language, producing a palimpsest that cannot derive from the historical or political differences that the novels address. The coherence comes from their common project to build through reconciliations and amalgamations of national constituencies cast as lovers destined to desire each other. This produces a surprisingly consistent narrative form that is apparently adequate to a range of political positions; they are moved by the logic of love. Whether the plots end happily or not, the romances are invariably about desire in young chaste heroes for equally young and chaste heroines, the nations’ hope for productive unions. 80 Doris Sommers luzide Studie wird im Weiteren immer wieder zu Wort kommen, zumal sie sich durch eine stets akribische Textanalytik auszeichnet. Steht deren Ertrag im Einzelnen außer Zweifel, so wirft die Theoriefolie im Ganzen dennoch gewisse Fragen auf, die zwangsläufig auch die Mehrheit der an Foundational Fictions anknüpfenden Arbeiten tangieren. 81 79 Sommer, Foundational Fictions, 22. 80 Sommer, Foundational Fictions, 24. 81 Nahezu alle Forschungsbeiträge, die die hispanoamerikanische (Erzähl-)Literatur des 19. Jahrhunderts im Kontext der Staatenbildung verhandeln, beziehen sich auf Sommer; vgl. repräsentativ Fernando Unzueta, La imaginación histórica y el romance nacional en Hispanoamérica, Lima u.a.: Latinoamericana Ed. 1996; Nina Gerassi-Navarro, Pirate Novels: Fictions of Nation Building in Spanish America, Durham u.a.: Duke UP 1999; María Fernanda Lander, Modelando corazones. Sentimentalismo y urbanidad en la novela hispanoamericana del siglo XIX, Rosario: Beatriz Viterbo 2003; Naomi Lindstrom, Early Spanish American Narrative, Austin: Texas UP 2004, 78ff.; Adriana G. Culasso, Geopo- 38 Auftakt vor und nach 1800 Denn streng genommen lassen sich Nation und Narration 82 wohl weniger reibungslos aufeinander abbilden, als hier unterstellt wird. Die allegorische Differentialität, die Sommer zwischen Realpolitik und fiktiver Zwischenmenschlichkeit ausmacht, birgt die Gefahr eines hermeneutischen Kurzschlusses, sobald sie die diegetische Sinnenklave verlassen und eine ungebrochene Verlängerung in der hispanoamerikanischen Lebenswirklichkeit finden soll. Denn weder der Publikumserfolg mancher Romane noch die Forderung nach einer genuin narrativen Historiographie, die im 19. Jahrhundert Intellektuelle wie Andrés Bello erheben, 83 gewährleistet eine patriotische Disziplinierung, wie sie postkolonialistische Lesarten jenen Texten attestieren. Kollektive Zukunftsvisionen, Verhaltensnormen und Ideologeme bleiben im literarischen Äußerungsgeschehen imaginäre Optionen, sie gerinnen nur bedingt zum institutionalisierten Medium einer Lektüre, die als Staatsbürgerkunde mit Unterhaltungswert fungiert. Oder polemisch zugespitzt: Selbst das Vorbild unzähliger Liebesgeschichten vermag nicht die Widerstände zu beseitigen, mit denen die lateinamerikanischen Nationengebilde seit und besonders in ihren Anfängen zu kämpfen haben. Damit ist keineswegs gesagt, dass sich politische Verwerfungen nicht in Form und Inhalt der nachkolonialen Erzählliteratur manifestieren. Eher das Gegenteil ist zutreffend. Nur gilt es den vielfältigen Instanzen der Vermittlung Rechnung zu tragen, die soziokulturelle Lebens- und narrative Vorstellungswelt gleichermaßen trennen wie verbinden. Stufenweise zu beleuchten sind mithin die Reibungsflächen, an denen sich die Fiktion abarbeitet und in deren Bewältigung sich allererst partikuläre Schreibweisen oder Autorenpositionen profilieren können. líticas de ficción. Espacio y sociedad en la novela argentina (1880-1920), Buenos Aires: Corregidor 2006; ferner die Beiträge in Friedhelm Schmidt-Welle (Hg.), Ficciones y silencios fundacionales. Literaturas y culturas poscoloniales en América Latina (siglo XIX), Frankfurt/ Main u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2003 sowie Robert Folger / Stephan Leopold (Hg.), Escribiendo la Independencia. Perspectivas postcoloniales sobre la literatura hispanoamericana del siglo XIX, Frankfurt/ Main u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2010. 82 Den elementaren Parallelismus postkolonialistischer Theoriebildung prägt der gleichnamige Sammelband von Homi K. Bhabha (Hg.), Nation and Narration, London u.a.: Routledge 1990. 83 Um die Lücken zu füllen, die Lateinamerikas Faktengeschichte aufweist, empfiehlt Bello der Historiographie seiner Zeit - statt der philosophischen - eine ‚narrative Methode‘: „Pero cuando la historia de un país no existe sino en documentos incompletos, esparcidos, en tradiciones vagas, que es preciso compulsar y juzgar, el método narrativo es obligado.“ („Modo de estudiar la historia“ [1848], in: Andrés Bello, Antología de discursos y escritos, hg. von José Vila Selma, Madrid: Ed. Nacional 1976, 194-201, hier 196). Bellos „endorsement of the narrative method in history“ ruft auch Sommer (Foundational Fictions, 8) zu Beginn ihrer Untersuchung auf. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 39 I.3.2 Feldforschung - Narratives Schreiben als sozio- und transkulturelle Praxis Ebenhier setzen die folgenden Beobachtungen an, indem sie den narrativen Text weder als Transkription politische Machtkalküle noch als staatsbürgerliche Erziehungsmaßnahme, 84 sondern als eine unter vielen Praktiken der soziokulturellen Interaktion auffassen. Allem voran bedeutet das, die Phasen der Restrukturierung kenntlich zu machen, die ideologische, ökonomische oder klassen- und bildungsabhängige Prägungen beim Eintritt in jenes mehr oder minder selbstregulierte Universum passieren, das Pierre Bourdieu als champ littéraire ausmisst. 85 Das Feld oder, besser, die Felder, die fortan thematisch werden, formieren sich im Zusammenspiel der jeweils gültigen feldinternen Positionen im Literaturbetrieb (positions), der literarästhetischen Stellungnahmen im Einzelwerk (prises de positions) sowie der - materiellen, sozialen oder kulturellen - Dispositionen (dispositions) und damit einhergehenden Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, welche die Verfasser/ innen in ihre Texte einbringen. 86 Entsprechend sind auch die Gründungsfiktionen, die an der Wurzel des unabhängigen hispanoamerikanischen Erzählens erkannt wurden und werden, nicht bloßer Abdruck politischer Großwetterlagen. Vielmehr verändern sie sich ebenfalls mit dem Wandel zeitgenössischer Poetologien und Stile, mit dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Spielraum der betreffenden Autorinnen und Autoren sowie nicht zuletzt mit der öffentlichen Wertschätzung von Kunst und Literatur allgemein. 84 Dies suggeriert hingegen die Studie zur hispanoamerikanischen novela sentimental von Lander (Modelando corazones): Ausgehend von Benimm-Büchern der Zeit reduzieren die im Einzelnen sehr reflektierten Analysen der Autorin den empfindsamen Roman des 19. Jahrhunderts auf eine normative Einübung kreolischer Staatsbürgerlichkeit. Im Ansatz ähnlich, doch sozial- und mediengeschichtlich weitaus differenzierter argumentiert Annette Paatz (Liberalismus und Lebensart. Romane in Chile und Argentinien (1847-1866), Frankfurt/ Main: Iberoamericana/ Vervuert 2011, bes. 33ff.), die das zivilisatorische Potential des Erzählens in den um Konsolidierung bemühten Staaten des Cono Sur extrapoliert. 85 Vgl. Pierre Bourdieu, Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire [1992], nouvelle édition revue et corrigée, Paris: Seuil 1998. Angesichts umfänglicher Forschungsreferate verzichte ich auf eine Aufarbeitung von Bourdieus feldtheoretischer Literatursoziologie. Unverzichtbar zur Orientierung bleibt Joseph Jurt, Das literarische Feld: Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt: WBG 1995, bes. 71- 107. Vgl. ferner den Band von Markus Joch et al. (Hg.), Text und Feld: Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen: Niemeyer 2005 und den prägnanten Überblick bei Joseph Jurt, „Literarisches Feld“, in: Jörg Dünne / Andreas Mahler (Hg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/ Boston: De Gruyter 2015, 240-248. 86 Die für das Modell des literarischen Feldes konstitutive Trias von „position“, „prise de position“ und „disposition“ entfaltet Bourdieu konzise in Règles de l’art, 378-384 und 435-439. Fortan werden diese und andere literatursoziologische Begrifflichkeiten - wie Habitus oder eben Feld - durchgehend in Bourdieus Lesart gebraucht. 40 Auftakt vor und nach 1800 Zwei am Cono Sur angesiedelte Beispiele vermögen dies in aller Kürze zu veranschaulichen. So bietet beispielsweise der geringe Grad literarischer Spezialisierung optimale Voraussetzungen für eine Vision des geeinten Chile, wie sie Alberto Blest Gana (1830-1920) in seinem bekanntesten Roman Martín Rivas (1862) erstehen lässt. Weitgehend reibungslos absorbiert hier das realistisch intendierte Sittengemälde, das der programmatische Untertitel Novela de costumbres político-sociales sogleich ankündigt, gewisse sozialromantische Ideale, so dass sich die amourösen Verstrickungen letztlich auflösen und regionale wie ständische Unterschiede neutralisiert sind. Das fiktionsinterne Happy-End liegt umso näher, als der angesehene Diplomat und weitgereiste Frankreich-Kenner Blest Gana als schreibender Funktionär zweifellos den dominanten Pol der - in staatliche Hierarchien verwobenen - Kulturlandschaft vertritt. Schon von Amts wegen muss er auf die Versöhnung literarischer und politischer Interessen bedacht sein, weshalb er Martín Rivas als harmonisierende Projektion anlegt, die sozioökonomischen Reformwillen insinuiert und diesen gleichzeitig wertkonservativ abdichtet. Gänzlich anders stellt sich die Situation 25 Jahre später im benachbarten Argentinien dar, wo der Abgeordnete Eugenio Cambaceres (1843-1889) seine Ämter niederlegt, um als Romancier Karriere zu machen. Aus ebenso namhafter wie betuchter Familie stammend, kann er es sich leisten, mit dem Naturalismus eine neuartige Erzählweise zu erproben, die kaum Aussicht auf unmittelbare Akzeptanz bietet. Vor allem sein letzter Roman En la sangre (1887), von dem noch die Rede sein wird, 87 zieht sämtliche Register der Zola‘schen Experimentalpoetik. Der gestiegene Konkurrenzdruck auf dem Feld narrativer Produktion veranlasst Cambaceres darin zu einer prononcierten Einlösung des naturalistischen Szientismus, welchen er auf Geschichts- und Figurenebene jedoch in einen populistischen Pessimismus kleidet: Sowohl der Strom verkommener Einwanderer, die in Buenos Aires stranden, als auch die morsche Oligarchie der Hauptstadt stehen in En la sangre für eine gesellschaftliche Desintegration, die das imaginative nationbuilding in Blest Ganas Martín Rivas geradezu konterkariert. 88 Dass es sich hierbei weniger um eine faktenbasierte Diagnose denn vielmehr um die Konsequenz literarischer Rivalitäten und ‚Definitionskämpfe‘ 89 handelt, ist 87 Eine detaillierte Lektüre zu En la sangre unternimmt Kapitel VI dieser Studie. 88 Nicht umsonst verzichtet Sommers Problematisierung nationaler Gründungsnarrative (Foundational Fictions) auf eine Auseinandersetzung mit Erzähltypen des Jahrhundertendes. Schließlich torpedieren sowohl der naturalistische Roman als auch die Ausprägungen modernistischer Prosa - aufgrund ideologischer Konfliktivität oder poetologischer Spezifizität - eine Verrechnung als gemeinschaftsbildende Imaginationsmodelle. 89 So der prägnante Terminus, den Bourdieu für Debatten im literarischen Feld einführt (Règles de l’art, 369): „Les luttes de définition (ou de classement) ont pour enjeu des frontières (entre les genres ou les disciplines, ou entre les modes de production à l’in- Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 41 allzu leicht übersehen. Denn um sich vom angepassten Traditionalismus anderer narrativer Genres abzusetzen, nutzt Cambaceres den Reiz der Provokation, die in En la sangre nicht einmal vor unverhohlenem Rassismus zurückschreckt. Diametral entgegensetzt in Intention, Handlungsverlauf und Konfliktbewältigung kommen En la sangre und Martín Rivas dennoch in einem entscheidenden Gesichtspunkt überein: Blest Ganas chilenische Einheitsutopie genauso wie Cambaceres’ desillusioniertes Soziogramm aktivieren Erzählschemata, die in Hispanoamerika allein kraft des regen Literaturtransfers mit und aus Frankreich zur Verfügung stehen. Gleich ob Balzacs Aufsteigersujet Pate steht, das Martín Rivas mit Stendhals Liebestheorie kurzschließt, oder ob in En la sangre als Vorlage die naturalistische Determinationslogik greift - beide Varianten nehmen Quellen in Anspruch, deren Attraktivität sich wesentlich ihrer französischen Herkunft verdankt. Die Dialektik zwischen Fremdem und Eigenem, die der hispanoamerikanischen Identitätsgeschichte von Beginn an inhärent ist, hat in den narrativen Fiktionen des 19. Jahrhunderts einen exponierten Austragungsort. Figuren und Funktionen kultureller Übertragung treten hier plastisch zu Tage und akzentuieren die besagte Wirkmächtigkeit des mentalen Gallizismus. Für sich betrachtet, bedürfte die Bestandsaufnahme allerdings keiner weiteren Darlegung. 90 Genauer zu zeigen wäre indes, inwiefern Romane und andere Prosaformen der Zeit regelrecht zu ‚Kontaktzonen‘ 91 avancieren und mit- térieur d’un même genre) et, par là, des hiérarchies. Définir les frontières, les défendre, contrôler les entrées, c’est défendre l’ordre établi dans le champ.“ 90 Schließlich fehlt es nicht an Forschung, die der umfänglichen Präsenz der französischen Kultur in der hispanoamerikanischen Literatur nachgeht. Gerade die Anziehungskraft der Metropole Paris beschäftigt zahlreiche Arbeiten, die größtenteils das 20. Jahrhundert fokussieren und zuvor allenfalls dem Modernismo Aufmerksamkeit schenken; vgl. Pera, Modernistas en París. Ausnahmen machen Nelle (Atlantische Passagen, 32-166), der auch Bolívar und Sarmiento in seine transatlantische Geschichte „exemplarischer Lebensläufe“ (ebd., 27) aufnimmt; einige Beiträge in Maurice (Hg.), París y el mundo ibérico e iberoamericano sowie Pagni (Post/ Koloniale Reisen), deren kontrastive Analyse argentinisch-französischer Reiseberichte durchweg im 19. Jahrhundert angesiedelt ist. Weiterhin seien folgende Untersuchungen hervorgehoben: Julie Jones, A Common Place. The Representation of Paris in Spanish American Fiction, Lewisburg: Bucknell UP 1998; Marcy E. Schwartz, Writing Paris. Urban Topographies of Desire in Contemporary Latin American Fiction, Albany: State of New York UP 1999; Jason Weiss, The Lights of Home. A Century of Latin American Writers in Paris, New York u.a.: Routledge 2003. Einen umfassenden Horizont transatlantischer Kulturgeschichte eröffnen das Themenheft Lendemains: France - Amérique latine 7/ 27 (1982); die Beiträge in Walter Bruno Berg / Lisa Block de Behar (Hg.), France - Amérique latine: Croisements de lettres et de voies, Paris: L’Harmattan 2007 sowie die erwähnten Studien von Villegas, Paris, capitale littéraire und Streckert, Hauptstadt Lateinamerikas, bes. 79-126. 91 Das Konzept einer transkulturellen „contact zone“, in welcher verschiedene Kulturen aufeinanderprallen und sich - trotz Machtasymmetrien - sowohl Fremdals auch Selbstwahrnehmung verändern, prägt Mary Louise Pratt, Imperial Eyes, 1-12, hier 7: 42 Auftakt vor und nach 1800 hin Aufschluss über literarische Verfahren der Aneignung geben. Will man die Entstehung von Erzähltexten tatsächlich in ihrem soziokulturellen Gefüge erläutern, so ist unweigerlich ihre transkulturelle Genese 92 in Betracht zu ziehen und sowohl auf rahmenpragmatische Bedingungen als auch auf binnenfiktionale Konsequenzen zu befragen. Der Begriff der transculturación, der im Umkreis der postcolonial studies eine ebenso frequente wie zuweilen überdehnte Verwendung fand, 93 geht im lateinamerikanischen Zusammenhang auf Fernando Ortiz (1881-1969) zurück. Der kubanische Anthropologe, Jurist und Politiker prägt das Konzept in seiner 1940 erschienenen Monographie Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar, die eine beispielhafte réécriture globaler Ethnographie aus sogenannter peripherer Perspektive unternimmt. Als terminologisches Korrektiv soll darin der Begriff der Transkulturation die Vorstellung der Akkulturation ersetzen, die Ortiz wohl missverständlicherweise als Synonym steriler Assimilation zurückweist: Entendemos que el vocablo transculturación expresa mejor las diferentes fases del proceso transitivo de una cultura a otra, porque éste no consiste solamente en adquirir una distinta cultura, que es lo que en rigor indica la voz anglo-americana aculturación, sino que el proceso implica también necesa- „[W]hat this book calls ‚contact zones‘, that is, social spaces, where disparate cultures meet, clash, and grapple with each other, often in highly asymmetrical relations of domination and subordination - such as colonialism and slavery, or their aftermaths as they are lived out across the globe today.“ 92 Inwiefern die Pendelbewegung zwischen Fremdem und Eigenem auch die Genese von Nationalliteraturen kanalisiert, fragen generell der Sammelband von Michel Espagne / Michael Werner (Hg.), Qu’est-ce qu’une littérature nationale? Approches pour une théorie interculturelle du champ littéraire, Paris: Fondation Maison des Sciences de l’Homme 1994 sowie die voluminöse Untersuchung von Pascale Casanova, La république mondiale des Lettres, Paris: Seuil 1999. 93 Zur Begriffsgeschichte der Transkulturation in der Theoriebildung siehe u.a. Alfonso de Toro, „Figuras de la hibridez. Fernando Ortiz: transculturación, Roberto Fernández Retamar: Calibán“, in: Susanna Regazzoni (Hg.), Alma Cubana: Transculturación, mestizaje e hibridismo, Frankfurt/ Main: Iberoamericana/ Vervuert 2006, 15-36; David Sobrevilla, „Transculturación y heterogeneidad: Avatares de dos categorías literarias en América Latina“, in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana 54 (2001), 21-34 sowie etliche Beiträge von Friedhelm Schmidt-Welle, der sich hierzulande besonders um die Kontextualisierung des Terminus verdient gemacht hat; vgl. etwa Friedhelm Schmidt-Welle, „Transkulturalität, Heterogenität und Postkolonialismus aus der Perspektive der Lateinamerikastudien“, in: Heinz Antor (Hg.), Inter- und transkulturelle Studien: Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis, Heidelberg: Winter 2006, 81-94; Ders., „Todo lo sólido se desvanece... en la cultura. Interculturalidad, transculturación, heterogeneidad y ciudadanía cultural“, in: Barbara Potthast et al. (Hg.), Ciudadanía vivida, (in)seguridades e interculturalidad, Buenos Aires: Nueva Sociedad / Friedrich-Ebert-Stiftung 2008, 29-43; Ders., „Transculturación, heterogeneidad y ciudadanía cultural. Algunas consideraciones“, in: Friedhelm Schmidt-Welle (Hg.), Multiculturalismo, transculturación, heterogeneidad, poscolonialismo. Hacia una crítica de la interculturalidad, México: Herder 2011, 41-60. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 43 riamente la pérdida o desarraigo de una cultura precedente, lo que pudiera decirse una parcial desculturación, y, además, significa la consiguiente creación de nuevos fenómenos culturales que pudieran denominarse de neoculturación. Al fin [...] en todo abrazo de culturas sucede lo que en la cópula genética de los individuos: la criatura siempre tiene algo de ambos progenitores, pero también siempre es distinta de cada uno de los dos. En conjunto, el proceso es una transculturación, y este vocablo comprende todas las fases de su parábola. 94 Beachtung verdient insbesondere die ternäre Struktur, die Ortiz zufolge allen Phänomenen der Transkulturation eigen ist und die von einer Phase der „parcial desculturación“ über mehrstufige „incorporaciones procedentes de la cultura externa“ bis hin zur abschließenden „recomposición manejando los elementos supervivientes de la cultura originaria“ 95 führt. Augenfällig wird somit einerseits der Verlust, den die oft gewaltsame Aufpfropfung externer Segmente in einem ursprünglichen Kulturkontext bedingt. Neben dieser Ätiologie traumatischer Identitätsdefizite betont Ortiz aber zum anderen den aktiven Part, den die Ausgangskultur trotz ihrer allgemeinen Verdrängung bewahrt. Die Auf- und Übernahme dominanter Fremdelemente geht seines Erachtens nämlich mit der Reintegration fortbestehender Eigenanteile einher, so dass schließlich neuartige, gänzlich hybride Kulturformationen entstehen. Dieses kreative Potential mag auch Ángel Rama dazu bewogen haben, den Bedeutungshorizont der Transkulturation einer literaturwissenschaftlichen Revision zu unterziehen. Als Synthese diverser Einzelbeiträge 96 legt der uruguayische Philologe 1982 die Studie Transculturación narrativa en América Latina vor, deren Objektanalyse hauptsächlich der avancierten indigenistischen Prosa des peruanischen Schriftstellers und Anthropologen José María Arguedas gewidmet ist. Dem voraus geht eine methodische 94 Fernando Ortiz, Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar [1940], hg. von Julio Le Riverend, Caracas: Ayacucho 1978, 96f. Das kulturtheoretisch maßgebliche Kapitel „Del fenómeno social de la ‚transculturación‘ y de su importancia en Cuba“ (ebd., 92-97) erscheint auch separat in der Revista Bimestre Cubana 46 (1940), 272-278. Die zeitgenössische US-Anthropologie - zumal die Begriffsschöpfer Robert Redfield, Melville J. Herskovits und Ralph Linton im Memorandum for the Study of Acculturation (1936) - versteht unter „acculturation“ streng genommen nur den Kontakt zweier Kulturen, ohne damit schon eine hierarchische Assimilation zu intendieren, wie Ortiz offenkundig unterstellt. 95 So das konzise Fazit bei Ángel Rama, Transculturación narrativa en América Latina, México: Siglo XXI 1982, 38. 96 Vgl. exemplarisch Ángel Rama, „Los procesos de transculturación en la narrativa latinoamericana“, in: Revista de Literatura Hispanoamericana 5 (1974), 9-38; Ders., „La formación de la novela latinoamericana“, in: Sin Nombre 4/ 3 (1974), 5-9 sowie weitere, in die Bände La novela latinoamericana. Panoramas 1920-1980 (Bogotá: Procultura 1982) und La crítica de la cultura en América Latina (Caracas: Ayacucho 1985; posthum) aufgenommene Artikel. 44 Auftakt vor und nach 1800 Grundlegung, 97 die Ortiz’ ethnologischen Zugang diskutiert, nuanciert und kultursoziologisch wie erzählanalytisch reformuliert. Denn um dem Erfindungsreichtum transkultureller Aktivität gerecht zu werden, bedarf es laut Rama einer eingehenderen Betrachtung der dritten, bei seinem kubanischen Gewährsmann mit „neoculturación“ überschriebenen Phase. In der „plasticidad cultural“, die hierbei virulent wird, sieht Rama die semiotischen Basisoperationen der Selektion und Kombination am Werk. 98 Gerade im sprachlichen Handeln ist es demnach der Zweischritt von Auswahl und Verknüpfung, der die Übertragung der Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Ausdrucksmodi reguliert und jeweils die Brücke zwischen Rezeption, Adaption und Hervorbringung neuer Codes schlägt: Este diseño [de Ortiz] no atiende suficientemente a los criterios de selectividad y a los de invención, que deben ser obligadamente postulados en todos los casos de „plasticidad cultural“, dado que ese estado certifica la energía y la creatividad de una comunidad cultural. Si ésta es viviente, cumplirá esa selectividad, sobre sí misma y sobre el aporte exterior, y, obligadamente, efectuará invenciones con un „ars combinatorio“ [sic] adecuado a la autonomía del propio sistema cultural. 99 Ein kompletter Theorieentwurf resultiert daraus freilich nicht. Die suggestive Formel von stetigen transkulturellen (Re-)Inventionen, die in eine „reestructuración general del sistema cultural“ 100 münden sollen, erhärtet sich erst in der hermeneutischen Anwendung auf Arguedas’ autobiographisch inspirierten Roman Los ríos profundos (1958). 101 Zuvor argumentiert Rama bewusst eklektisch und macht überdies keinerlei Hehl aus seinem kolonialkritischen Impetus sowie der daher rührenden, an Ortiz anschließenden „resistencia a considerar la cultura propia, tradicional, que recibe el impacto externo que habrá de modificarla, como una entidad meramente pasiva o incluso inferior“ 102 . In der systematischen Abstraktion begnügt er sich hingegen mit der Opposition zweier Verlaufsformen der „influencia transculturadora“, die entweder aus den externen Metropolen unmittelbar 97 Vgl. Rama, Transculturación narrativa, 32-56. 98 Mit den Schritten der Selektion und Kombination scheint als - impliziter - Referenzhorizont transkultureller Kreativität die Semiologie eines Roman Jakobson auf; siehe grundlegend „Linguistics and Poetics“, in: Thomas A. Sebeok (Hg.), Style in Language, Cambridge: M.I.T. Press 1960, 350-377. 99 Rama, Transculturación narrativa, 38. 100 Rama, Transculturación narrativa, 39. 101 Vgl. Rama, Transculturación narrativa, bes. 229-305. 102 Rama, Transculturación narrativa, 33. Die „ideological orientation of transculturation“ benennt in jüngerer Zeit Mariano Siskind (Cosmopolitan Desires, 13) als Hemmschuh, um Ramas Transkulturationsverständnis für eine literarische Globalisierungstheorie fruchtbar zu machen. Dass Siskind dabei das textanalytische Potential, das Ramas Begriff bietet und das hier wiedergewonnen werden soll, weitgehend ausblendet, schmälert nicht den reichen Deutungsertrag seiner Untersuchung. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 45 in die ländlichen Regionen Lateinamerikas vordringt oder den Weg über die einheimischen Hauptstädte mit internationaler Anbindung nimmt. 103 Die methodische Offenheit, die Ramas Ansatz kennzeichnet, muss indes kein Nachteil sein, zumal an dieser Stelle weder dessen kultur- und geschichtswissenschaftliche Evaluation zu leisten ist noch sein dependenztheoretisches Legat 104 in Frage steht, welches „die Differenzen zwischen westlich-abendländischer und indigener Kultur zum Verschwinden“ 105 zu bringen droht. Ebenso wenig können hier genauer die Schnittmengen oder Unterschiede interessieren, die eine narratologische Funktionalisierung hinsichtlich anderer Auslegungen des Transkulturations- oder Transkulturalitäts-Begriffs wie jener des deutschen Philosophen Wolfgang Welsch aufweist. Denn obschon die Rede von „externe[r] Vernetzung und „interne[m] Hybridcharakter der Kulturen“ 106 , die seit den 1990er Jahren die deutschsprachige Diskussion bestimmt, durchaus an Ramas umfassenden Wirkungsgrad transkultureller Prozesse gemahnt, bleibt Welschs Lesart auf eine dezidiert postmoderne Wirklichkeit zugeschnitten, die zudem sehr optimistisch als eine „durch Mischungen und Durchdringungen “107 bereicherte Welt erfahren werden soll. Ausgespart bleiben muss in hiesigem Zusammenhang auch der Abgleich mit verwandten Deutungszugängen, wie sie die facettenreichen Spielarten der Interkulturalität 108 oder die Denk- und Vertextungsfigur der 103 Vgl. Rama, Transculturación narrativa, 34. 104 Zum ebenso einflussreichen wie problembehafteten Theoriestrang lateinamerikanischer Historiographie siehe im Überblick Walther L. Bernecker / Thomas Fischer, „Entwicklung und Scheitern der Dependenztheorien in Lateinamerika“, in: Periplus 5 (1998), 98-118 sowie Ramón Grosfoguel, „Developmentalism, Modernity, and Dependency Theory in Latin America“, in: Mabel Moraña et al. (Hg.), Coloniality at Large: Latin America and the Postcolonial Debate, Durham u.a.: Duke UP 2008, 307-331. 105 Schmidt-Welle, „Transkulturalität“, 88. Ideologische Implikate und Widersprüche, die Ramas Begriff narrativer Transkulturation birgt, erörtern Mabel Moraña, „Ideología de la transculturación“, in: Dies. (Hg.), Ángel Rama y los estudios latinoamericanos, Pittsburgh: IILI 1997, 137-145 sowie die Dissertation von Alfredo Duplat, Hacia una genealogía de la transculturación narrativa de Ángel Rama (PhD thesis), University of Iowa 2013, 118ff., URL: http: / / ir.uiowa.edu/ etd/ 2484 (abgerufen am 2.2.2016). 106 Wolfgang Welsch, „Was ist eigentlich Transkulturalität? “, in: Lucyna Darowska et al. (Hg.), Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld: transcript 2010, 39-66, hier 43. 107 Wolfgang Welsch, „Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung“, in: Paul Drechsel / Margit Thea Brandl (Hg.), Interkulturalität - Grundprobleme der Kulturbegegnung, Mainz: Universität Mainz 1999, 45-72, hier 51. Siehe ferner Welschs frühen Beitrag „Transkulturalität - Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen“, in: Information Philosophie 2 (1992), 5-20. Andere Zweige der Transkulturalitätsforschung können hier keine Berücksichtung finden; vgl. hierzu den Reader von Andreas Langenohl et al. (Hg.), Transkulturalität. Klassische Texte, Bielefeld: transcript 2015. 108 Da sie den Rahmen dieser Studie sprengen würden, verzichte ich auf spezifische Literaturhinweise zur breit gefächerten Interkulturalitätsforschung und beschränke mich 46 Auftakt vor und nach 1800 Transkription 109 böten und wie sie in Lateinamerika insbesondere Antonio Cornejo Polars literaturas heterogéneas 110 sowie die vorwiegend auf den Antillen geprägten Konzeptualisierungen des kulturellen Transfers - créolité, créolisation oder métissage wären als entsprechende Lemmata zu nennen 111 - bereitstellen könnten. Ja, in Absehung von kulturtheoretischen Makroperspektiven braucht nicht einmal die Kontroverse über die Ein- oder Wechselseitigkeit der Kulturkontakte aufgerollt zu werden, ist sie doch in diesem Fall a priori zugunsten der unilateralen Variante entschieden. Schließlich käme es schierer Naivität gleich, wollte man im 19. Jahrhundert eine bedeutsame Rezeption oder gar konkrete Rückwirkungen der hispanoamerikanischen Narrativik in der französischen Literaturlandschaft ausmachen. Das heißt keineswegs - so ist ebenfalls vorab zu betonen -, dass die untersuchten Erzähltexte in eingefahrenen Polaritäten befangen blieben und nicht kraft ihrer transkulturellen Signatur die Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Europa und Hispanoamerika, zwischen Beobachtern und Beobachteten/ m relativieren und dekonstruieren könnten. 112 Zunächst gilt es gleichwohl, Ramas begriffliche Interpretation zu schärfen und ihre strukturimmanente Konsistenz zu steigern. Eine naheliegende Handhabe hierfür bietet der Theoriehorizont der Intertextualität, welcher selbstverständlich an Übertragungsbewegungen allgemeinkultureller Art teilhat. 113 Um über eine Skalierung zu verfügen, die immerhin graduell die auf den konzisen Aufriss bei Hamid Reza Yousefi / Ina Braun, Interkulturalität. Eine interdisziplinäre Einführung, Darmstadt: WBG 2011. 109 Zur Definition der medien- und kulturtheoretisch orientierten Kategorie vgl. Ludwig Jäger, „Transkription - Überlegungen zu einem interdisziplinären Forschungskonzept“, in: Rolf Kailuweit et al. (Hg.), Migration und Transkription - Frankreich, Europa, Lateinamerika, Berlin: BWV 2010, 15-36. Um die literaturwissenschaftliche Operationalisierung des Begriffs bemüht sich vielfach Walter Bruno Berg, vgl. exemplarisch „Plädoyer für den Begriff der literarischen Transkription“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 31/ 3-4 (2007), 459-477. 110 Stellvertretend für eine Vielzahl relevanter Studien vgl. Antonio Cornejo Polar, „El indigenismo y las literaturas heterogéneas: su doble estatuto socio-cultural“, in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana 4/ 7-8 (1978), 7-21; Ders., Escribir en el aire. Ensayo sobre la heterogeneidad socio-cultural en las literaturas andinas, Lima: Horizontes 1994 sowie dazu: Friedhelm Schmidt-Welle (Hg.), Antonio Cornejo Polar y los estudios latinoamericanos, Pittsburgh: Inst. Internacional de Literatura Iberoamericana 2002. 111 Nur schlaglichtartig seien Édouard Glissants programmatischer Traité du tout-monde (Paris: Gallimard 1997) und das von Jean Bernabé, Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant verfasste Manifest Éloge de la Créolité (Paris: Gallimard 1989) aufgerufen. 112 Derartige Nivellierungen (neo-)kolonialer Machtverhältnisse demonstriert luzide Mary Louise Pratt (Imperial Eyes) am Beispiel der transkulturellen Reiseliteratur. Historisch sehr weit ausgreifend argumentiert hingegen Silvia Spitta, Between Two Waters. Narratives of Transculturation in Latin America, Houston: Rice UP 1995. 113 Man denke nur an den weiten Begriff des (Inter-)Textes, den Julia Kristeva in ihrem berühmten Programmartikel „Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman“ ([1967], in: Dies., Sēmeiōtikē. Recherches pour une sémanalyse, Paris: Seuil 1969, 143-173) ansetzt. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 47 Relevanz transkultureller Dynamiken im literarischen Schaffensprozess angibt, eignen sich die „Kriterien für die Intensität intertextueller Verweise“ 114 , die Manfred Pfister aus einer hellsichtigen Forschungssumme extrahiert. Als „heuristische Konstrukte zur typologischen Differenzierung unterschiedlicher intertextueller Bezüge“ 115 vermögen sie Ramas Binom der Selektion und Kombination zu präzisieren, wobei weniger „quantitative“ Aspekte - wie etwa Dichte oder Streuweite - als vielmehr „qualitative“ Parameter virulent werden. Unter Letztere rechnet Pfister sechs pragmasemiotische Gesichtspunkte, die einer Auslegung transkultureller Zeichenhaftigkeit in literarischer Hinsicht gleichkommen. Das Kriterium der „Referentialität“ fokussiert dabei das inhaltliche Wesen der Bezugnahme; es bestimmt also, wie profund „der eine Text den anderen thematisiert, indem er seine Eigenart […] ‚bloßlegt‘.“ 116 „Kommunikativität“ meint zweitens den „Grad der Bewusstheit“ 117 , den eine Verweisung zumeist in entsprechenden Markierungen kundtut. Als „Autoreflexivität“ bezeichnet Pfister drittens die Fähigkeit literarischer Werke, sich eigens mit ihrer „intertextuelle[n] Bedingtheit“ zu befassen und dies im Sinne einer im- oder expliziten „Metakommunikation“ 118 auszubuchstabieren. „Strukturalität“ dagegen definiert ein Maß für die „syntagmatische Integration der Prätexte“ 119 , deren Gestaltungsprinzip mitunter als textübergreifende Schablone dienen kann. Der Terminus der „Selektivität“, der nicht zufällig an Ramas Äquivalent erinnert, umreißt sodann die Prägnanz, mit der „eine Bezugsfolie ausgewählt und hervorgehoben wird“ 120 . Und in Anlehnung an Michail Bachtins gleichlautende Begriffsschöpfung 121 erschließt das Rubrum der „Dialogizität“ 122 zuletzt, ob ein Spannungsverhältnis zwischen Hypo- und Hypertext besteht oder ob eine annähernd getreue imitatio anzunehmen ist. Nicht als exakte Nomenklatur, sondern als Fundus jeweils spezifisch abrufbarer Blickwinkel erhält Pfisters Merkmalskatalog im vorliegenden Fall seine Bedeutung. Indem er Aktualisierungsformen von Text-Text- oder Text-Diskurs-Relationen klassifiziert, regt er Fragen an, deren Erörterung wichtige Dimensionen transkulturellen Erzählens einkreist: Welche Prätexte, Imaginarien oder anderweitige (Wissens-)Referenzen - so wäre in 114 Manfred Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, in: Ulrich Broich / Ders. (Hg.), Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, 1-30, hier 26. 115 Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, 30. 116 Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, 26. 117 Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, 27. 118 Alle vorangehenden Zitate: Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, 27f. 119 Beide Zitate: Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, 28. 120 Beide Zitate: Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, 28. 121 Vgl. Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. und übers. von Rainer G. Grübel / Sabine Reese, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1979, 154-300 („Das Wort im Roman“). 122 Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, 29. 48 Auftakt vor und nach 1800 Sachen Referentialität zu überlegen - werden selegiert und wie ist es um deren Akzeptanz im französischen Ausgangssowie im hispanoamerikanischen Zielkontext bestellt? Finden vorwiegend aktuelle und populäre oder auch obsolete und dissidente Quellen Berücksichtigung? Kommt es in der narrativen Übernahme zu markanten Umakzentuierungen, Harmonisierungen oder Deformationen (beispielsweise parodistischer Art)? Wird dies - so weiterhin im Bereich der Kommunikativität - als intentionales Verfahren kenntlich und mittels gewisser Signale indiziert? Ergeben sich in der Kreuzung importierter und einheimischer, französischer und hispanoamerikanischer Traditionen Überblendungen, eklektische oder subversive Synkretismen; und können sich überhaupt einheimische Elemente behaupten? Lässt sich eine diesbezügliche Auseinandersetzung mit interkulturellen und intertextuellen Differenzen feststellen, die gemäß Pfister selbstreflexiven Charakter entfaltet? Hinsichtlich literarischer Vorlagen ist ferner von Belang, welchen Part des/ der Hypotexte/ s die Reprise in den Vordergrund rückt: Werden Geschichten, formalästhetische Momente oder atmosphärische Konnotationen entliehen bzw. fortgeführt? Bilden sie eventuell eine strukturelle „Folie“ 123 für das Erzählsyntagma des Hypertextes oder verbleiben sie auf einem vergleichsweise abstrakten Selektivitäts-Niveau? Oder aber wird die Bezugnahme gar bewusst eskamotiert? Bei alldem geht es stets um die Reibungsintensität, die zwischen ursprünglichem und neuem Textzusammenhang entsteht und die einen Dialog semantischer, stilistischer oder ideologischer Observanz auslösen kann. Denn daran bemisst sich am Ende, welche literarästhetischen, institutionellen oder soziopolitischen Absichten greifen, wenn (Prosa-)Fiktionen in ihrer Genese andere Werke, Autoren, Sujets, Verfahren oder Gattungselemente beiziehen. In einer funktionalen Anwendung, wie sie hier mittels intertextuell geleiteter Befunde reaktiviert werden soll, entkräftet Ramas Raster der Transkulturation zweifellos den Vorwurf epigonaler Naivität, dem sich die hispanoamerikanische Narrativik des 19. Jahrhunderts allzu oft ausgesetzt sah. Was bis in jüngere Vergangenheit als statische Nachahmung europäischer Strömungen - und damit als regelrechte Enteignung - diskreditiert wurde, erweist sich so besehen als flexible, Form und Inhalt erfassende Refiguration, die eine Innovation zweiten Grades in Gang setzt. Divergente Zeichen- und Vorstellungssysteme überlagern sich nunmehr in einer gleichrangigen Praxis der Aneignung, in der exo- und endogene Kräfte interagieren, ohne dass deshalb per se ein reziproker Kulturaustausch statthaben müsste. 123 Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, 28. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 49 I.3.3 Transkulturation und Prestigegewinn - Transkulturation und Autonomiezuwachs Noch ehe aber die narrative Kombinatorik überhaupt thematisch wird, erlaubt der Erklärungsrahmen der Transkulturation eine Deutungshypothese auf Ramas primärer Ebene der Selektion. Denn die konstante Orientierung an französischen Diskurstypen, die zumindest bis 1900 verschiedensten Spielarten des hispanoamerikanischen Erzählens gemein ist, kommt nicht von ungefähr. Diesseits literarästhetischer Feinheiten wächst ihr eine wesentliche Rolle im gesellschaftlichen Handeln zu, die am treffendsten wohl mit Pierre Bourdieus Kategorie des symbolischen Kapitals zu beschreiben ist. Im Anschluss an Max Webers Religionssoziologie und in kritischer Revision des Strukturalismus nimmt Bourdieu bekanntlich eine Erweiterung des marxistischen Kapitalbegriffs vor, die auch immaterielle Werte wie Schulkarrieren, Beziehungsnetze oder Lebensstile berücksichtigt. 124 Zu rein wirtschaftlichen Faktoren treten folglich soziale und kulturelle Kapitalsorten hinzu, denen Bourdieu ungeachtet ihrer Verbrämungen ebenfalls eine strategische Ausrichtung nachweist. Als semiotische Transformation und Artikulation derart internalisierten Besitzes tritt schließlich das symbolische Kapital auf den Plan. Selbst dieses unterliegt einem Handlungskalkül, das allerdings kaschiert bleiben muss, um den Anschein der Interesselosigkeit zu wahren. Der Kulturbetrieb bietet reiches Anschauungsmaterial für den hierbei wirksamen „travail d’euphémisation“ 125 , wie Bourdieu unter anderem für die Rezeption bildender Kunst und detaillierter noch für den literarischen Sektor zeigt. Werkanalytisch hauptsächlich an Flaubert orientiert, beleuchtet seine Studie Les règles de l’art (1992) den „désintéressement statuaire“ 126 , der diese „économie anti- ‚économique‘“ 127 begründet und der um 1850 zunächst in Frankreich die Illusion einer reinen Literatur bzw. Kunst hervorbringt. Die ostentativ zur Schau gestellte Ablehnung kommerzieller Rentabilität bildet das Fundament der symbolischen Kapitalzirkulation, die in sich freilich einer eigenen Kosten-Nutzen-Logik gehorcht. Für Schriftsteller wie für Maler, für Kritiker, Verleger und Galeristen besteht die einzig legitime Art der Wertschöpfung mithin darin, „à se faire un nom, un nom connu et reconnu, capital de consécration impliquant un pouvoir de consacrer des objets (c’est l’effet de 124 Terminologisch systematisch resümiert Bourdieu seine Klassifikation der Kapitalsorten im zunächst auf Deutsch erschienenen Beitrag „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital“, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderband 2), Göttingen: Schwartz 1983, 183-198. In detaillierter Anwendung greift Bourdieus Theorie der Kapitalzirkulation bereits in La distinction. Critique sociale du jugement, Paris: Minuit 1979. 125 Pierre Bourdieu, „La censure“ [1974/ 77], in: Ders., Questions de sociologie, Paris: Minuit 1984, 138-142, hier 138. 126 Bourdieu, Règles de l’art, 354. 127 Bourdieu, Règles de l’art, 235. 50 Auftakt vor und nach 1800 griffe ou de signature) ou des personnes (par la publication, l’exposition, etc.), donc de donner valeur, et de tirer les profits de cette opération.“ 128 Um genau dieses „Kapital der Anerkennung“ 129 ringen auch hispanoamerikanischer Erzähler/ innen, wenn sie im 19. Jahrhundert auf Stoffe, Darstellungsmodi oder nur Namen zugreifen, die aus Frankreich stammen und die dort bereits gewisse Konsekrationen eingefahren haben. Jeweils leitet sie das Bestreben, den eigenen Text vorteilhaft zu platzieren, in den entsprechenden Fachwelten zu nobilitieren und sich ausreichend Autorität zu verschaffen, um entweder in die Reihen der literarischen Avantgarde aufzurücken oder sich als engagierte Agitatoren zu profilieren. Die narrative Transkulturation, die im Mittelpunkt dieser Ausführungen steht, wird somit zum maßgeblichen Instrument des Prestigeerwerbs, da die Reputation französischer Kulturgüter im nachkolonialen Hispanoamerika sicheres Aufund/ oder Ansehen garantiert. Als Vorbild und Inspiration zur Geltung gebracht, sind diese bzw. ihre Inanspruchnahme dazu prädestiniert, Bekanntheit und Renommee innerhalb des Feldes zu festigen oder ästhetisch riskante Projekte zu lancieren. Gegenüber solch symbolischen Renditen sind hohe Verkaufszahlen und der Beifall eines größeren Publikums ebenso nachrangig wie die Billigung durch Bildungsinstitutionen und Nachschlagewerke 130 oder etwaige Gratifikationen seitens der Herrschenden. Ja, um überhaupt literarisch Fuß zu fassen, ist zunächst ausreichend Abstand zu den genannten Instanzen herzustellen, die allesamt von außen, als potentielle Fremdbestimmung auf die (Erzähl-)Texte und ihre Verfasser/ innen einwirken. Das ist umso signifikanter, als sich in Hispanoamerika nur langsam Enklaven des sozialen Lebens herausbilden, in denen literarische Unternehmungen einigermaßen unbehelligt vonstattengehen können. Als „fraction (dominée) de la classe dominante“ 131 sehen sich Schreibende auch nach der Independencia widerstreitenden Anforderungen gegenüber, deren Mediation lediglich um den Preis andauernder Kompromisse gelingt. Zur eigentlich literarischen Positionierung treten somit pekuniäre Zwänge hinzu und 128 Bourdieu, Règles de l’art, 247. 129 Jurt, Das literarische Feld, 90. 130 Die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Literaturgeschichtsschreibung in Hispanoamerika sowie die Ausbildung nationalliterarischer Kanones rekonstruieren materialreich Beatriz González-Stephan, Fundaciones: canon, historia y cultura nacional. La historiografía literaria del liberalismo hispanoamericano del siglo XIX, Madrid: Iberoamericana/ Vervuert 2002; Dies., La historiografía literaria del liberalismo hispanoamericano del siglo XIX, La Habana: Casa de las Américas 1987 und Katja Carrillo Zeiter, Die Erfindung einer Nationalliteratur. Literaturgeschichten Argentiniens und Chiles (1860-1920), Frankfurt/ Main: Iberoamericana/ Vervuert 2011. 131 So definiert Pierre Bourdieu („Comment libérer les intellectuels libres. Entretien avec Didier Eribon“ [1980], in: Questions de sociologie, 67-78, hier 70) generell den Ort von Kunstschaffenden und Intellektuellen, die als kulturell Privilegierte dennoch in der sozialen Gesamtordnung meist ökonomisch und/ oder politisch inferior bleiben. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 51 in deren Gefolge oftmals die massive Einflussnahme dessen, was sich im Ganzen wiederum mit Pierre Bourdieu als „champ de pouvoir“ paraphrasieren lässt: Nombre des pratiques et des représentations des artistes et des écrivains […] ne se laissent expliquer que par référence au champ du pouvoir, à l’intérieur duquel le champ littéraire (etc.) occupe lui-même une position dominée. Le champ du pouvoir est l’espace des rapports de force entre des agents ou des institutions ayant en commun de posséder le capital nécessaire pour occuper des positions dominantes dans les différents champs (économique ou culturel notamment). 132 Hier nun ist tatsächlich der Ort, wo Erzählprosa zur Schule patriotischer Gesinnung werden kann, wo „domestic ‚novels‘ and ethico-political ‚romance‘ could marry“ 133 , wie Doris Sommer und ihr nachfolgende Studien zum nation-building in narrativen Fiktionen prognostizieren. Die Determination, die alle Sparten kultureller Produktion auf das Feld der Macht verweist, nimmt in der hispanoamerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts ausgeprägte Züge an, wovon die Vielzahl essayistisch oder dezidiert literarisch schreibender Politiker bzw. politisch tätiger Schriftsteller ein eloquentes Zeugnis gibt. Bartolomé Mitre und Domingo Faustino Sarmiento in Argentinien, Ignacio Altamirano in Mexiko oder José Martí in Kuba finden sich unter den bekanntesten Beispielen dieser historischen Konstellation, die das volle ideologische Spektrum abdeckt. Allen anderen voran sind Kunstschaffende und Intellektuelle dazu ausersehen, ihre Wissens-, Wahrnehmungs- und Imaginations-Bestände jener invention of tradition 134 zu widmen, die wahlweise einem bürgerlichen Liberalismus, einem oligarchischen Konservatismus oder seltener einem ethnisch-sozialen Gleichheitsideal zuarbeitet. Zu Staatszielen erhoben, sollen die Etablierung und Propagierung eines literarischen Vermächtnisses das Bedürfnis nach gemeinschaftsstiftenden Vorstellungswelten und nationalen Identitätserzählungen befriedigen. Doch gleich wie durchschlagend der Erfolg der Indoktrination auch sein mag, er hebt dennoch nicht zur Gänze den ‚Brechungseffekt‘ 135 auf, der die eigengesetzliche Ordnung des champ 132 Bourdieu, Règles de l’art, 353. Die Fruchtbarkeit von Bourdieus Literatursoziologie in der Lateinamerikaforschung demonstriert jüngst auch Mabel Moraña, deren dichte Studie Bourdieu en la periferia. Capital simbólico y campo cultural en América Latina (Santiago de Chile: Ed. Cuarto Propio 2014, bes. 43-171) entgegen hiesigem textanalytischen Fokus vorwiegend eine kulturwissenschaftliche Theoriediskussion anstrengt. 133 Sommer, Foundational Fictions, 14. 134 Zum bekannten Schlagwort vgl. Eric Hobsbawm, „Introduction: Inventing Traditions“, in: Ders. / Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition [1983], Cambridge u.a.: Cambridge UP 2003, 1-14. 135 Die Funktionsweise des „effet de réfraction“, der jede externe Einflussnahme in feldinterne Strukturen, d.h. in literarische Positionen übersetzt, erläutert Bourdieu eingehend in Règles de l’art, 353-365 und 378-392. 52 Auftakt vor und nach 1800 littéraire trotz aller Verstrickungen vom übergeordneten champ de pouvoir trennt. Die daraus resultierenden Reinterpretationen sind zu beachten, sucht man die Interdependenzen nachzuvollziehen, die im 19. Jahrhundert die hispanoamerikanische Erzählliteratur zwangsläufig mit den Agenturen der Macht verbindet. Allein so erhält man Auskunft, inwieweit Werke und Autoren dem politischen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Druck stattgeben, in welchem Maß sie sich unter Umständen von ihm befreien können und - am wichtigsten - wie dieser fiktional ausagiert und kodiert wird. Zwischen ästhetischer Autonomie und heteronomer Indienstnahme tut sich eine Spanne auf, 136 die heuristische Tendenzen verzeichnet, ohne dass die Extreme je erreichbar wären. Denn selbst ausdrücklich engagierte Texte setzen nicht die internen Gesetzmäßigkeiten des literarischen Kommunikationssystems außer Kraft, wohingegen der Arm der herrschenden Klassen noch die autoreferentiellsten Sprachexperimente erreicht. Die allmähliche Bildung literarischer und näherhin narrativer Felder in Hispanoamerika folgt somit keiner sukzessiven Perfektionierung, die gegen Ende des Jahrhunderts im l’art-pour-l’art des Modernismo (vorläufig) gipfeln würde. Ebenso wie die Modernisten den Mechanismen des Marktes Tribut zollen müssen, erschöpft sich das Erzählen - wie das Dichten - der ersten Jahrhunderthälfte nicht in orthodoxem Agitprop: Auch die neoklassizistischen Hymnen der Unabhängigkeit oder die romantische Feier staatstauglicher Erotik sind Ergebnisse einer mehrfachen Vermittlung, in der zu gleichen Teilen das je aktuelle Tableau literarischer Positionen, die diesbezüglichen Reformanstrengungen und die jeweiligen Ressourcen der Schreibenden interagieren. Erst vor diesem Hintergrund erklärt sich beispielsweise die reaktionäre Schlagseite, die wider Erwarten in den symptomatischen Narrativen des Argentiniers Esteban Echeverría zum Vorschein kommt. Nach außen hin gegen die repressive, mehr als zwei Jahrzehnte währende Rosas-Diktatur (1829-1852) gerichtet, offenbaren die Erzählung El matadero (1838-40, publiziert 1871) und das Versepos La cautiva (1837) 137 genau betrachtet eine kulturimperialistische Färbung, die ihrerseits aber wesentliche Bedingung ist, um eine neuartige Bresche in die literarische Landschaft zu sprengen. Denn in einem Umfeld, das nach wie vor die aufklärerische Doxa der Vernunft favorisiert, ist Echeverrías Einsatz für einen romantischen Freiheits- und Naturbegriff kein Selbstläufer. Um dennoch zu reüssieren und die Gunst 136 Die graduelle Skala zwischen Autonomie und Heteronomie, die sich im Konkurrenzkampf der verschiedenen Schreibweisen formiert, bildet sozusagen das Fundament der literatursoziologischen Feldtheorie. Ein bündiges Resümee der wichtigsten Kategorien findet sich bei Joseph Jurt, „Autonomie ou hétéronomie: Le champ littéraire en France et en Allemagne“, in: Regards sociologiques 4 (1992), 3-16. 137 Zugrunde gelegt ist folgende Ausgabe: Esteban Echeverría, El matadero - La cautiva, hg. von Leonor Fleming, Madrid: Cátedra 10 2006. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 53 aufstrebender Intellektuellenkreise zu erlangen, spielt er die Karte maximaler Pathossteigerung, die nicht bei subjektzentrierter Emotionalisierung Halt macht. An die Stelle der Selbstaussprache tritt eine konsequente Politisierung des récit, 138 die in El matadero mit aufdringlicher Sexualsymbolik und satirischen Erzählerkommentaren arbeitet. In La cautiva legt die tragische Liebesgeschichte unterschwellig gar den Ethnozid an der indianischen Urbevölkerung nahe, sofern dieser der Territorialisierung der Pampa dienen könnte. Doch Vorsicht: Echeverrías ideologische Radikalität will sich gewiss auch und gerade als ästhetische Provokation verstanden wissen. Dem moderaten Ton neoklassizistischer Empfindsamkeit setzt sie eine Gefühlsintensität entgegen, die in La cautiva die ungebändigte Wildnis transportiert und die im titelgebenden matadero eine Arena physischer und symbolischer Gewalt findet. Starke Affekte und scharfe Kontraste stehen im Zentrum dieser Wirkungspoetik, für deren Konturierung Echeverría sogar einen unverhüllten Chauvinismus in Kauf nimmt. Das außergewöhnliche Gepräge, das romantisches Erzählen hier annimmt, bliebe allerdings unverständlich ohne die rahmenpragmatischen bzw. lebensweltlichen Voraussetzungen, die im Werk des Argentiniers koinzidieren. Reiches kulturelles Kapital sowie der Mangel an materiellen und sozialen Dispositionen erklären einerseits die literarische Risikobereitschaft und andererseits den Erfolgsdruck, dem die extremistischen Zuspitzungen des Liebesmelodrams (La cautiva) und des urbanen cuadro de costumbre (El matadero) geschuldet sind. Die Wiedereinführung der Autorinstanz mündet aber nicht zwangsläufig in schlichte Biographismen, zumal Echeverrías Laufbahn repräsentativ für eine ganze Schriftstellergeneration steht. Der 1805 in Buenos Aires geborene Sohn einer vielköpfigen Familie 138 In gebotener Kürze sei der Plot beider Texte in Erinnerung gerufen: Nach einer kostumbristischen Schilderung des kruden setting - des Titelorts des matadero, dessen überschwemmtes Terrain allerlei abstoßendes Personal bevölkert - erzählt El matadero, wie ein standhafter junger Unitarier von fanatischen Rosas-Anhängern auf dem Schlachthof sadistisch gefoltert wird und schließlich verblutet. Präfiguriert wird dieses Ende durch die lautstark gefeierte Jagd auf einen entlaufenen Stier, der ein Kind zu Tode schleift, was die Menge der Schlächter und Innereiensammler allenfalls beiläufig beachtet. Die Interventionen des heterodiegetischen Erzählers lassen keinerlei Zweifel, dass man es mit einer politischen Allegorie des von Rosas Mazorca terrorisierten Argentiniens zu tun hat. Die neun Gesänge (zuzüglich eines Epilogs) von La cautiva handeln hingegen vom Schicksal des Garnison-Hauptmanns Brian und seiner Frau María, die in indianische Gefangenschaft geraten. Obwohl der Häuptling Brians Hinrichtung befiehlt, gelingt es María, ihren Mann zu befreien, woraufhin beide eine verzweifelte Flucht durch die Pampa antreten. Trotz unermüdlicher Pflege durch seine Frau erliegt Brian dem Fieber, während María noch das argentinische Feldlager erreicht, wo sie jedoch Kenntnis vom Tod ihres Sohnes erhält und ihrerseits stirbt. Überzeichnete Sentimentalität wechselt in La cautiva mit unheilkündender Naturbeschreibung, was auf Figurenebene der Antagonismus zwischen kultiviertem Heldenpaar und atavistischen Indianern rekodiert. 54 Auftakt vor und nach 1800 kann nach dem frühen Tod der Eltern zwar über kein nennenswertes Vermögen verfügen, nichtsdestoweniger zeichnet sich alsbald ein Terrain potentieller Kompensation ab. Trotz der Wirren, die Argentinien nach der Revolución de Mayo erlebt, und trotz des sozialen Deklassements erwirbt sich Echeverría einen Bildungsfundus, der ebenso weitläufig wie eklektisch ist. An der jüngst eingeweihten Universität von Buenos Aires, die er immerhin zwei Jahre besucht, und dann überwiegend in Europa vertieft der unangepasste Zwanzigjährige seine autodidaktisch begonnenen Studien. 139 In Paris, wo er zwischen 1825/ 26 und 1830 meist in bescheidenen Verhältnissen lebt, kommt er mit den Ausprägungen der europäischen Romantik in Berührung, wobei sporadische Vorlesungen und die Frequentierung zweitrangiger Salons weniger ins Gewicht fallen als beharrliche Lektüren. Neben Byron, Schiller oder Goethe verschlingt Echeverría vornehmlich französische Autoren, die mehrheitlich der Strömung des romantisme social zuzurechnen sind. 140 Auf philosophischer Seite finden sich darunter etwa Lamennais, Fourier und allen voran der Comte de Saint-Simon, dessen Werke den utopischen Frühsozialismus federführend vertreten. Literarisch hingegen nimmt der Argentinier die jungen Bilderstürmer vom Schlage eines Hugo oder Lamartine genauso begeistert auf wie Chateaubriands konservative Linie des katholischen Sentimentalismus. Der Niederschlag dieser Rezeptionsstränge wird sich in den 1830er und 40er Jahren zeigen. Zurück in Buenos Aires partizipiert Echeverría am umtriebigen Salón Literario und gründet mit Juan Bautista Alberdi und Juan María Gutiérrez die Asociación de Mayo, deren Manifest er mit den Palabras simbólicas (1838) verfasst und mit dem - 1846 im uruguayischen Exil veröffentlichten - Dogma socialista erweitert. Schonungslose Regimekritik verbindet sich darin mit einem prinzipiellen Geschichtsoptimismus und der Vorstellung nationaler Assoziation, die den sektiererischen Überwachungsstaat Rosas überwinden will. Hinzu kommt die Lossagung von sämtlichen Traditionalismen, worunter die Vertreter der Generación del 37 sowohl das spanische Kolonialerbe als auch die indigenen Residuen rechnen. Inspiriert vom Sprachgebrauch der Französischen Revolution und weltanschaulich durchaus noch dem aufklärerischen Fortschrittsdenken verpflichtet, 141 be- 139 Eine konzise Darstellung zu Echeverrías Paris-Aufenthalt bietet Pagni, Post/ Koloniale Reisen, 56-67. Basierend auf einer reichhaltigen Dokumentation zeichnet Echeverrías intellektuelle Biographie Félix Weinberg, Esteban Echeverría: Ideólogo de la segunda revolución, Buenos Aires: Taurus 2006. 140 Die Bedeutung der liberal engagierten Romantik am Cono Sur erörtert im Zusammenhang Javier Sasso, „Romanticismo y política en América Latina: una reconsideración“, in: González-Stephan et al. (Hg.), Esplendores y miserias del siglo XIX, 73-90. 141 Die Überschneidungen zwischen ilustración und romanticismo in der hispanoamerikanischen Ideen- und Literaturgeschichte resümiert bündig Dieter Janik, „Ilustración y Romanticismo en la primera mitad del siglo XIX: ¿opciones contradictorias o complementarias? “, in: Friedhelm Schmidt-Welle (Hg.), Ficciones y silencios fundacionales. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 55 schwören Echeverría und seine Mitstreiter libertad, igualdad und progreso als ausdrucksstarke Maximen, ohne daraus ein umfassendes, sozial und ethnisch egalitäres Demokratieverständnis abzuleiten. 142 Augenfällig wird dies in fiktionalen Entwürfen wie La cautiva und El matadero, die den Ideenfond und das narrative Inventar der engagierten Romantik auf die zeitgenössischen Verhältnisse in Argentinien anwenden. Die Unterschiede gegenüber der europäischen Großmacht Frankreich, deren Selbstbewusstsein trotz etlicher Krisen bis 1870/ 71 unerschüttert bleibt, sind freilich immens und müssen beinahe zu Verzerrungen führen. Gemessen am französischen Leitbild meint Echeverría sonach zu erkennen, dass einige Bevölkerungsgruppen in seiner Heimat noch gar nicht reif für die Volkssouveränität seien, deren Ausübung allein der „parte sensata y racional de la comunidad social“ 143 obliege. Die damit verbundene Rechtfertigung kreolischer Privilegien filtert gleichsam die Umsetzung epochentypischer Erzählverfahren. In La cautiva und El matadero stehen manichäische Figurenkonstellationen und melodramatische Plots, rhetorische Emphasen und spektakuläre Schwellenmomente, urwüchsige Korrespondenzlandschaften und vorstädtisches Lokalkolorit stets im Dienst eindeutiger Parteinahme und bedenklicher Stigmatisierungen: Hier gute Unitarier, dort böse Föderalisten (El matadero); hier das zivilisierte Argentinien, dort die anarchische Indianerhorde (La cautiva); hier der selbstbestimmte Patriotismus des jungen Helden, dort das Gemetzel des Schlachthofpöbels, darunter vornehmlich Farbige und Mestizen (El matadero); hier der christliche Familiensinn der Eheleute, dort die enthemmte Triebhaftigkeit des Stammeshäuptlings (La cautiva), und so weiter und so fort. Postkolonialistisch und ideologiekritisch inspirierte Lektüren haben es deshalb leicht, 144 die blinden Flecken aufzudecken, die in La cautiva und in El matadero den affichierten „liberalisme en littérature“ 145 dementieren. Ein Literaturas y culturas poscoloniales en América Latina (siglo XIX), Frankfurt/ Main u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2003, 273-284. 142 Dass Echeverría aus heutiger Sicht weder als überzeugter Demokrat noch als veritabler Sozialist gelten kann, belegt seine Angst vor dem „despotismo absoluto de las masas“, deretwegen er das allgemeine Wahlrecht kategorisch ablehnt: „El sufragio universal es absurdo“. Hier zitiert nach: Esteban Echeverría, Dogma socialista de la Asociación de Mayo [1846], in: Ders., El Dogma socialista y otras páginas políticas, Buenos Aires: Estrada 1948, 99-183, hier 158/ 174. 143 Echeverría, Dogma socialista, 158. 144 Avancierte Deutungen, die den politischen Subtext der beiden Narrative dechiffrieren, liefern etwa Robert Folger, „Fisuras del discurso liberal en El matadero de Esteban Echeverría“, in: Mester 28/ 1 (1999), 37-57 sowie Jing Xuan, „Sacrificio sublime, sacrificio obsceno. La fundación del cuerpo nacional en La cautiva y El matadero de Esteban Echeverría“, in: Folger / Leopold (Hg.), Escribiendo la Independencia, 97-124. 145 „Le romantisme, tant de fois mal défini, n’est, à tout prendre, et c’est là sa définition réelle, si l’on ne l’envisage que sous son côté militant, que le libéralisme en littéra- 56 Auftakt vor und nach 1800 anderer Gesichtspunkt, der in Echeverrías Beschäftigung mit der französischen Romantik zu Tage tritt und den in zeitnahem Umkreis Sarmientos Facundo oder José Mármols amouröser Politroman Amalia (1851/ 55) bestätigen werden, bleibt derart aber unterbelichtet: Transkulturationsprozesse tragen meist dazu bei, den Stellenwert des Literarischen im gesellschaftlichen Rahmen neu zu justieren und eventuell zu erhöhen, wie es den jungen Initiatoren der Asociación de Mayo und ihren Nachfolgern unter dem Banner einer bis dato ungekannten Expressivität gelingt. 146 Die Gründung von Zeitschriften als Plattformen kollektiver Rede, spezifische Kontroversen wie die Sprachdebatte zwischen Sarmiento und Andrés Bello 147 sowie die allgemeine Intensivierung des intellektuellen Austausches sind erste Schritte auf dem Weg zur Selbstbehauptung des Schriftstellers als Schriftsteller. Mögen diese anfangs auch noch zaghaft ausfallen, so sind es gerade die diametralen - zwischen harscher Ablehnung und überschwänglichem Enthusiasmus schwankenden - Reaktionen auf die romantische Fracht aus Paris, die am Río de la Plata einen beträchtlichen Schub literarischer Individuation bewirken. Als Minimalformel wäre mithin festzuhalten, dass sich das Eigene hier im Versuch konkretisiert, eine Einstellung zum Fremden zu gewinnen; vorausgesetzt natürlich, man weitet dieses Eigene nicht unweigerlich auf Politisches und demnach auf die Formierung hispanoamerikanischer Staaten aus, sondern situiert es auf jener beweglichen Grenze zwischen sozialem Makrokosmos und den Mikrokosmen der Kunstproduktion, wo die transkulturelle Ausdifferenzierung literarischer Felder ihren Ort hat. 148 Wie relativ ture.“ So Victor Hugos berühmte Formel aus der „Préface“ zu Hernani ([1830], hg. von Claude Eterstein, Paris: Flammarion 1996, 20). 146 Zum Aufschwung des argentinischen Kulturbetriebs in der Romantik vgl. Alejandro Losada, La literatura en la sociedad de América Latina. Perú y el Río de la Plata, 1837-1880, Frankfurt/ Main: Vervuert 1983, bes. 34ff. 147 Die in der chilenischen Presse ausgetragene Polemik (1841-1843) entzündet sich am Desiderat einer Orthographie-Reform des amerikanischen Spanisch, wobei - verkürzt gesagt - Bello die Position linguistischer Standardisierung vertritt, während Sarmiento regionalen und sozialen Varietäten Rechnung tragen will. Eine luzide Bewertung der Debatte im Zuge der Herausbildung einer hispanoamerikanischen Gelehrtenrepublik unternimmt Julio Ramos, Desencuentros de la modernidad en América Latina. Literatura y política en el siglo XIX, México: FCE 1989, 35-49. 148 Dass die Entstehung von Literaturlandschaften in Lateinamerika überhaupt nur in einem transkulturellen Rahmen beschreibbar ist, konstatiert bereits vor geraumer Zeit Ottmar Ette („Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas“, in: Birgit Scharlau (Hg.), Lateinamerika denken: Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen: Narr 1994, 297-326, hier 298) in einem Thesenkatalog, dem obige Zeilen maßgebliche Anregungen verdanken. So kann es Ette zufolge zwar nicht darum gehen, „die lateinamerikanischen Literaturen anhand exogener Faktoren zu definieren“; dennoch gilt es, „die spezifischen Voraussetzungen und Möglichkeiten endogener Entwicklungsprozesse herauszuarbeiten, ohne Ausbildung und Autonomisierung des literarischen Feldes in Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 57 der besagte Autonomiezuwachs gleichwohl bleibt, verdeutlicht Echeverrías Prosa, die ausgerechnet den innovativen Rekurs auf die französische Romantik einer außerfiktionalen Instrumentalisierung preisgibt und damit anfällig für Demagogie wird. Mit der plakativen Ideologisierung ist überdies die Möglichkeit verschenkt, den Literaturtransfer narrativ zu inszenieren und ihm motivische oder erzähltechnische Impulse abzuringen. Derart einseitig aktualisiert, drohen stattdessen Sinnreduktion, figurale Schematismen und letztlich ressentimentgeladene Stereotype, wie sie bedauerlicherweise in El matadero und La cautiva zum Ausdruck kommen. In der Gesamtansicht erhellt Echeverrías Beispiel dennoch die erste und grundlegende Stufe einer Thesenbildung, deren Nachweis diese Untersuchung antritt. Sie betrifft die aufschlussreiche Relation, die zwischen der Präsenz französischer Schreib- oder Denkweisen in der hispanoamerikanischen Narrativik und dem daran ablesbaren Grad soziokultureller Emanzipation der Literatur besteht. Obschon Erzähler/ innen im 19. Jahrhundert stets mit dem Distinktionswert - dem symbolischen Kapital - der in Anschlag gebrachten Referenzen rechnen können, entscheidet am Ende allein das Differenzbewusstsein, das eine Bezugnahme an den Tag legt, über deren tatsächliche Konsequenzen. Denn erst sobald die Übertragung präsent gehalten oder eigens zur Diskussion gestellt wird, befördert sie auch die Selbstständigkeit literarischer Praktiken in der Gesellschaft. Eine derart gezielte Problematisierung kann entweder werkimmanent oder in Form poetologischer Kommentare erfolgen, 149 die im Nachgang der Unabhängigkeiten natürlich andere Schwerpunkte setzen als unter (post-)modernen Bedingungen. Doch nur dort, wo die Transkulturation auch in der textuellen und intertextuellen Verhandlung zur Geltung kommt, wird jene Beobachtung des Eigenen im Fremden und des Fremden im Eigenen möglich, die den Weg für den internationalen Erfolg des hispanoamerikanischen Romans im 20. Jahrhundert ebnen wird. Oder zugespitzt: Gegen sämtliche Tendenzen politischer, ökonomischer und - wie noch zu demonstrieren sein wird - medialer Überformung zeigt sich die nachkoloniale Erzählliteratur Hispanoamerikas umso resistenter, je entschiedener sie ihre transkulturelle Verfasstheit anerkennt und in einer (selbst-)reflexiven réécriture zum Austrag bringt. Lateinamerika auf interne (‚lateinamerikanische‘) Instanzen des Feldes zu reduzieren.“ 149 Siehe hierzu die umfängliche Kompilation von Norma Klahn / Wilfrido H. Corral (Hg.), Los novelistas como críticos I, México: FCE 1991, 15-208 (zum 19. Jahrhundert) sowie die in den folgenden Lektüren aufgerufenen Beispiele poetologischer Texte. 58 Auftakt vor und nach 1800 I.4 Methodische und argumentative Verdichtungen Dabei steht nicht zu erwarten, dass das Reflexionsniveau transkulturellen Erzählens im Laufe des 19. Jahrhunderts einen linearen Anstieg verzeichnet. Kaum aussichtsreicher dürfte es sein, die französischen Diskursimporte in der hispanoamerikanischen Narrativik auf gemeinsame Konventionen zurückzuführen und in das Korsett einer Poetik zu zwängen. 150 Heterogenität und Hybridität, die als Qualitätsmerkmale der nueva novela hispanoamericana 151 gerühmt wurden und werden, bestimmen schon die romanesken Anfänge auf dem Kontinent und laufen jedweder programmatischen Fixierung zuwider. Ein brauchbares Raster muss daher dem Anspruch progressiver Entwicklung ebenso entsagen wie der Verbindlichkeit normativer Literaturbzw. Gattungskonzepte. Es muss und kann sich zurückziehen auf eine bescheidenere Alternative der Systematisierung, wie Michel Foucault sie Anfang der 1970er Jahre in seinem richtungsweisenden Aufsatz „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“ vorschlägt. 152 I.4.1 Verdichtung I: Genealogische Systematisierung und narrative Modellierung Im Dialog mit einem seiner zentralen Stichwortgeber und dessen Genealogie der Moral (1887) skizziert Foucault hier nämlich einen historiographischen Zugang, der zur Gänze auf essentialistische Prämissen oder transzendentale Signifikate verzichtet. Die Genealogie zielt in dieser Auslegung weder auf eine retrospektive Abstammungslehre noch forscht sie nach traditionsbildenden Schlüssel- und Initialereignissen. Bereits in Nietzsches Streitschrift agiert sie stattdessen als Instanz des Zweifels, welche die sogenannte Faktengeschichte und die philosophischen Gedankengebäude gleichermaßen auf den Prüfstand stellt. Als „wirklich[e] H i s t o ri e “ konfrontiert sie die Letztantworten abendländischer Metaphysik mit jeweils „neue[n] Fragen, Forschungen, Vermuthungen, Wahrscheinlichkeiten“ 153 . Sie fokussiert demnach nicht das „B l au e “ der Idealisierungen, sondern richtet ihren sensiblen Farbsucher auf „d a s G r au e , will sagen, das Urkundliche, das 150 Das mag ein Grund sein, warum Wilfrido H. Corrals Beitrag „Hacia una poética hispanoamericana de la novela decimonónica“ (307-330) zwar ein seinerzeit avanciertes Forschungsreferat präsentiert, jedoch dem Anspruch einer konsistenten Romanpoetik für das 19. Jahrhundert nur bedingt gerecht wird. 151 Zur Begriffsprägung siehe Carlos Fuentes, La nueva novela hispanoamericana [1969], México: Joaquín Mortiz 1974. 152 Vgl. Michel Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“ [1971], in: Ders., Dits et écrits, Bd. 2, 136-156. 153 Beide vorangehenden Zitate: Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887], in: Ders., Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München: dtv 1999, Bd. 5, 245-412, hier 254/ 250 („Vorrede“, § 7 / § 3). Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 59 Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit.“ 154 Als rigorose Revision gültiger Wertmaßstäbe sucht die Genealogie den „W e r t h di e s e r We r th e […] s e l b s t e r s t e in m a l i n F r a g e zu s t e ll e n “, wie Nietzsche gewohnt angriffslustig ausführt: Man nahm den W e rt h dieser „Werthe“ als gegeben, als thatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, „den Guten“ für höherwerthig als „den Bösen“ anzusetzen, höherwerthig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf d e n Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im „Guten“ auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die Gegenwart a u f K o s t e n d e r Z u k u n f t lebte? 155 Nietzsches Moral- und Askesekritik, deren berühmte Anklagepunkte nicht wiederholt zu werden brauchen, gibt Foucault Gelegenheit zu einer theoretischen Generalisierung, die seine Machtanalytik prägen wird. 156 Während es der Diskursarchäologie der 1960er Jahre überwiegend um die Verfestigung und Archivierung des Wissens zu tun war, rührt die Genealogie nun an die Wurzeln normativer Perzeptions- und Kommunikationsmuster. Wie von Nietzsche antizipiert, verirrt sie sich dabei in einem Geflecht einander überlagernder Mutmaßungen, die zuweilen reine Fiktionen sein können. 157 Ebendies erachtet Foucault aber als Redlichkeit eines Skeptizismus, der den Höhenflügen wie dem Tiefenblick der Geschichtsphilosophie misstraut und die mehr oder minder latente Zweckgerichtetheit der Geschichtswissenschaft demaskiert: „La généalogie ne s’oppose pas à l’histoire comme la vue altière et profonde du philosophe au regard de taupe du savant; elle s’oppose au contraire au déploiement métahistorique des significations idéales et des indéfinies téléologies.“ 158 Unter der Patina beredter Wahrheits- und Objektivitätsbeteuerungen entdeckt die Genealogie den unbedingten Willen zur Macht 159 als treibende Kraft eines Erkenntnisinte- 154 Beide Zitate: Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 254 („Vorrede“, § 7). 155 Beide Zitate: Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 253 („Vorrede“, § 6). 156 Unter methodologischem Blickwinkel befassen sich mit Foucaults genealogischer Machtanalytik etwa Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt/ Main: Campus 2007, bes. 159ff./ 293ff. und Rudi Visker, Michel Foucault. Genealogie als Kritik, München: Fink 1991, bes. 40ff. 157 Die Entlarvung der Fiktionalität und Metaphorizität aller Moralvorstellungen gehört zu den Grundzügen in Nietzsches philosophischem Kosmos, weshalb auch die Genealogie der Moral (249f.: „Vorrede“, § 3) sogleich provokant fragt: „[U]nter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurtheile gute und böse? “ 158 Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, 136f. 159 Das Philosophem eines allgegenwärtigen, wiewohl oftmals eskamotierten Macht- und Lebenswillens, der den scheinheiligen Willen zur Wahrheit ablöst, beherrscht von Also 60 Auftakt vor und nach 1800 resses, welches gleich den historischen Tatsachen einem „jeu hasardeux des dominations“ 160 gehorcht. Die Persistenz eines kolonialen Paternalismus, der selbst nach den Unabhängigkeiten viele Staaten und Regionen Hispanoamerikas im Griff hat, beruht auf solcher Verschleierung effektiver Herrschaft. Letztere kann sich diesbezüglich vor allem auf einen Bildungssektor stützen, der den Zutritt zur ciudad letrada 161 einem Großteil der mestizischen und indigenen Bevölkerung weiterhin verwehrt. Gerade weil die in hiesiger Studie gelesenen Texte aus Reihen der kreolischen Elite stammen, bedarf es des genealogischen Korrektivs, um soziokulturelle Asymmetrien sichtbar zu machen, ihre Manipulationen nachzuvollziehen und sie zumindest argumentativ zu destabilisieren. Auf dem Spiel steht hierbei die Entmarkierung hegemonialer Deutungsvektoren, was umso dringlicher ist, als die transatlantischen Literaturkontakte vorerst zwar nur in eine Richtung verlaufen, die Polysemie narrativer Fiktionen jedoch Pauschalannahmen über einsinnige Dependenzen oder mimetische Nachschriften Lügen straft. Auf ihren unterirdischen Grabungen in der Vergangenheit entdeckt die Genealogie denn auch nicht einen apriorischen Ursprung, sondern stößt allerorten auf sich verzweigende Anfänge, Entstehungsherde und Herkünfte der Macht. Genau indem sie die Suche nach einem fixierbaren und streng genommen konstruierten Ursprung fahren lässt - „[e]lle s’oppose à la recherche de l’origine“ 162 -, nähert sich die Genealogie aber der Lebenswirklichkeit, die das Ergebnis unzähliger Kontingenzen und, schlimmer, einer sich unablässig fortzeugenden Gewalt ist: „Et c’est la règle justement qui permet que violence soit faite à la violence, et qu’une autre domination puisse plier ceux-là mêmes qui dominent.“ 163 Mikroskopisch 164 schreibt die Genealogie die Geschichte all dessen, was vermeintlich keine Geschichte hat und was im Grunde nur nicht in den logozentrischen Kanon der großen Erzählungen passt, da es als Fehlleistung oder Absenz zum Vorschein kommt. An die Stelle erhabener Begriffskonstrukte tritt darum die Inventarisierung niederer, scheinbar belangloser und unbedeutender Gegenstände: 165 Menschli- sprach Zarathustra (Ein Buch für Alle und Keinen, 1883-85) an bekanntlich Nietzsches gesamtes späteres Werk. 160 Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, 143. 161 Die exklusive Gemeinschaft schriftmächtiger Intellektueller im kolonialen wie unabhängigen Lateinamerika umreißt Ángel Rama in seiner wegweisenden Studie La ciudad letrada, Hanover: Ed. del Norte 1984. 162 Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, 137. 163 Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, 145. 164 Seit den 1970er Jahren existiert auch fachwissenschaftlich ausdrücklich das Konzept der Mikrogeschichte, welche historische Prozesse aus individualpsychologischen Vorgängen zu erklären sucht; siehe einführend Carlo Ginzburg, „Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“, in: Historische Anthropologie 1 (1993), 169-192. 165 Einen scharfsinnigen Gewährsmann hätte Foucault auch in Robert Musil gefunden, dessen Monumentalroman Der Mann ohne Eigenschaften ([1930/ 32/ 43], Reinbek bei Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 61 che Affekte, Triebe und Traumata können so zum Movens weitreichender Geschehnisse, Handlungen und Aussagen werden, womit Foucault eine Überlegung poststrukturalistischer Historiographie evoziert, die nur wenig später Michel de Certeau oder Hayden White in unterschiedlichen Variationen aufnehmen werden. Vordringliche Aufgabe der Genealogie ist es mithin, den Körper als Einschreibungsfläche einer Geschichte zu vermessen, deren Aggressivität substantialistische Chimären wie das Erkenntnissubjekt rundweg entzaubert: „La généalogie, comme analyse de la provenance, est donc à l’articulation du corps et de l’histoire. Elle doit montrer le corps tout imprimé d’histoire, et l’histoire ruinant le corps.“ 166 Auch ohne die „destruction du sujet de connaissance“ 167 gänzlich mitzuvollziehen, lässt sich die Aufweichung überkommener Subjekt-Objekt- Dichotomien im vorliegenden Kontext fruchtbar machen. Sie relativiert die Frage nach dem einen Urheber und dem einen Sinn zugunsten einer Lesart, die Autorinnen und Autoren, Werke und Erzählweisen in erster Linie als Symptome literatur- und kulturhistorischer Konstellationen zu objektivieren erlaubt. Foucaults Verabschiedung finalistischer Großtheorien wirft ferner ein anderes und zuweilen neues Licht auf die Lücken und Überlappungen, die den Geschichtsläufen im Rohzustand inhärent sind. Denn die genealogische Perspektive verzeichnet die Simultaneität verschiedener und mitunter konträrer Entwicklungskurven, ohne die Rekurrenz bestimmter Konfigurationen zu unterschlagen. Spontane Emergenzen, multilaterale Verstrebungen und fragmentarische Ereignisketten substituieren somit eine evolutionäre Kohärenz, die sich nahtlos bis in die Gegenwart erstrecken würde. Es lohnt, den betreffenden Wortlaut ausführlich zu zitieren: La généalogie ne prétend pas remonter le temps pour rétablir une grande continuité par-delà la dispersion de l’oubli; sa tâche n’est pas de montrer que le passé est encore là, bien vivant dans le présent, l’animant encore en secret, après avoir imposé à toutes les traverses du parcours une forme dessinée dès le départ. Rien qui ressemblerait à l’évolution d’une espèce, au destin d’un peuple. Suivre la filière complexe de la provenance, c’est au contraire maintenir ce qui s’est passé dans la dispersion qui lui est propre: c’est repérer les accidents, les infimes déviations - ou au contraire les retournements complets -, les erreurs, les fautes d’appréciation, les mauvais calculs qui ont donné naissance à ce qui existe et vaut pour nous; c’est découvrir qu’à la racine de ce que nous connaissons et de ce que nous sommes il n’y a point la vérité et l’être, mais l’extériorité de l’accident. 168 Hamburg: Rowohlt 2006, 360f.) das Fundament genealogischer Kritik auf den Punkt bringt: „Größtenteils entsteht Geschichte aber ohne Autoren. Sie entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie. Aus kleinen Ursachen.“ 166 Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, 143. 167 Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, 156. 168 Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, 141. 62 Auftakt vor und nach 1800 Eine Genealogie narrativer Transkulturationsbewegungen muss also je einzeln die Korrelationen beleuchten, die in der De- und Rekontextualisierung aufgegriffener Erzählmodelle zum Tragen kommen. Die vier folgenden Fallstudien, die in synchronen Schnitten das 19. Jahrhundert und den Subkontinent an verstreuten Standorten abschreiten, bleiben nichtsdestoweniger aufeinander bezogen, eint sie doch die Reprise prestigeträchtiger Diskurse aus Frankreich. Allein in der - virtuellen - Zusammenschau kann und soll sich daraus aber eine Reihe singulärer, wiewohl vergleichbarer Vertextungsmuster ergeben, die der genealogischen Kontinuität des Diskontinuierlichen 169 gerecht wird. Auf diese Weise erübrigt sich die weiterhin unermüdliche Fahndung nach Gründungsszenarien, die bald den politischen Umbruch der Independencia(s) und der Staatenbildung, bald die späte Geburt des hispanoamerikanischen Romans oder dessen verborgene Vorläufer zu unhintergehbaren Nullpunkten küren möchte. Verzichtbar wird dergestalt auch die Illusion einer literarischen Homogenität Hispanobzw. Lateinamerikas, die notgedrungen zur Nivellierung regionaler Diversitäten führen muss. In der Konsequenz taugen weder Chronologien noch Landkarten als Orientierungsmarken für Auswahl und Anordnung anschließender Textanalysen. Genealogisch verfährt die Erstellung eines Korpus - so begrenzt dieser hier sein mag - allein dann, wenn sie normative Klassifikationen und Teleologien zugunsten struktur- und wirkungsimmanenter Filiationen zurückdrängt. Dem Kriterium literarischer Transkulturation, das fortan Priorität genießt, tritt daher auf der Achse der Verknüpfung das Bestreben zur Seite, akute Semantiken und Modellierungstypen der nachkolonialen Erzählprosa zu definieren. Mit Globalisierung, Ursprung und Krise werden dafür drei maßgebliche Diskussionsfelder aufgegriffen, die die hispanoamerikanische Öffentlichkeit im Laufe des 19. Jahrhunderts umtreiben und die Schriftsteller/ innen sowie andere Künstler/ innen dazu veranlassen, möglichst eindringliche Geschichten, Figuren und Bilder zu erschaffen. Denn während den jungen Staaten einerseits an einer raschen Akzeptanz auf der Weltbühne gelegen sein muss, benötigen sie dafür andererseits die selbstversichernde Berufung auf eine eigene Vergangenheit; eine Vergangenheit, die es häufig erst zu erfinden, zu konstruieren und zu rekonstruieren, symbolisch aufzuladen und zu performieren gilt. Dass dieser doublebind samt dem Scheitern nationaler Integration früher oder später krisenhafte Szenarien provozieren kann, nimmt nicht wunder und findet ebenfalls vielfache Resonanz . Globalisierungsnarrative, Ursprungsnarrative und Krisennarrative - deren Terminologie in ihrem jeweiligen Verwendungszusammenhang eingehen- 169 „L’histoire sera ‚effective‘ dans la mesure où elle introduira le discontinu dans notre être même. […] Elle creusera ce sur quoi on aime à la faire reposer, et s’acharnera contre sa prétendue continuité.“ (Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, 147). Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 63 der plausibilisiert wird 170 - kehren demnach in den hispanoamerikanischen Literaturlandschaften der Zeit regelmäßig wieder. Ohne Landesgrenzen oder Gattungsschranken zu respektieren, kursieren sie in fiktionalem oder expositorischem Format und bevölkern erzählende, beschreibende sowie nicht zuletzt kommentierend-räsonierende Textsorten wie die kultursoziologische Essayistik. Zur Etablierung einer Serie mögen indes vier Romane genügen, zumal sich mit José Joaquín Fernández de Lizardis El Periquillo Sarniento (1816/ 30-31), José Asunción Silvas De sobremesa (1896/ 1925), Jorge Isaacs‘ María (1867) und Eugenio Cambaceres’ En la sangre (1887) jeweils ein weites diskursives Umfeld öffnet. Dessen Erkundung intensiviert jeweils den paradigmatischen Charakter der Lektüren, unabhängig von der diachronen und geographischen Einbettung des Einzeltextes. Die Konzentration dieser Studie auf das so bezeichnete 19. Jahrhundert, die entgegen dem genealogischen Vorsatz einmal mehr der kalendarischen Bequemlichkeit der (Literar-)Historie anheimzufallen droht, setzt in dieser Hinsicht lediglich eine approximative Zäsur. Als Näherungswert steht sie für jenen Zeitraum, während dessen der Nimbus französischer Kulturgüter in Hispanoamerika einen Zenit erreicht - wohlwissend, dass er bereits unter spanischer Herrschaft aufgekeimt war und mit dem Eintritt in das nächste Säkulum nicht vollends verschwinden wird. Eine gewisse Ungenauigkeit und Beliebigkeit der Untersuchungsspanne sind dennoch weder von der Hand zu weisen noch zu vermeiden. Man kann ihnen aber Rechnung tragen und ein Diktum Martin Heideggers beherzigen, dem zufolge das 19. Jahrhundert ohnehin als das „zweideutigste Jahrhundert“ in die Annalen eingeht. Wenn auch aus anderen Gründen, so trifft der Befund mindestens im selben Maße für die hispanoamerikanische wie für die europäische Geschichte zu, auf die sich der deutsche Fundamentalontologe bezieht. Angesichts der Parallele bietet es sich an, ebenso Heideggers historiographischer Empfehlung Gehör zu schenken: „Man kann dieses zweideutigste Jahrhundert nie auf dem Wege einer Beschreibung des Nacheinander seiner Abschnitte verstehen. Es muss von zwei Seiten her gegenläufig eingegrenzt werden […].“ 171 Die vorliegende Genealogie versucht dies, indem sie das 19. Jahrhundert und die sich in ihm vollziehende Verwandlung der Welt 172 nicht etwa sukzessive vom Anfang her 170 Siehe hierzu die kulturgeschichtlich ansetzenden Begriffsdiskussionen jeweils zu Anfang der Kapitel III, IV und V. 171 Beide Zitate: Martin Heidegger, Nietzsche [1961], Stuttgart: Neske 1998, Bd. 1, 84. 172 Die Verwandlung der Welt lautet der suggestive Titel, den Jürgen Osterhammel seiner voluminösen (Kultur-)Geschichte des 19. Jahrhunderts ([2009], München: Beck 2013) gibt. Mit den bündigen Fragen „Wann war das 19. Jahrhundert? “ (ebd., 84ff.) und „Wo liegt das 19. Jahrhundert? “ (ebd., 127ff.) nimmt sich Osterhammel darin zu Beginn der oben nur aufgerufenen Schwierigkeiten epochaler Datierung wie Lokalisierung an und akzentuiert - wie fortan auch diese Studie (I.4.3) - die Relevanz der Kategorien Zeit und Raum. 64 Auftakt vor und nach 1800 durchläuft, sondern beidseitig erschließt. Die Hochkonjunktur französischer Anleihen in der hispanoamerikanischen Erzählliteratur wird sie mit der Gegenüberstellung zweier zeitlich randständiger Globalisierungsnarrative abstecken, ehe sie gegen Mitte und sodann am Ende des Jahrhunderts je ein Beispiel für die florierenden Ursprungs- und Krisennarrative ins Auge fasst. Auf diese Weise sucht sie sowohl der Einmaligkeit jedes (Text-)Ereignisses zu entsprechen als auch dessen Einbettung in eine differentielle Geschichte der Transkulturation zu leisten, wie es Foucaults und Nietzsches genealogischer Imperativ vorsieht: „[R]epérer la singularité des événements […] pour retrouver les différentes scènes où ils ont joué des rôles différents.“ 173 I.4.2 Verdichtung II: Medialität und transkulturelles Erzählen Neben der methodischen Präzisierung der Genealogie bedarf es ferner einer argumentativen Profilierung des angesetzten Erklärungshorizonts. Dazu eignet es sich, von der kontextuellen Rahmenpragmatik zu den binnenfiktionalen Koordinaten des Erzählens voranzuschreiten, ohne deshalb die Reziprozität der beiden Dimensionen auszublenden. Schärft man derart zunächst den Blick für die externen Produktions- und Rezeptionsbedingungen literarischer Praxis, so zeichnet sich insbesondere die Bereitstellung funktionierender Informationswege als archimedischer Punkt ab. In einer Region, wo über Jahrhunderte hinweg staatliche Überwachungsorgane das geschriebene Wort und die Fortbewegung reglementierten, hat der Zugriff auf tragfähige Kommunikations- und Transporttechniken zwangsläufig einen herausgehobenen Stellenwert. Um die Diffusion subversiver Gedanken und Meinungen schon im Ansatz zu hemmen, hatte es die spanische Krone gerade auf die Zirkulation literarischer Druckerzeugnisse abgesehen. Laut Pedro Henríquez Ureña untersagten gar zwei amtliche Dekrete aus den Jahren 1532 und 1543 den Vertrieb und die Lektüre fiktionaler Texte in den Vizekönigreichen, so dass die ortsansässigen Behörden dafür Sorge tragen mussten, „que ningún español o indio lea […] libros de romances, que traten de materias profanas y fabulosas, e historias fingidas, porque se siguen muchos inconvenientes“ 174 . Wenngleich derlei - in der Fläche sehr schwer 173 So nochmals Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, 136. 174 Pedro Henríquez Ureña, „Apuntaciones sobre la novela en América“ [1927], in: Ders., Estudios mexicanos, México: FCE 2004, 93-105, hier 94. Vgl. hierzu informativ auch die „Cronología de la narrativa iberoamericana“ bei Aínsa, Identidad cultural de Iberoamérica, 537-549. Die Anfänge der Buch-Kultur und -Zensur im spanischen Kolonialreich beleuchten José García Oro, Los reyes y los libros: la política libraria de la Corona en el Siglo de Oro, 1475-1598, Madrid: Cisneros 1995 sowie Carlos A. González Sánchez, New World Literacy: Writing and Culture Across the Atlantic, 1500-1700, Lewisburg u.a.: Bucknell UP 2011. Einen Überblick narrativer Fiktionen, die trotz des offenkundigen Verbots im kolonialen Hispanoamerika entstehen oder kursieren, gibt Cedomil Goić, Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 65 umzusetzende - Zensur nicht verhinderte, dass Bestseller vom Range eines Don Quijote nach Übersee gelangten und Verbreitung fanden, verzögerte das langlebige Druckverbot gewiss eine Diversifizierung des Buchmarktes zu Kolonialzeiten. Der politisch verordnete Mangel an Herstellungs- und Distributionsmitteln macht überdies begreiflich, warum sich die hispanoamerikanische (Erzähl-)Literatur früh schon medialen Phänomenen - im weiten Sinn - zuwendet. Noch ehe ernsthafter Widerstand die vizeköniglichen Regimes erschüttert, befasst sich so etwa der Reisebericht El Lazarillo de ciegos caminantes (1773/ 1775-76) 175 des unter dem Pseudonym Calixto Bustamante Carlos Inca, alias Concolorcorvo getarnten spanischen Beamten Alonso Carrió de la Vandera mit der infrastrukturellen Erschließung des Kontinents. Was offiziell als Inspektionsprotokoll zur Verbesserung der Landpostverbindungen zwischen Atlantik und Pazifik angelegt ist, gerät jedoch unter der Hand zu einem Gattungsmosaik, in dem historische Chronik und sozioökonomische Abhandlung mit pikaresken Figuren und Ereignissequenzen sowie mit einem oft satirischen Erzählbzw. Beschreibungsgestus einhergehen. 176 Indem Carrió de la Vanderas Text die Äußerungsinstanzen verrätselt und fortlaufend zwischen referentieller Deskription und narrativer Fiktion changiert, überschießt er die nüchterne Absicht wirtschaftspolitischer Kartierung. An die Stelle statistischer Bestandsaufnahme und Expertise treten folglich kostumbristische Sitten- und Milieuschilderungen, die ausgerechnet die Partikularität der bereisten Regionen hervorkehren. Unweigerlich stellen sich so Ambiguitäten ein, da die intendierte Postreform zwar einerseits der administrativen Kontrolle dient, andererseits aber ein „La novela hispanoamericana colonial“, in: Luis Iñigo Madrigal (Hg.), Historia de la literatura hispanoamericana, Bd. 1: Época colonial, Madrid: Cátedra 1982, 369-406. 175 Hier zugrunde gelegt ist folgende Ausgabe: Alonso Carrió de la Vandera („Concolorcorvo“), El Lazarillo de ciegos caminantes, hg. von Emilio Carilla, Barcelona: Ed. Labor 1973. Der Titel der Erstausgabe (ebd., „Introducción”, 18), die trotz fingierter Datierung auf 1773 (in Gijón) wohl erst 1775/ 76 - und das obendrein unautorisiert - in Lima erscheint, besagt in vollem Wortlaut: „El Lazarillo de Ciegos Caminantes desde Buenos Ayres, hasta Lima con sus itinerarios según la más puntual observación, con algunas noticias útiles a los Nuevos Comerciantes que tratan en Mulas; y otras Históricas. Sacado de las Memorias que hizo Don Alonso Carrió de la Vandera en este dilatado Viage, y Comisión que tuvo por la Corte para el arreglo de Correos, y Estafetas, Situación, y ajuste de Postas desde Montevideo. Por Don Calixto Bustamante Carlos Inca, alias Concolorcorvo, que acompañó al referido Comisionado en dicho Viage, y escribió sus extractos. Con licencia. En Gijón, en la imprenta de la Rovada. Año de 1773.“ 176 Exemplarisch angeführt sei die schelmenhafte Selbstpräsentation des Ich-Erzählers Concolorcorvo (Carrió de la Vandera, Lazarillo de ciegos caminantes, 116): „Yo soy indio neto, salvo las trampas de mi madre, de que no salgo por fiador. Dos primas mías coyas conservan la virginidad, a su pesar, en un convento del Cuzco, en donde las mantiene el rey nuestro señor. Yo me hallo en ánimo de pretender la plaza de perrero de la catedral del Cuzco para gozar inmunidad eclesiástica y para lo que me servirá de mucho mérito el haber escrito este itinerario [...].“ 66 Auftakt vor und nach 1800 durchaus gefährliches Medienbewusstsein fördert, das El Lazarillo de ciegos caminantes in raffinierter Verquickung periegetischer und imaginativer Momente ausreizt. 177 Nicht das Nachrichtenwesen im Allgemeinen, sondern besonders der literarische Datentransfer beschäftigt demgegenüber El Periquillo Sarniento (1816/ 30-31), das viel beschworene Romandebüt auf dem Kontinent, das die pikareske Grundierung des Lazarillo de ciegos caminantes beträchtlich ausbaut. Mit seiner unermüdlichen Publikationstätigkeit prägt der mexikanische Journalist José Joaquín Fernández de Lizardi (1776-1827) die Anfänge der Schriftkultur im (partiell) befreiten Hispanoamerika, zu welcher auch El Periquillo Sarniento brisante Erwägungen anstellt. Satirisch nimmt bereits einer der vorgeschalteten Paratexte 178 die hohen Anforderungen ins Visier, denen Buchveröffentlichungen im künftigen Mexiko logistisch genügen müssen und an denen sie allzu oft scheitern. Denn kaum jemand im noch bestehenden neuspanischen virreinato verfügt über die entsprechenden Finanzen und die notwendige Vernetzung, um am internationalen Handel der Kulturgüter teilzunehmen. Inwiefern Lizardi das erkennt und deswegen in Konflikt mit dem staatlichen Medienmonopol gerät, wird im Weiteren genauso zu diskutieren sein wie die Erschließung einheimischer Lesergemeinden, vermittels derer er in El Periquillo Sarniento die Risiken der Autorschaft zu minimieren gedenkt. Die Abhängigkeit von einem nur rudimentär ausgebildeten und/ oder exklusiv begrenzten Literaturbetrieb, die der Pensador Mexicano - so Lizardis Pseudonym - denunziert, wird hispanoamerikanischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern während des gesamten 19. Jahrhunderts zu schaffen machen. Ein ums andere Mal sehen sie sich der Aufgabe gegenüber, Her- 177 Die mediale Innovationskraft des Textes akzentuiert Susana Zanetti, „La trama de lectura y escritura en El Lazarillo de ciegos caminantes de Alonso Carrió de la Vandera“, in: Dies., La dorada garra de la lectura. Lectoras y lectores de novela en América Latina, Rosario: Beatriz Viterbo 2002, 11-18. Die Pluralisierung der Gattungen und Erzählinstanzen zeigt konzise Christian Wehr, „Pikareske Destabilisierungen kolonialer Machtstrukturen. Der Lazarillo de ciegos caminantes (1775) und die Genese des lateinamerikanischen Romans“, in: Kurt Hahn / Matthias Hausmann / Ders. (Hg.), ErzählMacht - Narrative Politiken des Imaginären, Würzburg: Königshausen&Neumann 2013, 45-57. Vgl. ferner María Soledad Barbón, Peruanische Satire am Vorabend der Unabhängigkeit (1770-1800), Genève: Droz 2001, 97ff. und Karen Stolley, „El Lazarillo de ciegos caminantes“: un itinerario crítico, Hanover: Ed. del Norte 1992, bes. 174ff. Die literarhistorische Signifikanz des Textes unterstreicht Christian Wentzlaff-Eggebert, „Una obra hispanoamericana entre ilustración y costumbrismo: El Lazarillo de ciegos caminantes de Alonso Carrió de la Vandera“, in: Ermanno Caldera / Rinaldo Froldi (Hg.), Entre- Siglos, Rom: Bulzoni 1993, Bd. 2, 259-267. 178 Vgl. José Joaquín Fernández de Lizardi, El Periquillo Sarniento [1816/ 1830-31], hg. von Carmen Ruiz Barrionuevo, Madrid: Cátedra ²2008, 89-95 sowie die Besprechung des mit „Prólogo, dedicatoria y advertencias a los lectores“ überschriebenen Paratextes in Abschnitt II.3.2 dieser Untersuchung. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 67 stellung und Verbreitung ihrer Werke zu organisieren, ohne dafür bereits intakte oder zugängliche Kanäle vorzufinden. Und zu lange hieße es warten, bis sich die Herausforderung von selbst erledigt und die funktionale Auffächerung der Gesellschaften schließlich den Typus des professionellen escritor aus der Taufe heben wird. El Periquillo Sarniento und El Lazarillo de ciegos caminantes sind keineswegs Einzelfälle, 179 exemplarisch veranschaulichen sie vielmehr die generelle Aufmerksamkeit, welche die hispanoamerikanische Literatur spätestens seit der Independencia medientechnischen und -semiotischen Fragen entgegenbringt, ja entgegenbringen muss. 180 Wie gesehen, beschränkt sich die Sensibilität nicht auf poetologische und kulturkritische Metatexte, deren Vielzahl gleichwohl die konstante Aktualität des Themas anzeigt. Die essayistischen Schriften eines Sarmiento, Altamirano, Martí und anderer geben darüber Aufschluss, gleich ob der Argentinier die Segnungen der Ozeandampfer, Eisenbahnen und Telegraphen preist, 181 ob der Mexikaner die Druckindustrie als Multiplikator für seine novela nacional feiert 182 oder ob der Kubaner wahlweise mit visionärer Euphorie oder skeptischer Distanznahme auf die voranschreitende Technisierung reagiert. 183 179 Ein prägnantes Beispiel für die fiktionsinterne Verhandlung transporttechnischer Medialität gegen Ende des Jahrhunderts liefert Ottmar Ette (Viellogische Philologie - Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur, Berlin: tranvía/ W. Frey 2013, 118), der in Clorinda Matto de Turners 1889 veröffentlichtem Roman Aves sin nido (Novela peruana, Lima: PEISA 1988) eine emblematische Anden- Durchquerung per Bahn und einen parallel geschilderten Lektürevorgang als Problematisierung „einer von außen […], von den USA und Europa abhängigen Modernisierung“ liest. 180 Anhand einschlägiger Romane des 19. Jahrhunderts erörtert dieses Interesse im Zusammenhang Fernando Unzueta, „The Nineteenth-Century Novel: Toward a Public Sphere or a Mass Media? “, in: Edmundo Paz-Soldán / Debra A. Castillo (Hg.), Latin American Literature and Mass Media, New York/ London: Garland 2001, 21-40. 181 Sarmientos meist optimistische Medienreflexion intensiviert sich seit der USA-Reise 1847 stetig; siehe dazu Horacio C. Reggini, Sarmiento y las telecomunicaciones: la obsesión del hilo, Buenos Aires: Ed. Galápago 1997. 182 In Altamiranos Programmtext „La literatura nacional“ (1868) heißt es entsprechend emphatisch: „Ciertamente la imprenta ha sido la verdadera madre del periodismo y de la novela, y no hay dificultad en creerlo así, cuando se reflexiona que sin esa maravillosa invención, ni podría haber periódicos, ni podría tampoco difundirse come se difunde la lectura de esos cuentos ingeniosos que hacen las delicias de todas las clases de la sociedad y que son como el maná de la imaginación.“ (Zitiert nach: Klahn / Corral (Hg.), Los novelistas como críticos I, 59-76, hier 64f.). 183 Wie beispielsweise die Escenas norteamericanas belegen, umfasst Martís technisches Imaginarium Druckerpresse und Telegraphie ebenso wie Eisenbahn und kuriose Erfindungen, wobei in der Bewertung affirmative und kulturpessimistische Momente konkurrieren; vgl. hierzu die luziden Anmerkungen von Ramos, Desencuentros de la modernidad, 153-175 und Beatriz González-Stephan, „Martí y la experiencia de la alta modernidad: saberes tecnológicos y apropiaciones (post)coloniales“, in: Folger / Leopold (Hg.), Escribiendo la Independencia, 343-371. 68 Auftakt vor und nach 1800 Aufs Ganze des Jahrhunderts betrachtet, dominiert freilich der Enthusiasmus, der sich vom Ausbau bestehender und der Implementierung neuer Informations- und Verkehrsnetze die Überwindung provinzieller Enge und letztlich die Teilhabe am weltweiten Waren- und Wissensaustausch erhofft. Es versteht sich daher beinahe von selbst, dass die Mehrheit der hierfür notwendigen Technologien zunächst ebenfalls europäischer und später teils nordamerikanischer Provenienz ist. Gleich den Zeichen und Perzeptionen, deren Vehikel sie sind, queren Mediengefüge erst den Atlantik, bevor sie - ihrerseits mehrfach vermittelt und modifiziert - in Hispanoamerika heimisch werden. Gewissermaßen auf einer anderen Ebene ergeben sich transkulturelle Dynamiken, sobald die ersten freien Druckerpressen eingerichtet werden, 184 sobald sich moralische Wochenschriften und politische Tageszeitungen nach Vorbild der europäischen Aufklärung mehren, 185 sobald regionale und überregionale Verlage sowie Buchmärkte auf den Plan treten oder sobald das französische Format des Feuilletonromans 186 die Ära der Massenliteratur auf dem Subkontinent einläutet. Die Streuung der nur beispielhaft genannten Phänomene scheint einer integrativen Verortung entgegenzustehen, zumal aus fachwissenschaftlicher Warte Kategoriensprünge drohen, wenn hier unter dem Lemma medialer Innovationen sowohl Speicher-, Aufzeichnungs- und Übertragungssysteme als auch Transportmittel und Verkehrswege subsumiert werden und sogar deren infrastrukturelle Auswirkungen auf den Kultur- und Bil- 184 Am Beispiel Chiles verfolgt dies anschaulich Katja Carrillo Zeiter, „Die Maschine des Glücks. Die Druckerpresse im Diskurs der chilenischen Unabhängigkeit“, in: Sabine Hofmann / Monika Wehrheim (Hg.), Lateinamerika. Orte und Ordnungen des Wissens (Festschrift für Birgit Scharlau), Tübingen: Narr 2004, 211-223. Vgl. ferner die Hinweise zum Druckgewerbe bei Dieter Janik, Die Anfänge einer nationalen literarischen Kultur in Argentinien und Chile. Eine kontrastive Studie auf der Grundlage der frühen Periodika (1800-1830), Tübingen: Narr 1995, 19ff. und Bernardo Subercaseaux, „Literatura y prensa de la Independencia, independencia de la literatura“, in: Katja Carrillo Zeiter / Monika Wehrheim (Hg.), Literatura de la Independencia, independencia de la literatura, Frankfurt/ Main u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2013, 19-43. 185 Unter den einflussreichen Blättern um 1800 wären beispielsweise der in La Habana erscheinende Papel Periódico (1790-1805), der Mercurio Peruano (1791-1795) in Lima oder die Gaceta de México (1722, 1728-1739, 1784-1810) und der Diario de México (1805- 1817) in Neuspanien zu nennen. Vgl. zum Kontext Alberto Saladino García, Ciencia y prensa durante la ilustración latinoamericana, Toluca: Universidad Autónoma del Estado de México 1996. Zur Herausbildung eines Pressewesens in Lateinbzw. Hispanoamerika siehe Janik, Anfänge einer nationalen literarischen Kultur sowie Iván Jaksić (Hg.), The Political Power of the Word: Press and Oratory in Nineteenth-Century Latin America, London: Institute of Latin America Studies 2002. 186 Zur Genese des französischen Feuilletonromans vgl. Hans-Jörg Neuschäfer et al. (Hg.), Der französische Feuilletonroman. Die Entstehung der Serienliteratur im Medium der Tageszeitung, Darmstadt: WBG 1986. Die Frühphase lateinamerikanischer Feuilletonliteratur rekonstruiert Álvaro Barros-Lémez, Vidas de papel. El folletín del siglo XIX en América Latina, Montevideo: Monte Sexto 1992. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 69 dungssektor Berücksichtigung finden sollen. Dennoch: Genealogisch perspektiviert, gilt es die epochale Matrix zu umreißen, die der Adaption französischer Denk- und Ausdrucksrepertoires in der hispanoamerikanischen Erzählprosa zugrunde liegt. Und diese speist sich eben nicht allein aus kulturellen, soziopolitischen und epistemischen Verschiebungen, sondern auch aus technischen Materialitäten und Praktiken, die in zunehmendem Maße Erfahrungswerte, Lebensentwürfe sowie Schreibgewohnheiten konditionieren. Insofern ist es geboten, Kommunikations- und Transportmedien in einem Atemzug zu verhandeln, gleich welche Bereiche sie jeweils betreffen und welche Effekte sie im Einzelnen zeitigen. Man kann hierfür Beobachtungen der frühen Kommunikationswissenschaften aufnehmen, deren Renaissance in jüngerer Zeit vermutlich der aktuellen Mobilitätsforschung geschuldet ist. 187 In dieser Hinsicht schließt die ganzheitliche Medientheorie, die ehedem der Initiator der Toronto School of Communication Theory Harold A. Innis anregte, neben Informationsausdrücklich auch Fortbewegungstechniken in ihren Aufmerksamkeitsfokus mit ein. Spätestens mit seinem 1951 veröffentlichten Hauptwerk The Bias of Communication 188 wird Innis zu „the great pioneer in opening up the study of the economic and social consequences of the various media of communication.“ 189 So urteilt der ungleich bekanntere Marshall McLuhan über seinen Landsmann und Kollegen, an dessen Studien er mannigfaltig anknüpft. Ausgehend von der Schlüsselopposition zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit verfasst Innis eine Menschheitsgeschichte als Chronik 187 Zur (Re-)Valorisierung der Transportmedien u.a. in der französischen Wissenschaftslandschaft vgl. exemplarisch Marc Desportes, Paysages en mouvement. Transports et perception de l’espace. XVIIIe-XXe siècle, Paris: Gallimard 2005. Einen Überblick zur lateinamerikanischen Transportgeschichte bieten etwa Secundino-José Gutiérrez Álvarez, Las comunicaciones en América: de la senda primitiva al ferrocarril, Madrid: MAPFRE 1993 und die Beiträge in Isabelle Tauzin-Castellanos (Hg.), À pied, à cheval, en voiture. L’Amérique indépendante et les moyens de transport, Bordeaux: Maison des Sciences de l’Homme d’Aquitaine 2011. Um die literaturwissenschaftliche Anwendung der Mobilitätsforschung hat sich der deutsche Romanist Wolfram Nitsch verdient gemacht, wozu nur ein beispielhafter Beitrag genannt sei: „El medio de transporte como lugar de descanso en la narrativa argentina“, in: Isabelle Tauzin-Castellanos (Hg.), Histoire des itinéraires et des étapes en Amérique latine (XVIe-XXe siècle), Bordeaux: Maison des Sciences de l’Homme d’Aquitaine 2015, 265-273. 188 Vgl. Harold A. Innis, The Bias of Communication [1951], mit einem Vorw. von Marshall McLuhan, Toronto: UP 1964. Innis, der zunächst mit Forschungsarbeiten zum Pelzhandel und zur Fischerei hervortritt, verfasst weitere Studien zur Mediengeschichte und -theorie, darunter Empire and Communications (1950) und Changing Concepts of Time (1952). Wichtige Auszüge der kommunikationswissenschaftlichen Titel finden sich in der deutschen Anthologie Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, hg. und übers. von Karlheinz Barck / Friederike von Schwerin-High, Wien/ New York: Springer 1997. 189 So McLuhan im Text „Joyce, Mallarmé, and the Press“ (1954); zitiert nach: Eric McLuhan / Frank Zingrone (Hg.), Essential McLuhan, New York: Basic 1995, 60-71, hier 62. 70 Auftakt vor und nach 1800 medialer Prioritäten, denen sowohl politische Hierarchien als auch individuelle Psychologien unterworfen sind. Als Medien klassifiziert der Kanadier sämtliche „Materialitäten der Kommunikation“ 190 , worunter er die Rohstoffe Stein und Ton ebenso rechnet wie die Artefakte Papyrus und Papier, das besagte Ausdrucksbinom von Stimme und Schrift oder, im größeren Maßstab, Handelswege und Eisenbahnverbindungen. Duchweg geht es um das Axiom der Übertragung, dessen Bedeutungs- und Wirkungsfacetten Innis in einer weit ausgreifenden Zivilisationstheorie erkundet. Genau besehen ersetzt er damit den marxistischen Primat ökonomischer Produktivkräfte durch eine Dominanz der Daten- und Verkehrsströme. Als unhintergehbare Determinanten einer Kultur schaffen Medien „Bildungsmonopole“ 191 und favorisieren je nachdem räumliche oder zeitliche Ordnungsprinzipien: Eine Zivilisation müssen wir sowohl bezüglich ihres Territoriums als auch ihrer Dauer beurteilen. Der spezifische Charakter eines jeden Kommunikationsmittels neigt dazu, eine Tendenz in der jeweiligen Kultur zu schaffen, die die Überbetonung entweder zeitlicher oder räumlicher Vorstellungen begünstigt […]. 192 Indem sie die Aufzeichnung und Verteilung von Wissen regeln, instituieren oder substituieren Medien stets Herrschaftsverhältnisse, deren Ausprägung sich über ihren Standpunkt auf der Raum-Zeit-Achse bestimmt. Innis zieht daraus den naheliegenden Schluss, dass orale Kulturen vorrangig örtlich strukturiert seien, da die Stimme allein Überlieferungen auf kurze Entfernung ermöglicht. Dagegen steigert sich mit dem schrittweisen 190 Konzeptuelle Erläuterungen zum hier aufgenommenen Terminus liefern die Beiträge in Hans Ulrich Gumbrecht / Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1988 sowie in direktem Bezug auf Innis etwa Frank Hartmann, Medienphilosophie, Wien: WUV 2000, 243. 191 In der Zusammenschau vertritt Innis (Kreuzwege der Kommunikation, 234) die These, „dass die Zivilisation in ihren verschiedenen Stadien von unterschiedlichen Kommunikationsmedien beherrscht worden ist, wie z.B. Ton, Papyrus, Pergament, und dem zunächst aus Stofflappen und später aus Holz erzeugten Papier. Jedes dieser Medien ist für die jeweilige Schriftart von großer Bedeutung, und daher auch für die jeweilige Form des Bildungsmonopols, das immer wieder entsteht und die Voraussetzungen für kreatives Denken zerstört, um dann von einem neuen Medium abgelöst zu werden, das wiederum seine eigene Art von Bildungsmonopol nach sich zieht.“ 192 Innis, Kreuzwege der Kommunikation, 122. Siehe dazu Hans J. Kleinsteuber, „Zeit und Raum in der Kommunikationstechnik. Harold A. Innis’ Theorie des ‚technologischen Realismus‘“, in: Walter Hömberg / Michael Schmolke (Hg.), Zeit, Raum, Kommunikation, München: Ölschläger 1992, 319-336; Robert E. Babe, „The Communication Thought of Harold Adams Innis“, in: Ders., Canadian Communication Thought: Ten Foundational Writers, Toronto: UP 2000, 51-88 sowie die Hinweise bei Hartmann (Medienphilosophie, 239-249) und Dieter Mersch (Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius 2006, 93-100), deren Synopsen zu Innis‘ Medienkulturgeschichte obige Ausführungen zentrale Gedankengänge verdanken. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 71 Einzug der Schrift, des Papiers und der Druckerpresse jeweils die Mobilität. Auf diese Weise lassen sich immer ausgedehntere Territorien und Distanzen kontrollieren, deren reibungslose Verschaltung schließlich die Informationselektronik des 20. Jahrhunderts besiegelt. Den Fortbestand einer Regierungs- und Gesellschaftsform sähe Innis nur dann garantiert, wenn sie ein Gleichgewicht zwischen zeit- und raumgebundenen Kommunikationsmitteln herstellen könnte. Doch diese Balance gerät regelmäßig ins Wanken, weshalb kontinuierliche Regimewechsel - von der sumerischen Ton- und babylonischen Steinkultur zum römischen Papyrus-Imperium und zum klerikalen Pergamentkodex bis hin zur Gutenberg-Galaxie - die Evolution menschlicher Zivilisationen prägen: 193 Wir können wohl davon ausgehen, dass der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt. Auch stellen wir fest, dass der überall vorhandene Einfluss dieses Mediums irgendwann eine Kultur schafft, in der Leben und Veränderung zunehmend schwieriger werden, und dass schließlich ein neues Kommunikationsmittel auftreten muss, dessen Vorzüge eklatant genug sind, um die Entstehung einer neuen Kultur herbeizuführen. 194 Als methodisches Fundament hat solch eine Verschränkung von Medien- und Machtanalytik breite Aufnahme gefunden, 195 wie unter anderem die Arbeiten eines Friedrich Kittler und Paulo Virilio belegen. Zu revidieren oder zumindest zu nuancieren ist gewiss die Einseitigkeit, mit der sich Innis auf die Schrift kapriziert und ihr ein ums andere Mal die Verkümmerung sprachlicher Interaktion zur Last legt. Meist ohne andere, etwa audiovisuelle Medien miteinzubeziehen, kreisen seine Überlegungen um die Allgegenwart des Skripturalen, welches nicht nur die „capacity for abstract thinking“ und die „transpersonal memory“ 196 fördere, sondern allmählich auch lokale und soziale Bindungen sprenge. Sein konservativer Kulturpessimismus verleitet Innis bisweilen zu Katastrophenszenarien, die das destruktive Moment der Technik zuspitzen und einem nostalgischen Phonozentrismus das Wort reden. 197 Am Ende seiner medienarchäologischen Verfallsgeschichte steht der Buchdruck, der entgegen aller Demokratiever- 193 Die Reziprozität von Mediendominanz und Herrschaftsform problematisiert Innis ausführlich in Empire and Communications [1950], hg. von Mary Q. Innis, Vorw. von Marshall McLuhan, Toronto: UP 1972. 194 Innis, Kreuzwege der Kommunikation, 96. 195 Lange Zeit unterschätzt und von McLuhans Omnipräsenz verdeckt, sind Innis’ Reflexionen im Zuge technisch ausgerichteter Medientheorien wieder vermehrt ins Bewusstein gerückt. 196 Beide Zitate: Innis, Empire and Communications, 10. 197 Seine Nachfolger der Kanadischen Schule - darunter E.A. Havelock oder W.J. Ong - werden Innis’ tendenziöse Verknüpfung von medien- und kulturgeschichtlicher Entwicklung bzw. Dekadenz verschiedentlich nuancieren. 72 Auftakt vor und nach 1800 sprechen die Entfremdung des Subjekts und die Abschaffung intersubjektiver Beziehungen vorantreibe. Kurzum: „Die westliche Gemeinschaft ist durch die Zermalmungseffekte der maschinellen Industrialisierung des Kommunikationswesens zersetzt worden.“ 198 Gewiss: Innis’ apokalyptische Krisendiagnostik, die gleich Adornos und Horkheimers Medienskepsis ihre historischen Ursachen hat, ist aus heutiger Sicht kaum mehr zu halten, zumal sie in Richtung der Gegenwart eine zunehmende „technological blindness“ 199 beeinträchtigt. Spätestens digitale Apparaturen und Anwendungen haben zu einem Paradigmenwechsel geführt, der die Übermacht textueller Tradierung ein für allemal beendet. Instantan und rhizomatisch organisiert, überschießen virtuelle Netzwerke immer schon räumliche oder zeitliche Skalierungen. Anders verhält es sich indes im 19. Jahrhundert, obendrein in Hispanoamerika, wo Innis’ großflächige Medienanthropologie eine mehrfache Plausibilität gewinnt: Denn zum einen kommt die eskalierende Verschriftlichung 200 , die der Kanadier brandmarkt, hier voll zum Durchbruch. Seit den Unabhängigkeitsbestrebungen erweist sich der gesamte Kontinent als Schauplatz, auf dem gesellschaftliche Wirklichkeiten zuallererst über Aufschreibesysteme 201 und mit Druckerpressen konfiguriert werden. Der Befund ist keineswegs neu. Bereits Benedict Anderson extrapoliert die tragende Rolle, die der heraufziehende print capitalism auf dem Weg zu den lateinamerikanischen Nationalstaaten spielt. 202 Die medienhistorische Kernthese des Politikwissenschaftlers reicht gar noch weiter zurück und geht ihrerseits auf Marshall McLuhan zurück: „Print, in turning the vernaculars into mass media, or closed systems, created the uniform, centralizing forces of modern nationalism.“ 203 Dass die Möglichkeit typographischer Reproduktion der Stärkung des staatlichen Gemeinwesens zugutekommt, ist allerdings nur eine, womöglich schon sehr hoch angesetzte Schlussfolgerung. In Hispanobzw. 198 Innis, Kreuzwege der Kommunikation, 136. 199 So McLuhan in seinem Vorwort zur 1964 publizierten Neuauflage von Bias of Communication, XII. 200 Die schöne Wendung stammt von Mersch (Medientheorien, 96), der Innis’ Medientheorie im Zeichen einer „zunehmenden Eskalation der Verschriftlichung“ diskutiert. 201 Friedrich Kittlers Minimaldefinition des berühmten Begriffs lautet (Aufschreibesysteme 1800/ 1900, München: Fink 3 1995, 519): „Das Wort Aufschreibesystem […] kann auch das Netzwerk von Techniken und Institutionen bezeichnen, die einer gegebenen Kultur die Entnahme, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben.“ 202 Siehe Anderson, Imagined Communities, 47-65 sowie die Exemplifizierungen in Paula Alonso (Hg.), Construcciones impresas. Panfletos, diarios y revistas en la formación de los estados nacionales en América Latina, 1820-1920, Buenos Aires: FCE 2004. 203 Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto: UP 1962, 199. Angedeutet ist das Bedingungsverhältnis von Druckkultur und Nationalstaatlichkeit bereits bei Innis, Empire and Communications, 170: „The book as a specialized product of printing and, in turn, the newspaper strengthened the position of language as a basis of nationalism.“ Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 73 Lateinamerika, wo der Zugang zum Kardinalmedium jahrhundertelang der Willkür der Obrigkeit oblag, verändert die technische Potenzierung des Schriftverkehrs allein schon die Alltagskultur in ihren privaten und öffentlichen Ausformungen. Anders gewendet: Verfügbarkeit, Vervielfältigung und Verständnis des gedruckten Worts fungieren als Merkmale der Distinktion und bedingen die Zugehörigkeit zu Klassen, Berufsständen und Diskursverbünden. Nicht umsonst sind Führungsorgane allerorten darum bemüht, die heterogenen Populationen auf den einheitlichen Buchstaben von Gesetz und Verfassung zu verpflichten sowie das auseinanderklaffende Bildungsniveau mithilfe staatlicher Kampagnen zu homogenisieren. 204 Der Erfolg der Anstrengungen ist eher durchwachsen - und regional stark schwankend -, erreicht doch beispielsweise die Alphabetisierungsrate in Hispanoamerika um 1850 gerade einmal 15% und steigert sich selbst bis zur Jahrhundertwende nur auf ca. 27% in einer annäherungsweisen Gesamtschätzung. 205 Eindrucksvoll zeigt sich so die Janusköpfigkeit eines Mediums, das vordergründig Partizipation verheißt, unterschwellig aber überkommene Privilegien zementiert und neue Hürden errichtet. Daran ändern auch vollmundige Proklamationen nichts, wie sie stellvertretend für die Schar der Volkserzieher wiederum Sarmiento artikulieren möge, der im Mai 1841 in der chilenischen Zeitung El Nacional den überaus demokratischen Charakter der beweglichen Lettern und der Presse bejubelt: El diario es para los pueblos modernos, lo que era el foro para los romanos. La prensa ha sustituido a la tribuna y al púlpito; la escritura a la palabra, y la oración que el orador ateniense acompañaba con la magia de la gesticulación, para mover las pasiones de algunos millares de auditores, se pronuncia hoy ante millares de pueblos que la miran escrita, ya que por las distancias no pueden escucharla. 206 Die Emphase verrät hauptsächlich das schlechte Gewissen einer kreolischen Intelligenzija, die mit Gleichheitsrethorik über ihre herausgehobene Stellung hinwegzutäuschen sucht. Faktisch verbinden sich mit der Druckschriftlichkeit hingegen Mechanismen der Exklusion und Disziplinierung, die einen weiteren Keil in die hispanoamerikanischen Gesellschaften trei- 204 Siehe dazu die regionalen Fallstudien in John A. Britton (Hg.), Molding the Hearts and Minds. Education, Communications, and Social Change in Latin America, Wilmington: Scholarly Resources 1994. 205 Angaben nach: Carlos Newland, „La educación elemental en Hispanoamérica: desde la independencia hasta la centralización de los sistemas educativos nacionales“, in: Hispanic American Historical Review 71/ 2 (1991), 335-364, hier 357. Zur Kluft zwischen dem Fortschrittsidealismus der nachkolonialen Gründerzeit und der soziokulturellen Wirklichkeit vgl. grundlegend Edward Bradford Burns, The Poverty of Progress: Latin America in the Nineteenth Century [1980], Berkeley u.a.: California UP 1983, bes. 132ff. 206 „El diarismo“ [1841]; zitiert nach: Domingo Faustino Sarmiento, Polémicas literarias, Mendoza: Ed. Culturales de Mendoza 2001, 17-27, hier 17. 74 Auftakt vor und nach 1800 ben. Die ohnehin elitäre ciudad letrada wandelt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts endgültig zu einer ciudad escrituraria, deren Omnipotenz Ángel Rama schonungslos auf den Punkt bringt: „Podría decirse que la escritura concluye absorbiendo [scil. a partir del siglo XIX] toda la libertad humana, porque sólo en su campo se tiende la batalla de nuevos sectores que disputan posiciones de poder.“ 207 Sieht man von ihrem überzogenen Pessimismus ab, so offenbart Innis’ Geschichte der Literalität also einerseits die medialen Faktoren, die der Genese literarischer Infrastrukturen in Hispanoamerika voraufliegen. Zum anderen verdeutlicht der kommunikationstheoretische Universalismus der Kanadischen Schule die Nachdrücklichkeit, mit der Informations- und Beförderungsdispositive die Lebensrhythmen ihrer Benutzer/ innen diktieren. „For the ‚message‘ of any medium or technology is the change of scale or pace or pattern that it introduces into human affairs“ 208 , konstatiert demgemäß McLuhan, der gerade in diesem Aspekt Innis’ Prämissen erweitert. Über ihre stetige Handhabung nehmen Medien alle Bereiche menschlicher Existenz in Beschlag, generieren eigene Sinn- und Affektstrukturen, geistige und körperliche Verhaltensweisen. Als kulturanthropologisches Apriori ist ein derart weit gefasstes Verständnis der Kommunikationssysteme dennoch nicht zu verabsolutieren. Auch Letztere passen sich historischen und regionalen Gegebenheiten an, wie entsprechende Gefälle im postkolonialen Hispanoamerika dokumentieren. 209 Bezeichnender aber ist, dass das anwachsende Nachrichten- und Verkehrsaufkommen (erzähl-)literarische Manifestationen provoziert, welche die perzeptiven und kognitiven Umwälzungen im beginnenden Medienzeitalter entweder harmonisierend zudecken oder konfliktiv ausstellen. Mitunter resultieren daraus veritable Erfahrungsschocks, denen die narrativen Fiktionen mittels inkohärenten Handlungslogiken, mentalen Ausfällen der Figuren oder Wahrnehmungsdissonanzen habhaft zu werden suchen. Monolithische Deutungsangebote erleiden angesichts solcher Störsignale Schiffbruch, mag das Geschichtssubstrat der betreffenden Texte auch noch so konventionell anmuten. Eine tiefgreifende Desorientierung setzt in dieser Hinsicht etwa vielen naturalistischen und modernistischen (Anti-)Helden zu, deren nervliche Zerrüttung unmittelbares Ergebnis me- 207 Rama, Ciudad letrada, 52. 208 Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extensions of Man, New York: McGraw- Hill 1964, 8. 209 Die erhebliche medientechnische Diskrepanz, die in Lateinamerika weiterhin zwischen urbanen und ruralen Regionen besteht, illustriert im Überblick etwa Christian Mihr, „Über die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit. Der Medienwandel in Lateinamerika im Lichte neuerer soziologischer und postkolonialer Theorieperspektiven“, in: Klaus Arnold / Christoph Neuberger (Hg.), Alte Medien - neue Medien. Theorieperspektiven, Medienprofile, Einsatzfelder (Festschrift für Jan Tonnemacher), Wiesbaden: VS 2005, 291-331. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 75 dial bedingter Überreizung ist. Doch nicht erst das Jahrhundertende bietet Psychogramme, denen sich die stetig steigende Frequenz der Sinnesdaten und Ortswechsel eingeprägt hat. Während der vielfach eskapistische Duktus romantischer Narrative als Kontrafaktur eines omnipräsenten Modernisierungsdrucks lesbar wird, tritt erwähnter Schelm des Periquillo Sarniento eine Irrfahrt an, die gleichermaßen regional verwurzelt ist wie global ausgreift und die somit - wie zu sehen sein wird - das doppelte publizistische Unterfangen des Romanciers Lizardi nachvollzieht. Zu guter Letzt ist es der konstitutive Begriff der Übertragung selbst, der die in der Kanadischen Schule vertretene Annahme kulturstiftender Mediosphären 210 in hiesigem Rahmen attraktiv macht. Kommunikation fasst Innis konsequent als operative Größe auf, die das Wiss- und Sagbare in einen dynamischen Verteilungsprozess einspeist und auf diese Weise über das Schicksal einer Zivilisation entscheidet: Je nach seinen Eigenschaften kann solch ein Medium sich entweder besser für die zeitliche als für die räumliche Wissensverbreitung eignen, besonders wenn es schwer, dauerhaft und schlecht zu transportieren ist, oder aber umgekehrt eher für die räumliche als für die zeitliche Wissensverbreitung taugen, besonders wenn es leicht und gut zu transportieren ist. An seiner relativen Betonung von Zeit oder Raum zeigt sich deutlich seine Ausrichtung auf die Kultur, in die es eingebettet ist. 211 ‚Übertragung‘ oder „transportation“, wie es im englischen Original heißt, tritt hier als eine Art Supermedium in Erscheinung, ohne dass es noch auf die Beschaffenheit der Trägersubstanzen ankäme: Gleich ob Schiefertafel, Schallwellen, Druckerpresse oder Schnellzug - alles entbindet Kommunikation. Die Überblendung technologischer und semiotischer, raum- und zeitbeherrschender Komponenten steht sicherlich quer zu heute üblichen Theorienuancen. Gleichwohl öffnet genau sie den Blick für eine historische Gesamtkonstellation, in welcher die Beförderung von Menschen, Gütern und Botschaften zum Credo und nicht selten zum epochalen Allheilmittel aufsteigt. Geradezu obsessiv reklamiert so etwa der hispanoamerikanische Progressivismus die kommunikationstechnische Überbrückung des Atlantiks, die 1874 mit der Verlegung des ersten submarinen Telegraphenkabels auf 210 Den Begriff der „médiasphère“ schöpft freilich Régis Debray (Cours de médiologie générale, Paris: Gallimard 1991, 229), der damit „un milieu de transmission et de transport des messages et des hommes, avec les méthodes d’élaboration et de diffusion intellectuelles qui lui correspondent“ bezeichnet. Von medialen „environments“, die Kulturen und Gesellschaften durchdringen, spricht allerdings schon McLuhan: „The medium is the massage. Any understanding of social and cultural change is impossible without a knowledge of the way media work as environments.” (Marshall McLuhan / Quentin Fiore, The Medium is the Massage. An Inventory of Effects, New York u.a.: Bantam Books 1967, 26). 211 Innis, Kreuzwege der Kommunikation, 95. 76 Auftakt vor und nach 1800 der Südhalbkugel schließlich spektakuläre Wirklichkeit wird. 212 Mittlerweile im Amt des argentinischen Präsidenten lässt Sarmiento es sich nicht nehmen, die elektrische Vernetzung seiner Heimat als Errungenschaft zu rühmen, die den einst barbarischen Kontinent in den Schoß der aktuellen Kultur führen wird: [A]sistimos a un acto que, a ser sensibles la tierra y el agua, se estremecieran de gozo al sentir atravesar por sus moléculas el pensamiento humano viajando en alas de la electricidad. [...] Tócame hoy la felicidad de abrir la comunicación de mi país con el mundo civilizado, y doy de ello gracias a la Providencia que me ha deparado un favor tan insigne. 213 Dabei ist Sarmiento nicht der erste, der die Verstetigung des transatlantischen Personen- und Datenverkehrs zum Sinnbild des Aufschwungs in Hispanoamerika erhebt. Seit der Unabhängigkeit kursieren Pathosformeln, die den interkontinentalen Austausch als untrüglichsten Beweis erwartbarer Prosperität ins Feld führen. „El atlántico es un agente de civilización“ 214 , verkündet entsprechend hyperbolisch Sarmientos Landsmann Juan Bautista Alberdi 1837 und variiert damit einen Topos, den bereits die Vätergeneration der Aufklärer und Befreier ins Gespräch brachte. Um am Welthandel der Waren und Ideen teilzuhaben, erscheinen möglichst schnelle und störfreie Verbindungen in die Alte Welt unverzichtbar. Nicht umsonst gilt es unter hispanoamerikanischen Literaten als besondere Auszeichnung, namentlich in der Revue des Deux Mondes 215 zu figurieren, die seit ihrer Gründung im Jahr 1829 - ähnlich wie ab 1842 auch der Correo de Ultramar 216 - 212 Zur Technikgeschichte und politischen Dimension der transatlantischen Telegraphie vgl. John Steele Gordon, A Thread Across the Ocean. The Heroic Story of the Transatlantic Cable, New York: Walker&Co. 2002. 213 So Sarmientos Inaugurationsrede am 4. August 1874; zitiert nach: Domingo Faustino Sarmiento, Obras Completas, Bd. 21: Discursos populares I, Buenos Aires: Ed. Luz del Día 1951, 361-363, hier 361f. Das Unterseekabel, das den Atlantik zwischen dem brasilianischen Pernambuco und Lissabon quert und das der brasilianische Kaiser bereits im Juni 1874 einweiht, stellt erstmals eine direkte Nachrichtenverbindung zwischen Europa und Lateinamerika her. 214 „El Atlántico es un agente de civilización, y los pasos de la libertad europea son otros tantos pasos de la libertad americana. Así, hemos visto propagarse en el mundo las ideas progresivas de la Francia, y al fenecer el siglo pasado, y comenzar el nuestro, cien revoluciones estallar casi a un tiempo, y cien pueblos nuevos ver la luz del mundo.“ (Alberdi, Fragmento preliminar al estudio del derecho, 142). 215 Mit der kulturgeschichtlichen Bedeutung der transatlantischen Zeitung befasst sich eingehend Annette Paatz, „Aspekte medialen Kulturtransfers im 19. Jahrhundert. Zur Positionierung der Revue des Deux Mondes im kulturellen Feld Lateinamerikas“, in: Manfred Engelbert et al. (Hg.), Märkte, Medien, Vermittler. Fallstudien zur interkulturellen Vernetzung von Literatur und Film, Göttingen: Wallstein 2001, 145-186. 216 Der anfangs französisch-spanische, dann nur noch spanischsprachige Correo de Ultramar erscheint zwischen 1842 und 1886 in zwei spartenspezifischen Varianten, als Literatur- und Modezeitschrift sowie als großformatige Politik- und Wirtschaftszeitung, Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 77 immerhin eine selektive Brücke von und nach Paris schlägt. „El libre cambio es bueno en el comercio intelectual“ sekundiert daher noch 1894 der mexikanische Modernist Manuel Gutiérrez Nájera und beeilt sich zu erörtern, dass die einheimische Literatur, um auf Höhe der Zeit zu sein, den „cruzamiento“ mit Europa und vor allem mit Frankreich suchen müsse: „Hoy toda publicación artística, así como toda publicación vulgarizadora de conocimientos, tiene de hacer en Francia su principal acopio de provisiones, porque en Francia, hoy por hoy, el arte vive más intensa vida que en ningún otro pueblo [...].“ 217 Es sind sowohl technische Realitäten als auch diskursive Ereignisse wie die Beschwörung der transatlantischen Achse, die fortan zu beachten sein werden. Als medienkulturgeschichtliche Einschnitte phrasieren sie die anvisierte Genealogie, da sie nicht nur die Hardware bereitstellen, welche (erzähl-)literarische Erzeugnisse in Hispanoamerika benötigen, um überhaupt als solche zur Kenntnis genommen zu werden. Als Stoffkreis oder punktuelles Motiv, als Kompositionsprinzip oder bedeutungshaltige Leerstelle greift das Kommunikations- oder Transportwesen überdies in die narrative Fiktion ein. Vorsichtig sind indessen die Auswirkungen zu beurteilen, die beides auf den Zustand literarischer Felder hat. Optimierte Mediendispositive garantieren von sich aus noch mitnichten eine Emanzipation ästhetischer Aktivitäten in der Gesellschaft. Was zunächst unabdingbare Voraussetzung für einen eigenständigen Literaturbetrieb ist, kann im anbrechenden Zeitalter der Massenkultur nämlich alsbald ins Gegenteil umschlagen und zur Ursache unkontrollierbarer Determination werden. Den besten Beweis dafür liefert die Presse, mit der ab Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest in den hispanoamerikanischen Ballungszentren eine neue Machtsphäre erwächst. Denn einerseits sichert sie Schreibenden eine bis dato ungekannte Öffentlichkeit, Verdienstquelle und Bühne der Selbstdarstellung. Einige wenige Zahlen dürften zum Beleg genügen: So steigen in Argentinien, dessen Gesamtbevölkerung sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf gut vier Millionen verdoppelt, die Veröffentlichungen im Zeitungswesen - mehrheitlich diarios - allein zwischen 1880 und 1886 von 109 auf beachtliche 407 Blätter; Monatszeitschriften klettern im selben Zeitraum von 41 auf 121. 218 Im Mexiko des Porfiriats (1876-1911) wiederum die jedoch auch Feuilletonromane publiziert; siehe hierzu Paatz, Liberalismus und Lebensart, 50-52. Einen informativen Abriss über die „lateinamerikanischen Importzeitungen“ in Paris seit 1870 enthält Streckert, Hauptstadt Lateinamerikas, 260ff. 217 Die drei vorangehenden Zitate: Manuel Gutiérrez Nájera, „El cruzamiento en la literatura“ [1894], in: Ders., Obras, Bd. 1: Crítica literaria. Ideas y temas literarios. Literatura mexicana, hg. von Ernesto Mejía Sánchez / Erwin K. Mapes, México: UNAM 1995, 101-106, hier 102 und 101. 218 So der Anuario bibliográfico de la República Argentina (1880-1888); zitiert nach: Adolfo Prieto, El discurso criollista en la formación de la Argentina moderna, Buenos Aires: Ed. Sudamericana 1988, 37. Vgl. hierzu im Kontext Miguel Ángel De Marco, Historia del 78 Auftakt vor und nach 1800 registriert der Gesamtindex sogar stattliche 2579 Periodika, wovon 576 allein in der Hauptstadt erscheinen. 219 Pauschalangaben wie diese besagen selbstverständlich noch nichts über Ausrichtung und Auflagenhöhe der Organe, über Lesegewohnheiten und das faktisch erreichte Publikum, das sich mit der Umstellung von der Subskriptionslieferung auf den Straßenverkauf jedenfalls deutlich erweitert. 220 Die renommiertesten Tageszeitungen in Buenos Aires wie La Prensa oder La Nación kommen so bereits Ende der 1870er Jahre auf 18000 gedruckte Exemplare pro Tag, ehe die Auflagen fortan jährlich satte Steigerungsraten verzeichnen. 221 Das verschafft den Zeitungskonsortien ausreichend Finanzkraft, um auch namhafte literarische Mitarbeiter anzuwerben, wohingegen kunstorientierte Spartenmagazine selten eine angemessene Entlohnung bieten. Andererseits aber eröffnet das Pressewesen nicht nur Raum für die nunmehr beginnende Professionalisierung der Literaturszenen. Sie fördert gleichzeitig den Vorrang des Marktes, der in Zukunft erheblichen Druck auf diese ausüben wird. Davon zeugen unter anderem die Klagen modernistischer Autoren, die als Feuilletonisten oder Korrespondenten tätig sind und sich daher dem Publikumsgeschmack sowie dem Profitstreben der jeweiligen Herausgeber anpassen müssen. 222 Ruben Darío, langjähriger Berichterstatter für La Nación, moniert vorwiegend den rasanten Produktionszyklus, den die Pressearbeit dem vormals andächtigem poeta aufzwingt: „Producir: de ahí la mejor defensa. No producir con la precipitación fatigosa y terrible del periodismo; meditar, poner la idea desnuda, a macerarse como Ester, seis meses en ungüentos y perfumes, para después vestirla con los oros y sedas del verbo.“ 223 Allen Schriftstellerinnen und Schriftstellern stellt sich mithin die Gretchenfrage, ob sie für den journalistischen Broterwerb massive literarische Kompromisse in Kauf nehmen oder ob sie die periodismo argentino: desde los orígenes hasta el centenario de Mayo, Buenos Aires: Educa 2006, bes. 301ff. 219 Angaben nach: Florence Toussaint Alcaraz, Escenario de la prensa en el Porfiriato, México: Fundación M. Buendía 1989, 13f. 220 Eine Geschichte des (romanesken) Leseverhaltens in Lateinamerika rekonstruieren die scharfsinnigen Analysen von Zanetti, La dorada garra de la lectura. 221 Vgl. Censo General de Población, Edificación, Comercio e Industria de la Ciudad de Buenos Aires (1877); zitiert nach: Prieto, Discurso criollista, 37. 222 Die widersprüchliche Professionalisierung modernistischer Autoren im Journalismus behandeln wegweisend Ángel Rama, Rubén Darío y el modernismo [1970], Caracas u.a.: Alfadil 1985, 49-79 sowie Ramos, Desencuentros de la modernidad, 82-111. Zur Rolle der Presse im Zuge literarischer Spezialisierung siehe auch Alejandra Laera, „Cronistas, novelistas: la prensa periódica como espacio de profesionalización en la Argentina (1880-1910)“, in: Carlos Altamirano / Jorge Myers (Hg.), Historia de los intelectuales en América Latina, Bd. 1: La ciudad letrada, de la conquista al modernismo, Madrid/ Buenos Aires: Katz 2008, 495-522. 223 Rubén Darío, „Almafuerte“ [1895], in: Ders., Obras completas, Madrid: Aguardo 1955, Bd. 4.2, 773-777, hier 776f. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 79 Freiheit reiner Kunst wählen, die zwar symbolische Renditen verheißt, doch eventuell ein Leben im materiellen Prekariat bedeutet. Neben der Erscheinung des konformistischen Erfolgsautors bringt die Zeitungsindustrie zusehends auch eigene Schreibweisen, Genres und Vertriebsformen hervor, deren literarische Ablagerungen nicht lange auf sich warten lassen. Breitenwirksamkeit, schnelle Aufmerksamkeitsbindung und je nachdem ideologische Zuspitzung oder Verdaulichkeit stehen somit im Vordergrund, wenn ab Jahrhundertmitte typisierte Gaucho-Helden aus dem Boden schießen, wenn kostumbristische Szenen Regionalidyllen verklären oder wenn Sensationsreportagen gesellschaftspolitische Debatten anfachen. Unübersehbar treten die Interdependenzen zwischen Presse und Literatur spätestens mit dem Aufkommen des Feuilletonromans zu Tage, der ab den 1840er Jahren in Hispanoamerika Einzug hält und dessen affektgeladene Plots das Zerstreuungsbedürfnis der Abonnenten befriedigen sowie nebenbei bürgerliche Erziehungsratschläge verteilen. 224 Die gegenseitige Verflechtung verbietet gleichwohl voreilige Schlüsse, zumal das Zeitungswesen auch anspruchsvolle Textsorten wie die thematisch und stilistisch vielgestaltigen crónicas kreiert, die Darío, Martí, Roberto Payró oder andere regelmäßig zur Auseinandersetzung mit der Kulturindustrie nutzen. 225 Zusammengenommen bleibt der Journalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts jedoch ein ‚zweischneidiges‘ Unterfangen für Literaturschaffende in Hispanoamerika, wie Aníbal González treffsicher resümiert: [F]or most Spanish American writers since Fernández de Lizardi, contact with journalism as an institution has been a double-edged sword. It has provided them with a means of financial support through writing, but at the same time has imposed serious inherent constraints on their literary work. One such constraint is journalism’s demotion of the „author“ to a mere transcriber, a redactor de noticias (in the eloquent Spanish phrase). Another is journalism’s forcible conversion of fiction writers into something else - social crusaders, ethnologists, even politicians - distancing them from their craft and leading them to assume nonliterary roles […]. Nevertheless, Spanish American authors have also benefited from their ambiguous situation as both journalists and fiction writers. Journalism has taught them 224 Zur Entwicklung des lateinamerikanischen Feuilletonromans im 19. Jahrhundert vgl. Barros-Lémez, Vidas de papel. Eine medientheoretische Problematisierung des Feuilletonromans unternimmt Jesús Martín-Barbero, De los medios a las mediaciones. Comunicación, cultura y hegemonía [1987], Bogotá: G. Gili 2003, 166ff. 225 Zur „crónica“ als Mischgattung zwischen expositorischem Gebrauchstext und modernistischem Ästhetizismus vgl. Aníbal González, La crónica modernista hispanoamericana, Madrid: Porrúa Turanzas 1983 sowie die diversen Hinweise bei Adela Pineda Franco, Geopolíticas de la cultura finisecular en Buenos Aires, París y México: Las revistas literarias y el modernismo, Pittsburgh: Inst. Internacional de Literatura Iberoamericana 2006, bes. 53ff. 80 Auftakt vor und nach 1800 much about the nature of writing as a process and as a product, and has helped to demystify writing and the notion of „literature“ itself [...]. 226 Bis zu einem gewissen Grad ‚entmystifiziert‘ der Aufschwung der Presse in der Tat die Aura der überkommenen Schrift- und Buchkultur, zumal Magazine immer mehr Bildelemente in Berichterstattung und Anzeigen integrieren. 227 Umso schwerer haben es traditionell arbeitende Verlagshäuser, die nur langsam in Hispanoamerika Fuß fassen können und nicht selten in ausländischer, etwa spanischer oder französischer Hand sind. 228 Noch gegen Jahrhundertende sind daher weitgehend unabhängige Konsekrationsinstanzen, die kostspielige Buchveröffentlichungen weder auf ihren Tauschwert noch auf ihre Nützlichkeit reduzieren, eher die Ausnahme. Literatur- und Kritikerzirkel, Salons und Stilgemeinschaften mit eigenen Periodika oder Editionen existieren allenfalls in Metropolen wie Buenos Aires oder Mexiko-Stadt, wo zuvor schon Lesevereinigungen, círculos literarios oder gabinetes de lectura, ansässig waren. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten können sich ab Jahrhundertmitte immerhin kombinierte Unternehmen aus Druckerei und Buchhandel behaupten, deren Verkaufs- und Subskriptionsangebote in erster Linie aber die Anziehungskraft europäischer Titel bezeugen. Einmal mehr schaut man deshalb über den Atlantik, wo eine fortschreitende Institutionalisierung die Berufung zum Schreiben in einen Beruf oder, wie Manuel Gutiérrez Nájera wohl zu euphorisch mutmaßt, in eine eigene ‚Karriere‘ verwandelt hat: „La literatura es en Europa una carrera en toda forma, tan disciplinada como la carrera militar, puesto que en ella se asciende por rigurosa escala [...].“ 229 All das sind freilich bloße Tendenzen, deren inhärente Vergröberungen geographisch und historisch punktuelle Analysen 230 ins rechte Licht rücken 226 Aníbal González, Journalism and the Development of Spanish American Narrative, New York: Cambridge UP 1993, 13f. 227 Veränderungen im Leseverhalten durch medientechnische Innovationen verfolgt am Beispiel früher Illustrierter in Argentinien Eduardo Romano, Revolución en la lectura. El discurso periodístico-literario de las primeras revistas ilustradas rioplatenses, Buenos Aires: Catálogos 2004. 228 Noch um 1900 sind viele Schreibende bemüht, in Europa - am besten in Paris - zu publizieren. Zur Geschichte des hispanoamerikanischen Buchbzw. Verlagsmarkts vgl. etwa José Luis Martínez, El libro en Hispanoamérica. Origen y desarrollo, Madrid: Fundación Germán Sánchez Ruipérez 1986 sowie exemplarisch für den Cono Sur: Jorge B. Rivera, El escritor y la industria cultural [1980], Buenos Aires: Atuel 1998; William Garrett Acree Jr., Everyday Reading: Print Culture and Collective Identity in the Río de la Plata, 1780-1910, Nashville: Vanderbilt UP 2011 sowie Bernardo Subercaseaux, Historia del libro en Chile. Desde la Colonia hasta el Bicentenario, Santiago de Chile: LOM ³2010, 13ff./ 55ff./ 95ff. 229 Manuel Gutiérrez Nájera, „La protección a la literatura“ [1881], in: Ders., Obras, Bd. 1: Crítica literaria. Ideas y temas literarios. Literatura mexicana, 65-67, hier 65. 230 Dies leistet konzise etwa Paatz (Liberalismus und Lebensart, 47-64), indem sie für die Mitte des 19. Jahrhunderts den Zustand des Presse- und Buchmarkts in Argentinien Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 81 müssten. Nichtsdestoweniger exemplifiziert gerade die Kommunikationsplattform der Presse, wie ambivalent sich generell mediale Optionen in der hispanoamerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts bemerkbar machen. Zwischen undurchschauter Vorrichtung, ökonomischer Indienstnahme sowie aktiver Formgebung tut sich ein Fächer der Manifestationen auf, in deren jeweiligem Gewand neue Produktions-, Transmissions- und Mobilitätssysteme auch die im Weiteren gelesenen Romane formatieren. Im Idealfall, dem sich nur die raffiniertesten Medienfiktionen 231 des Modernismo annähern, wäre damit eine doppelte Selbstbezüglichkeit verknüpft, kraft derer die Texte neben ihrer transkulturellen Bedeutungskonstitution zugleich ihre mediale Vermittlung problematisieren. Denn ebenso wie die Aufnahme französischer Repräsentationsmuster das semiotische und epistemische Gepräge verändert, das die hispanoamerikanische Erzählprosa der Zeit annimmt, so modifizieren - oftmals importierte - Daten- und Verkehrsnetze die Wahrnehmungsmodalitäten, die jeder sprachlichen Äußerugen voraufliegen. Im Anschluss an obige Hypothese lässt sich mithin folgern, dass narrative Transkulturation und mediale Sensibilität zwei ineinandergreifende Argumentationsreihen bilden, die jedoch keineswegs mit analogen Semantiken und Bewertungen einhergehen müssen. Letzteres ist umso wichtiger, als ein Mehr an kommunikationstechnischer Zurüstung nicht zwangsläufig die Qualität oder gar die Autonomie der intertextuellen Verarbeitung steigert. Wiederum signalisiert allein das Reflexionspotential, ob sich das Medienbewusstsein in schlichten Applikationen - etwa publikumswirksamen oder lukrativen Veröffentlichungsstrategien - erschöpft oder ob es sich in textimmanenten Inszenierungen zeigt, die dann auch Fragen der Transkulturation und/ oder der literarischen Ausdifferenzierung aufwerfen und individuell perspektivieren können. I.4.3 Verdichtung III: Fiktionale Zeit-Räume der Übertragung Die Rede von der narrativen Reflexivität bleibt gleichwohl vage, solange nicht binnenfiktionale Schnittstellen benannt sind, an denen sich kulturelle, soziale und mediale Voraussetzungen des Erzählens auskristallisieren. Das damit angesprochene Desiderat drängt sich insofern auf, als etliche Untersuchungen, die den Literaturkontakten zwischen Hispanoamerika und Frankreich nachgehen, an der relativen Unbestimmtheit ihres Erkenntnis- und Chile rekonstruiert, um den Niederschlag der „medialen Entwicklungen“ (ebd., 48) in den von ihr untersuchten Romanen auszuloten. 231 Zum Begriff siehe den erhellenden Band von Wolfram Nitsch et al. (Hg), Ficciones de los medios en la periferia. Técnicas de comunicación en la ficción hispanoamericana moderna, Kölner elektronische Schriftenreihe 2008, URL: http: / / kups.ub.uni-koeln.de/ 2585/ (abgerufen am 10.6.2017); sowie darin besonders die theoretische Einleitung (ebd., 7- 15) und den Beitrag von Alejandra Torres, „La Verónica modernista. Arte y fotografía en un cuento de Rubén Darío“ (ebd., 73-83). 82 Auftakt vor und nach 1800 interesses kranken. Wertvolle Einzelbefunde verharren so auf der Ebene disparater Motivsammlungen und Einflussforschungen. Die transkulturelle Kreativität gerät aus dem Blick, sobald klar umrissene Kriterien fehlen, die die Spuren des Aneignungsprozesses in histoire und discours des Textes lesbar machen. Derlei Kriterien sind indes nicht beliebig, sollen sie doch das Verhältnis der Projektion - oder aber der Verzerrung - ermitteln, auf dessen Grundlage die literarische Fiktion ihre Ermöglichungsstrukturen rekonstruiert und in Beziehung setzt. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, nochmals Harold A. Innis’ medientheoretischen Begriff der Übertragung zu bemühen und dessen definitorische Achsen hervorzuheben: Gemeint sind Raum und Zeit, 232 die als Perzeptionskonstanten immer auch Effekte individueller und kollektiver, zeichenhafter und körperlicher Praktiken sind. Raum- und Zeiterfahrung geben Aufschluss über kultur- und mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen sowie über Entstehung und Veränderung taxonomischer Standards. Die Diagnose gewinnt dadurch an Aussagekraft, dass sie in diesem Fall eine (Makro-)Region betrifft, in welcher die Kontrolle, Verteilung und Organisation, ja „die Domestikation von Raum und Zeit“ 233 seit jeher eine besondere Herausforderung darstellt. 234 Man braucht dabei nicht an die grausamen Folgen der Inbesitznahmen und Expansionen zu erinnern, die Lateinamerika seit der Kolonisierung - und vermutlich schon zuvor - durchfurcht haben. Ebenso wenig kann es darum gehen, die Akte kartographischer oder anderweitig zeichenhafter Vermessung zu rekapitulieren, die den Kontinent in ein Palimpsest machtstrategischer Inskriptionen verwandelten. 235 Und nicht minder verkürzend bliebe es, wollte man hier die Windungen nachzeichnen, aus denen schließlich die Gedächtnisarchive und die Geschichtsbilder der heute bestehenden 232 Zu globalen Veränderungen der Zeit- und Raumwahrnehmung ab dem 19. Jahrhundert vgl. mitunter Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880-1918 [1983], Cambridge u.a.: Harvard UP 2003, bes. 10ff./ 131ff. 233 Zum Begriff siehe den gleichnamigen Abschnitt in André Leroi-Gourhan, Hand und Wort: Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst [1964/ 65], übers. von Michael Bischoff, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1988, 387-390. 234 Die Fülle interdisziplinärer Forschungen zur Zeit- und v.a. Raumwahrnehmung in Lateinamerika mögen hier nur einige literatur- und kulturwissenschaftlich relevante Titel bezeugen: Jens Andermann, Mapas de poder. Una arqueología literaria del espacio argentino, Rosario: Beatriz Viterbo u.a. 2000; Fernando Aínsa, Del topos al logos: propuestas de geopoética, Madrid u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2006; Andrea Mahlendorff, Literarische Geographie Lateinamerikas. Zur Entwicklung des Raumbewusstseins in der lateinamerikanischen Literatur, Berlin: tranvía/ W. Frey 2000; Annegret Thiem, Rauminszenierungen. Literarischer Raum in der karibischen Prosaliteratur des 19. Jahrhunderts, Münster: LIT 2010; Ette, Literatur in Bewegung, bes. 21ff./ 85ff./ 539ff. 235 Zumindest in Erinnerung gerufen seien die weitreichenden Beobachtungen von Michel de Certeau (L’écriture de l’histoire, Paris: Gallimard 1975) und Tzvetan Todorov (La conquête de l’Amérique. La question de l’autre, Paris: Seuil 1982), die den lateinamerikanischen Kontinent als Raum kolonialer Einschreibegesten charakterisieren. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 83 Staaten hervorgingen. Im Auge zu behalten ist allerdings die fortgesetzte Zerreißprobe, die das unabhängige Lateinbzw. Hispanoamerika zwischen Territorialisierung und Deterritorialisierung, zwischen der Chronik einer gemeinschaftsstiftenden Historie und der anachronen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (Ernst Bloch) auszutragen hat. Zur Illustration denke man nur an die beeindruckenden Reiserouten, die Schriftsteller wie Bello, Sarmiento, Martí, Darío oder andere keineswegs immer freiwillig zurücklegen. Denn als realbiographische Indikatoren verweisen sie auf eine neue Qualität raumzeitlichen Erlebens, dessen oftmals aporetische Konsequenzen essayistisch radiographiert 236 und fiktional transkribiert werden wollen. Gleich ob es sich um die seit der Aufklärung wiederkehrenden Utopien des Fortschritts, die nostalgischen Sehnsuchtslandschaften der Romantik oder die Globalisierungserscheinungen des Fin de Siècle handelt, allesamt stellen sie die Signifikanz unter Beweis, die das hispanoamerikanische Erzählen im 19. Jahrhundert spatiotemporalen Konzeptionen beimisst. Analog zum politischen Anspruch der jungen Nationen ist regelrecht von einer literarischen Landnahme zu sprechen, die das zurückeroberte Territorium nun eigens zu kartieren und historisieren sucht. Die symbolische „toma de posesión del espacio americano“ 237 artikuliert sich sowohl in der neoklassizistischen Panegyrik, die das Lob des amerikanischen Bodens singt, als auch im regionalistischen Kostumbrismus, den die frühe indianistische und abolitionistische Prosa ausreizt. Lokalkolorit und Naturphysiognomie treten genauso in den Vordergrund, wenn sich um die Jahrhundertmitte eine ethno- und geographische Reiseliteratur ausbildet, wie sie bisher vorwiegend aus europäischer Feder stammte. Durchweg dienen Raum- und Zeitskalen als Organon kultureller Selbst- und Fremdbeobachtung: Stadt versus Land; Pampa oder Selva versus Wüste; Nähe versus Distanz; Kosmopolitismus versus Provinzialismus; Zukunft versus Vergangenheit; Modernität versus Archaik und das heißt auch civilización versus barbarie; Dynamik versus Stagnation - solche und ähnliche Dichotomien fügen sich zu rekurrenten Motivkomplexionen, die das kollektive Imaginäre und die narrative Imagination jeweils auf ihre Weise ausfabulieren. Große Suggestivkraft besitzt in diesem Kontext auch die Inszenierung urbaner Schauplätze, 238 die ab den 1870er Jahren einsetzt und markant do- 236 Angespielt ist freilich auf das berühmte Essaybuch des Argentiniers Ezequiel Martínez Estrada, Radiografía de la pampa (hg. von Leo Pollmann, Madrid u.a.: ALLCA XX 1997, hier 69ff.), das Lateinamerika noch 1933 als Kontinent unüberwindbarer „distancias“ beschreibt. 237 Aínsa, Del topos al logos, 37-49. 238 Entsprechend ausdifferenziert zeigt sich die Forschungslage zur Urbanisierung in Hispanoamerika; hier nur einige literatur- und kulturgeschichtlich orientierte Arbeiten: Ramos, Desencuentros de la modernidad, 112-142; Javier de Navascués (Hg.), La ciudad imaginaria, Madrid u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2007; Cuadernos Hispanoamericanos 670 (2006): Hispanoamérica: ciudad y literatura (hg. von Fernando Aínsa); José 84 Auftakt vor und nach 1800 kumentiert, wie „Merkmale der Zeit […] sich in und an Räumlichkeiten“ offenbaren und „wie umgekehrt der Raum von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert wird“ 239 . Mit Bachtins Terminus sind es also Chronotopoi, die viele Erzähltexte des ausgehenden Jahrhunderts modellieren, um dem sprunghaften Wachstum der insgesamt natürlich wenigen Metropolen zu begegnen. In diesen aber verbinden sich auf engster Fläche sämtliche Fehlentwicklungen der Moderne wie Landflucht, Proletarisierung oder Masseneinwanderung zu einem unheilvollen Ganzen, das es narrativ zu bewältigen gilt. Ein adäquates Beobachtungs- und Beschreibungsinventar bietet hierfür der Naturalismus, der die gesellschaftlichen Schieflagen mit bis dato ungekannter Drastik aufdeckt. Für Mexiko übernimmt dies etwa Federico Gamboas Erfolgsroman Santa (1903), der die krude Wirklichkeit urbaner Prostitution mit einer Idealisierung des ländlichen Gemeinwesens engführt. Die Desintegration ruraler Lebensformen in der Großstadt steht auch im Fokus einer der prominentesten Buenos-Aires-Romane: Lucio Vicente López’ La gran aldea (1884) erzählt den Wandel der argentinischen Kapitale von einer patriarchalen Dorfgemeinschaft zum hektischen melting pot, in dem architektonische Auswüchse und Bevölkerungsexplosion um sich greifen. Dominiert in La gran aldea noch das Sittengemälde, so setzt sich am Río de la Plata alsbald die (pseudo-)wissenschaftliche Milieustudie durch, die allerlei Katastrophenszenarien hervortreibt. Zum Brennpunkt grassierender Verrohung stilisiert, erscheint Buenos Aires etwa in den Romanen eines Eugenio Cambaceres, der in Sin rumbo (1885) sogar die kreolische Upperclass den urbanen Perversionen preisgibt. Zwischen Stadt und Land verläuft hier wiederum eine raumsemantische Demarkationslinie, die Krankheit von Gesundheit, psychosozialen Verfall von intaktem Familiensinn, jedoch auch eine ereignishafte Morbidität von provinzieller Mediokrität scheidet. Die naturalistischen (Anti-)Helden bekommen überdies die zunehmende Beschleunigung der Daten-, Menschen- und Kapitalströme zu spüren, die gegen Jahrhundertende das Zeitempfinden in den hispanoamerikanischen Ballungszentren verändert. 240 Ebenso plastisch wie bedenklich ins Carlos Rovira, Ciudad y literatura en América Latina, Madrid: Síntesis 2005 sowie Gisela Heffes (Hg.), Utopías urbanas: geopolíticas del deseo en América Latina, Frankfurt/ Main: Iberoamericana/ Vervuert 2013. 239 So formuliert Rainer Warning („Der Chronotopos Paris bei den ‚Realisten‘“, in: Ders., Phantasie der Realisten, 269-312, hier 272) zum urbanen Chronotopos in Anschluss an Bachtin; Bachtins romantheoretische Ausgangsdefinition des Chronotopos findet sich in: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik [1937-38/ 1973]; hier zitiert nach: Michael M. Bachtin, Chronotopos, übers. von Michael Dewey, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2008, 7-196. 240 Die moderne Beschleunigung der Zeiterfahrung, die um 1800 mit dem Auseinandertreten von „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“ einsetzt, erörtert wegweisend Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frank- Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 85 Bild gesetzt findet sich die akzelerierte Erlebnisintensität unter anderem in Julián Martels - alias José María Mirós - Roman La bolsa (1891). 241 Wie der Titel vermuten lässt, greift La bolsa den Finanzkrach der Jahre 1889 bis 1891 auf, der am Cono Sur erstmals das Vertrauen in die freien Marktkräfte erschüttert. Das Soziogramm der bonaerensischen Banken- und Börsenwelt ist indes nur Vorwand für ein skandalisierendes Pamphlet, das Aufstieg und Fall eines einst rechtschaffenen, dann spekulationswütigen und in der Todesstunde geläuterten Advokaten schildert. Als Urheber kapitalistischer Exzesse denunziert dieser das so genannte bzw. verleumdete internationale Geldjudentum, um sich mit antisemitischen Klischees über die selbstverschuldete Misere hinwegzutrösten. Ob aus der Figurenrede tatsächlich die Stimme des Autors spricht, sei dahingestellt. Wie andere argentinische Naturalisten verfällt Martel jedenfalls auf xenophobe Hetztiraden, um seine desaströse Großstadtvision zu forcieren. Unter der aufdringlichen Ideologisierung erahnt man aber, dass die alles verschlingende Börse mehr als nur ein Sinnbild moralischer Verkommenheit ist und dass die rasende Zirkulation der Investitionen und Aktien nicht allein die Angst vor dem ökonomischen Bankrott schürt. Die Phobien, die emotionalen Entgleisungen und das Delirium des sterbenden Protagonisten indizieren eine tiefer sitzende Ohnmacht der Figuren, die angesichts einer permanent überfordernden Realität kapitulieren. Sie ist es, die das romaneske Buenos Aires aus La bolsa in einen epochalen Chronotopos verwandelt, in die Verräumlichung einer Zeit, die zu Vergangenheit zerfallen ist, ehe sie überhaupt gegenwärtig war und als kohärenzstiftende Erfahrung haften blieb. 242 Methodisch muss die Binnenanalyse selbstverständlich mehr leisten, als die bewusstseins- und sozialgeschichtlichen Erosionen zu verzeichnen, die in den Raum- und Zeitentwürfen der hispanoamerikanischen Narrativik aufbrechen. Es stellt sich die weitergehende Frage, inwiefern Letztere mit furt/ Main: Suhrkamp 1979, 349-375. Medientheoretisch befasst sich vor allem Paul Virilio (etwa in Vitesse et politique: essai de dromologie, Paris: Galilée 1977) mit der Beschleunigung von Kommunikation und Wahrnehmung, wobei seine Dromologie zwar die Postmoderne fokussiert, doch vielfältige Rückbezüge zu Innis’ genereller Medienkulturgeschichte der Übertragung erlaubt. Gesamtdarstellungen zur Thematik bieten z.B. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2005 sowie Peter Borscheid, Das Tempo-Virus: Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt/ Main u.a.: Campus 2004. 241 Vgl. Julián Martel, La bolsa. Estudio social [1891], hg. von Osvaldo Pellettieri, Buenos Aires: Ed. Belgrano 1981. 242 Inwiefern die gedächtnisrelevante „Erfahrung“ in der Moderne zu kontingenten „Erlebnissen“ und „chockhaften“ Sensationen verkümmert, zeigt bekanntermaßen Walter Benjamin, „Über einige Motive bei Baudelaire“ [1939], in: Ders., Gesammelte Schriften (Werkausgabe), hg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1980, Bd. 1.2, 605-653, bes. 609ff. Zur damit einhergehenden „Zertrümmerung der Aura“ vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Erste Fassung) [1935/ 36], in: ebd., 431-469. 86 Auftakt vor und nach 1800 den äußeren Parametern des Erzählens korrespondieren und diese unter Umständen bilanzieren. Zu überlegen wäre sonach, ob fiktive Topo- und Chronologien, Topo- und Chronographien 243 Auskunft über die transkulturelle Genese und das dadurch erlangte Prestige der Texte geben oder ob sie eventuell deren medienhistorischen Standort anzeigen. Erste Rückschlüsse erlauben diesbezüglich die aufgerufenen Beispiele, da die naturalistischen Großstadtansichten zuvor in Frankreich eingeweihte Settings refigurieren. Dass die Ausgangsszenarien selten mit den Gegebenheiten jenseits des Atlantiks koinzidieren, leuchtet unmittelbar ein. Die Übertragung raumzeitlicher Ordnungsvorstellungen geht nicht reibungslos vonstatten, sie stößt auf Widerstände und erzeugt Antinomien, die den geographischen, politischen und kulturellen Eigenheiten Lateinbzw. Hispanoamerikas geschuldet sind und die in den (Erzähl-)Literaturen des 19. Jahrhunderts widerhallen. So kommt es, dass aufklärerische Homogenitätsideale auf regionale Diversitäten prallen, dass exotistische Fluchträume der Romantik ausgerechnet die Kolonialzeit verklären, dass die Geschwindigkeit moderner Urbanität im Standbild reaktionärer Untergangsphantasien einfriert oder dass selbst ästhetizistisch ornamentale Schauplätze zwischen „gran cosmópolis“ und „sagrada selva“ changieren. 244 Derartige Dissonanzen sind Ausdruck transkultureller Synkretismen, die immer auch verschiedene Wahrnehmungsraster und Koordinatensysteme zusammenzwingen. Nachzuvollziehen ist mithin, wie sich Überlagerungen und Kontradiktionen ins narrative Gewebe einbringen und welche Modifikationen dabei französische Quellen erfahren. Erst die Zusammenschau erhellt nämlich die Intentionen, die der Raum-Zeit-Organisation erzählter Welten einbeschrieben sind und die ihrerseits auf den „espace des possibles“ 245 , jenes Reservoir literarisch realisierbarer Optionen verwei- 243 Während Topologien abstrakt relationale Räume abstecken, die eine Ordnung des Koexistierenden (G.W. Leibniz) zu denken erlauben, bezeichnen Topographien materiell gegebene und gestaltete Räume geographischer, soziokultureller oder literarischer Art; siehe grundlegend Andreas Mahler, „Topologie“, in: Jörg Dünne / Ders. (Hg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin u.a.: De Gruyter 2015, 17-29; Wolfram Nitsch, „Topographien: Zur Ausgestaltung literarischer Räume“, in: ebd., 30-40; Dagmar Reichert, „Räumliches Denken als Ordnen der Dinge“, in: Dies. (Hg.), Räumliches Denken, Zürich: vdf 1996, 15-45. Im Folgenden sei hier außerdem der etymologische Nebensinn von Topo- und Chrono-Graphien als genuin erschriebene Räume und Zeiten mit aufgerufen. 244 So formuliert Rubén Darío einerseits 1914 im gleichnamigen Spätgedicht „La gran cosmópolis (Meditaciones de la madrugada)“ und andererseits im Rodó zugeeigneten Auftaktgedicht der Cantos de vida y esperanza (1905); hier zitiert nach: Rubén Darío, Obras completas, Bd. 1: Poesía, hg. von Julio Ortega, Barcelona: Galaxia Gutenberg 2007, 1241f. und 247. 245 Den Raum potentieller Alternativen im literarische Feld definiert Bourdieu in Les règles de l’art (384) so: „La relation entre les positions et les prises de position n’a rien d’un rapport de détermination mécanique. Entre les unes et les autres s’interpose, en Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 87 sen. Ob und in welchem Umfang eine fiktionale Kondensation rahmenpragmatischer Faktoren vorliegt, kann am Ende nur die einzelne Textanalyse rechtfertigen. An ihr ist es deshalb, die Stichhaltigkeit gewisser zeit- und raumtheoretischer Deutungsansätze zu überprüfen. Ohne pauschales Methodenkorsett hat sich somit das reiche Spektrum, das einerseits Modernisierungstheorien und Geschichtsphilosophie sowie andererseits der kulturwissenschaftliche topographical turn 246 bereitstellen, jeweils wieder an der Sinnvielfalt der behandelten Romane und der Partikularität ihrer Kontexte zu bewähren. Dazu gehört nicht zuletzt die Frage nach der Resonanz, die das Aufkommen neuer oder die Persistenz alter Medienverbünde in den narrativen Raum- und Zeitregimes entfaltet. Die Korrelation liegt nahe und braucht angesichts Innis’ Theorieintegral der transportation kaum mehr legitimiert zu werden. Nicht in Form mimetischer Abbildung, sondern in zuweilen irritierenden Konterreaktionen suchen temporal wirksame Erzählverfahren, figurale Bewegungsprofile oder symptomatische Schauplätze den medial gewandelten Raum-Zeit-Verhältnissen beizukommen. Die kognitiven und semiotischen Codes bleiben nicht unberührt von der Dynamisierung des Daten- und Personenverkehrs, die im 19. Jahrhundert statthat und die José Martí an dessen Ende als schillernde Dispersion substantieller „ideas“ charakterisiert: Todo es expansión, comunicación, florescencia, contagio, esparcimiento. El periódico desflora las ideas grandiosas. […] Antes las ideas se erguían en silencio en la mente como recias torres, por lo que, cuando surgían, se las veía de lejos: hoy se salen en tropel de los labios, como semillas de oro, que caen en suelo hirviente; se quiebran, se ramifican, se evaporan, se malogran - ¡oh quelque sorte, l’espace des possibles, c’est-à-dire l’espace des prises de position réellement effectuées tel qu’il apparaît lorsqu’il est perçu au travers des catégories de perception constitutives d’un certain habitus, c’est-à-dire comme un espace orienté et gros des prises de position qui s’y annoncent comme des potentialités objectives, des choses ‚à faire‘, ‚mouvements‘ à lancer, revues à créer, adversaires à combattre, prises de positions établies à ‚dépasser‘, etc.“ Nur nebenbei erwähnt sei, dass Bourdieus Feldtheorie generell raum- und zeitbasiert verfährt, was sich keineswegs in methodischer Metaphorik erschöpft. Beschränkt man sich auf Bourdieus Literatursoziologie, so ist die Lektüre zu Flauberts Éducation sentimentale in Les règles de l’art (17-81) hervorzuheben, die als interpretatorische Parameter den Pariser Stadtplan und die lebenszeitliche Kategorie des Erbes ansetzt. 246 Spielarten des kulturwissenschaftlichen topographical bzw. spatial turn präsentieren Sigrid Weigel, „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“, in: KulturPoetik 2/ 2 (2002), 151-165; Stephan Günzel, „Spatial Turn - Topographical Turn - Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen“, in: Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008, 219-237 sowie die Einträge in Stephan Günzel (Hg.), Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt: WBG 2012, 380/ 412f. 88 Auftakt vor und nach 1800 hermoso sacrificio! - para el que las crea: se deshacen en chispas encendidas; se desmigajan. 247 Um die allseitige Entgrenzung, die Martí zugleich beklagt wie glorifiziert, hermeneutisch dingfest zu machen, bieten sich Raum und Zeit als Orientierungsmarken an. Sie geben ein Maß für die mediale Durchdringung, der die hispanoamerikanischen Lebenswelten zunehmend ausgesetzt sind und der die literarischen Fiktionen je nachdem ihre Wunsch- oder Zerrbilder entringen. Aufbauend auf die oben etablierten Problematisierungsachsen ergibt sich so eine letzte Erweiterung der Thesenbildung, der die genealogischen Argumentationsgänge folgen werden: Der Nexus, der in der hispanoamerikanischen Erzählprosa des 19. Jahrhunderts zwischen transkultureller Verfasstheit, kommunikationstechnischer Vermittlung und literarästhetischem Autonomiegrad besteht, setzt sich auf der narrativen Geschichts- und Darstellungsebene fort. Das jeweilige Reflexionsniveau manifestiert sich als Formkalkül, das in spezifischen Raum- und Zeitkonstruktionen sowohl die Aneignung französischer Literatur- und Ideenformationen als auch das betreffende Medienbewusstsein summieren und zur Diskussion stellen kann. Die mehrgliederige Beweisführung zieht nach sich, dass die Aussagekraft der einzelnen Frageperspektiven gemäß dem Analysestandort variiert und je neu auszubalancieren ist. Die Variationsbreite der Relevanz darf dennoch nicht den Fluchtpunkt dieser Studie verstellen, die eine transatlantisch ausgehandelte und daher stets dialogische Narrativik fokussiert. Unangetastet bleibt ferner die Grundannahme, dass ein als soziokulturelle Praxis verstandenes Erzählen unweigerlich verschiedenen und mitunter konkurrierenden Bedingtheiten unterliegt. Literarästhetische, kulturpragmatische sowie mediale Konstituenten sind darum immer in ihrer Interaktion zu beachten; sie wirken zusammen, überkreuzen sich und bilden ein Geflecht, in dem sich Schreibende und Texte regelrecht verstricken können. Kein Wunder, mutet ihr Unterfangen doch reichlich komplex und auf den ersten Blick nachgerade seltsam an: Kraft des Fremden soll das Eigene nobilitiert werden, wofür aber wiederum fremde bzw. literaturexterne Dispositive notwendig sind. Oder nochmals konkretisiert: Kraft französischer Diskursimporte suchen hispanoamerikanische Erzählerinnen und Erzähler ihre Werke aufzuwerten, wofür sie entsprechender Kommunikationstechniken bedürfen, durch die sie eventuell in neue Abhängigkeiten geraten. So besehen stellt sich der galicismo de la mente 248 , den Juan Valera dem Modernismo Rubén Daríos bescheinigt und den er auf mehrere literarische Generationen in Hispanoamerika ausweiten könnte, oftmals als Paradoxon 247 José Martí, „Prólogo al Poema del Niágara de Juan A. Pérez Bonalde“ [1882], in: Ders., Obra literaria, hg. von Cintio Vitier, Caracas: Ayacucho 1978, 205-217, hier 208f. 248 Vgl. nochmals Juan Valera, „Carta a D. Rubén Darío“ [1888], in: Darío, Azul..., 107 sowie Darío, „Los colores del estandarte“ [1896], in: Ders., Obras completas, Bd. 4, 874. Vom afrancesamiento zur transkulturellen Genealogie 89 dar. In den Raum- und Zeitschichten der Fiktionen schlagen die Widersprüche nicht selten eklatant zu Buche. Die beiden Globalisierungsnarrative, deren Lektüre sich anschließt, werden dies vielfach bestätigen, da ihre Welt- und Zukunftsgewandtheit immer auch der lokalen Gegenwart oder Vergangenheit verpflichtet bleibt. Im Fall des mexikanischen Romans El Periquillo Sarniento handelt es sich ohnehin um eine allein imaginierte oder imaginäre Globalisierung, wie Néstor García Canclini sie in anderem Kontext theoretisiert. 249 Denn nach 1800, inmitten der langwierigen Befreiung Neuspaniens vom kolonialen Joch ist José Joaquín Fernández de Lizardi, der Autor des Periquillo Sarniento, überhaupt einer der ersten, der die hispanoamerikanische Erzählliteratur am internationalen Kulturtransfer ausrichtet und ihr damit einen wahrhaft elektrischen Impuls gibt. 249 Vgl. Néstor García Canclini, La globalización imaginada, Buenos Aires u.a.: Paidós 1999 sowie Ottmar Ette (TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte, Berlin/ Boston: De Gruyter 2012, 131-138), der einen dezidiert „globalen Bewegungsraum“ in El Periquillo Sarniento ausmacht. Im vorliegenden Kontext sucht der Auftakt des Kapitels III den Terminus der Globalisierung zu präzisieren. Globalisierungsnarrative um 1800 Fortement adaptés d’une part au mode de vie majoritaire de leur époque, soucieux d’autre part de le dépasser „par le haut“ en prônant de nouveaux comportements ou en popularisant des comportements peu pratiqués, les précurseurs nécessitent en général une description un peu plus longue, d’autant que leur parcours est souvent plus tourmenté et plus confus. (Michel Houellebecq) 1 1 Michel Houellebecq, Les particules élémentaires, Paris: Flammarion 1998, 34. II „El Conductor Eléctrico“: Mediale Feld- Aufklärung und pikaresker Erzählparcours in J. J. Fernández de Lizardis El Periquillo Sarniento II.1 Der elektrische Leiter El Conductor Eléctrico lautet entsprechend der Titel der chronologisch betrachtet fünften der insgesamt neun Periodika, die der Mexikaner José Joaquín Fernández de Lizardi zeitlebens herausgibt und denen meist nur ein kurzes Dasein beschieden ist. 1 Mit 24 Nummern, die allesamt 1820 erscheinen, fällt die Bilanz des Conductor Eléctrico noch verhältnismäßig umfangreich aus. Mehr Ausgaben und eine längere Halbwertszeit erreichen lediglich die Conversaciones del Payo y el Sacristán (1824-25, 50 Nummern) sowie Lizardis erste und richtungsweisende Zeitung El Pensador Mexicano (1812- 14, 45 Nummern zuzüglich sieben Supplemente). Denn als Pensador Mexicano wird Lizardi bekanntlich viele seiner Texte unterzeichnen, gleich ob die Signatur als verbürgtes Autorenpseudonym oder andernorts als Herausgeberfiktion steht. Auch in El Conductor Eléctrico firmiert der Pensador Mexicano als Urheber und schickt sich im - der ersten Lieferung vorangestellten - „prospecto“ sogleich an, die wenig bescheidene Emblematik des Titels zu erläutern: [H]e puesto al presente periódico el altisonante título de Conductor eléctrico, porque así como este instrumento sirve para recibir el fluido ígneo y conducirlo adonde se quiere; así yo deseo que este periódico sea un conductor por donde se comuniquen muchas verdades importantes al Gobierno y al Pueblo con la misma violencia, si es posible, que el fluido eléctrico, y he aquí el motivo porque le he puesto un título tan análogo a su objeto y a la sinceridad de mis deseos. 2 1 Zu den meist in Eigenregie edierten Blättern kommen noch unzählige Flugschriften. Lizardis erschlossenes journalistisches Werk ist im dritten bis sechsten (Periódicos) sowie elften bis dreizehnten Band (Folletos) seiner Gesamtausgabe versammelt: José Joaquín Fernández de Lizardi, Obras, México: UNAM 1963-1997, hg. von María Rosa Palazón Mayoral et al., 14 Bde. Detailliert verhandelt Lizardis Journalismus etwa María del Rosario Lara, El discurso subversivo en la obra periodística de Fernández de Lizardi, Lewiston u.a.: Edwin Mellen 2009 sowie in Verbindung mit dem literarischen Werk: Mariana Ozuna Castañeda, „Géneros menores y ficcionalidad en el periodismo de Fernández de Lizardi“, in: Literatura Mexicana 20/ 1 (2009), 5-40. 2 José Joaquín Fernández de Lizardi, Obras, Bd. 4: Periódicos (Alacena de Frioleras, Cajoncitos de la Alacena, Las Sombras de Heráclito y Demócrito, El Conductor Eléctrico), hg. von María Rosa Palazón Mayoral, México: UNAM 1970, 257. 94 Globalisierungsnarrative um 1800 Wie der „altisonante título“ ankündigt, will Lizardi sein neuestes Blatt als Sprachrohr verstanden wissen, das der zügigen Streuung gesellschaftspolitischer ‚Ideen‘ dient. Der emphatische Wahrheitsanspruch, die Explizierung der doppelten Adressateninstanz („al Gobierno y al Pueblo“) sowie der polemische Impetus vieler im Conductor Eléctrico versammelter Artikel 3 passen ins Bild eines öffentlichkeitswirksamen Schriftstellers, als welcher sich der Mexikaner inszeniert. Nicht ohne Stolz reklamiert er das Prädikat eines „escritor público“ 4 , der die Stimmungen im Gemeinwesen registriert, mit höchstem Wirkungsgrad multipliziert und auf diesem Weg notwendige Debatten entfacht. Die Literaturhistorie folgte dem Selbstentwurf nur allzu gern und erhob Lizardi zum mexikanischen, ja überhaupt zum lateinamerikanischen Prototyp des escritor comprometido. Als veritabler „fondateur de discursivité“ 5 habe er, so der Tenor der früh einsetzenden Rezeption, ein engagiertes Schreiben initiiert, das moralische Integrität mit konstruktiver Regimekritik und einem liberalen Patriotismus paart. 6 Weder Lizardis Kür zum wortbewaffneten Vorkämpfer der Unabhängigkeit noch seine Entlarvung als Exponent der kreolisch-patriarchalen Schriftkultur können hier angemessen aufgearbeitet werden. Sie brauchen es auch nicht unbedingt, was weniger daran liegt, dass Lizardi in Wahrheit wohl eher ein politisches Chamäleon war. Prekär erscheint vielmehr, dass mit dem Porträt des unbestechlichen Publizisten meist eine Nivellierung einhergeht, die kurzerhand journalistische Diktion und literarische Fiktion ineins setzt. Analog zu seinem Verfasser erklärte man insbesondere den ersten und bekanntesten Roman des Mexikaners El Periquillo Sarniento (1816/ 30-31) - um den es im Weiteren gehen wird - zu einer Geburtsurkunde, zur „novela de la independencia 3 Die Veröffentlichung des Conductor Eléctrico steht unter dem Eindruck der - im spanischen trienio liberal - wiederhergestellten Pressefreiheit, was die Schärfe mancher Beiträge erklärt, die den Klerus angreifen, die Zensur brandmarken und Bürgerrechte einfordern. Erst ein Jahr später (1821) egreift Lizardi jedoch ausdrücklich Partei für die Unabhängigkeit Mexikos, wie Lara (Discurso subversivo, 18) anmerkt. 4 So Lizardis Selbstbezeichnung in einem folleto namens „No está el amor de la patria en maldecir gachupines“ (Obras, Bd. 13: Folletos 1824-1827, hg. von María Rosa Palazón Mayoral / Irma I. Fernández Arias, México: UNAM 1995, 863). 5 Vgl. zum Begriff die berühmten Ausführungen bei Michel Foucault, „Qu’est-ce qu’un auteur“ [1969], in: Ders., Dits et écrits, Bd. 1, 789-821, hier 804. 6 Stellvertretend für zahlreiche Forschungsarbeiten, die Lizardis Beitrag zur Herausbildung des modernen Intellektuellen in Mexiko würdigen, seien genannt: Jean Franco, „La heterogeneidad peligrosa: Escritura y control social en vísperas de la independencia mexicana“, in: Hispamérica 12/ 34-35 (1983), 3-34; Rafael Gutiérrez Girardot, La formación del intelectual hispanoamericano en el siglo XIX, College Park: University of Maryland 1992, 21-35; Rama, Ciudad letrada, 58ff.; María Rosa Palazón Mayoral, „José Joaquín Fernández de Lizardi: Pionero e idealista“, in: Belem Clark de Lara / Elisa Speckman Guerra (Hg.), La república de las letras: asomos a la cultura escrita del México decimonónico, Bd. III: Galería de escritores, México: UNAM 2005, 37-52. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 95 mexicana“ 7 , zur „primera novela propiamente hispanoamericana“ 8 oder gar zum „comienzo de la novela en la América hispana“ 9 , wobei das Wertungsspektrum von national(istisch)er Glorifizierung bis zu ideologiekritischer Diskreditierung reicht. Folgende Beobachtungen schließen sich keiner der beiden Lesarten an, obschon Lizardis Erzählen gewiss nicht völlig von seinen expositorischen Texten abzulösen ist. Neben den thematischen Schnittstellen verbindet beide ihr didaktischer Gestus, dessen vielschichtige, teils widersprüchliche Intentionalität sich jedoch nicht auf Gründungsakte gleich welcher Art reduzieren lässt. Gegen derlei Rückprojektionen spricht zum einen die konstante, in allen Genres durchschlagende Orientierung an der europäischen und zuallererst französischen Aufklärung. Zum anderen zeigt gerade das Spannungsverhältnis, in dem sich hier narrative Imagination und journalistische Argumentation gegenüberstehen, inwiefern Lizardis Werk einen Prozess literarischer Emanzipation in Gang setzt, an den nachfolgende Generationen in ganz Lateinamerika anknüpfen werden. 10 Vor diesem Hintergrund gibt die Benennung des Conductor Eléctrico vielleicht noch eine weitere Bedeutungsdimension frei, die der Titelformulierung und semantisch verwandten Lexemen aus dem zitierten Vorwort („recibir“, fluido“, „conducirlo“, „se comuniquen“) inhärent ist. Denn als Pressemann und belletristischer Autor 11 ringt Lizardi beharrlich um die 7 So exemplarisch Noël Salomon, „La crítica del sistema colonial de la Nueva España en El Periquillo Sarniento“, in: Cuadernos Americanos 138/ 1 (1965), 166-179, hier 179. Bereits 1868 feiert Ignacio Altamirano (La literatura nacional: revistas, ensayos, biografías y prólogos, hg. von José Luis Martínez, México: Porrúa 1949, Bd. 1, 42) Lizardi als „apóstol del pueblo“. Ein Paradigmenwechsel in der Rezeption zeichnet sich im Umkreis des Ateneo de la Juventud Mexicana ab, als etwa Alfonso Reyes („El Periquillo Sarniento y la crítica mexicana“ [1914/ 16], in: Ders., Obras completas, Bd. 4: Simpatías y diferencias, México: FCE 1956, 169-178) und Mariano Azuela („José Joaquín Fernández de Lizardi“, in: Ders., Cien años de novela mexicana, México: Ed. Botas 1947, 33-51) sowohl die Mexikanität als auch die literarästhetische Qualität des Periquillo Sarniento in Frage stellen. 8 Luis Iñigo Madrigal, „José Joaquín Fernández de Lizardi“, in: Ders. (Hg.), Historia de la literatura hispanoamericana, Bd. 2: Del neoclasicismo al modernismo, Madrid: Cátedra 1987, 135-144, hier 143. 9 Carmen Ruiz Barrionuevo, „Introducción“, in: José Joaquín Fernández de Lizardi, El Periquillo Sarniento [1816/ 1830-31], Madrid: Cátedra ²2008, 7-81, hier 54. Zur literaturgeschichtlichen Schlüsselstellung des Periquillo Sarniento vgl. zudem Klaus Meyer- Minnemann, „Apropiaciones de realidad en las novelas de José Joaquín Fernández de Lizardi“, in: Hans-Otto Dill et al. (Hg.), Apropiaciones de realidad en la novela hispanoamericana de los siglos XIX y XX, Frankfurt/ Main: Vervuert 1994, 47-61. 10 Vgl. González, Journalism and the Development of Spanish American Narrative, 21-99. 11 Neben lyrischen und dramatischen Versuchen sowie seinen Fábulas (1817) verfasst Lizardi noch drei weitere Romane nach El Periquillo Sarniento: Während Noches tristes y día alegre (1818) die Auseinandersetzung mit dem religiösen Diskurs vertieft, erweist sich La Quijotita y su prima (1818/ 1831-32) als moraldidaktischer Erziehungsroman, der ein patriarchales Geschlechterverhältnis postuliert. Don Catrín de la Fachenda 96 Globalisierungsnarrative um 1800 effektive Verbreitung seiner Druckerzeugnisse, die sich ihrerseits - und das keineswegs nur metaphorisch - als elektrische Leiter unzähliger Texte, Meinungen und Diskurse verstehen. Sie entbinden in vielerlei Hinsicht eine Dynamik literarischer Übertragung, wie sie der methodische Aufriss dieser Studie konturiert. Allem voran gilt dies für Lizardis romaneskes Debüt El Periquillo Sarniento, in dem verschiedene und doch simultan emergierende Tendenzen der Kulturgeschichte konvergieren. Wie in einem narrativen Brennglas bündelt die Lebenssumme des einst lasterhaften Periquillo Sarniento und dann geläuterten Pedro Sarmiento 12 gewisse Entwicklungslinien, die in der hispanoamerikanischen Erzählprosa des 19. Jahrhunderts relevant werden und deren Kreuzung den ebenso kontingenten wie aufschlussreichen Einsatzpunkt der in Aussicht gestellten Genealogie markiert. II.2 Thesenbildung Im thesenhaften Vorgriff heißt das zunächst, dass Lizardi die volle Wucht externer Kräfte zu spüren bekommt, die seinerzeit auf hispanoamerikanische Autoren einwirken. Plastisch demonstriert die Entstehung von El Periquillo Sarniento, wie eng auch nach 1800 literarische Fortune mit soziopolitischen Sensibilitäten, ökonomischen Möglichkeiten und medialem Geschick verwoben ist. Um seinen ersten Roman erfolgreich zu platzieren, muss der selbst ernannte Pensador Mexicano nämlich eine Leserschaft rekrutieren, die aufgrund der kolonialen Zensur 13 bis dato lediglich in Ansätzen existiert. Indem er journalistisch bereits erprobte Schreibweisen einbringt, gelingt es ihm aber, den Roman als Gattung in Neuspanien heimisch zu machen. El Periquillo Sarniento entfaltet mithin eine expositorische Rhetorik der Belehrung und Erbauung, die sich in den vielgeschmähten „digresio- (1819-20/ 1832) kann sodann als pikareskes Gegenbild zu El Periquillo Sarniento gelten, weil Lizardi darin die Bekehrung des Schelms ausspart. Vgl. die jeweiligen Besprechungen bei Nancy Vogeley, Lizardi and the Birth of the Novel in Spanish America, Gainesville: Florida UP 2001, 185-255 und Karl-Otto Hübner, Moral und Didaktik im narrativen Werk Fernández de Lizardis, Münster: LIT 1996, 116-199. 12 Zum besseren Verständnis sei darauf hingewiesen, dass der Protagonist fortan je nach Lebensabschnitt entweder mit seinem Spitznamen Periquillo (erlebendes Ich) oder mit dem - nach der Läuterung wieder angenommenen - Geburtsnamen Pedro Sarmiento (erzählendes Ich) benannt wird. Falls beide biographischen Phasen aufgerufen sind, findet sich vielfach die Hilfskonstruktion Pedro-Periquillo. 13 Wie oben angedeutet, kamen weltliche und klerikale Eliten nichtsdestotrotz in den Besitz fiktionaler Literatur, die aus Europa stammte und heimlich oder halboffiziell in Neuspanien kursierte. Bekanntestes Beispiel ist gewiss Cervantes’ Don Quijote, der ungeachtet des Druckverbots in Lateinamerika gelesen wurde; vgl. hierzu den Band von Friedhelm Schmidt-Welle / Ingrid Simson (Hg.), El Quijote en América, Amsterdam u.a.: Rodopi 2010. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 97 nes“ 14 des Textes niederschlägt. Als einer der ersten PR-Profis des Kontinents mobilisiert Lizardi ferner ein breites Arsenal an Kommunikations- und Vertriebsmethoden bis hin zur Integration ausdrucksstarker Illustrationen in den Roman. Sofern er dies paratextuell oder sogar fiktionsintern erörtert, unterstreicht er, dass erst tragfähige Mediendispositive die Teilhabe am ‚Markt symbolischer Güter‘ 15 gewährleisten. Gewissermaßen im Schatten heteronomer Interessenssphären legt El Periquillo Sarniento damit den Grundstein für ein Feld narrativer Produktion, in dem Lizardis Roman zugleich den maßgeblichen Modus des Distinktionsgewinns erfindet: Autorität und Eigenwert verschafft sich der hispanoamerikanische Erzähler, indem er Fremdes arrangiert, indem er einen Fundus von Text- und Wissenskonfigurationen aufbietet und indem er vorrangig aus französischen Quellen schöpft. Exemplarisch vollzieht Lizardi so die Distanzierung einer ehemals oder gerade noch kolonialen Literatur von der aufoktroyierten iberischen Kulturhoheit, an deren Stelle schrittweise Vorbilder aus Frankreich treten. Die absehbaren Überschneidungen machen sich in El Periquillo Sarniento insofern bemerkbar, als darin der spanische Schelmenroman auf Denk- und Gattungsmodelle des Siècle des Lumières trifft. Das pikareske Erzählsyntagma fungiert dabei als Ermöglichungsstruktur, auf deren Basis ein aufklärerisch-empfindsames Sozialisationsverständnis durchkonjugiert wird. Lizardi begnügt sich jedoch nicht mit dem Import europäischer Referenzen, die im Fall der subversiven Anleihen bei Montesquieu, Voltaire und vor allem Rousseau obendrein einen mehrfachen Filter passieren müssen, ehe sie in El Periquillo Sarniento aufscheinen können. Zudem verarbeitet er zahlreiche Momente der novohispanischen Alltagskultur, die sich prononciert in der umgangssprachlichen Diktion seines „estilo de la canalla“ 16 manifestieren. 14 Bereits in der unmittelbaren Rezeption wurde Lizardi dafür heftig kritisiert, worauf er mit der polemischen „Apología de El Periquillo Sarniento“ repliziert, die 1819 im Noticioso General erscheint; zitiert nach: José Joaquín Fernández de Lizardi, Obras, Bd. 8: Novelas, hg. von Felipe Reyes Palacios, México: UNAM 1982, 17-27, hier 20f. 15 Den symbolisch organisierten Markt der Kulturgüter theoretisiert Pierre Bourdieu mehrfach in den 1970er Jahren, u.a. im Beitrag „Le marché des biens symboliques“, in: L’année sociologique 22 (1971), 49-126. Hinsichtlich des literarischen Feldes vertieft er die Überlegungen in Règles de l’art, 234-288. 16 Mit dem so ironisierten Authentizitätsanspruch verteidigt Lizardi den teils koloquialen Erzählstil gegen die Kritik, die ein fiktiver Rezensent namens „señor Ranet“ in der „Apología“ (Obras, Bd. 8: Novelas, 21) vorbringt: „Ahora bien: en mi novela se hallan de interlocutores colegiales, monjas, frailes, clérigos, curas, licenciados, escribanos, médicos, coroneles, comerciantes, subdelegados, marqueses, etcétera; yo he hablado en el estilo de esta clase de personas, ¿y así dice el señor Ranet que novelé en el estilo de la canalla? Luego estos individuos en su concepto son canalla. Sin duda le deben dar las gracias por el alto honor que les dispensa.“ Zur sprachlichen Diversität des Romans vgl. detailliert Vogeley, Birth of the Novel, 82ff./ 134ff. und Enrique Flores, „Lizardi y la voz o cuando los pericos mamen“, in: Iberoamericana 3/ 10 (2003), 57-66. 98 Globalisierungsnarrative um 1800 Was Zeitgenossen aber als Affront gegen das gelehrte Hochspanisch als einzig legitimen Code kolonialer Literatur geißelten, sollte sich rückwirkend als wesentliche Qualität des Romans erweisen, der somit noch nicht zwangsläufig zum zersetzenden „decolonizing discourse“ 17 gerät. Statt politische Maximalthesen zu forcieren, gilt es vielmehr die transkulturelle Kombinatorik zu rekonstruieren, die dem intertextuellen Geflecht des Periquillo Sarniento zugrunde liegt. Wie gefährlich dagegen noch in der historischen Übergangsphase ab 1810 leiseste Regimekritik ist, wird offenkundig, als der vierte Romanband der Zensur zum Opfer fällt, weil er in moderatem Ton die evidenten Ungerechtigkeiten der Sklaverei rügt. 18 Mit seinem Versuch, den Gesichtskreis des hispanoamerikanischen Erzählens medial und kulturell zu weiten, betritt Lizardi zweifelsohne Neuland. Die Diskrepanz zwischen der labilen Äußerungsposition und der angestrebten Selbstbehauptung wird in El Periquillo Sarniento als raumzeitlicher Gegensatz greifbar, da der Roman eine pikaresk verschlungene Topographie mit dem Perfektibilitätsideal der Aufklärung verzahnt. Doch erst die Einführung einer (fiktiven) Herausgeberinstanz ermöglicht, Periquillos Leben von der Geburt bis zum Tod in einem beispielhaften Erziehungsnarrativ zu vollenden. Wie brüchig indes die Teleologie ist, indiziert sowohl die Episodenhaftigkeit der histoire als auch die kontrastive Raumorganisation: Zwischen der biographischen Summa des Erzählers und der Rastlosigkeit des Helden etabliert sich der gattungskonstitutive Antagonismus, den El Periquillo Sarniento in der Binnenfiktion nochmals verschärft. Denn nicht einmal das Zentrum der mexikanischen Hauptstadt vermag Periquillos Mobilität und die sich auffächernde Narration zu bändigen. Es ist geradezu das Markenzeichen des Pícaro, dass er über keinen festen Ort (lieu) verfügt, sondern immer nur vorübergehend Zuflucht in den durchquerten Räumen (espaces) findet. 19 Sein Weg durch Institutionen und Milieus, durch Neuspanien und darüber hinaus gleicht einem Parcours, der 17 So die etwas überzogene Gesamtthese bei Nancy Vogeley (Birth of the Novel, 1-26), deren minutiöse Textanalytik darunter mitnichten leidet. 18 Es war wohl der Vizekönig Juan José Ruiz de Apodaca höchstpersönlich, der die Auslieferung des vierten Bandes untersagte. Zu den Umständen der Zensur vgl. bündig Felipe Reyes Palacios, „Advertencias editoriales“, in: Lizardi, Obras, Bd. 8: Novelas, XXXIX-XLVIII. Sowohl Lizardis Publikationsersuchen als auch die Urteilsschreiben des Zensors sind abgedruckt in: José Joaquín Fernández de Lizardi, El Periquillo Sarniento [1816/ 1830-31], hg. von Carmen Ruiz Barrionuevo, Madrid: Cátedra 1997, 720f. Alle weiteren Belege aus dieser Ausgabe erscheinen fortan mit der Sigle PS sowie entsprechender Seitenangabe versehen im laufenden Text. Vollständig konnte El Periquillo Sarniento erst posthum 1830/ 31 im unabhängigen Mexiko erscheinen. 19 Obige Terminologie (lieu, espace, parcours) referiert auf Michel de Certeau (L’invention du quotidien. I. Arts de faire [1980], nouvelle édition, hg. von Luce Giard, Paris: Gallimard/ Folio 1990, 170-180), dessen Konzept der Raumpraxis in Abschnitt II.5.2 dieser Lektüre aufbereitet wird. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 99 zufallsbedingt verläuft und der die Heimkehr des Protagonisten in einen ereignislosen Epilog verbannt. Beides zusammen - die finale Sesshaftigkeit des Gutmenschen Pedro Sarmiento und Periquillos „yerros“ (PS 916) - ist gleichwohl zu berücksichtigen, will man die Logik des Kompromisses verstehen, die sich einerseits der Schelm zueigen macht, um zu überleben. In der gespaltenen Persönlichkeit des Pedro-Periquillo erkennt man andererseits die Umrisse des Autors wieder, der dem tierischen Namen seines Titelhelden insofern alle Ehre macht, als er die Kunst der Nachahmung und der gekonnten Manipulation des Nachgeahmten perfektioniert. Allein indem er seine volle Kompetenz ausspielt und sowohl regional als auch global ausgerichtet, sowohl moralisch wertvoll als auch ästhetisch innovativ erzählt, kann sich der hispanoamerikanische Prosaschriftsteller Anfang des 19. Jahrhunderts ein Mindestmaß an literarischer Selbstbestimmung sichern. Erste Schritte in diese Richtung geht José Joaquín Fernández de Lizardi, der sich vom umtriebigen Journalisten zum Romancier aufschwingt und als perico, als transkultureller Vielsprecher und Papagei seinen Erstling verfasst. II.3 Der Romancier als Feld- und Medienpionier Allerdings muss er hierfür auf einem elementaren Niveau ansetzen, existieren doch zur Zeit, als El Periquillo Sarniento entsteht (wohl ab 1812) und wenig darauf erscheint (1816), 20 kaum Standards für literarische Aktivitäten in Neuspanien. Während die Klassifizierung fiktionaler Texte den ebenso rigiden wie beliebigen Zensurkriterien der Inquisition überlassen ist, 21 weist der Typus des berufsmäßigen escritor - und näherhin des novelista - noch in ferne Zukunft. Umso dringlicher stellt sich allen, die mit ihren Werken an die Öffentlichkeit treten wollen, Pierre Bourdieus entscheidende Frage, qui est autorisé à se dire écrivain (etc.) où même à dire qui est écrivain et qui a autorité pour dire qui est écrivain; ou, si l’on préfère, le monopole du 20 Die Entstehungs- und Editionsgeschichte des Periquillo Sarniento rekonstruiert Jefferson Rea Spell, „The Genesis of the First Mexican Novel“, in: Hispania 14/ 1 (1931), 53- 58 und Ders., „A Textual Comparison of the First Four Editions of El Periquillo Sarniento“, in: Hispanic Review 31 (1963), 134-147. Spells breit gefächerte Lizardi-Studien, die v.a. die biographische und soziohistorische Folie des Periquillo Sarniento beleuchten, finden sich zusammengefasst in: Jefferson Rea Spell, Bridging the Gap. Articles on Mexican Literature, México: Ed. Libros de México 1971. 21 Die Pressefreiheit, die dank der Constitución de Cádiz im Oktober 1812 auch in Neuspanien eingeführt wird, hält gerade einmal zwei Monate, ehe sie der Vizekönig abermals (bis 1820) außer Kraft setzt. Einen Überblick zu Lizardis wiederkehrenden Konflikten mit der Zensur gibt Nancy Vogeley, „José Joaquín Fernández de Lizardi and the Inquisition“, in: Dieciocho 3 (1980), 126-135. 100 Globalisierungsnarrative um 1800 pouvoir de consécration des producteurs ou des produits. Plus précisément, la lutte entre les occupants des deux pôles opposés du champ de production culturelle a pour enjeu le monopole de l’imposition de la définition légitime de l’écrivain, et il est compréhensible qu’elle s’organise autour de l’opposition entre l’autonomie et l’hétéronomie. 22 Obschon unter den gegebenen Umständen von einem ‚Feld kultureller Produktion‘ noch gar nicht die Rede sein kann, ist es eines der unstrittigen Verdienste Lizardis, die „définition légitime de l’écrivain“ überhaupt als Desiderat erkannt zu haben. Der gebürtige Hauptstädter ist nämlich keineswegs willens, diese Definitionsmacht voreilig aus der Hand zu geben und sich publizistisch einem Diktat zu unterwerfen. Trotzdem kann er es sich nicht leisten, dem kolonialen Kontroll- und Förderapparat mit offenem Visier zu begegnen. Es verbietet sich daher, als unabhängiger Schriftsteller aufzutreten oder gar die Verfügungsgewalt über den Titel zu beanspruchen. Lizardi liegt die literarische Anmaßung schon deshalb fern, weil sie unweigerlich rechtliche Konsequenzen nach sich zöge und er zumindest bis 1820 - als eine neue Verfassung endgültig die Zensur aufhebt - einmal mehr um seine Freiheit, womöglich um Leib und Leben fürchten müsste. Nach seiner zweiten Inhaftierung vom Dezember 1812 bis zum Juni 1813 23 vermeidet er vorerst unverhohlene Äußerungen zum tagesaktuellen Geschehen. Deren Brisanz, ja persönliche Gefahr verrät die einzige Einlassung, die in El Periquillo Sarniento ausdrücklich die „[é]poca verdaderamente fatal y desastrosa para la Nueva España“ bzw. die „insurreción que se suscitó en el Reino el año de 1810“ (PS 917) aufruft, um postwendend wieder davon abzublenden (PS 917): „¡Cuántas reflexiones pudiera haceros sobre el origen, progresos y probables fines de esta guerra [...]; pero es muy peligroso escribir sobre esto y en México el año de 1813.“ 24 Ungeachtet des politischen Maulkorbs möchte Lizardi natürlich nicht ganz auf Stellungnahmen verzichten, weshalb der bisherige Journalist unversehens den Schauplatz wechselt. Diese Verlagerung und Ausweitung der Kampfzone charakterisiert Ángel Rama treffend als implizite Provokation, 22 Bourdieu, Règles de l’art, 366f. 23 Anlass der Verhaftung war ein an den Vizekönig gerichtetes Bittschreiben, das Lizardi am 3. Dezember 1812 im Pensador Mexicano abdruckt, um die Verurteilung aufständischer Priester durch Militärgerichte zu verhindern; vgl. José Joaquín Fernández de Lizardi, Obras, Bd. 3: Periódicos (El Pensador Mexicano), hg. von María Rosa Palazón / Jacobo Chencinsky, México: UNAM 1968, 83-90. 24 Erst 1825, als Mexiko unabhängig ist, wagt Lizardi in einer „Advertencia precisa“ zu El Periquillo Sarniento offen die Repressionen anzusprechen, denen er unter der Kolonialherrschaft ausgesetzt war (PS 87): „Es menester tener presente que esta obra se escribió e imprimió en el año 1816, bajo la dominación española, estando el autor mal visto de su gobierno por patriota, sin libertad de imprenta, con sujeción a la censura de oidores, canónigos y frailes; y lo que es más que todo, con la necia y déspota Inquisición encima.“ Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 101 die, statt staatliche oder kirchliche Organe direkt zu attackieren, deren Repräsentanten auf intellektuellem und ästhetischem Terrain, also den Zirkel oftmals selbst ernannter letrados herausfordert. Abzüglich des ideologiekritischen Untertons ist Rama darum sicherlich zuzustimmen, wenn er konstatiert, que la obra entera del Pensador Mexicano es un cartel de desafío a la ciudad letrada, mucho más que a España, la Monarquía o la Iglesia, y que su singularidad estriba en la existencia de un pequeño sector ya educado y alfabetizado que no había logrado introducirse en la corona letrada del Poder aunque ardientemente la codiciaba. 25 Da sie etliche Fragen aufwirft, sei hier von der soziologischen Bestimmung des aufstrebenden „pequeño sector ya educado y alfabetizado“ bewusst abgesehen. Fest steht aber, dass mit Lizardi ein Autor das Wort ergreift, der nicht mehr als anerkannter Gelehrter im gegenseitigen Einverständnis mit den Herrschenden operieren kann. Auch wenn er seine Texte allzu gerne im Windschatten vizeköniglicher Kulturpolitik aufgehoben sähe, ist er gezwungen, an deren Ränder auszuweichen oder diese von innen her zu reformieren. 26 Ebendies versucht er in seinem Debütroman, indem er einerseits das Spektrum potentieller Adressaten erweitert sowie andererseits literarische und intellektuelle Kontroversen in die narrative Fiktion hinein verlegt. So kommt es einer regelrechten Profanation gleich, wenn El Periquillo Sarniento das Sprachkunstwerk seiner wohlbehüteten Inkommensurabilität entkleidet und ohne jede Scheu als Resultat kommunikationstechnischer Vermittlung, kommerzieller Vermarktung und transkultureller Verhandlungen ausstellt. 25 Rama, Ciudad letrada, 59. 26 Selbstverständlich ist der Forschung nicht entgangen, dass El Periquillo Sarniento maßgeblich zur Neuordnung der kolonialen Schriftkultur beiträgt, wobei der Roman entweder als subversive Infragestellung oder neokoloniale Perpetuierung der hegemonialen ciudad letrada gelesen wird. Vgl. hierzu etwa Mabel Moraña, „El Periquillo Sarniento y la ciudad letrada“, in: Dies., Políticas de la escritura en América Latina. De la Colonia a la Modernidad, Caracas: ExCultura 1997, 17-29; Juan Pablo Dabove, „Ficción autobiográfica y letrado ‚nacional‘: Sobre El Periquillo Sarniento de Fernández de Lizardi“, in: Hispanic Culture Review 5/ 1-2 (1998/ 99), 53-66; Ders., „Espejos de la ciudad letrada: el ‚arrastraderito‘ y el juego como metáforas políticas en El Periquillo Sarniento“, in: Revista Iberoamericana 65/ 186 (1999), 31-48; Danuta Teresa Mozejko „El letrado y su lugar en el proyecto de nación: El Periquillo Sarniento de Fernández de Lizardi“, in: Revista Iberoamericana 73/ 218 (2007), 227-242. Aileen El-Kadi („Utopía nacional, reforma y represión en El Periquillo Sarniento“, in: Colorado Review of Hispanic Studies 2 (2004), 25-41, hier 28) bringt in diesen Kontext Bourdieus Feldtheorie ein, beschränkt sich aber auf politische Deutungsoptionen, womit El Periquillo Sarniento wiederum als „proyecto de educación y formación del ciudadano de la nueva nación“ erscheint. 102 Globalisierungsnarrative um 1800 II.3.1 Ein Habitus der Flexibilität: Der Roman im Zeichen medialer und ökonomischer Avantgarde Obgleich oder gerade weil ihm der Zutritt zur kolonialen ciudad letrada verwehrt bleibt, macht Lizardi literarisch Karriere. Anteil daran haben gewiss auch die (sozio-)biographischen Dispositionen 27 , die in das Schaffen des Pensador eingehen, ohne darin freilich einen eindimensionalen Abdruck zu hinterlassen. So muss der 1776 geborene Spross eines wenig vermögenden Mediziners mexikanischer Herkunft und einer spanischstämmigen Mutter bereits früh ein Praxiswissen erwerben, das er auf dem Weg zum Schriftsteller bestens gebrauchen kann. 1780, als sein Vater endlich Aussicht auf eine feste Anstellung hat, zieht die Familie von Mexiko-Stadt nach Tepotzotlán, wo Lizardi seine Schullaufbahn beginnt, die ihn alsbald wieder in die Hauptstadt führen wird. Dort besucht er die Lateinschule und später das renommierte Colegio de San Ildefonso, in dem er neben diversen anderen Fächern ab 1797 ein Rhetorikstudium absolviert und nebenbei extensiver Lektüre frönt. Noch ehe er den Grad des bachiller erlangt, muss er 1798 nach Tepotzotlán zurückkehren und nach dem Tod des Vaters selbst für sich sorgen. Über Lizardis Verbleib zwischen 1798 und 1808 ist wenig bekannt, augenscheinlich gelingt es ihm aber, sich mit einem niederen Richter- und Verwaltungsamt ein Auskommen zu sichern sowie 1805 zu heiraten. Alles andere - darunter mutmaßliche Eskapaden in der Halbwelt - ist kaum zum belegen, bis 1808 als erste literarische Arbeit ein Huldigungsgedicht auf Fernando VII. erscheint und Lizardi Anfang 1811 verhaftet wird, weil er als subdelegado von Taxco den Aufständischen das Waffenlager überlässt. Im Umkreis der verworrenen Episode 28 reift wohl auch Lizardis Überlegung, seinen Lebensunterhalt fortan mit der Feder zu verdienen. Beginnend offensichtlich mit dem Erwerb einer privaten Druckerpresse (1810) 29 über Beiträge im Diario de México bis hin zur ersten eigenen Zeitung des Pensador Mexicano (1812-1814) und den folgenden Periodika durchläuft er 27 Zur Relevanz der „dispositions“ im Kunstbetrieb vgl. Pierre Bourdieu, „Disposition esthétique et compétence artistique“, in: Les Temps Modernes 295 (1971), 1345-1378 und Ders., Règles de l’art, 378ff./ 435ff. Die Angaben zu Lizardis Biographie orientieren sich an den akribischen Quellenstudien von Jefferson Rea Spell, The Life and Works of José Joaquín Fernández de Lizardi, Philadelphia: Pennsylvania UP 1931, 9-54 sowie den konzisen Chronologien bei Vogeley, Birth of the Novel, 30-33 und Ruiz Barrionuevo, „Introducción“, in: PS, 9-15. 28 Vgl. Jefferson Rea Spell, „Lizardi and Taxco“, in: The Library Chronicle of the University of Texas 7/ 4 (1964), 3-25. 29 Siehe Vogeley, Birth of the Novel, 31 und Paul Radin (An Annotated Bibliography of the Poems and Pamphlets of J. J. Fernández de Lizardi: The First Period (1808-1819), San Francisco: California State Library 1940, 4f.), der hierzu auf Lizardis „Breve sumaria por el Pensador Mexicano al Señor Don Antonio León“ ([1824], in: Obras, Bd. 13: Folletos 1824-1827, 85-97) verweist. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 103 eine publizistische Schulung, die gleichermaßen rhetorische, editorische und technische Fähigkeiten umfasst. Zusammen mit der biographischen Prägung, in der materielle Limitationen und ein geringer Sozialstatus mit eklektischer Bildung einhergehen, schafft dieser Kursus die Voraussetzung für eine Flexibilität, die Lizardis literarischen Habitus 30 stets kennzeichnen wird. Hierher rührt sein Vermögen, kurzfristig Entscheidungen zu treffen oder zu revidieren, veränderte Bedingungen mit spontanen Platzwechseln, d.h. Medien-, Gattungs- oder Stilwechseln zu kontern oder Risiken einzugehen, die nicht selten die schiere Not diktiert. Der Entschluss zu einem fiktionalen Prosawerk, den Lizardi erstmals im Februar 1812 brieflich erwähnt, ist vor dieser Kulisse zu erläutern. Ob ihn tatsächlich die strengen Zensurbestimmungen dazu bewogen haben, zeitweise aufs narrative Fach umzusatteln, bleibt zwar Spekulation. 31 Unstrittig sagen lässt sich indes, dass er die Umbruchsituation erkennt, in der sich ab 1800 Kulturinstitutionen und ästhetische Bewertungsmaßstäbe in Neuspanien befinden. Konsequent macht er sich die Abnutzungserscheinungen der scholastischen Wissensordnung und den allseits beklagten Mangel an einheimischer Belletristik 32 zunutze, um daraus nicht nur literarisches Kapital zu schlagen. Der Roman bietet sich dabei insofern an, als ihn die Öffentlichkeit zwar weiterhin als genuin europäische Gattung ansieht, doch immer mehr Gefallen an den spärlich kursierenden Beispielen findet. Wendigkeit und Unvoreingenommenheit, weitläufige Leseerfahrungen sowie seine kommunikativen Fähigkeiten qualifizieren Lizardi in besonderer Weise, das Terrain für die novela auf dem Kontinent zu bestellen. Rückblickend ist er sich dann auch vollauf bewusst, mit El Periquillo Sar- 30 Um zwischen existentialistischer Subjektphilosophie und objektivistischem Strukturalismus zu vermitteln, führt Pierre Bourdieu seinen Schlüsselbegriff des Habitus ein. Der Habitus bezeichnet das Ensemble erworbener Deutungs-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, das vom umgebenden Feld bestimmt wird und seinerseits auf dieses Feld zurückwirkt. Weil der Terminus individuelle Handlungsfreiheit und soziohistorische Determination, Praxis und Struktur korreliert, definiert Bourdieu den Habitus auch suggestiv als „histoire devenue nature“. Vgl. Pierre Bourdieu, Esquisse d’une théorie de la pratique, Genève: Droz 1972, bes. 174ff.; Ders., „Champ du pouvoir, champ intellectuel et habitus de classe“, in: Scolies 1 (1971), 7-26 sowie in literatursoziologischer Anwendung: Bourdieu, Règles de l’art, 426-435. 31 Die Annahme eines ebenso erzwungenen wie raffiniert ausgenutzten Genrewechsels hat freilich einiges für sich, wie u.a. Noël Salomon („Introduction à J. J. Fernández de Lizardi, romancier ‚malgré lui‘ dans El Periquillo Sarniento“, in: Mélanges à la mémoire de Jean Sarrailh, Paris: Institut d’Études Hispaniques 1966, Bd. 2, 325-343, hier 327) und Cathérine Raffi-Béroud (En torno al teatro de Férnandéz de Lizardi, Amsterdam u.a.: Rodopi 1998, 82f.) zeigen. 32 Seit der Jahrhundertwende rufen Zeitungsartikel und Dichterwettbewerbe zur Implementierung einer dezidiert neuspanischen bzw. mexikanischen Literatur auf, wie Vogeley (Birth of the Novel, 59ff.) materialreich belegt. 104 Globalisierungsnarrative um 1800 niento in eine ‚strukturelle Lücke‘ 33 gestoßen zu sein, deren Schließung bereits virtuell im literarischen Gefüge Hispanoamerikas angelegt war. Mit einigem Stolz hebt er in der Ankündigung der zweiten Ausgabe - von der 1825 nur zwölf Kapitel erscheinen - dieses Alleinstellungsmerkmal hervor, das seine „obrita“ in ganz Amerika auszeichne: Sin meterme a calificar el mérito de mi obrita titulada El Periquillo Sarniento, porque la calificación pertenece al público ilustrado, sólo diré que el aprecio que este público ha hecho de la tal obra excedió infinitamente a mis esperanzas, porque se acabó la impresión, se ha pagado hasta por el cuádruplo de su valor, no se halla en el día un ejemplar, y muchos me ruegan porque la reimprima, y todo esto con la notable circunstancia de estar trunca, es decir, faltando el último tomo, donde está el desenlace de todas las historias que en la obra se versan. Todo esto me hace creer que este ilustrado público recibirá con gusto esta obrita que, sea cual fuere su mérito, es la única romancesa que se ha escrito en su clase en ambas Américas. 34 Als El Periquillo Sarniento ein Jahrzehnt zuvor entsteht, vermisst man ein ähnlich flammendes Bekenntnis zum Roman. Vom ursprünglich kompletten Titel an ist Lizardi vielmehr bestrebt, seine Vida de Periquillo Sarniento, escrita por él para sus hijos, y publicada para los que la quieran leer, por don J. F. de L., autor del periódico titulado El Pensador Mexicano 35 nicht ausschließlich als narrative Fiktion zu präsentieren. Mit der Bezugnahme auf den 1812 bis 1814 herausgegebenen Pensador Mexicano stellt er hingegen eine unmittelbare Verbindung mit seinen journalistischen Unternehmungen her, was die Titelei der ersten Ausgaben mit der Kurzfassung El Periquillo Sarniento, por el Pensador Mexicano (PS 84) nochmals akzentuiert. Die Janusköpfigkeit des Pensador Mexicano, der sich als Autorenpseudonym und Figur vervielfäl- 33 Als „lacune structurale“ fasst Bourdieu (Règles de l’art, 386) eine im Feld vorab angelegte Alternative literarischer Innovation: „Pour que les audaces de la recherche novatrice ou révolutionnaire aient quelques chances d’êtres conçues, il faut qu’elles existent à l’état potentiel au sein du système des possibles déjà réalisés, comme des lacunes structurales qui paraissent attendre et appeler le remplissement, comme des directions potentielles de développement, des voies possibles de recherche.“ Lizardis importierte Erfindung des hispanoamerikanischen Romans gleicht somit rückwirkend einer veritablen ‚Prädestination‘, wie Bourdieu sie folgendermaßen beschreibt (ebd., 392): „[L]’appel qu’elles [scil. les lacunes structurales] enferment n’est jamais entendu que de ceux qui, du fait de leur position dans le champ, de leur habitus et du rapport (souvent de discordance) entre les deux, sont assez libres à l’égard des contraintes inscrites dans la structure pour être en mesure d’appréhender comme étant leur affaire propre une virtualité qui, en un sens, n’existe que pour eux. Ce qui donne à leur entreprise, après coup, les apparences de la prédestination.“ 34 José Joaquín Fernández de Lizardi, „Aviso a la Santa Liga“ [1825], in: Obras, Bd. 13: Folletos 1824-1827, 316f. 35 Zitiert nach: Lizardi, „Prospecto de la vida o aventuras de Periquillo Sarniento“ [1815], in: Obras, Bd. 8: Novelas, 1-9, hier 8. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 105 tigt, ist im Auge zu behalten. Vorerst kommt es aber hauptsächlich auf den publizistischen „modus operandi“ 36 an, mit dem Lizardi seinen Roman nahezu ex negativo in Stellung bringt. Bezeichnenderweise warnt der Held mehrfach davor, seine Lebensbeichte leichtfertig dem Reich der Einbildung zuzuschlagen. Nachdem er bereits zu Beginn die eigenen Jugendlektüren als gefährliche Stimulanzien der Phantasie (PS 136) verteufelt hat, empfiehlt Pedro Sarmiento seinen Kindern, die ihnen vermachten Memoiren im Zeichen der Abschreckung und Belehrung zu rezipieren (PS 522): Lo que apeteciera, hijos míos, sería que no leyerais mi vida como quien lee una novela, sino que pararais la consideración más allá de la cáscara de los hechos, advirtiendo los tristes resultados de la holgazanería, inutilidad, inconstancia y demás vicios que me afectaron; haciendo análisis de los extraviados sucesos de mi vida [...]. Esto es deciros, hijos míos, que deseara que de la lectura de mi vida sacarais tres frutos, dos principales y uno accesorio: amor a la virtud, aborrecimiento al vicio y diversión. Während jedoch der Protagonist den Wahrheits- und Moralgehalt der autodiegetischen Erzählung beteuert, 37 liegt Lizardi in seiner nachträglichen „Apología“ sehr wohl daran, eine „novela“ 38 verfasst zu haben. Und zwar nicht irgendeine: Um die Kritik der Stilunreinheit zu entkräften, beruft er sich auf die „obra maestra en clase de romances“, die selbstverständlich „el Quijote de Cervantes“ 39 ist und deren Erbe El Periquillo Sarniento antreten möchte. Ohne die gattungstypologische Zugehörigkeit ernstlich in Abrede zu stellen, umgeht Lizardi hingegen im Vorhinein das Etikett des Romans, vermutlich weil Letzterer auf neuspanischem Boden noch keine sichere Akzeptanz genießt. Mit dem plakativen Verweis auf seinen journalistischen nom de plume macht er zudem den Ruf geltend, der ihm auf diesem Gebiet vorauseilt und der ihn jetzt als novelista ins Gespräch bringen soll. 40 36 Mit diesem Terminus bezeichnet Bourdieu (Règles de l’art, 446) die praxisrelevanten „dispositions cognitives et évaluatives d’un habitus spécifique“. 37 Hier noch eine weitere Lektüreanleitung, die Pedro-Periquillo seinen Kindern mit auf den Weg gibt (PS 831): „Nada de fabuloso tiene la historia que habéis oído, queridos hijos míos; todo es cierto, todo es natural, todo pasó por mí, y mucho de este todo, o acaso más, ha pasado, pasa y puede pasar a cuantos vivan entregados como yo al libertinaje y quieran sostenerse y aparentar en el mundo a costa ajena, sin tener oficio ni ejercicio, ni querer ser útiles con su trabajo al resto de sus hermanos.“ 38 Lizardi, „ Apología“, in: Obras, Bd. 8: Novelas, 21. 39 Beide Zitate: Lizardi, „ Apología“, in: Obras, Bd. 8: Novelas, 20. 40 Die Berührungspunkte zwischen Lizardis Journalismus und El Periquillo Sarniento präzisieren González, Journalism and the Development of Spanish American Narrative, 21- 41; Ders., „Periodismo y narrativa en la Hispanoamérica del siglo XIX: El caso de El Periquillo Sarniento“, in: González-Stephan et al. (Hg.), Esplendores y miserias del siglo XIX, 331-355 sowie Lara, Discurso subversivo, 39ff. 106 Globalisierungsnarrative um 1800 Das Verwirrspiel der Genera verfolgt eine klare Absicht; es bezweckt die Neuanwerbung und Bindung eines Publikums, das vorrangig aus den Reihen gewohnheitsmäßiger oder noch zu gewinnender Zeitungskonsumenten stammt. Denn, so konstatiert Ottmar Ette, „innerhalb des bestenfalls embrionär vorhandenen neuspanischen Marktes für novohispanische literarische Produkte konnte er [scil. Lizardi] als Herausgeber des […] Pensador Mexicano darauf hoffen, durch die Bekanntheit seines Namens einen bestimmten Leserkreis insbesondere innerhalb der kreolischen Leserschaft zu erreichen.“ 41 Eingedenk der historischen Umstände, der geringen Alphabetisierungsquote, der schwerfälligen Informationswege und der sozialen Exklusivität möglicher Adressaten - vorrangig aus der urbanen Oberschicht 42 -, ist Lizardis gezielte Lancierung durchaus aufgegangen. Schätzungen beziffern die erste Auflage seines Debütromans auf immerhin 500 Exemplare, 43 was noch nichts über dessen wirkliche Bekanntheit aussagt, die dank Verleih, Erwähnung in Zeit- und Flugschriften oder Mund-zu- Mund-Propaganda erheblich darüber hinausgegangen sein dürfte. 44 Binnen kurzem kann Lizardi sich jedenfalls des weiten Radius rühmen, in dem El Periquillo Sarniento zirkuliert sowie einen monetären und teils symbolischen Wertzuwachs erfahren hat. In der Verteidigungsschrift von 1819 vermischen sich zwar Fakten mit Gerüchten und reinem Wunschdenken, da weder der einhellige Beifall der „censores“ noch die internationale Bekanntheit des Romans verbürgt ist. Dennoch pocht Lizardi zu Recht auf die vorbildliche Erfüllung seiner ‚Autorpflichten‘, die er in El Periquillo Sarniento weniger im horazischen als vielmehr in einem beinahe modernen Sinn performiert und neu definiert hat: Finalmente, la general aceptación con que mi Periquillo ha sido recibido en todo el Reino, la calificación honrosa que le dispensaron los señores censores, los elogios privados que ha recibido de muchas personas literatas, el aprecio con que en el día se ve, la ansia con que se busca, el excesivo precio a que las compran y la escasez que hay de ella, me hacen creer no sólo que no es mi obrita tan mala y disparatada como ha parecido [...], sino que he 41 Ottmar Ette, „Fernández de Lizardi: ‚El Periquillo Sarniento‘. Dialogisches Schreiben im Spannungsfeld Europa - Lateinamerika“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 22/ 1-2 (1998), 205-237, hier 212. 42 Lizardis kultivierte Leserschaft besteht laut Nancy Vogeley („Defining the ‚Colonial Reader‘: El Periquillo Sarniento“, in: PMLA 102/ 5 (1987), 784-800, hier 785) aus „members of the military, ecclesiastical, administrative, and commercial classes in Mexico City and in the provincial capitals“. 43 Die Ziffer lässt sich mit Rechengeschick aus Lizardis editorischen Angaben ableiten; vgl. Reyes Palacios, „Advertencias editoriales“, in: Lizardi, Obras, Bd. 8: Novelas, XL. 44 Zu zeitgenössischen Praktiken der Publizistik vgl. Nancy Vogeley, „Mexican Newspaper Culture on the Eve of Mexican Independence“, in: Ideologies and Literature 4/ 17 (1983), 358-377. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 107 cumplido hasta donde han alcanzado mis pobres talentos con los deberes de escritor. Éstos son según Horacio enseñar al lector y entretenerlo: Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci, lectorem delectando pariterque monendo. Y si es cierto lo que dice este poeta de que el libro que reúne en sí estas dos condiciones, da dinero a los libreros, pasa los mares y eterniza el nombre de autor, Hic meret aera liber sociis, hic et mare transit et longum noto scriptori prorrogat aevum. Yo he tenido la fortuna de ver en mi Periquillo las dos primeras señales. Los libreros han ganado dinero con él comprándolo con estimación y vendiéndolo con más, lo que están haciendo en el día. Ha navegado la obra para España, para La Habana y para Portugal con destino de imprimirse allí; me aseguran que los ingleses la han impreso en su idioma y que en México hay un ejemplar. 45 Es käme einem Anachronismus gleich, wollte man die „deberes de escritor“, von denen hier die Rede ist, am ohnehin hypothetischen Maximum ästhetischer Autonomie messen. Verkannt wäre solcherart, dass Anfang des 19. Jahrhunderts allein das Eingeständnis kommerzieller Interessen wegweisend, ja avantgardistisch anmuten kann. Gemeint ist freilich eine buchstäbliche Avantgarde, da Lizardi auf eigene Gefahr vorausprescht, um El Periquillo Sarniento ineins als literarisches Unikat und als rentable Ware anzupreisen. Die Akribie, mit der er im Werbeprospekt (1815), in den „Advertencias a los señores subscriptores“ (1816) oder in der schon erwähnten „Apología“ (1819) 46 Kalkulationen anstrengt, ist ohne Frage bemerkenswert. Während andernorts noch mäzenatische Abhängigkeits- und klientelistische Dienstverhältnisse dominieren, visiert Lizardi bereits den professionellen Vertrieb seines Romans an. Nicht umsonst hat es die fiktionsinterne Satire gerade auf die Schar großzügig subventionierter letrados abgesehen, die in die eigene Tasche wirtschafteten, ihren Besitz horteten sowie durchgehend borniert, faul und überflüssig seien. Angefangen von den Lehrern, die Periquillo unterrichten (PS 116-244), über korrupte Akademiker wie dem „escribano Chanfaina“ (PS 479-498) oder dem großsprecherischen „doctor Purgante“ (PS 522-546) bis hin zur komischen Entstellung des aufgeblähten Justizapparats, ohne jede Nachsicht diffamiert El Periquillo Sarniento die alteingesessene Gelehrtenelite, deren wahres Gesicht schon einer der Prologe aufdeckt (PS 97): „[E]n esta mi obrita hablo de los malos jueces, de los escribanos criminalistas, de los abogados embrolladores, de los médicos desaplicados […].“ 45 Lizardi, „Apología“, in: Obras, Bd. 8: Novelas, 25f. 46 Vgl. Lizardi, Obras, Bd. 8: Novelas, 1-9 („Prospecto“), 39-41 („Advertencias“ ) sowie 17-27 („Apología“). 108 Globalisierungsnarrative um 1800 Gänzlich anders geriert sich der selbstverantwortliche escritor, dessen Aufgabenbereich Lizardi erstmals absteckt und dem er in seinem Roman eine Stimme verleiht. Obschon er weiterhin ein Mann der Schrift ist, der die zeitgenössischen Text- und Wissensbestände kennt, tritt er zugleich als Mann der Tat auf, dessen geistige Produktion mit den Erträgen handwerklicher Arbeit konkurriert. 47 Einer proto-kapitalistischen Marktlogik entsprechend 48 weiß der Verfasser des Periquillo Sarniento genau, worauf und besonders auf wen er sein Augenmerk richten muss, um sein literarisches Erzeugnis profitabel zu veräußern: [L]os que la quieran leer, wie es im vollen Titel hieß; also diejenigen, die sein Werk lesen mögen, nimmt er in Beschlag, sie sucht er mit einem ansprechenden Format und einer verdaulichen Erzählweise zu ködern. Das erfordert zuallererst eine attraktive Aufmachung und Verbreitung des Romans, den Lizardi wohlweislich nicht im teuren Buchdruck herausgibt. Stattdessen erscheinen die ersten drei (zugelassenen) Bände in Subskriptionslieferungen, die zwischen Februar und Juli 1816 zweimal pro Woche die Abonnenten erreichen und je ein Fortsetzungskapitel enthalten. 49 Neben den moderaten Kosten - „cuatro pesos para la ciudad, y cuatro pesos cuatro reales para fuera“ 50 - bietet die novela por entregas den Vorteil, überschaubare Lesemengen zu portionieren und die Kaufbereitschaft zusätzlich per suspense-Effekt zu stimulieren. Die gespannte Erwartung des Publikums dürfte übrigens die Ursache gewesen sein, weshalb Lizardi 1817 die Hürden der Zensur umgeht und mehrere handschriftliche Exzerpte des verbotenen vierten Bandes in Umlauf bringt. Ernest R. Moores 51 diesbezügliche Entdeckung einer Originalausgabe im 47 Wenn Benítez-Rojo („José Joaquín Fernández de Lizardi and the Emergence of the Spanish American Novel as National Project“, in: Doris Sommer (Hg.), The Places of History: Regionalism Revisited in Latin America, Durham u.a.: Duke UP 1999, 199-213, hier 206) und Mozejko („El letrado y su lugar“, 236ff.) El Periquillo Sarniento hingegen als Fortschreibung der kolonialen Subsistenzwirtschaft und Gelehrtenkultur lesen, so unterschlagen sie schlichtweg die romaneske Rahmenpragmatik, die mit Lizardi einen Autor präsentiert, der auf dem Literaturmarkt reüssieren will. 48 Daran ändert auch die Utopie eines sozialistischen, auf Ackerbau basierenden Gemeinwesens nichts, die der vorbildliche Oberst - einer von Periquillos Dienstherren - entwirft (PS 713-717). Vor dem Hintergrund der Ökonomisierung, die den Schriftsteller Lizardi umtreibt und die er in Paratexten des Romans expliziert, gerät sie ebenso zum Anachronismus wie Periquillos unproduktive Bildungskarriere und Adelssucht. 49 Daneben bietet Lizardi („Prospecto“, in: Obras, Bd. 8: Novelas, 8) die Romankapitel auch im Einzelverkauf loser pliegos an, wobei sich der Preis entsprechend erhöht. Unter dem Gesichtspunkt nationaler Gemeinschaftsbildung diskutiert Lizardis narratives und mediales Experiment der „serialized novel“ Amy E. Wright, „Serial Space- Time as a New Form of National Consciousness: The Case of Lizardi’s El Periquillo Sarniento (1816)“, in: Bulletin of Spanish Studies 93/ 5 (2016), 839-857. 50 Lizardi, „Prospecto“, in: Obras, Bd. 8: Novelas, 8. 51 Vgl. Ernest R. Moore, „Un manuscrito inédito de Fernández de Lizardi: El compendio del tomo cuarto de El Periquillo Sarniento. I: Ensayo crítico / II: El manuscrito“, in: Ábside 3/ 11 (1939), 3-13 und Ábside 3/ 12 (1939), 3-30. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 109 Jahr 1938 bewies abermals, wieviel der Mexikaner für den literarischen Erfolg aufs Spiel setzt und welch mannigfaltige Vermittlungswege er dafür ausschöpft. Die Rezipientenbindung steht bereits im Vordergrund der autorisierten Veröffentlichung, die sich keineswegs mit dem bloßen Abdruck des Textes zufriedengibt. Lizardi und sein Verleger Alejandro Valdés nehmen sogar eine Erhöhung ihres kargen Budgets in Kauf, um die ausgelieferten pliegos auch optisch aufzuwerten. Die Erstausgabe begleiten demnach 37 Stiche, als deren Urheber ein gewisser Mendoza firmiert und deren aufwendige Vervielfältigung Lizardi einiges Kopfzerbrechen bereitet. Die Distributionsgeschwindigkeit der Fortsetzungsfolgen und der „costo escandoloso“ der Illustrationen zwingen ihn schon im Voraus, deren ästhetische Qualität einzuschränken, was er mit einer reizvollen Kolorierung auszugleichen hofft. 52 Als El Periquillo Sarniento schließlich erscheint, muss er gleichwohl eingestehen, dass auch der vollmundig versprochene Farbdruck an den Unzulänglichkeiten der Herstellung scheitert: Sin embargo de que se ofreció en el prospecto de esta obrita que las estampas irían iluminadas, hemos visto que no sólo no cubren los colores los defectos de las láminas abiertas a la agua fuerte, sino que descubren los de la iluminación, pues siendo ésta a mano, y habiéndose de iluminar mil estampas semanarias, es como natural que vayan de bolazo y por ésta razón salgan con embadurnos e imperfecciones. Por tanto, hemos resuelto que se afinen lo posible y vayan negras, creyendo que así gustarán más [...]. 53 Lizardis drucktechnisches Detailwissen erstaunt ebenso wie sein Geschäftssinn, unterbreitet er doch möglicherweise enttäuschten Subskribenten das Angebot, die estampas nachträglich und ohne Preisaufschlag zu kolorieren. Welche Signifikanz er der visuellen Gestaltung beimisst, dokumentieren spätestens die Angaben zur Text-Bild-Relation, deren Wirkung er weder dem Zufall noch allein dem Leserwillen anheimstellen möchte. Damit die Deutung in den richtigen Bahnen verläuft, fixiert er vorab die Platzierung der Druckvignetten, 54 die weit mehr als ein erster Blickfang sein sollen. Als Re-Präsentation sprachlich kommunizierter Inhalte zeugen sie zweifellos vom Okularzentrismus der Aufklärung. 55 Dementsprechend plädieren ro- 52 „Las estampas que hemos dicho han de llevar, no serán de lo superior que se hace en este Reino, así porque tienen un costo escandoloso […]. Sin embargo, no serán desagradables, habiendo determinado que […] vayan impresas con tinta fina, bien iluminadas de colores y en papel de marquilla.“ (Lizardi, „Prospecto“, in: Obras, Bd. 8: Novelas, 8f.). 53 Lizardi, „Advertencias generales“, in: Obras, Bd. 8: Novelas, 39. 54 Vgl. Lizardi, „Advertencias generales“, in: Obras, Bd. 8: Novelas, 39. 55 Die aufklärerische Pädagogik der Anschaulichkeit problematisiert etwa Dorothea E. von Mücke, Virtue and the Veil of Illusion: Generic Innovation and the Pedagogical Project in Eighteenth-Century Literature, Stanford: UP 1991, bes. 18ff. 110 Globalisierungsnarrative um 1800 maneske Vertrauensfiguren wie der geläuterte Protagonist für eine Moral der Transparenz und Anschaulichkeit, die das gute Beispiel auch über den Gesichtssinn einprägt: „La doctrina que entra por los ojos se imprime mejor que la que entra por los oídos.“ (PS 310, Hervorhebung K. H.) Nichtsdestoweniger droht die intermediale Pädagogik immer wieder aus dem Ruder zu laufen, da Gewaltexzesse den beschaulichen Kostumbrismus der Gravüren überschatten, wie eine deftige Schlägerei während Periquillos Gefängnisaufenthalt belegen mag: 56 Visuelle Überschüsse und verbale Domestikation gehen hier Hand in Hand und scheinen bald dem kulturellen Pluralismus, bald der Deklassierung sozialer und ethnischer Randgruppen das Wort zu reden. 57 Noch diesseits 56 Abbildung von Mendoza in der Erstausgabe des Periquillo Sarniento (1816); Bildunterschrift (PS 454): „[S]e encendió la cosa de tal modo que en un instante llegamos a las manos“. Die Reproduktion folgt dem Abdruck bei Vogeley, Birth of the Novel, 184f. 57 Beatriz de Alba-Koch (Ilustrando la Nueva España: Texto e imagen en „El Periquillo Sarniento“ de Fernández de Lizardi, Cáceres: Universidad de Extremadura 1999, 95-136) widmet dem intermedialen Dialog zwischen Romantext und Illustrationen eine kluge Studie, die Lizardis Plädoyer für eine multikulturelle Gesellschaft teils ewtas forciert. Vgl. ferner dazu Enrique Flores, „Periquillo emblemático: Aguafuertes del Periquillo Sarniento (1816)“, in: Colonial Latin American Review 11/ 1 (2002), 89-108. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 111 ideologischer Konnotate erfüllen die reichhaltigen Illustrationen jedoch eine rahmenpragmatische Funktion. Denn was vorgeblich einer ethischen Unterweisung dient, die Auge und Ohr, Verstand und Sinne gemeinsam anspricht, ist von außen betrachtet ein gelungener Werbecoup, der einen weiteren Kaufanreiz setzt und Periquillos Geschichte selbst nicht alphabetisierten Publikumsschichten schmackhaft macht. II.3.2 Vom Epitext zum Peritext: Elemente einer fiktionalen Marktanalyse Doch trotz der begleitenden Kommentare, in denen Lizardi seine medialen und merkantilen Fertigkeiten unter Beweis stellt, bliebe die veranschlagte Selbsterschaffung des Romanciers Vermutung, würde sie nicht Gegenstand narrativer Konkretion. Zu präzisieren ist deshalb die Schwelle, die lebensweltliche und erzählte Wirklichkeit verbindet und auf der die Bedingungen ausgehandelt werden, unter denen der neuspanische novelista Anfang des 19. Jahrhunderts schreibt. Erst im Übertritt vom werkexternen Epitext zum hier fiktionalen Peritext 58 offenbart sich El Periquillo Sarniento selbst als Schauplatz metaliterarischer Reflexion. Die Potenzierung paratextueller Elemente, die diegetische und ontologische Grenzen verwischen, gehört zu den wesentlichen Kompositionsprinzipien des Romans, der damit an die barocke Pikareske und nicht minder an Cervantes’ Don Quijote anschließt. Lizardi bedient sich einer Herausgeberfiktion, die der eigentlichen histoire übergeordnet ist und die neben Fußnoten - Worterklärungen und Übertragungen lateinischer Zitate - eine Reihe von Vorworten generiert, für die zwei verschiedene Verfasser verantwortlich zeichnen: In dem an zweiter Stelle platzierten „Prólogo de Periquillo Sarniento“ (PS 95-99) wendet sich der ehemalige Schelm selbst an seine Kinder, um ihnen seine Aufzeichnungen zu übergeben. Da Letztere aber auch in fremde Hände fallen können und wohl fallen sollen (PS 96), 59 sieht sich der alte Pedro Sarmiento zu gewissen Erläuterungen über seine Absichten gezwungen. 58 So Gérard Genettes (Seuils, Paris: Seuil 1987, 10f.) Unterscheidung der Paratexte gemäß ihrer Distanz vom Basistext: „Un élément de paratexte, si du moins il consiste en un message matérialisé, a nécessairement un emplacement, que l’on peut situer par rapport à celui du texte lui-même: autour du texte, dans l’espace du même volume, comme le titre ou la préface, et parfois inséré dans les interstices du texte, comme les titres de chapitres ou certaines notes; j’appellerai péritexte cette première catégorie spatiale […]. Autour du texte encore, mais à distance plus respectueuse (ou plus prudente), tous les messages qui se situent, au moins à l’origine, à l’extérieur du livre: généralement sur un support médiatique (interviews, entretiens), ou sous le couvert d’une communication privée (correspondances, journaux intimes, et autres). C’est cette deuxième catégorie que je baptise, faute de mieux, épitexte.“ 59 Wenngleich er sich zunächst nur an seine Nachkommen wendet (PS 95), spekuliert Pedro-Periquillo im Fortgang des Prologs unentwegt über mögliche andere Rezipienten seiner Memoiren, die schließlich sogar „todo el mundo“ (PS 97) lesen möge. 112 Globalisierungsnarrative um 1800 In den „Prólogo, dedicatoria y advertencias a los lectores“ (PS 89-95) und „Advertencias generales a los lectores“ (PS 99f.) benannten Sequenzen meldet sich hingegen ein Äußerungssubjekt namens „El Pensador“ zu Wort, was im ersten Fall eine explizite Signatur (PS 95), im zweiten erst die nachträgliche Rekonstruktion verrät. Denn die bloße Namensgleichheit, die sich mit der späteren Anrede des Pensador als „un tal Lizardi“ (PS 920) zuspitzt, erlaubt noch keine Identifizierung mit dem empirischen Autor und dessen journalistischer Maskerade als Pensador Mexicano. 60 Wie aus ihren weiteren Interventionen - dem „Prólogo en traje de cuento“ zu Beginn des zweiten Bands (PS 291-295), den „Notas de El Pensador“ (PS 921-930) sowie dem letzten Romankapitel (PS 931-940) - hervorgeht, haben wir es vielmehr mit einer hybriden Instanz zu tun, die zwischen Rahmen- und Binnenerzählung changiert und beides zuweilen ins Faktische entgrenzt. Zum einen tritt der Pensador nämlich als Freund des Protagonisten auf, den Pedro Sarmiento im Greisenalter kennenlernt und der ihm derart sympathisch erscheint, „que puedo decir que soy uno mismo con el Pensador y él conmigo“ (PS 921). 61 Mit einem ironischen Augenzwinkern als Romanfigur und sogar als zweites Ich des Pícaro eingeführt, definiert sich der Pensador andererseits vor allem durch seine Eigenschaft als Schriftsteller. Ebendiese ist auch der Anlass, warum der bettlägerige Pedro-Periquillo ihm seine Erinnerungshefte zu Lektüre und Korrektur anvertraut. Auf diesem Weg avanciert der Pensador zum fiktiven Herausgeber, der sich als „escritor desgraciado […] en estos amargos tiempos“ (PS 920) gleichwohl ähnlichen Widrigkeiten gegenübersieht, wie sie anno 1816 in Neuspanien einem gewissen José Joaquín Fernández de Lizardi zu schaffen machen. So komplex ihre narrative Hierarchie auch sein mag, so einseitig kreisen sämtliche Schwellentexte um das Monothema der Autorschaft: Warum schreiben, wie schreiben, für wen schreiben und, nicht zu vergessen, wovon leben? Das sind die elementaren Fragen, die schon der Titelheld angesichts seiner „cuadernos“ (PS 921) stellt und die sich verkomplizieren, sobald das Geschriebene veröffentlicht werden soll. Von besonderer Rele- 60 Konzise schlüsseln die mehrschichtige Kommunikationssituation Mozejko („El letrado y su lugar“, 228f.) und Ette („Dialogisches Schreiben“, 208ff.) auf. 61 Nicht nur hier erweist sich Lizardi als guter Schüler des Cervantes, der am Ende des Don Quijote ebenfalls eine Identität zwischen dem Protagonisten und seinem erstem Autor Cide Hamete Benengeli suggeriert, dessen Feder sich mitunter so von ihrem Publikum verabschiedet: „Para mí sola [scil. la pluma de Cide Hamete Benengeli] nació don Quijote, y yo para él, él supo obrar y yo escribir; solos los dos somos para en uno […].“ (Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha, hg. von Francisco Rico et al., Barcelona: Crítica / Instituto Cervantes 1998, Bd. 1, 1223). Literarhistorisch näher an El Periquillo Sarniento situiert, betreibt José Cadalso in den Cartas marruecas (1772- 89) ein ähnliches Vexierspiel um die Instanzen des empirischen Autors, fiktiven Herausgebers und intradiegetischen Autors bzw. Besitzers der kursierenden Briefe („un amigo“); vgl. José de Cadalso, Cartas marruecas - Noches lúgubres, hg. von Emilio Martínez Mata, Barcelona: Crítica 2000, 6 („Introducción“). Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 113 vanz ist in dieser Hinsicht der mit „Prólogo, dedicatoria y advertencias a los lectores“ (PS 89-95) betitelte Romanauftakt, der überkommene „costumbre[s]“ (PS 89) des literarischen Handelns in den Blick und aufs Korn nimmt. Unverzüglich peilt der Prolog dabei die Zielscheibe seiner Problematisierung an und fokussiert gewisse „dificultades“, die dem Pensador als (sekundärem) Verfasser eines literarischen Werks Sorgen machen (PS 89): „Señores míos: Una de las cosas que me presentaban dificultades para dar a la luz la Vida de Periquillo Sarniento era elegir persona a quien dedicársela, porque yo he visto infinidad de obras de poco y mucho mérito adornadas con sus dedicatorias al principio.“ Auf der Suche nach Widmungsadressaten bieten sich gemeinhin ebenso illustre wie betuchte Persönlichkeiten an, von denen hohe Zuwendungen zu erwarten sind. Statt aber rasch einen geeigneten „potentado“ (PS 89) oder „magnate“ (PS 90) zu erwählen, stellt der Pensador grundsätzliche Erwägungen zur Widmungs- und Honorarpraxis an. 62 In Form eines erinnerten Dialogs, der metadiegetisch 63 in den fiktionalen Peritext eingelegt ist und der an „un amigo“ (PS 90) gerichtet ist, 64 diskreditiert er zunächst die Einrichtung des Mäzenatentums, die Literatur zum hohlen Statussymbol und zur geschwätzigen Bauchpinselei herabwürdige. Grotesk entstellt, defilieren so die „mecenas o patronos“ (PS 89) vorbei, deren schöngeistige Investitionen nicht ihre zweifelhafte Ahnenreihe, ihre Schamlosigkeit und ihre haarsträubende Dummheit verhehlen können (PS 90): ¿[Q]uién ha de ser tan sinvergüenza que deje dedicarse una obra, desempolvar los huesos de sus abuelos, levantar testimonios a sus ascendientes, rastrear sus genealogías, enredarlos con los Pelayos y Guzmanes, mezclar su sangre con la de los reyes del Oriente, ponderar su ciencia aun cuando no sepa leer, preconizar sus virtudes aunque no las conozca, separarlo entera- 62 Die Modernität des Verfahrens wird sinnfällig, sobald man bedenkt, dass der Erzähltheoretiker Genette (Seuils, 134) mehr als 150 Jahre später genau dieselbe Frage wie Lizardi unter der Maske seines fiktiven Herausgebers stellt: „A qui dédie-t-on? Si l’on considère comme obsolète la pratique ancienne de la dédicace solliciteuse […].“ 63 Zur Auffächerung der diegetischen Ebenen vgl. Gérard Genette, „Discours du récit: essai de méthode“, in: Ders., Figures III, Paris: Seuil 1972, 65-278, hier 238ff. 64 Mit der Einbettung eines Zwiegesprächs in den romaninternen Paratext knüpft El Periquillo Sarniento neuerlich an den Don Quijote (Bd. 1, 9-19) an, dessen „Prólogo“ ebenfalls einen Freund einführt, der mit dem Verfasser über die Kunst des Prologschreibens diskutiert. Lizardi verlegt das ingeniöse Spiel mit den rhetorischen Konventionen - die anfängliche Bescheidenheit des Autors kippt bei Cervantes bekanntlich in Eigenlob - gewissermaßen noch eine Stufe zurück, indem der Pensador nicht nur die Pseudo-Gelehrtheit, sondern den gesamten Literaturbetrieb ridikülisiert. Zu diesen und anderen Schnittstellen der beiden Romane vgl. John Skirius, „Fernández de Lizardi y Cervantes“, in: Nueva Revista de Filología Hispánica 31/ 2 (1982), 257-272 und Beatriz de Alba-Koch, „Fernández de Lizardi y su lectura ilustrada del Quijote: Cervantismo, quijotismo y autoría“, in: Friedhelm Schmidt-Welle / Ingrid Simson (Hg.), El Quijote en América, Amsterdam u.a.: Rodopi 2010, 51-71. 114 Globalisierungsnarrative um 1800 mente de la común masa de los hombres y divinizarlo en un abrir y cerrar de ojos? Der beißende Sarkasmus hindert den Pensador freilich nicht daran, um des materiellen Vorteils willen auch sein Buch einem „excelentísimo, ilustrísimo, o por lo menos un señor usía“ (PS 90) übereignen zu wollen. Während jedoch mäzenatische „gratitud“ (PS 90) und „protección“ (PS 90/ 91) auf stillschweigender Übereinkunft beruhen, spricht er ungeniert aus, was und wieviel bei dem Geschäft herausspringen soll. Auf Drängen des Freundes, nun endlich einen Förderer zu bestimmen, entgegnet er nüchtern (PS 90f.): „A aquel señor que yo considerase se atreviera a costearme la impresión. - ¿Y a cuánto podrán abordar sus costos? , me dijo. - A cuatro mil y ciento y tantos pesos, por ahí, por ahí.“ Indem er unabhängig von Name und Ansehen einen Financier für die Drucklegung der Vida de Periquillo Sarniento sucht, beraubt der Pensador den Kulturprotektionismus seiner ästhetischen Verbrämung und reduziert ihn auf einen Kuhhandel. Bestürzt über solche Ehrlichkeit und die horrende Summe für eine „obrita de cuatro tomitos“ (PS 91), hält es der „amigo“ für schier aussichtslos, einen Gönner zu finden. Das Lamento, das der Prologschreiber daraufhin anstimmt, weitet sich zu einer umfassenden Inspektion der Literaturlandschaft, deren satirische Überzeichnung - etwa in der Zahlenhuberei - ihre Bestandsaufnahme nicht entkräftet. Schonungslos enthüllt sie die prekäre Lage neuspanischer Autoren, deren sozioökonomische und geopolitische Randständigkeit jegliche literarische Initiative zu einem ruinösen Unterfangen macht (PS 91): Sí, amigo, le dije; y ésta es una de las trabas más formidables que han tenido y tendrán los talentos americanos para no lucir como debieran en el teatro literario. Los grandes costos que tienen que lastarse en la impresión de unas obras abultadas en el Reino retraen a muchos de emprenderlas, considerando lo expuestos que están no sólo a no lograr el premio de sus fatigas, sino tal vez a perder hasta su dinero, quedándose inéditas en los estantes muchas preciosidades que darían provecho al público y honor a sus autores. Esta desgracia hace que no haya exportación de ninguna obra impresa aquí; porque haz de cuenta que mi obrita ya impresa y encuadernada, tiene de costo por lo menos ocho o diez pesos; pues, aunque fuera una obra de mérito, ¿cómo había yo de mandar a España un cajón de ejemplares, cuando si aquí es cara, allí sería excesivamente cara? Porque si a diez pesos de costos se agregaban otros dos o tres de fletes, derechos y comisión, ya debería valer sobre trece pesos; para ganar algo en este comercio, era preciso vender los ejemplares a quince o diez y seis pesos, y entonces ¿quién la compraría allá? Die Marktanalyse des intradiegetischen Herausgebers deckt sich nicht nur mit Lizardis Diagnose in seiner Werbekampagne; sie verfeinert diese noch, sofern sie den entscheidenden Aspekt kolonialer Dependenz ergänzt, der Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 115 die Entfaltung des „teatro literario“ im Vizekönigtum zusätzlich blockiert. Die pedantische Berechnung der Herstellungs- und Vertriebskosten - von den Aufwendungen für Druck und Bindung über Fracht- und Zollkosten bis zum Verkaufspreis - präludiert mit der Geldknappheit zwar eine Motivkonstante der Pikareske, die auch die Haupthandlung in El Periquillo Sarniento ausführlich bedienen wird. Aus Eigeninteresse akzentuiert der Pensador allerdings sogleich die Auswirkungen, die der Ressourcenmangel und die transatlantische Isolation für die „talentos americanos“ haben. Schließlich scheidet für diese die naheliegende Orientierung am iberischen Machtzentrum aus, droht dem dorthin exportierten Buch doch eine regelrechte Preisexplosion. Hält er sich an die Gesetze des „comercio“, so bleiben dem neuspanischen „escrito[r]“ (PS 93) folglich nur zwei Optionen, deren eine in der Resignation und Aufgabe aller literarischen Ambitionen bestünde. Zynisch zieht der Freund den Schluss (PS 93): „[L]os pobres no debemos ser escritores, ni emprender ninguna tarea que cueste dinero.“ Derart sang- und klanglos die Segel zu streichen, ist aber nicht die Art des Pensador, obschon er zur Klasse der Außenseiter gehört, die weder über Mittel noch Kanäle verfügen, um am internationalen Kulturtransfer zu partizipieren. Ungeachtet der Wettbewerbsnachteile verdiene, so seine Überzeugung, das von ihm edierte Werk Aufmerksamkeit, zumal der darin investierte „trabajo“ (PS 93) so manchen vordergründigen, intellektuellen oder rhetorischen Makel aufwiege. Entsprechend angetan zeigt er sich, als ihm der Freund eine Widmungsvariante vorschlägt, die Arbeitskraft und Entlohnung von vornherein miteinander verkoppelt. Denjenigen, die - anders als das ferne Spanien - erreichbar sind, solle der Pensador seine Publikation ans Herz legen, da nur sie ihn vor dem Bankrott oder dem Verstummen bewahren könnten. Wer damit gemeint ist und wer sich rückwirkend als jene „señores míos“ (PS 89) entpuppen, an die sich der Prolog von Beginn an wendet, liegt auf der Hand (PS 93): „- Los lectores, me respondió el amigo. ¿A quiénes con más justicia debes dedicar tus tareas, sino a los que leen las obras a costa de su dinero [...]? [Y]o tomé su consejo, y me propuse desde aquel momento dedicaros, señores lectores, la Vida del tan mentado Periquillo Sarniento, como lo hago.“ Es sind die neuen Adressatenkreise vor Ort, denen der Pensador seine „obrita“ in einem performativen Sprechakt zueignet 65 und die er streng genommen erst als solche versammeln muss. Welche Barrieren er zu über- 65 Pointiert veranschaulicht Lizardis Prolog die implizite Adressaten-Dopplung, die jedem Widmungsakt nach Genette (Seuils, 126) inhärent ist: „Quel qu’en soit le dédicataire officiel, il y a toujours une ambiguïté dans la destination d’une dédicace d’œuvre qui vise toujours au moins deux destinataires: le dédicataire, bien sûr, mais aussi le lecteur, puisqu’il s’agit d’un acte public dont le lecteur est en quelque sorte pris à témoin.“ 116 Globalisierungsnarrative um 1800 winden hat, um in seiner Heimat wahrgenommen zu werden, illustriert der Fall seines Schöpfers, des realen Lizardi. Umso beachtlicher ist es, dass der Proömialtext in fiktionaler Brechung die Gründe für den schwierigen Absatz von Literatur in Neuspanien beleuchtet. Der anspruchsvolle Luxus des Buches steht einerseits in Konkurrenz mit leichter zu konsumierenden Unterhaltungsangeboten wie Glücksspiel, Tanz oder Kutschenfahrten (PS 91). Zum anderen verhindern soziokulturelle Gefälle und das schwankende Bildungsniveau, dass sich eine einheitliche Lesergemeinde formieren könnte. Diese Missstände rückt der Pensador in den Mittelpunkt einer schillernden captatio benevolentiae, die sich zur handfesten Beschimpfung künftiger Rezipienten auswächst. Da diese alles andere als „eminentísimos, serenísimos, altezas y majestades“ (PS 94) sind und weder über „grandeza y dignidad“ noch über „virtud y […] ciencia“ (PS 94) verfügen, führt er die Konventionen der Enkomiastik ad absurdum, um letztlich die zwielichtige Herkunft seiner potentiellen „lectores“ zu lüften (PS 94): Muy bien sé que descendéis de un ingrato y que tenéis relaciones de parentesco con los Caínes fratricidas, con los idólatras Nabucos, con las prostitutas Dalilas, con los sacrílegos Baltasares, con los malditos Canes, con los traidores Judas, con los pérfidos Sinones, con los Cacos ladrones, con los herejes Arrios, y con una multitud de pícaros y pícaras que han vivido y aún viven en el mismo mundo que vosotros. Sé que acaso seréis, algunos, plebeyos, indios, mulatos, negros, viciosos, tontos y majaderos. Pero no me toca acordaros nada de esto, cuando trato de captar vuestra benevolencia y afición a la obra que os dedico [...]. Das Buhlen um die Publikumsgunst schlägt hier vollends in einen vilipendio del vulgo um, wie ihn einst Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache modellbildend ausbuchstabierte. 66 Die Topoi des Mäzenatenlobs verkehrt der Pensador in eine Litanei biblischer und antiker Sünder, als deren Nachfahren er die - scheinbar - angesprochenen Herumtreiber, Einfaltspinsel und Deklassierten tituliert. Indes sollte man sich hüten, die realhistorische Leserschaft mit diesen „plebeyos, indios, mulatos, negros, viciosos, tontos y majaderos“ gleichzusetzen oder ihre Verunglimpfung allzu wörtlich zu nehmen, zumal sie literarisch zugleich als „pícaros y pícaras“ geadelt werden. Die Affirmation kulturell-ethnischer Diversität hält sich in El Periquillo Sarniento stets die Waage mit dem Führungsanspruch der kreolischen Stadtbevölkerung, aus der Lizardis tatsächliche Adressaten stammen. Eine poli- 66 Darauf verweist Ottmar Ette („Dialogisches Schreiben“, 213f.), dessen präziser Analyse des „Prólogo“ hiesige Beobachtungen zahlreiche Anregungen verdanken. Dementsprechend stehen die umfangreichen Schwellentexte aus Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache ([1599/ 1604], hg. von José María Micó, Madrid: Cátedra 9 2012, Bd. 1, 103- 121) neben jenen des Don Quijote Pate für die paratextuelle Rahmung in El Periquillo Sarniento. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 117 tische Parteinahme, 67 gleich welcher Observanz, ergäbe sich allenfalls sekundär aus der Persiflage literarischer Gepflogenheiten, die im Vordergrund des „Prólogo“ steht und in einer provokanten Schlusspointe gipfelt. So wirft der Pensador nunmehr jedwede panegyrische Verstellung über Bord, um die nötigen Pesos einzutreiben. Ohne noch einen Gedanken auf Nutzen oder Qualität seines Buches zu ver(sch)wenden, ruft er göttlichen Schutz an, auf dass er möglichst freigiebige, langlebige und, am wichtigsten, zahlungskräftige Abnehmer finde, die entweder mehrere Kapitel des Romans kaufen oder sich zumindest an der Subskription beteiligen werden (PS 95): Esto es, oh serenísimos lectores, lo que yo hago al dedicaros esta pequeña obrita que os ofrezco como tributo debido a vuestros reales... méritos. Dignaos, pues, acogerla favorablemente, comprando cada uno, seis o siete capítulos cada día, y subscribiéndoos por cinco o seis ejemplares, a lo menos, aunque después os deis a Barrabás por haber empleado vuestro dinero en una cosa tan friona y fastidiosa; aunque me critiquéis de arriba abajo, y aunque hagáis cartuchos o servilletas con los libros; que como costeéis la impresión con algunos polvos de añadidura, jamás me arrepentiré de haber seguido el consejo de mi amigo; antes desde ahora para entonces, y desde entonces para ahora, os escojo y elijo para únicos mecenas y protectores de cuantos mamarrachos escribiere, llenándoos de alabanzas como ahora y pidiendo a Dios que os guarde muchos años, os dé dinero y os permita emplearlo en beneficio de los autores, impresores, papeleros, comerciantes, encuadernadores y demás dependientes de vuestro gusto. Die ‚wahrhaft königlichen Verdienste‘, die er den geneigten Leserinnen und Lesern im selben Moment andichtet wie aberkennt, würde der Pensador natürlich selbst gerne einstreichen. Gleichwohl weiß er, dass bestenfalls eine ausgeglichene Bilanz zu erreichen ist, was umso mehr die Inszeniertheit und komische Hyperbolik des Vorworts betont, das die Vita des Periquillo Sarniento zuletzt sogar als Rohstoff der Papierverarbeitung preiszugeben bereit scheint. Doch ungeachtet der Ironie dokumentiert die getarnte Kaufaufforderung, wie akut nach 1800 der Aufbau funktionstüchtiger Kommunikationsstrukturen für literarische Unternehmungen ist. Nicht von ungefähr zeigt der Pensador am Ende nochmals sämtliche Akteure in Interaktion, expliziert die dreistellige Abhängigkeit von „autores“, „libros“ sowie dem „gusto“ der „serenísimos lectores“ und unterschlägt selbst die dazwischengeschalteten Instanzen der „impresores, papeleros, comerciantes, encuadernadores“ (PS 94) nicht. Ohne deshalb ein getreues Bild des neuspanischen Status quo zu geben, formuliert er das Desiderat, Literatur fortan in ihrer Institutionalität und Medialität zu diskutieren, statt sie als 67 So will Vogeley (Birth of the Novel, 105f.) im Prolog explizit Lizardis Autorstimme und damit einen Aufruf an die kreolische Bildungselite vernehmen, sich der Heterogenität der mexikanischen Kultur zu stellen. 118 Globalisierungsnarrative um 1800 Arkanum einigen Gelehrten und ihren hochrangigen Geldgebern zu überlassen. In erster Linie bedarf es hierfür jedoch der Herstellung einer Öffentlichkeit, die fiktionale Druckerzeugnisse zur Kenntnis nimmt, goutiert und angemessen honoriert. Wie man im entstehenden Kulturbetrieb reüssiert oder diesen erst zu implementieren hilft, erörtert der Widmungsprolog in einer zweifach dialogischen Konstellation, in der die Unterredung des Pensador mit dem Freund als Zwiegespräch Lizardis mit seinem Publikum widerhallt. Die Auffächerung der Äußerungssituation ist insofern erwähnenswert, als daraus in beiderlei Richtung eine Serie von Vervielfältigungen und Verdopplungen hervorgeht, die den gesamten Roman durchzieht. Obschon die metaleptischen 68 Sprünge in El Periquillo Sarniento je einzeln zu lokalisieren wären, eröffnet der besprochene Peritext eine erste Passage, die von Paratext zu Paratext bis in den Haupttext führt und von dort neuerlich in die lebensweltliche Wirklichkeit zurück. In der Zusammenschau heißt das: Der Pensador alias „un tal Lizardi“ (PS 920), der als fiktiver Herausgeber signiert, ist zwar nicht sein faktischer Namensvetter, wohl aber ahmt er seinen Autor nach, wohingegen auf intradiegetischer Ebene der Pensador anscheinend mit dem alten Pedro Sarmiento verschmilzt, dessen mäandernde Narration ihn seinerseits wieder zum umherirrenden Schelm Periquillo macht. Dass diese Kette identitärer Verschiebungen kein interpretatorisches Konstrukt ist, bestätigen zum einen „interfigurale“ 69 Ambivalenzen wie die hypothetische Wesensgleichheit zwischen Binnen-Erzähler und Rahmen-Editor (PS 921). Zum anderen eint die genannten Instanzen, dass sie allesamt schreiben, einschließlich des Pícaro, der zwei einschneidende Stationen seiner Lebensreise - seinen Selbstmordversuch (PS 828f.) sowie das darauffolgende Besserungsgelöbnis (PS 857f.) - mit Gedichten kommentiert. Alle greifen zur Feder, mimen dabei andere Verfasser bzw. Figuren und überschreiben so, bewusst oder unbewusst, andere Texte. El Periquillo Sarniento wird damit als Schnittfläche einer proteischen réécriture lesbar, mit der José Joaquín Fernández de Lizardi seinem Gattungsexperiment des hispanoamerikanischen Romans ausreichend Prestige zu verschaffen sucht. 68 Den Begriff der „métalepse“ als „passage d’un niveau narratif à l’autre“ prägt abermals Genette („Discours du récit“, 243), wobei die rege Forschung mittlerweile eine Vielzahl weiterer und mitunter differenzierterer Definitionen hervorgebracht hat. 69 Zum Begriff vgl. ursprünglich Wolfgang G. Müller, „Interfigurality. A Study on the Interdependence of Literary Figures“, in: Heinrich F. Plett (Hg.), Intertextuality, Berlin/ New York: De Gruyter 1991, 101-121. Ergänzt sei dabei, dass Müllers Definition zunächst die Übertragung eines Figurennamens in einen anderen Text meint (ebd., 101), während in El Periquillo Sarniento die figuralen Identitäten zwischen den verschiedenen Kommunikationsebenen desselben fiktionalen Textes gleiten. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 119 II.4 Der Romancier als Papagei - Zwischen Imitation und Transkulturation Vor diesem Hintergrund lohnt es, sich nochmals den sprechenden Titel des Periquillo Sarniento vorzunehmen, zumal die ornithologische Formulierung nicht isoliert in Lizardis Werk steht. Der in der Aufklärung wiederbelebten Tieremblematik verpflichtet, widmet der Mexikaner der Spezies der Papageien und Sittiche gleichfalls die beiden Fabeln „El mono y el perico“ (1815) sowie „El loro en la tertulia“ (1817) 70 und bereitet ihr ferner in der Flugschrift La victoria del perico (1823) oder in der kurzlebigen Zeitung El hermano del perico que cantaba la victoria (1823) eine Bühne. Es erübrigt sich, die vertraute Topik des gesprächigen Vogels im Allgemeinen zu rekapitulieren oder Lizardis nächstliegender Inspiration in der spanischen Fabelliteratur des 18. Jahrhunderts, genauerhin im Werk des Tomás de Iriarte nachzugehen. 71 Kehrt man stattdessen sogleich zu El Periquillo Sarniento zurück, so begegnet einem darin zunächst gewiss kein „perico ilustrado“ 72 , wie ihn El hermano del perico que cantaba la victoria vorstellt und programmatisch als Herold des republikanischen Föderalismus zum Reden bringt. Den Spitznamen handelt sich der romaneske Protagonist hingegen bereits in der Schule ein, wo ihn die Kameraden wegen seiner farbenfrohen, grüngelben Kleidung und seiner Krätze ‚räudiges Papageichen‘ rufen. Der gereifte Erzähler nutzt die Begebenheit, um sich gewohnt weitschweifig über die Unsitte onomastischer Verhöhnung menschlicher Schwächen auszulassen (PS 123). Weder hier noch anderswo erwähnt Lizardi ausdrücklich die konnotative Semantik des Romantitels, die als fremdbestimmter Mimetismus, als „símbolo tan evidente del mimetismo sin objeto“ 73 resümiert werden kann. 70 Während Lizardi „El mono y el perico“ in der elften Ausgabe seiner Zeitung Alacena de Frioleras publiziert (Obras, Bd. 4: Periódicos, 67-72), erscheint „El loro en la tertulia“ gattungsgemäß in Lizardis Fabelband von 1817 (Obras, Bd. 1: Poesías y fábulas, hg. von Jacobo Chencinsky / Luis Mario Schneider, México: UNAM 1963, hier 365-367). 71 Tomás de Iriartes Fábulas literarias (1782), die Lizardi nachweislich bekannt waren, beschäftigen sich mehrfach mit stumpfsinnig imitierenden Papageien; vgl. Fábulas literarias, hg. von Sebastián de la Nuez, Madrid: Ed. Nacional 1976, z.B. 75f. (V), 105 (XXIV), 190 (LXXI). 72 So die Formulierung des Herausgebers Jacobo Chencinsky zur semantischen Aufladung des Papageis bzw. Sittichs im betreffenden Blatt (Lizardi, Obras, Bd. 3: Periódicos, 18). Der Text der Zeitung findet sich in: José Joaquín Fernández de Lizardi, Obras, Bd. 5: Periódicos (El amigo de la paz y de la patria, El payaso de los periódicos, El hermano del perico que cantaba la victoria, Conversaciones del payo y el sacristán), hg. von María Rosa Palazón, México: UNAM 1973, 25-73. 73 González, „Periodismo y narrativa“, 343. Sehr vielschichtig erläutert die Namensgebung des pikaresken Protagonisten auch Enrique Flores, „El loro de Lizardi. Lectura en voz alta del Periquillo Sarniento“, in: Literatura Mexicana III/ 1 (1992) 7-39, hier 7-9 und 20-37. 120 Globalisierungsnarrative um 1800 Umso nachhaltiger prägt die Wiederholung von Verhaltens- und Sprechweisen den Lebenswandel des Schelms, der auf Figurenebene die Echos der narrativen Vermittlung fortsetzt. Getrieben vom krampfhaften Wunsch nach Anerkennung, macht Periquillo eine Karriere der Imitationen und Täuschungen, in deren Verlauf er berufliche Qualitäten und Titel vorspiegelt, schlechten Freunden, gerissenen Dienstherren oder bewundernswerten Mentoren nacheifert, Jargons diverser Institutionen und Milieus assimiliert und konkret von einer Verkleidung in die andere schlüpft. 74 Man braucht nicht einmal die einzelnen Etappen dieses ‚mimetischen Begehrens‘ 75 abzuschreiten, da der Held selbst dazu Stellung nimmt. Im Rückblick unterzieht er sein langjähriges Gebaren als pikaresker Trickster erwartungsgemäß einer scharfen Kritik, die sowohl die barocke engaño-Metaphorik bemüht als auch in Rousseau‘scher Manier 76 den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang anprangert. Um seinen Kindern die eigenen Laster zu ersparen, warnt er sie vor den Tücken der Heuchelei, die allerorten lauern und den zwischenmenschlichen Umgang vergiften. Im Folgenden gibt er ihnen sogar Wahrheitskriterien an die Hand, die einen scheinheiligen Scharlatan vom ehrlichen und altruistischen Freund scheiden sollen (PS 768f.): No por esto apruebo que sea bueno el fingir, por más que sea útil al que finge; también al lenón y droguero les son útiles sus disimulos y sus trácalas, y sin embargo no les son lícitas. Lo que quiero que saquéis por fruto de este cuento es que advirtáis cuán expuestos vivimos a que nos engañe un pícaro astuto pintándonos gigantes de nobleza, talento, riqueza y valimiento. Nos creemos de su persuasión o de lo que llaman labia, nos estafa si puede, nos engaña siempre, y cuando conocemos la burla es cuando no podemos re- 74 Gattungstypische Verfahren der Maskerade und Travestie in der Pikareske diskutieren u.a. die Beiträge in Christoph Ehland / Robert Fajen (Hg.), Das Paradigma des Pikaresken / The Paradigm of the Picaresque, Heidelberg: Winter 2007. 75 Vgl. René Girard, Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris: Grasset 1961, bes. 15-18. Girards Konzept eines triangulär vermittelten „désir mimétique“ greift hier insofern, als der junge Periquillo stets die Rolle eines Schülers annimmt, der allein das für erstrebenswert hält, was seine guten oder schlechten Vorbilder begehren. 76 In ähnlichem Tonfall wie Lizardi zieht Rousseau im Discours sur les sciences et les arts (1750) gegen die sozial konditionierte Verstellung und Uniformierung zu Felde: „Aujourd’hui que des recherches plus subtiles et un goût plus fin ont réduit l’Art de plaire en principes, il régne dans nos mœurs une vile et trompeuse uniformité, et tous les esprits semblent avoir été jettés dans un même moule: sans cesse la politesse exige, la bienséance ordonne: sans cesse on suit des usages, jamais son propre génie. On n’ose plus paroître ce qu’on est; et dans cette contrainte perpétuelle, les hommes qui forment ce troupeau qu’on appelle société, placés dans les mêmes circonstances, feront tous les mêmes choses si des motifs plus puissans ne les en détournent.“ (Jean- Jacques Rousseau, Œuvres complètes, hg. von Bernard Gagnebin / Marcel Raymond, Paris: Gallimard/ Pléiade 1959ff., Bd. 3, 1-30, hier 8; ohne jeweils explizite Markierung übernehme ich in allen Rousseau-Zitaten die historisch angelegte Orthographie dieser Edition). Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 121 mediarla. En todos casos, hijos míos, estudiad al hombre, observadlo, penetradlo en su alma; ved sus operaciones, prescindiendo de lo exterior de su vestido, títulos ni rentas, y así que halléis alguno que siempre hable verdad y no se pegue al interés como el acero al imán, fiaos de él y decid: Este es hombre de bien, éste no me engañará ni por él se me seguirá ningún perjuicio. Pero para hallar a este hombre, pedidle a Diógenes prestada su lanterna. Um den uneigennützigen hombre de bien zu identifizieren und die Intentionen des Nächsten richtig zu deuten, kommt es darauf an, Schein und Sein, äußere Insignien und den inneren Seelengrund gegeneinander abzugrenzen. Einigermaßen misstrauisch stimmt allerdings, dass Pedro Sarmiento im selben Atemzug die unleugbaren Vorteile des „fingir“ - zumal auf dem rhetorischen Gebiet der „labia“ - betont. Der Widerspruch existiert indes nur vordergründig, da sich auch der geläuterte Familienvater, der die Aufrichtigkeit seiner Memoiren andauernd versichert, zu ihrer Fixierung der stets trügerischen Schrift bedienen muss. Vorsorglich weist er auf die Gefahren hin, die seine Bekenntnisse als textuelle, noch dazu satirische Überlieferung bergen, falls sie nicht ihrerseits als doppelzüngiges pharmakon 77 erkannt werden (PS 916): Yo os he escrito mi vida sin disfraz; os he manifestado mis errores y los motivos de ellos sin disimulo, y por fin os he descubierto en mí mismo cuáles son los dulces premios que halla el hombre cuando se sujeta a vivir conforme a la recta razón y a los sanos principios de la sana moral. No permita Dios que después de mis días os abandonéis al vicio y toméis sólo el mal ejemplo de vuestro padre, quizá con la necia esperanza de enmendaros como él a la mitad de la carrera de vuestra vida, ni digáis en el secreto de vuestro corazón: „Sigamos a nuestro padre en sus yerros, que después lo seguiremos en la mudanza de su conducta“, pues tal vez no se logran esas inicuas esperanzas. Pedros Befürchtung, dass die Kinder ausgerechnet seinem „mal ejemplo“ folgen könnten, zeugt von schlechtem Gewissen und wirft die Frage auf, ob sein autobiographischer Bericht in der Tat „sin disfraz“ auskommt. Verhält es sich nicht genau anders herum? Verkompliziert sich nicht vielmehr die dissimulatio, sobald die Niederschrift seiner Erinnerungen eine weitere 77 Die Stigmatisierung der Schrift als zwiespältiges pharmakon geht bekanntlich auf Platons Dialog Phaidros (Werke, hg. von Gunther Eigler, übers. von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt: WBG 1990, Bd. 5, 274b-277a) zurück, in dem Sokrates die graphische Aufzeichnung als ‚Gift‘ für das wahre Gedächtnis und nur als künstliches ‚Heilmittel‘ für die kurzfristige Erinnerung brandmarkt. Die Kritik dient Jacques Derrida („La pharmacie de Platon“ [1968], in: Ders., La dissémination, Paris: Seuil 1972, 77-213) als wesentlicher Beleg für den abendländischen Phonozentrismus, dem er - auch in De la grammatologie (Paris: Minuit 1967) - das Konzept einer unvordenklichen archiécriture gegenüberstellt. 122 Globalisierungsnarrative um 1800 Wiederholung hervorbringt und der Chor der Papageien nochmals um eine Stimme bzw. deren Transkription anschwillt? Hinzu kommt, dass auch der fiktive Herausgeber El Pensador als überzeugter Nachahmungstäter auftritt. In den „Advertencias generales a los lectores“ (PS 99-100), die seine editorischen Grundsätze offenlegen, bekennt er sich zu einer veritablen Poetik der Zitation. Die Interpolationen, Anmerkungen und Übersetzungen aus dem Lateinischen, die er Pedro-Periquillos Manuskripten hinzugefügt hat, will der Pensador somit als schlichte Bekräftigung der Verfasserintention verstanden sehen. Er weiß sich diesbezüglich in vollstem Einverständnis mit dem verstorbenen Freund, der seinerseits bereits darauf bedacht war, „de corrobar sus opiniones con la doctrina de los poetas y filósofos paganos“ (PS 99). Den Vorrang klassisch-antiker „autoridades“ (PS 100) muss der Pensador freilich ins rechte Licht rücken, indem er sie mit einem Passus aus Nicolas Jamins Le fruit de mes lectures (1775) der „sana moral“ (PS 100) des Christentums zugänglich macht. Der Verweis auf den populären Zitatenschatz des französischen Benediktinermönchs, 78 der ebenfalls in spanischer Übersetzung vorliegt, ist umso bezeichnender, als dieser im Verlauf der Binnenhandlung etliche weitere Male Erwähnung finden wird. Und in diesem Sinn stimmt auch der empirische Autor Lizardi zu, dass die Ernte der Lesefrüchte oberste Priorität in seiner schriftstellerischen Tätigkeit genießt. Während er sich im Werbeprospekt der „estudios“ und „varias lecturas“ 79 rühmt, die er in El Periquillo Sarniento verarbeitet habe, pocht er 1825 in einer literarischen Lebenssumme voller Stolz auf sein unverdrossenes Bücherstudium: „He aquí toda mi carrera literaria. Si cito leyes, cánones y concilios, si hasta hoy tengo la satisfacción de haber sostenido mis opiniones, es porque las ciencias no se aislan en las paredes de los colegios, sino problemáticamente, en los libros, y éstos nunca los he dejado de la mano.“ 80 Fern noch des romantischen Originalgenies schreibt Lizardi weiterhin in der Tradition der imitatio-Ästhetik, die er jedoch respektlos und je nach Wirkungsabsicht umakzentuiert. Denn gleichzeitig schreibt und erzählt er immer auch als medienbewusster Publizist, für den die Übermittlung und Platzierung von Informationen zum Tagesgeschäft gehören. Lizardis erster Roman basiert von vornherein auf einem „acto de disimulo“, einem „camuflaje textual“ 81 , wie Aníbal González in einem anregenden Beitrag ver- 78 Nicolas Jamin (1712-82) aus der Kongregation von Saint-Maur veröffentlicht seine populäre Sammlung 1775 unter dem vollen Titel Le fruit de mes lectures ou pensées extraites des auteurs profanes, relatives aux différents ordres de la société, accompagnées de quelques réflexions de l’auteur. 79 Lizardi, „Prospecto“, in: Obras, Bd. 8: Novelas, 7. 80 José Joaquín Fernández de Lizardi, „Respuesta de El Pensador al defensor de El Payo del Rosario“ [1825], in: Obras, Bd. 13: Folletos 1824-1827, 607-622, hier 618. 81 González „Periodismo y narrativa“, 345 sowie zusammenfassend ebd., 346: „El mayor acto de disimulo de Lizardi fue El Periquillo Sarniento mismo: un texto que es Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 123 merkt, der die narrative Operationalisierung journalistischer Kommunikationsmodi aufzeigt. Anders als González annimmt, greift die Tarnung aber nicht erst an der Diskurs-Außengrenze zum politischen Pamphlet, sondern betrifft bereits die intertextuellen Verstrebungen, die in El Periquillo Sarniento wuchern. Es wäre mithin genauer zu überlegen, ob sich Lizardis Praxis der Nachahmung in steriler Iteration erschöpft oder ob sie jeweils individuelle Modifikationen erzeugt. Schließlich entscheidet die Fähigkeit, in der Wiederholung Differenzen geltend zu machen, 82 auch über das transkulturelle Profil des Romans, dessen adaptierte Modelle größtenteils europäischer Provenienz sind. Gemessen an Ángel Ramas Zweischritt von „reiteración y concentración“ 83 , zeugt die Engführung polyphoner Referenzen in El Periquillo Sarniento gewiss von einiger Kreativität. Auszuloten bleibt allerdings der Reflexionsgrad der Transkulturation, da sie im Gegensatz zur reich kommentierten Markt- und Medienanalyse nur als apriorische Setzung thematisch wird. Es steht daher auf der Kippe, ob sich Periquillo tatsächlich in Pedro verwandelt, ob der Papagei die soufflierten Stimmen nur reproduziert oder auf eigenen Antrieb hin moduliert und ob - nochmals anders gesagt - der gewiefte Journalist Lizardi seinen importierten Text- und Wissensfundus lediglich zur Schau oder doch zur romanesken Diskussion stellt. II.4.1 Eklektizismus und taktische Filterung Es ist einhelliger Forschungskonsens, 84 dass El Periquillo Sarniento die Filiation des spanischen Schelmenromans aufnimmt, deren anonymer Urtext fundamentalmente un panfleto haciéndose pasar por una obra de ficción narrativa [...]. Dejando de lado su argumento, pocos rasgos distinguen El Periquillo de los cientos de otros panfletos que Lizardi había publicado y que seguía publicando luego de que se levantaran las restricciones a su periodismo en 1820.“ 82 Vgl. hierzu Gilles Deleuze (Différence et répétition, Paris: PUF 1969), dessen komplexe philosophiegeschichtliche Genealogie einen Typus der Wiederholung profiliert, der jedwede Logik der Repräsentation unterläuft und statt Identitäten, Oppositionen und Analogien immer nur singuläre Differenzen in der Wiederholung erzeugt. 83 Siehe hierzu Ramas gleichnamigen Abschnitt (Transculturación narrativa, 194-198), der das transkulturelle Erzählen als System manipulativer Wiederholungen beschreibt (ebd., 196): „Pues no se trata solamente de una concentración sobre un reducido grupo de asuntos, sino el sistema reiterativo que se les aplica, el cual los toma y retoma sin cesar, les introduce leves modificaciones, los vuelve a relacionar con otros elementos que le introducen modificaciones, los rearticula en estructuras que resultan perecederas y deben ser sustituidas por nuevas estructuras parcialmente similares aunque también compuestas de elementos distintos.“ 84 Die pikareske Grundierung des Periquillo Sarniento war und ist konstanter Gegenstand der Lizardi-Forschung, wie u.a. folgende Studien belegen mögen: Zulema S. de Felman, „El Periquillo Sarniento. Picaresca y reformismo“, in: Humanitas 16/ 22-23 (1970), 81-94; María Casas de Faunce, La novela picaresca latinoamericana, Madrid: Planeta 1977, 33ff.; Sonia Marta Mora Escalante, „Le Picaresque dans la construction du 124 Globalisierungsnarrative um 1800 Lazarillo de Tormes (1554) bereits im äquivalenten Titeldiminutiv anklingt und deren barocker Idealtypus, Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache (1599; 1604) in Lizardis Vervielfältigung der Paratexte nachhallt. Gattungsmerkmale wie die soziale und geographische Mobilität des (Anti-)Helden, seine berufliche Wandlungsfähigkeit, die satirisch-kritische Darstellung des Geschehens von unten oder die fingierte Autobiographie, aus der die gleitende Perspektive rührt, sind ohne größere Abweichungen eingelöst. 85 Mit Gérard Genettes typologischem Raster fungiert die Pikareske folglich als architextuelle Erzählmatrix, 86 die Lizardi abruft, ohne sie zur Doxa zu erheben oder ihr in Selbstaussagen nähere Beachtung zu schenken. In El Periquillo Sarniento stellt sie vielmehr eine offene Ermöglichungsstruktur bereit, auf welcher sich eine Vielzahl anderer narrativer, deskriptiver und argumentativer Textsorten aufschichten kann. Die Erweiterungen, die hierbei zum Tragen kommen, umfassen einerseits vermutete Seitenarme der Schelmenliteratur in Hispanoamerika, wozu so verschiedene Werke wie Álvar Núñez Cabeza de Vacas Reisebericht Naufragios y comentarios (1542), Juan Rodríguez Freyles monumentale Chronik El carnero (1636-38), das Schiffbruchsabenteuer Infortunios de Alonso Ramírez (1690) von Carlos de Sigüenza y Góngora, der bereits benannte Lazarillo de ciegos caminantes (1775/ 76) und einige mehr zu zählen wären. 87 Das Lokalkolorit, das man gemeinhin aus der heimischen Genealogie deduziert, taugt jedoch gerade einmal als inhaltlicher Näherungswert für El Periquillo Sarniento, den eine wirkmächtige Gegentendenz konterkariert. roman hispano-américain: le cas du Periquillo“, in: Études littéraires 26/ 3 (1994), 81-95; Timothy G. Compton, Mexican Picaresque Narratives: „Periquillo“ and Kin, Lewisburg: Bucknell UP 1997, 47-57; Alba-Koch, Ilustrando la Nueva España, 13-42; Michael Rössner, „Luces picarescas en México: el pícaro y la voz paterna de la razón en el Periquillo Sarniento“, in: Folger / Leopold (Hg.), Escribiendo la Independencia, 83-95 und Mariana Rosetti, „Poner el cuerpo: La configuración narrativa del pícaro como crítica del sistema colonial de la Nueva España en El Periquillo Sarniento“, in: Orbis tertius 16/ 17 (2011), URL: http: / / www.orbistertius.unlp.edu.ar/ article/ view/ OTv16n17a08 (abgerufen am 5. 5. 2017). 85 Übersichtlich aufbereitet sind gattungskonstitutive Parameter der Pikareske bei Peter N. Dunn, Spanish Picaresque Fiction: A New Literary History, Ithaca u.a.: Cornell UP 1993, 3-27 und im Klassiker von Francisco Rico, La novela picaresca y el punto de vista [1970], Barcelona: Seix Barral 1989. 86 Unter Genettes (Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris: Seuil 1982, 7) fünf Varianten weiter Text-Text-Beziehungen („transtextualité“) bezeichnet „architextualité“ eine taxonomische Kategorie, die „l’ensemble des catégories générales, ou transcendantes - types de discours, modes d’énonciation, genres littéraires, etc.“ erfasst. Den Hinweis auf die architextuelle Funktion des Schelmenromans in El Periquillo Sarniento entnehme ich wiederum bei Ette, „Dialogisches Schreiben“, 217-223. 87 Einen Überblick zu möglichen einheimischen Wurzeln gibt Luis Leal, „Picaresca hispanoamericana: de Oquendo a Lizardi“, in: Andrew Debicki / Enrique Pupo-Walker (Hg.), Estudios de literatura hispanoamericana en honor a José J. Arrom, Chapel Hill: North Carolina UP 1974, 47-58. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 125 Andererseits schöpft Lizardi nämlich aus einem Kanon europäischer Erzählprosa des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, dessen Verbreitung er als Initiator einer „Sociedad Pública de Lectura“ (1820) 88 tatkräftig fördert. Ebenso wenig lässt sich sein bekanntester Roman aber auf eine „picaresca ilustrada“ 89 festlegen, deren französische Wurzeln in der Histoire de Gil Blas de Santillane (1715-1735) zu suchen wären. Mit Alain-René Lesages Hauptwerk, das Lizardi vermutlich in der stark veränderten bzw. entschärften Übersetzung des Padre Isla (1787/ 88) liest, verbinden El Periquillo Sarniento zwar etliche Parallelen, die insbesondere die Reintegration des Schelms in die Gesellschaft betreffen. Als „estímulo inmediato para la creación de nuestro Periquillo“ 90 ist der Einfluss des Gil Blas gleichwohl deutlich überschätzt, genauso wie die Anleihen bei der spanischen novela de aprendizaje und näherhin bei Pedro de Montengóns Eusebio (1786-1788) nur ein weiteres verstreutes Element im romanesken Diskursmosaik des Viellesers Lizardis bilden. 91 Denn in ihrer Mehrheit orientieren sich die bemühten Quellen weder an den historischen Varianten der Pikareske noch entstammen sie überhaupt der fiktionalen Literatur. Ihre Bandbreite erstreckt sich über verschiedenste Disziplinen, d.h. sie reicht von juristischen Kodizes (z.B. Discurso sobre las penas contrahido a las leyes criminales de España von Manuel de Lardizábal y Uribe, 1782) über theologische und historiographische Traktate (z.B. Abbé Fleurys Catéchisme historique, contenant en abrégé l’histoire sainte et la doctrine chrétienne, 1679 / Grand Dictionnaire historique, ou mélange curieux de l'histoire sacrée et profane von Louis Moréri, 1674) bis zu ästhetischen und pädagogischen Manualen (z.B. Riflessioni sopra il buon gusto intorno le scienze e le arti von Ludovico Antonio Muratori, 1708 / L’École des mœurs, ou réflexions morales et historiques sur les maximes de la sagesse von Jean Baptiste Blanchard, 1782) sowie zahlreichen medizinisch-naturkundlichen Abhandlungen - darunter die Farmacopea Matritense (1739/ 62) und Buffons Histoire naturelle (1749-89) genauso wie die Philosophia botanica des Linnaeus (1751) oder der Traité élémentaire de chimie von Lavoisier (1789). Es hat geradezu 88 Siehe die Ankündigung vom 22.7.1820 in: José Joaquín Fernández de Lizardi, Obras, Bd. 10: Folletos 1811-1820, hg. von María Rosa Palazón / Irma Isabel Fernández Arias, México: UNAM 1981, 225-227. 89 So die Formulierung bei Alba-Koch (Ilustrando la Nueva España, 28), die einen bündigen Vergleich zwischen El Periquillo Sarniento und Gil Blas vorlegt. Vgl. dazu ferner Carlos Lozano, „El Periquillo Sarniento y la Histoire de Gil Blas de Santillane“, in: Revista Iberoamericana 20/ 40 (1955), 263-274. 90 Felipe Reyes Palacios, „Prólogo“, in: Obras, Bd. 8: Novelas, VII-XXXVIII, hier XIII. 91 Zu den Schnittstellen zwischen El Periquillo Sarniento und Montengóns zeitweilig zensiertem Eusebio vgl. Mauricio Fabbri, „La novela como cauce ideológico de la Ilustración: El influjo de Montengón en Fernández de Lizardi“, in: Ders. (Hg.), Homenaje a Noël Salomon. Ilustración española e independencia de América, Barcelona: Universidad Autónoma 1979, 31-37. 126 Globalisierungsnarrative um 1800 den Anschein, als ob Lizardi einen exhaustiven Einblick in die neuspanischen Wissensarchive um 1800 gewähren wollte, 92 wofür er bereitwillig Unausgewogenheiten im strukturellen Bau des Periquillo Sarniento hinnimmt. Die Fülle der darin aufgebotenen Bezüge stellt für jeden Deutungsversuch eine Herausforderung dar, die eine Erfassung sämtlicher Prätexte nahezu unmöglich macht. Es ist Jefferson Rea Spells Verdienst, Lizardis Lektürehorizont zumindest inventarisiert und auf diese Weise den „intellectual background“ 93 seines Romanerstlings erkundet zu haben. Der Abgleich mit dem Reservoir real verfügbarer Literatur, über das zeitgenössische Presseankündigungen 94 oder die Bestände neuspanischer Privatbibliotheken - wie jene der Familie Abadiano, die Lizardis Verleger Alejandro Valdés beerbt - informieren, ergibt ein imposantes Panorama der Buchkultur, die in El Periquillo Sarniento eingeht. Der interpretatorische Ertrag derlei quantifizierender Erhebungen ist allerdings begrenzt, sagen sie doch kaum etwas über die narrative Funktionalisierung der pluralen Referenzen aus. 95 Ebendies versucht dagegen eine Lesart, die Schwerpunkte der intertextuellen Durchdringung isoliert, um Lizardis Roman immerhin ansatzweise in einen diskursgeschichtlichen Rahmen einzubetten. Das böte zudem die Möglichkeit, ein dezidiert transkulturelles Erzählen zu beleuchten, wie es in El Periquillo Sarniento vor allem die Verfahren der Zitation und Wiederholung initiieren. In Betracht kommen diesbezüglich drei eng miteinander verwobene Aspekte, ohne deren Berücksichtigung weder Traditionalität noch Modernität, weder das transatlantische Erbe noch das kontinentale 92 Zur Entstehung und Institutionalisierung wissenschaftlicher Disziplinen in Lateinamerika vgl. die Beiträge in Sandra Carreras / Katja Carrillo Zeiter (Hg.), Las ciencias en la formación de las naciones americanas, Madrid u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2014. 93 Der betreffende Aufsatz trägt den vollen Titel „The Intellectual Background of Lizardi as Reflected in El Periquillo Sarniento“, in: PMLA 71/ 3 (1956), 414-432. 94 Vgl. Ruth Wold, El „Diario de México“, primer cotidiano de Nueva España, Madrid: Gredos 1970, 180ff. („Libros que se leían en México de 1805 a 1812“) und 225ff. („Bibliografía de las obras anunciadas en el Diario“). 95 Entsprechend summarisch fällt das Fazit aus, das Vogeley (Birth of the Novel, 47) nach Durchsicht der Abadiano-Bibliothek hinsichtlich der Belletristik zieht: „[T]he varieties of prose fiction, drama, and poetry, reflect Neoclassic expectations for reading, that is, that truth be illustrated by the imagination, that utility be enhanced by sweetness and beauty. Some of the Abadiano’s authors were Spanish (Padre Benito Feijóo, Padre José Francisco de Isla, Tomás de Iriarte, Ramón de la Cruz, Vicente García de la Huerta, Diego de Torres Villarroel, and the exiled Spanish Jesuit Lorenzo Hervás y Panduro). However, many were also French, Italian, English, and Portuguese […].“ Unter den ausländischen Prosafiktionen, die 1815 in Neuspanien kursieren, macht Vogeley (ebd., 66-68) als wichtigste Gruppe englische Texte (von Fielding, Richardson, Young oder Swift) und französische Werke aus, wobei Letztere von heute vergessenen Autoren (wie François Guillaume Ducray-Duminil oder Gautier de Costes de la Calprenède), aber auch von Fénelon, Lesage, Bernardin de Saint-Pierre, Chateaubriand oder Madame de Staël stammen. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 127 Nachleben dieser „única [obra] romancesa que se ha escrito en su clase en ambas Américas“ 96 verständlich werden. (1) So gilt es zunächst die Heterogenität und Proliferation der Quellen ernst zu nehmen, da sie als Vertextungsprinzipien zugleich Auskunft über Schreib- und Rezeptionsgewohnheiten des Verfassers und seines Umfelds geben. Wenn Lizardi von den Sentenzen des Horaz oder Juvenal nahtlos zu den Geboten des Katechismus springt, wenn er die Irrfahrten seines Protagonisten für seitenlange juridische oder soziologische Exkurse nutzt, wenn er astronomische Berechnungen mit Erwägungen zu indianischen Bestattungsritualen verknüpft sowie Sittenstrenge mit karnevalesker Kreatürlichkeit paart, so spricht daraus nicht die Unbeholfenheit des literarischen Anfängers, dem es an Gespür fürs aptum mangelt. Vielmehr geht es um die Ausstellung eines enzyklopädischen Bildungsschatzes, der nicht in toten Buchstaben musealisiert werden soll, sondern stets anwendungsbezogen zu perspektivieren ist. Denn genauso wie Lizardi mit kontinuierlichen Querverweisen auf andere Werke und Autoren einen Ruf als freilich volksnaher poeta doctus anstrebt, erhebt er Periquillos Schicksal zum exemplarischen Kasus, 97 der über die Fiktion hinausweist und das Publikum mit alltagstauglichen Ratschlägen und Informationen versorgen will. Das enzyklopädische Wissen, von dem hier die Rede ist, meint darum weniger fundierte Fachkenntnisse, wie sie die französischen Herausgeber der Encyclopédie (ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, 1751-1780) zumindest intendierten. Scharfzüngig geißeln Lizardis Figuren die fehlende Anschaulichkeit und den oftmals unverständlichen Jargon vieler Disziplinen, 98 denen sie eine reizvolle Alternative entgegenhalten: den Roman El Periquillo Sarniento, als dessen textuelles Korrektiv sich in mehrfacher Hinsicht das Kompendium herausstellt. 99 Kompendien, Lexika und Anthologien sind es nämlich, die Lizardi bei seiner literarischen Arbeit vorzugsweise konsultiert; Kompendien sind es auch, die in der Fiktion als gewinnbringender Lesestoff empfohlen werden; und als Kompendium präsentiert sich letztlich der Roman selbst, der die Vermittlung von Allgemeinwissen mit der Ereignishaftigkeit und der Komik der Schelmen-Vita korreliert. Unumwunden bekennt sich Lizardi zur Praxisnähe und zum intellektuellen Eklektizismus der Handbücher, denen 96 So nochmals Lizardis stolzes Fazit in „Aviso a la Santa Liga“ (Obras, Bd. 13: Folletos 1824-1827, 317). 97 Lizardis Bezugnahme auf die exempla-Literatur erörtert u.a. María Isabel Larrea, „El Periquillo Sarniento: un relato ejemplar“, in: Estudios filológicos 18 (1983), 59-76. 98 Erwartungsgemäß ist es die Medizin, die vorrangig der Wissenschaftssatire in El Periquillo Sarniento zum Opfer fällt und die mit den Umtrieben des Schelms als falscher Arzt in Tula (PS 564-577) gänzlich ad absurdum geführt wird. 99 Lizardis literarische Orientierung am Kompendium konstatiert treffend auch Mirjana Polić-Bobić, „Lizardi y la ilustración: un coqueteo“, in: Studia Romanica et Anglica Zagrabiensia 40 (1995), 79-104, hier 96. 128 Globalisierungsnarrative um 1800 er in El Periquillo Sarniento Gehör verschafft. So rekurriert er allein an die sechzig Mal, mit der Stimme des Pensador oder des Ich-Erzählers, auf Jamins bereits erwähnten Zitatenschatz Fruit de mes lectures (1775), was die Binnenhandlung bruchlos fortsetzt. Denn die Studienliteratur, die dem kleinen Periquillo aufgegeben wird, beschränkt sich abermals weitgehend auf Nachschlagewerke - „los compendios de Fleuri o Pintón“ (PS 134f.) 100 - oder toleriert mit O Feliz Independente do Mundo e da Fortuna (1779/ 86) des portugiesischen Priesters Teodoro de Almeida und der Anthologie Vie des Enfants Célèbres (spanische Übersetzung 1800) allenfalls religiöse Anekdoten, deren Schulmeisterton Lizardis Roman nachgerade ostentativ übernimmt. Die scheinbar unsystematische Wiedergabe fremder Rede hat genau besehen also System, sofern sie die paradigmatische Repräsentation des Kompendiums in das pikareske Erzählsyntagma transferiert und diesem als eigenes Verdienst gutschreibt. (2) Allzu weit her ist es mit den Diatriben, die El Periquillo Sarniento gegen die Versuchungen der literarischen Fiktion einerseits und gegen die wissenschaftlichen Nomenklaturen andererseits richtet, dennoch nicht. Lizardi verzichtet weder auf das imaginative Stimulans der „lubricidad“ (PS 136) noch schert er aus epochalen Trends aus, die spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch in seiner Heimat Einzug halten. Dem taxonomischen Universalismus der klassischen Episteme 101 ebenso verpflichtet wie dem aufklärerischen Emanzipationswillen, folgt sein erster Roman der entsprechenden Neuorientierung der hispanoamerikanischen Kulturen, die im Zeitalter der Vernunft und - nicht zu vergessen - der komplementären Empfindsamkeit zunehmend nach Frankreich blicken. In El Periquillo Sarniento macht sich das Ottmar Ette zufolge insofern bemerkbar, als ein eher implizites Verweissystem erkennbar wird, das die nicht spanischen Literaturen Europas und allen voran die französische Literatur und Philosophie in ihrer großen Bedeutung für diesen Roman (wie für Fernández de Lizardis Denken überhaupt) hervortreten lässt. […] Scheint das architextuelle Grundmuster auch spanisch determiniert zu sein, so wird in dessen intertextueller Auffüllung selbst innerhalb der novela picaresca das Vorrücken französischer Vorbilder doch greifbar. 102 Der Versuch, barocke Hyperbolik und Jenseitsverhaftung rationalistisch zu bändigen, hat bereits andere Interpretinnen und Interpreten beschäftigt, 103 100 Genauerhin empfiehlt Periquillos Lehrer hier den Catéchisme historique, contenant en abrégé l’histoire sainte et la doctrine chrétienne (1679) des Abbé Fleury sowie José Pintóns Compendio histórico de la religión desde la creación del mundo hasta el estado presente de la Iglesia (1753); siehe hierzu minutiös Spell, „Intellectual Background“, 415-423. 101 Vgl. Foucault, Mots et choses, 60ff./ 137ff. 102 Ette, „Dialogisches Schreiben“, 229. 103 Stellvertretend für zahlreiche Arbeiten, die dem aufklärerischen Diskurs in Lizardis Werk nachgehen, nenne ich Carmen Ruiz Barrionuevo, „La cultura ilustrada de José Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 129 die den französischen Einschlag in El Periquillo Sarniento teils aber unterschätzen oder stillschweigend voraussetzen. Die Vielzahl moraltheologischer Bezugnahmen im Roman mag zwar Lizardis Etikettierung als eine Art „Mexican Feijoo“ 104 motivieren, der eine katholisch gedämpfte Aufklärung verficht. Die aufschlussreichen Verschiebungen, die das Gedankengut der philosophes passiert, ehe es in El Periquillo Sarniento wiederkehrt, bleiben somit jedoch unberücksichtigt. Die mannigfaltigen Relativierungen, die französische Impulse in der spanischen 105 und sodann in der hispanoamerikanischen ilustración 106 erfahren, können hier nicht aufgerollt werden, zumal die mittels Zensur behinderte Verbreitung wichtiger Texte zusätzliche Sprengkraft birgt. Fest steht gleichwohl, dass sich Lizardi das epistemische Klima seiner Zeit zunutze macht und in seinem ersten Roman aufklärerische Philosopheme und Poetologeme aktualisiert, die ihren - zuweilen verschütteten - Ursprung in Frankreich haben. Es ist demnach zu prüfen, welchem Modus die Übertragung gehorcht, welchen Bedingungen sie unterliegt und welchen Wirkungsradius sie entfaltet. Eine tragende Rolle werden dabei die Figur und das Gesetz des Vaters 107 spielen, deren narrative Produktivität in El Periquillo Sarniento den Spagat zwischen papageienhafter Imitation und transkultureller Refiguration veranschaulicht. (3) Denn, wie verstreute Spuren im Gesamtwerk dokumentieren, kennt der Mexikaner in Exzerpten, partiellen Übersetzungen oder nur einzelnen Denkfiguren durchaus die Schriften eines Fénelon, Montesquieu, Voltaire, Diderot und Rousseau. 108 Trotzdem sucht man ihre Namen in El Periquillo Sarniento vergebens und muss sich mit einer Leerstelle abfinden, die umso signifikanter ist, als sie die thematische Ausrichtung des Romans Lügen straft: Gleichheit und Mündigkeit, individuelle Freiheit und gesellschaftli- Joaquín Fernández de Lizardi“, in: Suplemento de Anuario de Estudios Americanos: Historiografía y Bibliografía 48/ 2 (1988), 75-94; Lilian Álvarez de Testa, Ilustración, educación e independencia. Las ideas de José Joaquín Fernández de Lizardi, México: UNAM 1993; Polić-Bobić, „Lizardi y la ilustración“, 79-104; Alba-Koch, Ilustrando la Nueva España. 104 So Jefferson Rea Spell, „Fernández de Lizardi: The Mexican Feijoo“, in: Romanic Review 17 (1926), 338-348. 105 Die Präsenz französischer Einflüsse in der spanischen Ilustración kontextualisiert anschaulich Von Tschilschke, Identität der Aufklärung, 72ff. 106 Gesamtdarstellungen zur hispanoamerikanischen Aufklärung bieten etwa José Carlos Chiaramonte (Hg.), Pensamiento de la ilustración. Economía y sociedad iberoamericanas en el siglo XVIII, Caracas: Ayacucho 1979; Krumpel, Aufklärung und Romantik in Lateinamerika, 103ff. sowie konzise Carlos Rincón, „Aufklärung im spanischen Amerika“, in: Werner Krauss (Hg.), Die Aufklärung in Spanien, Portugal und Lateinamerika, München: Fink 1973, 213-235. 107 Die begriffliche Anleihe verweist freilich auf Jacques Lacan, in dessen Psychoanalyse Nom-du-Père und Loi-du-Père weniger den biologischen Vater denn vielmehr - verkürzt gesagt - eine anonyme Instanz bezeichnen, die das Subjekt in die symbolische Ordnung zwingt; vgl. hierzu etwa Jacques Lacan, „D’une question préliminaire à tout traitement possible de la psychose“ [1958], in: Ders., Écrits, Paris: Seuil 1966, 531-583. 108 Siehe die Stellensammlung bei Spell, Life and Works of Fernández de Lizardi, 107-110. 130 Globalisierungsnarrative um 1800 che Verantwortung, Recht und Gerechtigkeit, Familie und Geschlechterverhältnis - darum kreist die Fiktion, welche die Diskussionsfelder der französischen Aufklärung evoziert und die bekanntesten Exponenten dennoch ungenannt lässt. Weder der fragliche Kenntnisstand des Autors noch die kulturgeschichtliche Gesamtkonstellation erklären hinreichend den Widerspruch, der in El Periquillo Sarniento vielmehr das Resultat einer taktischen Filterung ist. 109 Indem er die wahre Provenienz aufklärerischer und empfindsamer Ideenformationen eskamotiert, entschärft Lizardi deren politische Brisanz und macht sie überdies für seine kolonial sozialisierte Leserschaft zumutbar. Selbst in der Verstellung profitieren er und sein Roman jedoch vom intellektuellen Renommee, das die scharfsinnigen, wiewohl gefährlichen Denker aus Frankreich in Hispanoamerika genießen. Prominentestes Beispiel der prestigeträchtigen Camouflage ist sicherlich Jean-Jacques Rousseaus Émile ou De l’éducation. 110 An den 1762 erschienenen und sogleich heftig debattierten Romantraktat 111 knüpft El Periquillo Sarniento in stofflicher wie gattungsmäßiger Hinsicht an und verankert hiermit die Erziehungsfrage als eines der Metanarrative auf dem Kontinent. Auf die markanten Überschneidungen und die zwangsläufigen Abweichungen wird zurückzukommen sein. Vorerst genügt der Hinweis auf das beredte Schweigen. Denn statt wenigstens die Kenntnis des Émile und seines Verfassers einzuräumen, spielt Lizardi a priori eine sichere Karte, 109 Der Begriff der „Taktik“ und der Widerpart der „Strategie“ sind hier gemäß Michel de Certeaus Analyse der Alltagspraktiken (L’invention du quotidien, 60) verstanden: „Par rapport aux stratégies […] j’appelle tactique l’action calculée que détermine l’absence d’un propre. Alors aucune délimitation de l’extériorité ne lui fournit la condition d’une autonomie. La tactique n’a pour lieu que celui de l’autre. Aussi doit-elle jouer avec le terrain qui lui est imposé tel que l’organise la loi d’une force étrangère.“ 110 Der Verbreitung von Rousseaus Denken in Lateinamerika widmen sich u.a. Jefferson Rea Spell, Rousseau in the Spanish World Before 1833. A Study in Franco-Spanish Literary Relations [1938], New York: Octagon 1969; Fernando Nina, „Rousseau als Vordenker der lateinamerikanischen Unabhängigkeit? Kritische Anmerkungen zu Simón Bolívar“, in: Simon Bunke et al. (Hg.), Rousseaus Welten, Würzburg: Königshausen&Neumann 2014, 115-135 oder Vittoria Borsò, „L’effet Rousseau: Glanz und Elend einer transatlantischen Rezeption“, in: Stephan Leopold / Gerhard Poppenberg (Hg.), Planet Rousseau: Zur heteronomen Genealogie der Moderne, Paderborn: Fink 2015, 191-212. Mit Lizardis Rousseau-Rezeption befassen sich in pädagogischer Hinsicht Álvarez de Testa, Ilustración, educación e independencia, 50-54/ 157-198 und Jesús Hernández García, Fernández de Lizardi, un educador para un pueblo: la educación en su obra periodística y narrativa, México: UNAM 2003, 2 Bde. Unter gesellschaftstheoretischem Aspekt verhandelt Lizardis Rekurse ferner Dieter Janik, „El Periquillo Sarniento de J.J. Fernández de Lizardi: una normativa vacilante (sociedad - naturaleza y religión - razón)“, in: Ibero-Amerikanisches Archiv 13/ 1 (1987), 49-60 sowie Ders., Stationen der spanischamerikanischen Literatur- und Kulturgeschichte. Der Blick der anderen - der Weg zu sich selbst, Frankfurt/ Main: Vervuert 1992, 57-68. 111 Realhistorisch sei zumindest daran erinnert, dass Émile unmittelbar nach dem Erscheinen vom Pariser Parlament kassiert wird und Rousseau sich dem daraufhin erlassenen Haftbefehl nur durch Flucht in die Schweiz entziehen kann. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 131 um keine Absatzhindernisse für seinen Roman zu provozieren. Gerade auf pädagogischem Terrain, das er auch programmatisch bearbeitet, 112 bietet er vertrauenserweckende Gewährsleute auf, in deren Texten Rousseaus geheime Federführung dennoch stets durchscheint. Anstelle des umstrittenen Émile beruft sich El Periquillo Sarniento so etwa auf die Dissertation sur l’éducation physique des enfants depuis leur naissance jusqu’à l’âge de puberté (1762) des Arztes Jacques Ballexserd und insbesondere auf die Abhandlungen des Abbé Jean Baptiste Blanchard (L’École des mœurs, ou réflexions morales et historiques sur les maximes de la sagesse, 1782 / Préceptes pour l’éducation des deux sexes, à l’usage des familles chrétiennes, posthum 1803). In der Nachfolge unbescholtener katholischer Vorbilder schleifen sich gewisse satirische Spitzen, die Lizardis Schelmenstreich gegen die koloniale Bildungspraxis richtet, wie von selbst ab. Für geraume Zeit ist El Periquillo Sarniento damit gegen staatliche oder klerikale Restriktionen gefeit, was sich erst ändert, als der vierte Band noch einen Schritt weiter geht und auf uneingeschränkte Menschenrechte pocht. 113 Nicht völlige Neuschöpfung oder gezielte intertextuelle Demontage, sondern die wohlüberlegte Filterung begründet deshalb die Originalität des Romans, der mit der explosiven Folie eines Rousseau ungleich vorsichtiger verfahren muss als mit der spanischen Pikareske. Der narrativen Verschleierungstaktik ist die transkulturelle „plasticidad“ 114 gewiss nicht abzusprechen, zumal sie die aufklärerischen Importe in den neuspanischen Alltag versetzt und entsprechend variabel resemantisiert. Zu beweisen bleibt dagegen, ob Lizardis Erzählen auch das intrikate Verhältnis konkretisiert, das in den Kontaktzonen 115 kultureller Übertragung Fremdes und Eigenes kurzschließt. Es ist zumindest Skepsis angebracht, weil El Periquillo Sarniento kaum einmal am symbolischen Patriarchat rüttelt, das in der namentlichen Latenz umso dominanter auftritt. Anders und weniger psychoanalytisch formuliert: Noch mit der Stimme ihrer Stellvertreter melden sich Rousseau und andere verdächtige Autor(ität)en aus Frankreich zu Wort, ohne dass sie der mexikanische Roman ernstlich in Frage stellen würde. 112 Unter Lizardis Programmtexten zur Erziehung verdienen die mit „Proyecto fácil y utilísimo a nuestra sociedad“ betitelten Artikel, die 1814 im Pensador Mexicano erscheinen (Obras, Bd. 3, 419-437), besondere Aufmerksamkeit. 113 Die Kritik an der Sklaverei, die ein farbiger jamaikanischer Kaufmann im Namen des aufklärerischen Gleichheitsideals äußert (PS 722-735), dürfte wohl der Grund für die Zensur des vierten Bandes gewesen sein. 114 Zur innovativen ‚Plastizität‘ narrativer Transkulturation siehe nochmals Rama, Transculturación narrativa, bes. 38f. 115 Zur transkulturellen „contact zone“ vgl. wiederum Pratt, Imperial Eyes, 1-12 sowie die anregenden Beiträge in Christoph Wulf (Hg.), Kontaktzonen. Dynamiken und Performativität kultureller Begegnungen (= Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 19/ 2), Berlin: De Gruyter 2010. 132 Globalisierungsnarrative um 1800 II.4.2 Supplementäre Vater-Fiktionen und die Korrektur des gefährlichen Rousseau Welchen Stellenwert Lizardi dem Genfer Schriftstellerphilosophen eigentlich beimisst, gibt er zu verstehen, als Presse- und Meinungsfreiheit allmählich an Boden im Vizekönigtum gewinnen. In La Quijotita y su prima, seinem zweiten Roman, dessen erster Teil 1818 erscheint und der ergänzend zum Vorgänger die educación de mujeres - so der Nebentitel - in den Blick nimmt, gesteht er seine Vetrautheit mit dem Émile unverhohlen ein. Im elften Kapitel paraphrasiert er einen langen Passus zur Betreuung des Kleinkindes, nicht aber ohne Rousseaus „arte de la primera educación“ im Voraus, mit den Worten des Abbé Blanchard, in ein ambivalentes Licht zu rücken: „[A]ñadiremos algunas reflexiones muy juiciosas que hace a este asunto monsieur Rousseau en su Emilio, en donde entre tan gran número de errores perniciosos se hallan verdades útiles.“ 116 An- und Aberkennung erzieherischer Kompetenz gehen hier ineinander über und signalisieren eine Form kontradiktorischer Selbstzensur, die der zu Lebzeiten unveröffentlichte Don Catrín de la Fachenda (verfasst 1819/ 20, erschienen 1832) 117 nochmals zuspitzt. Darin adressiert Lizardi den „filósofo de Ginebra“ zwar voller Bewunderung als „gran Juan Santiago Rousseau“, schmäht jedoch postwendend dessen rhetorische Gewandtheit als zwiespältiges Talent, das dem Irrglauben Tür und Tor öffne. In Anspielung auf den preisgekrönten Discours sur les sciences et les arts (1750) heißt es demnach zu Rousseaus anmaßender „elocuencia“: [E]ste gran talento abusó de él [scil. del sol en su carrera] para probar una paradoja ridícula. Él quiso probar en este discurso que las ciencias eran perniciosas, después que había recomendado su provecho, después que les tomó el sabor, y logró hacer su nombre inmortal por ellas mismas. A tanto llega la vanidad del hombre. Rousseau defendió con su elocuencia un delirio que él mismo condenaba dentro de su corazón [...]. 118 Der bissige Spott, den das zweite Kapitel des Don Catrín hervorkehrt, verrät weitaus mehr über den Autor des Romans als über die kulturkritische Stoßrichtung des Premier Discours. Er enthüllt jene Dialektik, mit der Lizardi einerseits das wissenschaftliche Ansehen des ‚unsterblichen‘ Rousseau in Anspruch nimmt und andererseits dessen Zivilisationspessimismus 116 Beide Zitate: José Joaquín Fernández de Lizardi, Obras, Bd. 7: Novelas, hg. von María Rosa Palazón Mayoral, México: UNAM 1980, hier 1-532, hier 174. Wie die Herausgeberin María Rosa Palazón Mayoral nachweist (ebd., Anm.), sind Lizardis Émile- Paraphrase sowie der oben zitierte Kommentar auch in diesem Fall über die Zwischenstufe von Blanchards L’École des mœurs vermittelt. 117 Vgl. Lizardi, Obras, Bd. 7: Novelas, 533-619. 118 Alle vorangehenden Zitate: Lizardi, Obras, Bd. 7: Novelas, 547f. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 133 zurückweist und in der Versöhnung von „ciencias“ und gottgefälligen „virtudes“ 119 aufzuheben sucht. Das Lavieren zwischen Selbst-Nobilitierung und Fremd-Relativierung kennzeichnet nahezu alle Werkpassagen, die ausdrücklich zu Vertretern des Siècle des Lumières Stellung nehmen. Je nach politischer Großwetterlage und je nach Stand der eigenen literarischen Reputation urteilt Lizardi sie entweder als unverbesserliche „herejes“ 120 ab oder präsentiert sie als Musterbeispiele geistiger Redlichkeit und humanistische „apóstoles de la tolerancia“ 121 . Auf der Ebene markierter Interauktorialität 122 stehen daher keine eindeutigen Befunde zu erwarten, was sich in El Periquillo Sarniento durch die besagte Aussparung expliziter Rekurse verschärft. Nur die romaneske Fiktion selbst bietet mithin einen Anhaltspunkt, um dem Transfer französischer Diskurse in gewissen Motivbereichen, Figurenrekurrenzen und Erzählstrukturen auf die Spur zu kommen. Wie bereits angeklungen, sticht in diesem Zusammenhang Lizardis Akzentuierung der Vaterrolle ins Auge, zumal die Pikareske bisher als vaterlose Gattung schlechthin gelten konnte: So verliert der Prototyp spanischer Schelme, Lázaro oder Lazarillo de Tormes (1554), schon im Alter von acht Jahren seinen männlichen Vormund, der als Dieb für die Flotte gegen die Mauren zwangsrekrutiert wird und dabei zu Tode kommt. Ähnlich hart trifft es Pablos, den Protagonisten in Quevedos Historia de la vida del Buscón (ca. 1603-1608, publiziert 1626), dessen Erzeuger als Säufer, Gauner, Zuhälter, etc. kaum eine Straftat auslässt und deswegen per se als Familienoberhaupt ausfällt. Als Halbwaise, der seinen Vater nicht einmal kennt, wächst schließlich der Guzmán de Alfarache (1599 und 1604) auf, womit er ebenfalls unbehütet einer schlechten Welt ausgeliefert scheint. Selbst Reue und Besserung des Protagonisten, die Mateo Alemáns zweiter Teil insinuiert, trösten wenig über die „negative Anthro- 119 Lizardi, Obras, Bd. 7: Novelas, 547. Lizardi referiert hier zweifelsohne auf die Akademiefrage - „Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs? “ (Discours sur les sciences, in: Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 3, 1) -, die dem Premier Discours zugrunde liegt und auf die Rousseau mit einer scharfen Polemik gegen die wissenschaftliche Pervertierung des Menschen antwortet. 120 Nach Wiedereinführung der Zensur und seiner Inhaftierung lanciert Lizardi Ende 1813 im Pensador Mexicano (Obras, Bd. 3: Periódicos, 117f.) ein überschwängliches Bekenntnis zum Katholizismus, das ebenso wie seine spätere Klerikalkritik als taktisches Manöver zu verstehen ist: „Si todos los cristianos estuviesen dotados del espíritu, ciencia y virtud que los Gerónimos, Ambrosios, Agustinos, Basilios y Bernardos, nada importaría que vomitara el infierno Voltaires, Rousseaus, D’Alemberts, Montesquieus, Federicos, Diderots, y todos los herejes que encierra.“ 121 So Lizardi am 6. Dezember 1826 in El Correo Semanario de México (Obras, Bd. 6: Periódicos, hg. von María Rosa Palazón Mayoral, México: UNAM 1975, 53), wobei er sich konkret auf Voltaire bezieht, für dessen geächtetes Werk er im Laufe der 1820er Jahre mehrfach Partei ergreift. 122 Zum Begriff siehe Ina Schabert, „Interauktorialität“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57 (1983), 679-701. 134 Globalisierungsnarrative um 1800 pologie“ 123 hinweg, die der spanische Schelmenroman des Siglo de Oro ausgehend von der Schutz- und Vaterlosigkeit seiner (Anti-)Helden transportiert. Genau hier setzt Lizardi an, indem er zwei Jahrhunderte später - unter politisch und soziokulturell gänzlich anderen Vorzeichen - ein Patriarchat neuen Zuschnitts imaginiert. In der Umbruchsphase, die Neuspanien in den 1810er Jahren erlebt, mag der Vaterkomplex in El Periquillo Sarniento auch auf eine dezidiert koloniale „ideology of paternalism“ 124 verweisen. Zuvor noch wären allerdings die literarischen Abstammungsverhältnisse zu klären, da es in erster Linie „Vaterfiktionen“ 125 sind, die Lizardis Roman inszeniert und in eine evidente Erbfolge stellt. Schließlich rangiert der pater familias unter den Emblemfiguren, die der empfindsame Zweig der französischen Aufklärung zwar nicht hervorbringt, aber von Grund auf erneuert. Unter dem zitierten Titel widmet Judith Frömmer dem reformierten Image eine luzide Studie, die anhand diverser Programmschriften und literarischer Texte sowohl die Erfolgskarriere als auch das Dilemma der Väter im 18. Jahrhundert nachzeichnet. Als Repräsentanten der neuen bürgerlichen Familie müssen diese in Diderots Dramen Le Fils naturel (1757) und Le Père de famille (1758/ 61), in Rousseaus Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761), aber auch - als Erzieher verkleidet - im Émile (1762) oder Voltaires L’ingénu (1767) eine Vielzahl privater und öffentlicher Funktionen erfüllen, deren bisweilen aporetische Verstrickung Frömmer wie folgt darlegt: Denn die Ideale der Aufklärung stehen und fallen mit der Legitimität des Patriarchats, die von den politischen Denkern der Epoche ausführlich diskutiert wird. […] Der bürgerliche Familienvater ist nicht der verlängerte Arm des absolutistischen Staatsapparats, der sich häufig auf die Analogie von Gottvater, Landesvater und Familienvater berufen hat, sondern wird selbst nicht nur zum Vorbild für den idealen Herrscher, sondern zum Garanten einer Ordnung, die auch unabhängig von der Präsenz einer realen Vaterfigur funktioniert. In den Vaterfiktionen der Empfindsamkeit ist Reformierung und Reformulierung von Macht- und Affektstrukturen untrennbar miteinander verwoben. […] 123 Für die französische Moralistik, der eine strukturell verwandte, da ähnlich pessimistische Diskursformation wie dem spanischen Barockroman zugrunde liegt, konzeptualisiert den Begriff bekanntlich Karlheinz Stierle, „Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil“, in: Fritz Nies / Ders. (Hg.), Französische Klassik. Theorie - Literatur - Malerei, München: Fink 1985, 81-128. 124 Die Formulierung entstammt Vogeleys (Birth of the Novel, 98) akribischer Lektüre, die ebenfalls „Sonship“ und „Fatherhood“ (ebd., 86-102) als motivische Brennpunkte in El Periquillo Sarniento ausmacht, diese aber nahtlos in ihre ideologiekritische Generalthese einpasst. Die prononcierte Vaterrolle stünde mithin für die Problematisierung einer patriarchalen, d.h. per se kolonialen Sprachordnung, der Lizardis Roman verpflichtet ist und die er dennoch hybridisiert und subvertiert. 125 So der Titel der folgend zitierten Monographie von Judith Frömmer, Vaterfiktionen. Empfindsamkeit und Patriarchat in der Literatur der Aufklärung, München: Fink 2008. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 135 Galt das Bild des Vaters seit jeher als Verkörperung theologischer und politischer Autorität schlechthin, so gewinnt es im bürgerlichen Familiendiskurs eine neue Komplexität. Dort muss der Vater ganz unterschiedlichen, sich teilweise widersprechenden Anforderungen genügen, zumal er als biologischer Erzeuger und kultureller Erzieher, als natur- und zivilrechtliche Instanz, als Familienoberhaupt im privaten Innen- und als politischer Repräsentant im öffentlichen Außenraum in mehrfacher Hinsicht als Schwellenfigur und damit als Figur jener Differenz auftritt, über die der Gegensatz zwischen Natur und Kultur als solcher produziert wird und fassbar ist. 126 Nicht maßstabsgetreu, doch als Richtschnur transkultureller Verarbeitung hat Frömmers Bestandsaufnahme noch ein halbes Jahrhundert später jenseits des Atlantiks Gültigkeit. Dort verfasst der Mexikaner Lizardi nämlich einen Roman, der die Figur einer Vernunft und Affekt integrierenden patria potestas narrativ ausreizt und dabei zu entparadoxieren sucht. Derart mit einem französischen Stammbaum versehen, kann sogar der spanische Pícaro des Barock zum untadeligen Familienvorstand avancieren, was jedoch nicht nur Fiktion, sondern - wie zu zeigen sein wird - eine Utopie bleibt. Die Welt des Periquillo Sarniento bevölkert eine ganze Kolonie von Vätern und vaterähnlichen Mentoren, die Führungsstärke mit aufrechter Gesinnung, Einfühlungsvermögen mit Erudition verbinden. Als durchweg positive Antipoden treten sie den selbstsüchtigen und durchtriebenen Herren entgegen, denen Periquillo als Schelm dient. In Lizardis Gattungsvariante stehen sie aber zugleich in Konkurrenz mit einer dritten Gruppe, den „amigos-seductores“ 127 , deren schädlichem Einfluss der Protagonist ein ums andere Mal erliegt. Schlechte Freunde und väterliche Autoritäten bilden zwei Reihen, die komplementär zueinander verlaufen und deren Rivalität eigentlich erst die romaneske Ereignishaftigkeit verbürgt. Wer am Ende triumphiert, ist vorab ausgemacht, da die intradiegetisch übergeordnete Erzählerstimme des Pedro Sarmiento auch und gerade als perfekter pater familias spricht. Angesichts dieses Vorrangs nimmt es nicht wunder, dass selbst Periquillos Verführer - sein Schulfreund Januario, der Gefängniskamerad Aguilucho, der Räuberhauptmann Pípilo oder ähnliche flat charac- 126 Frömmer, Vaterfiktionen, 22f. Auch Friedrich Wolfzettel nimmt die Auseinandersetzung mit dem Patriarchat zum Ausgangspunkt seiner Geschichte des französischen Romans im 18. Jahrhundert; siehe Der französische Roman der Aufklärung. Vatermacht und Emanzipation, Tübingen u.a.: Francke 2009. 127 So die Formulierung bei Michael Rössner, dessen betreffendem Beitrag („Luces picarescas en México“, 83-96, hier 87) dieser Teil meiner Lektüre wichtige Hinweise verdankt. Unter pädagogischen Gesichtspunkten befasst sich mit der Potenzierung väterlicher Erzieherfiguren ferner Mariela Insúa, „El modelo del maestro en El Periquillo Sarniento de Fernández de Lizardi“, in: Hala Awaad / Dies. (Hg.), Textos sin fronteras. Literatura y sociedad II, Pamplona: Ediciones digitales del GRISO 2010, 83- 102, URL: http: / / dadun.unav.edu/ bitstream/ 10171/ 14248/ 1/ 07_Insua.pdf (abgerufen am 1.7.2016). 136 Globalisierungsnarrative um 1800 ters aus dem Milieu der Falschspieler und Delinquenten - nur in paternalen Obhutsverhältnissen beschreibbar sind. Es kommt einer ironischen Umkehrung gleich, wenn auf diese Weise der großsprecherische Januario (alias Juan Largo) als ‚Lehrmeister‘ auftritt, der den angehenden Schelm aus der Taufe hebt (PS 171): Pero después de todo, él [scil. Januario] fue mi maestro y mi más constante amigo; y cumpliendo con estos deberes tan sagrados, no se olvidó de dos cosas que me interesaron demasiado y me hicieron muy buen provecho en el discurso de mi vida, y fueron: inspirarme sus mals mañas, y publicar mis prendas y mi sobrenombre de Periquillo Sarniento por todas partes; de manera que por su amorosa y activa diligencia lo conservé en gramática, en filosofía y en el público cuando se pudo. Selbst die pikareske Urszene gerät wider Erwarten zur Instituierung einer Vater-Imago, die die Qualitäten des „amigo“ und „maestro“ in sich vereint und den ‚heiligen Pflichten‘ einer „amorosa y activa diligencia“ Genüge leistet. Sieht man von der geradezu zynischen Fehlattribuierung ab, so sind zärtliche Freundestreue und beharrliche Fürsorge in der Tat Kardinaltugenden, über die alle männlichen Leitfiguren in El Periquillo Sarniento verfügen. Ohne dass es der junge Periquillo je erkannt hätte, findet das Ideal eine erste Verkörperung in seinem eigenen Vater, der dem arbeitsscheuen Sohn immerhin bis zur Volljährigkeit beisteht und ihm eine an sich ausgewogene, 128 gefühlvolle und kenntnisreiche „instrucción“ (PS 228) angedeihen lässt (PS 266): Yo sabía que mi padre era bueno; pero no lo conocí bien hasta que tuve la noticia de su fallecimiento. Entonces, a un golpe de vista, vi su prudencia, su amor, su juicio, su afabilidad y todas sus virtudes, y al mismo tiempo eché de ver el maestro, el hermano, el amigo y el padre que había perdido. Nach dem Tod des biologischen Vaters verschiebt sich dessen Rolle zunächst auf einen „padre vicario“ (PS 169ff.), der als Nachfahre von Rousseaus „vicaire savoyard“ 129 Periquillo eine feinfühlige Abhandlung über Moraltheologie und Astronomie hält. Obschon der übermütige Schelm die Lektion alsbald in den Wind schlägt, finden sich weitere Stellvertreter, die ihn auf die richtige Bahn lenken wollen. So überlebt er seinen Gefägnisaufenthalt nur dank der Wohltätigkeit des alten Antonio (PS 395ff. / 901ff.), dessen Schwiegersohn er später wird. Eine nachträgliche Vaterschaft übernimmt auch der Coronel (PS 687ff.), dem Periquillo in Manila unterstellt ist und der ihn mit Zuneigung und gutem Rat statt mit militärischem Drill 128 Die prinzipiell vernünftige Erziehung, die der Vater für Periquillo vorsieht, wird freilich von der schrankenlosen Milde der Mutter torpediert. 129 Die „Profession de foi du vicaire savoyard“ (Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, 565- 635) findet sich als weitgehend eigenständiger Text im vierten Buch des Émile. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 137 zeitweise für ein ehrbares Leben gewinnt. 130 Es folgt der Bruder des chinesischen Inselregenten namens Limahotón (PS 761ff.), dessen Fremdperspektive - wie in Montesquieus Lettres Persanes (1721) oder Cadalsos Cartas marruecas (1772/ 1789) - als Korrektiv der neuspanischen Gesellschaft fungiert; sodann der Beichtvater Martín Pelayo (PS 865ff.) und schließlich der „amable amo, padrino, compadre y protector“ (PS 913), als dessen Verwalter Pedro-Periquillo zuletzt arbeitet. Nach dem Reigen der Vorbilder ist der bisher widerspenstige Sohn endgültig bereit, selbst Vaterpflichten zu erfüllen (PS 908ff.) und für eine Ordnung einzustehen, die er im Umgang mit Kindern und Gattin real verkörpert und deren symbolisches Fundament er mit seinen Memoiren legt. Dort, wo in der architextuellen Folie eine offenkundige Leerstelle klafft, säumen in El Periquillo Sarniento gleich mehrere pères de famille und pédagogues den Lebensweg des Pícaro, bis dieser selbst mit dem französischen „Ich-Ideal“ 131 verschmilzt. Vaterinstanzen bestimmen Anfang und Ende des Romans und verleihen dem Binnennarrativ zumindest eine oberflächliche Geschlossenheit. Die „empfindsam[e] Apologie des aufgeklärten Patriarchats“ 132 , die sich somit kundtut, setzt früh ein, weil auch der Protagonist, bevor er überhaupt seine „carrera de los vicios“ (PS 286/ 425) einschlägt, erstaunlich vielversprechende Anlagen zeigt. Retrospektiv kann er sich daher der beiden Eigenschaften rühmen, die ihn noch in äußerster Zügellosigkeit vor der charakterlichen Verrohung bewahrt hätten (PS 187): „La una un entendimiento dócil a la razón, y la otra, un corazón noble y sensible que no me ha dejado prostituir fácilmente a mis pasiones.“ Um sich später zum Besseren entwickeln zu können, darf Periquillo zu Anfang nicht gänzlich verdorben sein und besitzt im Grunde einen wachen Verstand sowie ein ‚edles Herz‘, das im Handlungsfortgang immer wieder lautstark zu schlagen beginnt. Obschon Rationalismus und Empathiefähigkeit nicht recht ins gattungsgemäße Psychogramm passen wollen, insistiert Lizardi gerade auf die potentielle „sensibilidad“ (PS 446) des Schelms. 133 Es 130 Gerade der gütige Oberst, so betont Pedro-Periquillo, habe für ihn die Rolle eines wohlsorgenden Vaters erfüllt (PS 688): „[L]legué a querer y a respetar al coronel como a mi padre, y él llegó a corresponder mi afecto con el amor de tal.“ Oder PS 701: „Tales eran los consejos que frecuentemte me daba el coronel, quien a un tiempo era mi jefe, mi amo, mi padre, mi amigo, mi maestro y bienhechor [...].“ 131 Freuds psychoanalytischen Terminus erweitern Jacques Lacan (z.B. in „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je“ [1936/ 49], in: Ders., Écrits, Paris: Seuil 1966, 93-100) sowie Slavoj Žižek (The Sublime Object of Ideology, London u.a.: Verso 1989, 105), der „between imginary and symbolic identification - between the ideal ego (Idealich) and the ego-ideal (Ich-Ideal) [...], between ‚constituted‘ and ‚constitutive‘ identification“ unterscheidet. 132 Frömmer, Vaterfiktionen, 125. 133 Insbesondere der weise Antonio, den Periquillo früh schon wie einen Vater lieben und respektieren will („yo lo amaba y lo respetaba como a mi padre“, PS 446), erkennt den grundsätzlich reinen Charakter seines späteren Schwiegersohns, so dass er 138 Globalisierungsnarrative um 1800 gibt wohl kaum einen anderen Roman pikaresker Tradition, in dem derart überschwängliche Regungen des Mitleids zelebriert werden wie in El Periquillo Sarniento, wo der Titelheld eng umschlungen mit seiner Mutter den Tod des Vaters beweint (PS 270), um dann bedenkenlos dessen Erbe zu verschleudern, wo er später „en un mar de aflicción y sentimiento“ (PS 447) versinkt, als ihn sein Freund Antonio im Gefängnis verlässt, oder wo Tränenströme fließen, wenn er zuletzt seine ehemaligen Weggefährten wiederfindet (PS 893): „[N]uestras lágrimas manifestaban los sentimientos de la gratitud, la reconciliación y la amistad, y un enfático silencio aclaraba elocuente las nobles pasiones de nuestras almas.“ Über Plausibilität und ästhetische Qualität der weidlich ausgekosteten Rührung lässt sich gewiss streiten, umso mehr als sie mitunter ins Bizarre tendiert. 134 Wichtiger ist indes, dass das transkulturelle Erzählen in El Periquillo Sarniento einerseits die Pikareske mit Versatzstücken des Bildungsromans und des conte philosophique amalgamiert, 135 um den gewissenlosen Protagonisten ex post zu rehabilitieren. Andererseits sucht Lizardi an sich unvereinbare Tendenzen der Aufklärung zu harmonisieren, indem er, verkürzt gesagt, Verfalls- und Fortschrittsnarrativ zusammenzwingt. Dabei erzählt er zunächst ganz in Rousseaus Nachfolge, wofür allein der basale Agon spricht, der ein von Natur aus gutes Individuum (Pedro-Periquillo) mit dem unheilvollen Einfluss der Umwelt konfrontiert. Unschwer erkennt man in El Periquillo Sarniento den Gegensatz zwischen dem „homme sauvage, sujet à peu de passions, et se suffisant à lui-même“ und einem „homme sociable toûjours hors de lui“ 136 , der vom Urteil anderer abhängt und darum in Habsucht und Neid gefangen ist. Der berühmte Dualismus von amour de soi und amour-propre, von gesunder Eigenliebe und komparativ pervertierter Selbstliebe, den der Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) aufmacht und den der Émile wortreich exemplifiziert, wird im mexikanischen Roman nicht nur abstrakt auseinandergesetzt (PS 704ff.). 137 Er artikuliert sich zudem in einem unermüdli- ihn am Ende als „muchacho bien nacido, de fina educación, de no vulgares talentos y de buen corazón“ (PS 902) wiedererkennen und in die Arme schließen kann. 134 So etwa in der eigenartigen Episode, in der Periquillo einer Räuberbande angehört (PS 831ff.), jedoch aus Mitleid mit den Opfern - oder doch aus Feigheit? - nicht an den Überfällen teilnimmt. Als es schließlich um sein eigenes Leben geht, hat er allerdings keine Skrupel, sich mit der Waffe zu verteidigen (PS 850). 135 Parallelen zwischen El Periquillo Sarniento und dem conte philosophique der französischen Aufklärer benennt Rössner, „Luces picarescas en México“, 84ff. 136 Beide Zitate: Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes [1755], in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, 109-194, hier 160 und 193. 137 Abermals ist es der barmherzige Coronel, der Periquillo angesichts der „aventura funesta del egoísta“ (PS 704) über die schädliche Selbstliebe aufklärt. Die Klasse der „egoístas tolerables“ (PS 707), deren auf Selbsterhaltung zielende Eigenliebe der Gesellschaft nicht schadet, wird vom Coronel jedoch gutgeheißen, was der Ich-Erzähler Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 139 chen - und teils ermüdenden - Plädoyer für die unverbildete Sittlichkeit, das Lizardi seinen Sympathieträgern in den Mund legt. Mit der permanenten Wiederholung des Schlagworts „virtud“ ruft El Periquillo Sarniento unweigerlich die Brandrede ins Gedächtnis, mit der Rousseau am Ende des ersten Discours gegen wissenschaftliche Verkomplizierung zu Felde zieht und für eine ‚wahrhaftige Philosophie‘ intuitiver Güte eintritt: O vertu! Science sublime des ames simples, faut-il donc tant de peines et d’appareil pour te connoître? Tes principes ne sont-ils pas gravés dans tous les cœurs, et ne suffit-il pas pour apprendre tes Loix de rentrer en soi-même et d’écouter la voix de sa conscience dans le silence des passions? Voilà la véritable Philosophie, sachons nous en contenter […]. 138 Noch auf dem Totenbett weiß sich der geläuterte Pedro Sarmiento als treuer Verfechter dieser „véritable Philosophie“, die er ähnlich emphatisch wie sein französischer Stichwortgeber beschwört. Seine Kinder ermahnt er demnach (PS 925): Que seáis humildes, atentos, afables, benéficos, corteses, honrados, veraces, sencillos, juiciosos y enteramente hombres de bien. Os dejo escrita mi vida, para que veáis dónde se estrella por lo común la juventud incauta; para que sepáis dónde están los principios para huirlos, y para que conociendo cuál es la virtud y cuántos los dulces frutos que promete, la profeséis y la sigáis desde vuestros primeros años. Eine einfache Tugendhaftigkeit, wie sie der vormalige Pícaro im Einklang mit dem Discours sur les sciences et les arts verkündet, 139 wäre danach auch das Telos einer gelungenen Erziehung. Was die Ansprache des Sterbenden nurmehr summarisch auf den Punkt bringt, verhandelt der Auftakt des Periquillo Sarniento in epischer Breite. Weite Teile des ersten Romanbands (PS 101-287) kreisen um Bildungsmaßnahmen, die in erster Linie e contrario, anhand der Verfehlungen des Protagonisten und seiner Umwelt erörtert werden. Gemäß einer Logik des „remède dans le mal“ 140 kann die Kommentarstimme des Ich-Erzählers aber Berichtigungen und Alternati- so reformuliert (PS 723): „Tan cierto es que el amor propio bien ordenado no es un vicio, sino un principio de virtud.“ 138 Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, 30. 139 Ähnliche Mahnungen enthält bereits der Brief, den der sterbende Vater seinem Sohn Periquillo als Anleitung für ein Leben in Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und tugendhafter Nächstenliebe hinterlässt (PS 266f.). 140 Siehe dazu die berühmte Rousseau-Lektüre von Jean Starobinski in Le remède dans le mal (Critique et légitimation de l’artifice à l’âge des Lumières, Paris: Gallimard 1989, 165- 232), die eine Formel aus Du contrat social ou principes du droit politique ([1762], in: Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 3, 288) aufnimmt: „[E]fforçons nous de tirer du mal même le reméde qui doit le guérir. Par de nouvelles associations, corrigeons, s’il se peut, le défaut de l’association générale.“ 140 Globalisierungsnarrative um 1800 ven nachschieben, die ihrerseits wiederum konsequent an den Émile anknüpfen. Rousseau zieht darin bekanntlich die ontogenetischen Schlüsse aus den Degenerationserscheinungen, die der erste wie der zweite Discours für die Menschheit im Ganzen konstatieren. 141 Jedwede Pädagogik muss somit darauf bedacht sein, zum état de nature zurückzukehren oder ihm zumindest nahezukommen, wohlwissend, ihn niemals restituieren zu können. Mit List oder sanfter Gewalt sind die natürlichen Regungen des Kindes zu fördern und längstmöglich zu erhalten: „Tout ce qu’on peut faire à force de soins [de l’éducation] est d’approcher plus ou moins du but, mais il faut du bonheur pour l’atteindre. Quel est ce but? c’est celui même de la nature […].“ 142 Das ist der Ausgangspunkt des an und im Émile durchgeführten Versuchs, dessen innovatorischer Impuls feststeht, der gleichwohl wenig mit der realhistorischen Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen Mitte des 18. Jahrhunderts zu tun hat und hauptsächlich didaktische Utopien wie Fénelons Aventures de Télémaque (1699) fortspinnt. 143 Rousseaus Experiment erstreckt sich von der Isolation des reichen Zöglings über die Schulung des Körpers (in den ersten Lebensjahren), der einzelnen Sinne (5-12 Jahre), der geistigen (12-15 Jahre) und moralisch-religiösen Fähigkeiten (15-20 Jahre) bis hin zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft durch Heirat. Auch ohne die Phasen oder Methoden im Einzelnen zu erläutern, erweist sich die Synopse mit El Periquillo Sarniento als überaus informativ. Zugespitzt formuliert, gleichen die ersten 150 Seiten des Romans nämlich einer Montage diverser, dem Émile entliehener Erziehungsprinzipien, die durch den Filter des Abbé Blanchard gegangen sind, ehe sie Lizardi narrativ verkettet. Das betrifft bereits die Geburtsepisode und den Umgang mit dem Kleinkind, dessen Bewegungsfreiheit der intradiegetische Erzähler ebenso wenig beschnitten wissen will wie Rousseau. Getreu dessen Polemik 144 wendet sich Pedro Sarmiento gegen die verbreitete Unsitte, Neugeborene zu fixieren und allzu eng zu betten. Als geradezu ‚absurden‘ Unfug rügt er „el liar y atar las manos a las criaturas“ (PS 107) und trifft sich darin 141 Mit dem Verweis auf die ursprünglich gute, doch von Menschenhand verdorbene Natur stellt bereits der Auftakt des Émile (Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, 245) den Nexus mit der Zivilisationskritik der Discours her. 142 Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 247. 143 Auch in El Periquillo Sarniento sowie in Lizardis Gesamtwerk lassen sich intertextuelle Spuren der Aventures de Télémaque nachweisen; vgl. hierzu Christoph Strosetzki, „Fénelon und Fernández de Lizardi: Vom Absolutismus zum Liberalismus“, in: Ders., Das Europa Lateinamerikas. Aspekte einer 500jährigen Wechselbeziehung, Stuttgart: Steiner-Verl. 1989, 63-75 und Annie de Faria, „Présence de Fénelon dans l’œuvre de J.J. Fernández de Lizardi“, in: Annales de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines de Nice 23 (1983), 113-128. 144 „A peine l’enfant est-il sorti du sein de la mére, et à peine joüit-il de la liberté de mouvoir et d’étendre ses membres, qu’on lui donne de nouveaux liens.“ (Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 253). Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 141 mit dem ersten Buch des Émile, das gleichfalls als Vorlage für den Tadel an unbedarften Ammen (PS 108f.) und leichtlebigen Mütter dient. 145 Die misogyne Schlagseite in El Periquillo Sarniento steht Rousseaus Ächtung der „douces méres qui débarrassées de leurs enfans se livrent gaiement aux amusemens de la ville“ 146 in nichts nach, wie der harsche Wortlaut belegt (PS 110): Mujeres crueles, ¿por qué tenéis el descaro y la insolencia de llamaros madres? […] Vosotras nos concebisteis por apetito, nos paristeis por necesidad, nos llamáis hijos por costumbre, nos acariciáis tal cual vez por cumplimiento, y nos abandonáis por un demasiado amor propio o por una execrable lujuria. Derlei punktuelle Parallelen ließen sich auf dem Gebiet der Hygiene und der physischen Reifung vervielfachen, wobei Lizardi insbesondere sprachlich, durch die Integration regionaler Kollokationen und die Deformation institutioneller Rede eigene Akzente setzt. 147 Die transkulturelle Reprise reicht aber weiter, da Periquillos Heranwachsen im Ganzen den fünf Stadien folgt, die der Émile diesbezüglich vorgibt. 148 Von dorther rührt auch die plakative Forderung nach einem erfahrungsgeleiteten Unterricht, in dem das stumme Buchwissen zugunsten sinnlich greifbarer Lerninhalte zurücktritt: „L’expérience ou l’impuissance doivent seules lui [scil. à l’enfant] tenir lieu de loi.“ 149 Der empiristischsensualistische Weltzugriff, den Rousseau einer kritischen Locke-Rezeption (An Essay Concerning Human Understanding [1690]; Some Thoughts Concerning Education [1693]) sowie dem Traité des sensations (1754) seines langjährigen Freundes Condillac verdankt, grundiert in El Periquillo Sarniento die induktiven Szenarien, in denen der Protagonist an der eigenen Unfähigkeit oder an den äußeren Gegebenheiten scheitert, um ebendaraus eine nachhaltige Lektion zu destillieren. 150 Just in dieselbe Kerbe schlägt das beiderseits gesungene Lob des Hand-Werks, dessen unmittelbarer Nutzen keiner zusätzlichen Motivation bedarf. Aufgrund der gefährlichen Neigung zum Spekulativen, die vielen Geistestätigkeiten eigen ist, soll Émile Tischler werden, 151 worauf Lizardi mit einer langwierigen Apologie der „oficio[s] 145 Zu diesen Aspekten der Kleinkinderziehung vgl. Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 255-259. 146 Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 255. 147 Siehe Vogeley, Birth of the Novel, 134-159. 148 Hinsichtlich El Periquillo Sarniento rekonstruiert Rousseaus pädagogisches Phasenmodell anschaulich Álvarez de Testa, Ilustración, educación e independencia, 168f. 149 Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 311. 150 Den Nutzen sinnlich erfahrbarer Beispiele bringt Pedro Sarmiento gegenüber seinen Kindern auf den Punkt (PS 105): „[L]as máximas que os enseño […] las aprendí a costa de muy dolorosas experiencias […].“ 151 So im dritten Buch des Émile (Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, 477). n 142 Globalisierungsnarrative um 1800 mecánico[s]“ (PS 140) repliziert, 152 die der Chor der Vaterfiguren einstimmig ausbreitet. „A quoi cela est-il bon? “ - „en quoi ce que vous me demandez est-il utile à savoir? “ - „à quoi sert cela? “ 153 Hätten die Leitfragen des Rousseau’schen Mentors bei Periquillos Berufswahl Anwendung gefunden, wäre ihm die harte Schelmenkarriere eventuell erspart geblieben (PS 319): „El saber hacer alguna cosa útil con las manos, quiero decir, el saber algún arte ya mecánico ya liberal, jamás es vituperable […].“ Im Geschehensverlauf des Romans kann sich die auf Produktivität zielende, teils physiokratisch anmutende Arbeitsethik freilich nicht durchsetzen, weshalb man weder ihre politische Dimension - die Emanzipation kreolischer Erwerbsschichten gegenüber der kolonialen Besitzklasse 154 - noch überhaupt den Primat manueller Beschäftigungen überbewerten sollte. Schließlich befassen sich Lizardi und Rousseau weiterhin detailliert mit der intellektuellen Entwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen. Sowohl im Émile als auch in El Periquillo Sarniento wird hierbei scharfe Kritik an überladenen Lehrplänen, am autoritären Unterrichtsstil sowie an unkundigem und überfordertem Personal laut. 155 Theorielastigkeit, mechanischer Gehorsam sowie die Abrichtung der Adoleszenten zu rücksichtslosen Rivalen sind die Auswirkungen, die sich auf beiden Seiten des Atlantiks scheinbar gleichen und denen Rousseau und Lizardi mit einem halben Jahrhundert Abstand den Kampf ansagen. Periquillos wechselhafte Schullaufbahn spricht in dieser Hinsicht Bände, da sie einen zuweilen grotesken Einblick in das neuspanische Unterrichtswesen gewährt. So begegnen bereits in den Auftaktkapiteln zwei bornierte „maestros“, die sich einzig durch ihre Ignoranz (PS 116-126) oder ihre brutalen Zuchtmittel hervortun (PS 127-130). Der Misserfolg beider verrät neuerdings die Handschrift Rousseaus, der die mangelhafte Ausbildung der „insensés instituteurs“ ebenso scharf geißelt wie die „tirannie“ der „[i]nstituteurs sévéres“ 156 . Periquillo tritt daraufhin in eine „tercera escuela“ ein, die Lizardi (PS 131ff.) als Gegenentwurf zu den vorangegangenen Missständen und als ideales Ambiente für ein altersgemäßes Lernen beschreibt. Allein die großzügige Ausstattung dieser dritten Schule veranlasst den Erzähler, den vordergründig statthaften Hypotext seiner Schilderung preiszugeben (PS 131-132): 152 Lizardis pädagogische Aufwertung u.a. der handwerklichen Arbeit kommentiert Jesús Hernández García, „Fernández de Lizardi: educación y trabajo en la sociedad ilustrada“, in: Bordón: Revista de Pedagogía 57/ 3 (2005), 315-336. 153 Alle drei Zitate: Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 446/ 447/ 448 (Hervorhebungen im Original). 154 Damit verbindet die erziehungs- und bildungsrelevanten Einlassungen in El Periquillo Sarniento hingegen Mozejko, „El letrado y su lugar“, 231ff. 155 Vgl. hierzu das zweite Buch des Émile (Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, bes. 346ff.). 156 Für die drei vorangehenden Zitate: Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 321/ 315/ 316. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 143 Entramos por fin a la nueva escuela, pero ¡cuál fue mi sorpresa cuando vi lo que no esperaba ni estaba acostumbrado a ver! Era una sala muy espaciosa y aseada, llena de luz y ventilación, que no embarazaban sus hermosas vidrieras; las pautas y muestras colocadas a trechos eran sostenidas por unos genios muy graciosos que en la siniestra mano tenían un festón de rosas de la más halagüeña y exquisita pintura. No parece sino que mi maestro había leído al sabio Blanchard en su Escuela de las costumbres y que pretendió realizar los proyectos que apunta dicho sabio en esta parte, porque la sala de la enseñanza rebosaba luz, limpieza, curiosidad y alegría. Al primer golpe de vista que recibí con el agradable exterior de la escuela, se rebajó notablemente el pavor con que había entrado, y me serené del todo cuando vi pintada la alegría en los semblantes de los otros niños de quienes iba a ser compañero. In perfekter Harmonie korrespondieren hier die freundliche Atmosphäre des Ortes und das sonnige Gemüt der Schülerschaft, so dass selbst der verschüchterte Periquillo sofort Zutrauen fasst. Das lichtdurchflutete, ordentliche und mit reichem Anschauungsmaterial ausstaffierte Klassenzimmer fesselt die sensorische Wahrnehmung, der das Kind die ersten und prägendsten Eindrücke verdankt. Was Pedro Sarmiento den „proyectos“ des verständigen Abbé Blanchard zuschreibt und was dessen École des mœurs 157 eher am Rande erwähnt, geht allerdings primär auf Rousseau zurück, dessen Émile in den ersten zwölf Lebensjahren überhaupt nur mittels konkreter Empfindungen und Erfahrungen sowie körperlicher Ertüchtigung lernen soll. In Lizardis pädagogische Idylle fügt sich somit auch ein „nuevo maestro“ ein, dessen gepflegtes Äußeres wiederum physiognomisch auf ein einnehmendes Wesen schließen lässt (PS 132): [E]ra un semijoven de treinta y dos a treinta y tres años, de un cuerpo delgado y de regular estatura; vestía muy decente, pero al uso del día y con mucha limpieza; su cara manifestaba la dulzura de su corazón; su boca era el depósito de una prudente sonrisa; sus ojos vivos y penetrantes inspiraban la confianza y el respeto; en una palabra, este hombre amable parece que había nacido para dirigir la juventud en sus primeros años. 157 Ich zitiere fortan aus der fünften Ausgabe: Jean Baptiste Blanchard, L’École des mœurs, ou réflexions morales et historiques sur les maximes de la sagesse. Ouvrage utile aux jeunes gens et aux autres personnes, pour se bien conduire dans le monde [1782], Paris: Ducauroy 1801, 3 Bde. Lizardi rezipiert den Traktat über die spanische Übersetzung von Ignacio García Malo, die 1786 und 1797 in Madrid erscheint und aus welcher der Diario de México ab 1805 Auszüge publiziert. Siehe hierzu Spell, „The Intellectual Background of Lizardi“, 422. Im Wesentlichen collagiert obige Schulepisode des Periquillo Sarniento Versatzstücke aus Blanchards Kapiteln „De l’éducation physique“ (École des mœurs, Bd. 1, 2-9), „De l’éducation morale“ (ebd., 9-97) und „Du précepteur ou gouverneur“ (ebd., 97-110). 144 Globalisierungsnarrative um 1800 Indem er Vertrauenswürdigkeit und Führungsstärke, Sanftmut und Klugheit, Bescheidenheit und Aufmerksamkeit auf sich vereint, beweist der Lehrer auf den ersten Blick eine charakterliche Prädisposition für seinen Beruf. Als „modèle de sagesse et de vertu“, als „autorité souveraine“ und zugleich als „ami fidèle“ präsentiert sich der „jeune homme“ 158 , der Periquillo nun unter seine Fittiche nimmt; zuallererst aber ist er die Personifikation einer doppelten Überschreibung, die im Schutz der klerikalen Intertextualität Blanchards an Rousseaus (Selbst-)Inszenierung des „bon gouverneur“ anschließt. In folgender Zusammenschau seien nur einige der herausragenden Attribute genannt, über die dieser im Émile verfügen soll: On raisonne beaucoup sur les qualités d’un bon gouverneur. La prémiére que j’en éxigerois, et celle-là seule en suppose beaucoup d’autres, c’est de n’être point un homme à vendre. Il y a des métiers si nobles qu’on ne peut les faire pour de l’argent sans se montrer indigne de les faire; tel est celui de l’homme de guerre; tel est celui de l’instituteur. […] Je remarquerai seulement, contre l’opinion commune, que le Gouverneur d’un enfant doit être jeune, et même aussi jeune que peut l’être un homme sage. Je voudrois qu’il fut lui-même enfant s’il étoit possible, qu’il put devenir le compagnon de son élêve, et s’attirer sa confiance en partageant ses amusemens. […] Vous ne serez point maitre de l’enfant si vous ne l’étes de tout ce qui l’entoure, et cette autorité ne sera jamais suffisante si elle n’est fondée sur l’estime de la vertu. 159 Es wäre lohnend und einigermaßen vergnüglich, die Vermittlungsstufen genauer nachzuvollziehen, zumal schon Blanchards Abhandlung zwischen schlichten Aufgüssen des Émile und barschen Anfeindungen dagegen schwankt und die Ambivalenz mit pedantischen Korrekturen zu kompensieren sucht. 160 Lizardi hat demgegenüber den Vorteil narrativer Dynamisierung, womit er Periquillos Lehrer in Aktion zeigen und einen Unterricht ganz nach Rousseaus Methode arrangieren kann. So nimmt der „maestro“ seinen Schützling einzeln bei der Hand, um ihm inmitten des Klassenzimmers die Schönheit der Schöpfung begreiflich zu machen. Unter seiner Anleitung bestaunt Periquillo die versammelten „flores“ und die „hermosura de sus colores“, riecht die „suavidad de sus aromas“ und vernimmt den „dulce canto de varios pintados pajarillos“ (PS 132). Mit dem ganzheitlichen Sinneserlebnis, dessen kindgerechte Didaxe Rousseau hervorhebt, 161 bessert der Neuankömmling nicht nur punktuell 158 Alle vorangehenden Zitate: Blanchard, École des mœurs, Bd. 1, 102f. 159 Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 263/ 265/ 325. 160 Siehe beispielsweise École des mœurs, Bd. 1, 35, wo Blanchard einen langen Passus aus dem Émile zitiert und darin die „réflexions judicieuses“ lobt, um sie postwendend wieder im Verweis auf Rousseaus „erreurs très-pernicieuses“ zu diskreditieren. 161 Vgl. etwa Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 380: „Un enfant est moins grand qu’un homme: il n’a ni sa force ni sa raison; mais il voit et entend aussi Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 145 sein botanisches Wissen auf. Überdies eröffnet sich ihm so der „grand livre de la nature“, den auch der fromme Blanchard als Lehrwerk erster Güte empfiehlt. 162 Erstaunlicherweise pflichtet der Abbé in diesem Punkt seinem Ghostwriter vorbehaltlos bei und überlässt es dem „vicaire savoyard“, sein deistisches Naturverständnis zu verlesen: J’ai donc refermé tous les livres. Il en est un seul ouvert à tous les yeux, c’est celui de la nature. C’est dans ce grand et sublime livre que j’apprends à servir et adorer son divin auteur: nul n’est excusable de n’y pas lire, parce qu’il parle à tous les hommes une langue intelligible à tous les esprits. 163 Lizardis Roman hält sich streng an das französische Palimpsest. Nahtlos geht er von der Biologie zur Theologie über und beschließt Periquillos synästhetische Instruktion mit dem Abglanz des Göttlichen, der alles Irdische durchgründet (PS 133): Considera ahora cuál será el poder, la sabiduría y el amor de este tu gran Dios, pues ese sol que te admira, esos cielos que te alegran, esos pajarillos que te divierten, estas flores que te halagan, este hombre que te enseña, y todo cuanto te rodea en la naturaleza, salió de sus divinas manos sin el menor trabajo, con toda perfección y destinado a tu servicio. Mikrokosmos und Makrokosmos entsprechen einander in der „religion naturelle“ 164 , die Rousseaus Vikar vertritt und die El Periquillo Sarniento gleichermaßen aufnimmt wie relativiert. Denn statt sich wie jener von institutionellen Dogmen großteils loszusagen, 165 leitet der „maestro“ aus dem wohlgeordneten Universum eine Reihe christlicher Gebote ab: Gottes- und Nächstenliebe, Demut und Hilfsbereitschaft sowie der im Dekalog festgeschriebene Respekt vor den Eltern figurieren unter den „Mandamientos“ (PS 133), die das Buch der Natur vermeintlich mitteilt. Weil darin auch die Achtung der „superiores“ (PS 133) dekretiert ist, kann der Lehrer das Studium des Schöpfungswunders zuletzt an die Unterrichtssituation zurückbinden und einen beidseitig verpflichtenden Gesellschaftsvertrag mit seinem Zögling abschließen (PS 133): „Ahora me toca serlo tuyo [scil. tu maestro] y bien que lui ou à très peu près; il a le goût aussi sensible quoiqu’il l’ait moins délicat, et distingue aussi bien les odeurs quoiqu’il n’y mette pas la même sensualité. Les prémiéres facultés qui se forment et se perfectionnent en nous sont les sens. Ce sont donc les prémiéres qu’il faudroit cultiver […].“ 162 Vgl. Blanchard, École des mœurs, Bd. 1, 14f.: „Pourquoi ne pourrait-on pas lui [scil. à l’enfant] faire comprendre l’existence de la divinité par l’excellence et la magnificence de ses ouvrages, et le faire lire comme Rousseau le dit lui-même, dans le grand livre de la nature, où les perfections de dieu, et surtout sa grandeur, sa puissance et sa bonté brillent avec tant d’éclat, que les plus simples même ne peuvent s’empêcher de les y reconnaître? “ 163 Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 624f. 164 Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 613. 165 Siehe beispielhaft Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 631f. 146 Globalisierungsnarrative um 1800 a ti te toca obedecerme como buen discípulo. Yo te debo amar como hijo y enseñarte con dulzura, y tú debes amarme, respetarme y obedecerme lo mismo que a tu padre.“ In der Rolle des „padre y […] amigo“ (PS 133), derer er sich sogleich nochmals versichert, bietet der Pädagoge eine weitere Version liebender patria potestas. Die Elementarschule offenbart sich auf diese Weise als Schule der Empfindsamkeit, in welcher Periquillo gar keine andere Wahl hat, als sich emotional zu unterwerfen. Nicht zufällig birgt seine anrührende Einwilligung in den Ausbildungspakt gewisse homoerotische und gar pädophile Konnotate, die der Erzählerkommentar in die richtigen Bahnen lenken muss (PS 134): ¿Me amarás? ¿Harás lo que te mande? - Sí, señor, le dije todo enternecido, y le besé la mano, enamorado de su dulce genio. Él entonces me abrazó, me llevó a su recámara, me dio unos bizcochitos, me sentó en su cama y me dijo que me estuviera allí. Es increíble lo que domina el corazón humano un carácter dulce y afable, y más en un superior. El de mi maestro me docilitó tanto con su primera lección, que siempre lo quise y veneré entrañablemente y por lo mismo lo obedecía con gusto. Eindrucksvoll demonstriert die romaneske Schulstunde, dass Erziehung, sobald sie im öffentlichen Raum statthat, seit der Aufklärung Männer- und genauerhin: Vätersache ist. Auch darin weiß sich Lizardi in voller Übereinstimmung mit Rousseau, dessen Émile-Projekt trotz aller Kühnheiten des pädagogischen Instrumentariums in die Zementierung konventioneller Herrschafts- und Geschlechterstrukturen einmündet. Ziel ist keineswegs, einen rebellischen Geist heranzuziehen, sondern ein mündiges Individuum, das sich im Kleinen wie im Großen, als Familienoberhaupt wie als Bürger bewährt: „[C]omme si ce n’étoit pas par la petite patrie, qui est la famille, que le cœur s’attache à la grande; comme si ce n’étoient pas le bon fils, le bon mari et le bon pére, qui font le bon citoyen! “ 166 Es versteht sich von selbst, dass die Gleichung lediglich mit maskulinen Vertretern aufgeht. Wie Rousseau am Beispiel der für Émile ausersehenen Gattin Sophie darlegt, „l’homme et la femme ne sont ni ne doivent être constitués de même, de caractére ni de temperament“, woraus seines Erachtens nach folgt, „qu’ils ne doivent pas avoir la même éducation.“ 167 Die strikte Trennung zwischen politischer Aktivität des Mannes und weiblicher Privatheit ist im Ergebnis zweifellos reaktionär. Die volonté générale, deren Souveranität der Contrat social verbrieft, 168 ist nicht der Wille der Frau; die Egalität der Bürger schließt sie rundweg aus. In einer Art „Appendixfunk- 166 Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 700. 167 Beide Zitate: Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 700. 168 Vgl. Rousseau, Du contrat social, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, bes. 368ff./ 437ff. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 147 tion“ 169 dient sie daher auch in Émile ou De l’éducation als bloßes Wunsch- und Abbild männlicher Sexualität: „L’un [des sexes] doit être actif et fort, l’autre passif et foible; il faut nécessairement que l’un veuille et puisse; il suffit que l’autre resiste peu. Ce principe établi, il s’ensuit que la femme est faite spécialement pour plaire à l’homme.“ 170 Dass die Geschlechterverhältnisse in Rousseaus Gesamtwerk wohl dennoch nicht so einsinnig gelagert sind, wie es das Zitat glauben macht, decken viele neuere Untersuchungen auf. 171 Sie führen die dekonstruktiven Lektüren eines Jacques Derrida oder Paul de Man 172 fort und entlarven die imaginären oder rhetorischen Substrate männlicher Hegemonie, wofür sich der differenzierte Plot und die sprachmächtige Heldin des Briefromans Julie ou la Nouvelle Héloïse allemal besser eignen als die schematische Konstellation im Émile. II.4.3 Lizardis Utopie des bürgerlichen Patriarchats Für die hier virulenten Belange fällt das ohnehin kaum ins Gewicht, weil Lizardi weder am versierten Erzähler Rousseau noch an dessen Schwanken zwischen Gleichheitsrecht und Phallogozentrismus interessiert scheint. 173 Stattdessen nimmt er das fünfte Buch des Émile zum Anlass, um der weiblichen Erziehung einerseits einen eigenen Roman (La Quijotita y su prima) zu widmen, der die Frau idealiter ebenfalls im häuslichen Bereich kaserniert. Andererseits zeichnet sich die Gender-Asymmetrie schon in El Periquillo 169 So das Schlagwort bei Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1979, 165. Genderkritische Lesarten bilden mittlerweile einen eigenen Zweig der Rousseau-Forschung; zum Einstieg vgl. Lynda Lange (Hg.), Feminist Interpretations of Jean-Jacques Rousseau, University Park: Pennsylvania State UP 2002. 170 Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 693. 171 Exemplarisch genannt seien: Christine Roulston, Virtue, Gender, and the Authentic Self in Eighteenth-Century Fiction: Richardson, Rousseau, and Laclos, Gainesville u.a.: Florida UP 1998, 74-141; Thomas Klinkert, Literarische Selbstreflexion im Medium der Liebe. Untersuchungen zur Liebessemantik bei Rousseau und in der europäischen Romantik, Freiburg: Rombach 2002, 59-106; Frömmer, Vaterfiktionen, 189-265 und etliche Beiträge in Stephan Leopold / Gerhard Poppenberg (Hg.), Planet Rousseau: Zur heteronomen Genealogie der Moderne, Paderborn: Fink 2015. 172 Siehe Derrida, De la grammatologie, 145ff. sowie Paul de Man, Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven u.a.: Yale UP 1979, 135ff. und Ders., „The Rhetoric of Blindness: Jacques Derrida’s Reading of Rousseau“, in: Paul de Man, Blindness and Insight: Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism [1971], Minneapolis: UP ²1983, 102-141. 173 Lizardis Rezeption kassiert genau jene Differenz zwischen fiktionalen und philosophischen Werken der Lumières, die seit längerem Forschungskonsens ist; vgl. etwa Klaus Dirscherl, Der Roman der Philosophen: Diderot - Rousseau - Voltaire, Tübingen: Narr 1985 und Rainer Warning, „Philosophen als Erzähler. Über die Schwierigkeiten der Aufklärung mit der Moral“, in: Paul Geyer (Hg.), Das 18. Jahrhundert: Aufklärung, Regensburg: Pustet 1995, 173-192. 148 Globalisierungsnarrative um 1800 Sarniento ab, wo nahezu nur Männer das Wort führen, wo durchweg homosoziale Milieus Schauplatz sind 174 und wo eine gelingende Vergesellschaftung offensichtlich die Vaterwerdung voraussetzt. Für den betreffenden Nachweis hätte es gar nicht der abschließenden Disziplinierung des Pícaro bedurft, wäre weiblicher Rede frühzeitig der Mund verboten worden. Denn mit dem erhobenen Zeigefinger des alt(ers)klugen Pedro Sarmiento kann man es einzig dem Eigensinn der adelsstolzen Mutter anlasten, dass der Protagonist überhaupt auf Abwege gerät und zum notorischen Taugenichts verkommt. Die Geburt des Schelms wurzelt gewissermaßen in einer zu Unrecht konzedierten Gleichrangigkeit der Geschlechter, da Periquillos Vater aus übermäßiger Gattenliebe die Balance zwischen Gefühl und Vernunft verliert. Die ungehörige Einmischung der Frau in familiäre Entscheidungen muss zuungunsten des Sohnes ausschlagen, dessen Zukunft übertriebene Muttersorgen und angebliche weibliche Irrationalität - namentlich die Ablehnung praktischer Berufe aus Standesdünkel - verspielen. Darin gründet Periquillos zuerst akademisch verbrämter und später trickreich erschlichener Müßiggang, dessen Ätiologie er im Nachhinein scharf verurteilt: En efecto, [mi padre] tenía mucho conocimiento de mundo y un juicio perspicaz; pero estas cualidades se perdían, las más veces, por condescender nimiamente con los caprichos de mi madre. Muy bueno y muy justo es que los hombres amen a sus mujeres y que las den gusto en todo cuanto no se oponga a la razón; pero no que las contemplen tanto, que por no disgustarlas atropellen con la justicia, exponiéndose ellos y exponiendo a sus hijos a recoger los frutos de su imprudente cariño, como me sucedió a mí. Por eso os prevengo para que viváis sobre aviso; de manera que améis a vuestras esposas tiernamente, según Dios os lo manda y la naturaleza arreglada os inspira; mas no os afeminéis como aquel valientísimo Hércules que después que venció leones, jabalíes, hidras y cuanto se le puso por delante, se dejó avasallar tanto del amor de Omphale que ésta lo desnudó de la piel del león nemeo, lo vistió de mujer, lo puso a hilar, y aun lo reñía y castigaba cuando quebraba algún huso o no cumplía la tarea que le daba. ¡Qué vergonzosa es semejante afeminación aun en la fábula! (PS 150) Im Namen einer empfindsam gedämpften Aufklärung, die Lizardi christlich absichern muss („según Dios os lo mando“), befürwortet der Binnenerzähler zwar eine auf Zuneigung beruhende Bindung der Eltern. Indes wettert er gegen eine Hyperbolik der Leidenschaften, die sowohl göttlichem als auch natürlichem Gesetz zuwiderläuft und die die männlichen Vorzüge des „juicio perspicaz“ und der „razón“ mattsetzt. Die anstößige, 174 Den homosozialen Gemeinschaften in Lizardis Roman widmet sich ansatzweise Robert Irwin, „El Periquillo Sarniento y sus cuates: el ‚éxtasis misterioso‘ del ambiente homosocial en el siglo diecinueve“, in: Literatura mexicana 9/ 1 (1998), 23-44. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 149 mythologisch illustrierte Effemination, die dem „cariño imprudente“ entspringt, degradiert den Gatten zum Spielball emotionaler Regungen sowie weiblicher Launen, die ihrerseits die schädlichen Neigungen der Kinder begünstigen. Der Kontrollverlust hat Folgen, da insbesondere die Söhne jedweden Respekt gegenüber den „padres de familia ineptísimos“ (PS 151) einbüßen und sich hemmungslos ihren Gelüsten hingeben. Periquillos an sich wohlmeinender Vater verfehlt mithin jene Regulierung des Begehrens im Ehe- und Familienverbund, die gemäß Michel Foucault seit dem 18. Jahrhundert den „échangeur“ zwischen Allianz- und Sexualitätsdispositiv bildet. 175 Diesen ‚Umschlagplatz‘ sucht Lizardis Roman, der Sexualität entweder ganz verschweigt oder in einem vagen amor chiffriert, 176 für das spätkoloniale Neuspanien auszumessen und als Knotenpunkt sozialer Interaktionen zu etablieren. Das Resultat ist im ersten Anlauf wenig ermutigend: Das väterliche Korrektiv versagt und der Sohn gerät zwangsläufig in pikareskes Fahrwasser. Die Defizienz der patriarchalen Genealogie reicht solcherart über den privaten Schaden hinaus, muss der pater familias doch immer auch die heimische Intimität verlassen und als Garant staatlicher Ordnung einstehen. Der Nexus zwischen padre und patria, den Lizardi im Pensador Mexicano dialogisch behandelt 177 und in El Periquillo Sarniento den weisen Coronel explizieren lässt (PS 714-716), verdeutlicht ein weiteres Mal die Nähe zu Rousseaus Gedankenwelt. Der Parallelismus, den der Émile zwischen „bon père“ und „bon citoyen“ veranschlagt und in der „petite patrie qui est la famille“ 178 verortet, konturiert bereits sieben Jahre zuvor der Discours sur l’économie politique (1755). Der Text, der eigentlich für die Encyclopédie geplant war, enthält eine Herleitung familiärer Hierarchien, deren Gleichsetzung mit dem Politischen Rousseau zu Beginn noch kategorisch ablehnt: „[G]ouvernement domestique“ und „gouvernement civil“ seien zwei paar Stiefel, weil der „chef d’état“ einer historisch wandelbaren Verfassung unterstehe, während der „pere de famille“ eine substantielle Legitimitation 175 Vgl. im Zusammenhang Foucault, La volonté de savoir, 142f.: „La cellule familiale, telle qu’elle a été valorisée au cours du XVIII e siècle […] assure la production d’une sexualité qui n’est pas homogène aux privilèges de l’alliance, tout en permettant que les systèmes de l’alliance soient traversés de toute une nouvelle tactique de pouvoir qu’ils ignoraient jusque-là. La famille est l’échangeur de la sexualité et de l’alliance: elle transporte la loi et la dimension du juridique dans le dispositif de sexualité; et elle transporte l’économie du plaisir et l’intensité des sensations dans le régime de l’alliance.“ 176 Die scheinbare Verbannung des Erotischen aus El Periquillo Sarniento behandelt vielschichtig Vogeley, Birth of the Novel, 167-172. 177 Siehe das Zwiegespräch „El egoísta y su maestro“ [1813], in: Lizardi, Obras, Bd. 3: Periódicos, 293-296, hier 294f. 178 Alle Zitate: Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 700. 150 Globalisierungsnarrative um 1800 besitze. 179 Unverbrüchlich in der Natur verankert, wird der „pouvoir paternel“ 180 als männliches Legat tradiert, wie Lizardis Roman seinerseits mit zwei analogen Vermächtnisszenen unterstreicht, in denen die sterbenden Familienvorstände jeweils ihr aus Lebensmaximen bestehendes Testament übergeben (PS 265-267/ 922-926). 181 Aus der biologischen Begründung resultieren Rechte und Pflichten des Vaters, dessen uneingeschränkte Dominanz Rousseau zur Voraussetzung einer intakten Hausgemeinschaft deklariert: Par plusieurs raisons tirées de la nature de la chose, le pere doit commander dans la famille. Premierement, l’autorité ne doit pas être égale entre le pere et la mere; mais il faut que le gouvernement soit un, et que dans les partages d’avis il y ait une voix prépondérante qui décide. […] Les enfans doivent obéir au pere, d’abord par nécessité, ensuite par reconnoissance; après avoir reçu de lui leurs besoins durant la moitié de leur vie, ils doivent consacrer l’autre à pourvoir aux siens. 182 Der Gehorsam von Gattin und Kindern, den der Économie-Artikel - wie später der Émile - zur anthropologischen Notwendigkeit stilisiert, hat sein Pendant nicht nur in der ökonomischen Fürsorge, die der Vater tragen muss. Sowohl Roussaus Programmschrift als auch Lizardis Fiktion bieten eine zweite Rechtfertigung an, die streng genommen in Konkurrenz zum naturrechtlichen Ursprung der patriarchalen Autorität tritt. Denn wie der obige Auszug des Periquillo Sarniento umgehend feststellt („[m]uy bueno y muy justo es que los hombres amen a sus mujeres“, PS 150), ist eine in Maßen praktizierte Liebe nicht minder Bedingung für das Ehe- und Familienglück. Mit seiner unkontrollierten Affektivität gefährdet Periquillos Vater aber genau die Solidität jener „petite Société“, deren Fundament laut dem Discours sur l’inégalité die allseits ausgeglichenen Gefühlsbande bilden: „[L]’habitude de vivre ensemble fit naître les plus doux sentimens qui soient connus des hommes, l’amour conjugal, et l’amour Paternel. Chaque famille devint une petite Société d’autant mieux unie que l’attachement réciproque et la liberté en étoient les seuls liens […].“ 183 179 Alle Zitate: Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’économie politique [1755], in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, 239-278, hier 241. Die Bedeutsamkeit der Économie-Schrift entnehme ich neuerlich bei Frömmer, Vaterfiktionen, 64-69. 180 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’économie politique [1755], in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, 241: „Le pere étant physiquement plus fort que ses enfans, aussi longtems que son secours leur est nécessaire, le pouvoir paternel passe avec raison pour être établi par la nature.“ 181 Die Sicherung patriarchaler Kontinuität mahnt Pedro-Periquillo schon zu Beginn seiner Memoiren an: „¡Oh si siempre los hijos siguieran constantemente los buenos ejemplos de sus padres! “ (PS 106); so lamentiert der Protagonist, wobei ob der Unvernunft der Mutter nur die Tradierung des väterlichen Erbes gemeint sein kann. 182 Rousseau, Discours sur l’économie politique, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, 242f. 183 Rousseau, Discours sur l’inégalité, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, 168. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 151 Gleich einem Katalysator sichert die ‚süße‘ Intimität die soziale Verträglichkeit männlicher und väterlicher Gewalt, wobei deren Prävalenz im Grunde kaum von einem Bündnis in ‚Freiheit‘ zu sprechen erlaubt. Im Discours sur l’économie politique nuanciert Rousseau darum auch sein anfängliches Dementi und räumt zumindest eine funktionale Ähnlichkeit zwischen Familie und Gemeinwesen ein, wonach gilt: „[L]es fonctions du pere de famille et du premier magistrat doivent tendre au même but […].“ 184 Beiden ist es um Erwerb und Erhalt ihrer Macht zu tun, die Krisen und Auflösungserscheinungen ständig bedrohen. El Periquillo Sarniento spielt eine solche Krisensituation durch, sofern aus der Schwäche des Vaters die Verirrungen eines Sohnes hervorgehen, der sich jahrelang als Herumtreiber verdingt. Dass just dieser verlorene Sohn die Vatermacht wiederherstellen soll, ist die ebenso überraschende wie zwangsläufige Peripetie in Lizardis Roman: Periquillos wunderbare Wandlung vom Saulus zum Paulus muss geschehen, um der diskursiv versprochenen Erbaulichkeit ein narratives Pendant hinzuzugesellen. Spätestens die Schlusswendung legt deshalb offen, dass Lizardi trotz der Affinitäten eine prinzipiell andere Geschichte als Rousseau in den meisten seiner Texte erzählt. Aus der sicheren Warte autobiographischer Sinnstiftung betrachtet, ist in El Periquillo Sarniento letztlich all das eingetroffen, was die pikareske Fabel unablässig torpediert und eine zutiefst verdorbene Umwelt blockiert hatte. Deren abrupte Reinigung verkörpert sich in der tadellosen Kleinfamilie, der Pedro Sarmiento realiter vorsteht, wohingegen Rousseau dieses Ideal in eine uneinholbare Vergangenheit zwischen „l’état primitif et la pétulante activité de nôtre amour propre“ 185 zurückdatieren muss. „La virtud no está reñida con la civilización“ (PS 626) lautet Lizardis tröstliche, mit der Stimme eines „buen religioso“ (PS 624) gesprochene Devise, die er ohne Rücksicht auf narrative Stringenz am Romanende einlöst. Auf diese Weise schließt er die Kluft zwischen individueller Integrität und kollektiver Anerkennung, zwischen Periquillos - im Naturzustand - edler Veranlagung und einer Gesellschaft, die ungeachtet ihrer Depravation saniert werden kann. Das Finale erweckt den Anschein, als ob es den Sündenfall egoistischer Inbesitznahme nie gegeben hätte, als ob nicht überall zerstörerische Passionen lauern würden und als ob Rousseaus Émile kein aufgepfropftes „Vollkommenheitsphantasm[a]“ wäre, das „die radikale Ausgrenzung von Außenweltbezügen“ 186 erfordern würde. Anders als sein älterer Bruder aus 184 Rousseau, Discours sur l’économie politique, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, 243. 185 Rousseau, Discours sur l’inégalité, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, 171. 186 Beide Zitate stammen von Rainer Warning („‚Éducation‘ und ‚Bildung‘. Zum Ausfall des Bildungsromans in Frankreich“, in: Jürgen Fohrmann (Hg.), Lebensläufe um 1800, Tübingen: Niemeyer 1998, 121-140, hier 130), der die blinden Flecken in Rousseaus Erziehungsutopie benennt: „Und so wird denn auch der ‚Émile‘ zum Schauplatz eines - diesmal pädagogischen - Imaginären, das Vollkommenheit nur sichern kann 152 Globalisierungsnarrative um 1800 Frankreich ist Periquillo nämlich kein bloßes Versuchskaninchen, kein abstraktes „modéle à proposer“ 187 . Sein Lernprozess soll sich in einer vorstellbaren Lebenswelt vollziehen, deren soziokulturelles Relief El Periquillo Sarniento nicht schuldig bleibt. Die Orientierung an der Lage Neuspaniens Anfang des 19. Jahrhunderts dürfte auch die Ursache gewesen sein, warum Lizardi ausgerechnet Rousseaus methodische Basis der éducation négative 188 unterschlägt. Er kann nicht von der Forderung nach einem seriösen Unterrichtswesen und nach staatlich geprüften Lehrern absehen, da dergleichen in seiner Heimat dringend benötigt wird. 189 Erziehung bzw. Bildung eignet sich unter solchen Vorzeichen nicht als rein experimentelles Sujet, dessen Ausgang offenbleibt und das - wie die fragmentarische Fortsetzung des Émile vorführt 190 - womöglich in ein Fiasko mündet. Wie die letzten hundert Seiten des Periquillo Sarniento belegen, arretiert Lizardis transkulturelles Erzählen Rousseaus Dekadenzlogik an einem Punkt, wo noch nicht alles zu spät ist und wo der Schelm trotz Pervertierung noch Relikte eines bon sauvage bewahrt, welcher fortan gesellschaftsfähig werden kann. Aber damit nicht genug: Indem Lizardi die breit ausimaginierte Verfallsgeschichte kurzerhand in eine Entwicklungsgeschichte umbiegt, nimmt die Romanhandlung im Ganzen utopische Züge an. Genauso wie die Insel Saucheofú, auf der Periquillo strandet (PS 752ff.), durch eine rigorose Rechtspraxis, eine puritanische Leistungsethik sowie eine straffe, demokratisch kaschierte Durchhierarchisierung als Vorzeigestaat ohne Wirklichkeitssubstrat ausgewiesen ist, 191 gibt auch das beschauliche Schlusstableau durch die radikale Ausgrenzung von Außenweltbezügen. Die proklamierte negative Erziehung hat ihr positives Komplement in einem Überwachungsterror, der doch nur Symptom ist für den prekären Status des Vollkommenheitsphantasmas selbst.“ 187 Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 266. 188 Vgl. zusammenfassend Rousseau, Émile, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 4, 323: „La prémiére éducation doit donc être purement négative. Elle consiste, non point à enseigner la vertu ni la vérité, mais à garantir le cœur du vice et l’esprit de l’erreur. Si vous pouviez ne rien faire et ne rien laisser faire; si vous pouviez amener vôtre éléve sain et robuste à l’âge de douze ans sans qu’il sut distinguer sa main droite de sa main gauche, dès vos prémiéres leçons les yeux de son entendement s’ouvriroient à la raison […].“ 189 Einen Überblick zum Bildungswesen im spätkolonialen Neuspanien gibt Dorothy Tanck de Estrada, La educación ilustrada (1786-1836). Educación primaria en la ciudad de México, México: El Colegio de México 1977. 190 Das Romanfragment Émile et Sophie ou les solitaires (Rousseau, Œuvres complètes, Bd. 4, 879-924) offenbart die Aporien in Rousseaus pädagogischer Imagination, sofern es das ideale Ehepaar in die Pariser Gesellschaft versetzt und prompt an Sophies entbrennenden Leidenschaften zerbrechen lässt. 191 Aufgrund zahlreicher detaillierter Studien verzichte ich auf eine eingehende Besprechung der Saucheofú-Episode; siehe u.a. Hinrich Hudde, „Fernández de Lizardi. Literarische Utopie an der Schwelle der Unabhängigkeit Mexikos (mit Bemerkungen zu modernen lateinamerikanischen Utopien)“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 27 (1986), 253-267; Vogeley, Birth of the Novel, 120-133 oder Sandra Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 153 in El Periquillo Sarniento die realhistorische Referentialisierbarkeit weitgehend preis. Der Kostumbrismus des Romans 192 verliert seine Glaubwürdigkeit, sobald die Fiktion zur normativen Projektion wird, deren Leitbild die bürgerliche Familienkultur ist. De facto existiert im „México [d]el año de 1813“ (PS 917), in dem der Protagonist seinen mustergültigen Lebensabend verbringt, weder eine tragfähige bürgerliche Mittelschicht noch schlägt der häusliche Affektverbund bis dahin als soziopolitisch relevante Größe sichtbar zu Buche. Das brächte nicht erst eine historiographische Dokumentation ans Tageslicht. 193 Der betagte Pedro Sarmiento selbst gibt zu verstehen, dass sein wirtschaftlich abgesichertes Familienidyll an den tatsächlichen Erschütterungen im Vizekönigreich vorbeigeht. Die Rede ist also nochmals von der knappen Einlassung, in der er sich ansatzweise zur „[é]poca verdaderamente fatal y desastrosa para la Nueva España“ (PS 917) äußert und daraufhin sofort wieder innehält. Um weder die Sicherheit seiner Kinder zu gefährden noch ihren Sachverstand zu überfordern, belässt er es bei Andeutungen, die dennoch eine Lanze für den Frieden und besonders den inneren Frieden des Landes brechen (PS 917): ¡Cuántas reflexiones pudiera haceros sobre el origen, progresos y probables fines de esta guerra. Muy fácil me sería haceros una reseña de la historia de la América, y dejaros el campo abierto para que reflexionarais de parte de quién de los contendientes está la razón, si de la del gobierno español o de los americanos que pretenden hacerse independientes de la España; pero es muy peligroso escribir sobre esto y en México el año de 1813. No quiero comprometer vuestra seguridad instruyéndoos en materias políticas que no estáis en estado de comprender. Por ahora básteos saber que la guerra es el mayor de todos los males para cualquiera nación o reino; pero incomparablemente son más perjudiciales las conmociones sangrientas dentro de un mismo país, pues la ira, la venganza y la crueldad inseparables de toda la guerra se ceban en los mismos ciudadanos que se alarman para destruirse mutuamente. Pérez-Linggi, „Saucheofú: Lizardi’s Chinese Utopia in El Periquillo Sarniento“, in: Ignacio López-Calvo (Hg.), Peripheral Transmodernities: South-to-South Intercultural Dialogues Between the Luso-Hispanic World and „the Orient“, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Pub. 2012, 62-80. 192 Als einen Gründungstext des mexikanischen costumbrismo liest El Periquillo Sarniento etwa Luis Leal, „Pícaros y léperos en la narrativa mexicana“, in: Manuel Criado de Val (Hg.), La Picaresca: orígenes, textos y estructuras, Madrid: Fundación Univ. Española 1979, 1033-1040. 193 Vgl. hierzu beispielhaft die Beiträge in Ciro Flamarion Santana Cardoso (Hg.), Formación y desarrollo de la burguesía en México, siglo XIX, México: Siglo XXI 1978 sowie den Überblick bei Guillermo Beato, „La gestación histórica de la burguesía y la formación del Estado mexicano (1750-1910)“, in: Armando Alvarado et al. (Hg.), La participación del Estado en la vida económica y social mexicana, 1767-1910, México: Inst. Nacional de Antropología e Historia 1993, 213-270, bes. 223ff. 154 Globalisierungsnarrative um 1800 Nicht von ungefähr gebraucht die väterliche Unterweisung das Schlüssellexem der „ciudadanos“, das in El Periquillo Sarniento ansonsten eher selten fällt. Der tiefgreifende „Strukturwandel“ 194 , zu dem der Aufstieg des Bürgertums in Mitteleuropa geführt hat, schwebt auch Lizardi für ein zukünftiges Mexiko vor, welches er mit der abschließenden Domestikation des Pícaro herbeizufabulieren sucht. Mit der neuspanischen Gegenwart um 1813, die von Kriegswirren und andauernden Spannungen in einer heterogenen und weiterhin stratifikatorisch separierten Bevölkerung geprägt ist, hat das lediglich im Ansatz etwas zu tun. Deswegen bleibt die zitierte Randbemerkung der einzig offene Aktualitätsbezug. Statt die Bestandsaufnahme der „[é]poca de horror, de crimen, sangre y desolación“ (PS 917) zu vertiefen, verlegt sich der Ich-Erzähler zuletzt darauf, ein harmonisches Gemeinwesen zu feiern, als dessen optimale Integrationsfigur er sich selbst in Szene setzt. Die Verklärung weist El Periquillo Sarniento definitiv als Produkt einer literarischen Legierung aus, die verschiedene Text-, Gattungs- und Kulturschichten verschmilzt, ohne dass die Nähte gänzlich beseitigt wären. So versieht Lizardi seinen Roman nicht nur mit einem didaktischen Überbau, der das negative Welt- und Menschenbild der barocken Vorbilder aus dem Schelmenfach korrigiert und damit auf den Bildungsnotstand in seiner Heimat reagiert. Mit der positiven Kehrtwende transformiert er obendrein seinen einschlägigsten Referenzhorizont, Rousseaus empfindsames Erziehungsmodell. In zweifacher Weise glättet Lizardi die Verwerfungen, die der Émile als verkappte Fortsetzung der zivilisationskritischen Discours birgt: Indem er Rousseaus Einfluss in den Subtext verschiebt, den die rekatholisierte Patina von Blanchards École des mœurs abdichtet, verhilft er seinem Roman geraume Zeit zu unbehelligter Akzeptanz. Daneben entschärft er die Paradoxien in den Schriften des Genfers, sofern er die fulminante Resozialisierung seines Helden in einer vorgeblich realistischen Sphäre ansiedelt, die jedoch plötzlich bar aller Laster und Begierden, bar aller Selbstsucht und Verstellung sein soll. Eben dadurch gerinnt El Periquillo Sarniento aber selbst zur Utopie; zu einer Utopie des aufgeklärtempfindsamen Bürgertums, die die faktische Instabilität des spätkolonialen virreinato bestmöglich ausblendet. Als ambitionierter Prosaautor gewinnt Lizardi Einiges mit dem versöhnlichen Ausgang seiner buchstäblich „genealogischen Fiktion“ 195 : Das instruktive Kompendium, als das er El Periquillo Sarniento von Beginn an 194 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962], Frankurt/ Main: Suhrkamp 1990, bes. 107ff. 195 So der anregende Titel, den Jobst Welge (Genealogical Fictions. Cultural Periphery and Historical Change in the Modern Novel, Baltimore: John Hopkins UP 2015) seinen Fallstudien zum Nexus zwischen familiärer Dekadenz, peripherer Nationalstaatlichkeit und krisenhafter Modernität im Roman des 19. und 20. Jahrhunderts gibt. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 155 anlegt, weitet sich zum Gesellschaftsentwurf, der im Kleinen des familiären Mikrokosmos eine große Reorganisation des mexikanischen Staates antizipiert. Die Erfindung des hispanoamerikanischen Romans gelingt Lizardi, indem er zugleich als pädagogischer wie als politischer Visionär firmiert und indem hierfür das symbolische Kapital der französischen Lumières, allen voran des unsichtbaren Rousseaus einbringt. Darin besteht das Raffinement einer narrativen Transkulturation, die ihre Diskursimporte den Bedürfnissen des eigenen Umfelds anpasst. Werkimmanent bleibt die Utopie allerdings heikel, und zwar nicht bloß, weil sie auch in El Periquillo Sarniento ins Totalitäre zu kippen droht, 196 wie die Verdrängung der Sexualität, die Obrigkeitshörigkeit oder das patriarchale Rede- und Gewaltmonopol indizieren. Die Fragilität des Konstrukts rührt hauptsächlich daher, dass der Roman den transkulturellen Prozess nirgendwo zu erkennen gibt, dass er weder die Refunktionalisierung des pikaresken Erzählschemas noch die Kurzschließung skeptizistischer und optimistischer Tendenzen der Aufklärung kommentiert. Und dabei weiß Lizardi um die Gefahren, die der unreflektierten Übernahme - und selbst der unreflektierten Umwidmung - des Fremden innewohnen. Im Pensador Mexicano beklagt er ausdrücklich die Kette der Imitationen, die von Frankreich nach Spanien führt und sich jenseits des Atlantiks fortsetzt. Nicht der Papagei, sondern der Affe muss in diesem Fall als Tieremblem für sein Lamento herhalten: „España es el mono de la Francia, y la América el mono de la España. Esto es lo que hay: monería, no tontera.“ 197 El Periquillo Sarniento verzichtet dennoch auf eine eingehende Problematisierung der nachgeäfften Prätexte, Schreib- und Denkweisen. Um breit gefächerte Distinktionswerte zu erzielen und ein wenig spezialisiertes Publikum zu erreichen, nimmt Lizardi einen geringen „Grad der Bewusstheit“ 198 in Kauf, zumal er kaum literarische Konkurrenz zu befürchten hat. Spätestens die umfassende Nachbzw. Langzeitwirkung seines Romans wird ihm Recht geben. Sie verdeckt gleichwohl nicht die erzählstrukturellen und ideologischen Brüche, die El Periquillo Sarniento durchziehen und 196 Vgl. die bekannten Thesen bei Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung [1947], Frankfurt/ Main: Fischer 2003, bes. 9-49. Der Rückfall aufklärerischer Vernunft in totalitäre Barbarei manifestiert sich in El Periquillo Sarniento freilich meist in einem Frühstadium. Der empfindsame Patriarchalismus und der kreolische Elitismus bieten aber unübersehbare Angriffsflächen. Volle Berechtigung hat Horkheimers und Adornos Diagnose auf der utopischen oder, je nach Sichtweise, antiutopischen Insel Saucheofú, wo die Bevölkerung disziplinatorisch gleichgeschaltet ist und wo etwa Straftäter rücksichtslos stigmatisiert werden. 197 So 1813 im Pensador Mexicano (Lizardi, Obras, Bd. 3: Periódicos, 259). 198 Als Indikator für den „Grad der Bewusstheit des intertextuellen Bezugs“ führt Pfister („Konzepte der Intertextualität“, 27) das Kriterium der „Kommunikativität“ ein, auf das oben referiert wird. Zu Pfisters intertextualitätstheoretischem Merkmalskatalog siehe den methodischen Aufriss in Kapitel I.3.2 dieser Studie. 156 Globalisierungsnarrative um 1800 die im Widerstreit narrativer Zeit- und Raumkonzepte abermals manifest werden. II.5 Eine Logik des Kompromisses: Vom regionalen Fortschritt zum globalen Parcours Signifikant ist in dieser Hinsicht bereits die „prise de parole“ 199 des Memoirenverfassers, der seinen autodiegetischen Bericht unverzüglich räumlich und zeitlich, geographisch und historisch situiert (PS 106): Nací en México, capital de la América Septentrional en la Nueva España. Ningunos elogios serían bastantes en mi boca para dedicarlos a mi cara patria; pero, por serlo, ningunos más sospechosos. Los que la habitan y los extranjeros que la han visto pueden hacer su panegiris más creíble, pues no tienen el estorbo de la parcialidad, cuya lente de aumento puede a veces disfrazar los defectos o poner en grande las ventajas de la patria aun a los mismos naturales; y así, dejando la descripción de México para los curiosos imparciales, digo: que nací en esta rica y populosa ciudad por los años de 1775 200 , de unos padres no opulentos, pero no constituidos en la miseria, al mismo tiempo que eran de una limpia sangre, la hacían lucir y conocer por su virtud. ¡Oh si siempre los hijos siguieran constantemente los buenos ejemplos de sus padres! Wo und wann sind die maßgeblichen Fragen, die Pedro-Periquillo zum Auftakt seines Curriculum Vitae beschäftigen. Noch ehe er das Loblied seiner Heimat Mexiko-Stadt zurückweist und dann doch anstimmt und noch ehe er seine makellose Herkunft versichert, will er sein Dasein exakt lokalisiert und datiert wissen. Das entspricht einerseits zwar den Regularien des Schelmenromans, in dem die (auto-)biographischen Koordinaten vorab fixiert sein müssen, damit sich Erleben und Erzählen annähern können. Andererseits verdichtet sich hier fiktional eine Äußerungssituation, die aufgrund ihrer realen Angreifbarkeit auf eine möglichst überzeugende Selbstverortung zielt. Als Schriftsteller am Vorabend der Unabhängigkeit sieht sich José Joaquín Fernández de Lizardi mit diversen Anforderungen und Repressionen konfrontiert, die schon verschiedentlich Erwähnung fanden und die in den raumzeitlichen Inkongruenzen ihre narrative Formgebung erhalten. Die in sich ruhende Position, aus welcher der bezähmte Pícaro seine Vergangen- 199 Zur u.a. gesellschaftspolitischen Fundierung des Begriffs vgl. Michel de Certeau, La prise de parole et autres écrits politiques, hg. von Luce Giard, Paris: Seuil 1994, bes. 40ff. 200 In der editio princeps des Romans datiert Lizardi Periquillos Geburt noch auf das Jahr 1755. Wohl aus Gründen chronologischer Wahrscheinlichkeit verschiebt er sie in der zweiten und dritten Ausgabe - die der hier verwendeten Edition von Carmen Ruiz Barrionuevo zugrunde liegen - auf 1775. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 157 heit rekapituliert, ist lediglich der forcierte Versuch einer Auflösung jener Diskrepanzen. Der Protagonist mag noch so vehement die Kontinuität und den Zentralismus seiner Lebensgeschichte reklamieren; weder der fromme Wunsch nach geradliniger Vererbung („¡Oh si siempre los hijos siguieran constantemente los buenos ejemplos de sus padres! “) noch die insistente Bindung seiner Vita an die „capital de la América Septentrional“ (PS 106) korrespondieren mit der Anlage des Romans, der größtenteils in diskontinuierlichen Sequenzen und zentrifugalen Bewegungsverläufen organisiert ist. So hält nicht einmal die Vermutung, dass sich in El Periquillo Sarniento chronologische Kontrolle und topologische Entgrenzug schematisch gegenüberstehen, näherer Prüfung stand. Zeit- und Raumachse greifen stetig ineinander und generieren einen eigenwilligen Synkretismus. Was auf den ersten Blick einer Engführung an sich unvereinbarer Wahrnehmungssysteme gleicht, erscheint aus anderer Perspektive aber als taktischer Kompromiss, der aus Lizardis medienbewusstem und transkulturellem Erzählen rührt. II.5.1 Imperfekte Perfektibilität und chronische Paradigmatisierung Als symptomatische Kompromissformel erweist sich besonders die Zeitordnung, die den Roman unverkennbar in den Kontext des aufklärerischen Fortschrittsdenkens einrückt. Perfektibilität lautet die berühmte Losung, die El Periquillo Sarniento keineswegs nur motivisch-programmatisch aktualisiert. Vielmehr ist eine perfectibilité, wie sie unter anderem Condorcets posthum publizierte Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (1795) 201 in euphemistischer Verkürzung der Rousseau‘schen „faculté de se perfectionner“ 202 definiert, unmittelbar in Lizardis Narration eingegangen, 201 „Tel est le but de l’ouvrage que j’ai entrepris, et dont le résultat sera de montrer, par le raisonnement et par les faits, qu’il n’a été marqué aucun terme au perfectionnement des facultés humaines; que la perfectibilité de l’homme est réellement indéfinie; que les progrès de cette perfectibilité, désormais indépendante de toute puissance qui voudrait les arrêter, n’ont d’autre terme que la durée du globe où la nature nous a jetés.“ (Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet, Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain [1795], hg. von Alain Pons, Paris: Garnier-Flammarion 1988, 80f.). 202 „[I]l y a une autre qualité très spécifique qui les distingue [scil. l’homme et l’animal], et sur laquelle il ne peut y avoir de contestation, c’est la faculté de se perfectionner; faculté qui, à l’aide des circonstances, développe successivement toutes les autres […]. Pourquoi l’homme seul est-il sujet à devenir imbécile? N’est ce point qu’il retourne ainsi dans son état primitif, et que, tandis que la Bête, qui n’a rien acquis et qui n’a rien non plus à perdre, reste toujours avec son instinct, l’homme reperdant par la vieillesse ou d’autres accidens, tout ce que sa perfectibilité lui avoit fait acquérir, retombe ainsi plus bas que la Bête même? “ (Rousseau, Discours sur l’inégalité, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, 142). Zur Komplexität des perfectibilité-Begriffs, die hier nicht abgebildet werden kann, siehe Richard Baum / Gottfried Hornig / Sebastian Neumeister, „Perfektibilität“, in: Joachim Ritter et al. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt: WBG 1989, Bd. 7, Sp. 238-244; Derrida, De la grammatologie, 158 Globalisierungsnarrative um 1800 wo sie gleichermaßen Erzählzeit wie erzählte Zeit bestimmt. Man kommt daher nicht umhin, nochmals die Rahmenstruktur des Romans aufzurufen, die mit der Zwischenschaltung des fiktiven Herausgebers eine zielgerichtete Sukzession des Geschehens ermöglichen soll. Konsequenterweise hat der Pensador das letzte Wort in El Periquillo Sarniento, sofern er als leibhaftiger Zeuge die Todesstunde und das Begräbnis des Protagonisten nachträgt (PS 921-940). Während dabei thematisch einmal mehr die Lehrhaftigkeit der Fabel in den Vordergrund rückt, 203 steht kompositorisch die Chrono-Logie auf dem Spiel, deren sinnstiftenden Charakter erst die Intervention eines Editors gewährleistet: Erst dessen Epilog schließt definitiv die Lücke, die zwischen dem lasterhaften Periquillo und dem tugendhaften Pedro Sarmiento klafft, und bringt beide figuralen Facetten auf dem Sterbebett zur Deckung. Das biographisch komplettierte Syntagma bannt zudem die Gefahr der Fortsetzbarkeit, die dem episodisch gebauten Schelmenroman gemeinhin eignet. 204 An deren Stelle tritt die prononcierte Konsistenz einer Emanzipationsgeschichte, die keinen Zweifel daran lässt, dass mit voranschreitender Zeit auch ein Zuwachs an rationaler, moralischer und, nicht zu vergessen, ökonomischer Potenz einhergeht. Allwissend besitzt der Pensador die volle Einsicht in das Leben seines Freundes, an dessen Ende notwendigerweise die Ausübung der Mündigkeit steht. Statt aus einer allmählichen Transformation resultiert dieser Kulminationspunkt jedoch aus der strategischen Vorentscheidung einer seit je selbstgewissen Subjektivität. Dass diese mit dem wankelmütigen Pícaro, den wir durch fünfzig Kapitel begleiten, kaum noch etwas gemein hat und deshalb weitgehend isoliert steht, liegt auf der Hand. Das Finale, dessen Utopie bürgerlicher Vaterschaft bereits zur Sprache kam, ist um eine gehörige Portion Unwahrscheinlichkeit erkauft, die rückwirkend die teleologische Illusion des Romans im Ganzen unterminiert. Noch Pedro Sarmientos feierliche Bestattung (PS 931-936), die der Herausgeber referiert und die allerlei Figuren mit lyrischen Ergüssen kommentieren, gehorcht mithin jenem Prinzip der Serialisierung, das El Periquillo Sarniento überhaupt kennzeichnet. Zunächst zwei Epitaphe einerseits in lateinischer und zum anderen in spanischer Sprache, dann nacheinander die Grabgedichte des Beichtvaters Pelayo, der Freunde Anselmo, Jacobo, Tadeo, Andrés, des Pensador und eines - zufällig anwesenden - „indio fiscal“ (PS 936) zerreden hier regelrecht das, was die Inschriften 259ff. und die Beiträge in Bertrand Binoche (Hg.), L’homme perfectible, Seyssel: Champ Vallon 2004. 203 Hierbei drängt sich jedoch Ironieverdacht auf, da der Pensador das Argument moraldidaktischer Beispielhaftigkeit instrumentalisiert, um Pedros Witwe das Memoirenmanuskript abzuschwatzen und letztlich lukrativ zu publizieren (OP 940). 204 Darauf verweist konzise Klaus Meyer-Minnemann, „José Joaquín Fernández de Lizardi: El Periquillo Sarniento“, in: Volker Roloff / Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg), Der hispanoamerikanische Roman, Darmstadt: WBG 1992, Bd. 1, 18-29, hier 26f. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 159 eigentlich verewigen sollen: den geraden Weg des Helden vom „extraviado“ zum „sant[o]“ (PS 932), den Lizardi als organisches Kontinuum präsentieren will und den sein Vertextungsmuster der variierenden Reprise unentwegt anficht. Die seit dem Erscheinen gängige Kritik 205 an den Redundanzen und Digressionen des Romans ist darum ebenso berechtigt wie zumeist pauschal. Aussagekraft erhält sie erst, sobald sie den Motivationsdefiziten nachfragt, die Periquillos späte Bekehrung in Mitleidenschaft ziehen. Als Stationen einer schlüssigen Handlungsverkettung stehen allein die verschiedenen Karriere-Phasen zur Verfügung, die der Schelm als Diener vieler Herren durchläuft. Doch tragen sie weder einen genuin zeitlichen Index noch stellt sich beim Wechsel vom einen in den anderen Berufszweig eine ernsthafte Veränderung oder Verhaltenskorrektur im Sinne des allenthalben reklamierten escarmiento ein. 206 Die fortlaufend reproduzierte Minimalsequenz bleibt noch hinter Claude Bremonds erzählgrammatischer Funktionstrias von „virtualité, passage à l’acte, achèvement“ 207 oder wahlweise „inachèvement“ zurück: Periquillo tritt jeweils mit gutem Vorsatz eine Stellung an, lässt sich rasch zur korrupten Ausübung derselben hinreißen und treibt die Korruption soweit, dass er, oftmals gewaltsam, des betreffenden Milieus verwiesen wird. Am Ende steht er wieder am Anfang; von Hunger und Armut bedroht, muss er sich neuerdings um seinen meist kargen Unterhalt bemühen. Die doppelte Semantik, die das epochenspezifische Lemma des Fortschritts 208 evoziert, indem es die Zeitlichkeit des menschlichen Wesens mit einem inzwischen säkularen Erkenntnisgewinn paart, setzt Lizardis Roman damit gerade nicht in narrative Progression um. Entgegen aller Beteuerung und ungeachtet seiner biologischen Alterung verstreichen Periquillos ersten knapp 35 Lebensjahre sozusagen zyklisch, ohne auch nur andeutungsweise eine Finalität zu signalisieren. Das ist umso bedenklicher, als diese Spanne - hält man sich an die textimmanenten Angaben - beinahe seine gesamte, fiktiv zugeschriebene und in Buchseiten materialisierte Existenz ausmacht. 209 Nur sein Tod um 1813 sowie der wenige Jahre zuvor ge- 205 Vgl. zusammenfassend Jefferson Rea Spell, „Fernández de Lizardi and His Critics“, in: Hispania 11/ 3 (1928), 233-245; Reyes, „El Periquillo Sarniento y la crítica mexicana“, 169-178; Alba-Koch, Ilustrando la Nueva España, 17-19. 206 Zu Recht weist Vogeley (Birth of the Novel, 150ff.) auf die Insistenz hin, mit der Lizardis Roman den aufklärerischen Schlüsselbegriff des escarmiento bemüht. Ob der „essential distancing mechanism of escarmiento“ (ebd., 151) aber tatsächlich als „calculated attempt to break into this colonial impassivity“ (ebd., 153) wirksam wird, muss angesichts der wiederholten Erfolglosigkeit der Belehrungen fraglich bleiben. 207 Claude Bremond, Logique du récit, Paris: Seuil 1973, 131. 208 Siehe Reinhart Kosellecks und Christian Meiers Eintrag zum Lemma „Fortschritt“ in: Otto Brunner et al. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta 1975, Bd. 2, 351-423, bes. 390f. 209 Wie oben zitiert, gibt Pedro Sarmiento an, „por los años de 1775“ (PS 106) geboren zu sein; die Reue über seine „vida pecaminosa y relajada“ (PS 854) datiert er auf ein Al- 160 Globalisierungsnarrative um 1800 troffene Entschluss, eine Generalbeichte abzulegen und als Gutsverwalter fortan dem Gemein- und Eigenwohl zu dienen, verbürgen den qualitativen Umschwung, der das Pattern des stereotypen Scheiterns ablöst. Just das entscheidende Kapitel im letzten Band zeigt aber, wie willkürlich sich die per Überschrift angekündigte „conversión“ (PS 848) vollzieht. Während Periquillo sogar nach einem fehlgeschlagenen Suizidversuch (PS 819ff.) sein sittenloses Dasein wieder aufnimmt und als Mitglied einer Räuberbande auf die Spitze treibt, soll nun genau der Anblick des gehängten Jugendfreundes Januario (PS 856) den einschneidenden Sinneswandel bewirken. Unversehens entfaltet die angeborene Empathiefähigkeit eine derartige Durchschlagskraft, dass sie sich erstmals in wahrhaftige Introspektion ummünzt. Die christliche Zensur der Reue, die bisher stets versagte und die Periquillo kurz zuvor völlig ausschaltete, als er seine sterbenden Kumpane (PS 850) im Stich ließ, zeitigt wider Erwarten den erwünschten Effekt der Selbstdisziplinierung. Die Begründung für die Distanzierung vom sündigen Treiben bleibt jedoch äußerst fragwürdig (PS 856f.): Como una legua o poco más había andado, cuando vi afianzado contra un palo, y sostenido por una estaca, el cadáver de un ajusticiado con su saco y montera verde, y las manos amarradas. Acerquéme a verlo despacio; pero, ¿cómo me quedaría cuando advertí y conocí en aquel deforme cadáver a mi antiguo e infeliz amigo Januario? Los cabellos se me erizaron, la sangre se me enfrió, el corazón me palpitaba reciamente, la lengua se me anudó en la garganta, mi frente se cubrió de un sudor mortal, y perdida la elasticidad de mis nervios, iba a caer del caballo abajo en fuerza de la congoja de mi espíritu. Pero quiso Dios ayudar mi ánimo desfallecido, y haciendo yo mismo un impulso extraordinario de valor, me procuré recobrar poco a poco de la turbación que me oprimía. [...] Confirmé más y más mis propósitos de mudar de vida, procurando aprovechar desde aquel punto las lecciones del mundo y sacar fruto de las maldades y adversidades de los hombres; y empapado en estas rectas consideraciones, saqué mi mojarra, y en la corteza del árbol donde estaba Januario grabé el siguiente SONETO [...]. Die Kulisse des memento mori mutet einigermaßen drastisch an, zumal Lizardi wie sooft nicht mit Details kruder Leiblichkeit spart. Der deformierte Leichnam des Freundes spricht denn auch zunächst Periquillos Sensorium an, vermittels dessen wir Lesenden den Schauder auskosten können. Als Einstimmung auf eine Konversionserfahrung irritiert die Schockästhetik ter von „[t]reinta y seis o treinta y siete años“ (ebd.), also um 1811 oder 1812. Bedenkt man, dass sein Tod, wie es im Lebensbericht heißt, um das Jahr „1813“ (PS 917) liegen muss, kann man - selbst wenn man Lizardis spontane Schreibweise in Rechnung stellt - ermessen, wie artifiziell die Entwicklungslogik auch innnerhalb der erzählten Zeit anmutet. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 161 allerdings nicht wenig. Noch dazu unterscheidet sich die hiesige Ausprägung kaum von vergleichbaren Schilderungen, die ebenfalls körperliche Gewalt ausbreiten, woraufhin der Schelm vorübergehend Mitleid empfindet und beredt in sich geht, um sodann - nach komischer Enthebung der Brutalität - doch auf der schiefen Bahn fortzufahren. Entsprechend überraschend kommt jetzt die ehrliche Besinnung, in deren Verlauf Periquillo neuen Mut fasst und offenkundig seriöse „propósitos de mudar de vida“ äußert. So hat es zumindest den Anschein. Indes ist es weder mit der Aufrichtigkeit der Selbstkritik noch mit der Anteilnahme an Januarios Schicksal sehr weit her. Das caritas-Gebot verkommt zum leeren Diskurszitat, wenn es die listige Argumentation des Besserungswilligen dazu mißbraucht, das unrechte Tun des Freundes zu inkriminieren und sich selbst zum Opfer dessen diabolischer Einflüsterungen zu stilisieren. Von eigener Schuld, sofern sie überhaupt einbekannt wird, ist hier lediglich die Rede in Form einer „mala disposición“, die sich der tätigen Verantwortung entzieht. Unter derlei Vorwänden reingewaschen, kann Periquillo den Gehenkten im Namen der längjährigen Freundschaft bedauern und ihm gleichzeitig etliche Seitenhiebe verpassen. Ja, die egozentrische Deutung der Situation erlaubt ihm, Gottes Beistand ausgerechnet dafür zu danken, dass er ihn aus Januarios Fängen befreite und vor einem ähnlich traurigen Ende bewahrte. Der Zynismus ist umso bemerkenswerter, als er eine Buße überschattet, die sich angeblich schonungslos den eigenen Vergehen stellen wollte. Deshalb haftet noch dem Vorsatz, künftig aus den weltlichen „lecciones“ und menschlichen „maldades“ zu lernen, ein unleugbarer Narzissmus an, der den Nächsten zum bloßen Anschauungsmaterial in Gesinnungsfragen degradiert. Periquillo macht keinerlei Hehl aus der Eigennützigkeit der „rectas consideraciones“, die er sich zugutehält und schleunigst in einem ‚Sonett‘ auf Januarios Galgenbaum verschriftet. Wie die décimas nach dem Selbstmordversuch (PS 828f.) und die angesprochenen Bestattungsgedichte (PS 932- 935) ist auch dieses lyrische Intermezzo als „mise en abyme de l’énoncé“ 210 einerseits eine punktuelle Spiegelung der in der histoire mitgeteilten Botschaft. Folglich rekodiert das Sonett nur die Notwendigkeit der Gewissensprüfung, die ebenso der visuelle Eindruck des gerichteten Freundes und seine „muerte infame y merecida“ (PS 857) anmahnen. 211 Demut und tiefes 210 Lucien Dällenbach, Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris: Seuil 1977, 76. Als „textuell[e] Brennspiegel“ des Plots deutet die in El Periquillo Sarniento integrierten Gedichte ebenfalls Ette, „Dialogisches Schreiben“, 222. 211 Hier der volle Wortlaut des Sonetts (PS 857f.): „¿Conque por fin se pagan los delitos / y una conducta infame y corrompida? / Así es, Perico, así es; y aunque sin vida / Januario me lo dice bien a gritos. / / Tú fuiste salteador de estos distritos, / ¡oh triste amigo! Sí, fuiste homicida; / mas una muerte infame y merecida / fin puso a tus excesos infinitos. / / Tú me dictaste máximas falaces / que a veces yo seguí con desacierto; / pero ahora desde el palo donde yaces / / la enmienda me aconsejas; y yo 162 Globalisierungsnarrative um 1800 Mitgefühl sucht man in den durchwachsenen Versen hingegen vergeblich: Nachdem Periquillo anfangs seine „conducta infame y corrompida“ (ebd.) einzubekennen scheint, zieht er wiederum über Januarios „excesos infinitos“ und „máximas falaces“ (ebd.) her, um im Schlussterzett nochmals das abschreckende Beispiel für die eigene „enmienda“ (PS 858) fruchtbar zu machen. Aufschlussreicher als das triviale motivische Echo ist ohnehin die metatextuelle Bedeutung, die das Sonett andererseits als verkappte „mise en abyme de l’énonciation“ 212 impliziert. Gattungsgemäß besonders kondensiert, offenbart es eine paradigmatische Verfasstheit, die näher betrachtet den gesamten Roman infiziert. Das darin bedichtete Erweckungs-Erlebnis, dessen christlicher Anstrich bald unter einem rücksichtslosen Utilitarismus verblasst, fügt sich somit in eine Reihe ähnlich märchenhafter Begebenheiten, die Lizardi von Beginn an einflicht und zuletzt erheblich vervielfacht. Anders als insistent behauptet, ergibt sich das Happy-End nicht aus einer in statu nascendi angelegten Entwicklungsfähigkeit, die ein zeitweilig fehlgeleitetes Individuum schrittweise auf Kurs bringt. Trotz verstreuter Anleihen ist El Periquillo Sarniento kein stringent gebauter Bildungsroman, nicht einmal zum Ende hin, wo der pikareske Ereignismodus schlichtweg ins Gegenteil verkehrt wird: Wo bisher ein schlechter Ausgang vorprogrammiert war, soll jetzt das Gute regieren, wo Periquillo zuvor die falsche Option wählte, entscheidet er sich fortan für die richtige und wo er in der Vergangenheit immer den Verführungen halbseidener Freunde erlag, hat er nun die Weisheit seiner großmütigen Mentoren internalisiert. Der damit wirksame Umschaltmechanismus greift aber nicht mehr auf der Linie sukzessiver Geschehensverknüpfung, er bedient sich stattdessen einer Auswahl narrativer Sequenzen, die beliebig wiederhol- oder veränderbar sind und die ein buchstäbliches „Erzählen im Paradigma“ 213 in Gang setzen. Damit der langjährige Outlaw binnen kurzem zum gottgefälligen Familienvater mutieren und mit allen Segnungen sterben kann, muss Lizardis Roman jedoch einige Verrenkungen unternehmen. Um Pefektibilität tatsächlich in Perfektion zu überführen, 214 bedarf es gewaltiger Sprünge, die advierto / que te debo escuchar, pues satisfaces, / predicándome bien después de muerto.“ 212 Dällenbach, Le récit spéculaire, 100. 213 Zum Terminus siehe Rainer Warning: „Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition“, in: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), 176-209 sowie Andreas Mahler, „Narrative Vexiertexte. Paradigmatisches Erzählen als Schreiben ohne Ende“, in: DVjs 85/ 3 (2011), 393-410. 214 Der - zumal bei Rousseau - kapitale Unterschied zwischen Perfektion und Perfektibilität kann hier nicht philosophisch angemessen problematisiert werden; zumindest verwiesen sei auf die einführenden Abgrenzungen bei Bertrand Binoche, „Perfection, Perfectibilité, Perfectionnement“ und „Les équivoques de la perfectibilité“, in: Ders., L’homme perfectible, 7-35. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 163 den paradigmatischen Automatismus auf Figuren- und Handlungsebene still stellen. Nicht umsonst gipfelt El Periquillo Sarniento in einer fabelhaften Anhäufung vermeintlich vorherbestimmter und in Wahrheit völlig kontingenter anagnorisis-Szenen: Auf diese Weise trifft der Protagonist sowohl seinen früheren Weggefährten und zukünftigen Beichtvater Martín Pelayo wieder als auch seinen Freund Anselmo, dem er zu einer Anstellung verhilft. Auf einem Jagdausflug begegnen er und sein Kassierer Hilario ferner einem Misanthropen, der sich als abgewiesener Verlobter der Schwester Hilarios herausstellt, während Letzterer selbst niemand anderer als Don Tadeo ist, der Periquillo trotz dessen Verleumdung einst bei sich aufnahm. Damit nicht genug: Nachdem ihn das Schicksal neuerlich mit dem Chinesen Limahotón und seinem ehemaligen Gehilfen Andresillo vereint hat, gewahrt Pedro Sarmiento „una tarde“ (PS 900) ein vierzehnjähriges Mädchen, das sich als Tochter seines Gefängnis-Wohltäters Antonio entpuppt und das er vor lauter Dankbarkeit eilends zur Frau nimmt, um mit ihr ähnlich rasch zwei Kinder zu zeugen. All das entspinnt sich in rasender Abfolge aus randständigen Analepsen, die schließlich kurz und bündig, meist mit einer Heirat, abgebrochen werden. Spätestens wenn sich hier die - auktorial gesteuerten - Zufallsbegegnungen und Erfolgsmeldungen überschlagen, ist der Abstand zwischen Chronologie und Episodik, zwischen proklamierter Evolution und aktualisierter Variation, kurzum: zwischen Syntagmatik und Paradigmatik nicht mehr zu übersehen. Um die Distanz zumindest formal zu überbrücken, setzt der leibhaftige Lizardi eine Herausgeberinstanz ein, die als veritabler deus ex machina die romaneske Bühne betritt und der Diegese ein nach außen hin zwingendes Ende bereitet. Die stets unvollkommene Serialität des Erzählens und das Ideal aufklärerischer Vervollkommnung scheinen versöhnt, sobald der Pensador respektive „un tal Lizardi“ (PS 920) als Nachlassverwalter (PS 937) tätig wird und nicht nur das materielle Erbe seines Freundes verteilt. Denn in erster Linie ist es seine Lebensgeschichte, die Pedro-Periquillo als Testament des realisierbaren Fortschritts hinterlässt 215 und die seine Nachkommen artig in die Praxis umsetzen werden (PS 937): „[Y] así ha educado [scil. Pedro Sarmiento] a sus hijos con tino tan feliz que ellos seguramente honrarán la memoria de su padre y serán el consuelo de su madre.“ 215 Ein buchstäblich testamentarisches Erzählen konstatieren in Lizardis Roman die Ausführungen von Edmond Cros, „Estructura testamentaria y discurso reformista en el Periquillo Sarniento“, in: Ders., Ideosemas y morfogénesis del texto. Literatura española e hispanoamericana, Frankfurt/ Main: Vervuert 1992, 121-145 sowie Mozejko, „El letrado y su lugar“, 231-239. 164 Globalisierungsnarrative um 1800 II.5.2 Der pikareske Parcours: Nomadisieren und Moralisieren Die teleologische Oberflächensemantik, die El Periquillo Sarniento zur Schau stellt und in den Windungen der Narration zugleich dementiert, gerät umso mehr in Bedrängnis, als sie kaum räumlichen Rückhalt findet. Wie in den spanischen Vorbildern aus Renaissance und Barock 216 kommt auch in Lizardis Schelmenroman der topologisch-topographischen Dimension des Erzählens - mehr noch als der zeitlichen - ein herausragender Stellenwert zu, sofern sie die figurale Wahrnehmung, die Segmentierung des Sujets und den Handlungsrhythmus bestimmt. Die Forschung hat dem Rechnung getragen, indem sie sich vor allem der fiktiven Schauplätze und ihrer möglichen, doch meist unsicheren Entsprechungen in der regionalen Geographie Mexikos oder in der Biographie des Autors annahm. 217 Erfreuliche Ausnahmen machen die Beiträge von Ottmar Ette und Marzena Grzegorczyk, 218 die Bewegungs- und Verortungsstrukturen in El Periquillo Sarniento isolieren und auf ihre Funktionalität hin befragen. Der „(prä)nationale Kommunikationsraum“ 219 , der „literarisch[e] Erprobungsrau[m]“ 220 oder die „topography of the sedentary subject“ 221 , die diese Lesarten in Lizardis Roman erkennen, sind aber ihrerseits schon Effekte eines narrativen „Vollzugsraums“ 222 , den es allererst zu rekonstruieren gilt. Zu Recht bemerkt so etwa Grzegorczyk den Ausfall ästhetisierender Landschaftsbeschreibungen, wie sie von kostumbristischen Textsorten, denen El Periquillo Sarniento zweifellos nahesteht, zu erwarten wären. Der Vorrang der „institutional spaces“ 223 , den sie daraus ableitet, bedeutet dennoch nicht, dass sich die pikareske Mobilität auf ein - zugegebenermaßen 216 Zur Räumlichkeit im pikaresken Roman vgl. die avancierte Studie von Hanno Ehrlicher, Zwischen Karneval und Konversion. Pilger und Pícaros in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit, München: Fink 2010. Zur Topo- und Kartographie des Erzählens in der kolonialspanischen Prosa siehe weiterhin Jörg Dünne, Die kartographische Imagination: Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit, München: Fink 2011, 15-87. 217 Vgl. exemplarisch Jefferson Rea Spell, „The Historical and Social Background of El Periquillo Sarniento“, in: Hispanic American Historical Review 36/ 4 (1956), 447-470. 218 Vgl. Ette, „Dialogisches Schreiben“, 223-236; Ette, TransArea, 131-138 sowie Marzena Grzegorczyk, Private Topographies - Space, Subjectivity, and Political Change in Modern Latin America, New York u.a.: Palgrave Macmillan 2005, 19-46. 219 Ette, „Dialogisches Schreiben“, 236. 220 Ette, TransArea, 135. 221 Grzegorczyk, Private Topographies, 44. 222 Den Terminus des „Vollzugsraums“, den Martin Heidegger („Zeit des Weltbildes“, in: Ders., Holzwege [1950], Frankfurt/ Main: Klostermann 8 2003, 75-113, hier 92) ontologisch definiert, macht Friederike Hassauer (Santiago: Schrift - Körper - Raum - Reise. Eine medienhistorische Rekonstruktion, München: Fink 1993, 129ff.) fruchtbar, um den auch schriftlichen Weg der Santiago-Pilger nachzuvollziehen. 223 „Rather than taking in the landscape, Periquillo moves through institutional spaces, spaces in which the basic units of human collectivity are crystallized, and, at the same time, spaces that are controlled by the state.“ (Grzegorczyk, Private Topographies, 29). Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 165 beeindruckendes - Spektrum sozialer, ethnischer und beruflicher Klassen beschränkt. Sie bleibt nicht rein symbolischer Natur, sondern konkretisiert sich physisch in den umfangreichen Reisen, die Periquillo von Mexiko- Stadt über Puebla, Tula und Acapulco bis in die kolonialspanischen Philippinen und auf das Phantasie-Eiland Saucheofú im chinesischen Meer führen. Gleich seinen frühneuzeitlichen Vorfahren 224 ist der Schelm permanent unterwegs, was offenkundig den Hauptunterschied zu seiner späteren Selbsterneuerung als gesetzter hombre de bien ausmacht. Anders gewendet: Die Statik des Ich-Erzählers, dessen Memoiren als enoncé ein für allemal fixiert sind, kontrastiert mit der Dynamik des erlebenden Ichs, die trotz der Mittelbarkeit noch im Äußerungsverlauf der énonciation nachvollziehbar bleibt. 225 Diese Divergenz erlaubt den Brückenschlag zu Michel de Certeaus raumbasierter Analyse der Alltagspraktiken, die nicht zuletzt als kommunikative Handlungen konzeptualisiert sind. Die Ausgangsopposition zwischen starker, selbstzentrierter stratégie und spontan agierender tactique 226 schärft der französische Historiker, indem er parallel zwei topologische Vorstellungsraster skizziert. Mit lieu und espace stehen sich das Einheitsstreben der gefestigten Autorität und der flexible Raumgewinn des Schwachen gegenüber. Während Ort und Strategie ein „sujet de vouloir et de pouvoir“ 227 voraussetzen, das sich von der Umwelt abzugrenzen vermag, ist taktisches Verhalten gerade nicht ortsgebunden, sondern vollzieht sich ad hoc und stets auf fremdem Terrain. Wo dagegen die „loi du propre“ des lieu regiert, haben alle Koordinaten eine distinkte Position, die Überschneidungen im Voraus ausschließt. Der espace entbehrt solcher Absolutheit, als Ergebnis unaufhörlicher Richtungs- und Geschwindigkeitswechsel stellt er vielmehr eine Art Kreuzung dar, deren Vieldeutigkeit aus andauernder Frequentierung und Verzeitlichung rührt: „Il y a espace dès qu’on prend en considération des vecteurs de direction, des quantités de vitesse et la variable de temps. L’espace est un croisement de mobiles. Il est en quelque sorte animé par l’ensemble des mouvements qui s’y déploient. […] En somme, l’espace est un lieu pratiqué.“ 228 224 Zur spanischen novela picaresca als „Literatur in Bewegung“ vgl. Ehrlicher, Pilger und Pícaros, 81ff./ 171ff. 225 Zur Spaltung des Kommunikationsakts in Botschaft (énoncé) und Äußerungssituation (énonciation) vgl. die bekannten Ausführungen bei Émile Benveniste, „L’appareil formel de l’énonciation“, in: Langages 5/ 17 (1970), 12-18 sowie Tzvetan Todorov, „Problèmes de l’énonciation“, in: ebd., 3-11. 226 Griffig unterschieden sind beide Konzepte bereits in der Einleitung von L’invention du quotidien, XLVI. Im Folgenden paraphrasiere ich meine Skizze zu Certeaus Raumpraxis aus: Kurt Hahn, Ethopoetik des Elementaren: Zum Schreiben als Lebensform in der Lyrik von René Char, Paul Celan und Octavio Paz, München: Fink 2008, 297-300. 227 Vgl. Certeau, Invention du quotidien, 59. 228 Die beiden vorangehenden Zitate: Certeau, Invention du quotidien, 173. 166 Globalisierungsnarrative um 1800 Der Polarität von lieu und espace stellt Certeau zwei Kombinationstypen zur Seite, die überdies den sprachanalogen Charakter seiner raumtheoretischen Überlegungen verdeutlichen. 229 Der stabilen Machtbasis des Ortes korrespondiert demnach als Vernetzungsmodus die carte, wohingegen der parcours die Ausfaltung temporärer Räume bildet. 230 Erstere formiert ein homogenes Tableau geographischen Wissens, das klar umrissene Territorien absteckt. Als Archiv aller Orte entspricht die Notation der Karte, so suggeriert Certeau, der definitiven Botschaft des énoncé, die ihrerseits Summe diverser Äußerungen ist. Demgegenüber zeichnet der Parcours einen Verlauf von Lokalisierungen nach, wie er sich aus den unvorhersehbaren Bewegungen menschlicher Subjekte ergibt. Während die Karte eine Vogelperspektive eröffnet, hat der Parcours keinerlei totalisierenden Überblick zur Verfügung und kommt deshalb jeweils intuitiv und fragmentarisch zustande. Sehen oder Gehen ist zusammengefasst die elementare, ja ‚anthropologische‘ Alternative, die die beiden Raumpraktiken und ihre verbalen Transpositionen bieten. 231 Doch ungeachtet ihrer Divergenzen finden panoptische carte und prozessualer parcours gleichermaßen Eingang in die „récits d’espace“ 232 , um deren Klassifizierung es L’invention du quotidien zu tun ist. Der Nexus zwischen topologischer und erzählerischer Performanz betrifft zwar in erster Linie die Sprachspiele des Alltagslebens, die sich mittels figurativer Rede (Metapher, Synekdoche, Ellipse, etc.) monolithischen Wahrheiten entziehen. Nicht minder eignet sich Certeaus Systematik aber für die Beschreibung literarisch verfasster Texte, zumal für eine Gattung, in welcher die Erschließung des Raumes auf allen Ebenen konstitutiv ist. Denn nimmt man eine zur Zeitachse parallele Unterscheidung vor, so erweist sich der Schelm nicht nur, wie Jurij M. Lotman nahelegt, 233 im erzählten Raum als 229 Raum und Sprache führt Certeau (Invention du quotidien, 173) unter anderem mit folgendem Wortlaut eng: „L’espace serait au lieu ce que devient le mot quand il est parlé, c’est-à-dire quand il est saisi dans l’ambiguïté d’une effectuation, mué en un terme relevant de multiples conventions, posé comme l’acte d’un présent (ou d’un temps), et modifié par les transformations dues à des voisinages successifs. À la différence du lieu, il n’a donc ni l’univocité ni la stabilité d’un ‚propre‘.“ 230 Vgl. Certeau, Invention du quotidien, 175-180. Für ein differenziertes Modell kartographischen Erzählens nutzt Dünne (Kartographische Imagination, bes. 179ff.) Certeaus raumpraktische Terminologie. 231 „Autrement dit, la description oscille entre les termes d’une alternative: ou bien voir (c’est la connaissance d’un ordre des lieux), ou bien aller (ce sont des actions spatialisantes). […]. La question concerne finalement, sur la base de ces narrations quotidiennes, la relation entre l’itinéraire (une série discursive d’opérations) et la carte (une mise à plat totalisant des observations), c’est-à-dire entre deux langages symboliques et anthropologiques de l’espace.“ (Certeau, Invention du quotidien, 176). 232 So der übergreifende Kapiteltitel bei Certeau, Invention du quotidien, 170-191. 233 Lotman (Struktur literarischer Texte, 346f.), der sich nicht an der spanischen novela picaresca orientiert, reduziert die Beweglichkeit allerdings auf den Übertritt des Schelms Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 167 „bewegliche“ Figur schlechthin. Gerade in El Periquillo Sarniento schlagen seine - meist nur vorübergehenden - Grenzüberschreitungen auf den Erzählraum, auf den Akt der Narration als solchen durch. Lizardis Roman bewerkstelligt dies, indem er die fiktive Topologie gegenüber der barocken novela picaresca zusätzlich verdichtet und nuanciert. Allein in der Binnengeschichte lässt er zweierlei Ordnungsdispositive aufeinanderprallen, sofern hier zentripetale und zentrifugale oder, wie Ottmar Ette formuliert, „sternförmige“ und „zufällige“ 234 Richtungsvektoren konkurrieren. Zwar markiert die neuspanische Hauptstadt Mexiko einen Fixpunkt, den der Held und sein récit umkreisen und an den beide am Ende zurückkehren. Gleichwohl tilgt dieses Zentrum nicht die frappante Unbeständigkeit, der Periquillos Vagabundieren und - so wäre zu veranschaulichen - auch Pedro Sarmientos narratives Schwadronieren bis zuletzt verhaftet bleiben. Es gehört zu den generischen Merkmalen des Pícaro, dass er kein angestammtes Territorium hat, keinen lieu, wo er sich einrichten und gänzlich frei schalten und walten kann. 235 Er muss fortwährend fremde Gebiete erkunden, die niemals die seinen werden und die ihn, kaum aufgenommen, wieder ins Exil verbannen. Umso mehr handelt es sich dabei um praktizierte Räume, um individualisierte espaces, wie Certeau sie definiert und wie sie sich der Schelm geschickt zueigen macht. Daraus resultiert ein itinerarisches Profil, das sich in Periquillos Fall durch einen weiten geographischen Radius auszeichnet und keineswegs nur Beiwerk eines Marsches durch die Institutionen ist. Auf seiner Wanderschaft passiert er Stadt- und Landesgrenzen, gelangt nach Übersee oder auf eine utopische Insel, ohne dass er seinen Weg selbstbestimmt wählen könnte. Er muss es nehmen, wie es kommt, und das Beste aus den Deplatzierungen machen, die entweder seinem unbotmäßigen Gebaren oder einer feindlich gesinnten Umwelt geschuldet sind. Notorisch marginalisiert, ist Periquillo zugleich ein ewig Vertriebener, der allerdings zusehends Übung vom semantischen Teilraum der „Armut“ in jenen des „Reichtums“. Eine präzise Reformulierung pikaresker Mobilität findet sich bei Ehrlicher, Pilger und Pícaros, 17-22. 234 Insgesamt veranschlagt Ette („Dialogisches Schreiben“, 234) fünf „Bewegungs- und Verstehensmodelle“, wonach Periquillos Mobilität abwechselnd eine kreisförmige, pendelnde, lineare oder eben zufällige und sternförmige Struktur annimmt. Die Varianten lässt er jedoch in einen Zentralismus (der vizeköniglichen Hauptstadt) einmünden, der - so seine Gesamtthese - El Periquillo Sarniento als Gründungstext einer heterogenen mexikanischen Nationalkultur ausweist. Dennoch bleibt eine grundsätzliche räumliche Ambiguität bestehen, wie Ette (TransArea, 135) andernorts anmerkt: „Die von Fernández de Lizardi gezeichnete neuspanische Gesellschaft ist zugleich extrem diversifiziert und abgeschlossen, migratorisch und statisch.“ 235 Die gattungsgemäße Ortlosigkeit des Schelms diskutiert Jochen Mecke, „Die Atopie des Pícaro. Paradoxale Kritik und dezentrierte Subjektivität im Lazarillo de Tormes“, in: Wolfgang Matzat / Bernhard Teuber (Hg.), Welterfahrung - Selbsterfahrung. Konstitution und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit, Tübingen: Niemeyer 2000, 67-94. 168 Globalisierungsnarrative um 1800 im Emi- und Immigrieren erlangt. Als Navigationsinstrument hat er dafür natürlich keine - auch nur mentale - Karte, die im Vorhinein mögliche Destinationen und Rückzugsräume visualisieren würde. Er kann seine Route stattdessen nur von Etappe zu Etappe absehen, weshalb die fortgesetzten Ortswechel des Protagonisten mit Certeaus Terminus des parcours treffend zu erfassen sind. Damit er überhaupt Aufenthaltsrecht, Unterkunft und Anstellung erhält, muss er sich ausgeklügelter Manöver, kreativer Umdeutungen und Verstellungen bedienen, wie seine papageienhaften Simulationen zur Genüge illustrieren. 236 Gleich ob als Arzt verkleidet, als Mönchsnovize aus Faulheit oder im Gewand des Bettlers, nicht selten ist Periquillo in falscher Mission unterwegs, um sein Aus- und Fortkommen zu bestreiten. Anders als der versöhnliche Tenor des Pedro Sarmiento glauben macht, führt die unberechenbare Mobilität seiner Schelmenvergangenheit aber nicht zwingend zu seiner späteren Rechtschaffenheit. Der Parcours lässt sich nicht als schlechterdings notwendige Vorgeschichte subsumieren. Ziellos und eigensinnig verselbstständigt er sich hingegen, auch und gerade noch im nachgängigen Erzählakt, wie mitunter der Rückweg aus Manila demonstriert, wo Periquillo immerhin acht Jahre ehrenhaft in den königlichen Truppen gedient hat. Kaum tritt er die Heimreise an, schwinden jedoch die guten Vorsätze und er baut Luftschlösser, „delirios“ des Aufstiegs, die bis zu einem „soñado virreinato“ (PS 746) reichen. Ein Schiffbruch kostet ihn seine ganzen Ersparnisse und er muss sich auf der Insel Saucheofú abermals einer unbekannten Umgebung anpassen, wobei er jeden Anstand zugunsten der gewohnt unlauteren Kniffe fahren lässt. Völlig mittellos gibt er sich, nachdem erste Selbstdeklarationen zum Adeligen, zum Theologen, zum Arzt und zum Rechtsgelehrten (PS 753-760) demaskiert wurden, als Conde aus (PS 761ff.), entzieht sich so der rigorosen Arbeitspflicht und erschleicht sich obendrein das Vertrauen Limahotóns, des Bruders des „tután“ (PS 752) oder Inselherrschers. Mit Erfindungsreichtum und mit der Anmaßung autoritativer Attribute hat sich Periquillo wieder eine Nische, einen espace in einer Gesellschaft gesichert, in der er freilich keinen dauerhaften Platz, keinen lieu finden wird. Die parasitäre Einnistung und vorübergehende ‚Wilderei‘ 237 in fremden Gefilden erlauben ihm nichtsdestotrotz, im Spiel und das heißt nichts Geringeres als am Leben und in Bewegung zu bleiben. Denn darum geht es vorrangig, wie Periquillo gleich nach seiner Ankunft auf der Insel klarstellt: Statt wie die Einheimischen einem geregelten „oficio“ nachzugehen und solcherart paralysiert zu werden, ist der Pícaro per definitionem auf dem Sprung, weshalb er, kaum irgendwo eingetroffen, schon wieder Vorkehrungen für die Weiter- 236 Vgl. hierzu den Abschnitt II.4 dieser Lektüre. 237 Zur ‚Wilderei‘ („braconnage“) als taktischem Handlungs- und besonders Lektüremodell siehe Certeau, Invention du quotidien, 239-255. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 169 reise trifft (PS 762): „[Y]o no quería aprender a nada porque no trataba de permanecer mucho tiempo en su tierra [scil. de Limahotón], sino de regresarme a la mía, en la que no tenía necesidad de trabajar, pues era conde.“ Zur rechten Zeit am rechten Ort die richtige Entscheidung zu treffen und dabei von längerfristigen Erwägungen abzusehen - darin besteht Periquillos ‚Kunst des Schwachen‘ 238 , die gleichwohl immer in Abhängigkeitsverhältnissen operiert. Neben den Dienstherren des Schelms tritt somit eine Kontingenz ins Blickfeld, die als launenhafte Kompassnadel eigentlich seinen Parcours steuert. Ebenso wie er auf den Philippinen „por una casualidad“ (PS 762) in die soziale Mitte aufrückt, wie er sich zufällig als Einziger vor dem Ertrinken rettet, auf einer Planke Saucheofú erreicht (PS 748f.) und dort unter falschem Grafentitel residiert, trifft es sich weiterhin, dass auf der Insel ein Schiff strandet, das Periquillo selbstredend nach Neuspanien bringt. Der Erzähler mag noch so sehr die „Divina Providencia“ (z.B. PS 748/ 790) als treibende Kraft der glücklichen Fügungen beschwören, sie verdeckt nicht die abenteuerliche Odyssee, die er ehedem erlebt hat und die er jetzt genüsslich ausbuchstabiert. Periquillos ‚nomadische‘ Unrast kommt nicht einmal zur Ruhe, als er heimgekehrt ist und - mit einem zweiten Begriff aus Gilles Deleuze‘ und Félix Guattaris Geophilosophie gesagt - ‚re-territorialisiert‘ scheint. Noch nach dem Tiefpunkt des Selbstmordversuchs laviert er sich, ungebunden wie eh und je, durch den Alltag, so dass sogar der Bruch mit pikaresker Liederlichkeit auf einer langen ‚Fluchtlinie‘ 239 statthat: auf der Flucht vor der Rache der Opfer, nachdem er dank „fortuna“ (PS 851) einen Überfall seiner Bande überlebt hat; als Krimineller auf der Flucht vor polizeilicher Verfolgung, als das Bild des gehängten Januario bereits erste Reue aufkeimen ließ (PS 855f.); und zuletzt auf der Flucht vor gesellschaftlicher Ächtung, als die Generalbeichte seine Läuterung besiegelt hat (PS 865-869). Um sich eine redliche Existenz aufzubauen, steht Pedro nämlich nicht sofort der scheinbare Mittelpunkt der fiktiven Kartographie offen. Nicht in Mexiko selbst, wo er jeden Kredit bei Verwandten und Bekannten verspielt hat, 240 sondern im peripheren Örtchen San Agustín de las Cuevas muss er 238 Der Terminus eines „art du faible“ geht wieder auf Certeau (Invention du quotidien, 61) zurück. 239 Die drei vorangehend zitierten Begriffsschöpfungen entstammen Gilles Deleuze / Félix Guattari, Capitalisme et schizophrénie II: Mille plateaux, Paris: Minuit 1980, bes. 434- 527. Eine Grundlegung wichtiger geophilosophischer Termini bietet zudem das Auftaktkapitel „Le Rhizome“ (ebd., 9-37). Zum Gedankengebäude einer subjektlosen Geophilosophie vgl. ferner Gilles Deleuze / Félix Guattari, Qu’est-ce que la philosophie? [1991], Paris: Minuit 2008, 82-109. 240 Angesichts seines erbärmlichen Aufzugs nach dem Selbstmordversuch wagt Periquillo die Hauptstadt kaum zu betreten und wird daraufhin prompt vom einstigen Freund Anselmo verleugnet; hier der bezeichnende Auftakt der Episode (PS 821): „Mi dirección era para la ciudad; pero al ver mi pelaje tan endiablado, y al considerar 170 Globalisierungsnarrative um 1800 seine Rehabilitation betreiben (PS 869): „[Y]o me quedé en aquel pueblo manejándome con la mejor conducta, que el cielo me premió con el aumento de mis intereses y una serie de felicidades temporales.“ Erst eine unheilbare Krankheit führt ihn wieder in die Hauptstadt, aus der er anfangs aufbrach, was Lizardi aber nurmehr wenige Zeilen wert ist (PS 919). Es erwächst daraus kein neuer Handlungsimpuls, da Rückkehr und Tod des Protagonisten zusammenfallen. Sobald er still gestellt ist, bricht seine Geschichte abrupt ab und kann nur durch die gottgleiche Stimme des Herausgebers als Komplettierung einer Persönlichkeitsbildung überhöht werden. Insofern darf die finale Befriedung nicht darüber hinwegtäuschen, dass es derselbe Biedermann ist, der, bevor er sich in moralinsauren Binsenweisheiten ergeht, lustvoll seine einstigen Eskapaden erinnert. So trivial der Hinweis anmutet, so wichtig ist die Aufspaltung für die Korrelation, die in El Periquillo Sarniento Narrativ und Narration, erzählten Raum und Erzählraum verbindet. Kein klarer Schnitt trennt Pedros nachträgliche „reflection“ von Periquillos unmittelbarer, oftmals schmerzhafter „experience“, wie Marzena Grzegorczyk suggeriert. 241 Beide Stadien sind insofern aufeinander bezogen, als die listigen Verhaltens- und Argumentationsmuster, mit denen der Schelm seine Umwelt zum Besten hält, in der Rhetorik des wackeren Autobiographen wiederkehren, der die Tollheiten seiner Jugend ebenso langatmig ausbreitet wie seine Didaxen. Die Kapitel fransen in die eine oder andere Richtung aus und unterbinden eine straffe Ereignisfolge nicht minder als eine evidente expositorische Beweisführung. El Periquillo Sarniento entfaltet mithin einen Erzählraum, der sich sowohl „intertextuell“ als auch „intratextuell“ 242 auffächert und der in ständigen Registerwechseln monologischen Semantiken gegensteuert. Noch diesseits des dichten Geflechts der Zitate, Prätexte und Diskursfragmente, 243 das Lizardi seinem Roman einwebt, changiert dieser zwischen verschiedenen Fiktionsebenen und Sprechweisen, zwischen Paratext und Haupttext, zwischen showing und telling, zwischen Diegese und Metadiegese, zwischen Deskription und Räsonnement. Zahllose Ergänzungen, Anmerkungen und Parenthesen der beiden internen Urheber Pedro Sarmiento und El Pensador verschleppen das Sujet und müssen mit stereotypen Formeln immer que el día anterior me había paseado en coche y vestido a lo caballero, me detenía una porción de tiempo en andar, pues en cada paso que daba me parecía que movía una torre de plomo.“ 241 Vgl. Grzegorczyk, Private Topographies, 19-46. Grzegorczyks These der Aufhebung pikaresker Erfahrung in reflexiver Subjektivität steht in Opposition zu Vogeleys Deutungsansatz (Birth of the Novel, 138ff.), der gerade dem empirischen Erfahrungswissen in El Periquillo Sarniento eine subversive Qualität zubilligt. 242 Die beiden Teilaspekte fiktionsinterner Raumbildung unterscheidet die Studie von Karin Wenz, Raum, Raumsprache und Sprachräume. Zur Textsemiotik der Raumbeschreibung, Tübingen: Narr 1997, 148-152. 243 Siehe den Abschnitt II.4.1 dieser Analyse. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 171 wieder zur Ordnung gerufen werden. 244 Ganz zu schweigen von der Eingemeindung anderer Genres, worunter sich naturwissenschaftliche und juristische Abhandlungen, szenische Dialoge und mahnende Predigten, theologische Traktate und besagte enzyklopädische Kompendien finden. So entsteht ein Erzählen, das ohne Vorwarnung aussetzt und wieder anhebt, das sich in Exkursen, Wiederholungen und Zirkelschlüssen verliert und das sich keineswegs scheut, einmal eingeschlagene Pisten zu korrigieren oder gänzlich aufzugeben. Das Potential, das ein derart anpassungsfähiger, halb narrativer und halb essayistischer Artikulationstypus birgt, wird der Reisebericht (relato de viaje) ausschöpfen, der in den hispanoamerikanischen Literaturen des 19. Jahrhunderts floriert und den der offene Roman El Periquillo Sarniento zuallererst auf der Ebene der Darstellung inspiriert. Trotz alters- und gesinnungsbedingter Gegensätze laufen Periquillos Lebens- und Pedro Sarmientos Erzähl-Weg in gewisser Hinsicht also doch parallel. In beiden Fällen müssen sich Leserinnen und Leser auf ein Deambulieren einlassen, das nicht konstante Progression, sondern unablässige Digressionen und Redundanzen zur Regel hat. Bezeichnenderweise bricht der sterbenskranke Pedro seine „últimas digresiones“ (PS 917) ohne weitere Erklärung ab, wozu der Pensador die literarästhetische Begründung nachreicht. Es sei, so setzt er der Witwe auseinander, ein unprätentiöser und volkstümlicher Stil, „un estilo casero y familiar“ (PS 938), versetzt mit zahlreichen „dicharachos y refranes del vulgo“ (ebd.), im Großen und Ganzen ein unsystematischer Stil, der in den „cuadernos“ (ebd.) ihres Gatten vorherrsche. Wie der Schelm, der um eine Bleibe und sein tägliches Brot ringt, so schreckt auch diese Diktion nicht vor Manipulationen zurück; nunmehr literarische Manipulationen, die ihre „máximas morales“ (PS 939) in vergnügliche „dichos y cuentecillos“ (ebd.) oder in „lo picante de la sátira“ (ebd.) verpacken und so manches - etwa die angeborene Sensibilität - schönfärben oder übertreiben. Einmal dafür interessiert, schluckt das Publikum bereitwillig die ‚vergoldeten Pillen‘ („píldoras, que se doran“, ebd.) des mitgelieferten docere, wobei sich die Medizin bei falschem Gebrauch leicht in ein gefährliches pharmakon verwandeln kann. 245 Zuweilen manipulativ und unreliable, stets aber wort- und detailreich verfährt auch der Herausgeber, dessen stilistische Gepflogenheiten eine ähnliche Lässigkeit an den Tag legen, wie sie zuvor Pedro praktizierte. Mit aufgesetzter Bescheidenheit resümiert der Pensador selbst (PS 920f.): 244 Darunter finden sich Floskeln wie „El motivo por que se volvió a interrumpir“ (PS 424), „volvamos a atar el hilo“ (PS 467), „Quedamos en que“ (PS 523) oder „Dejé pendiente mi historia diciéndoos“ (PS 832). 245 Wie oben ausgeführt (II.4), beteuert der besorgte Vater den Wahrheitsanspruch seiner Memoiren, um seine Kinder jedoch im selben Moment auf die Ambivalenz seines jugendlichen „mal ejemplo“ (PS 916) aufmerksam zu machen. 172 Globalisierungsnarrative um 1800 La facilidad con que escribo no prueba acierto. Escribo mil veces en medio de la distracción de mi familia y de mis amigos; pero esto no justifica mis errores, pues debía escribir con sosiego y sujetar mis escritos a la lima, o no escribir, siguiendo el ejemplo de Virgilio o el consejo de Horacio; pero después que he escrito de este modo, y después de que conozco por mi natural inclinación que no tengo paciencia para leer mucho, para escribir, borrar, enmendar, ni consultar despacio mis escritos, confieso que no hago como debo, y creo firmemente que me disculparán los sabios, atribuyendo a calor de mi fantasía la precipitación siempre culpable de mi pluma. Spontaneität und Improvisation statt horazischer Regelpoetik, Ablenkung und Getriebenheit statt Geduld und Perfektionismus, kurzum: eine ‚heißlaufende‘ Sprach- und Einbildungskraft kennzeichnen die schriftstellerische Tätigkeit des Pensador. Entsprechend sorglos und proliferierend geht er mit den „digresiones“ (PS 99), „notas“ (ebd.) und „citas“ (ebd.) um, die er dem Manuskript des Freundes hinzufügt. Dessen uneingeschränkter Zustimmung kann er sich insofern sicher sein, als er ohnehin wesensmäßig mit Pedro Sarmiento verwachsen ist. 246 Letztlich muss man überhaupt zur metaleptischen Doppelgängerstruktur des Romans zurückkehren, um den vielschichtigen Erzählraum - und analog die Erzählzeit - einzusehen: Der Parcours des Schelms verlängert sich in die gleichfalls ‚rhizomatische‘ 247 Narration seines betagten Alter Ego und von dort in die Editionspraxis des Pensador, der sich wiederum in Einklang mit seinem Autor Lizardi 248 zu einem sprunghaften und weitschweifigen Schreiben bekennt. Bedenkt man überdies, dass im erzählten Raum ein lernfähiges Subjekt, das patriotisch in die Haupstadt strebt, auf einen zufallsgelenkten Weltenbummler trifft, verbieten sich endgültig einseitige Deutungsoptionen. Allein wenn man die Sesshaftigkeit des vernünftigen Christenmenschen Pedro Sarmiento 249 mit seinen vormaligen „extravíos“ (PS 916) verkoppelt, offenbart sich, inwiefern in El Periquillo Sarniento Ruhe immer schon Mobilität, Kontinuität stets Diskontinuität, Identitätsbildung unweigerlich Transformation und das abschließende Moralisieren ein früheres Nomadisieren voraussetzt. 246 Es sei an die schillernde Bemerkung erinnert, mit der Pedro Sarmiento seine identifikatorische Zuneigung für den Freund und späteren Herausgeber bekundet (PS 921): „[Y] tanto nos hemos amado que puedo decir que soy uno mismo con el Pensador y él conmigo“. 247 Zum vielzitierten Begriff siehe nochmals Deleuze / Guattari, Mille plateaux, 9-37. 248 In der „Apología de El Periquillo Sarniento“ (Obras, Bd. 8: Novelas, 20f.) lässt Lizardi den fiktiven Kritiker „Ranet“ als „defecto imperdonable las digresiones de Periquillo“ monieren, um wieder mit der Parallele des Don Quijote zu kontern: Das Moralisieren zu Pferde, das der fahrende Ritter umfangreich pflegt, unterbreche ebenfalls die fiktive Geschichte, verbürge aber erst den Witz und die Didaxe in Cervantes‘ Roman. 249 Wie Christian Wehr („Pikareske Destabilisierung“, 56) zu bedenken gibt, drückt sich die Frömmigkeit des alten Pedro Sarmiento bereits in seinem Namen aus, da „sarmiento“ als ‚Weinstock‘ ein bekanntes christologisches Emblem aufruft. Mediale Feld-Aufklärung und pikaresker Erzählparcours 173 II.5.3 Coda: Global Histories und Local Designs Eine ausdrücklich subversive Schlagseite, die entweder politisch den Zentralismus des Kolonialreichs oder epistemologisch die Selbstpräsenz des aufgeklärten Subjekts in Frage stellt, ist aus der Gegenstrebigkeit dennoch nicht abzuleiten. 250 Kaum überzeugender gelingt die Erhebung des Protagonisten zur nationalen Gründungsfigur, die das Joch mangelhafter neuspanischer Sozialisation abstreift und sich zum vorbildlichen Mexikaner der Zukunft emporschwingt. Jede voreilige Instrumentalisierung droht den ‚Brechungseffekt‘ 251 zu verkennen, der alles Ideologische in die Gesetzmäßigkeiten der literarischen Erfindung verwandelt. Gerade hierbei setzt Lizardi neue Maßstäbe, indem er seine weltanschaulichen Positionen und narrativen Muster romanintern gegeneinandertreibt, wovon die konfliktive Zeit- und Raumkonstruktion in El Periquillo Sarniento Rechenschaft gibt. Sie transkribiert sowohl die Ab- und Umwege, die den (Anti-)Helden in entlegene oder gar erdachte Gegenden führen, als auch die Stimme des autodiegetischen Erzählers, der ebenjene „yerros“ (PS 916) in seiner prospektiv ausgerichteten Belehrung aufhebt. Diese Kompromissbildung erlaubt Lizardi einerseits, die verschlungene Topographie der barocken novela picaresca mit einer aufklärerischen Fortschrittsteleologie engzuführen. Zum anderen liefert sein Debütroman die fiktionale Selbstdiagnose eines hispanoamerikanischen Schriftstellers, der sich in der ungewissen Situation vor der Unabhängigkeit zu etablieren sucht. Denn ebenso wie die Deterritorialisierung des Schelms mit der territorialen Einhegung des Gutmenschen verbunden ist und wie in El Periquillo Sarniento paradigmatische Variation und syntagmatische Entwicklung koexistieren, sieht sich auch Lizardi gezwungen, immer zweigleisig zu agieren. In vertauschter Attribuierung charakterisiert ihn Walter D. Mignolos Buchtitel Local Histories / Global Designs 252 , da er mit global ausgreifenden Geschichten und Erzählweisen hauptsächlich lokale und - so wäre zu ergänzen - persönliche Absichten verfolgt. Um das Projekt eines dezidiert neuspanischen bzw. mexikanischen Romans zu verwirklichen, kann er sich nicht nur auf altbekannte Diskurstraditionen kolonialer Provenienz beschränken. Er muss zudem neue internationale, literarische und philoso- 250 So in vergröberter Version die Lesart von Vogeley in Birth of the Novel, 81-184 und „Defining the ‚Colonial Reader‘“, 784-800. 251 Den „effet de réfraction“, der jede soziokulturelle, politische oder ökonomische Einflussnahme in literarästhetische Positionen übersetzt, resümiert Bourdieu (Règles de l’art, 380) etwa folgendermaßen: „Bref, les déterminations externes ne s’exercent jamais que par l’intermédiaire des forces et des formes spécifiques du champ, c’est-àdire après avoir subi une restructuration d’autant plus importante que le champ est plus autonome, plus capable d’imposer sa logique spécifique, qui n’est que l’objectivation de toute son histoire dans des institutions et des mécanismes.“ 252 Vgl. Walter D. Mignolo, Local Histories / Global Designs: Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking, Princeton: UP 2000. 174 Globalisierungsnarrative um 1800 phische Filiationen einbringen, wofür sich die angesehenen Kulturimporte aus Frankreich nachgerade aufdrängen. Das Eigene, das hier entstehen soll, basiert auf einer Bearbeitung des Fremden, dessen Attraktivität aber entscheidend ist. Die Überblendung divergenter Raum- und Zeitentwürfe in El Periquillo Sarniento unterstreicht deshalb auch, dass Erzähltexte zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Mexiko und wohl in ganz Hispanoamerika nur dann Absatz finden, wenn sie als Mischware angeboten werden, d.h. wenn sie die pikareske Fabulierlust mit nützlichen Handreichungen kombinieren, wie sie Rousseaus Pädagogik in einer katholisierten Erbauungsversion offeriert. Lizardi muss seine volle mediale und transkulturelle Flexibilität, all seine intertextuellen Kenntnisse und publizistischen Fähigkeiten in die Waagschale werfen, um sich und seinen Nachfolgern auf dem Kontinent ein narratives Experimentier-Feld zu erschreiben. Nicht als exakt datierbare Geburtsstunde des einheimischen Romans oder als Zeugnis des mexikanischen nation-building, 253 sondern als Impuls für die bevorstehende literarische Ausdifferenzierung markiert El Periquillo Sarniento mithin einen veritablen Anfang. Und nicht so sehr als Prototyp des engagierten Intellektuellen, sondern als Urahn eines García Márquez, Fuentes oder Vargas Llosa gebührt José Joaquín Fernández de Lizardi der Titel eines Conductor Eléctrico, der die hipanoamerikanische Erzählprosa unter Strom setzt und in die Kommunikationsnetze der Weltliteratur 254 einspeist. 253 So Benedict Andersons bekannte These (Imagined Communities, 29f.), die Doris Sommer (Foundational Fictions, 11f.) in einer kurzen Einlassung und Antonio Benítez-Rojo in einer ausführlichen Besprechung zu El Periquillo Sarniento („Emergence of the Spanish American Novel“, 199-213) aufgreifen. 254 Zum vielbemühten Konzept vgl. exemplarisch David Damrosch, What is World Literature? , Princeton u.a.: UP 2003 oder Casanova, République mondiale des Lettres. Gerade zur Position Lateinamerikas im Rahmen einer verschiedentlich definierten Weltliteratur erscheinen seit einiger Zeit gewichtige Forschungsarbeiten; ich nenne allein die avancierten Beiträge in Gesine Müller / Dunia Gras Miravet (Hg.), América Latina y la literatura mundial: mercado editorial, redes globales y la invención de un continente, Madrid: Iberoamericana/ Vervuert 2015 und Mariano Siskinds kluge Studie Cosmopolitan Desires (2014, 7), die ihren Gegenstand zu Beginn so definiert: „Cosmopolitan Desires reads Latin American literary modernity as a global relation, a set of aesthetic procedures that mediate a broadened transcultural network of uneven cultural exchanges. It traces world-making discourses and physical displacements within comparative, translational, and displaced frames of legibility from the 1870s onwards […].“ Globalisierungsnarrative um 1900 III Schwer verdaulich: Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung in J. A. Silvas De sobremesa III.1 (Dis-)Kontinuität der imaginären Globalisierung Ungeachtet einer hartnäckigen Deutungstradition, die das Lokalkolorit des Periquillo Sarniento verabsolutiert, entfaltet Lizardis Roman seine volle Wirkmächtigkeit erst dort, wo er als - freilich bescheidener - Auftakt zur Internationalisierung hispanoamerikanischer Erzählprosa figuriert. Wenn ihn diese Untersuchung folglich als Globalisierungsnarrativ ausweist, so handelt es sich dennoch nicht um eine faktische oder überhaupt bewusste Ausprägung weltweit orientierter und agierender Literatur. Im Gegenteil: Wie den Schwellentexten eindrücklich zu entnehmen war, ist dem hispanoamerikanischen Romancier zu Lizardis Lebzeiten gerade der transatlantische Markt noch verschlossen. Daher ließe sich mit einer suggestiven Wendung des argentinischen Anthropologen Néstor García Canclini eher von einer „globalización imaginada“ 1 ausgehen, die in El Periquillo Sarniento erste Konturen annimmt. Es ist hier gewiss nicht der Ort, um den umstrittenen Terminus der Globalisierung angemessen kritisch zu erörtern 2 oder ihn in der lateinamerikani(sti)schen Theoriediskussion zu situieren. Seit geraumer Zeit arbeiten sich Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Disziplinen und Wissen- 1 Vgl. Néstor García Canclini, Globalización imaginada, Buenos Aires: Paidós 1999. Einer ähnlich vorgreifenden Globalisierung, wie sie Lizardis Erzählen andeutet, widmen sich auf (reise-)literarischem Terrain etliche Beiträge in Teresa Pinheiro / Natascha Ueckmann (Hg.), Globalisierung avant la lettre. Reiseliteratur vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, Münster: LIT 2005. Die Globalisierungsgeschichten zwischen Europa und Lateinamerika kommentiert eingehend Ottmar Ette, so etwa in: TransArea, bes. 1-52; Viellogische Philologie, bes. 27-70 oder „Desde la filología de la literatura mundial hacia una polilógica filología de las literaturas del mundo“, in: Müller / Gras Miravet (Hg.), América Latina y la literatura mundial, 323-367. 2 Genannt seien zumindest die konträren soziologischen bzw. philosophischen Zugänge von Ulrich Beck (Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus: Antworten auf Globalisierung [1997], Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2007) und Peter Sloterdijk (Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2005). Wegweisend für die connected history argumentiert hingegen Serge Gruzinski, Les quatre parties du monde. Histoire d’une mondialisation, Paris: Éd. de La Martinière 2004. Literatur- und kulturwissenschaftlich verweise ich exemplarisch auf den Band von Christian Moser / Linda Simonis (Hg.), Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, Göttingen: V&R Unipress 2014. Hinsichtlich der Globalisierungsschübe im 19. Jahrhundert bieten die Bemerkungen in Osterhammels Verwandlung der Welt (183ff.) einen erhellenden Einstieg. 178 Globalisierungsnarrative um 1900 schaftsparadigmen 3 - von der Dependenztheorie bis zu den postcolonial studies - an der Frage ab, inwiefern die weltweite Verstrickung des Kontinents Fluch oder Segen ist und wo sie überhaupt ihren Anfang nimmt. Derart weitreichende Überlegungen können im vorliegenden Zusammenhang nicht in Betracht gezogen werden. García Canclinis schillernde Formulierung bleibt nichtsdestoweniger erwägenswert, zumal sie gleichermaßen materielle wie symbolische Zirkulationen im Blick hat. Waren- und Ideenflüsse, Menschen- und Sprachströme, visuelle und narrative Überlieferungen entbinden gemeinsam eine Globalisierungsdynamik, deren heiße Phase García Canclini erwartungsgemäß auf die vergangenen fünfzig Jahre 4 datiert: En los relatos e imágenes aparece lo que la globalización tiene de utopía y lo que no puede integrar, por ejemplo las diferencias entre anglos y latinos, los desgarramientos de la gente que migra o viaja, que no vive donde nació y se comunica con otros a los que no sabe cuándo volverá a ver. Las metáforas sirven para imaginar lo diferente y las narraciones ritualizadas para ordenarlo. […] No estoy identificando imaginario con falso. Así como se estableció que las construcciones imaginarias hacen posible la existencia de las sociedades locales y nacionales, también contribuyen a la arquitectura de la globalización. Las sociedades se abren para la importación y exportación de bienes materiales que van de un país a otro, y también para que circulen mensajes coproducidos desde varios países, que expresan en lo simbólico procesos de cooperación e intercambio, por ejemplo músicas que fusionan tradiciones antes alejadas y películas filmadas con capitales, actores y escenarios multinacionales. 5 Sieht man hingegen von einer genauen Terminierung ab, so treten umso mehr die ‚Geschichten und Bilder‘, „los relatos e imágenes“ hervor, die über eine longue durée hinweg Nationales und Internationales, Regionales und Überregionales zusammenzwingen. Denn auch wenn García Canclinis Gleichgewicht zwischen Ex- und Import im lateinamerikanischen Kontext vergleichsweise optimistisch anmutet, sind es seit jeher Zeichen-, Sinn- und 3 Vgl. stellvertretend Néstor García Canclini, „Globalización e interculturalidad: próximos escenarios en América Latina“, in: Alfonso de Toro (Hg.), Cartografías y estrategias de la „postmodernidad“ y la „postcolonialidad“ en Latinoamérica. „Hibridez“ y „globalización“, Frankfurt/ Main u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2006, 129-142 oder Carlos Monsiváis, „América Latina en la era de la globalización“, in: Volkmar Blum et al. (Hg.), Globale Vergesellschaftung und lokale Kulturen (Jahrestagung ADLAF 1990), Frankfurt/ Main: Iberoamericana/ Vervuert 1992, 249-258. Eine Romantheorie im Zeichen der Globalisierung, die sich allerdings auf das 20. Jahrhundert konzentriert, skizziert Carlos Rincón in Teorías y poéticas de la novela, 13ff. 4 García Canclini (Globalización imaginada, 45f.) unterscheidet eine Phase der „internacionalización“, die in Lateinamerika bereits mit der Conquista beginnt, und ein Stadium der „transnacionalización“, das Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzt und aus dem schließlich die zeitgenössische „globalización“ hervorgeht. 5 García Canclini, Globalización imaginada, 14/ 32f. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 179 Erzählprozesse, die unterhalb politischer oder ökonomischer Konjunkturen die lokalen und globalen Imaginarien in Beziehung setzen. Ebendies geschieht bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in der vielgestaltigen Textur und Figur des Periquillo Sarniento, dessen Parcours nach Europa, besonders nach Frankreich führt, um mit der Trouvaille des mexikanischen Romans wiederzukehren. Die ubiquitäre Phantasie, die gleichzeitig an verschiedenen Schauplätzen agiert und die García Canclini als Signum globaler Narrationen ausmacht, bleibt bei Lizardi sicherlich noch impliziter Effekt. Sie schält sich erst aus der Überlagerung verschiedener Raum- und Zeitschichten heraus, die in El Periquillo Sarniento eine teleologisch arrangierte Geschichte mit einer paradigmatisch organisierten Darstellung, eine lineare mit einer unkoordinierten Bewegung verquickt. Hier manifestiert sich jene Gegenstrebigkeit zwischen kultureller Selbstbehauptung und transkultureller Außenwendung, die García Canclini 6 noch auf der Schwelle zum dritten Jahrtausend als Triebfeder einer globalización imaginada in Lateinamerika erkennt und die Fernández de Lizardi zwei Jahrhunderte zuvor in seiner romanesken Fiktion antizipiert. Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass es sich um eine stabile Dialektik handelt, deren Intensität fortan auf unverändertem Niveau stagnieren würde. Trotz struktureller Äquivalenzen, die bis heute fortwirken, dokumentiert schon das weitere 19. Jahrhundert, wie rapide Frequenz, Geschwindigkeit und Qualität der Übertragungsprozesse zwischen Hispanoamerika und Europa zunehmen. Die Loslösung von Spanien und die mühsame Konsolidierung unabhängiger Staaten münden bekanntlich nicht in eine postkoloniale Autarkie, sondern führen vielmehr zur Umlenkung und Verzweigung der bis dato eindimensionalen Richtungsvektoren. Dass dabei je nach politischem, wirtschaftlichem oder kulturellem Augenmerk Großbritannien - sowie allmählich die USA - und Frankreich den Ton des weiterhin asymmetrischen Transfers angeben, gehört ebenfalls zum Handbuchwissen. Im hiesigen Kontext stünde ferner zu erwarten, dass sich die hispanoamerikanische Erzählprosa sukzessive über ihren Platz in der Welt verständigt. Schließlich hält spätestens am Jahrhundertende mit dem Modernismo eine literarische Position Einzug, die sich nachhaltig sowohl zu ihrem Kosmopolitismus und damit zu ihren mannigfaltigen Einflusslinien als auch zum Ziel einer nicht nur ästheti(zisti)schen Selbstbesinnung bekennt. Wie gleichwohl einer der ersten Romanentwürfe modernistischer 6 García Canclini (Globalización imaginada, 34) reformuliert seinen Befund auch hier in literarischen Termini, indem er die ‚epischen Spektakel‘ globaler Homogenisierung mit der ‚melodramatischen Heterogenität‘ interkultureller Widersprüche kontrastiert: „Las escisiones que hoy separan a las ciencias sociales ocurren, en gran medida, entre quienes buscan armar relatos épicos con los logros de la globalización (la economía, cierta parte de la sociología y la comunicación) y los que construyen narraciones melodramáticas con las fisuras, las violencias y los dolores de la interculturalidad (la antropología, el psicoanálisis, la estética).“ 180 Globalisierungsnarrative um 1900 Prägung demonstriert, birgt das Neben- und Ineinander von globaler Ausrichtung und heimischer Einbettung weiterhin beträchtliche Sprengkraft, die sich narrativ fruchtbar machen lässt. III.2 Thesenbildung In De sobremesa (1896/ 1925) erhält die Rede vom transkulturellen Erzählen insofern ihre Buchstäblichkeit zurück, als der Roman des Kolumbianers José Asunción Silva ständig zwischen den beiden Welten pendelt, die der koloniale Sprachgebrauch arrogant in Peripherie und Zentrum geschieden hat. Die simultane Imagination, die bis heute den globalisierten Alltag bestimmt, 7 verankert De sobremesa bereits im Plot und in der fiktiven Biographie des Protagonisten. Macht dies den Roman ansatzweise mit El Periquillo Sarniento vergleichbar, ist darüber hinaus zu vermuten, dass sich die rahmen- und binnenpragmatischen Koordinaten im Lauf von acht Jahrzehnten - zwischen dem untergehenden Vizekönigreich Neuspaniens und Silvas transatlantischen Schauplätzen des Fin de Siècle - merklich verschoben haben. Ob sich der Umgang mit den eingespeisten Diskursen tatsächlich verändert, wird daher ebenso zu verifizieren sein wie die narrativen Antworten, die De sobremesa auf die gewaltigen Medieninnovationen der Zeit und den Verlust glaubwürdiger Identitätsnarrative in Hispanoamerika gibt. Die mehrteilige Arbeitshypothese besagt demnach erstens, dass mit Silva ein Autor begegnet, dessen mehrfach prekäre Lebenssituation ihn allererst zur Abfassung eines Romans befähigt, der den tiefgreifenden - und den Kolumbianer selbst überholenden - Wandel einer Gesellschaft diagnostiziert. Ein kompromissloser Kunstwille ist zweifellos modernistisches Programm, welches als Fernziel die Professionalisierung der literarischen Tätigkeit verfolgt. 8 Im Gegensatz zu Kollegen und Gesinnungsgenossen wie Rubén Darío, Manuel Gutiérrez Nájera, Amado Nervo und anderen, die sich meist mit Journalismus oder Diplomatenposten ein Auskommen sichern, kann sich Silva aber das poetische Spezialistentum des Modernismo gar nicht leisten. Realhistorisch wird das seinen Suizid heraufbeschwören; schriftstellerisch prädestiniert es ihn zu einem neuen, sehr hybriden Modus des Dichtens und Erzählens, dem kein fester Ort im zeitgenössischen Literaturbetrieb seiner Heimat entspricht. Wie die facettenreiche Ly- 7 Vgl. nochmals García Canclini, Globalización imaginada, 33: „La época globalizada es ésta en que, además de relacionarnos efectivamente con muchas sociedades, podemos situar nuestra fantasía en múltiples escenarios a la vez.“ 8 Zur immerhin anvisierten Professionalisierung literarischer Praxis im hispanoamerikanischen Modernismo siehe wegweisend Rama (Darío y el modernismo) und Noé Jitrik (Las contradicciones del modernismo. Productividad poética y situación sociológica, México: Colegio de México 1978), an denen sich bis heute viele Arbeiten orientieren. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 181 rik changiert somit auch De sobremesa fortwährend zwischen den Extremen, eint an sich unvereinbare Semantiken und schlägt von romantischer Nostalgie oder symbolistischer Esoterik mitunter abrupt in distanzierten Sarkasmus um. Die Sinnvolten machen sich nirgends deutlicher bemerkbar als in der transkulturellen Erzählpraxis, die Silva auf sämtlichen Ebenen ausreizt. Von Beginn an als Lektüre- und Tagebuchroman ausgewiesen, versammelt De sobremesa eine überbordende Fülle intertextueller und interauktorialer Bezüge, ohne die weder der Stoff noch die Figuren nachvollziehbar würden. Dass die aufgerufenen Referenzen großteils französischer Herkunft sind, braucht angesichts des geistigen Klimas der Jahrhundertwende, in welchem der Roman entsteht, kaum betont zu werden. Bemerkenswert erscheint indes, dass Silva und sein schreibender Held José Fernández ihre Quellen nicht ausschließlich evozieren und - wie Lizardi in El Periquillo Sarniento - als Beweis kultureller Kennerschaft ausstellen. Indem De sobremesa gerade die importierten Topoi des Ästhetizismus ins Beliebige vervielfacht oder verfremdet, offenbart sich ein Überbietungsgestus, mit dem sich ein in jeder Hinsicht marginaler Romancier zu profilieren sucht. Als kalkulierte Rhetorik allein wären die exzessiven Verweise und Zitationen in De sobremesa allerdings missverstanden. Sie sind ebenso das Resultat einer Persönlichkeitsspaltung, die Silva vermutlich selbst durchlitten hat und die er - nur darauf kommt es an - seiner Figur auf den Leib schneidert: José Fernández verkörpert, wie Gabriel García Márquez zum Roman des Landsmanns anmerkt, 9 das moderne „ser dividido“ schlechthin. Zerrissen zwischen orgiastischer Geselligkeit und todessüchtiger Melancholie, zwischen euphorischer Selbstverausgabung und einem „spleen horrible“ (DS 515) 10 , fällt Fernández einer Dezentrierung zum Opfer, die seiner „sensibilidad exagerada“ (DS 422) nicht minder geschuldet ist als seiner geokulturellen Dislokation. Reizüberflutung und Entwurzelung rühren beide aus der ungeheuren Kraft, mit der sich Kommunikations- und Transporttechniken mittlerweile in das menschliche Dasein drängen. Dass der Überformung durch mediale Extensionen nicht zu entkommen ist, kristallisiert sich in De sobremesa spätestens mit dem Abschluss der Binnenhandlung heraus. Denn seinen krankhaften Sensualismus gedenkt der Protagonist nun 9 Gabriel García Márquez, „En busca del Silva perdido (Prólogo)“, in: José Asunción Silva, De sobremesa, Madrid: Hiperión 1996, 9-29, hier 27. 10 Alle weiteren Belege aus De sobremesa finden sich fortan im laufenden Text in Klammern gesetzt und mit der Sigle DS sowie entsprechender Seitenangabe versehen nach folgender Ausgabe: José Asunción Silva, Poesía - De sobremesa, hg. von Remedios Mataix, Madrid: Cátedra 2006, 293-549, hier 515. Ebenso abgedruckt ist De sobremesa in: José Asunción Silva, Obra completa, edición crítica, hg. von Héctor H. Orjuela, Madrid: ALLCA XX 1990/ 97, 227-351. Verweise auf Silvas Obra completa erscheinen ab hier ebenso im Fließtext mit der Sigle OC versehen. 182 Globalisierungsnarrative um 1900 ausgerechnet mit einer Übersiedelung nach New York zu heilen, wo die weltweiten Daten-, Waren- und Kapitalströme zusammenlaufen. Zerstreuung und Kondensation, maximale Entgrenzung und zwanghafte Verinnerlichung sind nicht zuletzt die beiden Pole, die in der räumlichen und zeitlichen Organisation des Romans aufeinandertreffen. So präsentiert sich fast die gesamte Geschichte in De sobremesa als Reisebericht, der den Dandy auf seinem Weg durch Europa, in die Vereinigten Staaten und zurück nach Lateinamerika begleitet. Ohne je zur Ruhe zu kommen, kennt dieser nur transitorische Aufenthalte, die an ihm vorüberziehen, ohne tiefere Eindrücke zu hinterlassen. Als Alternative bleibt ihm nur der Rückzug in Gegen-Orte, in Heterotopien 11 des Inneren sozusagen, wo Raum und Zeit kategorisch begrenzt und angehalten sind, wo jedoch das gestörte Selbstverhältnis umso schmerzlicher zu Tage tritt. Es ist bekanntes Konstituens des Fin-de-Siècle-Romans, dass er seine Ereignishaftigkeit früher oder später als Effekt eines übermächtigen discours bloßlegt. Nicht anders verhält es sich in De sobremesa, wo die Rezitation eines Tagebuchs von Anfang an eine Atmosphäre der Reflexivität kreiert. Die doppelte Vermittlung erzeugt eine Statik, die José Fernández’ Mobilität in den vorgelesenen Episoden diametral entgegensteht. Was einerseits die Geschehensprogression blockiert, bietet zum anderen optimale Voraussetzungen für die verbale Selbstdarstellung, die der Protagonist in seinem journal intime betreibt. In anhaltender Entzweiung tritt er darin zugleich als Subjekt wie als Objekt, als Analytiker wie als Analysand seiner Empfindungswelt auf und reißt die „fonction de régie“ 12 der Erzählerstimme an sich. Indem er auf der Suche nach einem Zeit-Raum für seine Lebens- Geschichte unentwegt den Atlantik passiert, gibt er sich zudem als literarisches - nicht als biographisches - Sprachrohr seines Schöpfers Silva zu erkennen. Gleich diesem erhebt er den Anspruch, sich europäischer und insbesondere französischer Repräsentationsmuster zu bedienen, sie ebenso zu affirmieren wie zu konterkarieren und sie mitunter deformiert ins eigene Milieu zu versetzen. Auf diese Weise avanciert De sobremesa zu einem widersprüchlichen Globalisierungsnarrativ, dessen transkulturelle Faktur just die lokalen Möglichkeiten und Grenzen eines hispanoamerikanischen Schriftstellers Ende des 19. Jahrhunderts indiziert. 11 Vgl. Michel Foucault, „Des espaces autres“ [1967], in: Ders., Dits et écrits, Bd. 4, 752- 762 sowie die Erläuterungen in Abschnitt III.6.2 dieses Kapitels. 12 So Gérard Genettes Terminus („Discours du récit“, 262) zur Autorität des extradiegetischen Erzählers. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 183 III.3 Leben und Schreiben im Marginalen Mit dem Modernismo betritt die lateinamerikanische Literatur definitiv eine Weltbühne, gelingt es der Bewegung um den nicaraguanischen Diskursgründer Rubén Darío doch, ihre Poetik ins einstige Mutterland Spanien zu exportieren und somit erstmals die überkommene Hierarchie der Kulturströme umzukehren. 13 Die daraus erwachsende Anerkennung blieb jedoch geraume Zeit der Lyrik vorbehalten, wohingegen sich die modernistische (Erzähl-)Prosa den hartnäckigen Vorwurf eines epigonalen Eklektizismus gefallen lassen musste. 14 Stichhaltig belegt dies die Rezeption des Kolumbianers José Asunción Silva, 15 dessen posthume Aufnahme in den nationalen Kanon ausschließlich seinen Gedichten gutgeschrieben wurde. Es wäre vermessen, an dieser Stelle seriös über die vielseitige, editorisch weit verstreute Lyrik Silvas zu befinden. Literaturgeschichtliche Etikettierungen schlagen sie gemeinhin einer an Victor Hugos Pathos und Gustavo Adolfo Bécquers Dichtung der Flüchtigkeit geschulten Spätromantik zu oder extrapolieren ihre Vorreiterrolle für einen symbolistisch geprägten Modernismo. 16 Beides hat wohl seine Berechtigung, stellt man die frühe Bekenntnisdichtung der Intimidades (verfasst 1880-1884, OC 127-215), die satirischen Verse der Gotas amargas (unklare Entstehung, OC 71-95) und das modernistische Libro de versos (verfasst ca. 1891-1896, OC 5-69) zusammen in Rechnung. 13 Vgl. hierzu erhellend Alejandro Mejías-López, The Inverted Conquest: The Myth of Modernity and the Transatlantic Onset of Modernism, Nashville: Vanderbilt UP 2009, 49ff. 14 Gesamtdarstellungen zur modernistischen Erzählprosa finden sich etwa bei José Olivio Jiménez (Hg.), Estudios críticos sobre la prosa modernista hispanoamericana, New York: Torres & Sons 1975; Klaus Meyer-Minnemann, Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, Tübingen: Niemeyer 1979 (span. Version: La novela hispanoamericana de fin de siglo, México: FCE 1991) und Aníbal González, La novela modernista hispanoamericana, Madrid: Gredos 1987. 15 Rezeptionssoziologisch verfolgt die Aufnahme von Silvas Werk Rodrigo Zuleta, El sentido actual de José Asunción Silva. Análisis de la recepción de un clásico de la literatura colombiana, Frankfurt/ Main u.a.: Lang 2000. Einzelne Stationen der Rezeption beleuchten die Beiträge in Juan G. Cobo-Borda (Hg.), José Asunción Silva, bogotano universal, Bogotá: Villegas 1988, 185ff. 16 Die Forschungskontroverse entzündet sich meist an Silvas Bedeutung für den Modernismo, reichen seine Gedichte doch von Schlüsseltexten der Schule - etwa das spektakuläre „Nocturno III (Una noche)“ - bis zu parodistischer Distanzierung; siehe hierzu Bernardo Gicovate, „El modernismo y José Asunción Silva“, in: OC, 393-410; Eduardo Camacho Guizado, „Silva ante el modernismo“, in: OC, 411-421; Fernando Charry Lara, José Asunción Silva, Bogotá: Procultura 1989, 23-60; María Mercedes Carranza, „Silva y el modernismo“, in: José Asunción Silva, Obra poética, Madrid: Hiperión 1996, 13-25. Hugos und Bécquers romantisches Erbe thematisiert explizit u.a. Héctor H. Orjuela, Las luciérnagas fantásticas. Poesía y poética de José Asunción Silva, Bogotá: Kelly 1996, 29-82. Entwicklungslinien in Silvas Lyrik skizziert Eduardo Camacho Guizado, „Poética y poesía de José Asunción Silva“, in: OC, 533-566. 184 Globalisierungsnarrative um 1900 Die Bandbreite der Prosa kann sich ebenfalls sehen lassen. Seit Ende der 1880er Jahre verfasst Silva halbfiktionale Zeitungschroniken, veröffentlicht literaturkritische Artikel und hat bei seinem Tod 1896 bereits einen Band allegorischer Erzählungen unter dem Titel Cuentos negros abgeschlossen. Die Forschung meinte darin und mehr noch im einzigen Roman des längst anerkannten Lyrikers aber gravierende Stil- und Kompositionsunsicherheiten auszumachen, wozu die schwierige Editionslage der Texte ihren Teil beitrug. 17 Letztere leistete überdies einer Legendenbildung Vorschub, 18 die sich im Nachhinein mit allerlei unerhörten Begebenheiten - die schwer nachzuweisende Homosexualität des Dichters oder seine angeblich inzestuöse Beziehung zur Schwester Elvira - anreichern ließ: Denn als er im Januar 1895 von Caracas nach Kolumbien zurückkehrt, verliert Silva einen Großteil seiner bis dahin verfassten Werke. Auf der stürmischen Überfahrt sinkt der französische Dampfer L’Amérique und reißt unter anderem das fertige Manuskript von De sobremesa mit in die Tiefe. Silva, der etliche Zeit daran gearbeitet hat, bemüht sich in der Folge fieberhaft um die Rekonstruktion seines Romans. Als er am 24. Mai 1896 einen bühnenreifen Selbstmord begeht, 19 ist der Text vollständig wiederhergestellt, was nichts daran ändert, dass De sobremesa erst 1925 in Druck geht und nach dem verspäteten Erscheinen oder vielleicht gerade deswegen kritische Stimmen auf den Plan ruft. III.3.1 Sozialisation als Deplatzierung So pflichtet selbst ein beschlagener Interpret wie Gabriel García Márquez dem Verdikt mangelnder Stringenz bei, das seit der Wiederentdeckung des 17 Vgl. hierzu knapp die vom Herausgeber Héctor Orjuela besorgte „Cronología“ (OC, 501-510/ 703f.) zu Silvas großteils posthum erschienenen Werken. Eine zu ihrer Zeit umfangreiche Bibliographie der Primär- und Forschungsliteratur bietet J. Eduardo Jaramillo Zuluaga, „Bibliografía cronológica de José Asunción Silva (1871-1996)“, in: Juan G. Cobo-Borda et al. (Hg.), Leyendo a Silva, Bogotá: Inst. Caro y Cuervo 1994- 1997, Bd. 3, 537-663. 18 Schon 1903 bemerkt der mexikanische Dichter José Juan Tablada („Máscaras: José Asunción Silva“, in: Fernando Charry Lara (Hg.), José Asunción Silva: vida y creación, Bogotá: Procultura 1985, 65-66), dass man es bei Silvas Lebensgeschichte weniger mit einer Biographie als vielmehr mit einer „leyenda“ zu tun habe. Zu Recht nimmt José Jesús Osorio (José Asunción Silva y la ciudad letrada, Lewiston u.a.: Edwin Mellen 2006, 7-45) daher nurmehr divergente ‚Versionen‘ von Silvas Kindheit und Leben an. 19 Etliche voluminöse Biographien befassen sich mit Silvas Suizid; zumindest genannt seien: Héctor H. Orjuela, La búsqueda de lo imposible. Biografía de José Asunción Silva, Bogotá: Kelly 1991; Ricardo Cano Gaviria, José Asunción Silva: una vida en clave de sombra, Caracas: Monte Avila 1992; Fernando Vallejo, Chapolas negras, Santafé de Bogotá: Santillana/ Alfaguara 1995 und Enrique Santos Molano, El corazón del poeta. Los sucesos reveladores de la vida y la verdad inesperada de la muerte de José Asunción Silva, Bogotá: Presidencia de la República / Biblioteca Familiar Colombiana ³1997. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 185 Romans durch den Literaturwissenschaftler Juan Loveluck 20 über De sobremesa verhängt wurde. Silvas hochgradig digressiven Erzählstil bezichtigt der Nobelpreisträger einer gewissen Schwerfälligkeit, die sich thematisch noch dazu mit dem Makel der Unwahrscheinlichkeit paare. 21 Urteile wie diese unterschätzen schlichtweg, welche Bedeutung der Unabschließbarkeit, ja der Inkohärenz in De sobremesa zukommt. Dabei weist Silva eigens darauf hin, dass ein zeitgemäßer Roman in den 1890er Jahren dissoziativ verfahren muss, will er seinem vorrangigen Gegenstand, d.h. dem Seelenleben des modernen Subjekts gerecht werden: „[S]i está bien hecho el análisis de un alma, él debe resultar difuso, incoercible, para ponerse de acuerdo con el objeto estudiado. El alma del hombre, sobre todo la del hombre moderno, es una cosa por todo extremo inconexa.“ 22 Die hier eingeforderte Fragmentierung, die in De sobremesa als strukturbildende Matrix des Erzählens greift, ist allem voran Ausdruck eines Epochenumbruchs, den Silva und seine Figur in verschiedener, doch jeweils krisenhafter Weise erleben. Ohne deshalb einer simplen Widerspiegelungsmechanik aufzuliegen, ist der Roman folglich auch als Symptom zu lesen, unter dessen mehrfacher Verschiebung der ökonomische, soziale und kulturelle Hintergrund eines Autors und seiner Zeit kenntlich wird. Resultiert der Habitus eines Schriftstellers zu gleichen - aber dialektisch interagierenden 23 - Teilen aus den vorhandenen literarischen Optionen sowie seinen biographischen Dispositionen, so gilt in diesem Fall zusätzlich, dass beide Bereiche aufs Engste miteinander verwoben sind. 24 Denn von Kindesbeinen an erfährt José Asunción Salustiano Facundo Silva Gómez Literatur als integralen Bestandteil des Privaten, weshalb man sein Schreiben oftmals 20 Mit dem Aufsatz „De sobremesa: novela desconocida del modernismo“ (in: Revista Iberoamericana 31 (1965), 17-32) legt Loveluck wohl die erste detaillierte Lektüre des Romans vor. Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen Iberoromanistik erhält De sobremesa mit Klaus Meyer-Minnemanns reichhaltigem Beitrag „De sobremesa von José Asunción Silva. Ein lateinamerikanischer Roman des Fin de Siècle“, in: Romanistisches Jahrbuch 24 (1973), 330-358. 21 Vgl. García Márquez, „En busca del Silva perdido“, 25-27. Zur lange währenden Kritik an Silvas Roman sei lediglich verwiesen auf die Forschungsreferate bei Alfredo Villanueva-Collado, „La ficción crítica“, in: Cobo-Borda et al. (Hg.), Leyendo a Silva, Bd. 3, 349-379 und Remedios Mataix, „De sobremesa: De la parodia a la alegoría“, in: DS, 105-164, hier 114ff. 22 José Asunción Silva, „Notas literarias“ [1891], in: Ders., Páginas nuevas: Textos atribuidos a José Asunción Silva, hg. von Enrique Santos Molano, Bogotá: Planeta 1998, 72-104, hier 83. 23 Die Interaktion zwischen den literarästhetischen Positionen in einem gegebenen Feld und den (sozialen, ökonomischen, kulturellen) Dispositionen eines einzelnen Autors erläutert Bourdieu prägnant in Règles de l’art, 435-438. 24 Sämtliche Angaben zu Silvas Lebens- und Werkgeschichte entnehme ich den Biographien von Orjuela (La búsqueda de lo imposible), Cano Gaviria (Una vida en clave de sombra) und Santos Molano (El corazón del poeta) sowie v.a. dem konzisen Abriss zu Silvas Vita von Remedios Mataix, „Introducción“, in: DS, 11-51. 186 Globalisierungsnarrative um 1900 auf einen intrinsischen Nexus von vida y creación 25 festlegen wollte. Geboren am 27. November 1865 als ältestes von sechs Kindern der Ehe zwischen Vicenta Gómez Diago und Ricardo Silva Frade, kommt er bereits in seinem Elternhaus mit dem schriftstellerischen Milieu in Berührung, da sein Vater dem konservativen Dichterzirkel El Mosaico (1858-1872) angehört. Dieser hat sich die Verbreitung einer kostumbristischen Nationalliteratur auf die Fahnen geschrieben und zählt mit José Eugenio Díaz Castro, José María Vergara y Vergara, Rafael Pombo, Jorge Isaacs und anderen Kolumbiens renommierteste Autoren unter seine Sympathisanten, die im Hause Silva ein- und ausgehen und mit denen der kleine José Asunción frühen Umgang hat. Die literarische Initiation ereignet sich überdies in einem Ambiente materiellen Wohlstands, betreibt doch der Vater einen florierenden Luxuswarenhandel, mit dem er es im damaligen Santafé (Bogotá) zu einem stattlichen Vermögen bringt. Überschattet wird die idyllische Kindheit gleichwohl von politischen Unruhen, die im Zuge des Bürgerkriegs - zwischen liberalen gobernistas und conservadores - etwa zur Schließung des reformorientierten Colegio San José von Luis María Cuervo führt, welches Silva bis 1876 besucht. Einen nachhaltigen Einschnitt bedeutet dies aber nicht, weil der exzellente Schüler, der sich für Märchen und Fabeln begeistert und in zartem Alter bereits selbst Gedichte verfasst, im elitären Liceo de la Infancia des Tomás Escobar den Unterricht nahtlos fortsetzen kann. Im illustren Kreis der Großbürger-Sprösslinge zeichnet sich José Asunción durch Belesenheit und Auffassungsgabe aus, gerät jedoch zunehmend in die Position des introvertierten Einzelgängers. Glaubt man den überlieferten Anekdoten, so kursieren in der Schülerschaft Spitznamen wie „José Presunción“, „el Casto José“ oder „la Casta Susana“, die allesamt auf Affektiertheit, Effemination oder homosexuelle Neigungen anspielen. 26 Trotz des ausgeprägten Intellekts, der wohl als einziges Faktum gesichert ist, beendet Silva bereits 1878 seine Schullaufbahn, um im Familienunternehmen tätig zu werden. Kaum dreizehnjährig soll er im Geschäft des Vaters arbeiten, der ihn fünf Jahre später bereits zum vollwertigen Teilhaber macht. Je mehr sich Don Ricardos Gesundheitszustand verschlechtert, desto mehr Verantwortung muss Silva junior übernehmen, um den Absatz der preisintensiven, meist aus Übersee stammenden Ware (feine Stoffe, Teppiche, Klaviere, Geschenkartikel, usw.) zu sichern. Das Bestreben, den „surtido de mercancías francesas“ - so titelt eine Werbeanzeige aus den 1890er Jahren (OC, 724) - 25 So der schlichte, dennoch bezeichnende Titel des Bandes von Fernando Charry Lara (Hg.), José Asunción Silva: vida y creación, Bogotá: Procultura 1985. 26 Differenziert zur Frage nach Silvas angeblicher oder wahrer Homosexualität vgl. Alfredo Villanueva-Collado, „Gender Ideology and Spanish American Critical Practice: José Asunción Silva’s Case“, in: Translation Perspectives 6 (1991), 113-125. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 187 in Bogotás Upperclass vornehmlich an die Frau zu bringen, ist allerdings zum Scheitern verurteilt. Bereits in Jugendjahren emotional angegriffen vom Tod dreier Geschwister und der Enterbung des schwerkranken Vaters, zieht sich Silva immer wieder in die Welt des Geistes zurück. Literarische und philosophische Neuheiten verschlingt er geradezu, um sie sodann mit seinen engsten Vertrauten, der Schwester Elvira und später dem Freund Baldomero Sanín Cano, zu diskutieren. Ab 1880 beginnt er ferner zu übersetzen, wobei er sich besonders französischsprachigen Texten von Victor Hugo, Charles Nodier, Théophile Gautier oder Anatole France zuwendet. Um diese Zeit setzt auch eine kontinuierliche lyrische Produktion ein, die im ersten, zu Lebzeiten unveröffentlichten Band Intimidades (1880- 1884) gipfelt. 27 Immerhin gelingt es Silva, einige Gedichte in Zeitschriften oder Anthologien zu platzieren und sich so einen Namen unter den Exponenten der kolumbianischen Lyrik jener Jahre (Rafael Núñez, Miguel Antonio Caro, Rafael Pombo, etc.) zu machen. Der Klassizismus einheimischer Dichter und die Romantik eines Hugo, Lamartine oder Bécquer mischen sich in seinen Versen mit innovativeren Tönen, wie sie Anfang der 1880er Jahre in Hispanoamerika José Martí oder der Mexikaner Manuel Gutiérrez Nájera vertreten. Silvas Beitrag zum frühen Modernismo, der sich damit ankündigt, erhält den entscheidenden Impuls jedoch erst, als der Neunzehnjährige im Oktober 1884, auch aufgrund akuter Kriegsgefahr, Bogotá verlässt und auf Einladung eines Großonkels nach Europa reist. Primäres Ziel ist selbstverständlich Paris, wo der Dichter, unterbrochen durch Abstecher nach London sowie in die Schweiz, Italien, Belgien und Holland, ca. eineinhalb Jahre verbringt. Weder die Umstände des keineswegs ungetrübten Europa-Aufenthalts 28 noch der naheliegende Kurzschluss mit den in De sobremesa 29 evozierten Schauplätzen bedürfen weiterer Erläuterungen. Weniger noch interessieren Mutmaßungen, welche Größen des Kulturlebens Silva in der französischen Hauptstadt wirklich zu Gesicht bekommt und welche nicht: Paul Bourget, Maurice Barrès, Ernest Renan, James Whistler oder verliebt er sich gar in Mallarmés Tochter Geneviève? Der Kolumbianer begnügt 27 Vollständig erscheinen Silvas Intimidades erst 1977; eine literarhistorische Kontextualisierung der frühen Lyrik unternimmt Juan G. Cobo-Borda, „El primer José Asunción Silva: Intimidades, 1880-1884“, in: OC 513-532. 28 Der vermeintliche Gast- und Geldgeber für das geplante Studium verstirbt noch vor Ankunft seines Neffen, weshalb Silva - ganz anders als seine Romanfigur José Fernández - Paris in eher bescheidenen Verhältnissen kennenlernt. 29 Im Kontext verhandelt Silvas europäische Erfahrungen und mögliche Analogien mit De sobremesa Ricardo Cano Gaviria, „El periplo europeo de José Asunción Silva: marco histórico y proyección cultural y literaria“, in: OC, 443-470. Eine kulturgeschichtliche Lektüre, die den Paris-Aufenthalt des Autors und des Protagonisten abgleicht, unternimmt Pera, Modernistas en París, 119-155 („El escritor hispanoamericano como coleccionista en París: De sobremesa de J. A. Silva“). 188 Globalisierungsnarrative um 1900 sich ohnehin nicht mit der repräsentativen Variante der Bildungsreise, die Lateinamerikaner pflichtgemäß nach Paris führt. 30 Trotz knapper Ressourcen macht er sich mit den jüngsten Tendenzen europäischer Kunst und Wissenschaft vertraut, erkundet die literarischen Moden des Jahrhundertendes vom Naturalismus bis zur Décadence, befasst sich mit Schopenhauers Philosophie und besucht Jean-Martin Charcots öffentliche Vorlesungen in der Salpêtrière. Allein darauf kommt es an, wurzelt doch hier Silvas beeindruckende Aufnahmefähigkeit, die in De sobremesa voll zum Tragen kommt und die Cristóbal Pera als regelrechten „saqueo“ 31 , als ‚Plünderung‘ verschiedenster Wissensbestände qualifiziert. Gemessen an den intellektuellen Entdeckungen in Europa, musste Silva die Rückkehr nach Bogotá - wo die Narben des Bürgerkriegs noch nicht verheilt waren - und damit auch die Rückkehr in den kruden Geschäftsalltag als Ernüchterung erfahren. Er reagiert darauf mit herausfordernder Extravaganz, die sich neben äußerlicher Distinktion in Auftreten, Kleidung und Sprechweise vorrangig in seiner „chifladura del arte“ 32 manifestiert. Unter dem Eindruck eines forcierten Ästhetizismus beginnt er 1887 mit Skizzen für seinen Roman, verfasst weiterhin Gedichte und widmet sich einer essayistischen Prosa, die auch in De sobremesa wiederkehren wird. 33 Finanziell werfen crónicas, Kurzerzählungen und Rezensionen, die in Tageszeitungen oder Fachzeitschriften erscheinen, 34 kaum etwas ab, während sich das symbolische Kapital, das immerhin die Kenner dem exaltierten Talent prognostizieren, ganz auf die unrentable Lyrik beschränkt. Deren zunehmend poetologischer Zug bringt Silva dennoch häufig auf Abstand 30 Der Paris-Reise als Initiationsritus lateinamerikanischer Intellektueller widmen sich Nelle, Atlantische Passagen, 32-53 und weiter gefasst Streckert, Hauptstadt Lateinamerikas, 79ff. Zum Faszinosum der französischen Kapitale im Modernismo vgl. Francisca Noguerol Jiménez, „Atraídos por Lutecia: el mito de París en la narrativa hispanoamericana“, in: Iberoromania 46 (1997), 75-100. 31 Pera, Modernistas en París, 122f. 32 So Silva in einem Brief an die Malerin Rosa Ponce de Portocarrero vom 7. Juni 1892, der sein mitunter snobistisches Kunstverständnis bezeugt (OC, 679-682, hier 681): „Es que usted [scil. la pintora] y yo, más felices que los otros que pusieron sus esperanzas en el ferrocarril inconcluso, en el ministro incapaz, en la sementera malograda o en el papel moneda que pierde su valor, en todo eso que interesa a los espíritus prácticos, tenemos la llave de oro con que se abre la puerta de un mundo que muchos no sospechan y que desprecian otros; de un mundo donde no hay desilusiones ni existe el tiempo; [...] es que usted y yo tenemos la chifladura del arte, como dicen los profanos, y con esa chifladura moriremos.“ Eine literarische ‚Verrücktheit‘ leistet sich Silva, als er etwa gegen jede Chronologie behauptet, dass ihm Flaubert persönlich in Paris ein Exemplar von Baudelaires Fleurs du Mal geschenkt habe. 33 Vgl. Gilberto Gómez Ocampo, „El discurso ensayístico en De sobremesa e Ibis“ [1990], in: Cobo-Borda et al. (Hg.), Leyendo a Silva, Bd. 3, 333-348. 34 Silvas Kurzprosa findet sich auszugsweise in OC, 353-390, ergänzt durch: Silva, Páginas nuevas. Ebenfalls in gesammelter Ausgabe liegt vor: José Asunción Silva, Cuentos negros, hg. von Enrique Santos Molano, Bogotá: Seix Barral 1996. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 189 zum mehrheitlich romantischen Programm einflussreicher Anthologisten und Kritiker. Zum literarischen Unverständnis, das er vielerorts erntet, gesellt sich die missliche Lage des Familienbetriebs, die sich infolge der landesweiten Inflation dramatisch zuspitzt. Als 1887 Silvas Vater stirbt, steht das Geschäft erstmals vor der Insolvenz, die José Asunción um jeden Preis abzuwenden sucht. Ohne Geschäftssinn erneuert er die Warenbestände, importiert überteuerte Luxusgüter aus den internationalen Modezentren und rührt die Werbetrommel. Im Ganzen sind die Schulden aber nicht mehr zu tilgen und nach diversen Rationalisierungsmaßnahmen ist der Konkurs unausweichlich. 35 Um die Gläubiger ruhig zu stellen, muss Silva, der zusätzlich den Tod der innig zugetanen Schwester Elvira (1891) zu verkraften hat, einen Großteil des Privatbesitzes veräußern. Als Flucht aus psychischer und ökonomischer Depression bietet sich ihm 1894 eine Anstellung als Sekretär in der kolumbianischen Botschaft zu Caracas an. Zumindest anfangs scheint sich seine Situation zu bessern, da er in Venezuela sowohl seinen Lebensunterhalt bestreiten kann als auch für seine Gedichte gefeiert wird und in Zeitschriften wie El Cojo Ilustrado ein Forum für sein Schaffen findet. Der literarischen Fruchtbarkeit der Periode zum Trotz überwirft Silva sich nach kurzer Zeit mit seinem Vorgesetzten und verlässt Caracas zu Jahresbeginn 1895. Die verhängnisvolle Heimreise am 27. Januar, der Schiffbruch vor der Küste Barranquillas und der Verlust fast all seiner Manuskripte - darunter die erste Version von De sobremesa - kamen bereits zur Sprache. Unerwähnt blieb indes, dass Silva, zurück in Bogotá, nicht sofort resigniert, sondern mit der Wiederherstellung seiner Texte und dem Aufbau einer Fliesenfabrik zwei ehrgeizige Vorhaben in Angriff nimmt. Als letzteres Projekt fehlschlägt und der Dichter unerwartet zwischen die politischen Fronten gerät, 36 reift vermutlich der Entschluss zum Selbstmord. Jedenfalls zieht Silva sich in den letzten Lebensmonaten völlig aus der Öffentlichkeit zurück und stellt selbst seine langjährige Mitarbeit in der Tageszeitung El Telegrama ein. Am Morgen des 24. Mai 1896 findet man den 31-Jährigen mit einer Kugel in der Brust, wobei das imposante Setting des Suizids seit jeher die Spekulationen befeuerte. 37 35 Zu Silvas Bankrott vgl. Vallejo, Chapolas negras, bes. 105ff. und Santos Molano, El corazón del poeta, bes. 1031ff. Es ist eine Ironie der kolumbianischen Wirtschaftsgeschichte, dass mit Silva ausgerechnet ein notorischer Schuldner seit 1995 auf dem 5000-Pesos- Schein abgedruckt ist und Währungsstabilität garantieren soll. 36 Der liberale Partido Radical, dem im Grunde Silvas Sympathie gehört, wirft ihm vor, sich für besagte Diplomatenstelle der nationalkonservativen Regeneración unter den Dichter-Präsidenten Rafael Núñez und Miguel Antonio Caro angedient zu haben, die sich ihrerseits über Silvas - ohnehin ambivalentes - Lobgedicht auf Bolívar empören. 37 Silva erschießt sich angeblich nachts mit einem alten Smith&Wesson-Revolver, wobei sich neben ihm auf dem Nachttisch ein Exemplar von Gabriele D’Annunzios Roman 190 Globalisierungsnarrative um 1900 An dieser Stelle zählt hingegen allein die (literatur-)soziologische Abstraktion der Schriftstellervita, d.h. die Frage, inwiefern sich in De sobremesa eventuell biographische Prägungen narrativ objektivieren. 38 Silva - das dürfte einsichtig geworden sein - sieht sich mehrfach deplatziert in einer Gesellschaft, deren bürgerlicher Elite er entstammt, die er dann mit seinem rigorosen Individualismus provoziert und der er bis zuletzt in materieller Hinsicht doch angehören möchte. Oder mit José Jesús Osorios Worten reformuliert: „Silva tenía una mentalidad burguesa [...]. El poeta lucha toda su edad adulta por mantenerse él, y a su familia, en una clase social excluyente. Al mismo tiempo, se ve a sí mismo como un artista que discrepa de muchos de los principios de su propio entorno social.“ 39 Als verarmter Unternehmer stigmatisiert, ist Silva gleichsam dazu verdammt, eine exzentrische Position einzunehmen und Bogotás kreolische Oberschicht von außen zu durchleuchten. Weder Bankrott noch sozialer Abstieg vermögen indes das kulturelle Kapital aufzuzehren, das Silva von Geburt an erwirbt, in einer hochwertigen Schulbildung sowie in akribischem Eigenstudium ausbaut und in Paris schließlich auf den neuesten Stand bringt. Nur wenn man diese, scheinbar selbstverständliche Komponente mit bedenkt, erklärt sich die chiastische Verschränkung, der gerade die Prosatexte des Kolumbianers fiktionalen Ausdruck verleihen: Seine lebensweltliche Deklassierung kontert Silva mit erstaunlichem künstlerischem Selbstbewusstsein, welches auf einem Kenntnisreichtum gründet, den der Autor und seine Figuren immer auch als Überlastung erfahren, als „cultivo intelectual emprendido sin método y con las locas pretensiones al universalismo“ (DS 431), wie es in De sobremesa heißt. Trionfo della morte (1894) befunden haben soll. Wahres und Anekdotisches zu Silvas Suizid, in dem manche Spekulation gar eine gewaltsame Ermordung vermutet, erläutern die benannten Biographien, v.a. Santos Molano, El corazón del poeta, 1201-1263. Siehe ferner den zeitgenössischen Artikel von Laureano García Ortiz, „¿Quid est veritas? (La muerte de José Asunción Silva)“ [1896], in: Cobo-Borda et al. (Hg.), Leyendo a Silva, Bd. 1, 1-6 und die Erinnerungen von Álvaro Holguín y Caro, „La muerte de José Asunción Silva“ [1936], in: ebd., Bd. 3, 75-92. 38 Besonders Rafael Gutiérrez Girardot („José Fernández de Andrade: un artista colombiano finisecular frente a la sociedad burguesa“, in: OC, 623-635 und „De sobremesa: El arte en la sociedad burguesa moderna“, in: Charry Lara (Hg.), José Asunción Silva: vida y creación, 445-455) hat sich um eine sozioanalytische Lektüre von De sobremesa bemüht, die den Roman als Provokation bürgerlicher Mediokrität und als Einspruch gegen die moderne Technokratie deutet. Eine so gelagerte Lesart vertieft u.a. Rocío Oviedo Pérez de Tudela, „Una paradoja en la corte europea: José Fernández“, in: Cuadernos Hispanoamericanos 560 (1997), 79-87. 39 Osorio, Silva y la ciudad letrada, 142. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 191 III.3.2 Der proteische Romancier Ebendieser maßlose Universalismus zeichnet für Silvas literarästhetische Marginalität oder, besser noch, für seine ‚Insularität‘ 40 verantwortlich. Ob dies für die Lyrik im Ganzen zutrifft, sei dahingestellt, da die bekanntesten Gedichte stets Tradition und Experiment, Eingängigkeit und prosodische Finesse, Romantik und Symbolismus verknüpfen. Anders Silvas einziger Roman, der zwar keine unmittelbare Wirkung in den sich konstituierenden Feldern der kolumbianischen und hispanoamerikanischen Literatur erzielen konnte, 41 der jedoch zu einer Zeit entsteht (1887-96), als die modernistische Erzählprosa noch in ihren Anfängen steckt. Wie Klaus Meyer-Minnemann in einer wegweisenden Studie anmerkt, stellt De sobremesa wohl den chronologisch ersten, konsequent am europäischen Fin de Siècle geschulten Roman des Kontinents dar. 42 Silvas Pionierleistung blieb lange unbemerkt oder geleugnet, was umso mehr ihre Distanz gegenüber dem gültigen Kanon betont. Im Möglichkeitsspektrum, das die Literaturen Kolumbiens und Hispanoamerikas um 1890 eröffnen, hat der Streifzug durch die Ideenformationen der Jahrhundertwende, den De sobremesa unternimmt, weder direkte Vorläufer noch kann er auf eine adäquate Erwartungshaltung hoffen. Der Roman untergräbt das Objektivitätsgebot der naturalistischen Milieustudie ebenso wie die Nationalallegorik der Gründungsfiktionen, 43 deren romantische Liebeshändel mehr und mehr zum Anachronismus gerinnen. Gegen Geschichtslastigkeit und gegen einen bornierten Patriotismus setzt Silva seinen allseits zerklüf- 40 So Rosa Arciniega, „Insularidad de José Asunción Silva “ [1958], in: Cobo-Borda et al. (Hg.), Leyendo a Silva, Bd. 2, 111-115. 41 Zur Herausbildung literarischer Felder im hispanoamerikanischen Modernismo urteilt konzise Ottmar Ette, „Tres fines de siglo. (Teil II): Der Modernismo und die Heterogenität von Moderne und Postmoderne“, in: Iberoromania 50 (1999), 122-151, hier 144: „Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hingegen verändern sich die Rahmenbedingungen der Intellektuellen in Lateinamerika sehr stark, insoweit im Zuge einer defizienten, sozial und regional ungleichmäßig verteilten Modernisierung und einer einsetzenden Alphabetisierung breiterer Bevölkerungskreise neue Segmente einer Leserschaft erschlossen werden können. Der dadurch in Lateinamerika entstehende Markt für eine Literatur, die nicht mehr ausschließlich importiert, sondern in immer stärkerem Maße in Amerika produziert wird, eröffnet infolge drastisch modernisierter Kommunikationssysteme […] die Möglichkeiten, überregional bzw. kontinental wahrgenommen werden zu können.“ Zu den Spezifika kultureller Produktionsfelder Ende des 19. Jahrhunderts in Hispanoamerika vgl. ferner den Band von Josefina Ludmer (Hg.), Las culturas de fin de siglo en América Latina, Rosario: Viterbo 1994. Den kolumbianischen Literaturbetrieb der Zeit rekonstruiert im größeren Kontext Eduardo Camacho Guizado, „La literatura colombiana entre 1820 y 1900“, in: Jaime Jaramillo Uribe et al. (Hg.), Manual de Historia de Colombia, Bd. 2: Siglo XIX, Bogotá: Procultura/ Inst. Colombiano de Cultura ²1982, 613-693. Für Silvas spezifischen Fall siehe Osorio, Silva y la ciudad letrada, 157-201. 42 Vgl. Meyer-Minnemann, Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, 44. 43 Das Lemma referiert neuerlich auf Doris Sommers Studie Foundational Fictions. 192 Globalisierungsnarrative um 1900 teten Text, der sich in erster Linie als aventura de un relato 44 und, so wäre zu ergänzen, als aventura de una lectura versteht. Der Roman taugt denn auch nicht als kompensatorische Phantasie, die eine enttäuschende Lebenswirklichkeit suspendiert und ein Reich reiner Kunst entwirft. 45 Weder realisiert er all das, was dem empirischen Verfasser verwehrt blieb, noch präfiguriert Silva sein privates Scheitern im Protagonisten José Fernández. 46 Die Schnittmenge zwischen Autor und Figur ist in De sobremesa keine individualbiographische, sie findet sich vielmehr im reflexiven Gestus, welcher sich aus dem Roman herausschält: In Realität und Fiktion, hier wie dort geht es um den Status des Schriftstellers, 47 der sich unter dem Diktat funktionaler Differenzierung 48 nicht mehr auf die überkommenen Rollen des Visionärs oder Volkserziehers berufen kann. Er muss sich einen partikulären Aktionsradius erschreiben; einen Aktionsradius, in dem entweder die Mechanismen des Marktes schonungslos greifen oder einzig und allein der selbstgenügsame Kult des Schönen regiert. 49 Sicheren Erfolg verheißt keine der beiden Alternativen, da sie in eine Phase des Wandels fallen, die das gesellschaftliche Gefüge mitsamt ihren Produktions- und Konsumptionsweisen radikal verändert. Wie schmerzhaft die Umwälzungen sein können, weiß Silva nur zu gut. Zerrissen zwischen modernem Warenfetischismus 50 und Elfenbeinturm, verzweifelt er als Mensch 44 Die Differenzierung zwischen traditionellem „récit d’une aventure“ und experimenteller „aventure d’un récit“ prägt im Kontext des nouveau roman Jean Ricardou, „Esquisse d’une théorie des générateurs“, in: Michel Mansuy (Hg.), Positions et oppositions sur le roman contemporain, Paris: Klincksieck 1971, 143-162, hier 143f. 45 Die vielfach aufgegriffene Hypothese einer „novela de la evasión y de la compensación“ formuliert als einer der ersten Rafael Maya, Los orígenes del modernismo en Colombia, Bogotá: Biblioteca de Autores Contemporáneos 1961, 85. 46 So hat man De sobremesa oft als verkappte Widerspiegelung der Autorenvita verstanden; siehe u.a. Héctor H. Orjuela, „De sobremesa“ y otros estudios sobre José Asunción Silva, Bogotá: Instituto Caro y Cuervo 1976, 11-47. Eine reflektierte Lektüre auf biographischer Basis bietet dagegen Ricardo Cano Gaviria, „Mímesis y ‚pacto biográfico‘ en algunas prosas de Silva y en De sobremesa“, in: OC, 596-622. 47 Vgl. hierzu Aníbal González, „Retratos y autorretratos: el marco de acción del intelectual en De sobremesa“ [1987], in: Cobo-Borda et al. (Hg.), Leyendo a Silva, Bd. 2, 269- 306, hier 275. Im Abgleich mit Silvas Biographie verhandelt Héctor H. Orjuela („José Asunción Silva: Conflicto y transgresión de un intelectual modernista“, in: OC, 422- 442) die schwierige Selbstbehauptung des modernistischen Intellektuellen. 48 Zur Ablösung stratifikatorischer Hierarchien durch eine funktionale Differenzierung der Gesellschaft siehe Niklas Luhmanns bekannte Thesen; konzise etwa in „Differentiation of Society“, in: The Canadian Journal of Sociology 2/ 1, 29-53. 49 Als Resultat sozialer Selektionsprozesse deuten die Autonomieästhetik des Modernismo die Pionierstudien von Rama (Darío y el modernismo, 35-79) und Jitrik (Contradicciones del modernismo, 81ff.), an die ihrerseits Gesamtdarstellungen wie jene von Rafael Gutiérrez Girardot (Modernismo, Barcelona: Montesinos 1983) anschließen. 50 Den „Fetischcharakter der Ware“ in den modernen Industriegesellschaften theoretisiert wegweisend Karl Marx, Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band [1867], in: Ders. / Friedrich Engels, Werke, Berlin: Dietz 1962, Bd. 23, 85-98. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 193 und ist als Romancier trotzdem imstande, jene Umwälzungen in einen Text zu bannen, dessen Heterogenität nicht literarische Schwäche, sondern Zeitgeist ist. Statt aber Mimesis an der bewegten kolumbianischen Geschichte des Jahrhundertendes zu betreiben, verschiebt und verdichtet De sobremesa diese vollends in die bzw. in der Innenwelt des Protagonisten. Gleich ob als kühler Kritiker oder enthusiastischer Dichter, gleich ob als skrupelloser Verführer, medizinischer Kasus oder großspuriger Finanzmagnat, José Fernández absorbiert in einer Figur die soziokulturellen Transformationen seiner - und Silvas - Gegenwart. Die ‚proteische‘ (DS 431) 51 Subjektivität, derer er sich rühmt, verbietet jede zweistellige Identifikation, und sei es mit dem Autor selbst. Fernández ist schlichtweg nicht das romaneske Alter Ego, der begüterte, doch genauso überspannte und zuweilen schwermütige Doppelgänger des glücklosen marchand de luxe und Schriftstellers Silva. Autor und Held verbindet dagegen eine „produktiv-schöpferische“ 52 Interaktion, wie Michail M. Bachtin sie als sich durchdringenden Dialog zweier Bewusstseinssphären definiert und wie De sobremesa sie in einem Reigen der Persönlichkeitsspaltungen aktualisiert. Indem José Fernández sich der Fixierung auf einen ideologischen und ethischen Standpunkt, auf eine kognitive und affektive Struktur immer schon entzieht, emanzipiert er sich sogar von seinem Erfinder. Denn in ununterbrochenen Metamorphosen verkörpert er all jene Konflikte, die Silva zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten und in verschiedenen Beziehungen zusetzen und letztlich aufreiben werden. Das Verhältnis zwischen ihm und seinem Protagonisten stellt sich mithin als eine Form weit ausgelegter „autofiction“ 53 dar, in der sich autobiographische und figurale, faktuale und fiktionale, referen- 51 Die Selbstcharakterisierung als „proteica y múltiple, ubicua y cambiante“ (DS 431) stammt vom Protagonisten José Fernández selbst. 52 Vgl. Michail M. Bachtin, Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit [1941], hg. und übers. von Rainer G. Grübel et al., Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2008, 59-76, hier 62: „Nicht nur die Helden lösen sich von dem Prozess, aus dem sie hervorgegangen sind, und beginnen in der Welt ein Eigenleben zu führen, sondern [in] gleichem Maße auch ihr tatsächlicher Autor-Schöpfer. Auch in dieser Hinsicht muss der produktivschöpferische Charakter des Autors und seiner totalen Reaktion auf den Helden hervorgehoben werden […].“ 53 Der Begriff der autofiction, den Serge Doubrovsky zu Beginn seines ‚Romans‘ Fils (Paris: Galilée 1977, 10) einführt, ist inzwischen breit theoretisiert und in verschiedenen Bedeutungen angewandt. Die Namensidentität zwischen Autor und Figur hat sich dabei nicht als zwingendes Formkriterium durchgesetzt, weshalb De sobremesa durchaus als autofiktionale Bilanzierung einer prekären Schriftstellerkarriere lesbar wäre. Zur Begriffsbildung vgl. stellvertretend Gérard Genette, Fiction et diction, Paris: Seuil 1991, 85-88 und Philippe Gasparini, Autofiction. Une aventure du langage, Paris: Seuil 2008. Eine konzise Aufarbeitung und Kritik des Konzepts bietet Frank Zipfel, „Autofiktion: Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität“, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Grenzen der Literatur: Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin: De Gruyter 2009, 285-314. 194 Globalisierungsnarrative um 1900 tielle und imaginative Momente überlagern und gegenseitig relativieren. Und just in diesen Fluktuationen artikuliert sich der Versuch des kolumbianischen Romanciers, sich immerhin Passagen durch eine mittlerweile per se transkulturelle Lebens- und Literaturwelt zu bahnen. III.4 Üppiger Nachtisch: Transkulturelle Einverleibungen 54 Transkulturation, daran lässt De sobremesa keinen Zweifel, hat sich Ende des 19. Jahrhunderts von einer verfügbaren Option zum zwingenden Bestandteil der literarischen Praxis gewandelt. Doch während ehedem - zu Lizardis Zeiten - allein schon die Zurschaustellung exklusiver Diskursimporte den Ruf eines Reformers garantierte, stellt sich jetzt die Herausforderung, das Überangebot möglicher Bezugnahmen zu bewältigen und aktiv zu gestalten, statt sich mit der passiven Kopie europäischer, allen voran französischer Moden zu begnügen. Es ist diese Gratwanderung, die Silvas Roman im Rahmen des globalen Wissensaustauschs vollzieht und die ihm trotz aller Neigung zur Verinnerlichung historische Indexikalität verleiht. Dabei folgt er zunächst dem gängigen Procedere postnaturalistischen Erzählens, das den Ereignisgehalt minimiert und das äußere Handlungskontinuum in deskriptive, argumentative oder sinnierende Einzelbeobachtungen auflöst. Sujet und Schauplatz vereinen sich somit in der komplexen Empfindungswelt des Individuums, um die das zunehmend paradigmatische Narrativ kreist. 55 Entsprechend übersichtlich fällt die (Binnen-)Geschichte aus, die der dreißigjährige Protagonist José Fernández de Andrade eines Abends vier Freunden aus seinem Tagebuch vorliest. Die Notate setzen ein, als der schwerreiche Lateinamerikaner und einst gefeierte Dichter die Kontrolle über seine ausschweifende Existenz zu verlieren droht. Im Drogenrausch trachtet er einer Kokotte nach dem Leben, woraufhin er aus Paris in die Schweizer Alpen flieht, um sich von seiner anhaltenden Überreizung zu kurieren. Eine mehr als trügerische Hoffnung, verübt Fernández im Naturidyll doch alsbald einen zweiten Mordanschlag auf eine Schauspielerin. 54 Die Kapitel III.4, III.5.2 und III.6.3 der folgenden Lektüre stützen sich wesentlich auf folgenden Beitrag des Verfassers: Kurt Hahn, „Zwischen dekadenter Ohnmacht und narrativer Selbstermächtigung: Zur transkulturellen Imagination in J.A. Silvas Roman De sobremesa“, in: Ders. / Matthias Hausmann / Christian Wehr (Hg.), ErzählMacht: Narrative Politiken des Imaginären, Würzburg: Königshausen&Neumann 2013, 59-83. 55 Zur forcierten Paradigmatik des Fin-de-Siècle-Romans vgl. Friedrich Wolfzettel, „Der ‚deambulatorische‘ Roman. Überlegungen zu einer spezifischen Modernität des Romans im Fin de Siècle“, in: Rainer Warning / Winfried Wehle (Hg.), Fin de Siècle, München u.a.: Fink 2002, 429-488. Einen Überblick zu Verfahren und Funktionen romanesker Selbstbespiegelung in der Décadence gibt Anne Amend-Söchting, Ichkulte: Formen gebündelter Subjektivität im französischen Fin-de-Siècle-Roman, Heidelberg: Winter 2001, 46ff./ 114ff. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 195 Hinzu kommt eine einschneidende Begegnung, die seine zügellose Genusssucht ins Gegenteil asketischer Enthaltsamkeit und quasi-religiöser Anbetung verkehrt. In einem Genfer Hotel gewahrt er die jugendliche Helena de Scilly Dancourt, deren flüchtiger Blick ausreicht, um Fernández nachgerade mystisch in den Bann zu ziehen (DS 390-394). Obgleich dieser das fünfzehnjährige Mädchen nur in derselben Nacht nochmals zu Gesicht bekommt und nie ein Wort mit ihr wechseln wird, avanciert Helena künftig zu seiner geistigen Führerin, die ihn vom ennui schnelllebiger Befriedigungen und Laster befreien soll (DS 436): „¡Ven, surge, aparécete, sálvame, ven a librarme de la locura que avanza en mi cielo […]! “ Statt ihn zu heilen, mündet derlei Idealisierung allerdings in eine pathologische Obsession. Während der fieberhaften Suche nach der mutmaßlichen Retterin verschlechtert sich José Fernández’ Zustand rapide. Trotz psychiatrischer Behandlungen bricht er zweimal zusammen, vegetiert tagelang bewusstlos vor sich hin und überlebt nur dank seiner zähen lateinamerikanischen Konstitution. Der Entschluss, Europa in Richtung Nordamerika zu verlassen, konkretisiert sich schließlich, als er auf einem Pariser Friedhof Helenas Grab entdeckt und in seinem Begehrensobjekt endgültig eine surreale Chimäre erkennt (DS 548): ¿Muerta tú, Helena? No, tú no puedes morir. Tal vez no hayas existido nunca y seas sólo un sueño luminoso de mi espíritu; pero eres un sueño más real que eso que los hombres llaman la Realidad. Lo que ellos llaman así es sólo una máscara oscura tras de la cual se asoman y miran los ojos de sombra del misterio, y tú eres el Misterio mismo. III.4.1 Dekadenter Vitalismus: Der multiple Held Derart paraphrasiert, gleicht der Plot von De sobremesa einem Kondensat einschlägiger Décadence-Romane, sei es von Gabriele D’Annunzio oder von französischen Autoren wie Maurice Barrès, Paul Bourget oder Joris- Karl Huysmans, deren Werke Silva spätestens seit seinem Paris-Aufenthalt kennt. 56 Pointiertheit und Prägnanz - oder „Selektivität“, wie es in Manfred 56 Verortungen des Romans im Kontext europäischer und lateinamerikanischer Dekadenzliteratur bieten Ferdinand V. Contino, „Preciosismo y decadentismo en De sobremesa de José Asunción Silva“, in: Jiménez (Hg.), Estudios críticos sobre la prosa modernista, 135-155; Lisa E. Davis, „Modernismo y decadentismo en la novela De sobremesa de José Asunción Silva“ [1976], in: Cobo-Borda et al. (Hg.), Leyendo a Silva, Bd. 2, 209- 230; Bernardo Gicovate, „José Asunción Silva y la decadencia europea“, in: Charry Lara (Hg.), José Asunción Silva, vida y creación, 107-123; Klaus Meyer-Minnemann „Silva y la novela al final del siglo XIX“, in: María Mercedes Jaramillo et al. (Hg.), Literatura y cultura: Narrativa colombiana del siglo XX, Bd. 1: La nación moderna: Identidad, Bogotá: Ministerio de Cultura 2000, 89-111 sowie Carolina Sancholuz, „Lecturas del Decadentismo en De sobremesa de José Asunción Silva“, in: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes 2011, URL: http: / / www.cervantesvirtual.com/ nd/ ark: / 59851/ bmc7h248 (abgerufen am 20.5.2017). 196 Globalisierungsnarrative um 1900 Pfisters Merkmalskatalog heißt 57 - der intertextuellen Verstrebungen signalisieren insbesondere die Nähe zu Huysmans‘ 1884 erschienenem Kultbuch À rebours, mit dem De sobremesa weit mehr als die suggestive Präpositionalkonstruktion des Titels teilt. 58 Wann genau Silva À rebours liest, wie er in den Besitz eines Exemplars kommt und auf welchem Weg dieses aus seiner Bibliothek verschwindet, braucht angesichts umfänglicher Forschung dazu nicht neuerdings erörtert zu werden. 59 Einzig von Belang ist, dass der Kolumbianer Huysmans‘ Roman, den er in seiner Ausgabe mit zahlreichen Anmerkungen versieht, einer ebenso minutiösen wie kreativen Revision unterzieht. Die Ambivalenzen, die De sobremesa im Zwiegespräch mit dem französischen Hypotext hervortreibt, beweisen einlässlich, was narrative Transkulturation beinahe ein Jahrhundert nach dem Pilotprojekt des Periquillo Sarniento bedeuten kann und vermutlich bedeuten muss: Um literarisch Aufsehen zu erregen und in die Reihen der Avantgarde aufzusteigen, gilt es nun in die Offensive zu gehen und die reichlich eingebrachten Text- und Systemreferenzen zu kommentieren, zu problematisieren und unter Umständen gar zu deformieren. Die gezielte Distanznahme, die daraus in De sobremesa resultiert, schlägt sich in der Figurenkonzeption unmittelbar nieder. Denn lediglich in einem ersten Zugriff scheint Silvas Protagonist als schlichte Blaupause von Huysmans‘ legendärem Jean Floressas des Esseintes angelegt. Einige Skizzenstriche dürften genügen, um die augenfälligsten Parallelen aufzurufen, die José Fernández mit seinem ungleich bekannteren Vorgänger gemein hat: 60 Wie dieser entstammt er, zumindest väterlicherseits, 61 einem ab- und aus- 57 Vgl. Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, 28. 58 Huysmans‘ Vorliebe für (lokal-)adverbiale Titel belegen auch seine Romane En ménage (1881), En rade (1887), Là-bas (1891) oder En route (1895), von denen Silva teils ebenfalls Kenntnis gehabt haben dürfte. 59 Entgegen früherer Annahmen (u.a. bei Orjuela, „De sobremesa“ y otros estudios, 51) hat Silva wohl erst einige Zeit nach seiner Rückkehr aus Europa 1886 eine Ausgabe von À rebours erworben, gelesen und reichhaltig annotiert. Das zeigt Alfredo Villanueva- Collado, dessen Aufsatz „José Asunción Silva y Joris-Karl Huysmans: Estudio de una lectura“ (in: Revista Iberoamericana 55/ 146-147 (1989), 273-286, hier 282) zudem ein Forschungsreferat enthält, das gängigerweise benannte Parallelen zwischen De sobremesa und À rebours hinterfragt. 60 Die Figurenanalogien resümiert und kommentiert präzise Meyer-Minnemann (Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, 53-63), dem das oben Folgende wichtige Anregungen verdankt. 61 Hier manifestiert sich gleichwohl ein erster Unterschied gegenüber Des Esseintes, dessen Familiengeschichte sich zur Gänze als inzestuöse Verfallsgeschichte liest: „La décadence de cette ancienne maison avait, sans nul doute, suivi régulièrement son cours […]; les des Esseintes marièrent, pendant deux siècles, leurs enfants entre eux, usant leur reste de vigueur dans les unions consanguines.“ (Joris-Karl Huysmans, À rebours [1884], hg. von Marc Fumaroli, Paris: Gallimard/ Folio 1977, 78). In José Fernández’ Fall hingegen ergänzt die väterlich-spanische Linie der Fernández, „intelectuales de débiles músculos, delicados nervios y empobrecida sangre“ (DS 429), die Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 197 sterbenden Adelsgeschlecht, wie dieser braucht er keiner geregelten Arbeit nachzugehen und verbringt seine Zeit damit, ein Höchstmaß an Kultiviertheit zu erlangen. Fernández’ ausgeprägter Snobismus gemahnt daher ebenso an Des Esseintes wie die Verachtung eines bürgerlichen Utilitarismus, dem beide ihre exzessive Eleganz entgegensetzen. Eingedenk der geteilten Abscheu gegen alles Mediokre verstehen sich auch die Analogien in einem Kunstgeschmack, der sämtlichen Naturalismen das Artifizielle vorzieht: So entspricht Des Esseintes’ bibliophiler Kult für Baudelaires und Mallarmés Prosagedichte ohne Weiteres der symbolistischen Poetik der „sugestión“ (DS 314), die José Fernández als Leser wie als Dichter schätzt; und selbst die Moreau- und Redon-Präferenz des jesuitisch erzogenen Duc verträgt sich bestens mit der Begeisterung, die der Lateinamerikaner für die Malerei der englischen Präraffaeliten hegt. Dazu gesellt sich eine Lust an der Perversion, die Huysmans und Silva ihren Charakteren genauso ins Stammbuch geschrieben haben wie den Hang zu pseudo-metaphysischer Sublimierung - gleich ob diese an die romantische Liebesreligion (Fernández) anknüpft oder sich als häretischer Katholizismus (Des Esseintes) äußert. In der Summe ergibt das jene Aufwertung des Abnormen 62 und Kranken, die über die eigens intendierte Selbstbetrachtung hinaus Des Esseintes und José Fernández unweigerlich zu klinischen Fällen macht . Die Schnittstellen weisen De sobremesa einerseits als bewusste réécriture des französischen Epochenwerks aus; andererseits greift der Befund doch zu kurz, da Fernández eine Sprunghaftigkeit an den Tag legt, die weder Des Esseintes noch andere seiner dünnhäutigen Verwandten aus Europa kennen. Das „Dekadenzsyndrom“ 63 des Lateinamerikaners taugt allenfalls als Teildiagnose und wird auf der Gegenseite von einer Lebenslust ergänzt, die praller nicht sein könnte. Wo sich der Misanthrop aus À rebours in einen „silencieux repos“ zurückzieht und auf seinem Anwesen in Fontenay-aux- Roses die für die Kontemplation nötige „définitive quiétude“ 64 herstellt, ist die Weltflucht bei Silvas Adelsspross stets nur eine vorübergehende Episode. Unversehens kann sie in emphatische Affirmation intellektueller und sensueller Erfahrungsqualitäten umschlagen, deren Maßlosigkeit der einzige Maßstab dieser Ästhetik der Existenz 65 ist. Die Beschränkung auf eine einzelne Tätigkeit oder Spezialität, und sei es die subtile Praxis der Dich- mütterlich-amerikanische Seite der Andrades, potente „llaneros“ mit „deseos intensos, el amor por la acción, el violento vigor físico“ (DS 427). Auf die Gemütsschwankungen, die aus dem doppelten Erbgut rühren, wird zurückzukommen sein. 62 „[L]o anormal me fascina como una prueba de rebeldía del hombre contra el instinto“ (DS 361) - so artikuliert Fernández programmatisch das Faszinosum der Perversion. 63 Zum Begriff des „dekadenten Syndroms“ vgl. Erwin Koppen, Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle, Berlin: De Gruyter 1973, 66ff. 64 Beide Zitate: Huysmans, À rebours, 87/ 86. 65 Den Terminus einer esthétique de l’existence prägt Michel Foucault in seinen späten Studien zur antiken Selbstsorge; vgl. hierzu weiter unten das Kapitel III.6.2. 198 Globalisierungsnarrative um 1900 tung, widerspricht in jeder Hinsicht Fernández’ Naturell. Als Erbe mit unbeschränkten Mitteln kann er sich - anders als sein Schöpfer Silva - der sozialen Funktionalisierung verweigern und bedenkenlos seine egozentrische Vervollkommnung vorantreiben. 66 Nur das Auskosten aller Vergnügungen und Ekstasen, nur die ganze Klaviatur der Sinnentwürfe und Sinneswahrnehmungen vermag Fernández’ panerotisches Begehren für den Moment zu befriedigen. Seine Lebenskunst maximaler Selbstverschwendung proklamiert er bereits zu Beginn der Abendgesellschaft (DS 307-310): [A]sí me atrae y me fascina todo, irresistiblemente. Todas las artes, todas las ciencias, la política, la especulación, el lujo, los placeres, el misticismo, el amor, la guerra, todas las formas de la actividad humana, todas las formas de la Vida, la misma vida material, las mismas sensaciones que por una exigencia de mis sentidos necesito de día en día más intensas y más delicadas. [...] ¡Ah, vivir la vida! , eso es lo que quiero, sentir todo lo que se puede sentir, saber todo lo que se puede saber, poder todo lo que se puede... [...] ¡Ah, ¡vivir la vida! , emborracharme de ella, mezclar todas sus palpitaciones con las palpitaciones de nuestro corazón antes de que él se convierta en ceniza helada; sentirla en todas sus formas, en la gritería del meeting donde el alma confusa del populacho se agita y se desborda en el perfume acre de la flor extraña que se abre, fantásticamente abigarrada, entre la atmósfera tibia del invernáculo; en el sonido gutural de las palabras que hechas canción acompañan hace siglos la música de las guzlas árabes; en la convulsión divina que enfría las bocas de las mujeres al agonizar de voluptuosidad; en la fiebre que emana del suelo de la selva donde se ocultan los últimos restos de la tribu salvaje... Die Feier synästhetischer Pluralisierung verrät zweifelsfrei die Inspiration des Dilettantismus, der um 1900 in hedonistisch praktizierter oder kulturkritisch debattierter Variante floriert. Die „science délicate de la métamorphose intellectuelle et sentimentale“, die der Dilettant als „instrument de jouissance“ 67 zur Anwendung bringt, findet in Fernández ihre optimale 66 Gar als Egologie fasst José Fernández’ solipsistische Lebenskunst Andrés Lema Hincapié („De sobremesa de José Asunción Silva: la novela como egología“, in: Estudios de Literatura Colombiana 18 (2006), 117-130), der wie einige jüngere Arbeiten die Problematisierung moderner Subjektivität als Fokus in De sobremesa erkennt; vgl. hierzu weiterhin Nicolás Fernández-Medina, „The Modern Self as Subject: The Structure of Crisis in José Asunción Silva’s De sobremesa“, in: Latin American Literary Review 34/ 68 (2006), 59-82; Juan Pablo Pino Posada, „Pero, ‚¿qué es la vida real? ’ Sobre la existencia estética en De sobremesa de José Asunción Silva“, in: Estudios de Filosofía 39 (2009), 121-135; Elisabeth L. Austin, Exemplary Ambivalence in Late Nineteenth-Century Spanish America: Narrating Creole Subjectivity, Lanham: Bucknell UP 2012, 67-99; María Mercedes Andrade, „Una personalidad ‚proteica y múltiple‘: colección, modernidad e identidad en De sobremesa“, in: Habana Elegante 46 (2009), URL: http: / / www.habanaelegante.com/ Fall_Winter_2009/ Dossier_Andrade.html (abgerufen am 4.10.2016). 67 Beide Zitate sind Paul Bourgets programmatischem Aufsatz über Ernest Renan in den Essais de psychologie contemporaine (Paris: A. Lemerre 1883, 60) entnommen. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 199 Personifikation. Konsequenterweise erklärt dieser einen „voluptuoso diletantismo“ (DS 361) zu seiner Lebensmaxime, was angesichts Silvas Beschäftigung mit Paul Bourgets Werk wenig verwundert. 68 Entscheidender scheint gleichwohl eine andere Filiation, die der oben zitierte Passus per plakativer Wortwiederholung und figura etymologica einspeist: „[V]ivir la vida“, mit dieser Losung bekennt sich der Roman zu einem Vitalismus, dessen Palette in der zweiten Jahrhunderthälfte so Verschiedenes wie die darwinistische Evolutionsbiologie, Henri Bergsons lebensphilosophischen élan vital oder Friedrich Nietzsches spätere Schriften (Also sprach Zarathustra, 1883-85; Jenseits von Gut und Böse, 1886; Zur Genealogie der Moral, 1887) offeriert. Insbesondere Letztere stehen Pate für die diffusen Kraftanwandlungen, die José Fernández von seinen blutleeren Leidensgenossen aus dem Fin de Siècle unterscheiden. Die Rezeption läuft einmal mehr über die Zwischenstation Frankreich, wo Ende 1891 in der Revue Bleue Théodore de Wyzewas Aufsatz „Frédéric Nietzsche, le dernier métaphysicien“ 69 erscheint und eine breite Kontroverse auslöst. Auch Silva liest Wyzewas ebenso berühmte wie einseitige Präsentation nietzscheanischer Denkfiguren und bespricht sie mit seinem Freund, dem Literaturkritiker Baldomero Sanín Cano, dank dessen Sprachkenntnissen sie auch Originalauszüge konsultieren können. Trotzdem sind es isolierte, mehrheitlich unsystematische Philosopheme, 70 die der Kolumbianer im facettenreichen Physio- und Psychogramm seiner Romangestalt collagiert: Der Übermensch und die anarchische Umwertung aller Werte, eine populärwissenschaftliche Variante der Herrenmoral sowie dionysische Beschwörungsformeln konterkarieren die narzisstische „hiper- 68 In De sobremesa fällt Paul Bourgets Name ausdrücklich zweimal; zum einen, als José Fernández mit Bourgets Wendung eine „plancha de anatomía moral“ (DS 427) seines Charakters entwirft; zum anderen in einem flammenden Plädoyer auf Nietzsches Machtphilosophie, der Bourget sowie andere analytische Denker der Jahrhundertwende dem Protagonisten zufolge nicht gewachsen seien (DS 495). 69 Vgl. Théodore de Wyzewa, „Frédéric Nietzsche, le dernier métaphysicien“, in: La Revue Bleue 48 (1891), 586-592. Sanín Canos Autobiographie (De mi vida y otras vidas, Bogotá: ABC 1949, 44) bezeugt die gemeinsame Lektüre des Beitrags: „Un día vino Silva a verme con un número de la Revista Azul (Revue Bleue) de París, para hacerme leer un artículo de Teodor de Wyzewa, escritor francés de origen polaco [...] acerca de un filósofo alemán de nombre Federico Nietzsche. Comentamos la noticia con grande interés. Había citas curiosas de aforismos del atrevido pensador y nos dimos a buscar la manera de procurarnos sus obras.“ Zu Silvas Nietzsche-Rezeption und ihrer Aktualisierung in De sobremesa vgl. Meyer-Minnemann, Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, 56ff.; Mataix, „De la parodia a la alegoría“, 155ff. sowie detailliert Walter Bruno Berg, „Nietzsche (en) De sobremesa. Modernidad y decadencia en la novela de José Asunción Silva“, in: Scriptura 8/ 9 (1992), 83-97. 70 Als „acercamiento intuitivo“ rubriziert daher Berg („Nietzsche (en) De sobremesa“, 84) die Nietzsche-Anleihen in De sobremesa. Angesichts Silvas insgesamt wilder Montage verzichte ich auf eine genauere Lokalisierung der Referenzen in Nietzsches Werken und auf Erwägungen zu ihrer kontextuellen Haltbarkeit in De sobremesa. 200 Globalisierungsnarrative um 1900 estesia“ (DS 422), die Fernández sonst an den Tag legt. Ausgerechnet er, der einem todgeweihten Liebesideal nachjagt und dabei beinahe selbst den Tod findet, ausgerechnet er, der einer Ästhetik des Pathologischen huldigt und den eigenen Spleen bis zum Kollaps treibt, ausgerechnet er schwingt sich auf einmal zu primitivistischen Visionen der Stärke auf, die sich als Verkündung des „evangelio de Nietzsche“ (DS 495) wähnen. So richtet sich ein Tagebucheintrag beispielsweise an den geknechteten „obrero“ (DS 486f.), um ihm seine christlich indoktrinierte Demut auszutreiben und jede Illusion über das menschliche Gewissen zu rauben. An die Stelle seiner Herdenmoral, so prophezeit der Protagonist in apokalyptischem Ton, wird künftig ein unbedingter Lebenstrieb treten, der jenseits von Gut und Böse waltet und nurmehr Zarathustras Willen zur Macht 71 verpflichtet ist: ¿Tú no sabías nada de eso, obrero que con las manos encallecidas por el trabajo haces todavía la señal de la cruz y te arrodillas para pedir por los dueños de la fábrica donde te envenenan los vapores de las mezclas explosivas? Pues sábelo, y regenerado por la enseñanza de Zaratustra, profesa la moral de los amos; vive más allá del bien y del mal. Si la conciencia son las garras con que te lastimas y con que puedes destrozar lo que se te presente y coger tu parte de botín en la victoria, no te las hundas en la carne, vuélvelas hacia afuera; sé el sobrehombre, el Ubermensch [sic] libre de todo prejuicio, y con las encallecidas manos con que haces todavía, estúpido, la señal de la cruz, recoge un poco de las mezclas explosivas que te envenenan al respirar sus vapores y haz que salte en pedazos, al estallido del fulminante picrato, la fastuosa vivienda del rico que te explota. Muertos los amos serán los esclavos los dueños y profesarán la moral verdadera en que son virtudes la lujuria, el asesinato y la violencia. ¿Entiendes, obrero? In Anbetracht ihrer Folgenlosigkeit im Handlungsfortgang steht solche Demagogie eo ipso unter Ironieverdacht und akzentuiert nur die Eloquenz eines Salonkommunisten, der selbst allzu gerne das Proletariat ausbeutet. Die Anregungen, die De sobremesa Nietzsches Machtphilosophie entnimmt, erschöpfen sich dennoch nicht in kulturpessimistischem Zynismus oder einer Verführungsstrategie, mit der José Fernández - nun seinerseits als Inkarnation des Zarathustra - eine „rubia baronesa alemana“ (DS 526) erobert. Denn in trivialisierter Semantik geht die Vorstellung des „sobrehombre“ von Beginn an in sein Erscheinungsbild ein, das sich damit beträchtlich von Huysmans‘ „jeune homme de trente ans, anémique et nerveux, aux joues caves“ 72 entfernt hat. 71 Die Vorstellung eines entsubjektivierten Lebens- und Machtwillens, der den scheinheiligen Willen zur Wahrheit entlarvt, beherrscht bekanntlich Nietzsches gesamtes Spätwerk; konzise skizziert findet sie sich im Kapitel „Von der Selbst-Ueberwindung“ aus Also sprach Zarathustra (Nietzsche, Kritische Studienausgabe, Bd. 4, 146-149). 72 Huysmans, À rebours, 78. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 201 Man mag kaum glauben, dass der von Angstzuständen heimgesuchte Neurotiker José Fernández gleichzeitig über eine immense körperliche Robustheit verfügt, die eine dichte Isotopie über den Roman hinweg konstant hält. Trotz seines angegriffenen Nervenkostüms präsentiert er sich als Modellathlet, als „dueño de una musculatura de atleta“ (DS 349), kompensiert seine psychischen Ausfälle mit dem Instinkt einer „bestia“ (DS 450) bzw. eines „hermoso animal“ (DS 448) und geht - dank einer „fuerza muscular inagotable“ (DS 379) - noch aus Drogendelirien, Selbstkasteiungen und tagelanger Umnachtung als explosive Batterie, als „batería poderosa acumulando electricidad y vapor“ (DS 450) hervor. Wie die biologistischen und thermodynamischen Metaphoriken signalisieren, strotzt er zudem vor Virilität, was in eklatantem Gegensatz zu Des Esseintes’ feierlich zelebrierter Impotenz steht. 73 Daran ändert selbst die vorübergehende Abstinenz zu Ehren Helenas nichts; im Gegenteil, steigert sie doch sogar noch Fernández’ Sexualtrieb, der sich sodann in einer ganzen Serie mechanisch abgewickelter Affären entlädt (DS 479ff.). Da die unbändige Libido überdies Anlass gibt, den männlichen Körper vielfach als Faszinosum in Szene zu setzen, stellen sich zuweilen homoerotische Assoziationen ein. 74 Die identitäre Labilität, die José Fernández kennzeichnet, manifestiert sich mithin auch in seiner geschlechtlichen Orientierung. Diese umfasst völlig konträre Haltungen, Wirkungen oder Wunschvorstellungen und changiert fortlaufend zwischen verzärtelter Androgynie und aggressiver Potenz, zwischen religiös überhöhter Entsagung und einem lautstarken (DS 502) „¡Hurra a la carne! “ In der historischen Vergrößerung veranschaulichen derartige Spannungen wohl die Gegenstrebigkeit einer epistemischen Konstellation, in der Degenerations- und Regenerationsphantasien, Thanatos und Eros, Mortalismus und Vitalismus unvermittelt aufeinandertreffen. 75 Die zwiefältige 73 Den Abschied aus der Gesellschaft feiert Des Esseintes (Huysmans, À rebours, 90) zugleich als Abschied von seiner Männlichkeit mit einem makabren Diner. 74 Vgl. Alfredo Villanueva-Collado, „Max Nordau, cultura helénica e inversión sexual en De Sobremesa, de José Asunción Silva“, in: CiberLetras 12 (2005), URL: http: / / www. lehman.cuny.edu/ ciberletras/ v12/ villanuevacollado.html (abgerufen am 4.10.2016) sowie v.a. Gabriel Giorgi, „Nombrar la enfermedad. Médicos y artistas alrededor del cuerpo masculino en De sobremesa, de José Asunción Silva“, in: CiberLetras 1 (1999), URL: http: / / www.lehman.cuny.edu/ ciberletras/ v1n1/ ens_04.htm (abgerufen am 4.10.2016). Giorgi spricht von einem regelrechten „erotismo de la salud“, der den Roman durchzieht und besonders in Fernández’ Verhältnis zu seinen Ärzten eine suggestive Homoerotik entfaltet. Auf psycho- und genderanalytischer Basis lesen De sobremesa auch Víctor Ignacio Ortega, Sobre „De sobremesa“. Dos estudios psicoanalíticos de la novela de José Asunción Silva, Medellín: Universidad de Antioquia 1987, 39ff. und Oscar Montero, „Escritura y perversión en De sobremesa“, in: Revista Iberoamericana 63/ 178-179 (1997), 249-261. 75 Mit der Verschränkung vitalistischer und mortalistischer Denkansätze um 1900 befassen sich beispielhaft für die französische Kulturgeschichte die Aufsätze in Stephan 202 Globalisierungsnarrative um 1900 Signatur der Jahrhundertwende ist Silvas Figur von vornherein wesensimmanent. Es überrascht darum wenig, dass Fernández’ geistige Aktivität ebenfalls unkalkulierbaren Schwankungen unterliegt. Ohne den Anspruch universellen Wissens und Fühlens einholen zu können, hängt er einerseits einem morbiden Spirit(ual)ismus an, der bis zur ersehnten unio mystica mit der schwindsüchtigen Helena reicht. 76 Andererseits lässt er keine Gelegenheit ungenutzt, um seine ‚eiserne Willenskraft‘, seine „voluntad de hierro“ (DS 349/ 366) zu beweisen und mit zwischenmenschlicher oder geschäftlicher Rücksichtslosigkeit zu brillieren. Es wird noch zu zeigen sein, dass sich Silvas Künstlerroman in diesem Zusammenhang sogar einen politischen Anstrich gibt. 77 Für den Moment mag die Feststellung genügen, dass mit José Fernández ein gleichsam multipler Charakter die romaneske Aufmerksamkeit bündelt. Ohne sich jemals festlegen zu lassen, schlüpft er von einer Rolle in die andere und mimt problemlos sowohl den Kraftprotz als auch den ausgezehrten Psychopathen. Größenwahn und Ohnmacht gehen bei ihm ebenso ineinander über wie Aktionismus und Quietismus, Machismus und Platonismus, kruder Materialismus und idealistische Schwärmerei. Als polysemes Zitat lässt er sich weder auf den Ich-Kult der Décadence noch auf einen emphatischen Lebensbegriff reduzieren; er verkörpert vielmehr beides in einem, bald dies, bald jenes, um sich in letzter Instanz jeder literatur- oder kulturgeschichtlichen Indienstnahme zu entziehen. III.4.2 Hypertrophe Intertextualität und parodistischer Diskursverschleiß Übrigens weiß Fernández selbst am besten um sein sphinxhaftes Auftreten. Nicht umsonst prophezeit er, dass ihn die Nachwelt als „monstruoso problema de psicológica complicación“ (DS 377) in Erinnerung behalten und ebendarum zur „leyenda“ (ebd.) küren wird. Zwischentöne wie diese unterstreichen die autoreferentielle Dimension des Romans, die, noch ehe wir den wandelbaren Protagonisten kennen, im Titel De sobremesa aufscheint. Wie schon in Lizardis El Periquillo Sarniento hat man es mit einer mehrdeutigen Titelformulierung zu tun, die jenseits des situativen Denotats eine poetologische Konnotation birgt. Die präpositionale Wendung „de sobremesa“ steckt zunächst freilich lokal und temporal das Setting der Rahmenfiktion ab, in der José Fernández ‚zum Nachtisch‘ eines üppigen Diners aus seinem in Europa verfassten Tagebuch vorträgt. Als Publikum fungiert ein Leopold / Dietrich Scholler (Hg.), Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen. Die französische Literatur und Kultur zwischen Sedan und Vichy, München u.a.: Fink 2010. 76 Eine regelrechte „spiritual quest“ macht Sonya A. Ingwersen (Light and Longing: Silva and Darío. Modernism and Religious Heterodoxy, New York u.a.: Lang 1986, 39-100) in iher konzentrierten Lektüre des Romans aus. 77 José Fernández’ erstaunliche politische Vision ist Gegenstand des Abschnitts III.5.2 der vorliegenden Analyse. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 203 intimer Freundeskreis, darunter der impulsive Juan Rovira und der Arzt Óscar Sáenz, deren realhistorische Silhouetten sich - wenn man unbedingt will - in Silvas Biographie ausfindig machen lassen. 78 Doch sowohl sie als auch das später eintreffende Duo, der redselige Luis Cordovez und der leidende Melancholiker Máximo Pérez, bleiben Statisten. Als bloße Staffage fügen sie sich in das exklusive Dekor, für das neben den kulinarischen Genüssen hauptsächlich die luxuriöse Innenausstattung der Villa Helena steht, in welcher der nach Lateinamerika zurückgekehrte Fernández nun residiert. Die Deskription, mit der De sobremesa anhebt, versammelt sämtliche Gemeinplätze mondäner Salonkultur, deren oberste Kriterien Preziosität, Ornamentalität und ein verfeinerter Exotismus sind. Wenngleich die berufliche Kennerschaft des Autors nicht ganz auszublenden ist, 79 knüpft das Incipit zuallererst an literarisch entworfene Intérieurs an, wie sie seit dem französischen Realismus Konjunktur haben. 80 Silvas Beschreibung setzt einen materiellen Pomp in Sprache, der aber weit über die Errichtung einer wirklichkeitsnahen Kulisse hinausreicht. Der dysfunktionale Überschuss der copia verborum nimmt in De sobremesa eine eigenständige Färbung an, vorausgesetzt, man versteht ihn als Quellenkommentar, der die evozierten Vorbilder mindestens auf den Prüfstand stellt (DS 295f.): Recogida por la pantalla de gasa y encajes, la claridad tibia de la lámpara caía en círculo sobre el terciopelo carmesí de la carpeta, y al iluminar de lleno tres tazas de China doradas en el fondo por un resto de café espeso y un frasco de cristal tallado lleno de licor transparente entre el cual brillaban partículas de oro, dejaba ahogado en una penumbra de sombría púrpura, producida por el tono de la alfombra, los tapices y las colgaduras, el resto de la estancia silenciosa. En el fondo de ella, atenuada por diminutas pantallas de rojiza gasa, luchaba con la semioscuridad circunvencina la luz de las bujías del piano, en cuyo teclado abierto oponía su blancura brillante el marfil al negro mate del ébano. 78 Mit gebotener Vorsicht weist Remedios Mataix in der verwendeten Ausgabe von De sobremesa (DS 296, Anm. 3/ 4) sowohl auf die Nähe von Juan Rovira und Óscar Sáenz zu Silvas Freund Hernando Villa und zu seinem Arzt Juan Evangelista Manrique als auch auf mögliche lebensweltliche Vorbilder anderer Romanfiguren hin. Vgl. dazu ferner die Lektüre von Cano Gaviria, „Mímesis y ‚pacto biográfico‘“, in: OC, 602ff. 79 Einen eindrucksvollen Vergleich der ästhetizistischen Beschreibungen in De sobremesa mit Werbeannoncen, die der Luxushändler Silva schaltet, etabliert Ericka Beckman, „Sujetos insolventes: José Asunción Silva y la economía transatlántica del lujo“, in: Revista Iberoamericana 75/ 228 (2009), 757-772, hier 760ff. Siehe dazu auch die weiter gefasste Untersuchung der Autorin: Ericka Beckman, Capital Fictions: The Literature of Latin America’s Export Age, Minneapolis: Minnesota UP 2013, bes. 42-80. 80 Vgl. hierzu Claudia Becker, Zimmer, Kopf, Welten. Zur Motivgeschichte des Intérieurs im 19. und 20. Jahrhundert, München: Fink 1990 sowie Janell Watson, Literature and Material Culture from Balzac to Proust: The Collection and Consumption of Curiosities, Cambridge: UP 1999. 204 Globalisierungsnarrative um 1900 Sobre el rojo de la pared, cubierta con opaco tapiz de lana, brillaban las cinceladuras de los puños y el acero terso de las hojas de dos espadas cruzadas en panoplia sobre una rodela, y, destacándose del fondo oscuro del lienzo limitado por el oro de un marco florentino, sonreía con expresión bonachona, la cabeza de un burgomaestre flamenco, copiada de Rembrandt. El humo de dos cigarrillos, cuyas puntas de fuego ardían en la penumbra, ondeaba en sutiles espirales azulosas en el círculo de luz de la lámpara, y el olor enervante y dulce del tabaco opiado de Oriente se fundía con el del cuero de Rusia en que estaba forrado el mobiliario. Erlesene Stoffe und hochwertiges Geschirr, Kunstgegenstände, edle Möbel und stilvoller Nippes, das Zwielicht der Dämmerung sowie exquisite Aromen kreieren eine Atmosphäre sinnlichen Raffinements. Auch ohne genauere Inventarisierung der Gegenstände 81 schürt allein deren Vielzahl den Verdacht der Überfrachtung, der sich im weiteren Verlauf der Passage 82 erhärten wird. Zu offenkundig und zu genrekonform, zu detailverliebt und zu exponiert reiht sich der Auftakt von De sobremesa in die zeitgenössischen Intérieur-Schilderungen ein, für die wiederum À rebours hervorragende Beispiele bieten könnte. 83 Gleich wie stark man die enumerative Syntax, die hyperkorrekten Prädikationen und die gesuchten Attribute deuten möchte, unweigerlich drängt sich der Vergleich mit Silvas Versen der „Sinfonía color de fresa con leche“ (DS 280-283) auf, in denen just der Wegbereiter der modernistischen Lyrik ebendiese mit Adjektivreihen, Neologismen sowie metaphorischen und mythologischen Kuriositäten aufs Korn nimmt. Obschon zu Romanbeginn noch nicht von unumwundener Hyperbolik die Rede sein kann, wird einsichtig, was hier eigentlich „de sobremesa“, nach Tisch und mithilfe hochprozentiger Digestifs verdaut werden muss. Opulent waren und sind nämlich nicht nur das gereichte Nachtmahl und das verdächtig koloniale Mobiliar der Villa Helena. Was ebenso der Verarbeitung bedarf, ist die textuelle und intellektuelle Nahrung, die Silva seinem Roman umfänglich zusetzt und dann sukzessive wieder ausscheidet. „[Q]uidquid lectione collectum est, stilus redigat in corpus“ 84 - es ist die 81 Die Präzisierung wäre insofern lohnend, als sie die Asymmetrie des transatlantischen Warentransfers offenlegt, in dem einzig Rohstoffe aus Lateinamerika stammen, bearbeitete Luxusgüter hingegen stets (Re-)Importe aus Europa oder gar Asien sind. 82 Der Eindruck des Namedropping drängt sich erstmals auf, als der Freund Rovira die kulinarischen Feinheiten auf eine Serie bloßer Markennamen oder Herkunftsbezeichnungen reduziert (DS 298): „[L]os cubiertos que parecen joyas, los manjares delicados, el rubio jerez añejo, el johannisberg seco, los burdeos y los borgoñas que han dormido treinta años en el fondo de la bodega; los sorbetes helados a la rusa, el tokay con sabores de miel, todos los refinamientos [...].“ 83 Man denke allein an die ausladende Deskription des Anwesens von Fontenay, wo Des Esseintes sich sein künstliches Paradies einrichtet (Huysmans, À rebours, 87ff.). 84 Das Gleichnis findet sich im 84. Brief an Lucilius; hier zitiert nach: Lucius Annaeus Seneca, Epistulae morales ad Lucilium. Libri XI-XIII, lateinisch-deutsch, hg. und übers. von Rainer Rauthe, Stuttgart: Reclam 1996, hier Buch XI, 84/ 2, 4. Die in De sobremesa Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 205 berühmte Sentenz aus Senecas Bienengleichnis, die streng genommen in De sobremesa auf dem Spiel steht und nur unzulänglich befolgt wird. Dass sich die Erträge der Lektüre im Schreibprozess zu einem einheitlichen Organismus verbinden, mahnt Seneca in seinem Briefwechsel mit Lucilius an. Ausgerechnet diese Synthese bleibt Silvas Roman schuldig, ohne deshalb zum epigonalen Sammelsurium zu verkommen. Um derartigen Missverständnissen vorzubeugen, ist der hermeneutische Blickwinkel grundsätzlich zu verändern. Denn statt kontrollierter Verdauung betreibt De sobremesa einen regelrechten „Diskursverschleiß“ 85 , der die Lesefrüchte nicht völlig absorbiert, sondern Restbestände zurücklässt und genau damit Stellung zu den einverleibten Texten, Topoi, Stilen und Sicht- oder Denkweisen bezieht. In Abweichung vom Romantitel serviert Silva seine intertextuelle Völlerei aber nicht erst ‚zum Dessert‘, die Voraussetzungen dafür werden vielmehr von den verschiedenen Fiktionsschwellen an geschaffen. Selbst wenn man also das Incipit noch als realistischen Aufbau eines Schauplatzes verrechnen will, verdeutlichen spätestens die ersten Tagebuchzeilen, dass es fortan weniger um Geschehenes als vielmehr um Geschriebenes und dessen permanente Vervielfältigung gehen wird. Anders als in Aussicht gestellt, setzen die Erinnerungen des Hausherrn nämlich nicht mit dem Bericht seines Europa-Aufenthalts ein, der zudem den rätselhaften Namen der „Villa Helena“ lüften soll. Statt den versprochenen autobiographischen récit zu beginnen, verfängt sich der erste, am „3 de junio de 189…“ (DS 320) in Paris verfasste Eintrag sogleich in eine ausladende „mise en abyme de l’énonciation“ 86 , die eine spezifische Rezeptionshaltung konditioniert, sofern sie sich und uns ebenfalls in das Stadium der Rezeption zurückversetzt. Es sind zwei veritable Erfolgsbücher, die Fernández’ Aufzeichnungen anfangs engführen, um entschieden Partei zu ergreifen und sich derart selbst zu positionieren. Denkbar schlecht ergeht es in der Gegenüberstellung Max Nordaus berüchtigter Untersuchung Entartung, die 1892/ 93 erscheint und auf beiden Seiten des Atlantiks hohe Wellen schlägt. 87 Als „ciencia miope“ (DS 342) verspottet der Tagebuchschreiber den bornierten Biologismus des ungarisch-jüdischen Arztes, der weite Teile der Literatur und bildenden greifende Metaphorik literarischer Verdauung diskutiert luzide Aníbal González, „‚Estómago y cerebro‘: De sobremesa, el Simposio de Platón y la indigestión cultural“, in: Revista Iberoamericana 63/ 178-179 (1997), 233-248. 85 Die schöne Formel entnehme ich bei Johannes Hauck (Typen des französischen Prosagedichts. Zum Zusammenhang von moderner Poetik und Erfahrung, Tübingen: Narr 1994, 187-206), der in Rimbauds Prosadichtung der Illuminations einen „poetische[n] Verschleiß zeitgenössischer Diskurse“ konstatiert. 86 Vgl. Dällenbach, Récit spéculaire, 100. 87 Wie eine im Romantext zitierte Stellenangabe nahelegt (DS 324), liest Silva Nordaus Bestseller in französischer Übersetzung (Dégénérescence, übers. von Auguste Dietrich, Paris: Alcan 1894, 2 Bde.). Die Kritik an Nordaus darwinistischem Kulturpessimismus in De sobremesa kommentiert eingehend Villanueva-Collado, „Max Nordau“, o.S. 206 Globalisierungsnarrative um 1900 Kunst der zweiten Jahrhunderthälfte als lebensfeindliche Degenerationserscheinung brandmarkt und herausragende Vertreter wie Wagner und Nietzsche, Baudelaire oder Tolstoi, die Impressionisten, Symbolisten und Präraffaeliten mit abstrusen psychopathologischen „tiquetes“ (DS 322) katalogisiert. 88 Unter den angeblich Entarteten figuriert als weibliche Exponentin auch Maria Konstantinovna Bashkirtseva (Marie Bashkirtseff), deren posthum veröffentlichtes Journal (1887) Fernández sodann gegen Nordaus rassenhygienische Kulturkritik ins Feld führt. Es genügt, die besondere Aura ins Gedächtnis zu rufen, welche die russische Malerin, Schriftstellerin und Sängerin umgab, um ihre Emblematik - auch für den hispanoamerikanischen Modernismo 89 - zu erahnen. Als femme fragile schlechthin früh an Tuberkulose erkrankt und verstorben, schien sie dennoch von einem außerordentlichen Lebens- und Schaffenstrieb beseelt. Unschwer erkennt man hier eine Doppelgängerin des schreibenden Protagonisten aus De sobremesa, der nicht zufällig eine weitere Textschicht öffnet, um Bashkirtsevas Memoiren ins rechte Licht zu rücken: Er beruft sich auf die „advocación adorable“ (DS 341), mit der Maurice Barrès die extravagante Künstlerin zu „Notre- Dame qui n’[est] jamais satisfaite“ 90 erklärt, was Fernández als „Nuestra Señora del Perpetuo Deseo“ (DS 341) zugespitzt ins Spanische überträgt. Ein ähnlich aufzehrendes Begehren treibt schließlich auch ihn um, dessen Verwandtschaft mit der Bashkirtseva sich nicht in proleptisch antizipierten Biographismen erschöpft. Der Gedankenaustausch mit der „dulcísima rusa muerta en París, de genio y de tisis“ (DS 320) gibt zugleich Aufschluss, wie José Fernández sein eigenes journal intime verstanden wissen will (DS 343): 88 Da er Silvas schneidende Wissenschaftssatire prägnant exemplifiziert, sei folgender Auszug aus Fernández’ Abrechnung zitiert (DS 322f.): „Nordau se pasea por entre las obras maestras que ha producido el espíritu humano en los últimos cincuenta años. Lleva sobre los ojos gruesos lentes de vidrio negro y en la mano una caja llena de tiquetes con los nombres de todas las manías clasificadas y enumeradas por los alienistas modernos. [...] Vistos al través de sus anteojos negros, juzgados de acuerdo con su canon estético, es Rossetti un idiota, Swinburne un degenerado superior, Verlaine, un medroso degenerado, de cráneo asimétrico y cara mongoloide, vagabundo, impulsivo y dipsómano; Tolstoi, un degenerado místico e histérico; Baudelaire, un maniático obsceno; Wagner, el más degenerado de los degenerados, grafómano, blasfemo y erotómano.“ 89 So widmen beispielsweise Enrique Gómez Carrillo, Amado Nervo oder Rubén Darío dem Tagebuch der Bashkirtseva umfasssende Besprechungen. Fundierte Deutungen der Bashkirtseva-Episode in De sobremesa liefern Sylvia Molloy, „Voice Snatching: De sobremesa, Hysteria, and the Impersonation of Marie Bashkirtseff“, in: Latin American Literary Review 25/ 50 (1997), 11-29; Alfredo Villanueva-Collado, „Marie Bashkirtseff, José Asunción Silva y De Sobremesa: ¿Patología o intertexualidad? “, in: CiberLetras 11 (2004), URL: http: / / www.lehman.cuny.edu/ ciberletras/ v11/ villanuevacollado.html (abgerufen am 6.10.2016) sowie Orjuela, „De sobremesa“ y otros estudios, 59-68. 90 Maurice Barrès, „La légende d’une cosmopolite“ [1890], in: Ders., Trois stations de psychothérapie, Paris: Perrin 1891, 33-68, hier 68. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 207 „Hay frases del Diario de la rusa que traducen tan sinceramente mis emociones, mis ambiciones y mis sueños, mi vida entera, que no habría podido jamás encontrar yo mismo fórmulas más netas para anotar mis impresiones.“ Genauso wie sich der lateinamerikanische (Ex-)Dichter in Bashkirtsevas Zeilen wiederfindet, eine affine „sensibilidad exacerbada“ (DS 342) ausmacht, so soll auch sein Tagebuch als ‚getreuer Spiegel‘ („espejo fiel“, ebd.) für die Gefühlswelt anderer dienen. Wer der imaginativen Einfühlung allerdings nicht gerecht wird, so Fernández’ wenig bescheidenes Credo, dem entgehen die Nuancen der Introspektion, der kratzt an der Oberfläche des Faktischen, anstatt die Tiefenschicht der Affekte zu ergründen; dem bleibt, kurz gesagt, nur das magere Skelett einer arg verworrenen Geschichte. Literarhistorisch gemahnt das Identifikationsgebot selbstverständlich an die symbolistische Suggestions- und Korrespondenzpoetik, der es um eine möglichst exakte Rekonstruktion von Stimmungen und Sinnesregungen zu tun ist. Nahezu mit Mallarmés Wortlaut reklamiert daher De sobremesa eine Lesergemeinde, die selbst das Zeug zum Künstlertum hat und somit die evozierten états d’âme zu dechiffrieren vermag (DS 314). 91 Silvas bekannte Nähe zum Symbolismus ist indes zweitrangig gegenüber den romaninternen Konsequenzen, die der sympathetische Nachvollzug individueller Bewusstseinsvorgänge zeitigt. Denn mit ihrer Versprachlichung rückt auch derjenige in den Aufmerksamkeitsfokus, der dafür verantwortlich zeichnet. Als intradiegetische Äußerungsinstanz garantiert Fernández zum einen natürlich die psychologische Direktübertragung, die der Tagebuchroman anvisiert. Weitaus prononcierter als die einst populären und heute vielfach vergessenen Texte eines Henri-Frédéric Amiel, Edouard Rod oder Pierre Loti nutzt Silvas Held jedoch die Diaristik andererseits, um sein gesammeltes Wissen auszubreiten. Während sich Huysmans’ Des Esseintes noch den skeptischen Blick eines heterodiegetischen Erzählers gefallen lassen musste, darf José Fernández ohne störende Nebengeräusche sein kulturelles Kapital auffahren. Die Eingangssequenz zu Bashkirtsevas Journal und Nordaus kapitaler Fehldeutung spinnt mithin nur den ersten Faden in 91 „Es que yo no quiero decir sino sugerir, y para que la sugestión se produzca es preciso que el lector sea un artista.“ (DS 314) So skizziert José Fernández bereits in der Rahmenhandlung sein Dichtungsprogramm, das er Jean Moréas’ Symbolismus-Manifest (1886) und vor allem Mallarmés berühmtem Interview mit Jules Huret abgelauscht hat: „Nommer un objet, c’est supprimer les trois quarts de la jouissance du poème qui est faite de deviner peu à peu: le suggérer, voilà le rêve. C’est le parfait usage de ce mystère qui constitue le symbole: évoquer petit à petit un objet pour montrer un état d’âme, ou, inversement, choisir un objet, et en dégager un état d’âme, par une série de déchiffrements.“ (Stéphane Mallarmé, „Sur l’évolution littéraire“ [1891], in: Ders., Œuvres complètes, hg. von Bertrand Marchal, Paris: Gallimard/ Pléiade 2003, Bd. 2, 697-702, hier 700). 208 Globalisierungsnarrative um 1900 einem Geflecht zahlloser Bezüge und Verweise, die allesamt sinnstiftenden Charakter annehmen können. 92 Allein der literarische Fundus reicht von Dantes Vita N(u)ova und Vittoria Colonnas Rime bis zu Baudelaire, Swinburne oder Verlaine, umfasst die römischen Elegiker genauso wie die Größen des europäischen Fin de Siècle - darunter Ibsen, Tolstoi, Bourget, Barrès oder D’Annunzio - und stellt die Vertreter des realistischen Romans neben die Lyrik der Romantik oder des Parnasse. Hinzu kommen vereinzelte Anspielungen auf die einheimische Literatur Lateinamerikas sowie figurale und motivische Parallelen, die dem Personal Pendants aus der Ahnengalerie der abendländischen Geistesgeschichte zuweisen. Nicht minder weitläufig gestalten sich die philosophischen Exkurse, die ohne erkennbare Kohärenz die Gedankengebäude Platons, Spinozas, Rousseaus, Fichtes, Spencers, Renans, Taines oder eben Nietzsches korrelieren. 93 Wagners Oper darf in diesem Gesamtkunstwerk intertextueller und interauktorialer Montage nicht fehlen. Aussagekräftiger ist gleichwohl der konstante Rekurs auf die Malerei, zumal er handlungstragend wird und die mysteriöse Helena vorübergehend als piktorale Projektion ausweist. Zuletzt bedürfte es jeweils gesonderter Überlegungen, um die esoterischen Anklänge zu typisieren, 94 die biblischen Motive zu lokalisieren oder, am anderen Ende der Skala, die Zeichenordnung des modernen Konsums, d.h. den Katalog der Markenartikel, Warenhäuser und Luxusgüter zu dekodieren. Schon der selektive Querschnitt dokumentiert, dass Silvas Roman die Grenzen zwischen punktueller Text-Text-Beziehung und übergreifender - keineswegs nur literarischer - Systemreferenz erheblich nivelliert. Eigenmächtig verfügt José Fernández über die Archive der Kulturgeschichte, bemüht auch die Naturwissenschaften und verleibt sich wahlweise mythologische Bildlichkeiten oder politische Ideologeme ein. Was zunächst als gängiges Verfahren des Lektüreromans erscheint und aus anderer Perspektive den enzyklopädischen Kompendien in Lizardis El Periquillo Sar- 92 Als eine Art „creative receptor“ charakterisiert Fernández daher treffend Kelly Comfort, European Aestheticism and Spanish American Modernismo: Artist Protagonists and the Philosophy of Art for Art’s Sake, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2011, 41ff. 93 Die geistige Einkehr nach seinem ersten lyrischen Triumph beschreibt Fernández beispielsweise mit einem philosophischen Rundumschlag (DS 345): „¡Tranquilidad de los nervios apaciguados por el régimen calmante y por el aislamiento, conversaciones en que los nombres de Platón, de Epicuro, de Empédocles, de Santo Tomás, de Spinoza, de Kant y de Fichte mezclados a los de los pensadores de hoy, Wundt, Spencer, Maudsley, Renan, Taine, irradiaban como estrellas fijas sobre la majestad negra del cielo nocturno; vértigo de la inteligencia que, desprendida del cuerpo inquiere las leyes del ser [...].“ 94 Silvas Integration okkultistischer bzw. spiritistischer Denkfiguren besprechen Alfredo Villanueva-Collado, „De Sobremesa de José Asunción Silva y las doctrinas esotéricas en la Francia de fin de siglo“, in: Revista de Estudios Hispánicos 21/ 2 (1987), 9-21 sowie Ingwersen, Light and Longing, 39ff. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 209 niento gleicht, 95 bringt in De sobremesa oftmals verstörende Überlagerungen hervor. Fülle schlägt in Überfülle um, sobald Semantik und Intention der Einzelreferenz unscharf zu werden drohen. Sogar zentrale Autoritäten wie die Spielarten des französischen Ästhetizismus werden davon in Mitleidenschaft gezogen. Der Eindruck verstärkt sich mit Fortschreiten der Tagebuchnotate, die übrigens kein Geheimnis daraus machen, dass sie weniger Seelendiktat als vielmehr „Bibliotheksphänomen“ 96 und Palimpsest sind. Bezeichnenderweise bekennt sich José Fernández zu einer frenetischen Leselust, mit welcher er Bücher verschiedenster Sparten von der Belletristik bis zur Militärkunde verschlingt (DS 300ff.), um sie im eigenen Schreiben massenweise wiederzukäuen. Die unvermeidlichen Proliferationen und Hybridisierungen tendieren gleichsam von selbst zur Parodie, die bekanntlich dicht strukturierte Vorlagen qua Über- oder Untererfüllung ihres Schemas komisiert. 97 Gemäß diesem Widerspiel von Markiertheit und Kontrafaktur ergeht sich Fernández in insistenten Schlagwort-Tiraden und redundanten Manierismen, was bis zur monotonen Aufzählung von Autoren- oder Werknamen reicht. Mit einigem Witz und nicht ohne Seitenhiebe zitiert er so etwa das Who is Who des Pariser Kulturestablishments herbei, welches sich geschäftig im Salon der Bashkirtseva einfindet (DS 328-330): Los hombres más ilustres del momento serán los huéspedes de ese centro, allí sonreirá suavemente Renan, moviendo la gran cabeza bonachona, con ademán episcopal; Taine vendrá a veces y se dejará oír, un poco absorto por instantes en su incesante pensar, animado otras, preguntando en frases cortas, netas, precisas como fórmulas; Zola, ventrudo y pálido, contará el plan de su novela futura; Daudet paseará, por sobre las obras de arte que destacan sus cartones sobre las viejas tapicerías desteñidas, la mirada curiosa de sus ojos de miope y apoyará en el brocatel de los sillares la enmarañada melena de piferaro; los pintores Bastien-Lepage, el preferido, chiquitín, enér- 95 Siehe das Kapitel II.4.1 der vorliegenden Studie. 96 So Foucaults berühmte Wendung in seiner Flaubert-Lektüre: „L’imaginaire ne se constitue pas contre le réel pour le nier ou le compenser; il s’étend entre les signes, de livre à livre, dans l’interstice des redites et des commentaires; il naît et se forme dans l’entre-deux des textes. C’est un phénomène de bibliothèque.“ (Michel Foucault, „Un ‚fantastique‘ de bibliothèque“ [1964/ 67], in: Dits et écrits, Bd. 1, 293-325, hier 297f.). 97 Siehe die theoretische Grundlegung bei Theodor Verweyen / Gunther Witting, Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung, Darmstadt: WBG 1979, bes. 112ff. und Gunther Witting, „Über einige Schwierigkeiten beim Isolieren einer Schreibweise“, in: Christian Wagenknecht (Hg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, Stuttgart: Metzler 1988, 274-288 sowie die umfängliche Kontextualisierung bei Frank Wünsch, Die Parodie. Zu Definition und Typologie, Hamburg: Kovač 1999. Die parodistischen Synkretismen in De sobremsa lokalisieren Selena Millares, „Sincretismo genológico y estilístico, parodia e intertextualidad en De sobremesa, de José Asunción Silva“, in: Anales de Literatura Hispanoamericana de la Universidad Complutense 19 (1990), 83-94 und Mataix, „De la parodia a la alegoría“, 156ff. 210 Globalisierungsnarrative um 1900 gico, chatico, con su rubia barba de adolescente; Carolus Durán, con sus aires de espadachín y de tenorio; el Maestro Tony Robert Fleury, el de la dulce fisonomía árabe y los ojos dormidos; los poetas Coppée, Sully Prudhomme, Theuriet, todos ellos serán recibidos allí como en una casa del arte y se sentirán ajonjeados y mimados como por una hermana. Wo der naive Bischof Renan, der entrückte Taine, ein beleibter und selbstverliebter Zola, der neugierige Daudet, die strengen Parnassiens sowie die flatterhaften Plein-Air-Maler oder die majestätischen Maler der Akademie Schau laufen, dort geben längst groteske Verzerrungen den Ton an. Nicht verschont von dergleichen Stilbrüchen bleibt indes auch ihr Arrangeur, der sich in der Konfusion und Kollision aktualisierter Vorstellungsbereiche bisweilen selbst verhöhnt. Fernández kokettiert sogar mit der Parodierbarkeit seiner Egomanie, die er in den Rollen des „rastaquoère [sic] ridículo“ (DS 346), 98 des „snob grotesco“ (ebd.) oder des „richissime Américain“ (DS 347) vor sich her trägt. Ähnlich hyperbolisch aufgeblasen, tritt er als superpotenter Übermensch in Erscheinung, dessen nietzscheanisches Skandalon sich letztlich aber in Superlativ-Kaskaden und in zeitweiliger Triebhaftigkeit, in einem „exceso de vigor físico“ (DS 298) und in der „superabundancia de vida de este hombrón“ (ebd.) erschöpft. Die Entstellung epochaler Stereotype, die hier durchschlägt, macht vor dem weiblichen Pendant, der Sehnsuchtsgestalt der Helena de Scilly Dancourt ebenso wenig Halt. Obgleich in der fiktiven Wirklichkeit immerzu abwesend, umgibt die femme enfant ein derart engmaschiges Netz der Assoziationen, dass sich eine Identität im eigentlichen Sinn überhaupt nicht ausbilden kann. Textimmanent scheint sie dazu auserkoren, mit ausgesuchten Accessoires - einem Strauß welker Teerosen und einer Kamee 99 - und Symboliken wie dem Kreuzzeichen und dem Dantebzw. Vergil-Vers „Manibus, [oh,] date lilia plenis! “ (DS 408/ 467) 100 die Prophezeiungen zu erfüllen, die einst Fernández’ sterbende Großmutter voraussagte und die ein präraf- 98 Die Epochenfigur des rastaquouère (vgl. Streckert, Hauptstadt Lateinamerikas, 182ff.), der als lateinamerikanischer Emporkömmling nach Europa kommt und sämtlichen Trends nachjagt, beleuchtet hinsichtlich De sobremesa J. Eduardo Jaramillo Zuluaga, „De sobremesa de José Asunción Silva: El joven que llegó de Europa, el rastacuero“, in: Alba de América: Revista Literaria 14/ 24-26 (1996), 201-210. Allein ob der Begriffsübernahme könnte Silva den 1890 erschienenen Roman Rastaquouère: ilusiones y desengaños sudamericanos en París des Chilenen Alberto del Solar gekannt haben. 99 Die Kamee mit dreiblättrigem Zweig und Schmetterling besitzt Fernández seit der ersten Begegnung in einem Genfer Hotel, wo Helena sie verlor. In der folgenden Nacht wirft er Blumen in Helenas Zimmer, was diese mit einem stummen Kreuzzeichen und welken Teerosen erwidert, genau wie es die Großmutter vorhersah (DS 394-399). 100 Der Vers findet sich im sechsten Buch der Aeneis, während Dante ihn anlässlich Beatrices Erscheinung im Purgatorio vernimmt (Dante Alighieri, La Divina Commedia II: Purgatorio, hg. von Ettore Zolesi, Roma: Armando 2003, XXX, 480). Das Zitat ziert ein präraffaelitisches Frauenporträt, das Fernández von seinem Psychiater erhält und das Helenas Mutter zeigt, die der Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten ist (DS 419). Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 211 faelitisches Porträt andeutet. Daneben generiert sie eine Litanei literatur- und kunstgeschichtlicher Überhöhungen, die zusammengenommen vollends ins Beliebige abzudriften drohen: Ist sie nun die keusche Jungfrau des Fra Angelico (DS 390/ 397/ 408/ 419), ist sie per Homonymie die schöne Zeustochter oder Platons Liebespriesterin Diotima (DS 392), ist sie eine zweite Beatrice (DS 392) oder Goethes Gretchen, oder handelt es sich doch um die narrative Transposition des seinerseits aus einem Gedicht hervorgegangenen Gemäldes The Blessed Damozel (1850/ 1875-78) von Dante Gabriel Rossetti? 101 All das wird in De sobremesa mehr oder minder offen suggeriert, ohne dass sich eine Bedeutung konkretisieren würde oder dass das synthetische Mädchen, wenn es darauf ankäme, José Fernández von seinen Ausschweifungen abhielte. Die Allusionen entkräften sich vielmehr gegenseitig und Helena bleibt am Ende ein vages, wiewohl überkodiertes Phantasma, das sich bis zum absehbaren Tod an Schwindsucht entzieht. Inwiefern Parodie und Satire - die Grenzen verfließen zunehmend - in De sobremesa sogar Schlüsseldisziplinen der Zeit erfassen können, beweist der intensive Dialog, den der Roman mit der Medizin und näherhin der Psychiatrie führt. Da die Verfremdung in diesem Fall ohne aufwendige Chiffrierung zu Tage tritt, veranschaulicht sie konzise, wie respektlos Silva und sein Erzähler die Diskurslandschaften der Jahrhundertwende umpflügen. Aufgrund seiner schwerwiegenden Neurasthenie hat der Protagonist ärztlichen Beistand bitter nötig, den er dann auch reichlich erhält. Das Figurenarsenal von De sobremesa umfasst eine illustre Anzahl von Medizinern, die auf den verschiedenen diegetischen Ebenen praktizieren und genau besehen ihr Unwesen treiben. 102 Am „grotesco doctor“ Max Nordau (DS 342) lässt José Fernández, wie erläutert, ebenso wenig ein gutes Haar wie an der psychologischen Grundlagenforschung des hoffnungslos optimistischen Wilhelm Wundt (DS 494). 103 Ein ähnlich vernichtendes Urteil 101 Remedios Mataix („De la parodia a la alegoría“, 140-143) bündelt übersichtlich die kunstgeschichtlichen Referenzen in De sobremesa und benennt die Frauenbildnisse der Pre-Raphaelite Brotherhood, auf die Silvas Helena eventuell anspielt. 102 Ausgehend von der epochenspezifischen Valorisierung der Krankheit diskutieren Silvas romaneske Verhandlung mit der Medizin Karen Poe Lang, „Avatares de la relación médico-paciente en De sobremesa de José Asunción Silva“, in: CiberLetras 19 (2008), URL: http: / / www.lehman.cuny.edu/ ciberletras/ v19/ PoeLang.html (abgerufen am 4.10.2016); Oscar Torres Duque, „La enfermedad como una de las bellas artes. Psicopatología, arte y decadentismo en De sobremesa de José Asunción Silva“, in: Daniel Balderston et al. (Hg.), Literatura y otras artes en America Latina, Iowa City: UP 2004, 29-36; Giorgi, „Nombrar la enfermedad“, o.S.; Villanueva-Collado, „Max Nordau, cultura helénica“, o.S. sowie Jorge Mario Ochoa, „El poeta y la enfermedad en De sobremesa de José Asunción Silva“, in: Thémata: Revista de Filosofía 47 (2013), 205- 218, URL: http: / / ojs.publius.us.es/ ojs/ index.php/ themata/ article/ view/ 363 (abgerufen am 22.5.2017). 103 Wilhelm Wundt (1832-1920), der die experimentelle Psychologie in Deutschland mit aus der Taufe hebt, widmet sich später v.a. der Kollektiv- und Völkerpsychologie. 212 Globalisierungsnarrative um 1900 trifft den in der Herrenrunde der Rahmenhandlung situierten Óscar Sáenz, einen rationalistischen Biedermann, der als Arzt nur ein einziges, gänzlich inadäquates Rezept gegen den Kräfteverschleiß seines Freundes anzubieten hat: Er verordnet ihm eine strikte Sinnes-Diät zugunsten der literarischen Begabung (DS 299-312). Derlei Fehldiagnosen und unzureichende Therapien häufen sich in der Binnenfiktion, die das traditionelle Genre der Ärztesatire mit bemerkenswerter Aktualität paart. So sucht Fernández in London Sir John Rivington auf (DS 412-424), seines Zeichens Spezialist für experimentelle Psychologie und Verfasser so bedeutender - und verblüffend vielseitiger - Fachpublikationen wie beispielsweise „La higiene moral y La evolución de la idea de lo Divino“ (DS 412). Wissenschaftlich sei der Brite mindestens auf der Höhe eines Darwin oder Spencer anzusiedeln, was gleichwohl nicht verhindert, dass seine Behandlung zur Farce mit merklich homoerotischem Einschlag gerät. In den nächtlichen Sitzungen interessiert Rivington weit mehr die physische Attraktivität seines Patienten als dessen Krankheit, deren Ätiologie er nichtssagend auf „pecados contra la higiene“ (DS 414) zurückführt. Trivialerweise rät er Fernández zur Heirat mit der umschwärmten Helena, da allein die Ehe ein effizientes Regulativ gegen Promiskuität, nervliche Zerrüttung und eine überfunktionale Imagination biete. Der Schmalspur- Positivismus zeitigt erwartungsgemäß keine Wirkung, weshalb es an der Zeit ist, eine echte Koryphäe beizuziehen. Zurück in Paris (DS 447), konsultiert Fernández darum niemand geringeren als den gelehrten profesor Charvet, el sabio que ha resumido en los seis volúmenes de sus admirables Lecciones sobre el sistema nervioso lo que sabe la ciencia de hoy a ese respecto, y que me conoce y me mira con extrema benevolencia desde que oí sus lecciones en la Facultad y presencié sus curiosas experiencias de hipnotismo en la Salpêtrière. Ohne Weiteres gewahrt man hier das Realvorbild des französischen Neurologen, Psychiaters und Urvaters der Psychoanalyse Jean-Martin Charcot (1825-1893), dessen Leçons sur les maladies du système nerveux tatsächlich in den 1870/ 80er Jahren erscheinen und dessen öffentliche leçons du mardi Silva während seines Paris-Aufenthalts 1884/ 85 wohl besucht. 104 Das mag ein Grund dafür sein, dass dem romanesken Doppelgänger Charvet als einzigem Mediziner in De sobremesa eine wohlwollende Zeichnung zuteilwird. So hat es zumindest den Anschein, entwickelt sich doch im Behandlungsverlauf ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Analytiker und Analysand. Zu verdanken ist das allerdings weniger zählbaren Heilungs- 104 Zum biographischen Substrat der Charvet-Episode vgl. Cano Gaviria, „El periplo europeo de Silva“, in: OC, 459-461 und Poe Lang, „Avatares de la relación médicopaciente“, o.S. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 213 erfolgen denn vielmehr dem Umstand, dass Charvet nicht zunftgemäß als „hombre de ciencia“ (DS 465) auftritt, sondern „nervios de artista“ (ebd.) besitzt, die ihn unweigerlich zu Fernández’ Bruder im Geiste machen. Als feinsinniger Kunstliebhaber und Arzt wider Willen, wie er selbst bekennt (DS 465f.), gewinnt Charvet zwar das unumschränkte Vertrauen des lateinamerikanischen Patienten. Gleichzeitig leistet er damit - beinahe analog zu den Störungen seiner Klientel - einer aberranten Überschneidung der Disziplinen und Codes Vorschub. Wo die Grenze zwischen empirischer (Natur-)Wissenschaft und kreativer Phantasie verwischt, kündigt sich früher oder später auch das Versagen medizinischer Terminologien und Befunde an. Und genau dazu kommt es schließlich, als selbst der Sympathieträger Charvet am Bett des deliranten Fernández gestehen muss (DS 460): „No se extrañe de lo que voy a decirle. Oiga usted: yo no sé lo que usted tiene.“ Am Ende mit seinen Fähigkeiten begnügt sich zu guter Letzt auch der Meisterdenker der Salpêtrière mit denselben therapeutischen Banalitäten wie sein Londoner Kollege Rivington. „Goce usted suavemente de la vida, cásese usted, amigo mío, sea usted feliz...“ (DS 466), so speist er den Protagonisten ab und überlässt dessen weitere Krankengeschichte kurzerhand den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus. Besiegelt Charvets Ratlosigkeit bereits den Bankrott des „regard clinique“ 105 , so erreicht die medizinische Travestie in De sobremesa ihren eigentlichen Höhepunkt kurz zuvor. Denn ehe der berühmte Freud-Lehrer überhaupt eingreifen kann, macht sich ein Gremium seiner Kollegen an José Fernández zu schaffen, was dessen Erinnerungen als durchweg lächerliches Schauspiel dekuvrieren. In greller Überzeichnung stellt die Szenerie die Geltungssucht geschwätziger Quacksalber aus, die sich im Namedropping modischer Psychopathologien übertrumpfen, statt sich genauer des Kranken anzunehmen. Schonungslos legt der Tagebucheintrag die berufsblinden Ticks der anwesenden Ärzte bloß, deren hohle Seriosität nicht über ihre Unkenntnis hinwegtäuschen kann (DS 455-457): - Mi amable y bondadoso colega ha tenido la bondad de honrarme autorizándome para decirle a usted la opinión que hemos formado respecto de la novedad que usted experimenta. Son graves los desórdenes del sistema nervioso - comenzó ahuecando la voz y emprendiéndola con una disertación interminable en que enumeró todas las neurosis tiqueteadas y clasificadas en los últimos veinte años, y las conocidas desde el principio de los tiempos. Me habló del vértigo mental y de la epilepsia, de la catalepsia y de la letargia, de la corea y de las parálisis agitantes, de las ataxias y de los tétanos, de las neuralgias, de las neuritis y de los tics dolorosos, de las neurosis traumáticas y de las neurastenias, y con especial complacencia de las enfermedades 105 Den ‚klinischen‘ bzw. ‚medizinischen Blick‘, der den menschlichen Körper stetig umfassenderer Sicht- und Sagbarkeit preisgibt, erkundet Michel Foucault in Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical [1963], Paris: Gallimard 1997. 214 Globalisierungsnarrative um 1900 recién inventadas, del railway brain y del railway spine, de todos los miedos mórbidos, el miedo de los espacios abiertos y de los espacios cerrados, de la mugre y de los animales, del miedo de los muertos, de las enfermedades y de los astros. A todas aquellas miserias les daba los nombres técnicos, kenofobia, claustrofobia, misofobia, zoofobia, necrofobia, patofobia, astrofobia, que parecían llenarle la boca y dejársela sabiendo a miel al pronunciarlas... [...] - ¿Y cuál de esas enfermedades creen ustedes que tengo yo? - pregunté divertido ya por el personaje. - Sería aventurado un diagnóstico en estos momentos en que la indecisión de los síntomas y las escasas nociones que poseemos sobre la etiología del mal impiden la precisión requerida - dijo con gravedad sacerdotal -. Los síntomas harían creer en una somnosis o en una narcolepsia, pero nada podemos precisar antes de que se regularicen las funciones del tubo digestivo. Ingeniis largiter ventris... - Hay que purgarlo - soltó el esculapio de la cabeza calva, disparando aquella frase como un pistoletazo y como si se tratara de un caballo. Man braucht den vergnüglichen Passus nicht en détail zu durchforsten, um die polemische Stoßrichtung zu erahnen und Komisierungsverfahren wie die sinnentstellende Reihung oder die neologistischen Analogiebildungen nachzuvollziehen. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob es sich lediglich um ein Pastiche literarischer Psychologismen handelt oder ob a priori der satirische Impetus überwiegt, der den Nutzen der angesagten Neurowissenschaften rundweg auf die Darmentleerung reduziert: „Hay que purgarlo“. So oder so setzt das Potpourri der Symptome und Krankheitsbilder eine Karnevalisierung in Gang, die Geist und Körper, „sistema nervioso“ und „tubo digestivo“ sowie Arzt- und Patientenrolle zu irritierenden Mesalliancen verschwistert. 106 Es ist im Ganzen ein Karneval zeitgenössisch kursierender Denk- und Stilfiguren, Intertexte und Vorstellungsbilder, den De sobremesa in provokanter Ausgelassenheit feiert. José Fernández’ Aufzeichnungen assimilieren nicht einfach die Artikulationsformen und Errungenschaften, die die Literatur des Fin de Siècle oder die junge Psychoanalyse bereitstellen. Sie erheben hingegen den Anspruch, frei über die Ideenformationen und Imaginarien zu verfügen, sie je nachdem zu affirmieren oder ad absurdum zu führen. Die Synkretismen, Überfunktionen und Wucherungen, die solcherart entstehen, bestätigen nicht etwa eine Defizienz in der narrativen Anlage des Textes. Sie sind vielmehr Ausdruck einer Transkulturation, die jeden 106 Zur Karnevalisierung als kulturgeschichtlichem Paradigma und literarischem Verfahren vgl. die einschlägigen Ausführungen bei Michail M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, übers. von Adelheid Schramm, München: Hanser 1971, bes. 137ff. sowie Ders., Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hg. von Renate Lachmann und übers. von Gabriele Leupold, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1987, bes. 345ff. Silvas Satire der Psychowissenschaften findet auch lyrischen Niederschlag, z.B. in den Gedichten „Psicopatía“ (DS 220-224) und „Psicoterapéutica“ (DS 247). Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 215 imitatorischen Charakter abgelegt und in ein problembewusstes „Diskurstypenspiel“ 107 überführt hat. Insofern macht es die besondere, durchaus konterdiskursive 108 Faktur von Silvas Roman aus, dass er die prestigeträchtigen Referenzen aus Übersee ohne Rücksicht auf Ansehen und Eigensemantik aneinanderreiht, anhäuft und nicht selten in hypertrophen Tautologien profaniert. III.5 Opfer des „high life cosmopolita“: Mediale Dezentrierungen Die transkulturellen Lizenzen zeugen somit auch von der Selbstbehauptung eines schreibenden Subjekts, das in stetiger Auseinandersetzung mit fremder Rede zu sich kommt. Das Blatt wendet sich indes, sobald man zum erlebenden Ich der Tagebucherzählung zurückkehrt. Denn in De sobremesa zieht jede Geste der Ermächtigung gewissermaßen von selbst ihre Umkehrung nach sich, was nicht allein an den generisch labilen Helden der Jahrhundertwende liegt, die Silvas Roman ohnehin beträchtlich nuanciert. Noch in Momenten äußerster Kraftexplosion sieht sich José Fernández einer Einflusssphäre gegenüber, der er weder als idiosynkratische Künstlernatur noch als abgebrühter Macho oder unter einer seiner anderen Masken entkommt. Längst integraler Teil seiner selbst, ist dies die Flut der Zeichen und Wahrnehmungen, die er gekonnt handhabt und deren mediale Vervielfältigungen ihn doch in arge Bedrängnis bringen. Rast- und bindungslos wird er gleichzeitig zum Opfer seines „high life cosmopolita“ (DS 515), das ihn beharrlich kognitiven und perzeptiven Überlastungen aussetzt. Dass die Verfügbarkeit von Informationen und die globale Ausweitung der Lebensradien, die sich um 1900 ankündigt, in einer rasanten Technisierung des Transport- und Kommunikationswesens wurzeln, weiß niemand besser als José Fernández. Darauf reagieren kann er dennoch nur, indem er die bisher ungekannten Möglichkeiten auskostet und sich damit einer Veräußerung überlässt, die in „el cansancio y el desprecio por todo, el mortal dejo, el spleen horrible, el tedium vitae“ (DS 515) münden muss. Sein „viaje alrededor del mundo para almacenar sensaciones e ideas“ (DS 350), den Fernández anfangs zum optimalen Daseinsmodus verklärt, wächst sich zur Sucht aus und fordert letztlich den Tribut chronischer Überreizung. Als leidenschaftlicher Sammler neuer Eindrücke, Datensätze und Gedanken ris- 107 Den Begriff entlehne ich bei Klaus W. Hempfer, „Shakespeares Sonnets: Inszenierte Alterität als Diskurstypenspiel“, in: Dieter Mehl / Wolfgang Weiß (Hg.), Shakespeares Sonette in europäischen Perspektiven. Ein Symposium, Münster: LIT 1993, 168-205. 108 Zum Bedeutungsradius des literarischen „contre-discours“ als Immunisierung gegen eine ubiquitäre Diskursmacht vgl. zunächst Foucault, Mots et choses, 58f./ 313 sowie präzisierend Warning, „Poetische Konterdiskursivität“, 313ff. und Geisenhanslüke, Foucault und die Literatur, 213ff. 216 Globalisierungsnarrative um 1900 kiert er, in der Menge des Gesammelten regelrecht „aus[zu]sterben“ 109 , wie Walter Benjamin in einem Aperçu formuliert. Die Hybris, ‚alles besitzen zu wollen‘ - „poseerlo TODO“ (DS 344) beabsichtigt der Protagonist in einer manischen Phase -, kann jederzeit ins Gegenteil des totalen Verlusts umschlagen. III.5.1 Ubiquitäre Sinnesreize und vergebliche Vermittlung Um überhaupt ein Quantum an Selbstbestimmtheit zu wahren, bleibt Fernández nur die rhetorische Immunisierung, die den Auswirkungen der allgegenwärtigen Technisierung und Mediatisierung mit Sarkasmus oder wenigstens mit ironischer Distanz begegnet. Vordergründig rechnet er deshalb mit einer Welt ab, die immer weiter zusammenwächst und deren akzelerierter Pulsschlag ihm sowohl seine nachhaltigsten Empfindungen als auch seine tiefsten Leiden beschert. Mit einem skurrilen Defilee sucht er sich so beispielsweise vom gemeinen Typus des vermögenden Touristen abzusetzen, dessen Kosmopolitismus nichts als Pose ist und zu gleichen Teilen dem Baedeker wie der Bibel entstammt. Die harsche Attacke büßt indes an Glaubwürdigkeit und, schlimmer noch, an autosuggestiver Überzeugungskraft ein, bedenkt man, dass der blasierte Schönling aus De sobremesa selbst zur Klasse der nouveaux riches gehört, die in aller Herren Länder ausströmen. Es genügen einige Auszüge der wortreichen Diatribe, um die monotone Einfalt zu ermessen, die Fernández zur eigenen Entlastung der Schar der Reisenden zuschreibt (DS 380-385): ¡El conjunto cosmopolita de estas mesas redondas de los grandes hoteles y los contrastes disparatados de todas ellas! El menu francés parece un exotismo dada la composición heterogénea del Hotel Victoria, donde vivo... [en Interlaken] ¡Oh, personajes que me divertís al observaros y dais a mi imaginación fantaseadora ocasión de forjarme vuestra vida mientras engullo los manjares; grueso agente viajero alemán, oloroso a cerveza, que cuentas tus groseras aventuras de taberna y de burdel entremezclándolas de carcajadas sonoras; gomoso parisiense, corbateado de rosa, de los zapatos y los bigotes puntiagudos y de la inteligencia roma, que estropeas lamentablemente los términos de sport ingleses al adaptarlos a tus pronunciaciones guturales; español cuyo perfil regular y cerdoso bigote negro van precedidos de inevitable pitillo infecto y que a todas horas sigues con ojos de lujuria a la criada suiza coloradota y fresca; brasileños amarillosos y enclenques, que exhibís inverosímiles diamantes pajizos montados en los botones de la camisa, y tiritáis de frío como oistitís del trópico en las noches invernales de Londres; aventurero ruso de la rizada barba castaña que sientes la nostalgia de la ru- 109 Vgl. Walter Benjamin, „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“ [1931], in: Ders., Gesammelte Schriften (Werkausgabe), hg. von Tilman Rexroth, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1980, Bd. IV.1, 388-396, hier 395: „Erst im Aussterben wird der Sammler begriffen.“ Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 217 leta y las carpetas verdes de Montecarlo; viejas inglesas, secas unas veces como sarmientos, desbordantes otras como informes paquetes de carne linfática, que recorréis la Europa entera, con el Baedeker en una mano y la biblia en la otra [...]. [Q]ue os pasmáis oyendo las musiquillas italianas de hace treinta años y las idiotas pornografías de los café-concierto, y a quienes dejan fríos las dulces ingenuidades de los pintores prerrafaelitas, las sutilezas del arte japonés, las grandiosas sinfonías de Wagner, los dolorosos personajes que atraviesan la sombra gris de las novelas de Dostoievski, las extraterrestres creaciones de Poe! [...] [S]entado[s] a la cabecera de la mesa, en que lucen ahora el queso de Camembert de coloración cadavérica, el Roquefort delicuescente y la decocción de chicoria amarga con que creyendo que absorbéis el café aromático, el licor de Voltaire y de Balzac, finalizáis vuestros pantagruélicos almuerzos! Am fiktiven Geschehensablauf gemessen, ist die Bloßstellung touristischer Mediokrität schierer Selbstbetrug, dessen durchsichtige Intention José Fernández auch wenig später entlarvt. Nicht als seriöser Renegat - etwa im Namen der Kunst 110 -, sondern allein um die Ursachen der eigenen Malaise zu verdecken, schwingt er sich zeitweilig zum messerscharfen Chronisten und Kritiker der Unterhaltungsindustrie auf. Getrieben von unersättlichem Verlangen, taucht er in Wahrheit selbst in den Sog artifizieller Exotismen und Attraktionen ein, mögen diese seinerseits zunächst auch unkonventioneller und exzessiver anmuten. Nichtsdestoweniger teilt er mit den Ridikülisierten dieselben Hotels, dieselben Stationen des Sightseeing, dasselbe radebrechende Englisch und dasselbe Bedürfnis nach komfortablen Abenteuern, deren Scheinheiligkeit er zugleich geißelt. Reumütig kehrt Fernández immer wieder in den Tross des internationalen Jetsets zurück, da die unablässige Erregung seines Sinnesapparats längst zum Lebenselixier geworden ist. Insofern kommt auch seine Polemik gegen die dumpfen Urlaubsrituale der Hautevolée eher einem Geständnis gleich, welches die eigene Vergnügungssucht und ihre verheerenden Folgen verrät. Sie fällt in der Ereignischronologie genau zwischen die beiden Mordversuche, die Fernández an einer Pariser Kokotte und einer Boulevardschauspielerin verübt, ohne dass die Läuterung durch Fremdanklage irgendeine Präventivwirkung entfaltet hätte. Dem mehrfach angekündigten Entschluss, seine emotionsgesteuerte Daseinsweise zugunsten einer soliden „vida de hombre“ (DS 380) aufzugeben, verhilft die satirische Parade des Tourismus jedenfalls nicht zum Durchbruch. Nicht einmal die Rückkehr nach Lateinamerika ist gleichbedeutend mit einer definitiven Beruhigung seiner Kräfte, die Fernández weiterhin in verschiedensten Vorhaben verströmt, deren Bandbreite von 110 So deutet hingegen Pera (Modernistas en París, 127) obigen Passus, indem er Fernández’ Polemik als Selbstbehauptung eines Schriftstellers gegen die alles erfassende Unterhaltungsindustrie liest. 218 Globalisierungsnarrative um 1900 revolutionärer Kriegstreiberei über ethnographische Expeditionen bis zu sexuellen Eskapaden oder häuslicher Floristik reicht. In der Sache völlig belanglos und ebenbürtig, trachten sämtliche Aktivitäten danach, jenem „frenesí por ampliar el campo de las experiencias de la vida“ (DS 301) 111 Genüge zu tun, dem Silvas Held unter dem (Ein-)Druck des anbrechenden Informations- und Transportzeitalters verfallen ist. Denn abgesehen von der Pathologie, die man ihm attestieren möchte, ist José Fernández der homo modernus schlechthin, da er nicht mehr ohne Apparaturen der Kontaktaufnahme und der Speicherung, nicht mehr ohne permanente Fortbewegung auskommt. Zumindest das Interesse, das der Autor Silva dem technischen Fortschritt entgegenbringt, wurde bereits vor Längerem bemerkt und anhand aufschlussreicher Belege aus Korrespondenz und literarischem Werk nachgewiesen. 112 Es sind vor allem die Telegraphie, die Dampfschifffahrt und die Eisenbahnlinien, die es dem Kolumbianer angetan haben und deren Magie er - im Sommer 1894 auf dem Weg nach Venezuela - so beschwört (OC 683f.): „El ferrocarril con sus locomotoras, sus carros y sus empleados parece hecho en otra parte, traído y colocado en este lugar como por encanto.“ Ähnlich überschwänglich äußert sich selbiger Brief 113 zum „excelente viaje“ (OC 683), den Silva verbringt „al tomar el vapor“ (ebd.), während er die telegraphische Nachrichtenübermittlung bereits als Normalität verrechnet und diesbezügliche Defizite in seiner Heimat beklagt. Eher schon abgeklärt entzaubert 114 als noch arglos verzaubert mutet demgegenüber der Umgang an, den José Fernández mit den technischen Innovationen seiner Zeit pflegt. Als versierter Weltenbummler unternimmt er ohne großes Aufheben zahlreiche Reisen im Zug und auf Dampfern, hantiert mit photographischen Kopien und setzt selbstverständlich schnellste 111 Es ist einmal mehr der Arzt Sáenz, der seinem Freund Fernández erfolglos die Leviten liest, um ihn von seiner multiplen Selbstverausgabung abzuhalten (DS 301): „En tu frenesí por ampliar el campo de las experiencias de la vida, en tu afán por desarrollar simultáneamente las facultades múltiples con que te ha dotado la naturaleza, vas perdiendo de vista el lugar adonde te diriges.“ 112 Vgl. Robert Jay Glickman, „José Asunción Silva ante los avances tecnológicos de su época“ [1976], in: Cobo-Borda et al. (Hg.), Leyendo a Silva, Bd. 2, 231-247. 113 Der betreffende Brief (OC 683-684) datiert vom 21. August 1894 und ist an Silvas Mutter sowie seine Schwester Julia adressiert. 114 Das viel bemühte Schlagwort prägt bekanntlich Max Weber: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also n i c h t eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: dass man, wenn man n u r w o l l t e , es jederzeit erfahren k ö n n t e , dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge - im Prinzip - durch B e r e c h n e n b e h e r r s c h e n könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“ („Wissenschaft als Beruf“ [1919], in: Max Weber, Schriften 1894-1922, hg. von Dirk Käsler, Stuttgart: Kröner 2002, 474-511, hier 489). Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 219 Post- und Nachrichtendienste voraus. Die Tatsache, dass er sich dabei mehrheitlich in Europa - zwischen Paris, London und der Schweiz - aufhält und erst am Ende nach Lateinamerika zurückkehrt, ist gewiss nicht zu vernachlässigen. Die schlichte Annahme eines Entwicklungsvorsprungs plausibilisiert gleichwohl nicht die widersprüchliche Medienpräsenz in De sobremesa. Denn Letztere steht in Silvas Roman keineswegs nur für die authentische Illustration eines modernen Lebensalltags in besseren Kreisen. Die technische Bildlichkeit ist bereits ins Imaginäre und in die sprachliche Gestalt des Textes eingesickert, weshalb sich jederzeit realistische und metaphorische Bedeutungsdimensionen überlagern können. Faszination und Abscheu konkurrieren etwa im Vorstellungskomplex, mit dem Fernández die englische Hauptstadt zwischen urbaner Wirklichkeit und (Alb-)traum zeichnet (DS 443): „Tú hueles a fábrica y a humo, mi Londres fuliginoso y negro, la trabazón aérea de telegráficas redes cruza tu cielo opaco; tiene tu ferrocarril subterráneo aspecto de pesadilla grotesca.“ Der Psychiater Rivington wiederum darf sich über das Porträt auslassen, das Helenas Mutter zeigt und dessen ontologischer Status zwischen unbewusster Erinnerungsspur und photographisch generiertem Phantasma verschwimmt (DS 420): „La memoria es como una cámara oscura que recibe innumerables fotografías. Quedan muchas guardadas en la sombra; una circunstancia las retira de allí, recibe la placa un rayo de sol que la imprime sobre la hoja de papel blanco [...].“ Im historischen Rückblick erregt der Parallelismus zwischen menschlichem Gedächtnis und visuellen Projektionsmaschinen freilich kein Aufsehen mehr, da das angehende 20. Jahrhundert - mit den Schriften eines Freud, Benjamin und anderer - die „Ära der Psychoanalyse mit der Ära der technischen Reproduktion“ 115 vereinen wird. Als wenige Jahrzehnte zuvor De sobremesa entsteht, handelt es sich indes um einen kühnen Tropus, dessen Aktualität durch den fiktiven Kontext der Bildüberlappung, Fernández’ seelische Erkrankung, zusätzlich forciert wird. 115 Jacques Derrida, Die Tode von Roland Barthes, hg. von Hubertus von Amelunxen, Berlin: Nishen 1987, 13. Zum Nexus zwischen Photographie bzw. Film und menschlicher Wahrnehmung bzw. Erinnerung siehe z.B. Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“ [1931], in: Ders., Gesammelte Schriften (Werkausgabe), hg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1980, Bd. II.1, 368-385 und Sigmund Freud, „Notiz über den ‚Wunderblock‘“ [1925], in: Ders., Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewussten, hg. von Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt/ Main: Fischer 1982, 363-369 oder Ders., Das Unbehagen in der Kultur ([1930], in: Studienausgabe, Bd. 9, 191-270, hier 221) wo es mitunter heißt: „In der photographischen Kamera hat er [scil. der Mensch] ein Instrument geschaffen, das die flüchtigen Seheindrücke festhält, was ihm die Grammophonplatte für die ebenso vergänglichen Schalleindrücke leisten muss, beides im Grunde Materialisationen des ihm gegebenen Vermögens der Erinnerung, seines Gedächtnisses.“ 220 Globalisierungsnarrative um 1900 Hinzu kommt, dass Phänomene medialer Übertragung schon im bloßen Handlungsfortgang eine wesentliche Rolle spielen. Insbesondere der Bereich der Telekommunikation gewinnt eine semantische Tiefenschärfe, die über die beachtliche Okkurrenz (DS 302, 350, 351, 361, 369, 372, 398, 399, 443, 469, 478, 530, 543) deutlich hinausgeht. Es ist frappant, mit welcher Lässigkeit José Fernández das seinerzeit rasch verbesserte Fernmeldewesen nutzt, ein Eilschreiben nach dem anderen entsendet und, gleich ob in Europa oder in seiner lateinamerikanischen Heimat, zum jüngst eingerichteten Telefon greift (DS 302/ 372). Wie weit die Nachrichtentransmission aber auch reicht und welch klangvolle Adressaten sie - vom New Yorker Börsenmakler über den hochrangigen General bis zum verschrobenen Archäologen - aufspüren mag, ihr haftet stets ein Makel an, den die vergebliche Suche nach Helena de Scilly Dancourt und ihrem Vater zu Tage fördert. Trotz weltweiter Korrespondenz bleibt das Zusammentreffen in Genf das einzige Zeugnis, das Fernández von ihr besitzt und dessen Realpräsenz all seine weiteren Bemühungen überschattet. In der Folge schiebt sich eine unüberwindbare Distanz zwischen ihn und Helena, die sich im Versagen der zur Recherche genutzten Medien konkretisiert. Weil weder Telegramme noch Briefe oder Agenturen den Aufenthalt der beiden Scilly eruieren können, wähnt er sich so zum Beispiel in London binnen kurzem in einer „ciudad monstruo“ (DS 399). 116 Es sind mithin die Kommunikationsdispositive selbst, die in De sobremesa jene Virtualität präfigurieren, in die sich die schwindsüchtige Muse schließlich verflüchtigen wird. Kurioserweise offenbart damit ausgerechnet die Materialität medialer Vermittlung, dass Fernández einem überirdischen Wunschbild anhängt. Auf dem Weg zu dieser Gewissheit, die Helenas Grab in Paris buchstäblich zementiert (DS 548), bietet er jedoch alle zur Verfügung stehenden Mittel auf, die, kaum eingesetzt, jeweils aufs Neue den Entzug hervortreiben. Solcherart weitet sich sukzessive der Radius der Nachforschungen, bis am Ende „corresponsales del mundo entero“ (DS 543) ihre ergebnislosen Berichte kabeln und allein das Eingeständnis der eigenen ‚wahnsinnigen‘ Zwangshandlung bleibt (DS 542f.): Han sido diez días de actividad loca, sin resultado alguno. Desde hace cinco hay un empleado mío en cada una de las capitales de Europa, sin más oficio que recorrer los hoteles y telegrafiarme. Por conducto de Marinoni y so pretexto de un negocio de grande importancia, he logrado que la agencia Charnoz les transmita a sus corresponsales del mundo entero el nombre de 116 Vgl. den Passus im Zusammenhang (DS 399): „Dos meses de vida en la ciudad monstruo, no visitada en mi última permanencia en Europa y de la cual guardaba la confusa impresión recibida, hace once años; dos meses [... en] que esperé inútilmente respuesta a mis telegramas dirigidos a todos los grandes hoteles de Europa, y a las cartas en que solicité en vano de algunas agencias de informes datos acerca del paradero de Scilly y de su hija.“ Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 221 Scilly, para que averigüen por él, y yo me paso las horas en mi escritorio esperando, minuto por minuto, la llegada de los partes telegráficos o de los telegramas. Empresa inútil; empresa inútil, y sin embargo, tengo la seguridad de encontrarla [...]. Je länger José Fernández die Illusion nährt, das angebetete Mädchen noch zu finden, desto exaltierter fallen seine Verherrlichungen aus und desto fragwürdiger erscheinen die Kontakte und Kanäle, die er bemüht. Einerseits unverzichtbar, vermögen sie andererseits nicht die - eher eingebildete als tatsächliche - Leibhaftigkeit der epiphanischen Erstbegegnung mit Helena zu restituieren. Sie erzeugen lediglich eine „Ersatzsinnlichkeit“ 117 , die wie früher einfachere Transport-, Lautier- oder Aufschreibesysteme an einer uneinholbaren Unmittelbarkeit scheitern. Wer hier eine nostalgische Entfremdungshypothese wittert, der geht in De sobremesa gewiss nicht fehl. Das Ideal vollkommener Selbstgegenwart und die Anfälligkeit für analogische Spekulationen entsprechen dem Wesen des Protagonisten, der auf diese Weise das romantische Legat des hispanoamerikanischen Modernismo bestätigt. Die fortschreitende Technisierung der Lebensvollzüge oszilliert demnach in Silvas Roman zwischen Fortschrittseuphorie und dysphorischer Verlusterfahrung. Nicht zu übersehen sind gleichwohl die ironischen Ambivalenzen, die in De sobremesa auch das romantisch gefärbte Zurück zur Natur und zur spontanen Kommunikation unterlaufen. Aus der topischen Sehnsucht nach Präsenz erwächst keine Handlungsalternative, sie bleibt kulturgeschichtliche Reminiszenz, auf die José Fernández in seiner Diaristik verfällt. In der Welt, in der er sich tagtäglich bewegt, läuft der Mensch hingegen Gefahr, unter den eigens erfundenen Extensionen 118 zu verschwinden, wogegen nurmehr Larmoyanz oder die Verzerrungen der Farce gefeit sind. III.5.2 Das Kommunikationsmonopol eines caudillo: Visionäre Mediokratie oder verzweifelte Farce? Die zweite Variante findet eine prägnante Aktualisierung, als der Tagebuchschreiber plötzlich seiner l’art-pour-l’art-Attitüde abschwört und vorübergehend einen politischen Ton anschlägt. So jedenfalls der erste Eindruck der Aufzeichnung, die Fernández im Berner Oberland verfasst (DS 362- 379), wo er sich mittels asketischer Ertüchtigung von seinen „sensualidades 117 Ich gebrauche den Begriff gemäß Friedrich Kittlers Geschichte medienhistorischer Umbrüche (Aufschreibesysteme, 310), in der es allerdings schon im Rückblick auf die Zäsur um 1800 heißt: „Um 1900 wird die Ersatzsinnlichkeit Dichtung ersetzbar, natürlich nicht durch irgendeine Natur, sondern durch Techniken.“ 118 „All media are extensions of some human faculty - psychic or physical“ (McLuhan / Fiore, Medium is the Massage, 26), so die Grundannahme in Marshall McLuhans Medienanthropologie, der zufolge jede technische Erweiterung eine Selbstamputation des Menschen impliziert. Vgl. ausführlich McLuhan, Understanding Media, 7ff. 222 Globalisierungsnarrative um 1900 de bizantino“ (DS 380) zu erholen hofft. Doch statt zur Ruhe zu kommen, wechselt er schlichtweg das Metier und wandelt sich vom künstlerischen Gefühlszum scheinbar beherzten Tatmenschen. Abermals wie im Rausch ersinnt er eine Vision zur Neuordnung seines lateinamerikanischen Vaterlandes, das keine explizite Erwähnung, aber zahlreiche Anspielungen als Kolumbien identifizieren. Kaum zu überhören ist ferner das Echo, mit dem Friedrich Nietzsches Engadiner Offenbarung der ewigen Wiederkehr des Gleichen (Sils Maria 1881, niedergeschrieben 1883) im Alpenerlebnis aus De sobremesa widerhallt. Ebenso wie der deutsche Philosoph seine Eingebung „6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit“ 119 gehabt haben will, erlebt auch José Férnandez im Anblick erhabener Gletscher, „por la grandiosidad de la escena“ (DS 365), seine persönliche „revelación“ (ebd.). Deren Gehalt hat allerdings wenig mit Nietzsches postmetaphysichem Skeptizismus gemein, zielt doch das Vorhaben, das Silvas Exzentriker plötzlich vor Augen steht, auf nichts anderes als die Usurpation uneingeschränkter Herrschaft. Allein der Umstand, dass sich der ansonsten Zartbesaitete zu einer abgeschmackten Polit-Phantasie hinreißen lässt, gibt einige Rätsel auf. Insbesondere das eiskalte Kalkül, das aus seinem „plan […] claro y preciso como una fórmula matemática“ (DS 365) spricht, hat die Forschung intrigiert, wobei leicht Fernández‘ vor- und nachherige Gemütsverfassung vergessen ist. 120 Als erste Schritte seiner Agenda gedenkt er, sein Vermögen zu vermehren, zur Fortbildung die USA zu bereisen - „a indagar los porqués del desarrollo fabuloso de aquella tierra de la energía“ (DS 366) - und sodann genaue Kenntnisse über Geographie, Demographie und Ökonomie seiner Heimat einzuholen. Für das weitere Vorgehen kommt nur ein gewaltsamer Putsch in Frage, weil dieser im Gegensatz zum „falso liberalismo“ (DS 367) der Mentalität der Landsleute entspricht und außerdem „el más práctico“, das heißt „el más brutal“ (DS 368) ist. Überhaupt bekundet José Fernández eine erstaunliche Begeisterung für furchteinflößende Waffen und unerbittliche „triunfos de la fuerza“ (ebd.), was bis zur Verherrlichung der „legendarios Molochs, Alejandros, Césares, Aníbales, Bonapartes“ (DS 368) reicht. 119 Die Inspiration zu Also sprach Zarathustra überhöht Nietzsche in seiner autobiographischen Schrift Ecce Homo (hier zitiert nach: Kritische Studienausgabe, Bd. 6, 335) mit folgenden Worten: „Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundconception des Werks, der E w i g e - W i e d e r k u n f t s - G e d a n k e , diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann -, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: ‚6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit.‘ Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.“ 120 Fernández’ Reformplan findet in vielen Lektüren Erwähnung, meist jedoch hinsichtlich der fragwürdigen Aneignung nationalistischer Tendenzen. Sensible Deutungsansätze zur ambivalenten Episode enthalten Rolando Pérez, „Irony, Love, and Political Economy in José Asunción Silva’s De sobremesa“, in: Hispanófila 150 (2007), 87-102, hier 91ff. sowie González, „Retratos y autorretratos“, 292ff. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 223 Genauso sadistisch wie er in der Ahnengalerie sagenumwobener Feldherrn schwelgt, projektiert er daraufhin seinen eigenen Aufstieg zu einem Potentaten, der einem bizarren Doppelbzw. Vorgänger lateinamerikanischer caudillos von Juan Manuel de Rosas bis zu Fidel Castro gleicht. 121 Einmal mehr gerät De sobremesa zur beißenden Realsatire, wenn der betreffende Tagebucheintrag lakonisch das Programm dieses „proceder a la americana del sur“ (DS 368) durchdekliniert und gleichzeitig die Groteske als Stiloption des Diktatorenromans 122 ankündigt (ebd.): [T]ras de una guerra en que sucumban unos cuantos miles de indios infelices, hay que asaltar el poder, espada en mano, y fundar una tiranía, en los primeros años apoyada en un ejército formidable y en la carencia de límites del poder, que se transformará en poco tiempo en una dictadura [...] con sus periodistas de la oposición presos cada quince días, sus destierros de los jefes contrarios, sus confiscaciones de los bienes enemigos y sus sesiones tempestuosas de las Cámaras disueltas a bayonetazos, todo el juego. Um Durchschlagskraft zu gewinnen, bedarf jede Machtergreifung neben militärischer und politischer Strategie, neben Entrechtung und Enteignung auch effektiver Propagandainstrumente. Das ist die wenig beachtete Nuance in Fernández’ Regime-Entwurf, der angefangen von den ‚inhaftierten Oppositionsjournalisten‘ eine Erwägung anstellt, deren volle Pertinenz erst das 20. Jahrhundert enthüllen wird: Herrschaft, so besagt es Harold A. Innis’ oben aufgegriffene Kulturtheorie, 123 ist in erster Linie Herrschaft über Kommunikationsmittel, deren Besitz Wissensverteilung und gesellschaftliche Hierarchien regelt. Im Maschinenzeitalter, in dem Silvas Protagonist seinen „plan“ (DS 365) verwirklichen will, gilt sogar die verschärfte These, die Friedrich Kittler vertritt und der zufolge „die wahren Kriege nicht um Leute oder Vaterländer gehen, sondern Kriege zwischen verschiedenen Medien, Nachrichtentechniken, Datenströmen sind.“ 124 121 Die generelle Karikatur des Diktatorentypus ist allemal stichhaltiger als die realhistorische Konkretion; es scheint daher sekundär, ob Fernández’ Machtphantasie das radikalliberale Regime der Constitución de Rionegro (1863) brandmarkt oder im Gegenzug die Reaktion unter dem Dichterpräsidenten Rafael Núñez (1880-1894) persifliert. Wie Remedios Mataix („De la parodia a la alegoría“, 131) betont, trifft Silvas sarkastische Abrechnung, wenn überhaupt, alle politischen Lager im Kolumbien des ausgehenden 19. Jahrhunderts. 122 Zur Groteske als gattungskompatibler Facette des lateinamerikanischen Diktatorenromans, der im 19. Jahrhundert freilich nur Vorläufer wie etwa Esteban Echeverrías Erzählung El matadero kennt, vgl. einschlägig Christian Wehr, „Allegorie - Groteske - Legende: Stationen des Diktatorenromans“, in: Romanische Forschungen 117/ 3 (2005), 310-343. 123 Systematisch untersucht Innis die Beziehung zwischen Mediendominanz und Machtausübung 1950 in Empire and Communications; siehe ferner Innis, Bias of Communication und das Kondensat hierzu in Abschnitt I.4.2. 124 Friedrich A. Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, 6. 224 Globalisierungsnarrative um 1900 José Fernández ist sich dessen vollauf bewusst, weshalb er für die ungewisse Anfangsphase seiner Tyrannei eine Manipulation gewisser Presseorgane - „la necesaria propaganda hecha por diez periódicos“ (DS 367) - vorsieht, die den Privilegienmissbrauch der alten Eliten anprangern sollen. Solch harmlose „platonismos“ (ebd.) reichen selbstverständlich nur unter günstigen Voraussetzungen aus; andernfalls sind schwerere Geschütze aufzufahren, wozu neben Heeresgerät und Schlachtreihen auch das erweiterte Arsenal des Informationswesens zählt. Zur Aufwiegelung der ‚fanatischen Massen‘ beabsichtigt Fernández, ausgerechnet „la libertad de imprenta ilimitada que otorga la Constitución actual“ (DS 367) zu instrumentalisieren, um den korrupten Klüngel der Regierungsklasse mit einem Volksaufstand abzulösen. Ist sein Willkürstaat erst einmal installiert, sieht er einen kompletten Umbau des Landes vor, der nach Art kapitalistischer Industrienationen die Wirtschaftsleistung maximieren sowie sämtliche Bodenschätze und menschlichen Produktivkräfte abschöpfen wird (DS 369). Sobald die Haushaltsbilanz ausgeglichen ist, richtet sich alle Aufmerksamkeit auf die Dynamisierung der Handelspraktiken und die dafür nötige Optimierung der Infrastrukturen. Getreu Paul Virilios dromologischem Dekret setzt José Fernández vorwiegend auf die „Revolution des Transportwesens, das heißt den exponentiellen Anstieg der Geschwindigkeit der Massenkommunikationsmittel“ 125 , um die notorische Abhängigkeit seiner Heimat vom Ausland auf internationaler Bühne zu überwinden (DS 369): Llegará el día en que el actual déficit de los balances sea un superávit que se transforme en carreteras, en ferrocarriles indispensables para el desarrollo de la industria, en puentes que crucen los ríos torrentosos, en todos los medios de comunicación de que carecemos hoy y cuya falta sujeta a la patria, como una cadena de hierro, y la condena a inacción lamentable. Verbesserte Straßen und Eisenbahnlinien, neue Brücken und Leitungen erlauben die Mechanisierung der Agrar- und Bergbauindustrie, erleichtern ökonomische Transaktionen und begünstigen die Anwerbung hochqualifizierter Einwanderer aus Europa, die das wilde, doch fruchtbare Land urbar machen und in einen Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort verwandeln sollen (DS 369-372). Die futuristische Kapitale mit ihren „anchas avenidas y verdeantes plazoletas“ (DS 373) eifert selbstredend dem Paris des „Barón Haussman“ [sic] nach und bietet den Besuchern alle nur erdenklichen „refinamientos de confort“ (ebd.). Die Sanierung lässt auch den kulturellen Sektor nicht unberührt, zumal ihm als „flor de esos progresos materiales“ (DS 373) eine Repräsentationsaufgabe zuwächst. Eine Bildungsoffensive samt der Errichtung von Schulen, Bibliotheken und Theatern versieht das intendierte nation-building mit 125 Paul Virilio, „Fahrzeug“ [1975], in: Ders., Fahren, fahren, fahren…, übers. von Ulrich Raulff, Berlin: Merve 1978, 19-50, hier 24. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 225 einem Überbau, den „el desarrollo de un arte, de una ciencia, de una novela que tengan sabor netamente nacional y de una poesía que cante las viejas leyendas aborígenes, la gloriosa epopeya de las guerras de emancipación“ (DS 373) zusätzlich stützt. Genüsslich zelebriert Silvas Protagonist seinen Streifzug durch die Pathosformeln ideologisch interessierter Kunst, die sich seit der Independencia ungebrochener Beliebtheit erfreut und die De sobremesa nicht nur hier karikiert. Ähnlich augenzwinkernd strapaziert Fernández zudem das altbewährte Binom von Zivilisation und Barbarei, um die Domestikation der heimischen Natur und ihre industrielle Ausbeutung zu rechtfertigen. Die „[m]onstruosas fábricas“ (DS 372), die derart entstehen und einen unversiegbaren Warenwie Kapitalfluss generieren sollen, können aber erst in Betrieb gehen, nachdem schnaubende „locomotoras“, ein verzweigtes Netz der Telekommunikation und „rápidos vapores“ breite Schneisen in den Urwald geschlagen haben (DS 372): [V]ibrará en los llanos el grito metálico de las locomotoras que cruzan los rieles comunicando las ciudades y los pueblecillos nacidos donde quince años antes fueron las estaciones de madera tosca y donde, a la hora en que escribo, entre lo enmarañado de la selva virgen extienden sus ramas seculares las colosales ceibas, entrelazadas de lianas que trepan por ellas como serpientes y sombrean el suelo pantanoso, nido de reptiles y de fiebres. Como una red aérea, los hilos del telégrafo y del teléfono agitados por la idea se extenderán por el aire; cortarán la dormida corriente de las grandes arterias de los caudalosos y lentos ríos navegables, a cuya orilla crecerán los cacaotales frondosos, blancos y rápidos vapores que anulen las distancias y lleven al mar los cargamentos de frutos, y, convertidos éstos en oro en los mercados del mundo, volverán a la tierra que los produjo a multiplicar, en progresión geométrica, sus fuerzas gigantescas. Die unausgesetzte Produktion entfesselt eine Aggressivität, deren Emblem der allgegenwärtige Dampfausstoß ist und die sowohl der jungfräulichen Natur als auch dem „gesellschaftlichen Kontinuum“ zu Leibe rückt, wie nochmals Paul Virilios drastische Diagnose besagt: „Die Dampfmaschine ist eine Kriegsmaschine, sie destruiert bzw. dekonstruiert das gesellschaftliche Kontinuum.“ 126 Um den Kollateralschäden der sozialen Erosion vorzubeugen, plant Fernández sein „milagro de la transformación“ (DS 374) in einem Klima äußerster Repression durchzusetzen. Er skizziert die Errichtung einer „dictadura conservadora“ (DS 373), 127 die demokratische Mechanismen nur zum Schein duldet und sonst keinerlei Hehl aus ihrem „régimen sombrío 126 Virilio, „Fahrzeug“, 35. 127 Als realhistorische Vergleichsfolie bemüht José Fernández hier explizit die dictadura ilustrada von Gabriel „García Moreno“ (DS 373), der besonders in seiner zweiten Amtsperiode (1869-1875; zuvor 1861-1865) als ecuadorianischer Präsident ein repressives Regime installiert, um liberale Wirtschaftsreformen umzusetzen. 226 Globalisierungsnarrative um 1900 con oscuridades de mazmorra y negruras de inquisición“ (DS 374) macht. Gerade die rücksichtslose Despotie vermag jedoch die Sehnsucht des Volkes nach einem starken Mann, nach einem messianischen Führer zu befriedigen, der mit eiserner Hand alle Interessenskonflikte hinwegfegt und die Komplexitäten der Modernisierung einebnet. Allein so lässt sich ein ‚Volk im Kindesalter‘ („pueblo niño“, DS 375) zivilisieren, auf dass es eines Tages reichlich ‚Nervenspannung‘ („vigor de los nervios“, ebd.), ‚Muskelkraft‘ („músculos“, ebd.) und einen ‚ausgezeichneten Knochenbau‘ („osatura formidable“, ebd.) besitze. Es ließe sich noch Einiges mehr zur Metaphorik des Staatskörpers sowie allgemein zu Fernández’ totalitärer Fortschrittsutopie sagen, zumal sie die Exzesse lateinamerikanischer Entwicklungspolitik in einem abgründigen und dabei bekannten Vexierbild einfängt. Gegen ihre literarische Originalität wäre indes einzuwenden, dass sich ähnliche Umkehrungen bereits in anderen Romanen dekadenten Zuschnitts finden. Man denke an Gabriele D’Annunzios Il piacere (1889), wo die mitunter beeindruckende Vitalität des Andrea Sperelli auf die übliche Erschöpfung des Fin de Siècle trifft. In der Hauptsache knüpft Silva wohl aber an Maurice Barrès’ Romantrilogie Le culte du moi (1888-91) 128 an, wenn er seinen mimosenhaften Bonvivant wider Erwarten in kruden Aktionismus verfallen läss t. Bei Barrès und seinem Protagonisten Philippe mündet der Sinneswandel bekanntlich in einen unbedingten Patriotismus, der - sieht man einmal von den boulangistischen Umtrieben des Autors ab - im dritten Romanteil Le jardin de Bérénice (1891, nach Sous l’œil des barbares, 1888 und Un homme libre, 1889) zum Tragen kommt. Ebendaran ist auch zu ermessen, inwiefern De sobremesa die Konversionsfigur des französischen Gewährsmanns umakzentuiert und schlussendlich entwertet. In Silvas Roman vermittelt keinerlei Kausalität mehr zwischen vita contemplativa und vita activa, zwischen obsessivem Ich-Kult und der Aufopferung für das nationale Kollektiv. 129 José Fernández’ faschistoide Prophetie bleibt ebenso grundwie folgenlos, sie bleibt Stückwerk einer Episode, deren doppelt binnenfiktionale Einbettung nicht dazu angetan ist, eine stringente Teleologie zu entfalten. Schon als metaoder, je nachdem, metametadiegetisches Gedankenexperiment wird sie abrupt unterbrochen, sofern der frisch gekürte Machthaber, jüngst im Amt, bereits abdanken und zum weisen Dichterphilosophen mutieren will (DS 376). Kürzer noch fällt die Halbwertszeit im Ereigniszusammenhang des Tagebuchberichts aus, wo gleich darauf wieder Fernández’ Seelenleidem in den Vordergrund rückt. Die Erhebung zum machiavellistischen Alleinherrscher gibt sich selbst als abstruse Anwandlung zu erkennen, als Farce, die in der 128 Vgl. Maurice Barrès, Le culte du moi [1888-91], Bd. 1-3, Paris: Plon 1966. 129 Cano Gaviria („Mímesis y ‚pacto biográfico‘“, 618ff.) vermerkt die dichte Intertextualität, die De sobremesa mit Barrès’ Romantrilogie und Essayistik verbindet. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 227 abendlichen Lesung zusätzlich diskreditiert wird. Denn kaum hat der Vortragende die Sequenz beendet, wendet er sich mit einem vielsagenden Nachsatz an seine Zuhörer und besonders an den befreundeten Arzt: „- Yo estaba loco cuando escribí esto, ¿no, Sáenz? “ (DS 377) Eine lapidare rhetorische Frage bereitet dem Heilsplan ein jähes Ende und verweist ihn in den Bereich jener hysterischen Einbildungskraft, die dem Protagonisten generell zu schaffen macht. Weder seriöse Politik noch triumphale Selbstbestätigung, sondern verzweifelte Megalomanie spricht aus der Vision. Folgerichtig verlässt Fernández nach deren Niederschrift sein Gebirgsrefugium, um in eine neue „orgía de movimiento incesante“ (DS 379) einzutauchen und die Spirale der Stimulationen weiterzudrehen. Entspringt die Diktatorenphantasie damit zuallererst einem Kompensationsbedürfnis, so gilt das nicht minder für deren mediokratische Ausrichtung. José Fernández appliziert auf seine lateinamerikanische Heimat lediglich das, was für ihn, den Globetrotter, längst Wirklichkeit und Normalität geworden ist: Der andauernde Gebrauch medialer Vorrichtungen verstetigt die Wahrnehmungsschocks, die seinen „Reizschutz“ 130 größtenteils schon zersetzt haben. Es gleicht darum eher einer traumatischen Reaktion, wenn er noch in der Vorstellung absoluter Verfügungsgewalt etwas zur Staatsräson erklärt, was sich im Grunde seiner Verfügung bereits entzieht. Für ihn - als erzähltem und erlebendem Subjekt - gibt es kein Entkommen mehr aus den ubiquitären Kommunikations- und Verkehrsnetzen. Er ist längst zu Freuds „Prothesengott“ 131 geworden, der auf der Suche nach Erweiterungen seiner selbst sich zwischenzeitlich sogar als technokratischer Erlöser seiner Landsleute wähnt. Das intertextuelle und transkulturelle Rauschen der Diskurse, das Silvas Held als Verfasser seines journal intime einerseits virtuos handhabt, ist andererseits ein vielfach vermitteltes Rauschen, das stets den Keim potentieller Entfremdung in sich trägt. Es ist mit Friedrich Kittlers Begriffsprägung ein „unmenschliches Rauschen“ 132 , das den Bewusstseinsapparat mit Informations- und Sinnesattacken in Schach hält. So gewendet, erscheint José Fernández als Figur, in der sich souveräne 130 Die traumatische Durchbrechung des „Reizschutzes“ erörtert Sigmund Freud in Jenseits des Lustprinzips [1920], in: Ders., Studienausgabe, Bd. 3, 217-272, bes. 237ff. 131 Der suggestive Begriff signalisiert in Sigmund Freuds Unbehagen in der Kultur (Studienausgabe, Bd. 9, 222) die Supplementarität aller Technik: „Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.“ 132 So nochmals Friedrich Kittler (Aufschreibesysteme, 234) zum zweiten großen Medienumbruch um 1900, dessen Leittechniken (Grammophon, Schreibmaschine, Film) der Druckschriftlichkeit das Monopol der Datenverarbeitung streitig machen: „Es gibt um 1900 keine Diskursproduktionsinstanz, die den unartikulierten Anfang von Artikulation macht. Es gibt nur ein unmenschliches Rauschen als das Andere aller Zeichen und Schriften.“ 228 Globalisierungsnarrative um 1900 Äußerung und willenlose Entäußerung, Aktivität und Passivität, intellektuelle Selbstermächtigung und psychophysische Ohnmacht unentwegt kreuzen. Silvas Roman bezieht just daraus seine originelle Offenheit, weil er sich weder Technikbegeisterung noch Technikkritik verschreibt, sondern beides den sprunghaften Bedeutungsverschiebungen von Parodie und Satire aussetzt. III.6 Beder Entgrenzung, Entder Beschleunigung: Silvas globalisierte Innerlichkeit Auch José Fernández ist nach wie vor auf dem Sprung, verlässt er doch mit dem Ende des Tagebuchs die Hauptstädte des 19. Jahrhunderts Paris und London, um sich in New York, dem künftigen Nabel der Welt, dem „hardwork“ (DS 309/ 536) des Turbokapitalismus zu widmen. Er kann gar nicht anders, als wiederum aufzubrechen, sich an Umschlagplätze zu begeben und nun die Alte Welt zu verlassen, „a cruzar las olas verdosas del enorme Atlántico para ir a fondear en la rada donde se alza, con el eléctrico fanal en la mano, la estatua de la Libertad“ (DS 545). Die geopolitische Gewichtsverlagerung - vom morschen Europa ins aufstrebende Nordamerika - demonstriert zugleich eine Organisation der Raum- und Zeitverhältnisse, die in De sobremesa nicht erst zum Abschluss des eingelegten Narrativs greift. Von Beginn an etablieren sich Strukturmuster, so dass der Mobilität und Temposteigerung, die Fernández’ Lebenswandel gemeinhin kennzeichnen, die gleichrangigen Komplemente der Einhegung und des Innehaltens zur Seite treten. Um eine Identität zurückzugewinnen, die sich im Strudel der Sensationen, Distanzen und Daten aufzulösen droht, entsteht der Wunsch, sich abzusondern, sich in Kunstwelten einzurichten oder völlig ins Reich zweckfreier Sprache und Imagination auszuweichen. Auf der Zeitachse entspricht dem der Versuch, Kontinuität herzustellen und nirgendwo sonst als im diaristischen Schreib- und Erzählprozess die eigens gesuchte Flüchtigkeit zu retardieren. Da es früher oder später in klaustrophobische Lähmung führen muss, ist aber auch das Streben nach Interiorisierung und Entschleunigung ein heikles Unterfangen, das nicht zuletzt den schweren Stand indiziert, den der Romancier Silva im literarischen Feld seiner Zeit gehabt hätte - und ob der verpassten Veröffentlichung von De sobremesa niemals hatte. III.6.1 Modernes Babylon: Von Nicht-Orten und Nicht-Zeiten Von außen betrachtet fehlt José Fernández vor allem eines: eine chronologisch rekapitulierbare Erinnerung, wie sie jeder Subjektwerdung zugrunde liegt und wie sie meist mit einem festen Raum, einer Herkunft oder zumindest einem Ausgangspunkt verbunden ist. Weil sein Alltag derlei Sta- Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 229 biliät fortwährend leugnet, nimmt es nicht wunder, dass man De sobremesa als ‚nomadisches Narrativ‘ rubrizierte, 133 womit sich Fernández selbst allerdings nicht ohne Weiteres abgefunden hätte. Um zuverlässige Koordinaten seiner Vergangenheit zu verifizieren, hebt er zu einer Persönlichkeitsstudie an, die in bester naturalistischer Manier hereditäre Voraussetzungen seines Daseins beleuchtet. Sobald sich die betreffende „plancha de anatomía moral“ (DS 427), die eine Zwittergeburt „de dos seres de opuestos orígenes“ (ebd.) - dem verkopften spanischen Vater und der mütterlichen Linie amerikanischer Genussmenschen - zu Tage fördert, jedoch als Zitat aus Paul Bourgets Roman André Cornélis (1887) entpuppt, erscheint die biographische Rekonstruktion in wenig glaubwürdigem Zwielicht. Sie zerfällt in kleinteilige Befindlichkeiten, beigebrachte Zitate und momentane Stimmungen, die sich keiner positivistischen Ableitbarkeit fügen. Fernández geriert sich als Charakter, der gerade nicht aus einem Holz geschnitzt ist und der sich der Vermessung mit Standardparametern wie Geburt oder Milieu, wie familiärer, historischer oder genetischer Prägung widersetzt. Raum und Zeit taugen daher nicht mehr als Konstanten existentieller Selbstversicherung, wie allein die überstürzten Ortswechsel des weltgewandten Protagonisten signalisieren. Stereotyp begegnet er jedem unvorhergesehenen Ereignis und jeder Gefühlsaufwallung mit der Veränderung seiner Umgebung. Wie in El Periquillo Sarniento nimmt auch hier der autodiegetische Lebensbericht erst als Reisebericht Gestalt an, wobei in De sobremesa selbst gröbste Orientierungsmarken wie Nähe und Ferne, Heimat und Fremde, Peripherie und Zentrum ihre distinktive Bedeutung eingebüßt haben. Angesichts solcher Nivellierung ließe sich das romaninterne Tagebuch schlechterdings als Karto-Graphie von Nicht-Orten begreifen. Eingedenk des Anachronismus, der ihm in diesem Kontext anhaftet, umreißt Marc Augés schillernder Begriff 134 ziemlich genau die Rast-, Halt- und Maßlosigkeit, die Fernández auf seinem Weg durch europäische und amerikanische Metropolen, durch Bahnhöfe und Häfen, durch Firstclass-Hotels, Vergnügungstempel und fremde Betten treibt. Denn obschon der französische Anthropologe die Ausdehnung der non-lieux - wozu er Metrostationen, Flughäfen, Schnellstraßen, daneben Hotelketten, Ferienhäuser, Einkaufszentren oder Flüchtlingslager, aber auch Kabelnetze und Datenautobahnen zählt - vornehmlich in den postmodernen bzw. ‚übermodernen‘ Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts ansiedelt, zeugt bereits De sobremesa von jenem Überfluss an Eindrücken, Ereignissen und Raum, der derlei Durchgangs- 133 So der dichte Beitrag von Alejandro Mejías-López, „‚El perpetuo deseo‘: esquizofrenia y nomadismo narrativo en De sobremesa, de José Asunción Silva“, in: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos 31/ 2 (2007), 337-357. 134 Vgl. die breit rezipierte Studie Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil 1992, 97-143. Prägnant resümiert findet sich Augés kultursoziologisches Konzept bei Matei Chihaia, „Nicht-Orte“, in: Jörg Dünne / Andreas Mahler (Hg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin/ Boston: De Gruyter 2015, 188-195. 230 Globalisierungsnarrative um 1900 orten eigen ist und der doch nie jemandem eigen wird. Kaum vorüber, verwandelt sich das Geschehene an den typischen non-lieux schon wieder in disparate Vergangenheiten, die sich ihrerseits unaufhörlich anhäufen. Die Hochburgen des Transits verschränken auf eigentümliche Weise Individualisierung und Uniformierung und vereiteln, wie Walter Benjamin bereits für das 19. Jahrhundert annimmt, die Verfestigung sinnstiftender Erfahrungen. 135 Das bekommt José Fernández zu spüren, sofern auch er den Automatismen - den modischen Destinationen, dem Verhaltenskodex und dem meist anglophonen Gestammel - der internationalen Upperclass folgt. Er kann und will nicht davon Abstand nehmen, weiterhin seinen Part als neureicher Parvenu „en el gran mundo parisiense y en la high life cosmopolita“ (DS 515) zu spielen. Dank seiner „lucidez de analista“ (ebd.) weiß er indes, dass dies, anders als prätendiert, nicht Zugehörigkeit bedeutet, sondern in Wahrheit der Vereinzelung Vorschub leistet. Die ewiggleichen Cafés und exquisiten Restaurants, die Luxusboutiquen und die Theater- oder Opernhäuser, in denen Liebesbekenntnisse zu Smalltalk verkommen und in denen Kunst zur bloßen Ostentation feilgeboten wird, 136 erweisen sich in dieser Hinsicht als Konglomerationen von Nicht-Orten, unter deren aufpolierter Patina Einsamkeit und elitäre Assimilation regieren. 137 Provisorisch und beliebig austauschbar, entbehren non-lieux genau der geschichts-, gemeinschafts- und identitätsbildenden Qualitäten, die Augé hingegen der Klasse der lieux anthropologiques zuspricht. 138 Grab- und Denkmäler, Hauptstädte oder Heiligtümer, die Beispiele für anthropologische Orte abgeben, dienen als Stätten rituellen Gedenkens, da sie die Ursprünge und Eigenarten einer Kultur symbolisieren. Der Schwund derart verbindlicher Topographien, so zeigt De sobremesa, macht sich am eklatantesten in den urbanen Ballungszentren bemerkbar, in denen die simulatorische Vielfalt der Nicht-Orte rasch um sich greift. Gerade Paris übt derart einen hochgradig ambivalenten Einfluss auf Fernández aus. Als „Babilonia moderna“ (DS 379), das in „efluvios de lascivia“ (ebd.) und „gérmenes de enfermedades mentales“ (ebd.) versinkt, 135 Die Verkümmerung der Erfahrung zur Sensation und zum Chockerlebnis erkundet Walter Benjamin u.a. in „Über einige Motive bei Baudelaire“ [1939], in: Ders., Gesammelte Schriften (Werkausgabe), Bd. I.2, bes. 609-618. 136 Eine hierfür symptomatische Episode enthält der Tagebucheintrag vom 28. April (DS 502-512), in dem Fernández seine Eroberung der US-amerikanischen Millionärsgattin Nelly schildert: Zum ersten Kontakt kommt es bei einem Pariser Nobel-Juwelier, wo man rhetorische Belanglosigkeiten und ästhetische Gemeinplätze abspult, deren erotische Intention klar zu Tage tritt. Das Ambiente des Schmuckgeschäfts stimuliert dabei einen schnellen Konsum, der sich im baldigen Geschlechtsakt erstmals erfüllt und daraufhin in einer rein sexuellen Affäre fortsetzt. 137 Augés Bestandsaufnahme lautet bündig (Non-lieux, 130): „L’espace du non-lieu ne crée ni identité singulière, ni relation, mais solitude et similitude.“ 138 Vgl. Augé, Non-lieux, 57-95. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 231 ist es der geeignete Schauplatz sowie das metonymische Sinnbild für seine Exzesse. 139 Raum und Zeit scheinen gleichsam aufgehoben, wenn er in Paris von Orgie zu Orgie taumelt, wenn er sich dort lust- und opiumtrunken am Mordhandwerk versucht, wenn er nach der Rückkehr an die Seine alle Hebel auf der Suche nach Helena in Bewegung setzt und zuletzt wieder einer Libertinage frönt, die ihn umso unbefriedigter zurücklässt. Der entfesselte Lebensrhythmus der französischen Metropole, 140 den er in vollen Zügen genießt, zwingt Fernández gleichzeitig in die Knie und raubt ihm zweimal um den Jahreswechsel tagelang die Besinnung (DS 461- 464 / 543-545). Nicht einmal in der Rolle des Flaneurs vermag er sich noch auf den Beinen zu halten, weil das Bedürfnis, sich in der Menge zu verlieren - „[de] perderme por unos minutos en el tumulto humano, olvidarme de mí mismo“ (DS 461) - nur einen „grado más de angustia, de terror y de desesperación“ (DS 463) provoziert und unweigerlich in eine „neuralgia violenta“ (DS 464) mündet. Die Pariser Boulevards, wo er seinen ersten Zusammenbruch erleidet, flirren in einem Wirbel der Perzeptionen, der Arm und Reich, Bedürftigkeit und Verschwendung, Gefühls- und Warenwelt brutal verschweißt. 141 Die unheilvolle Atmosphäre pulsierender Anonymität, die hier den öffentlichen Raum durchweht und die den Protagonisten einerseits unwiderstehlich anzieht, verstärkt andererseits ein tiefsitzendes Unbehagen, das ihm seit längerem zusetzt (DS 446f.): Desde el momento en que pisé esta ciudad me ha invadido un malestar indescriptible. No es una impresión moral, porque, serenado mi espíritu por la idea de buscar a Helena y confortado por la esperanza de encontrarla, me siento mejor; no es una enfermedad porque ningún síntoma externo la traduce, ni lo acompaña dolor alguno, y mi cuerpo rebosa de vida. Tengo como una plétora de fuerza disponible que no encuentro cómo gastar. El día de antier lo pasé todo en violentos ejercicios físicos, equitación, ciclismo, box, florete, que en vez de fatigarme, le dieron a mis músculos una sensación de fuerza precisa que, por absurda que sea la imagen, se me ocurre comparar con la que tendría una máquina bien construida si tomara conciencia de la solidez de sus engranajes de acero y de la potencia del motor que los hace funcionar. 139 Die Assoziation der französischen Hauptstadt mit Wollust und Krankheit weist Ende des 19. Jahrhunderts schon eine beachtliche Tradition auf, die in Hispanoamerika z.B. Sarmiento, Darío oder Gómez Carrillo aufnehmen. Silvas babylonisches Paris steht daher auch in Verdacht, eventuell nur ein topisches oder gar ironisches Zitat zu sein. 140 Die buchstäbliche Explosivität des Pariser Polit- und Kunst-Lebens kommentiert Fernández mit gewohntem Sarkasmus; siehe in diesem Kontext DS 481: „Ayer saltó otro edificio destrozado por una bomba explosiva, y la concurrencia mundana aplaudió en un teatro del bulevar hasta lastimarse las manos, La Casa de Muñecas, de Ibsen, una comedia al modo nuevo [...].“ 141 José Fernández’ erstem Kollaps, der zu Sylvester im widersprüchlichen Anblick abgerissener Prostituierter und exquisiter Boutiquen statthat, widmet Pera (Modernistas en París, 137ff.) eine eingehende Besprechung. 232 Globalisierungsnarrative um 1900 Es ist das Unbehagen in und an einer überzüchteten Kultur, 142 dem José Fernández’ Panikattacke Ausdruck verleiht. Von äußerster Angst ergriffen, strotzt er zugleich vor Energie, was sich in einer Hyperaktivität manifestiert, die keine Erschöpfung mehr kennt. Als ‚Räderwerk‘ und leistungsstarker ‚Motor‘ sieht er sich körperlich gewissermaßen selbst einer Technik anverwandelt, die er üblicherweise zur Zerstreuung nutzt und die ihn nun unter psychischen Überdruck setzt. Der „malestar indescriptible“, der ihn peinigt, ist das generalisierte Symptom einer Entwurzelung, die von der Großstadt auf den Einzelnen überspringt. Im (Irr-)Glauben, Raum und Zeit nach Gutdünken manipulieren zu können, verkennt Fernández, dass ihm beides entgleitet und dass er sich in ephemeren Abenteuern aufreibt, die genauso gut in Paris wie in London oder später in New York, „en el engranaje vertiginoso de los negocios yankees“ (DS 309), statthaben können. Als Kehrseite des prononcierten Hedonismus tut sich deshalb eine Desorientierung kund, die zwischen Hier und Dort, zwischen Einst und Jetzt, zwischen der „complicación de la vida moderna más fastuosa“ (DS 337) und der „selva donde se ocultan los últimos restos de la tribu salvaje“ (DS 310) nicht mehr trennscharf zu unterscheiden erlaubt. Scheinbar überall und im Grunde nirgendwo bei sich, bleibt der transatlantische 143 Held unbehaust. Umso verständlicher erscheint daher seine gegenläufige Sehnsucht, die abhandengekommenen lieux anthropologiques - auf welche Weise auch immer - zu substituieren. Um sich einen eigenen Ort zu erhalten, ist er jedoch gezwungen, sich abzuschotten und sich in eine Enklave persönlicher Fetische einzuschließen. Der scharfe Kontrast zwischen Außen und Innen, zwischen globaler Entgrenzung und Beschleunigung sowie einer versuchsweise entschleunigten Privatheit avanciert so in De sobremesa zur maßgeblichen Axiomatik des Erzählten und des Erzählens. In heterotopen 142 Zum Dilemma raumzeitlicher Entgrenzung, an dem Fernández laboriert, findet sich in Freuds Abhandlung zur Unbehagen in der Kultur (Studienausgabe, Bd. 9, 218f.) folgender treffender Befund: „In den letzten Generationen haben die Menschen außerordentliche Fortschritte in den Naturwissenschaften und in ihrer technischen Anwendung gemacht, ihre Herrschaft über die Natur in einer früher unvorstellbaren Weise befestigt. Die Einzelheiten dieser Fortschritte sind allgemein bekannt, es erübrigt sich, sie aufzuzählen. Die Menschen sind stolz auf diese Errungenschaften und haben ein Recht dazu. Aber sie glauben bemerkt zu haben, dass diese neu gewonnene Verfügung über Raum und Zeit, diese Unterwerfung der Naturkräfte, die Erfüllung jahrtausendealter Sehnsucht, das Maß von Lustbefriedigung, das sie vom Leben erwarten, nicht erhöht, sie nach ihren Empfindungen nicht glücklicher gemacht hat.“ 143 Dass dies wörtlich zu nehmen ist, unterstreicht José Fernández, indem er mehrfach eine zwischen Europa und Amerika flottierende Zwitterkultur beansprucht, die teils groteske Auswüchse treibt. So notiert er vor seinem Kuraufenthalt in den Schweizer Alpen (DS 362, Hervorhebung K.H.): „He escrito a París pidiendo que me manden a Interlaken una multitud de cosas que me hacen falta, y voy mañana a treparme a mi picacho sin llevar más libros que unos estudios de prehistoria americana escritos por un alemán y unos tratados de botánica.“ Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 233 und heterochronen Modellierungen bestimmt er das binnenfiktionale Handeln ebenso wie das rahmenfiktionale Schreiben des José Fernández und verlängert sich in den prekären Zeit-Raum literarästhetischer Innovationen, den Silvas Roman auslotet. III.6.2 Heterotope Klausuren der Subjektivität Der Kollaps auf offener Straße kommt nicht aus heiterem Himmel, mehrere proleptische Szenen kündigen den Scheitelpunkt von Fernández’ Desintegration an. Überhaupt implizieren zwischenmenschliche Kontakte für ihn ein Gefahrenpotential, das sich jeweils in verströmendem Enthusiasmus ankündigt, dann in allmählicher Ernüchterung kenntlich wird und schließlich in handfester Aversion gegen die uniforme Erlebnisgesellschaft - deren Teil er selbst ist - durchbricht. Mithin ist es nur konsequent, wenn er Schutzschilde errichtet, um sich von der Umwelt abzukapseln. Er absolviert eine regelrechte Therapie der Verinnerlichung, die De sobremesa jenen Anstrich selbstverliebter Nabelschau verleiht, den viele Romane der Décadence teilen. 144 Heterotopien I: Musealisierte Leere Zuflucht vor den grassierenden Nicht-Orten findet José Fernández keineswegs mehr an Stätten kollektiver Integration, wie sie Marc Augé als lieux anthropologiques charakterisiert. Es sind stattdessen subjektivierte Heterotopien, in welche er sich zu Selbstheilungszwecken zurückzieht und die er bisweilen eigens errichten lässt. Michel Foucaults prominentes Theorem 145 bietet sich hier umso mehr an, als Silvas Protagonist tatsächlich ‚andere Räume‘ - „Des espaces autres“ ist Foucaults einschlägiger Vortrag überschrieben - aufsucht, um sich abseits, doch nicht gänzlich außerhalb sozialer Bezüge gewisse Asyle der Innerlichkeit zu schaffen. Als materialisierte Utopien, deren Zugang meist eine markante Schwelle reguliert, können Heterotopien mehrere Orte in sich vereinen und gehen oft mit einer Aufhebung der Chronologie einher („hétérochronies“), mit Formen zeitlicher Akkumulation (z.B. im Museum oder in der Bibliothek) oder Verflüchtigung wie etwa auf dem Jahrmarkt. Vor allem aber reagieren Heterotopien symptomatisch auf die Gemein- und Gesellschaften, denen sie zugehören und 144 Die räumliche Interiorisierung in De sobremesa beleuchten ebenfalls die Lektüren von Consuelo Triviño Anzola, „La mirada interior: espacios en De sobremesa“, in: Trinidad Barrera (Hg.), Modernismo y modernidad en el ámbito hispánico, Sevilla: Universidad Internacional de Andalucía 1998, 187-194 sowie Pera, Modernistas en París, 142-155. 145 Michel Foucault, „Des espaces autres“ [1967/ 1984], in: Ders., Dits et écrits, Bd. 4, 752- 762. Ein erhellendes Resümee des Heterotopie-Konzepts aus literaturwissenschaftlicher Sicht findet sich bei Rainer Warning, „Einleitung: Heterotopie und Epiphanie“, in: Ders., Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München u.a.: Fink 2009, 11-41. 234 Globalisierungsnarrative um 1900 die sie zugleich repräsentieren wie negieren und unter Umständen sogar konterkarieren. 146 Dass es in erster Linie Phasen der Krise oder der Deviation sind, die Heterotopien verräumlichen, demonstriert nun gerade De sobremesa. Zwar handelt es sich darin weder um rituelle Segregationen, wie sie sogenannte primitive Kulturen (u.a. für Schwangere oder Greise) praktizieren, noch um Anomalien, die sogenannte höherentwickelte Zivilisationen aus ihrer Mitte (in Kliniken, Altenheime, etc.) verbannt wissen wollen. 147 Um die korrosiven Außeneinflüsse auf Distanz zu halten, begibt sich José Fernández dennoch in Bereiche, auf die das Gemeinwesen keinen direkten Zugriff hat. Anschauungsmaterial hierfür bietet sowohl das Alpenexil im Berner Oberland, das seine urbanen Perversionen korrigieren soll, als auch die erotisch aufgeladene Faszination für Gewächshäuser, 148 für abgeschiedene Lokalitäten und für Hotels, für Arztpraxen, für Orte des Spiels und des Rausches sowie für Friedhöfe. Jeweils geht es um Fluchtbewegungen, die den aussichtslosen Versuch topographischer Irrealisierung unternehmen und darum a priori zum Scheitern verurteilt sind. Entsprechend kurz währen die Momente der Rekonvaleszenz, die Fernández in seinen vermeintlich frei gewählten Räumen des Anderen vergönnt sind. Ihr kompensatorischer Effekt bricht allzu schnell in sich zusammen, nicht zuletzt weil ihn der versierte Intellektuelle selbst durchschaut. Mehr Resistenz verspricht hingegen eine weitere Klasse der Heterotopien, deren überbordende Gegenständlichkeit bereits im Kontext der transkulturellen Diskursmontage Erwähnung fand. 149 Die Rede ist von den mannigfaltigen Intérieurs, die De sobremesa in seriellen Tableaus durchziehen. Sie fungieren als hermetisch verschlossene Mikrokosmen, in denen Fernández sich aufgehoben wähnt und die umgekehrt sein Schutzbedürfnis signalisieren. Ausgestattet oder, besser, überladen mit preziösen Möbeln, mit Kunstwerken und mit filigranem Zierrat, entfalten sie eine Physiognomie des Ortes, deren ausladende Beschreibungen mit Blick auf die romaneske Vermittlung - wie oben erwähnt - auch als subversive Zita- 146 Prägnant definiert Foucault („Des espaces autres“, in: Dits et écrits, Bd. 4, 755f.) Heterotopien folglich als „des sortes de contre-emplacements, sortes d’utopies effectivement réalisées dans lesquelles les emplacements réels […] que l’on peut trouver à l’intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés, des sortes de lieux qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effectivement localisables.“ 147 Vgl. Foucault, „Des espaces autres“, in: Ders., Dits et écrits, Bd. 4, 756f. 148 Vom Arzt Sáenz schon anfangs als ungesund, da artifiziell angeprangert (DS 300, 311), bietet der „invernáculo“ später das Setting, in dem Fernández mitten in Paris seine Jugendfreundin Consuelo verführt. Umgeben von gezüchteten Imitaten der lateinamerikanischen Flora schwelgt er dabei in Nostalgie, unter der sich hauptsächlich sexuell interessierte persuasio verbirgt (DS 522f.). 149 So in III.4.2 („Hypertrophe Intertextualität und parodistischer Diskursverschleiß“). Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 235 tionen der Salonkultur lesbar werden. In der Geschichte des angeschlagenen Weltenbummlers ist indes die heterotope Dimension ernst zu nehmen, die dem Intérieur als „Etui des Privatmanns“ und damit als Krisenherd moderner Subjektivität zukommt. Walter Benjamin bemerkt dazu in seiner Skizze „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“: Das Interieur ist die Zufluchtsstätte der Kunst. Der Sammler ist der wahre Insasse des Interieurs. Er macht die Verklärung der Dinge zu seiner Sache. Ihm fällt die Sisyphosaufgabe zu, durch seinen Besitz an den Dingen den Warencharakter von ihnen abzustreifen. Aber er verleiht ihnen nur den Liebhaberwert statt des Gebrauchswerts. […] Das Interieur ist nicht nur das Universum, sondern auch das Etui des Privatmanns. Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur werden sie betont. 150 Mit der Anhäufung und Idealisierung verschiedenster Artefakte will auch José Fernández „Spuren hinterlassen“, Spuren eines Selbst, das mental bedenkliche Auflösungserscheinungen zeigt. Den kommerziell infizierten (Kunst-)Objekten 151 gedenkt er immerhin einen „Gebrauchswert“ als existentielle Projektionsflächen abzuringen. Gemäß Benjamins Prognose sieht er sich dabei aber einer „Sisyphosaufgabe“ gegenüber, weil ihm der Abglanz ausgestellter Dinge keine in sich gefestigte Identität zurückstrahlt. Vielmehr formieren sich so besagte Heterotopien des Inneren, die mittels materieller Abschirmung emotionale Intimität und epistemologische Gewissheit restituieren sollen. In ein und demselben Raum konvergieren hier - Foucaults Kriterien zufolge 152 - diverse Orte und Zeiten, Geographien und Epochen, Kulturen und Stile, über die der Protagonist in falscher Hybris zu verfügen glaubt. Statt individuelle Bewohnbarkeit oder gar Geborgenheit herzustellen, wie er insgeheim hofft, erweisen sich die eigenen vier Wände jedoch schnell als Illusion. Krampfhaft sucht Fernández die Zeit, die sich in seinem mondial und medial verstrickten Alltag permanent selbst überholt, mittels Musealisierung zu arretieren. Aus solcher Gegenweltlichkeit erwachsen in seinem Fall allerdings nur regressive Paralleluniversen, in denen der Mensch vielleicht nicht ort- und heimatlos, aber einsam und solipsistisch in sich ge- 150 Benjamin, „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, 178. 151 Zur Kommerzialisierung der Kunst, die De sobremesa in zahlreichen Szenen ausstellt, vgl. konzise Peter Elmore, „Bienes suntuarios: El problema de la obra de arte en De sobremesa, de José Asunción Silva“, in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana 43-44 (1996), 201-210. 152 „L’hétérotopie a le pouvoir de juxtaposer en un seul lieu réel plusieurs espaces, plusieurs emplacements qui sont en eux-mêmes incompatibles.“ (Foucault, „Des espaces autres“, in: Ders., Dits et écrits, Bd. 4, 758). Den Heterotopien des Museums und der Bibliothek schreibt Foucault überdies die Fähigkeit zu (ebd., 759), „d’enfermer dans un lieu tous les temps, toutes les époques, toutes les formes, tous les goûts, […] de constituer un lieu de tous les temps qui soit lui-même hors du temps, et inaccessible à sa morsure […].“ 236 Globalisierungsnarrative um 1900 kehrt bleibt. Das Faszinsosum des Eigenheims offenbart auf diesem Weg seine morbide Kehrseite, deren drastische Minimalformel sich ebenfalls in Walter Benjamins Paris-Aufsatz findet: „[D]er Versuch des Individuums, auf Grund seiner Innerlichkeit mit der Technik es aufzunehmen, führt zu seinem Untergang.“ 153 Um seinen Untergang zu vermeiden, muss Fernández dem Selbsteinschluss regelmäßig gegensteuern, muss er die Enge seiner antiquarischen Domizile verlassen und wohl oder übel in die Gesellschaft, d.h. in die Beliebigkeit sich indifferent ablösender Nicht-Orte zurückkehren. Das Finale des Tagebuchs (DS 541-548) hat diesbezüglich exemplarische Beweiskraft, da es den Teufelskreis im Ganzen illustriert und sowohl Einblick in die behüteten Intérieurs gewährt als auch den unumgänglichen Abschied davon nachvollzieht. Ohne neuerlich auf das ästhetizistische Dekor einzugehen, 154 sei die Aufmerksamkeit sogleich auf den „aislamiento“ gelenkt (DS 541), in dem sich Silvas Held wiederum zu lange eingerichtet hat. Wie zu erwarten, beflügelte die Isolation noch das Helena-Phantasma, dessen Insignien er auf einem vorerst letzten Gang durch sein Pariser Nobelappartement abschreitet. Worauf er stößt, sind gleichwohl nicht zärtlich aufbewahrte Erinnerungsstücke; ja selbst die Melancholie des innig, obgleich aussichtslos Liebenden verfinstert sich nochmals in der niederschmetternden Atmosphäre. Es ist die Unausweichlichkeit des Zerfalls, die über den weltweit akquirierten Kostbarkeiten schwebt und die zwangsläufig auch José Fernández ergreift (DS 541f.): Ayer, al abrir la puerta del cuarto donde están los retratos [...], un olor extraño y nauseabundo me impidió entrar. Estaba oscura la tarde y el tono sombrío del cuero de Córdoba que cubre las paredes acrecentaba la oscuridad de la estancia. [...] El nauseabundo olor era el de las últimas flores pedidas a Cannes, que, al descomponerse, habían podrido el agua de los vasos. Olía aquello a sepulcro, y los montones de hojas y de pétalos secos, de ramillos negros, de cálices, duros los unos y acartonados como momias, podridos los otros por la humedad, yacían en los floreros de Murano y en las jardineras sobre el mármol cubierto de polvo de la mesa; las rosas desprendidas del tallo y negras casi, sugerían la idea de un cementerio de flores. 153 Benjamin, „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, 178. 154 Neben den oben genannten Untersuchungen zur Dekadenzästhetik in De sobremesa sei nochmals auf Ericka Beckmans („Silva y la economía transatlántica del lujo“, 757ff.) Fokussierung der Intérieurs unter sozioökonomischen Gesichtspunkten sowie die Deutungen der psychisch kodierten Raumsemantik bei Pera (Modernistas en París, 142ff.) und Triviño Anzola („La mirada interior“, 187ff.) hingewiesen. Auch in De sobremesa birgt das Intérieur eine metaliterarische Reflexivität, wie Aníbal González sie überhaupt im Modernismo ausmacht (Crónica modernista hispanoamericana, 109): „La metáfora del interior [...] fue la forma que tomó el repliegue finisecular de la institución de la literatura sobre sí misma, ante el desafío de los discursos de las ciencias naturales.“ Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 237 El criado abrió el balcón para renovar el aire pesado. Por él entraron la difusa luz del crepúsculo violáceo y cobrizo, y la llovizna fría, que sacudió las cortinas melancólicamente. Un rayo de sol brilló en el marco del retrato de la santa de las guedejas blancas y tirité al sentir el soplo helado del aire del otoño. Sobre los veladores de malaquita el polvo opacaba el verde de la piedra y unas moscas muertas extendían las inertes alitas y las rígidas patas. El polvo y las moscas habían manchado el marroquí blanco y los dorados de los libros que compré en Londres en el invierno pasado; y a la doble luz de las bujías del candelabro y del crepúsculo, que filtraba por el balcón su tristeza fría, me parecieron desteñidos y ajados los colores de las alfombras de Oriente que cubren el piso. Zum Hauch der Verwesung, der vom Wandbezug über den Bucheinband bis zum Orientteppich dem gesamten Inventar entströmt, gesellt sich ein verregneter „crepúsculo violáceo“, dessen fahles Halbdunkel auf das Gemüt drückt. Die Zeichen stehen unwiderruflich auf Spleen und kondensieren sich in der Synästhesie des einst im Sonnenparadies Cannes bestellten Rosenbouquets, das nun verwelkt, entblättert und ekelerregend in den ziselierten Vasen dümpelt. Der ‚Blumenfriedhof‘ („cementerio de flores“) allegorisiert Fernández’ depressiven Affekthaushalt, der nicht mehr in unberührter Natur, sondern in der degenerierten Künstlichkeit des Salons seinen Spiegel findet. Nicht einmal das Porträt der ihm wohlwollend zugetanen Großmutter („el retrato de la santa“) verheißt noch Erbauung. Im Ensemble absterbender und eigentlich seit je ‚mumifizierter‘ Accessoires ist es gleichfalls der Verdinglichung preisgegeben, die mit dem kalten Schauer der Herbstluft hereinweht. Alles Organische scheint hier einem mächtigen Todestrieb überantwortet, der „flores“ wie „moscas“ hinwegrafft und unter einer dicken Staubschicht begräbt. Die Dekadenz des Preziosenkabinetts wäre nicht weiter erwähnenswert, brächte sie nicht das grundsätzliche Dilemma der Figur zur Anschauung. Denn das, was sich seit dem Incipit (DS 295-298) als Exuberanz und ausgesuchter Prunk vorgestellt hat, entblößt spätestens jetzt sein wahres Gesicht, aus dem nichts als Entzug spricht. Aufdringlich inszenierte Präsenz kippt in ebenso grelle Absenz, die in der Sargnische der Pariser Wohnung genauso wie im Schattenreich von José Fernández’ Emotionen klafft (DS 542): „Mi alma en ese momento estaba más sombría que el cuarto abandonado y más marchita que las flores.“ Latent durchgründen Verlust und Dekomposition freilich von Beginn an die musealen Kollektionen, mit denen sich der zwanghafte Sammler umgibt oder, ehrlicher gesagt, umgeben muss. 155 Das Arsenal kostspieliger, doch lebloser „objetos de arte y de 155 Schlüssig fasst Pera („José Asunción Silva: un coleccionista hispanoamericano en París“, in: Cuadernos Hispanoamericanos 556 (1996), 115-124 / Ders., Modernistas en París, 238 Globalisierungsnarrative um 1900 lujo“ (DS 445), 156 an welches er sich klammert, um sich seiner zu vergewissern, ruft ein ums andere Mal eine Beklommenheit hervor, die sich bis zur akuten Atemnot auswachsen kann und die allein die Versenkung in betäubende Sensationen lindert. Fülle und Leere, Rückzug und Flucht interagieren in paradoxaler Einigkeit, was der letzte Eintrag des verlesenen journal prägnant ins (Sprach-)Bild setzt. Die bloße Erinnerung an die bereits in Richtung der Vereinigten Staaten verschiffte Einrichtung zwingt An- und Abwesenheit, die unverzichtbare Bastion des Mobiliars und die nicht minder dringliche Notwendigkeit der Evasion in einer einzigen Einstellung zusammen (DS 544f.): Ahora acabo de pasearme por el hotel, que está vacío, completamente vacío, con las paredes y los pisos desnudos. Mis pasos repercuten en los salones desiertos y como agrandados por falta de muebles. [...] Muebles y objetos de arte, caballos y coches, todo el fastuoso tren que fue como la decoración en que me moví en estos años de vida en el viejo continente, me esperan ya en el vapor que al romper el día comenzará a cruzar las olas verdosas del enorme Atlántico [...]. Wehmütig kündet eine dichte Isotopie des Mangels („vacío“, „desnudos“, „desiertos“, „falta“) vom Luxus-Bollwerk, das Fernández um sich aufgetürmt hat, um es dann von eigener Hand wieder einzureißen. Im zirkulären Durchlauf von Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion gelingt es ihm nicht, den Objektcharakter der Gegenstände zu transzendieren. Der vermeintliche „Liebhaberwert“ 157 erzeugt keinerlei individuierende Bindung; ‚Möbel und Kunstwerke, Pferde und Kutschen‘ bleiben das, was sie immer waren: überzähliger Ornat, stumme „decoración“ ohne Mehrwert. Gleich den (medien-)technischen Dispositiven sind sie lediglich Zu- und Fortsätze, die sich unaufhörlich multiplizieren, ohne irgendeine Beständigkeit zu garantieren. Unter dem Gesetz des Provisorischen ist es denn auch unerheblich, wo José Fernández künftig seine perfekt drapierten Zelte aufschlägt. Überallhin wird ihn der „fastuoso tren“ seines teuer erkauften Lebensstils begleiten, wird ihn kurzfristig ein- und umfrieden, um ihn dann umso aggressiver aus sich zu vertreiben. 148ff.) Fernández’ Sammelleidenschaft als Suche nach Identität, die ob der Beliebigkeit des Gesammelten in Selbstzerstreuung umschlägt. 156 Der hier anzitierte Passus ist insofern emblematisch, als Fernández bei der Abreise aus London mit seinen „objetos de arte y de lujo“ (DS 445) eine Zwiesprache hält, die einer Liebeserklärung gleichkommt und deren „cariño“ doch nur das Defizit menschlicher Emotionalität verrät. 157 So nochmals Benjamin („Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“, 178) zur affektiven Besetzung des Intérieurs. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 239 Heterotopien II: Margen der Selbstverschriftung Angesichts der verkappten Erstickungsgefahr in den Refugien liegt es nahe, dass Silvas umtriebiger Dandy seine Klausur noch einen Schritt weiter treibt. Beinahe unbemerkt erfolgt so ein Übergang vom konkreten Intérieur hin zu Formen mentaler Vereinzelung. Zur Diskussion stehen demnach einerseits sämtliche Manifestationen einer Phantasie, deren Entgleisungen Fernández häufig zum Verhängnis werden. Andererseits muss es um eine Imagination gehen, die die Entlastung freien Assoziierens unter die Kontrolle der Versprachlichung stellt und die in De sobremesa allererst Raum wie Zeit des Erzählens konfiguriert. Das enthemmte Vorstellungsvermögen des Protagonisten erreicht sicherlich einen Höhepunkt, als dieser eine fünfzehnjährige Hotel-Bekanntschaft zum Medium spiritueller Erlösung kürt. 158 Helenas Verklärung zur archetypischen Jungfrau, die streng genommen einer intertextuell angereicherten Männerphantasie entspringt, ist indes kein Einzelfall. Sie hat, wie gesehen, zahlreiche Vorboten und Analogien im fiktiven Kosmos des Tagebuchs, sei es die seitenlange Einfühlung in das verwandte Gemüt der Maria Bashkirtseva, die Persiflage auf Max Nordaus biologistische Kulturkritik oder seien es die politischen Ambitionen, die Fernández plötzlich hegt und genauso unversehens als possenhafte Spiegelfechterei entlarvt. Hinzu kommen onirische Visionen oder wirkliche (Alb-)Träume, welche die Helena-Gestalt mit den Prophezeiungen der sterbenden Großmutter - die über das Seelenheil ihres Enkels orakelt - korrelieren oder die eigenen Schwächeanfälle antizipieren. 159 Selbst die beiden Mordversuche gehen auf Halluzinationen zurück, unter deren Einfluss Fernández sämtliche Skrupel fahren lässt und von den paradis artificiels des Drogenkonsums nahtlos in einen Blutrausch verfällt. Die Einbildungen, die einem gequälten Unbewussten entsteigen, versanden aber allesamt und lösen sich meist in eine Gegenstandslosigkeit auf, die zu irrationaler Fetischisierung einlädt. Ihr Bewegungsradius beschränkt sich auf die Abgründe der Psyche, wo sie ungebändigt in sich kreisen und statt konzentrierter Subjektivität eine nar- 158 Punktuell aufgerufen ist die Überkodierung der Helena-Figur im Abschnitt II.4.2. Eingehend widmen sich ihr Alfredo Villanueva-Collado, „La funesta Helena: Intertextualidad y caracterización en De Sobremesa de José Asunción Silva“, in: Explicacion de Textos Literarios 22/ 1 (1993-1994), 63-72; Hans Hinterhäuser, „Mujeres prerrafaelitas“ [1980], in: Cobo-Borda et al. (Hg.), Leyendo a Silva, Bd. 2, 249-267, hier 261ff.; Evelyn Picon Garfield, „De sobremesa: José Asunción Silva, el diario íntimo y la mujer prerrafaelita“, in: Iván A. Schulman (Hg.), Nuevos asedios al Modernismo, Madrid: Taurus 1987, 262-281 sowie Meyer-Minnemann, Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, 67ff. 159 Beispielhaft genannt sei Fernández’ erster Albtraum (DS 408), der vermutlich den Tagesrest der plötzlich angestrengten Militärstudien mit den materiellen Insignien der Helena-Obsession (Kamee mit weißem Schmetterling) verknüpft und in dieser Überblendung Bilder des Falls und des Abgrunds heraufbeschwört. 240 Globalisierungsnarrative um 1900 zisstische Dezentrierung hervorrufen. Darum muss Fernández zuletzt auch dem medizinischen Ratschlag (DS 422) Folge leisten und von einer Introspektion absehen, die in der rückhaltlosen Vertiefung des Selbst alles - einschließlich des Selbst - mit in die Tiefe reißt: Die instantan geballte Intensität einer „vida interior exacerbada hasta lo indecible“ (DS 444) ist nicht auf Dauer zu stellen, sie führt geradewegs in den Wahn, vor dem einzig die regelmäßige Narkotisierung bewahrt. Um eine Innerlichkeit zurückzugewinnen, die nicht zum Vakuum verkümmert ist, käme es darauf an, einen Kompromiss zwischen der Immaterialität zügelloser Imaginationen sowie der Materialschlacht wertvoller und sinnleerer Herrenzimmer zu finden. Es bedürfte eines Korrektivs, das die zeit- und raumverzehrende Dynamisierung der Außenwelt abbremst, ohne deshalb in Stagnation und Klaustrophobie auszuarten. Erfolg verspricht in dieser Hinsicht eine sprachbasierte Besinnung, die Fernández, dem Dichter im vorzeitigen Ruhestand, ohnehin bestens zu Gesichte steht. Mehr noch: Wenn er zur Feder greift und sich der körperlichen Aktivität des Schreibens widmet, vermag er immerhin sein übermäßiges Evasionsbedürfnis zu kanalisieren. Anstelle der ingeniösen Suggestionen, um die er einstmals als symbolistischer Lyriker rang (DS 315), steht jetzt natürlich ein vergleichsweise schlichtes, wiewohl unverzichtbares Anliegen auf dem Spiel. Denn um die verstreuten Impressionen und Fragmente, die ihm als Identitätsreste verbleiben, zu bündeln, hat Fernández allein noch die verbale und genauerhin die skripturale Praxis. Die habituelle Redaktion seines Tagebuchs avanciert damit zum Schauplatz einer bescheidenen Subjektivierung, die sich mit Michel Foucaults Kategorie als „écriture de soi“ fassen ließe. 160 Ungeachtet des divergenten Anwendungshorizonts, 161 in dem Foucaults Kanon antiker Lebenskünste 162 siedelt, trifft dessen Konzept in etlichen Aspekten auf die Diaristik zu, der sich José Fernández beharrlich und sogar noch in ärgster Bedrängnis anvertraut. Kaum von seiner ersten Ohnmacht und 160 Vgl. Michel Foucault, „L’écriture de soi“ [1983], in: Ders., Dits et écrits, Bd. 4, 415-430. Foucaults suggestiver Ansatz regte seit den 1990er Jahren auch eine umfangreiche literaturwissenschaftliche Forschung an; repräsentativ hervorgehoben seien: Christian Moser, Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, Tübingen: Niemeyer 2006; Jörg Dünne, Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Selbstpraxis in der Moderne, Tübingen: Narr 2003 und Maria Moog-Grünewald (Hg.), Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge, Heidelberg: Winter 2004. 161 Siehe Michel Foucault, L’usage des plaisirs (Histoire de la sexualité II) [1984], Paris: Gallimard 1997 und Le souci de soi (Histoire de la sexualité III) [1984], Paris: Gallimard 1997. Daneben verfasst der französische Wissenssoziologe in seinen letzten Lebensjahren zahlreiche Einzelbeiträge, die sich dem Themenkomplex der cura sui zuwenden und oftmals als Rückkehr zu einer Philosophie des Subjekts rubriziert wurden. 162 Als Selbsttechnik gehört das Schreiben laut Foucault („L’écriture de soi“, 415) spätestens seit der römischen Antike einer „esthétique de l’existence“ an, mittels derer das Subjekt seinem Dasein eine schöne, aber stets imperfekte Form verleiht. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 241 dem komatösen Folgezustand genesen, kehrt er deshalb zur ‚ewigen Manie‘ zurück, das Geschehene Wort für Wort, Empfindung für Empfindung nachzuvollziehen und in weitschweifiger Textproduktion zu bewerten (DS 452): „[A]costado todavía, y mientras llega el profesor Charvet […], me entretengo en describir, poseído de mi eterna manía de convertir mis impresiones en obra literaria, los síntomas de la extraña dolencia.“ Ohne weiterhin eine Kongruenz zwischen Erleben und Schreiben herstellen zu können, gibt Fernández in einzelnen, vielfach inkohärenten Notaten Rechenschaft von sich. Stetig zirkulierend zwischen Wahrnehmung und Repräsentation, zwischen dem Ansturm der Sinnesdaten sowie dem Bestreben, ihrer in seinen Einträgen und Kommentaren begrifflich habhaft zu werden, firmiert er nicht mehr als unveränderliches Erkenntnissubjekt. Wie in Foucaults écriture de soi vorgesehen, muss es ihm hingegen um die Aneignung all dessen zu tun sein, was ihm widerfährt, was an Ereignissen, Eindrücken und Zeichen auf ihn einströmt und was ihn überfordert, da es sich in andauernder Dissemination gängigen Sinnangeboten und Komplexitätsreduktionen entzieht. Nicht umsonst integriert Fernández im „grueso volumen con esquineras y cerradura de oro opaco“ (DS 319) seines journal verschiedenartigstes Textmaterial, verknüpft okkultistische Spekulationen mit banalem High-Society-Klatsch, subtile Literatur- und Kulturanalytik mit deftiger Wissenschaftssatire, Kataloge der Belle-Époque-Mode mit säbelrasselnder Demagogie. Resultat ist das heterogene Logbuch eines Weltreisenden, in dem dieser abwechselnd eine wehleidige Selbstanamnese betreibt, seine hedonistische Lebensphilosophie verkündet oder mit seiner donjuanesken Verführungskunst prahlt. Nochmals mit Foucault gesprochen, handelt es sich um eine veritable „pratique réglée du disparate“ 163 , derer sich der schwächelnde Held bedient, um die Menge rezipierter Informationen zu bewältigen, zu klassifizieren und dem persönlichen Gedenken zu bewahren. Dass hierbei der Orientierung an fremder Rede eine herausragende Rolle zukommt, verwundert angesichts der zahlreich in den Roman eingespeisten Gattungen, Textsorten, Werke, Diskurse und Ideologien wenig. Seine „pratique ‚citationelle‘“ 164 verhilft José Fernández zumindest punktuell zu gewisser Stärke und versieht ihn mit einer „alma escrita“ (DS 320), die zwar keinen substantiellen Wesensursprung mehr birgt, jedoch einen anderen, sehr begrenzten Ort des Selbst konstituiert. Dem Vergessen und der Sprengung alltäglicher Lebenszusammenhänge setzt das Tagebuch eine Inventur der Moderne entgegen, die allerdings nur noch in Gesten des Schreibens und, nicht zu vergessen, des Lesens zu einer vorübergehenden, jeweils neu sich ergebenden Einheit gelangt. 163 Foucault, „L’écriture de soi“, 421. 164 Foucault, „L’écriture de soi“, 419. 242 Globalisierungsnarrative um 1900 II .6.3 Coda: Globale Relativierung À propos Lesen: In De sobremesa bildet es ein unerlässliches, immer wieder zu passierendes Stadium auf dem Weg zum eigenen Wort. Die „[a]mplia cosecha“ (DS 444) 165 , die Fernández seiner Bibliomanie verdankt und die als dichtes intertextuelles Gewebe in seine Aufzeichnungen eingeht, bestätigt das in extenso. Der Befund verkompliziert sich gleichwohl, sobald man ihn auf den gesamten Roman anwendet. Denn erst indem dieser diverse Lektüreakte engführt, präsentiert er sich als genuin „literarische Heterotopie“ 166 , in welcher sich verschiedene narrative Schichten überlagern, ergänzen und bisweilen widersprechen. So entwirft Silva einerseits in der Tradition der Novellistik eine Szenerie mündlicher Konversation und Rezitation, aus der die eigentliche Geschichte hervorgeht. Literarhistorisch naheliegender knüpft er zum anderen an den Tagebuchroman des Jahrhundertendes an, 167 dessen reflexiver Duktus unweigerlich die novellistische Intersubjektivität überformt. Entsprechend ungleich verteilen sich in De sobremesa die Rollen zwischen dem intradiegetischen Erzähler bzw. Vorleser José Fernández und seinen Zuhörern, die lediglich als Stichwortgeber laut werden. Die Stimme des heterodiegetischen Rahmenerzählers, die die Auftaktbeschreibung der Villa Helena verbürgt, verstummt ohnehin nach wenigen Skizzenstrichen und weicht der besagten tertulia, deren affichierte Dialogizität aber nur pragmatisch Bestand hat. Die Semantik der postprandialen Plauderei kreist dagegen von Beginn an um Fernández’ Daseinskrise und bereitet als simple Propädeutik das Monothema des Tagebuchs vor. 165 Fernández erstattet regelmäßig Bericht über seine Lektüren und Kunststudien, deren immense Bandbreite nicht nur hier an Wagners Gesamtkunstwerk erinnert (DS 444f.): „Amplia cosecha de impresiones de arte, lecturas de los originales de los trágicos griegos que conocía antes en malas traducciones, de los poetas anteriores a Shakespeare, de toda la pléyade moderna, desde el sensual y vibrante Swinburne hasta la mística Cristina Rossetti; inefables ensueños provocados por los cuadros de Holman Hunt, de Whistler y de Burne Jones [...].“ 166 Siehe Warnings („Heterotopie und Epiphanie“, 21f.) Präzisierung eines dezidiert literarischen Heterotopie-Begriffs: „Literarische Heterotopien erstehen in solcher Konvergenz des schreibenden Subjekts mit einem realen Raum, den es aufgrund bestimmter Merkmale imaginativ als einen ‚anderen Raum‘ erfahren und festhalten kann, wobei bereits gegebene Besetzungen dieses Raums durch das sozial Imaginäre einer solchen Korrespondenz entgegenkommen können […]. Nur muss der Raum Merkmale aufweisen, die ihn so auszeichnen, dass sie das Subjekt zu einer heterotopen Interpretation einladen.“ 167 Kennzeichen des französischsprachigen Tagebuchromans, der ab 1880 floriert, systematisieren etwa Valerie Raoul, The French Fictional Journal: Fictional Narcissism / Narcissistic Fiction, Toronto: UP 1980 sowie Lorna Martens, The Diary Novel, Cambridge: UP 1985, 115ff. Einen prägnanten Vergleich zwischen den romanesken journaux intimes der Erfolgsautoren Amiel, Loti oder Rod und Silvas De sobremesa unternimmt Meyer-Minnemann, Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, 54ff. I Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 243 Sowohl dies als auch die ungeteilte Bewunderung, die dem Hausherrn von seinen Gästen, d.h. seinem Publikum zuteilwird, schaffen eine ausgeprägte Asymmetrie der Kommunikation. Erst auf insistentes Bitten hin gibt dieser sich zur Lektüre seiner Europa-Chronik her (DS 318f.), die bis auf wenige situative Interventionen den restlichen Romantext, immerhin gut zweihundert Seiten, ausmacht. Einmal mehr zeigen sich so die zwei Gesichter des José Fernández, der als Analyseobjekt seiner Diaristik den neurotischen Schwerenöter mimt, während er als - schreibendes, lesendes und erzählendes - Subjekt nach Belieben schaltet und waltet und bald den begnadeten Rhetoriker und Universalgelehrten, bald den scharfzüngigen Zyniker hervorkehrt. Die Janusköpfigkeit der Figur erhellt schließlich auch die markante Auffächerung des Erzählakts in De sobremesa. Zwischen Rahmen- und Binnenfiktion sowie den Imaginationen zweiten Grades, die der Protagonist entspinnt, kommt es zu Spiegelungen, die freilich nur zum Teil ‚explikative‘ oder ‚prädiktive‘ Funktionen erfüllen. Bisweilen sind es eher Verspiegelungen, die aus den umfänglichen Metadiegesen und mises en abyme resultieren und die oftmals eher ‚distraktive‘ 168 Verwirrung stiften, anstatt das magere Sujet auszubauen. Als Bindeglied, das die diegetischen Ebenen zusammenhält, bleibt allein die raumzeitliche Zerreißprobe, die De sobremesa zwischen schrankenloser Ausweitung und maximaler Verdichtung, zwischen unaufhaltsamem Verfall und verzweifelten Versuchen der Bewahrung austrägt. Denn wo die abendliche Lesung eine koordinierte Einbettung des Narrativs vorsieht, überschießt just das eingelegte Tagebuch die thematisch gesetzten Grenzen. Und genauso eine Ebene darunter: Wo Fernández im diaristischen Schreiben um eine konsistente Vita ringt, sieht er sich gleichzeitig der unablässigen Verselbstständigung und Vervielfältigung seiner Vorstellungswelten gegenüber. Die Persistenz derartiger Umschläge erlaubt zuletzt, De sobremesa in den lebensweltlichen Horizont des Verfassers und seiner Zeit einzurücken. Die spannungsreiche Komposition des Romans fungiert nämlich als Bühne, auf der Silva die Diskrepanzen, mit denen er als hispanoamerikanischer Prosaautor Ende des 19. Jahrhundert konfrontiert ist, ausagiert. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ 169 und die Ortlosigkeit, die die private und wichtiger: die literarische Biographie des Kolumbianers begleiten, 170 objektivieren sich in einem Darstellungsmodus, der die Entfaltung des Plots minimiert, um im Gegenzug die Einfaltungen des Erzählprozesses zu potenzieren. Die einzige Kontinuität, die De sobremesa noch gewährleistet, ist 168 Alle drei genannten Funktionen (‚explikativ‘, ‚prädiktiv‘, ‚distraktiv‘) des récit métadiégétique orientieren sich terminologisch an Gérard Genettes (Nouveau discours du récit, Paris: Seuil 1983, 62f.) im Ganzen umfangreicherer Typologie. 169 Die suggestive Formel stammt im Original von Ernst Bloch (Erbschaft dieser Zeit [1935], Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1985, 164), der damit die Genese sowie die folgenschwere Faszination des Nationalsozialismus beschreibt. 170 Siehe hierzu den Abschnitt III.3 dieser Lektüre. 244 Globalisierungsnarrative um 1900 die Diskontinuität möglicher Bedeutungszuweisungen. Dafür spricht auch, dass Silva die Ambiguierung ausdrücklich als literarisches Verfahren ins Gespräch bringt. In einem Artikel aus dem Jahr 1891 vermerkt er zu wesentlichen Strömungen des Fin de Siècle: La gente nueva que en Francia y en Bélgica ha alzado el pendón de la reforma literaria con el lema de simbolismo, decadentismo, impresionismo y demás vocablos insidiosos, tiene más talento del que uno se figura [...]. Solamente que toda innovación es vulnerable por el lado ridículo; pero la mofa no le hace mal. 171 De sobremesa erbringt den vielfachen Beweis, dass seriöse Einschreibung und parodistische Profanierung im intertextuellen Transfer durchaus kompatibel sind. Umso mehr ist es zu bedauern, dass der Roman sein eigentliches Zielpublikum nicht erreicht hat. Man kann deswegen nur vermuten, welche Aufnahme er im Kolumbien der 1890er Jahre gefunden hätte. Gemessen an den hohen Anforderungen, die der Text stellt, wären als Rezipienten ohnehin nur Fachleute aus tendenziell gleichgesinnten Literaten-, Künstler- und Kritikerkreisen in Frage gekommen. Doch nicht einmal unter den Vertretern des Modernismo, zu dessen Vorreitern der Lyriker Silva gehört, hätte De sobremesa wohl einhelligen Beifall geerntet, zumal darin auch die wuchernde Ornamentalität des Formalästhetischen mehrfach unter die Räder kommt. Silvas abrupter Freitod verweist all das in den Bereich der Hypothesen. Mit Gewissheit sagen lässt sich indes, dass De sobremesa den konsequenten Versuch unternimmt, die einheimische Erzählliteratur mit den tonangebenden Schulen der europäischen Jahrhundertwende zu vernetzen, ohne deshalb die regionale Relevanz preiszugeben. Die Polysemien, die Silvas Roman narrativ herausfordert, tragen daher eine realhistorische Signatur. Im fiktionsinternen Antagonismus zwischen Raumverlust und Raumfülle, zwischen akzelerierter und gehorteter Zeit offenbaren sich die gewaltigen Impulse, die mit Urbanisierung, Technisierung, Kommerzialisierung und last but not least Globalisierung einhergehen. Die Schlagworte sollten genügen, um die einschneidenden Veränderungen zu evozieren, die in jenen Jahren Kolumbiens Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ins Wanken bringen. 172 Der zwischen 1881 und 1914 mühevoll erbaute Panamakanal steht gleichsam als monumentales Sinnbild für den Übergang von einer lokal ausgerichteten Latifundienökonomie hin zu industriell organisierten 171 Silva, „Notas literarias“ [1891], in: Ders., Páginas nuevas, 98f. 172 Einen Abriss über die Zeit-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte Kolumbiens zu Silvas Lebzeiten bieten Jaime Jaramillo Uribe, „La época de Silva“, in: Cobo-Borda et al. (Hg.), Leyendo a Silva, Bd. 3, 469-482 und Hans-Joachim König, „Ecuador, Kolumbien, Venezuela“, in: Walther L. Bernecker et al. (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 2: Lateinamerika von 1760 bis 1900, Stuttgart: Klett-Cotta 1992, 578-618, hier 590ff. Transkulturelle Selbstverschriftung und kosmopolitische Dezentrierung 245 Agrarbetrieben, zu städtischen Vertriebszentren sowie zum internationalen Freihandel. 173 Es ist dieser Gegensatz zwischen rückwärtsgewandtem Provinzialismus und progressivem Kosmopolitismus, der auch den Schriftsteller Silva umtreibt. 174 Hinsichtlich seiner Parteinahme sollte man sich nicht allzu sicher sein, wie der Seitenblick auf einen De sobremesa nahestehenden Prosatext verrät. „El paraguas del Padre León“ (OC 362-364), eine kurze Genreskizze aus dem Jahr 1894, definiert die Gegenwart explizit als „época de transición“ (OC 364), als ‚Übergangsepoche‘, in welcher (neo-)koloniale Beschaulichkeit und moderne Nervosität aufeinanderprallen. Die kolumbianische Hauptstadt vereint folglich „el Santafé dormilón, inocente y plácido de 1700“ mit dem pervertierten „Bogotá de hoy“, wo als Frauentypus „aquella fin de siècle neurasténica que lee a Bourget y a Marcel Prévost“ (OC 363) angesagt ist. In diesem urbanen Schwellenraum kreuzen sich Tag für Tag die Wege des antiquiert schrulligen Pater León und des ebenso trendwie machtbewussten Minister X (OC 363f.): El siglo dieciocho encarnado en el Padre León; el siglo veinte encarnado en el omnipotente X [...] ¿No vienen siendo las dos figuras como una viva imagen de la época de transición que atravesamos, como los dos polos de la ciudad que guarda en los antiguos rincones restos de la placidez deliciosa de Santafé y cuyos nuevos salones aristocráticos y cosmopolitas, y su corrupción honda, hacen pensar en un diminuto París? ... Großteile des Geschehens aus De sobremesa sind mitten in Paris situiert, im Sumpf der Korruption und der hemmungslosen Laster, in dem sich José Fernández um Haaresbreite zugrunde richtet. Weniger noch als „El paraguas del Padre León“ taugt aber Silvas einziger Roman als Sittenkritik. Es macht vielmehr seine literarische Qualität aus, dass er jegliche ideologische (Vor-)Entscheidung verweigert, dass er weder einem wertkonservativen Lokalpatriotismus noch einem epigonalen, da eurozentrischen Kult des Modernen das Wort redet. Ob man will oder nicht, man muss die hermeneutische Offenheit aushalten, um De sobremesa gerecht zu werden und um darin den Anspruch genauso wie das Dilemma des Autors zu erkennen: Als „Bogotano universal“ 175 durchmisst José Asunción Silva in und mit seinem Roman souverän 173 Es sei erinnert, dass sich das heutige Panama erst 1903 mit Unterstützung der USA von Kolumbien abspaltet. 174 Das betonen auch die Beobachtungen, mit denen Meyer-Minnemann (Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, 77-79) seine hellsichtige Analyse zu De sobremesa beschließt und denen ich zudem den Hinweis auf das - ursprünglich als Prolog eines Hommage-Albums verfasste - Prosastück „El paraguas del Padre León“ verdanke. 175 Die treffende Charakterisierung stammt vom Silva-Forscher Juan G. Cobo-Borda, „Silva: Bogotano universal“, in: Escritura XII/ 23-24 (1987), 31-58. Siehe auch Cobo- Bordas Sammelband gleichen Titels José Asunción Silva, bogotano universal (1988). 246 Globalisierungsnarrative um 1900 die transatlantischen Zeit-Räume und Diskurse. Gleich seiner wandlungsfähigen Figur, die an ihrer kosmopolitischen Dislokation immer auch zu verzweifeln droht, erlangt er jedoch auf diesen Passagen keine sichere Autorität mehr, bleibt ihm eine feste Position als Romancier in den entstehenden Feldern der kolumbianischen und hispanoamerikanischen Erzählprosa verwehrt. Und das - die ungeschützte Mutmaßung sei am Ende gestattet - hätte sich kaum anders zugetragen, wäre das wiederhergestellte Manuskript noch 1896 vor Silvas Suizid in Druck gegangen. Wie seinerzeit Lizardis Periquillo Sarniento stellt De sobremesa auf der nächsten Jahrhundertschwelle einen Extremfall dar, eine Zuspitzung literarästhetischer und epistemologischer Tendenzen. Denn als schillerndes Globalisierungsnarrativ kommt der Roman weitgehend ohne positives Identifikationspotential aus und sperrt sich gegen vertraute Erwartungshaltungen und Wahrnehmungsmuster. Die fortgesetzte Relativierung, die De sobremesa betreibt und die zum Markenzeichen einer selbstbewussten literarischen Marginalität wird, lässt ein transkulturelles Stimmengewirr zurück, das man je nachdem komisch oder tragisch lesen kann. Am plausibelsten wohl als tragikomische Farce, wie ein letztes Lamento belegen mag, das Silva mit ebenso überzogenem Pathos wie überzeugendem Gespür für das Epochenklima José Fernández in den Mund legt (DS 517f.): ¡Tú estás vacío, oh cielo hacia donde suben las oraciones y los sacrificios! ¡Neomisticismo de Tolstoi, teosofismo occidental de las duquesas chifladas, magia blanca del magnífico poeta cabelludo de quien París se ríe, budismo de los elegantes que usan monóculo y tiran florete, culto a lo divino de los filósofos que destruyeron la ciencia, culto del yo inventado por los literatos aburridos de la literatura, espiritismo que crees en las mesas que bailan y en los espíritus que dan golpecitos, grotescas religiones del fin del siglo XIX, asquerosas parodias, plagios de los antiguos cultos, dejad que un hijo del siglo, al agonizar éste, os envuelva en una sola carcajada de desprecio y os escupa a la cara! [...] ¿Y en qué creerás, alma mía, alma melancólica y ardiente, si los hombres son ese miserable tropel que se agita, cometiendo infamias, buscando el oro, engañando a las mujeres, burlándose de lo grande, y si ya murieron los dioses? Ursprungsnarrative um 1860 IV Romantische Post aus dem Jenseits: Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur in J. Isaacs’ María IV.1 Zurück statt vor - Ursprünge statt Gründungen Als Manifest moderner Diversifizierungserscheinungen wäre De sobremesa nichtsdestoweniger verkürzt. Die Verfahren der Relativierung und Fragmentierung, die Silvas Tagebuchroman ausreizt, weisen im Rahmen der hier vorgestellten Genealogie sowohl nach vorne als auch nach hinten. Sie läuten, indem sie die Auflösung des selbstpräsenten Subjekts befördern, einerseits das Jahrhundert der großen De(kon)struktionen ein. Andererseits reichen sie in die Vergangenheit zurück, in die der damals rezenten Kulturgeschichte genauso wie in die entlegeneren Gefilde des Unvordenklichen. Denn auf einer Schwundstufe sind in De sobremesa viele der überkommenen grands récits 1 noch zu erahnen, mögen sie auch bis aufs Skelett entkleidet sein. So kommt es, dass der Protagonist regelmäßig Heilserwartungen hegt, deren Spektrum kaum heterogener sein könnte und deren Halbwertszeit stetig abnimmt: Sei es, dass José Fernández dem Fetisch seiner Liebesreligion anhängt oder dass er eine totalitäre Fortschrittsutopie ausbrütet; sei es, dass er sich zu christlicher Dogmatik zu bekehren erwägt oder dass er die Kunst als letzte Bastion des Sakralen feiert; sei es schließlich, dass er neueren Eschatologien huldigt und wahlweise Sex, Geld, Macht oder einen populär-nietzscheanischen Anarchismus als Transzendenzersatz inthronisiert: Jeweils geht es um das Bedürfnis nach Erst- und Letztbegründungen, nach einer höheren Einheit, in der sein komplexes und vor allem komplexbehaftetes Dasein aufgehoben wäre. Doch vergeblich, das Sublime, gleich welcher Provenienz es wäre, hat keine irdische Heimstatt mehr. Die Mediokrität der gegenwärtigen und umso mehr der kommenden Epoche verhindert, dass der ‚Durst nach dem Absoluten‘‚ „esa sed de lo absoluto y de lo supremo“ (DS 518) gestillt werden könnte: „Lo sublime ha huido de la Tierra. La fe ciega, que en su regazo de sombra les ofrecía una almohada donde descansar las cabezas a los cansados de la vida, ha desaparecido del universo.“ (DS 516) Obschon der Kitsch der Elegie zwangsläufig Ironieverdacht erregt, ist die Äußerung insofern bezeichnend, als sie genau das Intervall absteckt, in dem Silvas Roman sich bewegt. Die Einsicht in die Nivellierungen des zeitgenössischen Pluralismus paart er mit einer ungebrochenen Faszination für Metaphysisches, das mit einem Streich alle Mysterien des Lebens klären würde, das 1 Vgl. Lyotard, La condition postmoderne, bes. 54ff. 250 Ursprungsnarrative um 1860 aber seine uneingeschränkte Geltung verloren hat und das De sobremesa daher immer auch unterläuft. Man kann darin die Reminiszenzen romantischer Tiefenmetaphysik 2 erkennen, die der hispanoamerikanische Modernismo ungeachtet seiner ästhetizistischen Poetik fortschreibt. 3 Die Sehnsucht nach einer vollkommenen Übereinkunft zwischen Subjekt und Kosmos begleitet Silvas Helden ebenso hartnäckig wie er selbst diese Vollkommenheit torpediert, sie entweder pathologisch übersteigert oder bis ins Groteske trivialisiert. Als melancholischer Erbe des 19. Jahrhunderts und deplatzierter Visionär des 20. Jahrhunderts ist José Fernández ein Zwitterwesen, das die Entstehungsbedingungen von De sobremesa in sich absorbiert hat. Denn während erst Silvas Rezeption des französisch inspirierten Parnasse, des Symbolismus und des Dekadentismus die richtungsweisende Transkulturalität des Romans ermöglicht, steht die literarische Sozialisation des Kolumbianers zuvor im Zeichen einer Spätromantik, die in seiner Heimat lange den Ton angibt. Schon in Kindertagen lernt er, wie oben erwähnt, den Dichterkreis El Mosaico kennen, dessen Mitglieder in seinem Elternhaus verkehren. Zu ihnen zählt in loser Assoziation auch einer jener Autoren, die den gezielten Ausstieg aus dem Modernisierungsprozess verklären und als maßgeblichen Erzähltyp in Hispanoamerika implementieren. Die Rede ist von Jorge Isaacs, 4 dessen 1867 erschienene María zum kontinentalen Best- und Longseller aufsteigt. Isaacs’ Roman vertritt jedoch eine ganze Klasse narrativer Fiktionen, deren - stets brüchige - Idyllen die traumatischen Verwerfungen der kolonialen Vergangenheit und die unerbittlich einbrechende Zukunft gleichermaßen leugnen. Dazu gehören viele frühe Texte des Indianismus genauso wie die historischen Romane jener Zeit und ab der zweiten Jahrhunderthälfte auch die Gaucho-Epik am Río de la Plata. 5 2 Die Ergründung der „metáphysiques des fonds“ ist laut Foucault (Mots et choses, 229- 261) notwendiges Komplement der positivistisch-empirischen Erkenntnis in der modernen Episteme. Tiefenmetaphysik wäre also näherhin „une autre métaphysique qui aurait pour propos d’interroger hors de la représentation tout ce qui en est la source et l’origine“ (ebd., 256). 3 In diesem Zusammenhang sei an Octavio Paz’ (Los hijos del limo: Del romanticismo a la vanguardia, Barcelona: Seix Barral 1974, 126) einseitige, doch im Kern bedenkenswerte Hypothese erinnert: „El modernismo fue nuestro verdadero romanticismo […].“ 4 Biographisch anzufügen ist, dass Isaacs sogar ein Grabgedicht auf die jung verstorbene (1891) Elvira Silva, die Schwester und Vertraute von José Asunción verfasst. 5 Für einen Überblick zu den genannten Tendenzen vgl. knapp Ertler, Geschichte des lateinamerikanischen Romans, 70ff. Den Spielarten des historischen Romans widmet sich eingehend Skinner, History Lessons. Als signifikante Beispiele früher indianistischer und abolitionistischer Narrativik wären neben der Erzählung Netzula (1837) des Mexikaners José María Lacunza oder dem (Kurz-)Roman La quena (1845) der Argentinierin Juana Manuela Gorriti vor allem die bekannteren novelas antiesclavistas zu nennen: Cecilia Valdés o la loma del ángel (1839/ 82) von Cirilo Villaverde; Francisco, el ingenio o las delicias del campo (1839/ 80) von Anselmo Suárez y Romero; Enriquillo, leyenda histó- Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 251 Eine ähnlich überregionale Bekanntheit wie María erreicht indes nur der abolitionistische Roman Sab, 6 der 1841 zunächst in Madrid erscheint und wenig später in Kuba, dem Geburtsland der Verfasserin Gertrudis Gómez de Avellaneda, vom obersten Zensor der spanischen Krone verboten wird. Wenngleich Isaacs’ Latifundien-Romanze und Avellanedas Refiguration des sogenannten edlen Wilden in der kubanischen Sklavenhaltergesellschaft etliche soziohistorische Unterschiede trennen, eint beide Romane ihre Ausrichtung an einer (Früh-)Romantik französischer Herkunft. Daneben kommen sie in einem Eskapismus überein, dessen sentimentales Unmittelbarkeitspostulat unter dem Druck der Modernisierung zur vielsagenden Elegie wird. Progressismus schlägt hier in Traditionalismus um, Technik soll hier - aussichtslos - auf eine unberührte Natur zurückgeschraubt werden und die Internationalisierung hispanoamerikanischer Lebenswelten wird kurzerhand in einem labilen Provinzialismus wegfabuliert. Dass eine derart ahistorische Authentizität 7 hochgradig konstruiert bleibt, liegt auf der Hand und wurde immer wieder moniert. Die Kritik trifft in gewisser Hinsicht noch die novela de la tierra, die nach 1900 eine Vorstellung des Autochthonen proklamiert, die zwar ethnische und ständische Barrieren zu beseitigen sucht, aber weiterhin literarische Inszeniertheit dementiert. 8 Diese Leerstelle narrativer Selbstreflexivität gefüllt zu haben, ist letztlich das Verdienst herausragender Romane des realismo mágico bzw. real maravilloso, die dennoch weiterhin dieselbe Verstrickung von Mythos und Geschichtlichkeit erkunden, 9 die verhüllt und zuweilen panisch verdrängt bereits in den Evasionssujets des 19. Jahrhunderts schwelt. rica dominicana (1879/ 82) von Manuel de Jesús Galván sowie Avellanedas Sab (1841). Die ebenso vielstimmige wie brisante Debatte zur Gaucho-Literatur, an der sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts so namhafte Autoren wie Leopoldo Lugones oder Jorge Luis Borges beteiligten, kann hier nicht aufgenommen werden. 6 Avancierte Lektüren, die gender- und ideologiekritisch die Sklavenproblematik in Sab beleuchten, finden sich bei Sommer, Foundational Fictions, 114-137; Joan Torres- Pou, „La ambigüedad del mensaje feminista de Sab de Gertrudis Gómez de Avellaneda“, in: Letras Femeninas 19/ 1-2 (1993), 55-64 und Stephan Leopold, „Desprivatizando el Werther: reescritura, ironía y alegoría nacional en Sab de Gertrudis Gómez de Avellaneda“, in: Wolfgang Matzat / Max Grosse (Hg.), Narrar la pluralidad cultural. Crisis de modernidad y funciones de lo popular en la novela en lengua española, Frankfurt/ Main u.a: Vervuert 2012, 135-152. 7 Zur Kulturgeschichte des Authentizitäts-Begriffs siehe etwa die Beiträge in Michael Rössner / Heidemarie Uhl (Hg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld: transcript 2012. 8 Die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erfolgreiche novela de la tierra kennzeichnet eine komplexe Dialektik zwischen konstruierter Autochthonie und unleugbarer Modernität, wie Carlos J. Alonso (The Spanish American Regional Novel. Modernity and Autochthony, Cambridge: UP 1990, bes. 38-78) überzeugend aufzeigt. 9 Vgl. einschlägig González Echevarría, Myth and Archive, 1-42/ 142-186 und Michael Rössner, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Zum mythischen Bewusstsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/ Main: Athenäum 1988, 175-279. 252 Ursprungsnarrative um 1860 Im vorliegenden Kontext gilt mithin: Wo Lizardis Periquillo Sarniento und Silvas De sobremesa unter verschiedenen Vorzeichen die differentiellen Anfänge eines Wahrnehmungswandels erzählen, der die räumliche Gestalt der Globalisierung annimmt, beschwören Romane wie María, Sab und andere jeweils regionale Ursprünge, 10 deren verordnete Harmonie sich just in ihrer unmöglichen Dauer manifestiert. Es scheint naheliegend, derartige Ursprungsnarrative 11 unter eine politische Perspektive zu bringen und ihre dominanten Liebeshandlungen, wie von Doris Sommer 12 und vielen Folgestudien vorgeschlagen, als nationale Gründungsallegorien auszulegen. Der prospektive Imperativ einer zumindest künftig gelingenden Staatlichkeit verdeckt jedoch die restaurative Zeitlichkeit, die das Signum dieser Fiktionen ist und die ihre Plots in ein unwiederbringliches Gestern entrückt. Die Akzentuierung des ideologischen Subtexts unterschlägt zudem den Widerstreit verschiedener An- und Überforderungen, dem die betreffenden Autorinnen und Autoren ausgesetzt sind. Nicht primär das Kollektivtelos einer imaginativ geeinten Nation, sondern die Erschreibung literarischen Renommees steht auf dem Spiel, wenn die Vertreter/ innen der hispanoamerikanischen „Desillusionsromantik“ 13 sagenhafte Ur- und Naturzustände ausphantasieren. Inwiefern sich hierbei soziale, ökonomische und ästhetische Interessen in die Quere kommen können, dokumentiert wohl kaum ein Fall so eindringlich wie jener der umjubelten María und des glücklosen Jorge Isaacs. Als Nullpunkt des Erzählens aktiviert der kolumbianische Roman nämlich eine Unverfügbarkeit, die allem anderen voraufliegt und die eine unaufhaltsame Logik der Erstattung in Gang setzt. Nicht zuletzt deshalb eignet sich María, um exemplarisch einer narrativen Modellierung nachzuspüren, deren wehmütige Rückschau verschiedenste Leserkreise in den Bann schlägt. 10 Ich rekurriere hier nochmals, wie methodisch in Kapitel I.4.1 vorgeschlagen, auf Michel Foucaults („Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, bes. 140) Distinktion zwischen der Ursprungssehnsucht traditioneller Geschichtsschreibung und der genealogischen Erforschung diskontinuierlich verstreuter Anfänge. 11 Mögliche Füllungen und Präzisierungen des Begriffs diskutieren am Beispiel Rousseaus die Aufsätze in Pascal Delhom / Alfred Hirsch (Hg.), Rousseaus Ursprungserzählungen, München u.a.: Fink 2012. 12 Vgl. wiederum Sommer, Foundational Fictions, besonders die Grundlegung zur erotischen Nationalallegorie (ebd., 30-51) sowie die Textanalysen zu Sab (ebd., 114-137) und María (ebd., 172-203). Eine kritische Diskussion des Deutungsansatzes sowie Literaturhinweise zur an Sommer anschließenden Forschung enthält das Kapitel I.3.1 dieser Studie. 13 Zum Terminus siehe Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin: P. Cassirer 1920, 116ff. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 253 IV.2 Thesenbildung Die zügige Konsekration als „novela nacional“ 14 verdankt María demnach weniger einer unterschwelligen Politisierung als vielmehr der Intuition eines Teilzeit-Romanciers, der aus eigenen Verlusterfahrungen kreatives Kapital schlägt. Wie Jorge Isaacs’ wechselhafte Bio- und Bibliographie zeigen, verfasst er sein Erfolgsbuch zu einer Zeit, als der Typus des Großgrundbesitzers mit Hobbydichter-Qualitäten überholt ist und der professionelle oder gar ästhetisch autonome escritor noch kein hinreichendes Wirkungsfeld hat. Nachzuvollziehen ist daher die zweigleisige Kompensation, die der Kolumbianer in der Vermittlung lebensweltlicher und literarischer Notwendigkeiten verfolgt: Während er sich als Berufspolitiker am aktuellen Tagesgeschehen zu orientieren hat, (ent-)führt ihn seine narrative Fiktion in Vergangenheiten, die die defizitäre Wirklichkeit der Gegenwart eher aufdecken als dafür entschädigen. Das Erzählen im Licht des Anachronismus, das Isaacs in María perfektioniert, kommt nirgends plastischer zum Vorschein als in den intertextuellen Schichten des Romans. Die lustvoll zelebrierte Nostalgie bestimmt sowohl die Selektion als auch den Verknüpfungsmodus der transkulturellen Aneignung, so dass der Rückgriff auf den konservativsten Zweig der französischen (Prä-)Romantik nicht weiter erstaunt. Mit Bernardin de Saint- Pierre und Chateaubriand schließt María an einen Überlieferungsstrang an, der in den 1860er Jahren breit akzeptierte Klassiker bereitstellt. Das sensibilité-Ideal aus Frankreich liefert den Maßstab für eine familiäre Gefühlsgemeinschaft, deren sicherer Verfall insbesondere in der Zeitorganisation und der Gestaltung des Schauplatzes widerhallt. Denn alles, was in María geschieht, geschieht gewissermaßen ex post, weshalb der Erzählakt von vornherein stagniert. Der retrospektiven Vermittlung tritt das Setting des kolumbianischen Cauca-Tals zur Seite, dessen minutiöse Beschreibungen vielfach als Realismus-Nachweis des Romans bürgen sollten. Näher besehen, zeichnen die ausladenden Naturschilderungen aber serielle Korrespondenzlandschaften, deren Einklang mit dem Seelenleben des Personals auch unter negativen Vorzeichen gewahrt bleibt. Um die arkadische Kulisse möglichst lange aufrechtzuerhalten, muss Isaacs Momente poetologischer Reflexivität tunlichst vermeiden, was María neben breiter Publikumsresonanz gleichfalls den Vorwurf tränenreicher Kitschästhetik einbrachte. 15 Was in Silvas De sobremesa als Ätiologie einer 14 Pedro Gómez Valderrama, „María en dos siglos“, in: Carlos A. Caicedo Licona (Hg.), Jorge Isaacs, su „María“, sus luchas, Medellín u.a.: Ed. Lealon 1989, 87-117, hier 93. 15 Bereits wenige Jahre nach dem Erscheinen (1873) räsoniert etwa der mexikanische Dichter Guillermo Prieto über die Tränenrührigkeit des Romans und stößt damit eine endlose Polemik gegen den Gefühlskitsch in María an. Vgl. hierzu die Angaben bei Gómez Valderrama, „María en dos siglos“, 90f. sowie die erhellenden Beobachtungen 254 Ursprungsnarrative um 1860 Persönlichkeitsspaltung thematisch wurde, sucht sein älterer Landsmann gänzlich auszublenden: Mediale Übertragungsphänomene, seien sie semiotischer oder technischer Art, haben in der Landgut-Pastorale von Efraín und María keinen Platz, sie verschwinden scheinbar zugunsten eines Urmediums der Natur, das nur die Sprache reiner Signifikate, die unverstellte Sprache der Liebe kodiert. Doch entgegen der programmatischen Setzung brechen auch in María die Notwendigkeiten von Verkehr und Kommunikation in das romantische Paralleluniversum ein und verbriefen letztlich sogar das tragische Ende der Liebenden. Kein Wunder, bedenkt man, dass wir es mit dem Text eines Autors zu tun haben, der eigenhändig an der infrastrukturellen Erschließung und damit Entzauberung einstiger Sehnsuchtsorte mitwirkt. Die ungetrübte Sinnlichkeit, die ehedem im Valle del Cauca regiert haben mag, muss kollabieren, und das umso mehr, als Isaacs’ Roman als durch und durch vermittelter auftritt. Anders gesagt: Das Ursprungsnarrativ, das María entfaltet, gründet auf einer Dynamik des Supplements, die alle Dimensionen des Erzählens erfasst: Supplementär verfährt so die romaneske Fiktion selbst, indem sie die französischen Darstellungsmuster adaptiert, ihren Exotismus aber nicht etwa nachhaltig transformiert, sondern lediglich regionalistisch umwidmet. Als überzählige Ergänzung - und weniger als fruchtbare Nachfolge und Fortsetzung - erscheint ebenfalls das Protagonistenpaar, das eine Familiengenealogie beerben soll, die als Gesellschaftsordnung längst obsolet ist. Und ein Supplement bleibt am Ende auch die Autorschaft des Jorge Isaacs, der neben anderen Ersatz-Posten zum Romancier mutiert, ohne je den Traum von seiner hacienda aufgegeben zu haben. IV.3 Hacendado sin hacienda - Marías Bestimmtheit und Isaacs’ Unbestimmtheit Eine regelrecht supplementäre Vervielfältigung erlebt María jedenfalls im Laufe ihrer Editionsgeschichte. Bereits 1976 kommt eine approximative Erhebung auf 164 spanischsprachige Ausgaben, 16 wozu sich bis heute etliche weitere sowie zahlreiche Übersetzungen, Bühnenbearbeitungen und Verfilmungen gesellen. Die beeindruckende Bibliographie stellt María in eine Reihe mit Großkalibern wie Gabriel García Márquez’ Cien años de soledad (1967), weshalb der Verfasser mittlerweile als Säulenheiliger der kolumbianischen Nationalkultur gilt. Auch Jorge Isaacs’ Konterfei ziert (in der Emission des Jahres 2000) eine Banknote des Landes, wobei er mit dem von Margo Glantz, „La húmeda identidad: María de Jorge Isaacs“, in: Dies., La lengua en la mano, México: Premia 1983, 84-90. 16 Die Zahl fällt in der Broschüre 100 Marías, Bogotá: Fondo Cultural Cafetero 1985. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 255 50000-Pesos-Schein gar das Zehnfache eines José Asunción Silva erreicht, ohne dass Isaacs seinerzeit mehr wirtschaftliche Fortune beschieden gewesen wäre. IV.3.1 Marías Leben nach dem Tod: Geschichte einer posthumen Emanzipation Die Erfolgsgeschichte, die zur Popularisierung und Kanonisierung von María führt, 17 setzt sogleich nach der Veröffentlichung des Romans ein und überschreitet alsbald die Landesgrenzen. Anfang 1867 in Bogotá bei José Benito Gaitán publiziert, umfasst die Erstausgabe eine Auflage von rund 800 Exemplaren, die schnell vergriffen ist und die Jorge Isaacs binnen weniger Wochen an die Spitze der hauptstädtischen Romanciers katapultiert, ja ihn zu „uno de los hombres más admirados y solicitados por la sociedad bogotana“ 18 macht. Trotz des Verdachts posthum akzentuierter Ehrerbietung deckt sich folgende Erinnerung des Freundes Luciano Rivera y Garrido mit anderen Quellen, wie der Blick in die zeitgenössische Presse beweisen könnte: Isaacs fue entonces el hombre de moda. Las mujeres deseaban con vehemencia conocerlo, pues vieron en él al intérprete afortunado de todas las ternuras femeninas; los salones de alta sociedad le abrieron de par en par sus doradas puertas; los círculos literarios, que ya lo habían aclamado como gran poeta, le cedieron el primer puesto como novelista; y todo el mundo admiró su ingenio sin restricciones. 19 17 Die Konsekration des Romans als nationales und zuweilen harsch kritisiertes Kulturerbe diskutieren Carlos Rincón, „Sobre la recepción de María en Colombia. Crisis de la lectura repetida y pérdida de autoridad del canon (1938-1968)“, in: Darío Henao Restrepo (Hg.), Jorge Isaacs - El creador en todas sus facetas (Memorias del primer simposio internacional), Cali: Universidad del Valle 2007, 79-109; Diana Carolina Toro-Olga Vallejo Murcia, „Jorge Isaacs en la historiografía literaria colombiana o de cómo se hace un canon“, in: Henao Restrepo (Hg.), Jorge Isaacs - El creador en todas sus facetas, 111- 120 sowie Susana Zanetti, „María de Jorge Isaacs y los problemas de constitución de un canon de América Latina - Aspectos internacionales de independencia literaria“, in: Barbara Buchenau / Annette Paatz (Hg.), Do the Americas Have a Common Literary History? , Frankfurt/ Main u.a.: Lang 2002, 251-264. Stationen der Rezeption und Forschung resümieren ferner José Promis, „Las tres caras de María (Lectura de lecturas de la novela de Jorge Isaacs)“, in: Signos 24/ 29 (1991) 67-75 und Elzbieta Sklodowska, „María de Jorge Isaacs, ante la crítica“, in: Thesaurus 38/ 3 (1983), 617-624. 18 So zur unmittelbaren Aufnahme des Romans María Teresa Cristina, die die Isaacs- Werkausgabe betreut: „Introducción“, in: Jorge Isaacs, Obras completas, Bd. 1: María, Bogotá: Universidad Externado de Colombia u.a. 2005, XXIX-XLVIII, hier XXXI. Editionsgeschichtliche Details dokumentiert bereits Ignacio Rodríguez Guerrero, Ediciones de la novela „María“ de Jorge Isaacs (1867-1967), Pasto: Embajada de Colombia 1967. 19 Luciano Rivera y Garrido, „Jorge Isaacs“ [1893], in: Ders., Impresiones y Recuerdos, Bogotá: Biblioteca Popular de Cultura Colombiana u.a. 1946, Bd. 1, 109-168, hier 123f. 256 Ursprungsnarrative um 1860 Angesichts der überwältigenden Aufnahme nimmt es nicht wunder, dass der bisher nur den Eingeweihten bekannte „gran poeta“ zügig eine Folgeausgabe seines Romans publizieren will. Obwohl schon seit dem Sommer 1868 Meldungen kursieren, 20 dass demnächst zwei Bände mit Isaacs’ Dramen, Gedichten sowie einer überarbeiteten Fassung der umschwärmten María erscheinen sollen, passiert erst einmal nichts. Der Grund ist denkbar einfach: Der Newcomer der vergangenen Literatursaison hat nicht die Mittel, um seine Werkschau zu finanzieren oder um die entsprechende Papiermenge zu kaufen. Es wird darum ein weiteres Jahr bis 1869 vergehen, ehe Jorge Isaacs in der Druckerei Medardo Rivas zumindest eine zweite María veröffentlichen kann, ohne dass noch von einem Zusatzband inklusive Lyrik und Theater die Rede ist. Man muss die editorischen Einzelheiten nicht weiterverfolgen, es genügt die schlichte Bestandsaufnahme, dass Isaacs unmittelbar fast nichts an seinem Sensationsroman verdient und, schlimmer noch, dass er kaum je etwas daran verdienen wird. Dieser hat sich nämlich bereits verselbstständigt, als der Kolumbianer 1878 noch eine dritte Ausgabe besorgt (Bogotá, Medardo Rivas) und 1891 eine Fassung letzter Hand vorbereitet, die allerdings erst 1922 (Bogotá, Camacho Roldán & Tamayo) in Druck geht. Kurzum: María tritt einen internationalen Siegeszug an, ohne dass ihr Schöpfer in irgendeiner Weise davon profitierte. Da Isaacs keine Urheberrechte geltend machen kann, hat er keinerlei Einfluss auf die Piratenausgaben, die in den 1870er Jahren oftmals im lukrativen Feuilleton-Format erscheinen und angefangen von Argentinien über Mexiko und wieder zurück nach Chile den Kontinent erobern. Als schließlich Großteile der autorisierten 1878er-Version nach Ecuador, Peru und Chile versandt werden, ist die unkontrollierte Diffusion des Romans nicht mehr aufzuhalten. Bis zum Jahrhundertende zirkulieren mindestens 30 verschiedene Marías in Lateinamerika, gleich wie unzuverlässig und verstümmelt der Text jeweils ausfällt. Bis zu seinem Tod muss Isaacs die wundersame Proliferation mit ansehen, ohne eine Handhabe zu besitzen, um die wohlverdienten und zum Auskommen bitter benötigten Tantiemen einzufordern. Seiner Empörung macht er in einem Brief an den mexikanischen Schriftsteller Justo Sierra vom 19. März 1889 Luft, wobei die Frage nach einem Erlös eine rhetorische bleiben wird: Usted sabe que en México se han hecho ya catorce ediciones de María, y las hechas en los demás países de Hispanoamérica, sin contar éste, pasan de veinticinco. ¿Qué resultado supone usted que daría en México algo que se hiciera con el fin de excitar a los editores del libro a formar un fondo que recompensara, siquiera en parte, mis derechos como autor de ese libro? ¿Qué efecto daría, hecha desde allá, una excitativa semejante a los demás editores 20 Siehe die Wiedergabe einer entsprechenden Annonce aus der Zeitung La Paz (9. Juni 1868) bei Cristina („Introducción“, in: Isaacs, Obras completas, Bd. 1, XXXIII), auf deren Angaben sich folgende Hinweise stützen. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 257 de América que, perjudicándome tanto, han hecho ediciones sin consentimiento mío? 21 Die Hoffnung auf eine rückwirkende Entschädigung zerplatzt freilich, Isaacs hat sie niemals erhalten, wenngleich sein einziger Roman als kontinentaler Exportschlager für Furore sorgt. María rächt sich an ihrem Autor, indem sie ihm ebensolche Defizite beschert, wie dieser in ihrer traurigen Geschichte durchspielt. Im größeren literarhistorischen Rahmen signalisiert der buchstäblich entfesselte Triumph des Werkes eines mit Nachdruck: Ein fest umrissenes Feld narrativer Produktion existiert noch nicht, als María zum Kultbuch aufsteigt und auf der anderen Seite des Atlantiks eine Art Werther-Fieber auslöst. Keine stabile Hierarchie literarästhetischer Positionen zeichnet sich zu jener Zeit in der kolumbianischen wie in weiten Teilen der hispanoamerikanischen Erzählprosa ab und hält die Einflussnahme politischer oder sozioökonomischer Machtpole auf Distanz. 22 Im Gegenteil: Die sukzessive Expansion einer kapitalistisch agierenden Druckindustrie, die kulturelle Güter möglichst reibungslos in bare Münze zu konvertieren trachtet, befördert eher noch den Wildwuchs in den literarischen Landschaften. Nicht einmal für den kommerziellen und akademischen Erfolg lassen sich sichere Kriterien vorhersagen, wie Marías spektakuläre Emanzipation veranschaulicht. Denn während der Roman neben der Breitenwirkung alsbald auch das Placet internationaler Kultureliten und Bildungseinrichtungen erhält, 23 wird Isaacs niemals dieselbe Autorität, nie alle „titres donnant droit au statut d’écrivain“ 24 besitzen. Anders als die nachfolgende Generation der Modernisten, die ihre Definitionskämpfe bereits weitgehend literaturintern austragen, muss er verschiedenste Ansprüche in Einklang bringen, um überhaupt die Balance zwischen Leben und Schreiben zu wahren. Verant- 21 Zitiert nach: Jorge Isaacs, Cartas de Jorge Isaacs [1956], in: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes 2010, URL: http: / / www.cervantesvirtual.com/ nd/ ark: / 59851/ bmc7d3c9 (abgerufen am 10.6.2017). 22 Die Entkoppelung von externen Machtinstanzen ist Bourdieu (Règles de l’art, 355f.) zufolge Grundvoraussetzung für eine relative Eigenständigkeit des literarischen Feldes: „Le degré d’autonomie d’un champ de production culturelle se révèle dans le degré auquel le principe de hiérarchisation externe y est subordonné au principe de hiérarchisation interne: plus l’autonomie est grande, plus le rapport de forces symbolique est favorable aux producteurs les plus indépendants […].“ 23 Es seien die gewichtigen Stimmen eines Altamirano, Darío, Martí oder Unamuno genannt, die María als den Roman Hispanoamerikas schlechthin feiern; siehe zur frühen Rezeption etwa die Angaben bei Susana Zanetti, „La lectura de María: constitución de un clásico hispanoamericano“, in: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes 2009, URL: http: / / www.cervantesvirtual.com/ nd/ ark: / 59851/ bmcgm8q5 (abgerufen am 10.6.2017); Vallejo Murcia, „Jorge Isaacs en la historiografía literaria“, 111- 120 und Kerstin Cornils, Neues aus Arkadien. Der Streit um die Moderne bei Adalbert Stifter und Jorge Isaacs, Köln: Böhlau 2007, 111-123. 24 Bourdieu, Règles de l’art, 365. 258 Ursprungsnarrative um 1860 wortlich hierfür zeichnen aber nicht nur die schwierigen Rahmenbedingungen, denen sich zwischen 1860 und 1870 die meisten Kunstschaffenden in dem von Bürgerkriegen zerrütteten Kolumbien gegenübersehen. Nicht allein die Unübersichtlichkeit institutioneller Grenzverläufe, der Mangel an spezifischen Publikations- und Diskussionsforen oder das Fehlen kontrollierter Markt- und Rechtsmechanismen verhindern, 25 dass Isaacs an den Renditen teilhat, die María einfährt. Seine Etablierung als monetär gesegneter und/ oder literarisch gefeierter Romancier scheitert zugleich am schriftstellerischen Habitus, den er seinen Dispositionen gemäß an den Tag legt. Die Unbestimmtheit, der Isaacs ausgesetzt bleibt, hat ihr Pendant in der Bestimmtheit, mit der María ihren Ruhm - und mag dieser auch Häme und Kritik umfassen - vermehrt. IV.3.2 Im Niemandsland der Gesellschaft Die autobiographischen Substrate in María sind ebenso evident wie in entscheidenden Aspekten irreführend, 26 wollte man daraus eine lebensgeschichtlich verlässliche Rückprojektion gewinnen. Anders nämlich als sein zartbesaiteter Romanheld bekundet Isaacs ein beachtliches Stehvermögen bei der Bewältigung der Rückschläge, die ihn von klein auf ereilen. Im Laufe der Adelung zum Staatsautor hat man Isaacs Werdegang akribisch und zuweilen mit hagiographischer Tendenz durchforstet, weshalb die einzelnen Stationen hier keineswegs en détail rekapituliert zu werden brauchen. 27 Aufs Ganze betrachtet, registriert man einen hektischen Aktionismus, der - negativ gewendet - Unentschlossenheit und Wankelmut verrät. Die schmale Faktenbasis, insbesondere zur Kindheit und Jugend, hat die Analogiebildungen mit dem Protagonisten aus María zusätzlich stimuliert. Isaacs selbst zieht ein eher nüchternes Fazit und erwähnt in einem Curriculum Vitae aus dem Jahr 1874 neben seiner Geburt 1837 im „Estado del 25 Zur Unübersichtlichkeit des (erzähl-)literarischen Felds im Kolumbien des 19. Jahrhunderts vgl. etwa Raymond Leslie Williams, The Colombian Novel, 1844-1987, Austin: Texas UP 1991, 20ff./ 55ff. und Camacho Guizado, „La literatura colombiana entre 1820-1900“, 615-693. 26 Das räumt sogar der renommierte Isaacs-Interpret Donald McGrady (Jorge Isaacs, New York: Twayne 1972, 65) ein, der gemeinhin den biographisch basierten Realismus des Romans betont: „Nevertheless it is dangerous to draw conclusions about Isaacs’ biography from his novel, as has often been done, because he alternates real happenings with fiction, and also because he sometimes slightly modifies essentially factual information.“ 27 Die Anmerkungen zu Isaacs’ Bio- und Bibliographie rekurrieren auf: McGrady, Jorge Isaacs, 13-32; Jaime Mejía Duque, Isaacs y „María“: el hombre y su novela, Bogotá: La Carreta 1979; Fabio Martínez, La búsqueda del paraíso. Biografía de Jorge Isaacs, Bogotá: Planeta 2003. Einen konzisen Abriss zu Leben und Werk gibt der Eintrag der Isaacs- Forscherin María Teresa Cristina in der Gran Enciclopedia de Colombia Temática, Bd. 9: Biografías 1, Bogotá: Círculo de Lectores 1994, 300-303. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 259 Cauca“ 28 sowie dem englischstämmigen Vater und der kolumbianischen Mutter lediglich die Schulbesuche in Cali, Popayán und Bogotá. Hinzuzufügen wäre allenfalls, dass der Vater aus Jamaika immigriert, im Chocó und in Cali mittels Bergbau, Handel sowie Zuckerrohr zu Geld kommt und dass er - was mitunter als Deutungsschlüssel für den Roman angesehen wurde - zugunsten seiner Ehefrau vom Judentum zum Katholizismus konvertiert. Isaacs’ Schullaufbahn, die politisch wie pädagogisch im Zeichen des Reformliberalismus steht, 29 findet 1852 ein frühes Ende, als Jorge erst fünfzehnjährig das colegio in Bogotá verlassen muss. Onne Abschluss oder Berufsqualifikation kehrt er nach Cali zurück, wo ihn anstelle familiärer Geborgenheit finanzielle und gesundheitliche Schwierigkeiten des Vaters erwarten. Letztere vereiteln auch, dass der Sohn, wie vorgesehen, die obligatorische Bildungsreise nach Europa antritt und in London Medizin studiert. Stattdessen treffen wir Isaacs in den verworrenen Grabenkämpfen wieder, die Kolumbien über Jahrzehnte hinweg spalten. 30 1854 und 1860 dient er jeweils in den Regierungstruppen, die gegen den Separatismus in seiner Heimatprovinz zu Felde ziehen. Isaacs übersteht die militärischen Abenteuer einigermaßen unbeschadet und heiratet 1856 die vierzehnjährige Felisa González Umaña, die er zunächst umschwärmt und von der er sich später ungeachtet zahlreicher gemeinsamer Kinder distanziert. Als er schließlich gezwungen ist, mit seinem Bruder die Familien-Geschäfte und -Ländereien zu führen, agiert er glücklos und muss nach dem Tod des Vaters (1861) zur Schuldentilgung das gesamte Vermächtnis, einschließlich der Anwesen La Rita und La Manuelita (1864), veräußern. Immerhin erlaubt ihm die neuerliche Übersiedelung nach Bogotá, literarisch an die Öffentlichkeit zu treten und im Mosaico-Zirkel erstmals seine intimistischen Sehnsuchtsgedichte vorzutragen. Weder deren Veröffentlichung (1864) noch der Umgang mit Kulturgrößen der Zeit helfen aber über die permanenten wirtschaftlichen Engpässe hinweg. Diese sind letztlich der Grund für eine Vielzahl von Beschäftigungen, die Isaacs häufig ebenso abrupt ergreift wie er sie wieder aufgibt und die ihn sowohl zum Straßen- 28 Die autobiographische Notiz ist hier zitiert nach: Cristina, „Jorge Isaacs“, in: Gran Enciclopedia de Colombia, Bd. 9, 300. 29 Die liberale Regierung des Präsidenten José Hilario López (1849-53) reagiert auf ein Jahrzehnt massiver Unruhen u.a. mit der Abschaffung der Sklaverei (1851/ 52), wogegen sich gerade die Latifundisten im Cauca-Tal erbittert wehren. 30 Zum faktengeschichtlichen Kontext vgl. Álvaro Tirado Mejía, „El estado y la política en el siglo XIX“, in: Jaime Jaramillo Uribe et al. (Hg.), Manual de Historia de Colombia, Bd. 2: Siglo XIX, Bogotá: Procultura / Inst. Colombiano de Cultura ²1982, 325-384, bes. 334ff. und Hans-Joachim König, „Ecuador, Kolumbien, Venezuela“, in: Bernecker et al. (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 2, 594ff. Den steinigen Weg vom Vizekönigtum Neu-Granada zum kolumbianischen Nationalstaat verfolgt ausführlich Hans-Joachim König, Auf dem Wege zur Nation. Nationalismus im Prozess der Staats- und Nationbildung Neu-Granadas 1750 bis 1856, Stuttgart: Steiner 1988. 260 Ursprungsnarrative um 1860 bauinspektor (1864/ 65) als auch zum Natur- und Volkskundler (v.a. in den 1880er Jahren), zum Botschafter (1871/ 72 in Chile) wie zum Erziehungsreformer (ab 1874), zum Journalisten (ab 1867) 31 wie zum Berufspolitiker (bis 1880) und nebenbei zum Romanautor werden lassen. Gerade die politische Karriere gibt aus heutiger Sicht Rätsel auf, ist sie doch von einer stetigen Unstetigkeit geprägt, die Isaacs zunächst vom katholischen Konservativismus ins Lager der Liberalen (ab 1868) lotst und daraufhin zu den Separatisten, in deren Namen er sich 1880 sogar zum Präsidenten der autonomen Provinz Antioquia ausrufen lässt, um sodann mangels Unterstützung noch im selben Jahr wieder zurückzutreten. 32 Die spontanen Parteien- und Ämterwechsel erklären sich weniger aus Gesinnungsakten, wie der Abgeordnete glauben machen will, als er Ende der 1860er Jahre sein Bekenntnis zum liberalismo radical ablegt: „[H]e pasado de las sombras a la luz.“ 33 Unter der autosuggestiven Beschwörung verbirgt sich vielmehr jene gesellschaftliche Fluktuation, die Isaacs spätestens seit der Enteignung des Familienbesitzes begleitet und auf die Suche nach jeweils neuen Erwerbsmöglichkeiten schickt. 34 Es ist bezeichnend, dass er dabei auf Gebieten fündig wird, die im damaligen Hispanoamerika weder als Berufsfelder noch als Milieus trennscharf definiert sind: Diplomatie, Ethnographie sowie besonders Presse, Politik und Literatur grenzen sich nicht system(at)isch von ihrer sozialen Umwelt ab, überschneiden sich oft und bieten Raum für Multitalente, die auf mehreren Bühnen gleichzeitig reüssieren wollen. Isaacs bleibt dies verwehrt, seine vielfältigen Begabungen, Überzeugungen und Absichten blockieren sich eher gegenseitig und verhindern eine konsequente Profilierung. Die Annahme einer Stellung, eines Postens oder eines Auftrags ist meist der schlichten Notwendigkeit geschuldet, seine vielköpfige Familie zu ernähren und zumindest pro forma einen gewissen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. 31 Auch Isaacs’ Presse-Aktivitäten bleiben jeweils kurzzeitige Episoden: Den Posten des Chefredakteurs in der konservativen Tageszeitung La República hat er z.B. nur einige Monate 1867 inne, ehe er auf die liberale Seite wechselt. 32 Eine übersichtliche Darstellung zur politischen Karriere gibt Otto Morales Benítez, „El desconocido político Jorge Isaacs“, in: Henao Restrepo (Hg.), Jorge Isaacs - El creador en todas sus facetas, 15-60. Flügelwechsel sind in der zeitgenössischen Parteienlandschaft keine Seltenheit, was weniger mit ideologischen Grauzonen als vielmehr mit wirtschafts- und kirchenpolitischen Kontroversen zu tun hat. Vgl. dazu Fernando Díaz Díaz, „Estado, Iglesia y desamortización“, in: Jaime Jaramillo Uribe (Hg.), Nueva Historia de Colombia, Bd. 2: Era republicana, Bogotá: Planeta 1989, 197-222. 33 So eine Aussage Isaacs’, die ein Parlamentarier überliefert; zitiert nach: Morales Benítez, „El desconocido político Jorge Isaacs“, 18. 34 Ähnlich fassen Isaacs’ gesellschaftliche Ortlosigkeit Gustavo Mejía, „La novela de la decadencia de la clase latifundista: María de Jorge Isaacs“, in: Escritura 1-2 (1976), 261- 278, hier 275 sowie Doris Sommer, „El mal de María: (con)fusión en un romance nacional“, in: Modern Language Notes 104/ 2 (1989), 439-474, hier 448 (englische Fassung: Sommer, Foundational Fictions, 172-203, hier 179f.). Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 261 Solcher Pragmatismus überschattet selbst die Glaubwürdigkeit der literarischen Aktivität. Denn Isaacs, der bis zu seinem Tod 1895 an einer historischen Romantrilogie über die geliebte Cauca-Region gearbeitet haben soll, denunziert schon 1886 in einem Brief an seinen Vetter Jorge Holguín die potentielle Nichtigkeit poetischer Ambitionen, um stattdessen lauthals ziviles Engagement einzufordern und sehr leise sein Interesse an den kolumbianischen Kohlevorkommen „entre las tribus bárbaras“ anzudeuten: Hacer todo eso, arriesgando la vida a todas horas, viviendo entre las tribus bárbaras que devora la peste, o embarcado en una cáscara de nuez y desafiando tempestades [...] me parece mejor y más útil y efectivo que hacer odas y madrigales para divertir gratis al público sensible. ¿Qué dice Ud., autor y maestro, de mi sensatez prosaica? Las musas dizque están, por ende enojadas conmigo y desdeñosas. ¡Embustes! Menos enamoradizos habrían de ser. Lo que hay es que no siempre se ha de vivir canturriando: el país está en miseria, y más para que le ayuden que para coronar poetas. 35 Isaacs - so darf ohne überzogenen Ikonoklasmus gesagt werden - hängt einer Illusion an; einer Illusion, die an erster Stelle sozioökonomischer Observanz ist und die nicht einmal die Instrumentalisierung der Literatur scheut. Es geht ihm um die Privilegien, die er aus dem Elternhaus gewohnt ist, die ihm später zwischen den Fingern zerrinnen und deren Restitution ihm nach eigenem Dafürhalten allemal zusteht. Nur vor dem Hintergrund dieser Chimäre erklärt sich die Rastlosigkeit, mit der er Tätigkeiten und Ansichten wechselt, mit der er die Musen verrät und noch im fortgeschrittenen Alter vom politischen Wendehals zum Mineralogen mutiert, als der er die heimischen Rohstoffe heben möchte. Allein so wird man auch das Selbstmitleid verstehen, mit dem er über die Ungerechtigkeiten eines Literaturbetriebs klagt, dessen Heteronomie eigentlich nichts anderes erwarten lässt als Misstrauen gegenüber einem Autor, der im Niemandsland der Gesellschaft flottiert. Unentschieden zwischen dem ruralen (Quasi-)Feudalismus, an dessen Spitze er stehen sollte, und dem Versuch, in Domänen des liberalen Bürgertums vorzudringen, bleibt Isaacs gleichsam ein hacendado sin hacienda, ohne je zum veritablen Journalisten, Unternehmer, Naturforscher oder zu einem zu Lebzeiten kontinuierlich anerkannten und ausreichend entlohnten Schriftsteller zu werden. Sowohl die individuelle Prägung als auch die geringe literarische Ausdifferenzierung gehen damit in die Erzeugungsformel ein, die den Roman María hervorbringt und die dessen geistigem Vater scheinbar nur gelingt, um ihm abermals zu entgleiten. Konkreter gefasst: Was liegt näher, als die Nostalgie, die der zu spät geborene Großgrundbesitzer Isaacs erfahren muss, erzählerisch fruchtbar zu machen? Doch anders als vielerorts angenommen, manifestiert sich die fiktionale Bi- 35 Hier zitiert nach: Cristina, „Jorge Isaacs“, in: Gran Enciclopedia de Colombia, Bd. 9, 303. 262 Ursprungsnarrative um 1860 lanzierung in María nicht als maßstabsgetreue Reparation dessen, was dem Autor faktisch abhandenkommt, namentlich Besitz, Vermögen und Ansehen. 36 Wie sooft beruht die Attraktivität des Ursprungsnarrativs kaum auf überzeugender Referentialisierbarkeit im Wirklichen, sondern auf einer Verallgemeinerung, welche die Uneinholbarkeit des Ideals vorab auf Dauer stellt. IV.4 Qui perd gagne: Transkulturelle Idyllen des Anachronismus 37 Nicht von ungefähr setzt María sogleich mit einer ersten Vertreibung aus dem Paradies ein, genauerhin aus El Paraíso, dem Anwesen, das die Familie des Protagonisten in perfekter Symbiose mit der Umgebung und das heißt vornehmlich mit ihren Untergebenen bewohnt (M 53) 38 : Era yo niño aún cuando me alejaron de la casa paterna para que diera principio a mis estudios en el colegio del doctor Lorenzo María Lleras, establecido en Bogotá hacía pocos años, y famoso en toda la República por aquel tiempo. En la noche víspera de mi viaje, después de la velada, entró a mi cuarto una de mis hermanas, y sin decirme una sola palabra cariñosa, porque los sollozos le embargaban la voz, cortó de mi cabeza unos cabellos: cuando salió, habían rodado por mi cuello algunas lágrimas suyas. 36 In diese Richtung zielen viele soziologisch interessierte Lektüren, die nach langer biographistischer María-Rezeption wertvolle, aber teils einseitige Erkenntnisse zur Historizität des Romans versammeln; vgl. etwa Sharon Magnarelli, „María and History“, in: Hispanic Review 49/ 2 (1981), 209-217; Carmen Vásquez, „Races et classes sociales dans María“, in: Olver Gilberto de León (Hg.), Le roman romantique latino-américain et ses prolongements, Paris: L’Harmattan 1984, 85-101; Thomas Bremer, „Jorge Isaacs: María“, in: Volker Roloff / Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.), Der hispanoamerikanische Roman, Darmstadt: WBG 1992, Bd. 1, 64-77 oder Rodolfo A. Borello, „Sociedad y paternalismo en María“, in: Cuadernos Hispanoamericanos 562 (1997), 67-80. Nuanciert argumentiert Gustavo Mejía („La novela de la decadencia“, 261-278), der den Niedergang der Großgrundbesitzerklasse mit dem Aufstieg einer fortschrittsorientierten Mittelschicht (Händler, Handwerker, Pächter, etc.) engführt, deren Mitglieder in María zwar nur Nebenrollen innehaben, aber allesamt überleben. 37 Überlegungen des Kapitels IV.4 finden sich bereits in folgendem Aufsatz des Verfassers niedergelegt: Kurt Hahn, „La ganancia imaginaria de la pérdida - Anacronismo y narración suplementaria en María de Jorge Isaacs“, in: Cristina Albizu et al. (Hg.), Anachronismen - Anachronismes - Anacronismi - Anacronismos (Atti del V Dies Romanicus Turicensis 2009), Pisa: Edizioni ETS 2011, 145-159. Den metaphorischen Übertitel des Kapitels entlehne ich freilich bei Jean-Paul Sartre (Qu’est-ce que la littérature? , Gallimard/ Folio 1948, 43) und seinem Diktum: „La poésie, c’est qui perd gagne.“ 38 Jorge Isaacs, María [1867], hg. von Donald McGrady, Madrid: Cátedra 11 2007. Alle Belege aus dem Roman finden sich fortan im laufenden Text, in Klammern gesetzt und mit der Sigle M sowie jeweiliger Seitenangabe versehen. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 263 Me dormí llorando y experimenté como un vago presentimiento de muchos pesares que debía sufrir después. Esos cabellos quitados a una cabeza infantil; aquella precaución del amor contra la muerte delante de tanta vida, hicieron que durante el sueño vagase mi alma por todos los sitios donde había pasado, sin comprenderlo, las horas más felices de mi existencia. Den Eintritt in die symbolische Ordnung, den die Haarsträhne und das Tränenmeer materialisieren und den der Schulbesuch institutionalisiert, erlebt der kleine Efraín als Exil, 39 das ihn wie eine unpersönliche höhere Gewalt heimsucht („me alejaron“). Gleichzeitig macht erst die schmerzliche Verbannung aus der Heimat begreiflich, worin eigentlich deren emotionaler Stellenwert gründet. Es ist deswegen nur zu verständlich, dass ein derart verheißungsvoller Abschied nach Wiederholung und Intensivierung verlangt, nach weiteren Trennungen, die der Roman dann auch reichlich in der vermeintlichen Ereignisprogression und in den eingeflochtenen Rückblenden bietet. IV.4.1 Paradiesische Sujetlosigkeit 40 und narrative Melancholie So gestaltet sich der tatsächliche point of attack der Fiktion zwar als Heimkehr, die den oben evozierten Bildungsaufenthalt in Bogotá beendet und die den nunmehr neunzehnjährigen Efraín zurück in den Schoß der Familie und „al nativo valle“ (M 54) führt. Allerdings markieren auch die Folgemonate, in denen sich das Geschehen größtenteils zuträgt, nur eine „Zwischenzeit“ 41 , deren Bedeutung erst ein weiterer Aufbruch fixieren wird. Just in diesem Intermezzo offenbart und entfaltet sich die innige Zuneigung zwischen Efraín und seiner Cousine zweiten Grades María. Wie eine früh in Kapitel VII (M 65-67) eingespielte Analepse berichtet, brachte der Vater des Protagonisten Don Jorge Letztere als Jüdin Ester aus Jamaika mit, adoptierte sie auf Bitte seines verwitweten Vetters (Salomón) und veranlasste dabei ihre Konversion zum Christentum inklusive des Namenswechsels. Das kurze, eher erahnte als ausgekostete Glück mit Efraín vermag nicht zu verhindern, dass die mittlerweile fünfzehnjährige María bald Symptome einer von ihrer Mutter (Sara) ererbten Epilepsie zeigt. Zu allem 39 Sommer („El mal de María“, 442) liest das Abschneiden des Haares schlüssig als „castración simbólica“, auf die Efraín später zwangsläufig mit der Niederschrift seiner Memoiren reagiert. 40 Eingehend diskutieren Isaacs’ Version der biblischen Vertreibung aus dem Paradies Sylvia Molloy, „Paraíso perdido y economía terrenal en María“, in: Sin Nombre 14/ 3 (1984), 36-55 und Viviana Díaz Balsera, „María y los malestares del paraíso“, in: Hispanófila 123 (1998), 37-53. 41 Als „Zwischenzeit“ definiert das entscheidende Erzählintervall in María Stephan Leopold („Die Zeit der Nation als Aufschub - Jorge Isaacs’ María und die Emergenz lateinamerikanischer Subjektivität“, in: Iberoromania 68 (2009), 49-74, hier 70), womit er aber die unendliche Frist bezeichnet, bis „die verheißene Zeit der Nation“ anbricht. 264 Ursprungsnarrative um 1860 Überfluss muss ihr geliebter Cousin auf Geheiß des Vaters bereits ein halbes Jahr später wieder die Familie verlassen und, bevor er María ehelichen darf, in London Medizin studieren. 42 Dort erreicht Efraín nach einem Jahr die Nachricht, dass sich Marías Zustand dramatisch verschlechtert hat, woraufhin er sofort die (zu) weite Rückreise über den Atlantik antritt. Bei seiner Ankunft ist die Versprochene schon ihrer Erkrankung erlegen, was akut Efraíns Zusammenbruch und mittelfristig den Untergang der ehedem blühenden Gutsherrensippe hervorruft. 43 Wenige Seiten referieren schließlich, wie der gebrochene Held Marías Grab besucht und in einem Dunkel entschwindet, dessen pathetische Bildlichkeit von einem nahen Suizid kündet (M 329): 44 „Estremecido, partí a galope por en medio de la pampa solitaria, cuyo vasto horizonte ennegrecía la noche.“ Die gedrängte Paraphrase der histoire legt den Minimalismus des amourösen Plots frei, mit dem Isaacs’ Roman offenkundig den Nerv der Zeit trifft. Denn alle weiteren Begebenheiten und Figuren gruppieren sich um die scheiternde Verbindung von Efraín und María. Als funktionale Ergänzungen, Spiegelungen oder retardierende Momente ordnen sie sich um jene knappe Spanne der Zweisamkeit auf dem väterlichen Gutshof, der allein 50 der insgesamt 65 - nach Art des Feuilletonromans aufbereiteten - Kurzkapitel gewidmet sind. 45 Dergestalt kreisen sowohl die ständisch inferiore Parallelbeziehung der Pächter Braulio und Tránsito als auch die vergebliche Werbung, die Efraíns Freund Carlos bei María anstrengt, um das Zentrum der Geschichte. Gleiches gilt für die umfängliche Episode über das afrikanische Sklavenpaar Nay und Sinar (M 214-235), die metadiegetisch das Liebesleid wiederholt und mit zusätzlichem Empathiepotential anreichert. Und als additionale Affektsteigerung liest sich letztlich auch der 42 Es ist der für Efraín ausersehene Fortschrittsberuf des Arztes, der politischen Lesarten - darunter Sommer („El mal de María“, 467ff); Leopold („Die Zeit der Nation“, 56f.; Ders., „Entre nation-building y Trauerarbeit. Asimilación, melancolía y tiempo mesiánico en María de Jorge Isaacs“, in: Folger / Leopold (Hg.), Escribiendo la Independencia, 209-223, hier 213f.) oder Lander (Modelando corazones, 171-183) - als Beleg dient, um Isaacs’ ruinösem Roman eine konstruktive Intention zu unterlegen und darin ein nationales Imaginäres auszumachen. Bedenkt man indes, dass die Medizinerkarriere des Protagonisten weit im Vorfeld scheitert und dieser nicht einmal seine Privatpatientin María kurieren kann, lässt sich die Projektion aufs staatliche Gemeinwesen immerhin in Frage stellen. 43 Schon zu Beginn warnt der Vater Efraín proleptisch, dass Marías Krankheit den Niedergang der ganzen Familie zur Folge haben kann (M 88): „María puede arrastrarte y arrastrarnos contigo a una desgracia lamentable de que está amenazada.“ 44 Angesichts der Herausgeberfiktion, die den Tod des Protagonisten bezeugt, ist Cornils (Neues aus Arkadien, 157) konträre Deutung des Romanausgangs kaum haltbar: Dafür, dass Efraín „von dem Gedanken Abstand [nimmt], er könne María durch eine suizidale Handlung in den Tod folgen“, sehe ich keine Indizien im Text. 45 Es verwundert daher kaum, dass manche der unautorisierten Ausgaben ab 1870 María als Fortsetzungsroman publizieren; vgl. Cristina, „Introducción“, in: Isaacs, Obras completas, Bd. 1, XXXVIII. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 265 geschäftliche Konkurs, der den Vater vorübergehend bedroht, ihn aufs Krankenlager streckt und hauptsächlich die Hoffnung auf eine Verschiebung von Efraíns Abreise nährt. Es ist leicht ersichtlich, dass die Bauweise des Romans im Ganzen binär angelegt ist. Danach ergibt sich eine Symmetrie der Figuren, wie die beiden treuen Sklaven der Protagonisten (Juan Ángel und Estefana), zwei persönliche Freunde Efraíns (Carlos und Emigdio), zwei nahestehende Landpächter (Braulio mit Tánsito, Tiburcio mit Salomé) oder die durchgehende Präsentation des Personals in Paaren belegen. Die Verdopplung greift ferner in narrativen und deskriptiven Sequenzen, so dass sich zwei minutiöse Jagdszenen und zwei Begräbnisse (Feliciana, María) finden, zwei Konversionen zum Christentum vollziehen (Nay → Feliciana und Ester → María) sowie mit „rosal“ und „azucena“ eine doppelte Blumenmetaphorik die Liebe von Efraín und María umrankt. 46 Der Dualismus der Erzählökonomie wäre nicht weiter bemerkenswert, resultierten daraus, wie zu erwarten, auch agonale Handlungskonstellationen. Doch die wenigen Kontrapunkte, die Isaacs überhaupt setzt, verharren in der Latenz, ohne bis zum vernichtenden Ende des Romans schärfer hervorzutreten. Als narratives Konstrukt leidet dieser, kurz gesagt, unter einer frappanten Konfliktarmut, da sich mögliche Ordnungsstörer wie die jungen Liebenden, Efraíns Nebenbuhler Carlos oder der Held selbst umstandslos den Autoritäten fügen. Strukturalistisch reformuliert, treten in María weder bewegliche Figuren noch echte Opponenten in Erscheinung, hat mithin keinerlei Grenzüberschreitung statt, die als Umwälzung eines Weltbilds zu qualifizieren wäre. 47 Nicht einmal Jurij M. Lotmans Alternative der „nichtsujethaften Kollision“ 48 lässt sich angesichts des Konformismus, den die Akteure an den Tag legen, schlüssig nachweisen. Anstelle der Implosion gegensätzlicher Sinnsysteme inszeniert der Roman kunstvoll eine vorab etablierte Komplementarität von Glück und Unglück, Euphorie und Dysphorie. Es zeugt darum eher von der hermeneutischen Kreativität der Kritik, wenn sie einen verborgenen „Oedipal struggle“ 49 des renitenten Sohnes 46 Die narrativen Dualismen erläutern ausführlich Seymour Menton, „La estructura dualística de María“, in: Thesaurus 25/ 2 (1970), 251-277; Ernesto Porras Collantes, „Paralelismo y oposición en la estructura de María“, in: Thesaurus 31/ 1 (1976), 58-83 und Bremer, „Jorge Isaacs: María“, 66-68. 47 Zur bekannten Terminologie vgl. Lotman, Struktur literarischer Texte, 311-347. 48 Das Konzept suggeriert Lotman in „Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen“ [1969], in: Ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. von Karl Eimermacher, Kronberg: Scriptor 1974, 338-377, hier 359; die begriffliche Präzisierung im Deutschen entnehme ich bei Rainer Warning, „Der Chronotopos Paris bei den ‚Realisten‘“, in: Ders., Phantasie der Realisten, 269-312, hier 288f. 49 Vgl. Sommer, Foundational Fictions, 198 sowie ähnlich Cornils, Neues aus Arkadien, 74- 85. Manfred Engelbert („La modernidad bífida o los avatares del capitalismo: Martín y Efraín“, in: Inke Gunia et al. (Hg.), La modernidad revis(it)ada. Literatura y cultura latinoamericanas de los siglos XIX y XX, Berlin: tranvía/ W. Frey 2000, 90-101, hier 92) 266 Ursprungsnarrative um 1860 ausmacht oder andere ereignisstiftende Dissonanzen in María konstruiert. Am plausibelsten erscheinen da noch die Bemerkungen zu einer gefährdeten Klassenhierarchie 50 oder zu Marías jüdischer Abstammung, die sich in der erblichen Epilepsie des Mädchens somatisiert, als Stigma an der konvertierten Familie haftet und ihre restlose Assimilation in der katholischen Oligarchie unterbindet. 51 Forcierter schon muten ethnische oder geschlechtliche Krisenherde an, die eine subtextuelle Dissidenz der afroamerikanischen Bevölkerung 52 oder der pathologisch rebellierenden Titelheldin veranschlagen. Keine der Optionen - und noch weniger ein inzestuöses Begehren des Vaters für die Stieftochter 53 - vermag jedenfalls einen offenen Schlagabtausch zu legitimieren. Vielleicht, so stünde zu vermuten, gibt es in María gar keine unterschwelligen Spannungen, die allmählich an die Oberfläche drängen und in der Sprengung des Familiengefüges voll durchbrechen? Vielleicht überfordert eine Deutung, die noch den deprimierenden Ausgang des Romans als prospektive Ahnung möglicher Veränderung wertet, schlechterdings den statischen Manichäismus in Isaacs’ Melodram? Dieses konzentriert sich allein auf die Dar- und Gegenüberstellung zweier elementarer Gefühlslagen, deren Absolutheit per definitionem Widerstände tilgen muss. Oder pointierter: Das Paradies, soll es seinem Namen gerecht werden, ist nun einmal konflikt- und sujetlos, genauso wie im Gegenzug die Katastrophe nichts mehr aufhält, sobald sie im Gange ist. Die Harmonie in María muss daher ebenso total sein wie der finale Verfall, ohne dass der Umschlag beider Zustände einer stringenten Motivation bedürfte. Die Ursache der Peripetie, die heutige Interpretationen verständlicherweise umtreibt, beschäftigt den Roman selbst kaum. Ganz zu schwei- meint sogar eine „pequeña rebeldía“ des Sohnes zu erkennen, wenn Efraín gegen den väterlichen Willen nochmals zum Familienbesitz zurückkehrt und dort ein ‚Jahrhundert des Glücks‘ („siglo de dicha“, M 327) imaginiert, das nach Marías Tod aber nurmehr im Irrealis psychopathologischer Obsession zu haben ist. Kein Wunder, dass der Protagonist noch am selben Tag im suizidären Dunkel der Pampa verschwindet. 50 Siehe die meist ideologiekritischen Lektüren, die Anm. 36 anführt. 51 Aus divergenter Perspektive verhandeln Marías jüdische Herkunft Gustavo Faverón Patriau, „Judaísmo y desarraigo en María de Jorge Isaacs“, in: Revista Iberoamericana 70/ 207 (2004), 341-357 und Sommer, „El mal de María“. Materialwie ideenreich und daher erschöpfend gleichen Cornils (Neues aus Arkadien, 386-394) und Leopold („Die Zeit der Nation“, 61-69; Ders., „Entre nation-building y Trauerarbeit“, 213-219) das alttestamentarische Ester-Narrativ mit Isaacs’ konvertierter Immigrantin Ester-María ab. 52 Wiederum ist es v.a. Sommer („El mal de María“, 470ff.), die in María eine Verschiebung der jüdischen Differenz der Heldin auf das ethnische Stigma afroamerikanischer Subalterner erkennen will. Vgl. ferner Salvador Bueno, „El negro en la novela romántica sentimental María“, in: Thesaurus 35/ 3 (1980), 550-564 und Lucía Ortiz, „El negro y la creación romántica de una identidad nacional. Hacia una relectura de María de Jorge Isaacs“, in: Dies. (Hg.), „Chambacú, la historia la escribes tú“: ensayos sobre cultura afrocolombiana, Frankfurt/ Main u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2007, 361-370. 53 Das mutmaßt in einer insgesamt sehr anregenden Lektüre Lee Joan Skinner, „Family Affairs: Incest in Jorge Isaacs’s María“, in: Hispanic Review 76/ 1 (2008), 53-69. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 267 gen von der frühen Leserschaft, die vorzugsweise an der Schicklichkeit der Liebesrelation interessiert ist und María meist eine Sittenstrenge bescheinigt, 54 die sich gegen die erotische Freizügigkeit in Teilen der europäischen Romantik ausspielen lässt. Die Schuldfrage stellen Isaacs und seine Zeitgenossen hingegen nur vage, wie bereits in einem von Marías letzten Briefen zum Ausdruck kommt. Statt den (Stief-)Vater, der sie und Efraín bewusst entzweite, offen anzuklagen, belässt es die Todkranke bei einem anonym gehaltenen Lamento. 55 Es macht viel vom Reiz des Romans aus, dass Isaacs auf handfeste Konfrontationen sowie eine gewundene Intrige verzichtet, um die Wirkungsästhetik vollends auf affektive Teilhabe abzustellen. Das Verfahren, das er dafür in Anschlag bringt, ist denkbar einfach und erfordert, bereits hier räumliche und besonders zeitliche Parameter der narrativen Organisation zu konturieren. Denn alles, was in María erzählt wird, wird streng genommen zu spät erzählt. Jeder Blick auf das scheinbar fortschreitende Geschehen ist deshalb als Rückblick kodiert, so dass sich eine durchweg ‚retrospektive Narration‘ 56 entspinnt, die schon vor dem Auftakt der Geschichte eingefroren wurde. Verbürgt ist das in der (fiktionalen) Widmung des Romans, die umgehend eine gewisse Erwartungshaltung katalysiert. Unter dem Siegel der Vertraulichkeit richtet sich darin ein unbekannter Herausgeber an die „hermanos de Efraín“, an die ‚Brüder‘ und ‚werten Freunde‘ („caros amigos“) des Helden, um die Ahnung von dessen Tod im Voraus zu bestätigen. Das Verhängnis, dessen Genese Efraíns schriftliches Vermächtnis ausbuchstabieren wird, ist damit von langer Hand vorbereitet (M 51): He aquí, caros amigos míos, la historia de la adolescencia de aquel a quien tanto amasteis 57 y que ya no existe. Mucho tiempo os he hecho esperar estas páginas. Después de escritas me han parecido pálidas e indignas de ser ofrecidas como un testimonio de mi gratitud y de mi afecto. Vosotros no ignoráis las palabras que pronunció aquella noche terrible, al poner en mis manos el libro de sus recuerdos: „Lo que ahí falta tú lo sabes; podrás leer 54 Das bestätigt z.B. die zeitgenössische Besprechung (1867) des Schriftstellers José María Vergara y Vergara, der Isaacs’ Roman eine vorbildliche Moral attestiert: „[María] es tan casta, que así como los dos amantes no se dijeron una sola palabra que no pudieran oír sus padres, así en el libro no hay una página que no pueda leer una madre de familia.“ (Zitiert nach: „Juicio crítico“, in: Jorge Isaacs, María. Novela americana (con un prólogo de José M. Vergara y Vergara y juicios de Ignacio M. Altamirano, Guillermo Prieto y Justo Sierra), Paris: Garnier Hermanos 1898, 1-6, hier 3). 55 „Si no hubieran interrumpido esa felicidad, yo habría vivido para ti“ (M 289) - so sinniert María in besagtem Brief, der weiter unten (IV.5.2) nochmals hinsichtlich seiner postalischen Vermittlung zur Sprache kommen wird. 56 Begriff nach: Genette, „Discours du récit“, 189. 57 Den engen Nexus zwischen der Widmung und dem tragischen Romanfinale, also zwischen Efraíns und Marías Tod verbürgt die Wiederaufnahme der Formel: „aquel a quien tanto amasteis“ im Schlusskapitel, in dem Efraín vom Besuch an Marías Grab erzählt (M 327): „[O]ramos por el alma de aquella a quien tanto habíamos amado.“ 268 Ursprungsnarrative um 1860 hasta lo que mis lágrimas han borrado.“ ¡Dulce y triste misión! Leedlas, pues, y si suspendéis la lectura para llorar, ese llanto me probará que la he cumplido fielmente. Zwar ist die Herausgeberfiktion im Paratext allenfalls insinuiert, weil unbeantwortet bleibt, wer überhaupt der anonyme Editor ist, wie nahe der augenscheinliche Freund Efraín stand und inwiefern er dessen Memoiren bearbeitet hat. 58 Dennoch stiftet sie eine Gemeinschaft der Mitleidfähigen und stimmt diese auf eine Lektüre im Zeichen der Ergriffenheit ein. Nur wer mit den eigenen Tränen die Tränen des Verstorbenen nachempfindet, 59 erweckt dessen ‚Erinnerungsbuch‘ zu neuem Leben und hat an einer kollektiven Katharsis teil, die als staatsbildende Trauerarbeit oder als pädagogisches Sozialisationsgebot gedeutet wurde. 60 Ehe man aber ganz Kolumbien hinter den „hermanos de Efraín“ vermutet oder einen „proceso de maduración social“ 61 in der Widmung angestoßen sieht, wäre deren fiktionsinterne Konsequenz in Rechnung zu stellen. Schließlich beeinträchtigt das seufzende „ya no existe“ von Anfang an die Binnenerzählung, deren Subjekt eliminiert ist, ehe es überhaupt zu Wort kommt. Die strikt nachgängige Zeitordnung fixiert Efraín auf seine Rolle als autodiegetische Äußerungsinstanz, um demgegenüber seinen Aktionsradius als Figur beträchtlich einzuschränken. Gleichsam fremdbestimmt ist er dazu verdammt, seine kurze Lebens- und Liebeschronik vom Ende her niederzuschreiben, ohne ihren fatalen Verlauf noch beeinflussen zu können. Reichweite wie Umfang der Analepse fransen aus und bewirken, 62 dass der Nullpunkt der Erzählgegenwart zunehmend verblasst. So kommt es, dass selbst wiederkehrende Vorahnungen wie die unheilkündende „ave negra“ (M 81, 182, 249) die Verspätung akzentuieren, die eine doppelte Endgültigkeit festschreibt: Marías Tod, der die love story begrenzt, findet seine Verlängerung in Efraíns (Frei-)Tod, womit der Erzählakt zwangsläufig auf die nächste Stufe der Herausgeberschaft springt. Sofern keine/ r der 58 Die „indeterminación enunciativa“, die aus der Herausgeberfiktion und der Überlagerung zweier Erzählerstimmen resultiert, problematisiert erhellend Natalia Crespo, „Por qué sigue llorando Efraín o cómo leemos María en el siglo XXI“, in: Caracol 2 (2011), 102-122, hier 106ff. 59 „El llanto en María no sólo aparece abundantemente tematizado sino que es criterio de excelencia del lector experto“; mit diesen Worten beschreibt Molloy („Paraíso perdido“, 37) die rezeptionssteuernde Effizienz der Tränen. Juan Cantavella („Miradas y lágrimas en María de Jorge Isaacs“, in: Cuadernos Hispanoamericanos 552 (1996), 93-99) kommentiert ebenfalls den unversiegbaren Tränenstrom in Isaacs’ Roman. 60 So die jeweiligen Deutungsangebote zur Widmung des Romans bei Sommer, „El mal de María“, 443; Leopold, „Entre nation-building y Trauerarbeit“, 214 und Lander, Modelando corazones, 174f. 61 Lander, Modelando corazones, 174. 62 Varianten der Analepse, die sich u.a. hinsichtlich „portée“ und „amplitude“ unterscheiden, exemplifiziert wiederum Genette in „Discours du récit“, 90-105. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 269 beiden Protagonisten den Roman überlebt, ist ihre Ähnlichkeit perfekt und der Differenzmangel in María unübersehbar. Wollte man die daraus erwachsende Repräsentationslogik auf einen Nenner bringen, so bietet sich die Diagnose der Melancholie an; vorausgesetzt, man verengt diese nicht auf eine figurale oder auto(r)biographische Psychopathologie. Denn ungeachtet des „acento con algo de melancólico“ (M 67), den Efraín physiognomisch auf die jüdische Abstammung oder wahlweise auf die Epilepsie (M 169) 63 der Cousine zurückführt, erweist sich das Melancholische hier in erster Linie als Kompositionsprinzip, das eine entsprechende Atmosphäre kreiert. Sigmund Freud zufolge gelingt es dem Melancholiker nicht, in der Trauerarbeit die Libido von der verlorenen Instanz abzuziehen, so dass es zu einer regelrechten Einverleibung des unverfügbaren Begehrensobjekts kommt, die letztlich in den Selbstverlust mündet. 64 Wie Stephan Leopold aufzeigt, entfaltet sich dieses Krankheitsbild in María als spezifischer „discurso melancólico“ 65 , der den nahen Liebes-Vollzug ankündigt, um ihn dann in einem unendlichen Liebes-Entzug aufzuschieben. Statt sie zu bewältigen und ihr irgendeine poetische Gerechtigkeit abzugewinnen, feiert der Roman genau die Abwesenheit, die das Schicksal des jungen Paares prägt, als Nostalgie eines immer schon ungelebten Lebens. Was diegetisch zwei einzelne Todesfälle sind, verwandelt Isaacs’ Narration in eine allseits geschürte Melancholie, deren imaginativer Charakter sich mit Giorgio Agambens Umbesetzung der Freud‘schen Basisdefinition hervorheben lässt: „In dieser Perspektive wäre die Melancholie weniger die regressive Reaktion auf den Verlust des Liebesobjekts als vielmehr das phantasmatische Vermögen, ein nicht aneigenbares Objekt als verloren erscheinen zu lassen.“ 66 Weder María und die Liebe zu ihr noch der Protagonist und Memoirenverfasser Efraín standen je für eine wirkliche Aneignung oder Erfüllung zur Verfügung. Die Absenz ist in María eine a priori gesetzte und fortan phantasmatisch prolongierte Tatsache. Irreparabel und unvordenklich, bildet sie die Möglichkeitsbedingung eines Erzählens, das seine Inspiration aus kompromiss- und hoffnungslosen Anachronismen bezieht. 63 In epochentypischer Vermengung psycho-somatischer Symptome identifiziert Efraín Marías Melancholie mit der Aura vor epileptischen Anfällen (M 169): „Yo espiaba el rostro de María, sin que ella lo notase, buscando los síntomas de su mal, a los cuales precedía siempre aquella melancolía que de súbito se había apoderado de ella.“ 64 Vgl. Sigmund Freud, „Trauer und Melancholie“ [1917], in: Ders., Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewussten, hg. von Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt/ Main: Fischer 1982, 193-212. 65 Leopold, „Entre nation-building y Trauerarbeit“, 219. 66 Giorgio Agamben, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur [1977], übers. von Eva Zwischenbrugger, Zürich: Diaphanes 2005, 45. 270 Ursprungsnarrative um 1860 IV.4.2 Intertextuelle Einführung in den Tod 67 Zu diesen zählen zweifellos auch die europäischen Wurzeln, die Isaacs’ Roman unter der romantischen Originalitätstopik birgt. Anders jedoch als José María Vergara y Vergara, einer der ersten Rezensenten, in Aussicht stellt, bleibt der transatlantische Kulturaustausch einmal mehr weitgehend unilateral. Selbst das wirkmächtige Medium weiblicher Leseleidenschaft garantierte nicht, dass María - außer ansatzweise in Spanien - den Weg in ‚Frauenhände‘ und Frauenherzen in ganz Europa fand: „Tal es María, obra que puede y debe obtener buena y cordial acogida no sólo en la patria sino en Europa. María hará largos viajes por el mundo, no en las balijas [sic] del correo, sino en las manos de las mujeres, que son las que popularizan los libros bellos.“ 68 Trotz der Überschätzung des globalen Wirkungsradius ist die frühe Besprechung aus dem Juni 1867 (in der Tageszeitung La Caridad) aufschlussreich, zumal sie in anderer Richtung offenlegt, aus welchen Quellen Isaacs für seinen romanesken Wurf schöpft. „María pertenece en literatura al género sentimental“ 69 , heißt es dazu, wobei Vergara y Vergara den Einfluss postwendend relativiert, um Isaacs‘ Eigenständigkeit hervorzukehren. Dennoch stellt das (prä-)romantische genre sentimental die unverzichtbare Folie bereit, auf der sich die Originalität des Romans erst profilieren kann. Daran ändert auch der Einwand nichts, dass María „muy diferente de las otras novelas de esta clase como Átala y Pablo y Virginia“ sei, weil darin kein „hogar excepcional, sino común, y muy común“ 70 zur Anschauung komme. Indem er Isaacs’ Roman zum Abbild der kolumbianischen Alltagskultur stilisiert und im selben Atemzug seinen literarästhetischen Referenzhorizont preisgibt, nimmt Vergara y Vergara bereits die zwei Lesarten vorweg, die künftig dominant werden und teils in erbitterten Kontroversen aufeinandertreffen sollten. Beide Sichtweisen haben insofern ihre Berechtigung, als María einen Regionalismus inszeniert, dessen intertextuelle und mithin transkulturelle Dimension ebenso unleugbar ist. Der Autor selbst macht denn auch keinen Hehl daraus, an wen sich die hispanoamerikanische Erzählprosa zu halten habe, um qualitativ zu überzeugen. Der weltweite Vorsprung Frankreichs in kulturellen und - man höre und staune - in politischen Belangen lasse der kolumbianischen Literatur gar keine andere Wahl, als sich ihrerseits an Paris auszurichten. Das bekennt Isaacs eher widerwillig in einer seiner raren poetologischen Einlassungen, einem wohlwollenden Kommentar zu Eugenio Díaz Castros Roman Manuela, welcher nur zwei Wochen vor María 67 Der Titel des Teilkapitels ist inspiriert von Martin von Koppenfels, Einführung in den Tod. García Lorcas New Yorker Dichtung und die Trauer der modernen Lyrik, Würzburg: Königshausen&Neumann 1998. 68 Vergara y Vergara, „Juicio crítico“, 5. 69 Vergara y Vergara, „Juicio crítico“, 3. 70 Beide Zitate: Vergara y Vergara, „Juicio crítico“, 3. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 271 erscheint. Beinahe schon als notwendiges Übel wird hier die Bezugnahme auf französische Vorbilder begriffen, was mit der damals gängigen Abwertung des einstigen Mutterlands einhergeht: Cuando una nación logra conquistar en el orbe civilizado el lugar que hoy ocupa la Francia, es natural y lógico que la política y literatura de ese país afecten hondamente la literatura y política de aquellos pueblos que la admiran [...]. Apenas hoy da la literatura granadina sus primeros pasos, asida aún de su cuna; y sin que el elocuente ejemplo de lo sucedido en la madre patria, que tanto odiamos, baste a evitarlo, nuestra literatura enclenque y en andadores tiene más de francesa que de otra cosa. Poca observación es necesaria a quien visita nuestra capital para saber que existe en la sociedad llamada de buen tono un círculo formado de familias que viven como extranjeras en su propio país, y al cual no faltan desmañados imitadores en algunas provincias. Adoptadas en él las costumbres francesas, por espíritu de imitación quizá, por exceso de refinamiento tal vez, es allí despreciado y escarnecido todo aquello que entre nosotros ha merecido el nombre de colonial. Es casi imposible amar esas costumbres y practicarlas con placer, sin aficionarse más tarde o temprano a cierta clase de literatura que de ellas se alimenta por lo general: hablamos de la novela francesa. 71 Paradigmatisch zeichnet die Stellungnahme den schmalen Grat nach, der im 19. Jahrhundert zwischen der reflektierten Orientierung an Frankreichs Kultur und dem in Lateinamerika umgehenden Gespenst des afrancesamiento verläuft. Weil sie erst der ‚Wiege‘ entsteigt, kommt gerade die „literatura granadina“ nicht umhin, sich an den führenden Schreib- und Erzählweisen aus Übersee zu schulen. Doch darf das, so warnt Isaacs, nicht in zwanghafte Nachahmung ausarten oder gar in eine unfreiwillige „parodia, pero no la que hace reír de lo que se imita, [sino] la que pone en triste ridículo al parodiador […].“ 72 Den Drahtseilakt zwischen kreativer Transkulturation und steriler Imitation, den die zitierten Zeilen auf den Punkt bringen, bewältigt Isaacs im eigenen Roman, der immerhin die Gefahr parodistischer Überzeichnung bannt. Keine noch so ketzerische Rezension konnte allein die Adaption französischer Modelle dafür verantwortlich machen, dass die Rührästhetik in María mitunter zum quietistischen Kitsch neigt. Obschon mit Chateaubriand und Bernardin de Saint-Pierre seit langem die beiden entscheiden- 71 Jorge Isaacs, „Manuela. Novela por Don Eugenio Díaz Castro“ [13 de abril de 1867], in: Ders., Obras completas, Bd. 4: Escritos varios, hg. von María Teresa Cristina, Bogotá: Universidad Externado de Colombia u.a. 2008, 59-61, hier 60. Isaacs verfasst obige Laudatio zum Gedenken an den 1865 verstorbenen Díaz Castro, dessen Erfolgsroman Manuela bereits 1858 im Feuilleton erschienen war. 72 Beide Zitate: Isaacs, „Manuela“, in: Ders., Obras completas, Bd. 4, 60. 272 Ursprungsnarrative um 1860 den Gewährsleute namhaft gemacht sind, 73 kam die Diskussion bisher kaum auf das Warum ihrer Auswahl zu sprechen. Warum und mit welcher Absicht greift Isaacs, der doch offensichtlich um das drohende Epigonentum weiß, ausgerechnet auf Prätexte zurück, die im Fortschrittsklima der Jahrhundertmitte schon aufgrund ihrer schlichten Überalterung Verdacht erwecken müssen? Weshalb ruft er eine literarische Filiation ab, deren herausragende Veröffentlichungen mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen? Oder nochmals plakativer: Warum scheidet María in makelloser Unschuld dahin wie anno dazumal Virginie und Atala und verendet nicht ähnlich geschunden, enttäuscht und dabei belanglos wie ein knappes Jahrzehnt vor ihr (1857) eine Emma Bovary? Das erklärt sich keineswegs von selbst, hätte doch Isaacs’ Selektion genauso ein anderes Resultat erbringen können. Höchstwahrscheinlich wäre es nicht Flauberts rigoroser Kunstwille gewesen, der aus einem weniger verstaubten Repertoire französischer Narrativik nach Kolumbien gelangt wäre. Die in Hispanoamerika populären Texte eines Alexandre Dumas, Eugène Sue, Victor Hugo, Honoré de Balzac oder Théophile Gautier hätten sich aber allemal für die Be- und Verarbeitung angeboten. Nicht zufällig erwähnt Isaacs einige Namen ausdrücklich in der zitierten Hommage auf Eugenio Díaz Castro und dessen Manuela, wobei er ein vielsagendes Gedankenexperiment anstellt. Denn käme die erste Riege der französischen Romanciers nur einmal nach Kolumbien, so ließen diese von den pervertierten Sitten und Unsitten ihrer Heimat ab und verfassten - eben wie Díaz Castro - Werke in folkloristischer Manier: „Si un Dumas, un Hugo, un Ponson du Terrail, un Sandeau, o un Gautier visitara este país, estudiase nuestras costumbres y escribiese novelas para pintarlas, él explotaría el género de la [scil. novela] Manuela.“ 74 Abseits des Wunschdenkens, das die Asymmetrie des Kulturtransfers übertüncht, indiziert die Bemerkung durchaus Isaacs’ Vertrautheit mit der seinerzeit neueren französischen Narrativik, gleich ob diese aus der elaborierten Feder eines Hugo und Gautier oder aus 73 Über die Bezugnahmen auf den idyllischen Roman der (Prä-)Romantik in María besteht mittlerweile ein breiter Forschungskonsens, weshalb jüngere Arbeiten die Anleihen bei Chateaubriand und Bernardin de Saint-Pierre kurzerhand voraussetzen. Frühe Auseinandersetzungen mit der Folie finden sich bei Jacob Warshaw, „Jorge Isaacs’s Library: Light on Two María Problems“, in: Romantic Review 32/ 4 (1941), 389- 398; Enrique Anderson Imbert, „La romántica María, de Isaacs“ [1951], in: Ders., Crítica interna, Madrid: Taurus 1960, 73-86 oder Donald McGrady, „Las fuentes de María, de Isaacs“, in: Hispanófila 24 (1965), 43-54. Eine minutiöse Übersicht der in María nachweisbaren Spuren französischer Romantik bietet McGrady, Jorge Isaacs, 68-101. Unter den neueren Studien sei Peter Werles Lektüre („Nachahmung als Widerlegung: Jorge Isaacs’ Roman María und das ‚genre pastoral‘“, in: Romanistisches Jahrbuch 47 (1996), 284-296) hervorgehoben, die die Chateaubriand-Rezeption in María klug systematisiert, die Modernität des kolumbianischen Romans aber etwas forciert. 74 Isaacs, „Manuela“, in: Ders., Obras completas, Bd. 4, 61. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 273 der Serienproduktion des Feuilleton-Champions Pierre Alexis de Ponson du Terrail stammt. 75 In der Konzeption seiner María macht er sich diese Kennerschaft allerdings kaum zunutze; inhaltlich wohl um die erotischen Spielräume, die die französischen Gesellschaftsromane der Zeit ausdehnen, vorab einzudämmen. Kurioserweise bewirkt die Tabuisierung, dass unter dem Deckmantel von Zucht und Tugend zahllose sexuelle Anspielungen schwelen, die in der Latenz umso manifester durchscheinen. 76 Der transkulturelle Anachronismus, der María charakterisiert, geht im Ganzen jedoch bedeutend weiter. Bewusst oder unbewusst, minimiert Isaacs Rezeptionshindernisse, indem er auf Altbekanntes referiert und die französische Pastoralidylle als Eigenes bzw. als zum Eigenen Gewordenes zur Geltung bringt. Auf diese Weise finden die meisten Handlungsbausteine und Vertextungsmodi, die der notorischen Verspätung des Erzählens in María zugrunde liegen, Äquivalente in Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierres Paul et Virginie (1788), François-René de Chateaubriands Kurzroman Atala (1801) und dessen großer Abhandlung Génie du christianisme (1802) sowie teils in Graziella und Raphaël, Alphonse de Lamartines weit zurückreichenden, doch spät publizierten Romanen (1849). Ja, nicht zu Unrecht hat man María sogar auf den Prototyp romantischer Leidenschaftserzählungen, Rousseaus Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) zurückbezogen. 77 Isaacs’ Auf- und Übernahmen setzen sogleich mit dem Widmungsprolog ein, der, ehe er überhaupt Eigensemantik entfaltet, eine gattungsimmanente „transposition“ 78 , also eine Reprise der vorgängigen Hypotexte ohne nachhaltige Modifikation vollzieht. Denn bereits die Vorworte zu Paul et Virgine und Atala reklamieren eine Verflüssigung der Lektüre in identifikatorische Tränen, wie sie auch die Adressierung der „hermanos de Efraín“ erhofft 79 und wie sie sich in María zudem im Binnennarrativ fort- 75 Ponson du Terrail (1829-1871), der seit den 1850er Jahren - zunächst im Stil des roman gothique - an die 200 Romane verfasst, avanciert spätestens mit der Paris-Saga Les exploits de Rocambole ou les drames de Paris (ab 1859) zum Feuilletonstar. Einen Überblick zu Werk und Schreibpraxis gibt Élie-Marcel Gaillard, Ponson du Terrail. Le romancier à la plume infatigable, Avignon: Barthélemy 2001. 76 Die Omnipräsenz der in María oberflächlich kassierten Sexualität - besonders der weiblichen Heldin - verhandeln Claude Cymerman, „L’univers sexualisé de María“, in: Olver Gilberto de León (Hg.), Le roman romantique latino-américain et ses prolongements, Paris: L’Harmattan 1984, 159-174 und Guy Thiebaut, „Isaacs érotique ou le baiser de la vierge María“, in: ebd., 175-189. 77 So etwa Leopold, „Die Zeit der Nation“, 56. 78 Genette, Palimpsestes, 237f. 79 Vgl. nochmals M 51: „Leedlas [scil. estas páginas], pues, y si suspendéis la lectura para llorar, ese llanto me probará que la [scil. la triste misión de editar estas páginas] he cumplido fielmente.“ Lamartines autobiographisch inspirierter Roman Graziella mündet in ein elegisches Gedicht des Ich-Erzählers, dessen letzter Vers ähnlich program- 274 Ursprungsnarrative um 1860 setzt (M 78). 80 Während Chateaubriands Plädoyer für die „vraies larmes“ 81 aber in einem romanexternen Paratext verbleibt, korreliert Bernardin de Saint-Pierres „Avant-Propos“ autobiographische Reminiszenzen mit fiktiven amplificationes, womit es als maßgebliche Vorlage für Isaacs’ Romanauftakt kenntlich wird: Lorsque j’eus formé, il y a quelques années, une esquisse fort imparfaite de cette espèce de pastorale, je priai une belle dame qui fréquentait le grand monde, et des hommes graves qui en vivaient loin, d’en entendre la lecture, afin de pressentir l’effet qu’elle produirait sur des lecteurs de caractères si différents: j’eus la satisfaction de leur voir verser à tous des larmes. Ce fut le seul jugement que j’en pus tirer, et c’était tout ce que j’en voulais savoir. 82 Mit diesen Worten kommentiert die Verfasserstimme im Prolog zu Paul et Virginie das zufriedenstellende Ergebnis einer rezeptionsästhetischen Probe aufs Exempel, nachdem sie zuvor schon eine Chronik wahrhaftiger Ereignisse versprochen hat. Die Nähe zum Tränenbeweis in María liegt auf der Hand, obschon Isaacs die Herausgeberfiktion und die definitive Nachzeitigkeit der edierten Erinnerungen vereindeutigt. In Paul et Virginie muss man immerhin bis zu Beginn des Haupttextes warten, ehe ein Greis als intradiegetisch-homodiegetischer Erzähler in Erscheinung tritt und seinen auf der Île de France (Mauritius) angesiedelten Bericht in die Vergangenheit zurückverlegt. 83 Die Analogie in der narrativen Anlage ist nichtsdestoweniger markant, zumal sich aus ihr weitere Entsprechungen und Überschneidungen zwischen den beiden Romanen ergeben. Trotz der geokulturellen Unterschiede der Schauplätze sind sowohl Bernardin de Saint-Pierres Kolonialeiland im indischen Ozean als auch Isaacs’ Cauca-Gebiet im unabhängigen Kolumbien zunächst als Orte völligen Friedens konzipiert. Ein Agon der Ideolo- matisch schließt: „Je veux pleurer“. Zitiert nach: Alphonse de Lamartine, Graziella [1849], hg. von Jean-Michel Gardair, Paris: Gallimard/ Folio 1985, 193. 80 Siehe weiter unten zur tränenreichen Chateaubriand-Lektüre in María. 81 François-René de Chateaubriand, Atala - René - Les aventures du dernier Abencerage [1801/ 1802/ 1806], hg. von Pierre Moreau, Paris: Gallimard/ Folio 1971, 258-264, hier 260 („Préface à la première édition“, 1801). 82 Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre, Paul et Virginie [1788], hg. von Pierre Trahard, Paris: Garnier 1964, CXLVI. 83 Der Auftakt von Paul et Virginie gestaltet sich als kurzer Dialog zwischen dem Verfasser-Ich und dem als „mon père“ adressierten Greis, den Ersterer bei seinem Aufenthalt auf der Île de France antrifft und aus dessen Mund wir sodann den „funeste récit“ (ebd., 229) vernehmen. Zu Erzählverfahren, Sujetstrukturen und literarhistorischer Kontextualisierung des Romans siehe u.a. Hinrich Hudde, Bernardin de Saint- Pierre: „Paul et Virginie“. Studien zum Roman und seiner Wirkung, München: Fink 1975; Wolfzettel, Der französische Roman der Aufklärung, 293ff. und Jörn Steigerwald, „L’Arcadie historique. Paul et Virginie de Bernardin de Saint-Pierre entre classicisme et préromantisme“, in: Revue germanique internationale („Entre classicisme et romantisme autour de 1800“) 16 (2001), 69-86. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 275 gien ist hier ebenso deutlich ausgeschlossen wie ein offener Zwist zwischen den Figuren, die schon in Paul et Virginie in symmetrisch-komplementärem Gleichklang auftreten. Wie Efraín und María auf der väterlichen Hacienda, so bilden Paul und Virginie samt ihren Müttern Marguerite und Madame de la Tour, die der korrumpierten Gesellschaft Frankreichs entflohen sind, einen innigen Familienverbund, in welchem die Kinder geschwistergleich zu natürlicher Liebe heranwachsen. Komplettiert wird die mustergültige Sozietät, ebenfalls wie in María, durch ein ergebenes Sklavengespann (Domingue und Marie), das aus heutiger Sicht das schöne Gemälde klassenloser Solidarität arg ramponiert. Dissens erwächst nicht einmal aus der Eifersucht, die Bernardin de Saint-Pierre als negative Gefühlsregung evoziert, während sie Isaacs mit Efraíns Freund und aussichtslosem Nebenbuhler Carlos figural ausbaut und zugleich abdämpft. Erst die Bildungsreise nach Europa, die in beiden Romanen ein Elternteil nach bestem Gewissen anordnet - Madame de la Tour will der fünfzehnjährigen Virginie eine standesgemäße Erziehung ermöglichen, deren Kosten eine ehrgeizige Erbtante trägt -, verursacht den Kollaps der unberührten Exklaven. Parallel nimmt die Tragödie ihren Lauf und entpuppt sich gerade die wohlmeinende Absicht, die Heirat des jungen Paares altersbedingt zu verzögern, als verheerend. Vor dem konsekutiven Tod der Liebenden gipfelt jeweils der Spannungsbogen in der Heimreise von Virginie respektive Efraín, die auf die eine oder andere Weise ihr Ziel niemals erreichen. Während Erstere vor den Augen Pauls ertrinkt, kann Letzterer nurmehr die verstorbene Cousine beweinen, woraufhin er gleich dem französischen Protagonisten in Depression versinkt und mit dem anklingenden Selbstmord den Hausstand endgültig zum Einsturz bringt. Die Liste punktueller, motivischer und struktureller Anleihen ließe sich bis in eine vergleichbare Floralsymbolik fortsetzen. Für größere Deutungserträge ist indes nach dem Anteil zu fragen, den Paul et Virginie an der Erfolgsgeschichte der kolumbianischen Enkelin María hat. Pauschal gesagt, sichert Bernardin de Saint-Pierres Roman ein literarisches Prestige, über das er als allseits approbierter Importklassiker verfügt, während es dem Debütanten Isaacs genau daran mangelt. Der rückwärtsgewandte Sentimentalismus bietet optimale Voraussetzungen für eine Assimilation, die obendrein die gröbsten Bruchstellen der Transkulturation eskamotiert. Weniger noch als in der aufgeheizten Stimmung des vorrevolutionären Frankreichs stellt die reine Herzensbildung, die Bernardin de Saint-Pierre gegen den einseitigen Rationalismus wendet, in der Phase der - mehr oder minder gelingenden - Konsolidierung hispanoamerikanischer Staaten eine literarische oder weltanschauliche Provokation dar. Im Gegenteil: Die Zivilisationskritik, die eventuell als Spaltprodukt der betonten Empfindsamkeit abfällt, ist hochwillkommen angesichts der dominanten Modernisierungsdiskurse, deren Auswüchse und Verlierer Tag für Tag sichtbarer werden. 276 Ursprungsnarrative um 1860 Bar jeder Konsequenzen ermöglicht die bukolische Eintracht, die Paul et Virginie beschwört, eine Entlastung, die umso harmloser anmutet, als sie in eine längst versunkene Welt entführt. Welchen Wert- und Intensitätszuwachs Isaacs sich vom verklärten Aussteigertum verspricht, demonstriert in nahtlosem Übergang der Auftritt, den er in María seinem zweiten Souffleur aus Frankreich bereitet. Anders nämlich als Bernardin de Saint-Pierre, dessen Inspiration zumindest an der Textoberfläche unentdeckt bleibt, kommt Chateaubriand im kolumbianischen Arkadien selbst zu Wort. Die Erzählung von Atala (ou les amours de deux sauvages dans le désert) und die poetische Religion des Génie du christianisme (ou beautés de la religion chrétienne) formieren mithin nicht nur weitere Schichten des Palimpsests, auf dem sich María abzeichnet. Sie gehören überdies dem literarischen Kanon an, den der beschlagene Hobbydichter Efraín 84 im Namen seines Schöpfers ausbreiten darf. Sie sind Teil der Bibliothek, die Isaacs bei der Abfassung seines Romans konsultiert hat und die sein Held als Ausdruck des überlegenen Geistes wie der zarten Seele zur Schau stellt. So ist es ausgerechnet der wenig schöngeistige Freund Carlos, dem Efraín Zutritt zum Allerheiligsten seiner „muchos libros“ (M 129) gewährt, womit sich der halbherzige Rivale selbst in seinem kruden Pragmatismus entlarvt. Was Carlos bei dieser beiläufigen „fiscalización de mis libros [scil. los libros de Efraín]“ (M 130) vorfindet, ist zu seinem Erstaunen nicht nur „mucha cosa mística“ (M 129): neben der Heiligen Schrift hauptsächlich christliche Traktatliteratur, die neuerlich aus französischer Feder stammt. Zur Défense du christianisme (ou conférences sur la religion, 1825) des Monseigneur Frayssinous oder zu Le christ devant le siècle (ou nouveaux témoignages des sciences en faveur du catholicisme, 1835) von Antoine François Félix Roselly de Lorgues mag die Bibel neuzeitlicher Narrativik, der „Don Quijote“ (M 129), 85 zwar ebenso wenig passen wie das dramatische Pendant eines gewissen „Saquespeare“ (M 130), dessen Namen der unbeleckte Freund verballhornt. Doch Efraíns Bildungskompetenz ist umfassend, sie reicht von Theologie und Moralistik über literarische Fachkennt- 84 Efraíns retrospektive Selbsterhöhung läuft auch in diesem Zusammenhang über einen vorgeschobenen Bescheidenheitstopos: Er stimmt die „malas estrofas“ (M 134) an - gemeint ist das tränentriefende Liebeslied „Las Hadas“ (M 135), das zugleich eine mise en abyme des romanesken Plots ist -, die er für María verfasst hat, verschweigt aber nach dem Beifall seine Autorschaft, die der geliebten Adressatin und dem anderen weiblichen Publikum (Mutter und Schwestern) freilich bekannt ist. 85 Die Erwähnung des Don Quijote offenbart auch eine intertextuelle Reprise auf Geschichtsebene, da Carlos’ stümperhafte Bücherschau in María unweigerlich an den komischen escrutinio gemahnt, den Pfarrer und Barbier in Quijotes Bibliothek veranstalten, um ihm seinen Ritterwahn auszutreiben (Don Quijote I, 6). Schon in Cervantes’ Episode mischt sich in die vermeintliche Ablehnung der Zensoren bald Interesse für Quijotes Ritterromane, was Isaacs insofern aufgreift, als Carlos zuletzt voller Anerkennung Efraíns reichen Literaturschatz bestaunt. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 277 nisse - neben Cervantes findet auch Calderón de la Barca Erwähnung - bis zu historiographisch-politischem Sachverstand, wie eine Ausgabe von Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique (1835/ 40) in seinen Regalen verrät (M 130). Als Integral all dessen erscheint schließlich jener Autor, dessen Name selbst Carlos leicht über die Lippen geht (M 129): „Chateaubriand…“, seufzt der Ungehobelte und stimmt somit in einen Chor der Bewunderer ein, zu dem neben den jugendlichen Romanfiguren selbstverständlich auch ihr Autor zählt. 86 Dass Isaacs Chateaubriands Eigennamen noch in der komisch gefärbten Bücherschau als Chiffre verstanden wissen will, weiß man seit dem zwölften Kapitel, das eine der innigen Lektürestunden der Liebenden schildert. Zu den zutiefst phallogozentrischen Lesezirkeln kommt es, als der kluge Sohn des Hauses in einem eigens eingerichteten „gabinete de estudio“ (M 77) María und seiner Schwester Emma Unterricht in Geographie, Geschichte, Religion und Literatur erteilen soll oder wohl eher erteilen will. Die täglich anberaumten Lerneinheiten, während derer Efraín seinen Elevinnen freilich nur „estudios elementales“ (M 76) vermitteln darf, münden zumeist in eine intensive Beschäftigung mit dem Génie du christianisme, dessen Korpus ohnehin das gesamte, für eine weibliche Schülerschaft geziemende Wissen enthält und dieses zudem anmutig aufbereitet (M 77): „Nos reuníamos todos los días dos horas, durante las cuales les explicaba yo algún capítulo de geografía, leíamos algo de historia universal, y las más veces muchas páginas del Genio del cristianismo.“ Die besagte Situation im darauffolgenden dreizehnten Kapitel gestaltet sich auf den ersten Blick entspannter, da die Rezitation hier en plein air, an einer Flussböschung statthat, womit im Voraus die Konvergenz von Natur- und Literaturerfahrung garantiert scheint. Dementsprechend befassen sich Efraín und seine Zuhörerinnen an diesem malerischen Spätnachmittag, an dem sich vor ihnen „el valle majestuoso“ (M 78) ihrer Heimat hinbreitet, ausnahmsweise nicht mit Chateaubriands religionsphilosophischen Ausführungen. Stattdessen vertiefen sie sich geradewegs in jenes „Amérique septentrionale“ 87 , das Atala als Fiktion irgendwo im heutigen Bundesstaat Louisiana aufspannt. Dem 1801 zunächst separat publizierten Kurzroman verdankt Chateaubriand bekanntlich seine Reputation als Erzähler, woraufhin er ihn 1802 zusammen mit dem thematisch und figural anschließenden Prosaepos René in das Monumentalwerk des Génie du christianisme eingliedert. 88 In der fünfteiligen Apologie eines emotionalen Christentums 86 Bereits Warshaw („Jorge Isaacs’s Library“, 389-398) stellt fest, dass sich in Isaacs’ Privatbibliothek ein reich angemerktes Exemplar des Génie du christianisme befand, und rekonstruiert davon ausgehend Chateaubriands Spuren in María. 87 Chateaubriand, Atala, 39 („Prologue“). 88 Es liegt folgende Ausgabe zugrunde: François-René de Chateaubriand, Essai sur les révolutions - Génie du christianisme [1797/ 1802], hg. von Maurice Regard, Paris: Gallimard/ Pléiade 1978. 278 Ursprungsnarrative um 1860 figurieren René und Atala sodann im zweiten Teil und dritten Teil („Poétique du christianisme“ und „Beaux arts et littérature“), um das Wirken der Leidenschaften zu exemplifizieren. In der Ausgabe letzter Hand (1828) verzichtet Chateaubriand wiederum auf beide Texte, vermutlich um ihre zunehmende Popularität und Trivialisierung vom theologisch seriösen, doch keineswegs dogmatischen Anspruch des Génie fernzuhalten. Die Bekanntheit bleibt übrigens nicht lange auf Frankreich oder Europa beschränkt, in Rekordtempo überquert Atala - zumindest intellektuell - den Atlantik, da nur wenige Monate nach der Originalausgabe 1801 einerseits französischsprachige Exemplare in hispanoamerikanischen Exilantenkreisen kursieren. Andererseits erscheint noch im selben Jahr die erste spanische Version in Paris, wobei sich hinter dem Pseudonym des Übersetzers (S. Robinson) wohl mit Simón Rodríguez, Bolívars langjährigem Mentor, und/ oder dem (ehemaligen) Dominikanermönch Servando Teresa de Mier zwei emblematische Gestalten der lateinamerikanischen Unabhängigkeit verbergen. 89 Ein halbes Jahrhundert später, um 1850, als sich das Geschehen in María zuträgt, reiht sich Chateaubriand hingegen bereits in eine Phalanx längst konsekrierter und teils überstrapazierter Schulautoren ein, deren literarischer Intimismus vorrangig moraldidaktisch instrumentalisiert wird. Dies und die lebhafte Stimulation des Gemütslebens veranlassen denn auch Isaacs’ Held, Atala zu seinem bevorzugten Brevier zu küren. Die sentimentalische Erziehung zum Glauben, die Efraín für sein weibliches Publikum vorsieht, kippt jedoch alsbald, sie büßt ihren lehrhaften Charakter ein und gerät wider Erwarten zur inter- und intratextuellen Präfiguration des unentrinnbaren Endes. Der emphatische Wortlaut lohnt umso mehr die ausführliche Wiedergabe, als er sämtliche Topoi der katholischen Romantik durchkonjugiert (M. 78f.): Las páginas de Chateaubriand iban lentamente dando tintas a la imaginación de María. Tan cristiana y llena de fe, se regocijaba al encontrar bellezas por ella presentidas en el culto católico. […] Los pensamientos del poeta, acogidos en el alma de aquella mujer tan seductora en medio de su inocencia, volvían a mí como eco de una armonía lejana y conocida que torna a conmover el corazón. Una tarde, tarde como las de mi país […] leía yo el episodio de Atala, y las dos [scil. María y la hermana de Efraín Emma], admirables en su inmovilidad y abandono, oían brotar de mis labios toda aquella melancolía aglomerada por el poeta para „hacer llorar al mundo“. Mi hermana, apoyado el brazo derecho en uno de mis hombros, la cabeza casi unida a la mía, seguía 89 Vgl. hierzu die editions- und übersetzungsgeschichtlich orientierten Studien von Ignacio Soldevila-Durante, „Las primeras traducciones castellanas de la Atala de Chateaubriand“, in: Bulletin Hispanique 108/ 2 (2006), 421-458 und Andrea Pagni, „Atala de Chateaubriand en la traducción de Simón Rodríguez y Fray Servando Teresa de Mier (París, 1801)“, in: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes 2012, URL: http: / / www. cervantesvirtual.com/ nd/ ark: / 59851/ bmch99r9 (abgerufen am 4.6.2017). Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 279 con los ojos las líneas que yo iba leyendo. María, medio arrodillada cerca de mí, no separaba de mi rostro sus miradas húmedas ya. El sol se había ocultado cuando con voz alterada leí las últimas páginas del poema. La cabeza pálida de Emma descansaba sobre mi hombro. María se ocultaba el rostro con entrambas manos. Luego que leí aquella desgarradora despedida de Chactas sobre el sepulcro de su amada, despedida que tantas veces ha arrancado un sollozo a mi pecho: „¡Duerme en paz en extranjera tierra, joven desventurada! En recompensa de tu amor, de tu destierro y de tu muerte, quedas abandonada hasta del mismo Chactas“, María, dejando de oír mi voz, descubrió la faz, y por ella rodaban gruesas lágrimas. Era tan bella como la creación del poeta, y yo la amaba con el amor que él imaginó. Nos dirigimos en silencio y lentamente hasta la casa. ¡Ay! mi alma y la de María no sólo estaban conmovidas por aquella lectura, estaban abrumadas por el presentimiento. In wohlkalkulierter Reihenfolge dienen „las páginas de Chateaubriand“ zunächst, um die christliche Spiritualität anzuregen und die Seelenverwandtschaft zwischen Dichter und weiblicher Adressatin nachzuvollziehen, bevor erneut die Wirkungsabsicht einer tränenreichen Melancholie in den Vordergrund rückt. Dabei ist es zweitrangig, ob die Losung des „hacer llorar al mundo“ in der Tat Atala oder wieder dem „Avant-Propos“ in Paul et Virginie entstammt, 90 zumal Chateaubriand selbst Bernardin de Saint- Pierres Roman zum Meilenstein für das zeitgenössische „genre pastoral“ erklärt. 91 Hinzu kommt, dass Paul et Virginie, „ce poème du cœur“, auch in den dritten prominenten Referenztext, Lamartines Roman Graziella, Eingang gefunden hat und darin als Buch im Buch die Titelheldin zu „larmes brûlantes“ 92 hinreißt. Gleiches bewerkstelligt in María die Atala-Lesung, die auf der signifikanten Schwelle zur Dämmerung eine Gefühlsgemeinschaft etabliert, wie sie der Romanprolog einfordert (M 51). Voller Ehrfurcht lauschen die zwei Mädchen dem Verkünder einer Herzenswahrheit, die gleichwohl sprachlich vermittelt ist und daher zwangsläufig im Verdacht steht, mit Verlust einherzugehen. Folgerichtig bleibt am Ende kaum etwas von der christlichen Erbauung übrig, die die Versenkung in Chateaubriands romantischen Paradetext herbeiführen sollte und für die just María dank ihrer angebore- 90 Vgl. nochmals Bernardin de Saint-Pierre, Paul et Virginie, CXLVI. 91 Im zweiten Teil des Genie du christianisme (703) heißt es dazu überschwänglich: „On sait que les modernes, et surtout les Français, ont peu réussi dans le genre pastoral. Cependant Bernardin de Saint-Pierre nous semble avoir surpassé les bucoliastes de l’Italie et de la Grèce. Son roman, ou plutôt son poème de Paul et Virginie, est du petit nombre de ces livres qui deviennent assez antiques en peu d’années pour qu’on ose les citer sans craindre de compromettre son jugement.“ Im darauffolgenden Kapitel (ebd., 704-707) hebt Chateaubriand zu einer eingehenden Besprechung von Paul et Virginie an. 92 Beide Zitate: Lamartine, Graziella, 98. 280 Ursprungsnarrative um 1860 nen Frömmigkeit prädestiniert scheint. Der Passus aus Atala, den Efraín wortwörtlich vor- und überträgt, 93 lenkt alle Aufmerksamkeit auf die Klage, die der Erzählerprotagonist, der greise Indianerhäuptling Chactas anstimmt. Seine vereitelte Verbindung mit Atala, die sich auf Wunsch ihrer Mutter der Heiligen Jungfrau versprach und daher Selbstmord begeht, 94 unterwandert das Telos christlicher Gefühlsbildung und treibt stattdessen die „Verinnerlichung und Intensivierung der Affekte [voran], die Chateaubriand dem Christentum zuschreibt“ 95 . In María enthüllt das unbestimmte Begehren, das im „vague des passions“ 96 aufscheint, abermals nur den Prätext und dessen verhängnisvollen Verlauf. Unhintergehbar nimmt die religiös versagte Liebe zwischen Atala und Chactas demnach das Los der kolumbianischen Nachfahren vorweg. Als mise en abyme, in der intra- und metadiegetische Geschichte nahezu zur Deckung kommen, verkehrt sich die Lektüre, die Efraín und María eigentlich zusammenbringen sollte, zur Prolepse ihrer definitiven Trennung. Sie gipfelt in einem „presentimiento“, in einer düsteren Vorahnung, die allein der Identifikation mit dem französischen Narrativ und seinem nordamerikanischen Personal geschuldet ist. Wie vom „poeta“ Chateaubriand - oder Bernardin de Saint-Pierre - intendiert („‚hacer llorar al mundo‘“), vergießt María unweigerlich „gruesas lágrimas“ und verkörpert damit die Schönheit, die ehedem bloße Literatur war. Doch die Erweckung toter Buchstaben zum Leben zieht im Gegenzug den Tod des menschlichen Lebens nach sich. Die imitatio einer Liebe, die auf immer verhindert blieb, verhindert sich selbst und verschenkt jeden Spielraum, in dem der Verzicht und die Sterilität aus der Vorlage überwunden werden könnten. Die Stimmung zum Ausgang der Szene spricht Bände: Als Chactas’ und Atalas Erben kehren Efraín und seine Cousine schicksalsergeben heim, da selbst die lateinamerikanische Natur keine Zuflucht vor Chateaubriands Einführung in den Tod bietet, die im Glanz erahnter Fülle umso mehr Pathos bindet. 93 Chateaubriands französischer Originaltext (Atala, 124f.) lautet: „‚Dors en paix dans cette terre étrangère, fille trop malheureuse! Pour prix de ton amour, de ton exil et de ta mort, tu vas être abandonnée, même de Chactas! ‘“ 94 McGrady (Jorge Isaacs, 135ff.) und Werle („Nachahmung als Widerlegung“, 291-296) diskutieren wesentliche Schnittmengen zwischen María und Atala, darunter besonders die (pseudo-)autobiographische Erzählbzw. Erinnerungssituation, die Titelgebung, die konfessionelle und pathologische Belastung der Heldin mütterlicherseits, die Streuung unheilvoller Vorzeichen oder die in María eingelegte Binnengeschichte des afrikanischen Sklavenpaares Nay und Sinar. 95 So resümiert Wolfgang Matzat (Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac, Tübingen: Narr 1990, 110) Chateaubriands Wirkungsabsicht in Atala. 96 Seinen Leidenschaftsbegriff entfaltet Chateaubriand explizit im dritten Buch des zweiten Teils des Génie du christianisme (714-716), vor allem im neunten Kapitel mit dem oben aufgegriffenen Titel „Du vague des passions“. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 281 IV.4.3 Realistische Korrespondenzlandschaften und tiefenperspektivischer Regionalismus Nicht zuletzt deshalb knüpft María an eine Ausprägung konservativer Romantik an, deren „Affektmodellierung“ Wolfgang Matzat zufolge immer im Zeichen einer Diskrepanz zwischen Signifikant und Signifikat [steht]. Denn den vorausgesetzten ‚Tiefensignifikaten‘ […] eignet eine Fülle, die von den als Signifikanten dienenden Repräsentationen nie ausgeschöpft werden kann. […] So haben wir im Zusammenhang mit der Landschaftsdarstellung gesehen, dass er [scil. Chateaubriand] die Diskrepanz von Signifikant und Signifikat in seine Tableaus einschreibt, indem er eine Semantik der Leere mit Konnotationen abwesender Fülle befrachtet und diese Konnotationen mit dem Volumen des Signifikanten stützt. 97 Wie hier für Chateaubriands Erzählprosa konstatiert, so ist es auch in María hauptsächlich der Landschaftsschilderung vorbehalten, eine Tiefensemantik zu insinuieren, die ebenso verheißungsvoll wie vage und meist unzugänglich bleibt. Die suggestive Präsenz in der Absenz signalisiert in Isaacs’ Roman aber nicht per se einen erkenntnistheoretischen Wandel, wie Matzat ihn mit Michel Foucaults Episteme der Geschichte und deren Forschen nach einem transzendentalen Wesen der Dinge ansetzt. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Chateaubriands Hauptwerken sind die „grandes forces cachées développées à partir de leur noyau primitif et inaccessible“ 98 , welche die Romantik der ersten Stunde zu ergründen suchte, zwar nicht allesamt entdeckt; in ästhetischer Hinsicht bietet die Ursprungsschau indes nurmehr wenige Geheimnisse und droht bisweilen ins Seichte abzugleiten. Überdies sind die Vorzeichen, unter denen Isaacs in den 1860er Jahren jenseits des Atlantiks schreibt, gänzlich andere als die seines Vorgängers um 1800 in Frankreich: Die napoleonische Ära, die dem heimgekehrten Chateaubriand endlich etwas gesellschaftlichen Halt und literarische Bekanntheit beschert, 99 ist kaum zu vergleichen mit der anhaltenden Labilität, die 97 Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaft, 128. 98 Der Passus, in dem Foucault (Mots et choses, 263f.) die Ablösung des taxonomischen Wissens der Repräsentation durch eine Episteme historischer und anthropologischer Tiefe resümiert, lautet: „Ainsi, la culture européenne s’invente une profondeur où il sera question non plus des identités, des caractères distinctifs, des tables permanentes avec tous leurs chemins et parcours possibles, mais des grandes forces cachées développées à partir de leur noyau primitif et inaccessible, mais de l’origine, de la causalité et de l’histoire. Désormais, les choses ne viendront plus à la représentation que du fond de cette épaisseur retirée en soi, brouillées peut-être et rendues plus sombres par son obscurité, mais nouées fortement à elles-mêmes, assemblées ou partagées, groupées sans recours par la vigueur qui se cache là-bas, en ce fond.“ 99 Nach seinem Bekenntnis zum Christentum 1798 und nach Napoleons diesbezüglichem Aufruf an adlige Exilanten kehrt Chateaubriand 1800 aus den USA nach Frankreich zurück. Dank der separaten Publikation von Atala 1801 und dem fünfbändigen Génie du christianisme (April 1802) erlangt er alsbald literarisches Ansehen, das bis zu 282 Ursprungsnarrative um 1860 Isaacs‘ sozioökonomische Situation kennzeichnet und die Kolumbien in inneren wie äußeren Konflikten gefangen hält. Das mag ein Grund dafür sein, warum die romantische profondeur in María offensichtlich nicht mehr in exotische Faszinationswelten führt, wie sie Chateaubriands wildes Louisiana oder Bernardin de Saint-Pierres Mauritius illustrieren. Glaubwürdigkeit gewinnt Isaacs’ tiefschürfende Naturdarstellung hingegen, indem sie sich dezidiert lokalpatriotisch gibt und ein getreues - und in Wahrheit reichlich retuschiertes - Bild des Cauca-Tals im Südwesten Kolumbiens verspricht. 100 Zumindest scheint es so und will es ein Großteil der Kritik so sehen, galt und gilt doch weiterhin gerade die authentische Geo- und Ethnographie als primäres Qualitätsmerkmal des Romans. Außer Frage steht, dass der kostumbristische paisajismo, den Isaacs räumlich wie sprachlich aktualisiert, wesentlich zur Anziehungskraft von María beiträgt. Anders als des Öfteren behauptet, fußt dieser „secreto encanto“ 101 aber nicht auf einem unvoreingenommenen Wirklichkeitssinn 102 oder, wie in jüngerer Zeit vorgeschlagen, auf früher ökologischer Sensibilität. 103 Die Deskriptionen der kolumbianischen Flora und Fauna sind keineswegs Selbstzweck. Weder die Ausstellung sperriger Faktizität noch die Herstellung referentialisierbarer Kulissen, die gemeinhin in realistischem Beschreiben auf dem Spiel stehen, motivieren in María die ausladenden Exkurse ins Tier- und Pflanzenreich. Statt einem effet de réel zuzuarbeiten, 104 Bonaparte dringt, woraufhin Chateaubriand 1803 einen Posten im diplomatischen Dienst erhält. 100 Vorwiegend die lateinamerikanische Forschung liest María daher auch als kulturelle Selbst(er)findung einer Region; siehe dazu u.a. Óscar Buitrago Bermúdez et al., „María y el proyecto de refundación del Valle del Cauca“, in: Henao Restrepo (Hg.), Jorge Isaacs - El creador en todas sus facetas, 441-458. In den heutigen Ausmaßen grenzt das Departamento Valle del Cauca im Westen an den Pazifik, im Osten an Tolima sowie Quindío, im Norden an Chocó und Risaralda sowie im Süden an das Departamento Cauca selbst. Hauptstadt ist weiterhin Cali, wo sich auch die Industrieproduktion konzentriert; als Erwerbsquellen dienen ferner Landwirtschaft (Zuckerrohr, Mais, Kaffee, Bananen, Yuca, etc.), Forstbau und Fischfang. 101 Die Wendung stammt von Noé Jitrik („El secreto encanto de Jorge Isaacs“, in: Poligramas 25 (2006), 11-22, hier 20f.), der den Reiz der Landschaftsschilderungen in María auf folgende treffende Formel bringt: „El paisajismo, tan exaltado, no es vano, implica la fusión del hombre con la naturaleza, así como la acción de la naturaleza sobre los hombres, en lo luminoso y en lo sombrío.“ 102 Tendenziell ältere Isaacs-Kritik plädiert nachhaltig für eine realistische Widerspiegelung von Land, Leuten und Sitten in María, wofür stellvertretend McGradys Studie (Jorge Isaacs, 101-111) genannt sei. 103 Diesen raum- und umwelttheoretischen Deutungsansatz verfolgen die beiden Beiträge zu María in Germán Bula / Ronald Bermúdez, Alteridad y pertenencia: lectura ecocrítica de „María“ y „La Vorágine“, Bogotá: Universidad de la Salle 2009. 104 Einen derartigen Realitätseffekt möchte dagegen Klaus Meyer-Minnemann in María erkennen, was er als „clara marca de modernidad“ in Isaacs‘ Roman auslegt; vgl. „Mundo novelesco, efecto de lo real y literariedad en María de Jorge Isaacs“, in: González-Stephan et al. (Hg.), Esplendores y miserias del siglo XIX, 393-409, hier 403. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 283 entwerfen sie ebenso spektakuläre wie spekulare Korrespondenzlandschaften, die das Bewusstsein oder das abgesunkene Unbewusste der Figuren, allen voran des Erzähler-Ichs, verbalisieren und visualisieren. „[E]l valle y sus montañas“, die Efraín gehend, schauend, hörend und fühlend durchstreift, werden auf diese Weise zu einem „espejo gigantesco“ (M 244), dessen Spiegelungen eine „Totalvermittlung von Ich und Welt“ 105 verheißen, wie Rainer Warning sie auch in Chateaubriands Textuniversum anvisiert sieht. Isaacs exuberanten Naturgemälden liegt im Ausgang dieselbe Mischung aus Pantheismus und Anthropozentrismus zugrunde, die sein französischer Gewährsmann in die nordamerikanischen Savannen projiziert und im Génie du christianisme mehrfach konzeptualisiert. Im Anblick der „forêts américaines aussi vieilles que le monde“ heißt es dort zum menschlichen Bestreben, mit Schöpfung und Schöpfer eins werden zu wollen, ja gänzlich zu verschmelzen: Il y a dans l’homme un instinct qui le met en rapport avec les scènes de la nature. Eh! qui n’a passé des heures entières assis, sur le rivage d’un fleuve, à voir s’écouler les ondes! Qui ne s’est plu, au bord de la mer, à regarder blanchir l’écueil éloigné! Il faut plaindre les anciens, qui n’avaient trouvé dans l’Océan que le palais de Neptune et la grotte de Protée; il était dur de ne voir que les aventures des Tritons et des Néréides dans cette immensité des mers, qui semble nous donner une mesure confuse de la grandeur de notre âme, dans cette immensité qui fait naître en nous un vague désir de quitter la vie pour embrasser la nature et nous confondre avec son Auteur. 106 Solch überwältigende Expressivität nimmt das neuzeitliche Subjekt in Beschlag, vermag es doch - im Gegensatz zu seinen antiken Vorfahren - die Unendlichkeit des Kosmos in deren doppelter Bedeutung zu dekodieren: Als Kristallisation des eigenen Seelenzustands und der christlichen Heilsbotschaft ruft die Natur den beinahe frevelhaften Wunsch wach, das hiesige Leben zugunsten einer zugleich irdischeren wie göttlicheren Existenz zu 105 Warning beschreibt die romantische Tiefenperspektivik prägnant als „Einswerden des Subjekts mit der erhabenen Unendlichkeit des göttlichen Kosmos“ und damit als „die im Schauen und Hören sich vollziehende Totalvermittlung von Ich und Welt“ („Romantische Tiefenperspektivik und moderner Perspektivismus. Chateaubriand - Flaubert - Proust“, in: Karl Maurer / Winfried Wehle (Hg.), Romantik. Aufbruch zur Moderne, München: Fink 1991, 295-324, hier 296). 106 Beide Zitate: Chateaubriand, Génie du christianisme, 720f. Die Selbst- und Gotteserfahrung in der Natur konkretisiert das Kapitel „Deux perspectives de la nature“ (ebd., 589-592) geographisch, indem es die Niagarafälle als Schauspiel einer „grandeur“ und „étonnante mélancolie“ feiert, die zusammen die „langues humaines“ (ebd., 592) überfordern. Im Dialog mit Chateaubriands Vorgaben behandelt die narrative Funktionalität der in María entworfenen Naturräume die minutiöse Lektüre von Françoise Pérus, De selvas y selváticos: Ficción autobiográfica y poética narrativa en Jorge Isaacs y José Eustasio Rivera, Santafé de Bogotá: Plaza y Janés 1998, 43ff. 284 Ursprungsnarrative um 1860 verlassen. Menschliches Begehren und metaphysisches Walten kommen in Chateaubriands Sehnsuchtslandschaften zur Deckung und bilden den Horizont seiner fiktiven Passionsgeschichten. Ähnlich verhält es sich in María, wenngleich die Komponente der Frömmigkeit hier auf die Figurenebene übergegangen ist und sich im intuitiven Katholizismus der Protagonistin verdichtet. Sowohl das „nouvel Éden“ 107 in Louisiana, das der Prolog als Handlungsort in Atala vorstellt, als auch das „Edén“ (M 72) des kolumbianischen Cauca-Tals werden zunächst enthusiastisch wahrgenommen. Nicht einmal Isaacs’ heimatverbundenes Lokalkolorit gewährleistet aber, dass sich die Natur durchgehend von ihrer freundlichen Seite zeigen und nicht - wie schon bei Chateaubriand 108 - eine zur Leidenschaftserzählung parallele Veränderung erfahren würde. Zumindest einige Stationen der Wandlung seien genannt: So erscheint die Pampa, als Efraín nach seiner Schulzeit heimkehrt, zunächst in ihren sattesten Farben und von einer Aura durchstrahlt, die jeden Betrachter zum Schweigen bringt (M 55): „Así el cielo, los horizontes, las pampas y las cumbres del Cauca, hacen enmudecer a quien los contempla.“ Man meint fast Chateaubriands Stimme zu vernehmen, wenn das grandiose Panorama eine Ergriffenheit auslöst, der kein Kommunikationssystem gewachsen ist (ebd.): „Las grandes bellezas de la creación no pueden a un tiempo ser vistas y cantadas: es necesario que vuelvan a el [sic] alma empalidecidas por la memoria infiel.“ Gleich der ungenügenden Sprache und der trügerischen Erinnerung präsentiert sich auch die Serie der Tableaus, in denen wir Efraín und seinen Vater auf Kontrollbesuchen bei subalternen Landarbeitern begleiten, in einem topischen Gewand: Fruchtbar und gediegen breiten sich die Felder, Fluren und Gehöfte der Pächter hin, was mit biblischer Motivik untermauert wird. 109 Poetisch mitteilsam und dabei wohlgeordnet muten hingegen die Orte an, wo Cousin und Cousine ihre verstohlenen Blicke, Gesten und Worte austauschen. Der Umstand, dass sich diese loci amoeni statt in freier Wildbahn mehrheitlich um das Landhaus herum gruppieren oder ganz in dessen Inneres verlegt sind, entlarvt 107 Chateaubriand, Atala, 39. 108 Man denke nur an das brachiale Gewitter, das Atala und Chactas auf ihrer Flucht ereilt und das ihre Liebe gleichermaßen fatal ermöglicht wie verhindert (Chateaubriand, Atala, 83): „Atala n’offrait plus qu’une faible résistance; je [scil. Chactas] touchais au moment du bonheur, quand tout à coup un impétueux éclair, suivi d’un éclat de la foudre, sillonne l’épaisseur des ombres, remplit la forêt de soufre et de lumière, et brise un arbre à nos pieds. Nous fuyons.“ 109 Während den ‚patriarchalen‘ (M 72) Hausstand und die Physiognomie des alten Bauern José „algo de bíblico“ (M 71) kennzeichnet, gleicht der lebhafte Hof des Custodio und seiner attraktiven Tochter Salomé einer „arca de Noé“ (M 271). Dass biblische und besonders alttestamentarische Bezüge zum Standardrepertoire der Idyllenliteratur gehören und bei Chateaubriand ebenfalls mannigfaltig anzutreffen sind, bemerkt Werle, „Nachahmung als Widerlegung“, 288f. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 285 neuerlich die rigide Geschlechterhierarchie, die in María Weiblichkeit von klein auf raumsemantisch interniert. 110 Mit den beiden Jagdszenen hält jedoch eine erstaunliche Gewalt Einzug in das friedliche Tal, das dennoch unbeschadet und mit gewohntem Liebreiz aus dem Gemetzel hervorgehen soll (M 121): „La naturaleza es la más amorosa de las madres cuando el dolor se ha adueñado de nuestra alma; y si la felicidad nos acaricia, ella nos sonríe.“ So heuchelt Efraín nach der grausamen Erlegung eines Tigers und schlummert zum Gesang der waschenden Mädchen und zum sanften Rauschen des Flusses ein. Die Natur schlägt indes zurück und antizipiert einen Stimmungswechsel, der nicht mehr auf zoologische und botanische Details beschränkt bleibt, sondern das Liebesgeschehen als solches erfasst. Anlässlich Marías erstem Anfall muss der zuvor so selbstsichere Held Sturmwind, Überschwemmung und heftigen Regengüssen trotzen, um sich einen Weg zum Doktor zu bahnen (M 81-84). Nachdem es sich bereits im familiären Intérieur angekündigt hat, 111 kommt das Unheil auf Efraíns Ritt durch „aquella naturaleza sollozante“ (M 82) erstmals drastisch zum Ausdruck. Während hier die ärztliche Behandlung und die wachsende Vertrautheit des Paares noch eine Aufheiterung zeitigen, trüben sich spätestens mit der Fieberkrankheit des Vaters (M 192-204) die Korrespondenzlandschaften ein, was einen ersten Tiefpunkt mit Efraíns Aufbruch nach Europa erreicht. Schwache Sonnenstrahlen verblassen an jenem Morgen unter dem dichten Nebel, der einen unmissverständlichen ‚Trauerschleier‘ über den Abschied der Liebenden breitet (M 285): „Los primeros rayos del sol al levantarse trataban en vano de desgarrar la densa neblina que como un velo inmenso y vaporoso pendía desde las crestas de las montañas, extendiéndose flotante hasta las llanuras lejanas.“ Gänzlich verschwunden ist das Sonnenlicht in London, wo ein ‚bleierner Himmel‘ auf Efraíns ohnehin angegriffenes Gemüt drückt. Zum „cielo plomizo“ gesellt sich ein rauer ‚Nordwind‘, der ins Gesicht peitscht und noch aus dem Zimmer des kolumbianischen Studenten jegliche Geborgenheit vertreibt (M 286f.): 110 Bereits Efraíns erster, allein durch die Blume insinuierter Liebesbeweis hat den Innenraum des „comedor“ (M 74) bzw. des „salón“ (M 75) zum Schauplatz. Für das gegenseitige Geständnis, das sich in langwierigen, oftmals anakoluthischen Anspielungen ergeht, dürfen die Liebenden immerhin etwas abseits, wiewohl in Sichtweite an einer Fensterbalustrade Platz nehmen (M 183-185). 111 Noch ehe er von Marías ernstem Zustand erfährt und in die Sturmnacht aufbricht, will Efraín folgende aufdringliche Vorahnung verspürt haben (M 81): „Mi cuarto estaba frío; las rosas de la ventana temblaban como si se temiesen abandonadas a los rigores del tempestuoso viento: el florero contenía ya marchitos y desmayados los lirios que en la mañana había colocado en él María. En esto una ráfaga apagó de súbito la lámpara; y un trueno dejó oír por largo rato su creciente retumbo, como si fuese el de un carro gigante despeñado de las cumbres rocallosas de la sierra.“ 286 Ursprungsnarrative um 1860 La inmensa ciudad rumorosa aún y medio embozada en su ropaje de humo, semejaba dormir bajo los densos cortinajes de un cielo plomizo. Una ráfaga de cierzo azotó mi rostro penetrando en la habitación. Aterrado junté las hojas del balcón; y solo con mi dolor, al menos solo, lloré largo tiempo rodeado de oscuridad. Als metonymische Metapher all dessen, was Fortschritt bedeutet oder genauer: befürchten lässt, konterkariert die „inmensa ciudad“ das archaische Ideal, das Isaacs in der kolumbianischen Tier- und Pflanzenwelt lokalisiert. Sein Binnenerzähler zeichnet die anthropomorphisierte Metropole darum in tiefdunkler Schattierung, lärmend und unwirtlich im ‚Rauchgewand‘ der rücksichtslosen Industrialisierung. Davon abgesehen fallen die sechzehn Monate, die Efraín immerhin in der englischen Hauptstadt verbringt, einer beinahe kompletten Ellipse zum Opfer, 112 sofern sich die betreffende Narration in den zitierten Impressionen erschöpft. Es wäre gleichwohl überzogen, wollte man darin eine implizite Kritik am Modernitätswahn europäischer Provenienz wittern. Denn kaum trifft vertraut duftende Post aus Amerika ein, stellt sich heraus, worum es hier eigentlich geht (M 286): Había una carta de María. Antes de desdoblarla, busqué en ella aquel perfume demasiado conocido para mí de la mano que la había escrito: aún lo conservaba; en sus pliegues iba un pedacito de cáliz de azucena. [...] ¡Rosales del huerto de mis amores! ... ¡montañas americanas, montañas mías! ... ¡noches azules! Zum urbanen Moloch perhorresziert, fungiert London als scharfer Kontrast, der die Heimat und die mit ihr verwachsene María umso begehrenswerter erscheinen lässt. Rosengärten, Berge und ‚blaue Nächte‘, die in Wahrheit subjektive Liebesvisionen sind, werden überschwänglich zum kontinentalen Gemeingut der „montañas americanas“ stilisiert. Doch der Grund, warum die amerikanische Natur gerade aus der Ferne so anziehend erscheint, ist nicht allein die ersehnte Flucht aus der tristen Großstadtrealität. Vielmehr hält jene Natur aus der Nähe gar nicht mehr das, was sie einst versprach. Das muss Efraín feststellen, als er auf der Rückreise zur schwerkranken Cousine erstmals wieder heimischen Boden betritt. Schon die Landung in Buenaventura und der dortige Aufenthalt beim hedonistischen „Administrador“, einem Freund des Vaters, gestalten sich als äußerst zwielichtige Etappen (Kapitel LVI, M 290-295), 113 die dem im Exil glorifizierten Charme zuwiderlaufen. Die von einer Rattenplage heimge- 112 Vgl. hierzu Cornils, Neues aus Arkadien, 170. Überzeugend merkt die Verfasserin an, dass mit Efraíns London-Aufenthalt auch eine „linear-progressive Zeit“ (ebd., 171) auf dem Spiel steht, die in krassem Gegensatz zur Ursprungszeit im arkadischen Cauca-Tal steht (ebd., 74ff.). 113 Eine nuancenreiche Analyse zu Efraíns finaler Heimreise nach und durch Kolumbien bietet wiederum Cornils, Neues aus Arkadien, 169-185. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 287 suchte Hafenstadt am Pazifik und die Persönlichkeit des Verwalters, der sich in makabren Späßen und Trinkfestigkeit ergeht, lassen das Schlimmste erwarten. Als atmosphärischer Vorgriff korrespondiert die sinistre Szenerie in Buenaventura mit dem düsteren Finale des Romans. Sie leitet eine zweiseitige - doch kategorial gleichartige - Funktionalisierung der Landschaft ein, die fortan entweder als direktes Echo die Verfassung der Akteure wiedergibt oder ihnen entgegenstehende Kräfte materialisiert. Anders als eineinhalb Jahre zuvor an den pittoresken Gestaden des Cauca, tritt die kolumbianische Vegetation nun ungebändigt und zumeist feindselig vor Augen. Die „selvas del interior“ (M 308), die Efraín auf dem Wasserweg passiert, mögen zwar „majestad, galanura, diversidad de tintas y abundancia de aromas“ vereinen und „un conjunto indescriptible“ (ebd.) formieren. Auf dem reißenden Río Dagua, den der Protagonist unter Führung ortskundiger Ruderer durchschifft, verbindet sich damit aber nicht ehrfurchtgebietende Erhabenheit, sondern die handfeste Konfrontation mit den Widrigkeiten der Wildnis. Es hat regelrecht den Anschein, als ob die „pompa americana“ (M 305) sich nach dessen Gastspiel in Europa gegen Efraín verschworen habe. Die Hoffnung, als „amigo no olvidado“ (M 300) von der kolumbianischen Erde aufgenommen zu werden, erweist sich mithin als „deliciosa ilusión“ (M 299) 114 , die bereits die langwierige Bootsfahrt Lügen straft. Den ‚tobenden Schnellen‘ (M 290) des Flusses, den Attacken der Fledermäuse sowie einer Unzahl blutsaugender Insekten und giftiger Schlangen ausgeliefert, muss der Heimkehrer einsehen, dass im Urwald andere Gesetze gelten als auf den Latifundien weiter im Landesinneren. Mehr noch: Die Durchquerung der wuchernden Selva gerät nachgerade zur Inversion neokolonialer Herrschaftsverhältnisse, bedenkt man, dass der Oligarchen-Sohn hier von der Gunst farbiger „bogas“ (M 298) abhängt, die neben dem Rudern ein einträgliches Schmuggelgewerbe betreiben. Die „inverosímil navegación“ (M 310) auf dem Dagua legt nahe, dass der bisher souveräne Held in einem Wettlauf gegen die Natur steht, in dem er unweigerlich unterliegen wird. Die Zuversicht, nach dem Wechsel auf das Pferd wieder „dueño de [su] voluntad“ (M 311) zu sein und rechtzeitig anzukommen, bricht daher schnell in sich zusammen. Der Ritt durch die Cauca-Gegend befördert lediglich die Erkenntnis, dass die Heimat den verlorenen Sohn nicht mit offenen Armen, sondern mit untrüglichen Signalen der Ablehnung empfängt. Angefangen vom grimmigen Bellen eines 114 Die verräterische Formulierung kappt eine Träumerei, mit der Efraín sich während der Fahrt auf dem Dagua bereits aufs väterliche Anwesen und in die Arme der lebenden Geliebten imaginiert (M 299): „La casa paterna en medio de sus verdes colinas, sombreada por sauces añosos, engalanada con rosales, iluminada por los resplandores del sol al nacer, se presentaba a mi imaginación: eran los ropajes de María los que susurraban cerca de mí; la brisa del Sabaletas la que movía mis cabellos; las esencias de las flores cultivadas por María, las que aspiraba yo... Y el desierto con sus aromas, sus perfumes y susurros era cómplice de mi deliciosa ilusión.“ 288 Ursprungsnarrative um 1860 „perro negro“ (M 312) verfestigt sich der Eindruck der Entfremdung, gegen den kein nativer genius loci mehr gefeit ist. Demnach entfalten auch die endgültige Ankunft und der vertraute Anblick der „casa paterna“ einen eher zwiespältigen Zauber, der äußerste Schönheit jederzeit in tiefstes Leid umwenden kann (M 314): Al día siguiente a las cuatro de la tarde llegué al alto de las Cruces. Apeéme para pisar aquel suelo desde donde dije adiós para mi mal a la tierra nativa. Volví a ver ese valle del Cauca, país tan bello cuanto desventurada ya... Tantas veces había soñado divisarlo desde aquella montaña, que después de tenerlo delante con toda su esplendidez, miraba a mi alrededor para convencerme de que en tal momento no era juguete de un sueño. Mi corazón palpitaba aceleradamente como si presintiese que pronto iba a reclinarse sobre él la cabeza de María; y mis oídos ansiaban recoger en el viento una voz perdida de ella. Fijos estaban mis ojos sobre las colinas iluminadas al pie de la sierra distante, donde blanqueaba la casa de mis padres. Ungeachtet ihrer Topik garantiert das romantische (Berg-)Panorama nurmehr Relikte einer synästhetischen Einheit. Der Zusammenfall visueller und akustischer Sinnesdaten kontrastiert mit der Spaltung der Sinndimensionen, die kaum weiter auseinanderliegen könnten und die den Betrachter einer unauflöslichen Ambivalenz überantworten: Die eindrucksvolle Totale über das Cauca-Tal, das selbst als realpräsentes noch im Verdacht traumhafter Verzerrung steht, präfiguriert zugleich Marías wohl schon erstarrtes Antlitz. Der Wind, der die strahlende Gegend in eine sanfte Brise hüllen sollte, droht die Stimme der Geliebten zu übertönen, die sich bereits ,verloren‘ („perdida“) und schwach verflüchtigt. Es ist leicht zu ersehen, dass Efraíns beschwerliche Rückreise - wie jene auf weiblicher Seite in Paul et Virginie 115 - allein ein retardierendes Moment bildet. Der Protagonist muss zu spät kommen, muss Marías Leichnam vorfinden und daraufhin einen Schock erleiden, der nicht nur die Übereinstimmung mit seiner menschlichen Umgebung kappt. Als er zumindest physisch genesen nochmals die Orte des Glücks aufsucht, erscheinen diese zu „contornos solitarios y silenciosos“ (M 323) entstellt oder sogar in einen „abismo“ (M 325) vertieft. Nahezu ‚gleichgültig‘ gegenüber seiner Trauer mutet jetzt der Hügel an, der Efraín ehedem eine glänzende Aussicht auf Heim, Herd und baldige erotische Erfüllung bot (M 323): Detúveme en la asomada de la colina. Dos años antes, en una tarde como aquélla, que entonces armonizaba con mi felicidad y ahora era indiferente a mi dolor, había divisado desde allí mismo las luces de ese hogar donde con amorosa ansiedad era esperado. María estaba allí... 115 Gemeint ist Virginies dramatische Heimkehr zu Schiff, die infolge eines aufkommenden Sturms und aufgrund ihres mittlerweile europäisierten Schamgefühls - das ihr verbietet, nackt an die Küste zu schwimmen- mit dem Tod der Protagonistin endet. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 289 Nicht unterschlagen sollte man gleichwohl, dass hier von ‚Indifferenz‘ die Rede ist und nicht von unüberbrückbarer Differenz, die den Einklang zwischen Landschaft und Gemütsverfassung gänzlich aufkündigen würde. Denn trotz laut werdender Missklänge vollzieht die Schlusswendung des Romans keinen Bruch zwischen Subjekt und Umwelt. María taugt kaum als Abgesang auf romantisches Providenzdenken, das im Licht „kontingenter Banalität“ 116 zur Diskussion stünde. Seelenleben und reflektorischer Kosmos driften auch zum Ende hin nicht völlig auseinander, der Analogismus hat sich lediglich in geteilte Disharmonie verkehrt, in der eine verödete Natur das Relief für die figural obsiegende Desintegration abgibt. Ohne freilich der deskriptiven und linguistischen 117 Akribie des in María greifenden paisajismo gerecht zu werden, sagt der vorangehende Abriss Einiges über den mutmaßlichen Realismus in Isaacs‘ Romans aus. Dieser verfährt ähnlich wirklichkeitsnah oder wirklichkeitsfern wie seine Prätexte, mag die exakte Sach- und Ortskenntnis des Autors auch groben Unstimmigkeiten und Überzeichnungen, wie sie etwa Chateaubriand unterlaufen, mehrheitlich vorbeugen. Dokumentarische Authentizität bleibt in María nichtsdestoweniger eine relative Größe. Unabweislich manifestiert sich das in der eingeflochtenen Episode über die Sklaven Nay und Sinar, welche die afrikanischen Tropen Gambias mit ebenso imposanten Attributen ausstaffiert, wie sie ihr lateinamerikanisches Pendant bei selber Stimmungslage, also in ärgster Bedrängnis aufweist (z.B. M 221). Provokant gewendet, verdanken Isaacs’ Landschaften dem Motivinventar der französischen Romantik und Empfindsamkeit genauso viel wie den geographischen Eigenheiten des Valle del Cauca. Der Regionalismus in María ist dergestalt als intertextuelles Amalgam zu erkennen, 118 das die Tiefenperspektivik der Vorgänger zwar nicht problematisiert, aber in transkultureller Kombinatorik auf die heimische Natur bezieht. Mit Chateaubriand und Bernardin de Saint-Pierre werden dabei Muster aufgerufen, deren abgelegene Schauplätze es streng genommen wohl niemals gab. Und genauso in María, wo sich in der üppigen Vegetation unentwegt Leerstellen und Risse auftun. Am glaubwürdigsten sind Isaacs’ psychische Topographien vermutlich dort, wo ihre bukolische Patina bröckelt, wo ihre Fragilität aufscheint und sie letztlich ihr eigenes Verschwinden 116 „An die Stelle einer bei Chateaubriand - und sei es im Scheitern - noch providentiell gesichert erscheinenden existentiellen Dignität ist [in María] die Erfahrung kontingenter Banalität getreten.“ So begründet dagegen Werle („Nachahmung als Widerlegung“, 295f.) die von ihm angenommene „Modernitätserfahrung“ in María. 117 Bezeichnenderweise fügt Isaacs dem Romantext ab der ersten Edition ein Glossar an, das die „provincialismos más notables de esta obra“ (M 333) erläutern soll und damit streng genommen den linguistischen Realismus ad absurdum führt. 118 Plausibel begreift Pérus (De selvas y selváticos, 48ff./ 77ff.) deshalb Isaacs‘ Cauca-Tal weniger als Naturraum denn vielmehr als literarische Landschaft und intertextuellen Chronotopos. 290 Ursprungsnarrative um 1860 prognostizieren. Denn im Bewusstsein des erzählenden Efraín fehlt María schon immer, gleich ob sie sich in der Ereignischronologie noch bester Gesundheit erfreut. Vor- und darstellbar ist der Garten Eden überhaupt nur im Zeichen des „ya no“, 119 im Zeichen eines nicht-mehr, das von Beginn an sämtliches Liebesschwelgen überschattet (M 72, Hervorhebung K.H.): A mi regreso [de la montaña], que hice lentamente, la imagen de María volvió a asirse a mi memoria. Aquellas soledades, sus bosques silenciosos, sus flores, sus aves y sus aguas, ¿por qué me hablaban de ella? ¿Qué había allí de María? en las sombras húmedas, en la brisa que movía los follajes, en el rumor del río… Era que veía el Edén, pero faltaba ella; era que no podía dejar de amarla, aunque no me amase. IV.5 Wiederkehr des Medialen Die Einsicht in den allem voraufliegenden Mangel bleibt jedoch unausgesprochen. Im zitierten Passus wie auch andernorts im Roman initiiert sie keine gezielte Auseinandersetzung mit der eigenen Erzählökonomie. Die Erinnerung, die nach einer Bergwanderung vor Efraíns geistigem Auge ersteht, bestätigt nur einmal mehr, dass die repräsentierten Landschaften in María als Abglanz oder, je nachdem, als Kontrast der Figuren- und Handlungsentwicklung fungieren. Dass ebenjene Natur gleichzeitig Summe textueller und kultureller Transferprozesse ist, kommt hingegen nicht oder, wie in der Atala-Rezitation, lediglich als unhinterfragtes Omen zum Ausdruck. Denn nur indem er sie nicht in ihrer Beschaffenheit erörtert, kann Isaacs die Modelle eines Bernardin de Saint-Pierre und Chateaubriand narrativ operationalisieren und überdies als Glaubens- und Bildungsideal ausstellen. Allein indem er darauf verzichtet, den Traditionalismus der Prätexte zu kommentieren, vermag er deren langjährig angehäuftes Ansehen auszuschöpfen. Der geringe Grad transkultureller Reflexivität degradiert María aber noch lange nicht zur eindimensionalen Kopie aus Frankreich übernommener Verlustsujets. 120 Der Roman begnügt sich nicht mit einer Nobilitierung des vermeintlich Wilden, wie Chateaubriand es mit seinem christlich zivilisierten Indianerstamm der Natchez vorführt. Isaacs rekontextualisiert das exotische Faszinosum und verzahnt es mit einem nostalgi- 119 Ob der wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Vaters, die den Anfang vom Ende seines Glücks markieren, lässt sich Efraín gar zu einer expliziten, in der histoire verfrühten Klage über dieses nicht-mehr hinreißen (M 178): „Ya no volveré a admirar aquellos cantos, a respirar aquellos aromas, a contemplar aquellos paisajes llenos de luz, como en los días alegres de mi infancia y en los hermosos de mi adolescencia: ¡extraños habitan hoy la casa de mis padres! “ 120 Genau dies unterstellt, wie in hiesigem Auftaktkapitel skizziert (I.3.1), hingegen Roberto González Echevarría (Myth and Archive, 12) in einer - seiner generellen Thesenbildung geschuldeten - Vereinfachung. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 291 schen Provinzialismus. Er situiert es sozusagen vor der eigenen Haustür und projiziert es dennoch in eine ebenso unwiederbringliche wie unwahrscheinliche Vergangenheit, in der Herren und Knechte noch in beidseitiger Zufriedenheit zusammenlebten. IV.5.1 Das Urmedium der Natur und die verdrängte Technik Nur nebenbei vermerkt sei, dass María damit eine restaurative Variante des alltäglichen Wunderbaren insinuiert, das im 20. Jahrhundert als real maravilloso oder realismo mágico wiederkehren wird, ehe derartige Lemmata ihrerseits als mythische Verblendungen in Misskredit geraten. 121 Die autochthone Verwurzelung, die Isaacs’ Narrativ zur Schau trägt, darf selbstredend nicht auf die Aneignung französischer Quellen durchsichtig werden. Die Urwüchsigkeit seines Romans sucht der Kolumbianer ferner dadurch zu garantieren, dass er ihn weder fiktionsintern noch rahmenpragmatisch als Medienereignis - das er zweifellos ist 122 - entweiht wissen will. Noch dreizehn Jahre nach dem Erscheinen (1880) verfließen in Isaacs’ Augen die Tränen der Protagonisten mit den seinen, ohne irgendein Relais passieren zu müssen: „¡Páginas queridas! ¡Demasiado queridas quizá. Mis ojos han vuelto a llorar sobre ellas.“ 123 Das erstaunt umso mehr, als María zu dieser Zeit längst private wie nationale Barrieren überschritten hat und im kontinentalen Maßstab vermarktet wird. In Isaacs’ Überhöhung bleiben die kostbaren ‚Seiten‘ von derlei materieller Zerstreuung unberührt, sind sie weiterhin Reservoir emphatischer Gefühlsäußerung oder, nochmals zugespitzt, ein „Weinen, das um 1800 [und noch sechs Jahrzehnte später] mit Schreiben streng synonym ist“ 124 . Wohl auch deshalb schenkte die reiche María-Forschung medialen und technischen Faktoren bisher kaum Aufmerksamkeit. Allenfalls die rezeptionssoziologische Dimension stieß auf Interesse, lag es doch nahe, nach Ursachen und Katalysatoren der bemerkenswerten Aufnahme zu fragen. Indes kommt das beharrlich Verdrängte nicht erst in der faktischen Verbreitung des Buches wieder zum Vorschein. Genauso wie Jorge Isaacs eher zum Opfer als zum Nutznießer seines populären Romans wird, ergeht es nämlich seinen beiden Protagonisten: Ihr ländliches Liebesnest hat nur wenige Monate Bestand, bevor die reinen Herzenslaute verstummen müssen, 121 Provokant attackieren die Topoi des Wunderbaren bzw. Magischen bekanntlich Alberto Fuguet und Sergio Gómez in der programmatischen „Presentación del país McOndo“ ihrer gleichnamigen Anthologie McOndo (Barcelona: Mondadori 1996, 9-18). 122 „Desde temprano [María] halló diferentes canales de circulación, ampliados por los medios“ - so resümiert Susana Zanetti („La lectura de María“, o.S.) die publizistische Durchschlagskraft des Romans . 123 Jorge Isaacs, „Sobre los últimos borradores de un libro (Leyendo María])“ [1880], in: Ders., Obras completas, Bd. 4: Escritos varios, 3-4, hier 3. 124 Kittler, Aufschreibesysteme, 217. 292 Ursprungsnarrative um 1860 neuerdings graphisch kontaminiert werden und schließlich irgendwo auf dem Atlantik oder in den Weiten Kolumbiens verhallen. Obschon inzwischen die zweite Jahrhunderthälfte angebrochen ist, hält María an einem Aufschreibesystem fest, das Friedrich Kittler in Mitteleuropa um 1800 vorfindet. Die Uhren scheinen gleichsam zurückgedreht in der kolumbianischen Pampa, wo Kommunikation ähnlich intuitiv vonstattengeht, wie es der Medientheoretiker im Folgenden darlegt: Die Natur vollbringt also eine buchstäbliche PRODUKTION VON DISKUR- SEN. Ihr entspringt, da nur Zungen und Herzen, keine Schreibhände und Leseraugen auftauchen, eine erste Mündlichkeit. Mit alledem wird die Natur unabhängig von Gottes Wort. Statt zu seufzen, bis dass sie im Namen des Vaters ruht, schafft sie selber menschliche Sprachorgane, die stellvertretend ihren Selbstgenuss betreiben. Sprachursprung, vormals eine Schöpfung aus Nichts, wird zu mütterlichem Gebären. […] Der Diskurs, den die Mutter im Aufschreibesystem um 1800 nicht hält, sondern macht, heißt Dichtung. Mutter Natur schweigt, auf dass andere von ihr und für sie sprechen. 125 Die Natur, die Kittler auf das menschliche und vorwiegend auf das weibliche Wesen hin perspektiviert, steht am Anfang aller Hervorbringung von Sprache, Text und Diskurs. Idealtypisch veranschaulicht Isaacs’ Roman, wie ein Informationsaustausch funktioniert, den kein Kanal, keinerlei Abstand und kein störendes Rauschen behindert. Geradezu kratylisch soll in María der Naturraum selbst als Medium dienen, das ohne „lenguaje mundano del amor“ (M 75) auskommt und schlichtweg durch die Blume sprechen kann, um Affektbotschaften zu enkodieren. Efraíns verzückter Fensterblick bietet nur ein Beispiel für die ungefilterten Signale, die die Flora noch in absentia der Geliebten aussendet (M 76): Apoyado de codos sobre el marco de mi ventana, me imaginaba verla en medio de los rosales 126 entre los cuales la había sorprendido en aquella mañana primera: estaba allí recogiendo el ramo de azucenas, sacrificando su orgullo a su amor. Era yo quien iba a turbar en adelante el sueño infantil de su corazón: podría ya hablarle de mi amor, hacerla el objeto de mi vida. ¡Mañana! ¡mágica palabra la noche en que se nos ha dicho que somos amados! Sus miradas, al encontrarse con las mías, no tendrían ya nada que ocultarme; ella se embellecería para felicidad y orgullo mío. 125 Kittler, Aufschreibesysteme, 35. 126 Als topische Liebesflora kommunizieren gerade die „rosales“ im heimischen Garten sowohl Efraíns Stimmungen als auch die oft unaussprechliche Anziehung zwischen seiner Cousine und ihm, wie bereits die anfängliche Heimkehr des Protagonisten aus Bogotá suggeriert (M 56): „Desde él [scil. el comedor] se veían las crestas desnudas de las montañas sobre el fondo estrellado del cielo. Las auras del desierto pasaban por el jardín recogiendo aromas para venir a juguetear con los rosales que nos rodeaban. El viento voluble dejaba oír por instantes el rumor del río. Aquella naturaleza parecía ostentar toda la hermosura de sus noches, como para recibir a un huésped amigo.“ Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 293 Der Rosengarten und die Morgensonne bleiben aber nicht auf Dauer schön genug, um die Illusion der Transparenz aufrechtzuerhalten und die Datenübertragung als solche zu kaschieren. Die Gefahr zeichenhafter Verdunkelung, die hier noch kategorisch ausgeschlossen wird („no tendrían ya nada que ocultarme“), nimmt erheblich zu, als die Triangulation zwischen Efraín, María und der heimischen Landschaft oder, anders gesagt, zwischen Sender, Empfängerin und dem Urmedium der Natur unterbrochen ist. Die positive Versteh- und Lesbarkeit 127 verschwinden spätestens mit der Trennung, die stattdessen düstere Ein- und Ausdrücke der jeweiligen Umwelt auf den Plan ruft. Diese mögen zwar weiterhin beredt sein und das Innenleben der Akteure nach außen kehren; um für eine buchstäbliche „Mutter Natur“ zu zeugen, taugen sie gleichwohl nicht mehr. An die Stelle des „Gebärens“, das Kittler als biologisches Äquivalent einer unverstellten Ursprache ausmacht, 128 tritt am Ende von María der Tod, den die „Dichtung“ und das heißt in diesem Fall Isaacs’ Roman freilich nicht minder emphatisch besingen kann. Im Grunde jedoch war die Unmittelbarkeit der Zeichentransmission von Anfang an ein prekäres Konstrukt, selbst eine Verschleierung gemessen am historischen Referenzgehalt des Romans. Aufschluss darüber gibt allerdings nicht das intakte Bild des Cauca-Tals, das Isaacs und sein Held über weite Strecken restituieren, sondern genau das, was beide wohlweislich ausblenden. Ihren beharrlich unterdrückten und zuweilen trotzdem aufscheinenden Konterpart hat die adamitische Natur in den kommunikations- und verkehrstechnischen Innovationen, die sich zur Zeit der Abfassung von María (1864-1867) wie schon des fiktiven Geschehens (um 1850) 129 Bahn brechen. Die Leerstelle springt umso mehr ins Auge, als sie ein Romancier verantwortet, der an derlei Entwicklungen hautnah teilhat: Ausgerechnet Jorge Isaacs wird als liberaler Politiker für die Modernisierung Kolumbiens werben und wollte als Bergbau-Pionier an der industriellen Aufrüstung seiner Heimat mitwirken. Ausgerechnet Isaacs koordiniert be- 127 Zur epistemologisch gewandelten Vorstellung einer Welt als Buch vgl. einschlägig Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1981. Besonders im Kapitel „Ein Buch von der Natur wie ein Buch der Natur“ (ebd., 281-299) problematisiert Blumenberg die (romantische) Hoffnung, eine fremde Welt qua Lektüre bewohnbar zu machen. 128 Siehe nochmals den oben zitierten Passus aus Kittler, Aufschreibesysteme, 35. 129 Gewohnt akribisch unternimmt McGrady in der „Introducción“ (M 11-43) der hier verwendeten Ausgabe einen Datierungsversuch der Romanhandlung, welcher freilich auf dem Konstrukt realistischer Widerspiegelung basiert (ebd., 37): „La acción de María puede fecharse de una manera aproximada. Como en la novela existe todavía la esclavitud, abolida en Colombia a principios de 1852, se desprende que la trama tiene lugar antes de ese año. Otro dato que apunta hacia la misma fecha es la referencia (XXIII) al periódico El Día, que dejó de publicarse en julio de 1851. El colegio del doctor Lorenzo María Lleras, adonde asistió Efraín, funcionó de 1846 a 1852. Así es que el idilio de Efraín y María transcurriría hacia el año 1850.“ 294 Ursprungsnarrative um 1860 reits 1864/ 65 den Straßenbau zwischen Buenaventura und Cali, womit er eigens die infrastrukturelle Erschließung des bis dahin abgeschiedenen Cauca-Gebiets vorantreibt. 130 Dass der Romantiker genau in diesen beiden Jahren, die er unter primitiven Bedingungen nahe des Dagua-Flusses verbringt und in denen er an Malaria erkrankt, mit der Redaktion seiner María beginnt, ist ebenso widersprüchlich wie aufschlussreich. Lebensweltlich im Namen expansiver Technik tätig, verfasst er gleichzeitig einen Roman, der jedwede Technisierung aus seinem Suchfeld verbannt. Statt neuer Transportmittel muss sich Efraín auf seinen ausgedehnten Reisen überkommener Fortbewegungsarten bedienen; statt mit der Eisenbahn 131 und via schnellen - eventuell dampfbetriebenen - Überseelinien, die zu dieser Zeit den Kontinent erreichen, begleiten wir ihn auf imposanten Ausritten und im Ruderboot; statt in der aufstrebenden Hauptstadt Bogotá oder in der europäischen Industriemetropole London, wo der Protagonist weit mehr als ein Jahr studiert, konzentrieren sich die Ereignisse in einer rückständigen kolumbianischen Provinz; statt internationale Vernetzung und urbane Beschleunigung feiert María eine rurale Isolation, die den Lebensrhythmus bis zum Stillstand und bis zur buchstäblichen Todesstarre verlangsamt. Jeden noch so bescheidenen Ansatz, an aktuelle Errungenschaften und dadurch veränderte Wahrnehmungsgewohnheiten anzuschließen, erstickt der Roman im Keim. Sowohl die „costosa y bella fábrica de azúcar“ (M 60), die der Vater Jorge aufbaut, als auch sein zukunftsträchtiger - mit dem sinnbildlichen Geschenk einer englischen Präzisionsuhr akzentuierter (M 95) 132 - Entschluss, den Sohn als Arzt ausbilden zu lassen, 130 Fertiggestellt wurde die Straße zwischen der Küste und Cali erst wesentlich später, so dass die Cauca-Region noch geraume Zeit unter infrastrukturellen Defiziten litt. Vgl. dazu Salomón Kalmanovitz, „El régimen agrario durante el siglo XIX en Colombia“, in: Jaime Jaramillo Uribe et al. (Hg.), Manual de Historia de Colombia, Bd. 2: Siglo XIX, Bogotá: Procultura S.A. / Inst. Colombiano de Cultura ²1982, 209-324, hier 263ff. 131 So wird 1837 die erste Eisenbahnstrecke Lateinamerikas im kolonialen Kuba in Betrieb genommen. Es folgen im Laufe der 1850er und 60er Jahre Linien u.a. in Mexiko, Peru, Chile, Brasilien und Argentinien. Im heutigen Kolumbien fasste der Kongress bereits 1836 den Entschluss zum Streckenbau, der erstmals 1850-55 mit der Einrichtung der Panamá-Bahn umgesetzt wurde. Trotz unzähliger Bauprojekte kam das kolumbianische Schienennetz Ende des 19. Jahrhunderts erst auf ca. 500 km. Zur Historie der kolumbianischen Eisenbahn vgl. bündig Carlos Eduardo Nieto, „El ferrocarril en Colombia y la búsqueda de un país“, in: Apuntes 24/ 1 (2011), 62-75. Die weltweite Mobilitätsrevolution durch den Schienenverkehr verhandelt grundlegend Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert [1977], Frankfurt/ Main: Fischer 2015. 132 Der „hermoso reloj de bolsillo“ (M 95), den der Vater dem Sohn schenkt, um ihn auf die europäische Pünktlichkeit einzustimmen, erscheint zunächst tatsächlich als Taktgeber des Fortschritts, wie Cornils in ihrer Analyse vorschlägt (Neues aus Arkadien, 74- 76). Am Ende muss die Verfasserin aber einbekennen, dass Don Jorge ebenso wenig wie sein Erbe als Modernisierer taugt (ebd., 384): „Zwar schmückt sich der Vater mit einer chronographisch exakten Taschenuhr, bewundert das Mutterland der Indus- Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 295 führen ins Verderben, zunächst wirtschaftlicher Art, dann mit korrosivem Ausgang für die ganze Familie. Auch Don Jorge bleibt ein Gutsherr alter Schule, der in dominanten Gesten der Fürsorge verharrt, statt seinen Betrieb für kapitalistische Rationalisierung, maschinelle Bewirtschaftung und kommerzielle Expansion zu rüsten. Wie seine Schützlinge Efraín und María ist er ein wandelnder Anachronismus, weil sein autokratischer Habitus von dem überholt wird, was scheinbar hors-champ liegt. IV.5.2 Courriers de la mort Genau besehen deutet sich früh an, dass in María zumindest mediale Prozesse - wenn schon nicht ihre technischen Dispositive - eine wesentliche Rolle spielen. Je mehr der Roman die Unberührtheit der dargestellten Natur und die Spontaneität der Kommunikation betont, desto offensichtlicher verrät er sich als Resultat mannigfacher Vermittlungsvorgänge. Nicht nur, dass Isaacs’ Kultbuch im Nachhinein zum Phänomen massenhafter Reproduktion und Diffusion wird. Nicht nur, dass die Erinnerungsgeschichte als nachgelassenes und posthum ediertes Manuskript erst mehrere Hände passieren muss, ehe sie die adressierten „hermanos“ (M 51) erhalten. Vielmehr offenbart sich die Fiktion selbst als Kondensat unzähliger Schreib- und Lesespuren. 133 Dabei braucht nicht nochmals erörtert zu werden, dass sich in María sogar die bewegendsten Gefühlsaufwallungen als Nach-Empfindungen literarischer Vorbilder entpuppen, dass der Held seinerseits als Schreibender - seiner Memoiren und zu Lebzeiten seiner Gedichte - auftritt und dass das jugendliche Personal an akuter „Lesesucht“ 134 leidet. Zuletzt dürfte einsichtig geworden sein, dass Efraín und María eben nicht von Herz zu Herz konferieren, sondern einer subtilen Liebessemiotik bedürfen, die mit verschlüsselten Gesten, rhetorischen Anspielungen, scheuen Berührungen sowie Blumengaben operiert und die somit ein blindes Verständnis per se unterläuft. Darüber hinaus existieren aber Momente, die in María die Utopie des unsichtbaren Informationstransfers offen torpedieren und eine Prominenz triellen Revolution und stellt sich mit Verve hinter einige liberale Prinzipien […]. Doch den Anforderungen eines ‚modernen‘ Kapitalismus hält sein eigenes Wirtschaften kaum stand.“ 133 Als Ausstellung und Einübung eines konservativen Bildungskanons erachtet die vielfältigen Schrift- und Lektürepraktiken in María die anregende Studie von Ómar Díaz Saldaña, „María y la cultura escrita. Reflexiones entorno a las prácticas de lo escrito en la novela de Jorge Isaacs“, in: Henao Restrepo (Hg.), Jorge Isaacs - El creador en todas sus facetas, 137-157. 134 Vorrangig weibliche „Lesesucht“ bildet nach Kittler (Aufschreibesysteme, 159-188) im Mediengefüge um 1800 das Pendant proliferierender männlicher Dichterschaft (ebd., 179): „Ihre Texte [scil. die Texte männlicher Dichter wie Goethe], weil sie auf den Autor hin codiert sind, generieren einerseits immer neue Autoren-Jünglinge und andererseits, weil sie für die Mädchen geschrieben sind, immer neue Leserinnen.“ 296 Ursprungsnarrative um 1860 des Medialen bedingen, deren Folgen furchtbar sein können. Denn nicht die Selbstpräsenz des gesprochenen und gehörten Wortes, nicht die anwesende Stimme, sondern die Entfernung erweist sich als Normalzustand in Isaacs’ Roman. Entfernungen trennen Efraín und María sowohl im Kindesalter als auch in ihrer Jugend, ehe sie sich mit dem Studienaufenthalt in London verstetigen. Und Entfernungen wollen überwunden werden. Hier nun ist der systematische Ort, wo sich wider sämtliche Beteuerungen Medien zwischen die beiden Protagonisten schieben, gleich ob es sich um sprachliche Zeichen, Verkehrsmittel oder Datenkanäle handelt. All diesen „Materialitäten der Kommunikation“ 135 ist es um Übertragung zu tun und um Übertragung oder um Überbrückung von Distanzen muss es auch dem jungen Paar zu tun sein, damit es überhaupt in Kontakt bleibt. Nicht umsonst nehmen Szenen und Sequenzen der Fortbewegung in María breiten Raum ein, wie das Incipit, Efraíns lange ersehnte Heimkehr hoch zu Pferd unverzüglich verdeutlicht (M 54-56). Was hier noch Wiedersehensfreude und baldige Gemeinschaft erwarten lässt, verkehrt sich alsbald ins Gegenteil. Den Anfang macht diesbezüglich Efraíns Ritt durch Nacht und Sturm, um ärztlichen Beistand für die krampfende María zu holen (M 81-84). Nur unter Einsatz des Lebens gelingt es Ross und Reiter, das abgelegene Haus des Doktors zu erreichen. Wenngleich sich das Schlimmste noch einmal abwenden lässt, kündigt sich hier bereits das „Ende des Pferdezeitalters“ 136 an und bleibt die Erfahrung der Ferne als schmerzlicher Eindruck zurück (M 82): „[M]i impaciencia me hacía medir incesantemente la distancia que me separaba del término del viaje; impaciencia que la velocidad del caballo no era bastante a moderar.“ Jedes weitere Verlassen des Familienanwesens tut denn auch einen Schritt näher auf das definitive Unglück zu. Weder der Gang zur Hochzeit befreundeter Landpächter, den der Fieberschock des Vaters jäh beendet (M 192-205), noch Don Jorges Aufenthalt in der Stadt (M 247ff.), um die Reise des Sohns zu arrangieren, verheißen Gutes. Mit Efraíns Aufbruch nach Europa (M 284-286) spitzt sich die Krise zu, bevor sie mit der Rückkehr an Marías Krankenbzw. Totenbett (M 290-316) ihr in jeder Hinsicht atemberaubendes Finale findet. Die verschwiegene Überquerung des Atlantiks, die Schiffspassage im Pazifik von Panama nach Buenaventura an Bord der „Emilia López“ (M 290), die schier endlose Fahrt auf dem Dagua sowie der Ritt durch die Gegend um Cali markieren die Etappen, die der Protagonist im Kampf gegen die Uhr zurücklegen muss. Efraíns Angst vor Verspätung lenkt den Blick auf die Insuffizienz der Verkehrsnetze und bekräftigt schlussendlich, was vorab zu 135 Zur theoretischen Begründung und literarischen Füllung des Terminus vgl. die Beiträge in Hans Ulrich Gumbrecht / Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1988. 136 Die Wendung entnehme ich dem Artikel von Reinhart Koselleck, „Das Ende des Pferdezeitalters“, in: Süddeutsche Zeitung (25. September 2003), 18. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 297 befürchten stand: Wo auch immer in María Distanz und Mobilität thematisch werden, da lauert die Gefahr der Entzweiung, deren sukzessive Steigerung tödlich ausgehen muss. Davon zeugt neben dem unzureichenden Personentransport gleichfalls die Zirkulation schriftlicher Nachrichten, womit einerseits die Korrespondenz des Hausherrn Don Jorge und andererseits der Briefwechsel der Liebenden gemeint ist. Aller Idyllik zum Trotz greift in María das „postalisch[e] Apriori“ 137 , dessen europäische Diskurs-, Medien- und Literaturgeschichte Bernhard Siegert verfasst hat. Der disziplinierende Effekt, den der Kulturwissenschaftler einer im 19. Jahrhundert zunehmend aggressiven Postpolitik zuschreibt, 138 macht sich jedoch auch im scheinbar verschlafenen Cauca-Tal bemerkbar. Teilhabe an sozioökonomischer Öffentlichkeit reguliert sich selbst hier über die Anbindung an postalische Infrastrukturen, über Möglichkeiten der Entsendung und des Empfangs von Informationen, über die Adressierbarkeit als namentlich wie örtlich bekanntes Subjekt. Ja, unter Umständen trifft in Isaacs’ Sittenroman gar Jacques Derridas bedenkenswerte Einsicht zu, derzufolge „[a]u commencement, en principe, était la poste“ 139 , zumindest wenn es um den Anfang des traurigen Endes der Geschichte geht. In María kommen Briefe nämlich stets zur Unzeit an, werden entweder zu spät oder aber zu früh zugestellt, bleiben unterwegs stecken und enthalten ausschließlich unerfreuliche Meldungen für die Betroffenen. Der Schein trügt also, wenn Vater und Sohn einträchtig die Geschäftskorrespondenz der familiären Besitzungen erledigen. Ihr wahres Gesicht als (Vor-)Bote der Katastrophe zeigt die Post spätestens mit der „correspondencia importante“ (M 176), die Don Jorge den drohenden Bankrott ankündigt, da ein Bediensteter ihm anvertraute Wechsel verspielt hat. Ungelegen treffen des Weiteren „dos cartas, ambas firmadas por el señor A***“ (M 206) ein; und zwar nicht nur, weil sie eine vielversprechende Familienrunde zum Thema Heirat unterbrechen. Schlimmer noch: Während Herr A*** im ersten Brief „de fecha bastante atrasada“ (ebd.) den viermonatigen Aufschub seiner Europa-Reise entschuldigt, berichtigt dies ein zweiter, zwei Wochen später datierter Brief, der Efraín zur Teilnahme an der baldigen Überfahrt ermuntert. Bestürzt muss der Protagonist konstatieren, dass ihm kaum mehr ein Monat mit María vergönnt ist, ehe er nach Großbritannien, in die Wiege des modernen Postwesens verschickt werden wird (M 207): 137 Bernhard Siegert, Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751-1913, Berlin: Brinkmann&Bose 1993, 10. 138 Siegert (Relais, 110ff.) verweist zum Beispiel auf die gezielte Herabsetzung des Portos in England um 1840, womit eine massive Steigerung des Postverkehrs gelingt und die Post als Regulativ des Informationsaustauschs, d.h. als System der Überwachung implementiert werden kann (ebd., 134): „Die Penny-Post resultierte aus der Übertragung des Prinzips eines Disziplinarsystems auf ein Kommunikationssystem.“ 139 Jacques Derrida, La carte postale de Socrate à Freud et au-delà, Paris 1980, 34. 298 Ursprungsnarrative um 1860 Leí los primeros renglones [de la segunda carta], y comprendiendo que iba a serme imposible disimular mi turbación, me acerqué a la ventana como para ver mejor, y poder dar así la espalda a los que oían. La carta decía literalmente esto, en su parte sustancial: „Hace quince días que escribí a usted avisándole que me veía precisado a retardar por cuatro meses más mi viaje; pero habiéndose allanado cuándo y cómo yo no lo esperaba, los inconvenientes que se habían presentado, me apresuro a dirigirle esta carta con el objeto de anunciarle que el 30 del próximo enero estaré en Cali, donde espero encontrar a Efraín para que nos pongamos en marcha hacia el puerto el dos de febrero.“ [...] „Espero, pues, que no habrá inconveniente alguno para que usted me proporcione el placer de llevar la grata compañía de Efraín, por quien, como usted sabe, he tenido siempre tan particular cariño. Sírvase mostrarle esta parte de mi carta.“ Cuando volví a buscar mi asiento, encontré las miradas de mi padre fijas en mí. María y mi hermana salían en aquel momento al salón, y ocupé la butaca que la primera acababa de dejar, por estar este asiento más a la sombra. Zumal in der perfiden Überschneidung der semantisch diskrepanten Briefe, zwingt die letzthin gültige Nachricht Efraín in die Knie, was er zugunsten unbedingten Gehorsams selbstverständlich verhehlt. Als Agentur der Disziplinierung duldet die Post, die hier ein x-beliebiger Komparse versendet, keinen Widerspruch und keinerlei aufrichtige Entgegnung. Beinahe anonym und gesichtslos führt sie das Wort des pater familias, der sein gütiges Gesicht dank der unterschwelligen Repression eines Kommunikationssystems wahren kann. Ohne je aufzubegehren, fügt sich Efraín dem Willen des Vaters, dessen Durchsetzung aber an die Macht des Mediums delegiert wird. 140 Kleinlaut und passiv nach London verfrachtet, braucht sich der Protagonist nicht zu wundern, dass die herrschaftsbesetzten Postverbindungen, auf die er und María nun selbst angewiesen sind, nicht mehr zu innigen Sehnsuchtsbekundungen taugen wollen. Isaacs’ Roman gerät ansatzweise zum Briefroman, wenn er in den Kapiteln LIV und LV (M 286-290) die Korrespondenz zitiert, die Efraín aus Übersee erhält. 141 Um Liebesbriefe im eigentlichen Sinn handelt es sich dennoch nicht, weil Marías Zeilen bereits tiefste Resignation und streng genommen die Gewissheit des nahen Endes 140 Und diese Medienmacht tritt, wie Siegert (Relais, 119) eindringlich demonstriert, seit Mitte des 19. Jahrhunderts gerade als Macht des Postalischen auf: „Schließung der Post als System: […] Nicht mehr Der [sic] Mensch ist Grund des Postierens, sondern die Gesetze einer Ökonomie des Postalischen.“ 141 Die Briefsequenz setzt bereits symptomatisch ein, be- und versiegelt der Auftakt des Kapitels LIV doch das postalische Machtmonopol des Vaters, dem amouröse Regungen in María stets untergeordnet bleiben (M 286, Hervorhebung K.H.): „Hacía dos semanas que estaba yo en Londres, y una noche recibí cartas de la familia. Rompí con mano trémula el paquete, cerrado con el sello de mi padre. Había una carta de María.“ Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 299 verraten. Kaum anders sind die Schreckensvisionen zu verstehen, die sie in Anbetracht des verwaisten Zimmers des Geliebten heraufbeschwört und die hellsichtiger nicht sein könnten (M 287) Todo está como lo dejaste […] ¡ay! ¡tan temido, tan espantoso, y ya pasado! […] ¿Dónde estarás? ¿Qué harás en este momento? De nada me sirve el haberte exigido tantas veces me mostraras en el mapa cómo ibas a hacer el viaje, porque no puedo figurarme nada. Me da miedo pensar en ese mar que todos admiran, y para mi tormento, te veo siempre en medio de él. Marías dunkle Prophezeiungen werden Recht behalten, obschon nicht Efraín allein, sondern ihrer beider Zukunft auf dem weiten Ozean oder irgendwo sonst unterwegs versinkt. Der Tenor, der aus den zweimal monatlich in London eintreffenden „cartas de María“ (M 288) spricht, lässt sich daher nochmals mit Derridas Worten auf eine konzise Formel bringen: „[À] l’intérieur de chaque signe déjà, de chaque marque ou de chaque trait, il y a l’éloignement, la poste“ 142 . Genauso wie die Post die von ihr erfassten Menschen fixiert und überwacht, schreibt sie allen Signifikanten und Äußerungen, die sie transportiert, den zurückgelegten Weg ein. Zwangsläufig tragen die Signifikate und Aussagen, die die Adressierten erreichen, eine Entfernung in sich, die nur vordergründig überwunden scheint, im Grunde aber ungetilgt fortwirkt. Mit erschreckender Plastizität bestätigt sich das in María, wo es nicht einmal des körperlichen Todes, sondern einzig weiterer Postsendungen bedarf, um die Abwesenheit auf immer zu zementieren. Bereits die Anzeichen hierfür lassen wenig Interpretationsspielraum, da Efraín nach einem Jahr in der englischen Hauptstadt immer seltener Briefe erhält, und falls doch, sind sie „llenas de […] melancolía“ (M 288) und zeugen von der wachsenden Entmutigung der Cousine. Nach sechzehn Monaten trifft schließlich das Geständnis ein, das María offenkundig schon länger verfassen wollte, das man ihr aber untersagte, um die Ausbildung des talentierten Sohnes nicht zu beeinträchtigen. Der in den Memoiren referierte Passus des Briefes ist in vielerlei Hinsicht bezeichnend und bietet reichlich Angriffsfläche für gender- und ideologiekritische Lesarten. 143 Der Umstand, dass María, selbst als sie den Ernst ihrer Krankheit preisgeben darf, auf eine ausdrückliche Schuldzuweisung verzichtet, sagt viel über den Konformismus aus, mit dem Isaacs die Verdaulichkeit seines Romans sicherstellt. Statt das unerbittliche Gesetz des Vaters zu inkriminieren, benennt die Adoptivtochter wieder nur eine unbestimmte höhere Instanz, die ihr Efraín entrissen haben soll und damit ihre Gesundheit ruinierte (M 289): „Vente - me decía -, ven pronto, o me moriré sin decirte adiós. Al fin me consienten que te confiese la verdad: hace un año que me mata hora por ho- 142 Derrida, Carte postale, 34. 143 Vgl. etwa die Deutungen des Briefes bei Sommer, „El mal de María“, 454f. und Leopold, „Die Zeit der Nation“, 68f. 300 Ursprungsnarrative um 1860 ra esta enfermedad de que la dicha me curó por unos días. Si no hubieran interrumpido esa felicidad, yo habría vivido para ti. „Si vienes… sí vendrás, porque yo tendré fuerza para resistir hasta que te vea; si vienes hallarás solamente una sombra de tu María; pero esa sombra necesita abrazarte antes de desaparecer. [...]“ Noch im Sterben liegend, muss sich María mit einer ‚Wahrheit‘ begnügen, die keine oder zumindest keine ganze ist. Ihr eindringlicher Appell, der den Segen einer letzten Umarmung erfleht, unterliegt weiterhin der doppelten Zensur, die das Patriarchat verordnet und die die Post als dessen mediale Aktualisierung ausübt. Nur ins Anonyme und in den Irrealis des längst Unmöglichen entrückt, darf sie artikulieren, was möglich gewesen wäre: Hätte man den Geliebten nicht nach London entsandt, wäre ein Leben mit ihm und für ihn denkbar gewesen und bräuchte sie jetzt keine Briefe zu versenden, die sich letztlich in der Verbalisierung der ihnen inhärenten Distanz und Differenz erschöpfen. Konsequenterweise gelangt Marías Hilferuf erst mit beträchtlicher Verzögerung und über mehrere Zwischenstationen nach London, wohin ihn Herr A*** zusammen mit anderen „cartas de su casa [scil. de Efraín]“ (M 289) bringt. Efraíns sofort angetretene Rückkehr kommt so von vornherein einer Verzweiflungstat gleich. Gar nicht mehr um Rettung und Heilung der Versprochenen geht es, sondern um die Alternative zwischen miterlebter Agonie und vorzeitigem Verscheiden, zwischen Pest und Cholera mithin. In María, wo ewig währende Präsenz erträumt wird, generalisiert das Nachrichtenwesen, noch ehe das letzte Wort gesprochen und geschrieben ist, die unwiderrufliche Absenz. Der eskapistische Intimismus, mit dem Isaacs seinen Roman gegen eine Lebenswelt im Wandel abdichtet, erodiert von innen her, weil sich dieser Wandel der Kommunikations- und Transporttechniken nicht mehr leugnen lässt. In einer nahezu unheimlichen Wiederkehr des Medialen implodiert die Illusion der Direkt- und Totalvermittlung, die Ursprungsnarrativen seit je eigen ist. Die Korrespondenzlandschaften in María sind zwar noch nicht verkabelt und mit Verkehrsadern durchzogen, sie sind dennoch Medienlandschaften, sofern Daten und Wege einen Stellenwert annehmen, der Subjekte isolieren und intersubjektive Bande lösen kann, der Familien zersetzt sowie über Leben und Sterben entscheidet. Einmal abgeschickt, bringt die Post fast immer Todesnachrichten, „courriers de la mort“ 144 , mögen ihre Botschaften vordergründig auch noch Leben verheißen. Die letzten Briefe, die Efraín schon auf amerikanischem Boden von María erhält, sind hierfür der beste und schmerzlichste Beweis (M 290f.): Estremecida por las brisas, temblaba en mis manos una carta de María que había recibido en Panamá, la cual volví a leer a la luz del moribundo cre- 144 So der Titel des Kapitels, in dem Derrida (Carte postale, 376-392) Freud und Heidegger eine postalische Kommunikation über den Tod führen lässt. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 301 púsculo. Acaban de recorrerla mis ojos... Amarillenta ya, aún parece húmeda con mis lágrimas de aquellos días. „La noticia de tu regreso ha bastado a volverme las fuerzas. Ya puedo contar los días, porque cada uno que pasa acerca más aquel en que he de volver a verte. [...] ¿cómo no he de mejorarme cuando vuelva a recorrerlo [scil. el huerto] acompañada por tí? “ IV.6 Eine Kette der Supplemente Das Versprechen baldiger Genesung, das María auf dem Sterbebett gibt, ist im beginnenden Informationszeitalter nicht mehr zu halten. Noch im Glauben an romantische Mitteilsamkeit verhaftet, rechnet es nicht mit dem Aufschub, den ihm räumliche und zeitliche Intervalle der Übertragung einschreiben. Diese ziehen die narrative Organisation des Romans genauso in Mitleidenschaft wie seine realpragmatische Produktions- und Rezeptionsgeschichte. Denn in gleicher Weise wie María/ María als Heldin nicht das hält, was sie verspricht und nie die erwarteten Vorzüge als Ehefrau, Mutter und Kapitalanlage 145 einlöst, weigert sie sich als Buch, ihrem Schöpfer Jorge Isaacs die aufgewandten Investitionen rückzuvergüten. 146 Statt dem Urheber auf Dauer anzugehören und ihm die erhofften - ökonomischen, sozialen und symbolischen - Profite einzubringen, emanzipiert sich der Roman und macht sich daran, auf eigene Faust, andernorts oder zeitversetzt, den Kontinent zu erobern. Die Strukturhomologie solch vorenthaltener Erfüllung, die keinerlei Biographismus reaktivieren will, kommt nicht von ungefähr. Ihren gemeinsamen Nenner hat sie in der Tatsache, dass Isaacs gar nicht so ursprünglich erzählt, wie er im Windschatten tiefenperspektivischer Romantik glauben macht. Es ist das eigentlich Erstaunliche, dass in María ein paradiesischer (Ur-)Zustand aufscheint, dessen narrativer Modellierung eine Kette produktiver Supplemente zugrunde liegt. Um deren Glieder abschließend zu entrollen, muss man nicht an die Effizienz der retrospektiven Erzählung erinnern oder nochmals den vorzeitig untergegangenen Schauplatz des Romans aufsuchen. 147 Für die zusammen- 145 Als ihr Vater Salomón die kleine Ester (die spätere María) seinem Vetter (Don Jorge) zur Adoption übergibt, lobt er ihr eine stattliche Mitgift aus, die Jorge zum (erinnerten) Handlungszeitpunkt verwaltet. Das Familienidyll wird auf krudes ökonomisches Kalkül durchsichtig, wenn der Vater in der Aussprache mit Efraín zu bedenken gibt (M 89), dass auch die Mitgift verloren wäre, falls María vor ihrer Heirat stürbe. 146 Zur Wirkungsgeschichte des Romans siehe den Abschnitt IV.3 dieser Analyse. 147 Nach der umfänglichen Studie von Kerstin Cornils (Neues aus Arkadien, 55-185) erübrigt sich außerdem ein Ausbau raumzeitlicher Deutungsperspektiven. Ihre These zur latenten Modernität des Romans gründet die Verfasserin allerdings auf eine schematische Trias, in der sich ihre subtilen Lektüren zuweilen verfangen: Mit der linearen Teleologie, die der Vater Jorge vertritt, und der „präfigurative[n], schicksalsergebene[n] Zeitordnung“ (ebd., 75) des Sohnes Efraín sollen zwei männliche Zeitfetische 302 Ursprungsnarrative um 1860 fassende Abstraktion kann sogleich die widerspenstige Logik des Supplements stehen, zumal sie ihrerseits topologische und temporale Komponenten integriert. Denn wie aus Jacques Derridas berühmter Rousseau-Lektüre hervorgeht, kommt „ce dangereux supplément“ 148 als Platz-Halter immer hinzu und daher notwendigerweise immer auch zu spät: Car le concept de supplément - qui détermine ici celui d’image représentative - abrite en lui deux significations dont la cohabitation est aussi étrange que nécessaire. Le supplément s’ajoute, il est un surplus, une plénitude enrichissant une autre plénitude, le comble de la présence. Il cumule et accumule la présence. […] Mais le supplément supplée. Il ne s’ajoute que pour remplacer. Il intervient ou s’insinue à-la-place-de; s’il comble, c’est comme on comble un vide. S’il représente et fait image, c’est par le défaut antérieur d’une présence. Suppléant et vicaire, le supplément est un adjoint, une instance subalterne qui tient-lieu. En tant que substitut, il ne s’ajoute pas simplement à la positivité d’une présence, il ne produit aucun relief, sa place est assignée dans la structure par la marque d’un vide. Quelque part, quelque chose ne peut se remplir de soi-même, ne peut s’accomplir qu’en se laissant combler par signe et procuration. Le signe est toujours le supplément de la chose même. 149 Ergänzung und zugleich Ersetzung, bloßes Surplus und/ oder völlige Substitution - diese Doppelgesichtigkeit zeichnet die Dynamik des Supplements aus, das sich stets äußerlich, stets sekundär einer primären Positivität aufpfropft: „[Q]u’il s’ajoute ou qu’il se substitue, le supplément est extérieur, hors de la positivité à laquelle il se surajoute, étranger à ce qui, pour être par lui remplacé, doit être autre que lui.“ 150 Was Derrida semiologisch und in Bezug auf Rousseau (auto-)erotisch ausdeutet, lässt sich für María insofern verallgemeinern, als der Roman aus der gefährlichen Ambivalenz des ersetzenden Zusatzes erheblichen literarischen Nutzen zieht. Es ist eine veritable „chaîne des suppléments“ 151 , die Isaacs fort- und ausschreibt, indem er seinen Erzählkosmos einer räumlich und zeitlich vorab entzogenen Präsenz verpflichtet. gegen die „weiblich konnotiert[e] Spatialität“ (ebd., 88) stehen, die María verkörpert und der ihrerseits die monumentale Zeit christlicher Heilserwartung entspricht. Dabei bliebe zu fragen, wie ausgerechnet María - die als Todgeweihte alle(s) mit in den Tod reißt - als Erlöserin auftreten und ebenso aus den Zwängen des Fortschrittswahns wie aus einem übersteigerten Fatalismus befreien könnte? 148 Die Formulierung des „dangereux supplément“ prägt Rousseau selbst im Text des Émile (Œuvres complètes, Bd. 4, 663), um vor den schwerwiegenden Folgen der Masturbation zu warnen: „[S]’il [scil. Émile] connoît une fois ce dangereux supplément, il est perdu. Dès lors il aura toujours le corps et le cœur énervés; il portera jusqu’au tombeau les tristes effets de cette habitude, la plus funeste à laquelle un jeune homme puisse être assujetti.“ 149 Derrida, De la grammatologie, 208. 150 Derrida, De la grammatologie, 208. 151 Vgl. Derrida, De la grammatologie, 219-226. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 303 Als figurale Supplemente erscheinen zunächst die Hauptakteure der fiktiven Welt selbst, mögen Efraín und María noch so prononciert die Einzigartigkeit ihrer Zweisamkeit hervorkehren. Statt tatsächlicher Verkörperung gelingt nur eine ephemere Re-Präsentation, deren Nachträglichkeit trotz aller Tarnung vielfach zum Vorschein kommt. Um das zu demonstrieren, genügt es, die Geschichte erster oder, je nachdem, letzter Ebene ins Gedächtnis zu rufen. Allein sie veranschaulicht, inwiefern Efraín und María im Namen unverstellter Authentizität antreten und zuletzt nicht einmal mehr als Stellvertreter glaubwürdig agieren. In perfekter Harmonie und Sympathie aufgewachsen, sind sie anfangs dazu prädestiniert, als Vorzeigepaar einer genuin kolumbianischen Landschafts- und Gefühlsinnigkeit zu brillieren. Doch je mehr Bildungsbeflissenheit und Höflichkeiten ins Spiel kommen, je mehr geschliffene Rhetorik die Stimme der Natur übertönt und je mehr Lesestunden als Sublimierung körperlicher Zärtlichkeit herhalten müssen, 152 umso illusionärer mutet diese Erwartung an. „C’est ainsi que l’art, la technè, l’image, la représentation, la convention, etc., viennent en supplément de la nature“ 153 - ließe sich nochmals mit Derrida die entsprechede Entzauberung in María resümieren. Jede Hoffnung auf Eigentlichkeit schwindet, als Chateaubriand explizit die Bühne betritt und seine Autorität auch jenseits christlicher Herzenserziehung geltend macht. Als Lieferant unumstößlicher narrativer Patterns zwingt er - zusammen mit den ungenannten, wiewohl lautlos miterzählenden Landsleuten Bernardin de Saint-Pierre und Lamartine - Efraín und María gewissermaßen eine identifikatorische Rezeption auf. Isaacs’ Protagonisten haben gar keine andere Wahl, als die ihnen zugedachte Vorsehung bzw. Vorschrift anzuerkennen und zu Wiedergängern von Chactas und Atala zu werden. Selten einmal war die Lektüre eines Buches so folgenschwer, selten schlug der proleptische Effekt einer mise en abyme derart gnadenlos in der Wirklichkeit (der Fiktion) zu. 154 Supplementär eben ergänzen Efraín und María Chateaubriands Indianerliebe, ohne sie zur Gänze zu ersetzen oder vergessen zu machen. Das wäre auch kontraproduktiv gewesen, berücksichtigt man die Erwartungshaltung, die der Roman zu bedienen sucht und die er zielsicher trifft. Unter der Suggestion des Erst- und Einmaligen das Bewährte, unter dem Neuen eine Kontinuität durchschimmern zu lassen, darin gründet sozusagen die Doppelmoral, die María zur Freude des Publikums ausspielt. Schematisch reformuliert heißt dies, dass der Roman die Figurenbesetzung aus Atala und den Plotaufbau aus Paul et 152 In einer konzisen Analyse zeigt Lander (Modelando corazones, 171-183), wie Isaacs gerade die Naturverbundenheit in Anspruch nimmt, um María als Verhaltenskompendium im Zeichen bürgerlicher urbanidad zu profilieren. 153 Derrida, De la grammatologie, 208. 154 „La lectura anticipa, premonitoriamente, la muerte de María“ - formuliert Díaz Saldaña („María y la cultura escrita“, 145) pointiert zur omnipotenten Schrift- und Lesekultur sowie speziell zur Chateaubriand-Lektüre der Protagonisten. 304 Ursprungsnarrative um 1860 Virginie addiert, um beides sodann geographisch wie historisch zu verlagern und in die kolumbianische Provinz von Gestern einzubetten. Gerade wegen ihres Wiedererkennungswerts ist diese Gleichung aufgegangen, an der es die transkulturelle Genese von María zu messen gilt. Im Schein ostentativer Typizität beruft Isaacs sich auf die hochgeschätzten Texte der französischen Vor- und Frühromantik, deren entlegenes und editorisch in der Tat weit zurückliegendes Arkadien sie 1867 in jeder Hinsicht unverdächtig macht. Die immense Resonanz gibt ihm, nein: gibt seinem Roman recht. 155 Supplementär operiert dieses Erzählen dennoch, zumal es dort Innovativität und Eigenständigkeit vorspiegelt, wo es importierte Darstellungsmuster adaptiert und attraktiv in einen naheliegenden - und doch so fernen - Horizont versetzt. Die Simulation machte und macht María angreifbar, was die Attacken und Parodien im Laufe der Wirkungsgeschichte zur Genüge aufdeck(t)en. Deren Zielscheibe war und ist allerdings nicht so sehr die literarästhetische Verspätung, die aus der unhinterfragten Transkulturation erwächst. Häufiger noch kapriziert sich die Kritik auf das, 156 was hier als ideologische Supplementarität bezeichnet sei und was ebenfalls schon in der Binnenfiktion zum Tragen kommt. Letztere setzt nämlich alles daran, eine paternalistische Latifundienökonomie aufleben zu lassen, deren realhistorische Krise um 1850/ 60 bereits unleugbar ist, 157 da sie dem Druck von Freihandel, industrieller Agrarwirtschaft und weitaus mobileren Kleinbauern kaum noch standzuhalten vermag. Umso vehementer beschwört Isaacs den feudalen Geist, pocht auf Standes- und Berufshierarchien, zementiert ethnische Grenzen und entwirft allerlei Szenen, in denen sich Don Jorge und sein Sprössling als aufgeklärte und generöse patrones präsentieren können. Es ist genau jenes machtbewusste Gutmenschentum, das Efraín vom Vater übernimmt, das er maßstabsgetreu kopiert und das ihn samt seiner Geliebten, nun aus anderer Perspektive, zu einem unzeitgemäßen Substitut werden lässt. Keine Frage: Auf den ersten Blick zeugt der gönnerhafte Umgang mit untergebenen Landarbeitern und Quasi-Freunden sicherlich von Sou- 155 Kapitel IV.3.1 dieser Lektüre diskutiert María als Paradefall einer wilden, doch kommerziell und institutionell durchschlagenden Rezeption. Ein Versuch, den Erfolg von María mit Bourdieus Feldtheorie zu präzisieren, kommt dort ebenfalls zur Sprache. Ob der geringen literarischen Ausdifferenzierung wäre dabei wohl weniger von einem spezifisch symbolischen als vielmehr von einem allgemeinen soziokulturellen Kapital zu sprechen, dem der Roman die überwältigende Aufnahme verdankt und das zugleich literarästhetische wie moraldidaktische Komponenten umfasst. 156 Siehe hierzu die in Abschnitt IV.4.1 versammelten Literaturhinweise. 157 Die Krise der Latifundienökonomie speziell im Cauca-Tal problematisiert José Escorcia, „Haciendas y estructura agraria en el Valle del Cauca, 1810-1850“, in: Anuario Colombiano de Historia Social y de la Cultura 10 (1982), 119-138. Inwiefern das Hacienda- System generell Kolumbiens sozioökonomische Modernisierung hemmte, erläutert König, Auf dem Wege zur Nation, 252f. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 305 veränität, 158 die sich in der intellektuellen Arroganz gegenüber dem schwachen Geschlecht fortsetzt. Mit fortschreitender Eintrübung des Geschehens offenbart sich indes die Sterilität, die derlei Vater-höriger Imitation in einem Moment anhaftet, da alle Zeichen auf Reform stehen. Efraíns und Marías Tage sind gezählt. Zu ihren kurzen Lebzeiten gehören sie selbstverständlich noch einer Oberschicht an, die allein Zeit und Muße hat, um lustzuwandeln, zu lesen und sich „muchas cosas“ (M 180) zu gestehen. Für die übrigen inferioren Klassen bleiben der tägliche Broterwerb und unter Umständen eine rasch abgewickelte Heirat. Romantische Liebe, daran lässt Isaacs keinen Zweifel, ist das Privileg der Herrschenden, zumindest in seiner neokolonialen Romanwelt, deren zunehmend verzweifelte Glorifizierung nicht zuletzt die geschilderten Arbeitsverhältnisse belegen. Nüchtern gesagt, ist es eine Sklavenhaltergesellschaft, der Don Jorge bis zu ihrem bitteren Ende vorsteht und auf deren Kosten die Cousins ihre weitschweifigen Werbungsrituale zelebrieren. Daran ändert die vergleichsweise humane Behandlung des eigenen Personals (M 60ff.) 159 ebenso wenig wie Efraíns verhaltener Tadel an der physischen Züchtigung Subalterner (M 102). Selbst die mitleiderregende Metadiegese, die von der Versklavung afrikanischer Adliger berichtet (M 214-235), erschöpft sich in Larmoyanz, statt ernsthaft gegen die Ausbeutung zu plädieren. 160 Aber warum auch? Just in diesem Aspekt kann und will sich der Roman María nicht seiner Historizität entziehen und vermag der empirische Autor nicht über den Schatten seiner Herkunft zu springen. Schließlich war es das 1852 erlassene Gesetz der abolición, 161 das die Plantagenwirtschaft im Cauca-Gebiet und anderswo in ihren Grundfesten erschütterte. Ohne die billige Arbeitskraft der Sklavenheere konnte sich die extensive Zuckerrohr- und Viehwirtschaft nicht mehr auf den Märkten behaupten, wie Jorge Isaacs aus eigener Anschauung bestens weiß und wie in der Tragik seines 158 Eine facettenreiche, doch etwas optimistische Analyse des Romans aus Sicht der inferioren Figuren unternimmt Carmiña Navia Velasco, „María, una lectura desde los subalternos“, in: Poligramas 23 (2005), 31-54. 159 Die reaktionäre Sozialkritik, die Sklaverei als notwendiges Übel akzeptiert, geht in Efraíns Perspektive mit Selbstgefälligkeit einher und rühmt sich gar noch der eigenen Menschlichkeit (M 60): „Los esclavos, bien vestidos y contentos, hasta donde es posible en la servidumbre, eran sumisos y afectuosos con su amo [scil. Don Jorge].“ 160 Die aufschlussreiche Episode von Nay und Sinar changiert mithin zwischen realistischer Referentialisierbarkeit und sozialromantischer Empathie; erhellende Lektüren hierzu bieten McGrady, Jorge Isaacs, 133-139; Gabriel Uribe, „Reflejo de la historia de la esclavitud en el relato de Nay y Sinar en la novela María“, in: Poligramas 23 (2005), 239-257 sowie Delfín Ignacio Grueso, „Isaacs expulsado del paraíso. María, la abolición de la esclavitud y las tensiones en el seno de la aristocracia caucana“, in: Henao Restrepo (Hg.), Jorge Isaacs - El creador en todas sus facetas, 231-242. 161 Die Abschaffung der Sklaverei unter dem liberalen Präsidenten José Hilario López kontextualisiert bündig Hans-Joachim König, Kleine Geschichte Kolumbiens, München: Beck 2008, 79ff. 306 Ursprungsnarrative um 1860 Romans nachhallt: Geboren, um eine Ordnung zu prolongieren, deren faktengeschichtlicher Niedergang ausgemacht ist, leiden Efraín und María an einer im Voraus besiegelten Obsoleszenz, der sie unweigerlich auch erliegen. Glücklicherweise, da María auf diesem Weg nicht zum reaktionären Manifest einst mächtiger und inzwischen deklassierter Provinzeliten herabsinkt. Zu viele Anzeichen der Dekadenz begleiten von Beginn an das Märchen vom Leben und Lieben auf der Hacienda. Zu markant überlagert die suizidäre Schwermut des intradiegetischen Erzählers das joviale Auftreten des erlebenden Helden. Zu offenkundig gefährdet ausgerechnet der Vater Don Jorge das patriarchale System, indem er Sohn und Adoptivtochter trennt. Zu früh vereitelt Marías Krankheit eine gesunde Prokreation in Efraíns Sippe. Und zu emblematisch zeigt eine der Schlusseinstellungen (M 325) die Pächtergattin und junge Mutter Tránsito in jenem Rosengarten, in dem sich zuvor die Kinder des terrateniente frucht- und aussichtslos anschmachteten. Man mag diese Ästhetik des vorgängigen und uneinholbaren Mangels als Grundzug konservativer Romantik ansehen, die einer stets absenten Transzendenz nachjagt. Man kann sie jedoch auch spezifischer als literarästhetischen Gewinn eines Erzählens fassen, das den Verlust zu seiner imaginativen Matrix erhebt und demnach zwangsläufig anachronistisch verfährt. Mit einem Diktum von Jorge Luis Borges ließe sich vielleicht sogar von einer „técnica del anacronismo deliberado“ 162 sprechen, die in María Anwendung findet. Denn indem der Roman selbst das Zukünftige als vergangen schildert, indem er Efraín und María Heiratspläne schmieden lässt, als sie bereits tot sind, und indem er eine Gesellschaftspyramide stützt, die er im familiären Kern zugleich einreißt, bedient er sich solch eines ‚kalkulierten Anachronismus‘. Er tritt damit aber auch in eine durchweg paradoxale Zeitlichkeit ein, in eine Zeit, in der alles, was sein wird, schon gewesen ist. Lebensweltlich verlusterprobt reizt Isaacs das temporale Paradoxon mit masochistischer Virtuosität aus. In María ist mithin das Neue immer schon alt, das Originelle immer schon tradiert und transkulturiert sowie das Ideal 162 Die Wendung entstammt der berühmten Erzählung „Pierre Menard, autor del Quijote“, die Borges mit einer ironischen Erwägung beschließt: „Menard (acaso sin quererlo) ha enriquecido mediante una técnica nueva el arte detenido y rudimentario de la lectura: la técnica del anacronismo deliberado y de las atribuciones erróneas. Esa técnica de aplicación infinita nos insta a recorrer la Odisea como si fuera posterior a la Eneida y el libro Le jardin du Centaure de Madame Henri Bachelier como si fuera de Madame Henri Bachelier. Esa técnica puebla de aventura los libros más calmosos. Atribuir a Louis Ferdinand Céline o a James Joyce la Imitación de Cristo ¿no es una suficiente renovación de esos tenues avisos espirituales? “ (Jorge Luis Borges, Ficciones [1944], Madrid: Alianza 1977, 41-55, hier 55). Bezeichnenderweise verfasst Borges bereits 1937 ein kurzes Plädoyer für Isaacs’ Kultroman, den er gegen den Vorwurf epigonaler Kitschästhetik in Schutz nimmt; vgl. Jorge Luis Borges, „Vindicación de la María de Jorge Isaacs“ [1937], in: Ders., Obras completas, Buenos Aires: Emecé 2007, Bd. 4, 346-348. Anachronistisches Erzählen und transkulturelle Natur 307 kommunikativer Unmittelbarkeit immer schon medial - via Postversand vornehmlich - vermittelt. Das ist das Erfolgsrezept eines Jahrhundertromans, dessen Ursprungsnarrativ noch insofern supplementär ausfällt, als es den Romancier als Großgrundbesitzer entlarvt, der Jorge Isaacs sein sollte, bleiben wollte und mangels Besitz nicht bleiben konnte. Krisennarrative um 1880 V Blutzoll: Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus in E. Cambaceres’ En la sangre V.1 Am Ende statt am Anfang - Krisen statt Ursprünge Die Kette der Supplemente, die Isaacs und seine María verbindet, beleuchtet jedoch weniger die Individualbiographie eines Autors, der trotz liberaler Maskierung im ideologischen und ästhetischen Herzen zutiefst konservativ blieb. Vielmehr gibt sie einerseits Aufschluss über ein literarisches Feld in statu nascendi, das zwar schon Bestseller kürt, aber noch kein medial und rechtlich gesichertes Terrain für professionelle Produzenten bietet. Zum anderen erhellt sie, wie es - im kulturkritischen Brennspiegel verdichtet - um die narrative Modellierung bestellt ist, der María die Aufnahme ins Pantheon lateinamerikanischer Klassiker verdankt. Die Rede ist also nochmals von der Ursprungssehnsucht, die Isaacs’ Roman sowohl sein kompositorisches Gepräge verleiht als auch sein publikumswirksames Weltschmerzpathos ermöglicht. Schließlich dürfte bis dato kaum ein Vorstellungskomplex in der Kulturgeschichte des Kontinents so viele unerwartete und wandlungsfähige Renaissancen gefeiert haben. In ihrem Kern lassen sich die meisten der diversen revolutionären, autochthonen oder indigenistischen Programmatiken auf Ursprungsnarrative zurückrechnen, gleich wie gegenwartsbeflissen oder wie wunderbar, wie realistisch oder wie surrealistisch sie sich jeweils gegeben haben. Die unscharfe Pauschalierung sei ausnahmsweise gestattet, soll sie doch nur vor Augen führen, dass sich aus historischer Warte weder Hispano- oder Lateinamerika im Ganzen noch irgendeine Gegend im Besonderen überzeugend als Hort des Ursprünglichen eignet. Denn sofort drängt sich die Nachfrage auf, was oder wer realiter für solche Tiefenwurzeln und Geburtsszenarien einstehen könnte. Und: Wo und wann hat der Ursprung eigentlich statt, beginnt oder endet er, mit der Gründung autonomer Staaten, mit der Conquista, mit den präkolumbischen Kulturen oder gar noch früher? 1 Für alle Antworten lassen sich vermutlich schlüssige Argumente beibringen. Der Versuch exakter Referentialisierung bleibt ob der Beliebigkeit der Auswahl allerdings immer naiv, er 1 In einer aufschlussreichen Studie untersucht Katja Carrillo Zeiter (Erfindung einer Nationalliteratur, 45ff.) die Anfänge der Literaturgeschichtsschreibung am Cono Sur und die damit einhergehenden Kanonisierungseffekte; hierbei stellt die Verfasserin genau obige Initialfragen, nämlich wo, wann und mit wem die Periodisierungen den Ursprung nationaler Literaturen ansiedeln bzw. ex post konstruieren. 312 Krisennarrative um 1880 verstrickt sich wiederum in die Windungen des Supplementären und muss sich zuletzt mit Walter Benjamins Einsicht bescheiden: „Denn das in der Idee des Ursprungs Ergriffene hat Geschichte nur noch als einen Gehalt, nicht mehr als ein Geschehn [sic], von dem es betroffen würde.“ 2 Genau wie in Isaacs’ Großgrundbesitzer-Saga handelt es sich stets um Mythisierungen, um verschiebbare Topoi und eben um Narrative, sobald je nach Interessenslage das indigene Erbe, die Unabhängigkeit oder überhaupt das so gerühmte Magische an und in Lateinamerika zu dessen Wiege essentialisiert werden. Wie von Benjamin angekündigt, spricht die Faktengeschichte meist eine andere Sprache. Ein ums andere Mal verweist sie die Vorstellung des Ursprungs - ungeachtet ihrer Konjunktur als diskursive Formation - ins Museum archäologischer Relikte. Oder anders und mit einem Derrida-Titel gefasst: Der ‚Ursprung‘, so beweist der vorliegende Fall trefflich, war schon immer und wird auf immer ‚eine Prothese‘ 3 bleiben. Freilich gewährt ein derart tentativer Zugang keinen ausgewogenen Einblick in lange Debatten, kontroverse Standpunkte und manche Aporien der lateinamerikanischen Identitätsdiskussion. 4 Es sei daher schlichtweg festgehalten, dass der Kontinent seit seiner Kolonisierung und vermutlich schon zuvor gerade nicht von Einheit, sondern von Vielfalt, nicht von Uniformität, sondern von Pluralismus, nicht von Eindimensionalität und Isolation, sondern von kultureller, religiöser und ethnischer Polyphonie geprägt ist - gleich ob man diese mestizaje heißt, 5 auf hybride Konstellationen zurückführt 6 oder, wie hier vorgeschlagen, aus literarischen Transkulturationsprozessen herleitet. Nicht einmal die Jahrhunderte währenden Repressionen des Kolonialregimes oder die rekurrenten Vernichtungsfeldzüge gegen die indianische Bevölkerung vermochten die Heterogenität auf lange Sicht zu beseitigen. Erfreulicherweise: Lateinamerika, Hispanoamerika und seine Regionen auf ihre je eigene Weise sind - um nochmals mit Michel 2 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.1, 227. 3 Gemeint ist Jacques Derridas autobiographischer Essay Le monolinguisme de l’autre ou la prothèse d’origine, Paris: Galilée 1996. 4 Siehe hierzu etwa die Lektüren von Wolfgang Matzat, Lateinamerikanische Identitätsentwürfe: Essayistische Reflexion und narrative Inszenierung, Tübingen: Narr 1996. 5 Zur Geschichte des mestizaje-Begriffs vgl. etwa Klor de Alva, „Postcolonization of the (Latin)American Experience“, 241-276 sowie Petra Schumm, „Mestizaje und culturas híbridas - kulturtheoretische Konzepte im Vergleich“, in: Birgit Scharlau (Hg.), Lateinamerika denken: Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen: Narr 1994, 59-80. 6 Vgl. grundlegend Homi K. Bhabha, „Signs Taken for Wonders“, in: Ders., The Location of Culture, London/ New York: Routledge 1994, 102-122; Ders., „Die Frage der Identität“, in: Elisabeth Bronfen et al. (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen: Stauffenburg 1997, 97-122 sowie im lateinamerikanischen Kontext Néstor García Canclini, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad [1990], Buenos Aires u.a.: Paidós 2007. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 313 Foucaults Dichotomie zu resümieren 7 - alles andere als Heimstätten des Ursprünglichen und Einmaligen, sie sind und bleiben Sammelbecken mannigfaltiger Herkünfte, singulärer Anfänge und diskontinuierlicher Genealogien. Eindrucksvoll zum Ausdruck kommt diese genealogische Diversität abermals im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als neben ökonomischen, technologischen und kulturellen Transferleistungen vermehrt wieder Menschenfracht den Atlantik quert und die hispanoamerikanischen Populationen neu durchmischt. Am zahlreichsten kommen die Ströme europäischer Einwanderer in den Ländern des Cono Sur an, die sie - zunächst auf offizielle Einladung hin - mit ihrer Hände und ihres Geistes Arbeit zivilisieren sollen. Inwiefern dieser Zivilisationsauftrag ins glatte Gegenteil umschlagen kann, inwiefern ‚Regieren‘ doch nicht mit ‚Bevölkern‘ 8 zur Deckung kommt und wie daraus letztlich eine Aversion gegen die einst Herbeigerufenen erwächst, wird die vierte und letzte Fallstudie auszuloten haben. Sie zielt dabei auf ein ganzes Paradigma von Erzähltexten, die seit der Jahrhundertmitte in Hispanoamerika entstehen und ihren Fokus bewusst auf die einheimische Aktualität richten. Beinahe als Kontrafakturen der weltvergessenen Idyllen, in die sich María sowie ihresgleichen zurückziehen, nehmen diese Prosafiktionen die gesellschaftlichen Entwicklungen und Missstände ins Visier, die den jungen Staaten im Ringen um Konsolidierung zu schaffen machen. Damit verengt sich aber zugleich die Perspektive gegenüber Romanen, die wie zu Anfang des Jahrhunderts El Periquillo Sarniento oder an dessen Ende De sobremesa in erster Linie am globalen Wissensaustausch orientiert sind und ihre transkulturelle Konstitution offensiv in Erzählakten und/ oder in Geschichten ausagieren. Man ist versucht, solch gegenwarts- und problembezogene Narrative entweder mit Stiletiketten wie Realismus oder Naturalismus einzuhegen oder sie auf eine „allegorical speculation“ 9 patriotischer Observanz festzulegen. Beide Zugänge, so berechtigt und unerlässlich sie im Einzelnen sind, greifen im Zusammenhang doch zu kurz. Die literarästhetische Schablone 7 Vgl. nochmals Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, 136-156 und die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 1.4.1 dieser Studie. 8 „Gobernar es poblar en el sentido que poblar es educar, mejorar, civilizar, enriquecer y engrandecer espontánea y rápidamente“ - lautet die berühmte Losung, die Juan Bautista Alberdi in seinen Bases y puntos de partida para la organización política de la República Argentina ([1852], Buenos Aires: La Cultura Argentina 1915, 14) ausgibt. Alberdi hat dabei freilich eine hochqualifizierte Immigration im Blick, heißt es doch weiter (ebd., 14f.): „Mas para civilizar por medio de la población es preciso hacerlo con poblaciones civilizadas; para educar a nuestra América en la libertad y en la industria es preciso poblarla con poblaciones de la Europa más adelantada en libertad y en industria, como sucede en los Estados Unidos.“ 9 „Love and country: an allegorical speculation“ - so der Titel eines der methodischen Einleitungskapitel bei Sommer, Foundational Fictions, 30-51. 314 Krisennarrative um 1880 bleibt ihrer europäischen Provenienz verhaftet und büßt an Aussagkraft ein, sobald Überschneidungen den Periodisierungen nach Epochen oder Schulen zuwiderlaufen. So taugt etwa Alberto Blest Ganas Bestseller Martín Rivas (1862) nur bedingt als Exempel realistischen Erzählens in Hispanoamerika, obschon evidente Anleihen bei Balzac und Stendhal stichhaltige Beweise dafür zu liefern scheinen. Gleichwohl käme der chilenische Gesellschaftsroman nicht ohne die romantisch orchestrierte Liebeshandlung aus, wenn es darum geht, Melancholie und Sanftmut des Protagonisten zu motivieren sowie sämtliche Klassen- und Gesinnungsunterschiede in einem Happy-Ending aufzuheben. Dass Blest Ganas Hybridbildung damit alle Voraussetzungen für eine „domestic romance“ erfüllt, wie Doris Sommer sie als narratives Äquivalent einer „non-violent national consolidation during periods of internecine conflict“ 10 veranschlagt, deckt zugleich den blinden Fleck nationalallegorischer Lesarten auf. Diese müssen zumindest das Potential einer positiven Konfliktlösung vorsehen, um ihre hermeneutische Plausibilität zu wahren. Was jedoch, wenn der „internecine conflict“ nicht wie in Martín Rivas schrittweise wegfabuliert wird? Was, wenn er unversöhnt bleibt und zuletzt allein die Krise regiert, die eine - noch so hypothetische - Indienstnahme literarischer Fiktionalität als staatsbildende Maßnahme verweigert? Die Fragen stellen sich umso dringlicher, als die Erfahrung gesellschaftspolitischer Verwerfungen das verbindende Moment der fortan interessierenden Texte ist: Es handelt sich mithin um Krisennarrative, 11 denen sich folgende Seiten exemplarisch zuwenden und die trotz ihres gemeinsamen semantischen Stratums zwei grundsätzlich verschiedene Reaktionsvarian- 10 So nochmals Sommer („Irresistible Romance“, 76) konzise zu ihrer Thesenbildung: „I suggest that this natural and familial grounding, along with its rhetoric of productive sexuality, provides a model for apparently non-violent national consolidation during periods of internecine conflict. […] [A]fter the creation of the new nations, the domestic romance is an exhortation to be fruitful and multiply.“ Lektüren, die Martín Rivas literarästhetisch und ideologisch ausleuchten, bieten neben Sommer (Foundational Fictions, 204ff.) etwa Manfred Engelbert, „Problemas de periodización: ‚Modernidad‘, ‚romanticismo‘ y ‚realismo‘ en Martín Rivas y María“, in: Alpha 16 (2000), 37-53; Ders., „Julien Sorel, Martín Rivas und die anderen“, in: Wilhelm Graeber et al. (Hg.), Romanistik als vergleichende Literaturwissenschaft (Festschrift für Jürgen Stackelberg), Frankfurt/ Main u.a.: Lang 1996, 23-34; Inke Gunia, „Martín Rivas de Alberto Blest Gana“, in: Hans-Otto Dill et al. (Hg.), Apropiaciones de realidad en la novela hispanoamericana de los siglos XIX y XX, Frankfurt/ Main: Vervuert 1994, 104-125; Wolfgang Matzat, „Una nación sin pasado. La imagen de Chile en Martín Rivas de Alberto Blest Gana”, in: Katja Carrillo Zeiter / Monika Wehrheim (Hg.), Literatura de la Independencia, independencia de la literatura, Frankfurt/ Main u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2013, 135-146. Im Zeichen staatsbürgerlicher Erziehung untersucht Blest Ganas Romanwerk umfangreich Paatz, Liberalismus und Lebensart, 117-153. 11 Mögliche Perspektivierungen des Begriffs versammelt in jüngerer Zeit der Band von Uta Fenske et al. (Hg.), Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld: transcript 2013. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 315 ten eröffnen: Der sukzessiven Bewältigung, die Martín Rivas mit dem Abbau sozioökonomischer, regionaler und erotischer Divergenzen vorbildlich umsetzt, steht die demonstrative Bloßlegung und zuweilen dilemmatische Verschärfung der Krise gegenüber. Ausformungen der zweiten Option häufen sich gegen Jahrhundertende, als die angestrebte Stabilisierung des Gemeinwesens vielerorts ausbleibt und Teile Hispanoamerikas von der Dynamik internationaler Modernisierung entweder überrollt oder abgehängt zu werden drohen. 12 Ferner steht jetzt mit dem zeitnah rezipierten Naturalismus ein literarischer Darstellungstyp zur Verfügung, der die Erkundung gesellschaftlicher Schieflagen zu seinem ureigenen Antrieb macht. Von einer ungeschönten Abbildung aus dem Leben gegriffener Begebenheiten und Figuren, wie sie Émile Zolas Losung des „peindre des réalités“ 13 nahelegt, kann dennoch keine Rede sein. Auch der naturalistische Romancier ist nicht die schlichte Addition „d’un observateur et d’un expérimentateur“ 14 , sondern geriert sich, zumal in seiner hispanoamerikanischen Ausprägung, als Summe interagierender und teils gegensätzlicher Faktoren: Er hat sowohl den ästhetischen Anforderungen gerecht zu werden, die sich aus der Übertragung des französischen Erzählmodells und der zunehmenden Auffächerung der einheimischen Literaturlandschaft ergeben, als auch den medialen und ideologischen Interventionen standzuhalten, die mittlerweile die narrative Praxis in Beschlag nehmen. Das Widerspiel der Kräfte lässt sich insbesondere in den Hochburgen der hispanoamerikanischen Naturalismus-Diskussion, namentlich in den Hauptstädten Mexikos, Chiles, Uruguays und Argentiniens beobachten. 15 Unumstrittener Brennpunkt ist Buenos Aires, wo 12 Zum Modernisierungsdruck, der den hispanoamerikanischen Gesellschaften ab 1870 zusetzt, vgl. die einschlägigen Studien von Alonso, Burden of Modernity, 3ff.; Mignolo, Idea of Latin America, 51ff. und Ramos, Desencuentros de la modernidad, 50ff./ 145ff. 13 So Zola bereits 1866 im provokanten Text Mes haines: „Peindre des rêves est un jeu d’enfant et de femme; les hommes ont charge de peindre des réalités.“ (Hier zitiert nach: Émile Zola, Œuvres complètes. Œuvres critiques III, hg. von Henri Mitterand, Paris: Cercle du Livre Précieux 1969, Bd. 12, 807). 14 Die Wendung entstammt Zolas 1880 erschienener Programmschrift „Le roman expérimental“; verwendet ist folgende Ausgabe: Émile Zola, Le roman expérimental, Paris: G. Charpentier 5 1881, 1-53, hier 7. 15 Die Rezeption des Naturalismus in Lateinamerika rekonstruieren u.a. Guillermo Ara, La novela naturalista hispanoamericana, Buenos Aires: Eudeba 1965; Saúl Sosnowski, Realismo y naturalismo, Madrid: La Muralla 1983; Manuel Prendes Guardiola, La novela naturalista hispanoamericana. Evolución y direcciones de un proceso narrativo, Madrid: Cátedra 2003 sowie die wichtige Studie von Sabine Schlickers, El lado oscuro de la modernización: Estudios sobre la novela naturalista hispanoamericana, Frankfurt/ Main u.a.: Iberoamericana/ Vervuert 2003, bes. 53ff. Einen Abriss zur Aufnahme von Zolas Rougon- Macquart-Zyklus in Hispanoamerika gibt Hans-Otto Dill, „Zola in Hispanoamerika“, in: Winfried Engler / Rita Schober (Hg.), 100 Jahre Rougon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte, Tübingen: Narr 1995, 159-169. 316 Krisennarrative um 1880 Zolas Romane ab 1880 Widerhall finden und teils heftige Auseinandersetzungen hervorrufen. In vorderster Reihe findet sich dabei Eugenio Cambaceres, der in der bonaerenser batalla naturalista eindeutig Stellung bezieht. Unter Zolas Parteigängern positioniert sich Cambaceres spätestens mit seinem letzten Roman, der den sprechenden Titel En la sangre 16 trägt, im Jahr 1887 erscheint und im Zentrum der weiteren Ausführungen stehen wird. Die Krise oder, besser noch, die Krisenrhetorik hat darin einen unmissverständlichen Namen, der heutige Maßstäbe der political correctness gehörig ins Wanken bringt: Wie angedeutet, widmet sich En la sangre der Massenimmigration in der argentinischen Hauptstadt und nimmt den Sachverhalt zum Anlass, um allerlei unappetitliche xenophobe Stereotype auszubreiten. Dass Cambaceres hierfür ausgerechnet die Erzählpoetik des späteren Dreyfusard Zola fruchtbar macht, sollte ebenso misstrauisch stimmen wie der Umstand, dass der Argentinier noch zwei Jahre zuvor (1885) einen durchkomponierten und weltanschaulich offenen Roman vorgelegt hat: Sin rumbo 17 korreliert den naturalistischen „estudio“ - so der Untertitel - mit einer nuancierten Seelenanalyse, wie sie die Romane der Décadence perfektionieren und wie sie in dieser Untersuchung José Asunción Silvas De sobremesa vertritt. In der Forschung einhellig gewürdigt, 18 bildet Sin rumbo nahezu das spiegelverkehrte Pendant zu En la sangre, wo erzählökonomische Komplexität und Sinnfülle einem plakativen Determinismus gewichen sind. Spätestens im punktuellen Abgleich beider Romane werden die Manipulationen offenkundig, denen Cambaceres sowohl die Programmatik des Naturalismus als auch die bornierten Vorurteile und Phobien unterzieht, die er eigens schürt. Schließlich zeigt sich vor dem doppelten Hintergrund, dass selbst das akute Untergangsszenario, das En la sangre heraufbeschwört, einem narrativen Konstrukt entspringt, dessen neuartige Ausrichtung sich nur ein Rentier leisten kann. 16 Belege aus dem Roman erscheinen ab hier im laufenden Text, mit der Sigle ELS und entsprechender Seitenangabe versehen, nach folgender Ausgabe: Eugenio Cambaceres, En la sangre [1887], hg. von Noemí S. García / Jorge Panesi, Buenos Aires: Ed. Colihue 2007. 17 Vgl. Eugenio Cambaceres, Sin rumbo [1885], hg. von Claude Cymerman, Madrid: Cátedra 1999; Zitatbelege ab hier im laufenden Text mit der Sigle SR und betreffender Seitenangabe. Zu ergänzen ist, dass die Edition Cátedra in jüngerer Zeit noch eine weitere, reichhaltig eingeleitete und kommentierte Ausgabe des Romans vorgelegt hat: Eugenio Cambaceres, Sin rumbo [1885], hg. von Teodosio Fernández, Madrid: Cátedra 2014, hier 9-111 („Introducción“). 18 Siehe die rezeptionsgeschichtliche Gesamtstudie von Patricia Bazán-Figueras, Eugenio Cambaceres. Precursor de la novela argentina contemporánea, New York u.a.: Lang 1994. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 317 V.2 Thesenbildung Genau an diesem Punkt ist anzusetzen, will man den Zerrüttungen im zeitgenössischen Argentinien auf den Grund gehen, die Cambaceres in seinen Romanen brandmarkt. Denn gleich den meisten Naturalisten unter den porteños erfüllt der Verfasser von En la sangre sämtliche Kriterien für eine literarisch unabhängige Karriere: Wirtschaftlicher Rückhalt und soziokulturelles Standing erlauben ihm, ohne Rücksicht auf vorgefertigte Erwartungshaltungen und mit sicherem Gespür neuartige Schreibweisen zu erproben. Der radikale Pessimismus, den vorrangig seine zwei letzten Romane hervorkehren, verwundert dabei nur auf den ersten Blick. Näher betrachtet, erweist er sich als inhaltliches Komplement der avancierten Ästhetik, die Cambaceres mit der Hinwendung zum Naturalismus praktiziert. Ein Risiko stellt Zolas - scheinbar - kompromissloser Experimentalroman allemal dar, dominieren in der argentinischen Prosaliteratur der 1880er Jahre doch nach wie vor konziliantere Töne. Allmählich schließen sich aber die Reihen und der Konkurrenzdruck wächst unaufhörlich, weshalb es schon der jüngsten „importación malsana de la literatura realista pornográfica“ 19 aus Frankreich bedarf, um noch einen Coup im sich ausdifferenzierenden Feld zu landen. Die dadurch erzielte Provokation versucht Cambaceres zusätzlich zu steigern, indem er En la sangre mit der Brisanz einer öffentlichen Debatte auflädt, die der Lesbarkeit des Romans gewiss abträglich war. Text- und diskursanalytisch verliert er damit keineswegs an Aussagekraft, zumal seine medial bedingte Rahmenpragmatik auf diese Weise zum Vorschein kommt. Um das Renommee, das ihm der Vorgänger Sin rumbo in informierten Kreisen einbrachte, auszuweiten, lässt Cambaceres nämlich seinen letzten Roman als Fortsetzungsserie im Feuilleton verlegen. Die Mischkalkulation, mit der hier literarischer Reformwille in ein populäres Format gegossen wird, geht allerdings nur zum Teil auf: Der gestiegenen Quantität des Publikums stehen in En la sangre beträchtliche qualitative Einbußen gegenüber, die den Roman zwar nicht vollends entwerten, jedoch als Klitterung stilistischer und ideologischer Versatzstücke dekuvrieren. Niederschlag findet das in einer Aktualisierung naturalistischer Erzählprinzipien, 19 So stellvertretend für viele argentinischer Kritiker der Zeit Ernesto Quesada in einer Rezension zu Cambaceres’ erstem Roman Potpourri: Silbidos de un vago (1882), die im November 1882 erscheint: „[E]se libro es la deforme imitación de esa literatura francesa de que Zola es iniciador, escuela realista, que vive del retrato al natural, de la reproducción de la vida real con todas sus sombras, diciendo verdades que el arte pudoroso cubre siempre con un velo [...]. No, felizmente no: esta literatura no es argentina, es una importación malsana de la literatura realista pornográfica que solo tiene cierto público del medio mundo o del mundo galante como consumidores, compradores y admiradores.“ (Zitiert nach: Rita Gnutzmann, „Los prólogos de Potpourri de E. Cambaceres: ¿una poética? “, in: Arrabal 4 (2002), 127-138, hier 134). 318 Krisennarrative um 1880 die ebenso orthodox wie bisweilen aufgesetzt verfährt. Cambaceres, so der Konsens der Kritik, aktiviert und transkulturiert Zolas narratives Inventar, um die Bevölkerungsexplosion in Argentinien nicht etwa unparteiisch zu schildern, sondern die Einwanderer zu stigmatisieren und kollektive Überfremdungsängste zu befeuern. Was dieser Deutungsansatz zumeist außer Acht lässt oder stillschweigend voraussetzt, sind hingegen die Inkonsistenzen, die En la sangre von vornherein in der Applikation der Erb- und Milieutheorie oder der internen Fokalisierung aufweist. Durchgehend tun sich Bruchstellen auf, die den Roman weder als rassistisches Pamphlet 20 noch als „expérience véritable que le romancier fait sur l’homme“ 21 zu fixieren erlauben. Cambaceres schickt sich vielmehr an, beides ineins zu setzen, um den Zeitgeist politisch und literarisch zu ventilieren und ihn mit düsteren Unkenrufen zuzuspitzen. Deren Resonanzraum ist die Metropole Buenos Aires, wo alle Auswüchse der Moderne koinzidieren sowie überkommene Hierarchien und Wahrnehmungsmuster dereguliert sind. Die Kapitale, die Cambaceres wie viele Erzähler seiner Generation ins Sichtfeld rückt, präsentiert En la sangre als Schmelztiegel, in dem Menschen-, Verkehrssowie Informationsströme auflaufen und regelrecht babylonische Verhältnisse generieren. Differenzverlust und Anonymisierung ermöglichen erst, dass mit dem Protagonisten Genaro ein italienischstämmiger Proletarier die Gesellschaftspyramide erklimmt. Doch trotz topographischer Konzentration gewinnt der urbane Schauplatz keine scharfen Konturen. Die deskriptive Entfaltung eines Chronotopos, der den historischen Wandel konkretisieren könnte, weicht einer schematischen Analogie, in der die Großstadt zum simplen Äquivalent der diffamierten Figur verkommt und weder referentielle Wiedererkennbarkeit garantiert noch ein eigenes Imaginäres hervorbringt. In En la sangre verrät just Buenos Aires den Romancier endgültig als ein Chamäleon, das sowohl innovativ als auch reaktionär, sowohl transkulturell als auch nationalistisch erzählt, um der Krise eine literarische Profilierung abzuringen. V.3 Verdammt zum Risiko des Naturalismus Vivo de mis rentas y nada tengo que hacer. Echo los ojos por matar el tiempo y escribo. Es decir: El que crea encontrar en las páginas de este libro estudios serios, fruto de una labor asidua, debe, desde luego, cerrarlo sin más vuelta. 20 Systematisch beleuchtet den Nexus zwischen den naturalistischen Fiktionen und den rassentheoretischen Diskursen, die Ende des 19. Jahrhunderts auch am Cono Sur florieren, u.a. Gabriela Nouzeilles, Ficciones somáticas. Naturalismo, nacionalismo y políticas médicas del cuerpo (Argentina 1880-1910), Rosario: Beatriz Viterbo 2000, 131ff./ 197ff. 21 Zola, „Roman expérimental“, 9. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 319 No quiero ni puedo hacer nada serio. El más pequeño esfuerzo intelectual me postra. Vivo por vivir, o mejor: vegeto. 22 Klingt so das Credo eines Schriftstellers, der sich und sein Werk unter das Postulat seriöser Wissenschaftlichkeit oder engagierter Sozioanalyse stellt? Wohl kaum. Und dennoch stammt die blasierte Aussage aus Cambaceres’ Feder, näherhin aus der fiktionsinternen Vorrede seines ersten Romans Potpourri. Silbidos de un vago (1882) der ein frivoles Ehebruchssujet mit abstoßenden Nahaufnahmen aus der besseren Gesellschaft verquickt. Die ironische Arroganz eines und vermutlich des Autors, der mit Müßiggang und materieller Narrenfreiheit kokettiert, ist im Auge zu behalten. Sie bewahrt davor, Cambaceres schlichtweg zum Chronisten der tiefgreifenden Umwälzungen zu erklären, 23 die das Land am Río de la Plata in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt. Ohnehin wären die Romane des Argentiniers kaum verständlich, entkoppelte man sie völlig von den Voraussetzungen, die darin kraft Herkunft, Ausbildung und beruflicher Orientierung aufscheinen. Und das gilt umso mehr, als die mutmaßlich individuellen Dispositionen, die sich in Cambaceres’ narrativem Habitus artikulieren, eine ganze Riege von Literaten und Intellektuellen charakterisieren. V.3.1 Innovatives Erzählen als Privileg eines Rentiers Die provokante Selbstbeschreibung aus oben zitiertem Vorwort trifft nämlich auf die meisten Exponenten der sogenannten Generación del 80 zu, 24 die sich vornehmlich aus dem gehobenen Bürgertum rekrutieren und - im Unterschied zum französischen Naturalismus 25 - diversen Sektoren der Füh- 22 Eugenio Cambaceres, Potpourri. Silbidos de un vago [1882], hg. von Claude Cymerman, Doral: Stockcero 2009, 7. 23 Wie vielschichtig die Relationen zwischen romanesker Fiktion und soziopolitischem Kontext in Cambaceres’ Werk sind, zeigt sensibel bereits Klaus Meyer-Minnemann, „Sinngebung, Erzählweise und die geschichtliche Wirklichkeit bei Eugenio Cambaceres“, in: José María Navarro et al. (Hg.), Filología y didáctica hispánica. Homenaje al profesor Hans-Karl Schneider, Hamburg: Buske 1975, 465-495. 24 Zur ebenso produktiven wie ideologisch prekären Schriftsteller- und Intellektuellengeneration vgl. Noé Jitrik, „Hombres en su tiempo: psicología y literatura de la generación del 80“, in: Ders., Ensayos y estudios de literatura argentina, Buenos Aires: Galerna 1970, 101-138; Adolfo Prieto, „La generación del ochenta. Las ideas y el ensayo“ und Ders., „La generación del ochenta. La imaginación“, in: Susana Zanetti (Hg.), Historia de la literatura argentina 2: Del Romanticismo al Naturalismo, Buenos Aires: Centro Editor de América Latina 1980, Bd. 2, 49-72/ 97-120 sowie Félix Weinberg, „El pensamiento de la generación del 80“, in: Cuadernos del Sur 13 (1980), 17-38. 25 Wie Christophe Charle (La crise littéraire à l’époque du naturalisme: Roman, théâtre et politique, Paris: Presses de l’ENS 1979, bes. 63ff.) und Joseph Jurt (Das literarische Feld, 181) darlegen, nehmen Zola und seine Anhänger hingegen eine „intermediäre Position“ im sozialen Tableau ein. 320 Krisennarrative um 1880 rungselite angehören. „[L]a literatura no era oficio sino privilegio de la renta“ 26 - urteilt David Viñas nüchtern über eine (sozio-)biographische Prägung, die etliche Naturalisten in Buenos Aires auf der Habenseite verbuchen können. Neben ihren Renteneinkünften sind sie, sofern überhaupt erforderlich, als Diplomaten, Anwälte, Ärzte, Politiker, etc. tätig und wirken oftmals aktiv an der Umgestaltung des Landes mit. Erst nach und nach, mit fortschreitender Kommerzialisierung der publizistischen Landschaft werden auch sie gezwungen sein, sich den Gesetzen des Marktes anzupassen und ihre literarische Freizeitbeschäftigung - hauptsächlich journalistisch - umzumünzen. Cambaceres bleibt davon noch weitgehend verschont, wie allein einige Eckdaten seines kurzen Lebens belegen. 27 Geboren 1843 als eines von vier Kindern des aus Frankreich emigrierten Chemikers Antoine Cambacérès, der dank vorteilhafter Heirat (mit der Kreolin Rufina Alais), kühltechnischer Erfindungen und Bodenerwerb zu Wohlstand kommt, darf sich Eugenio von klein auf zur Klasse der Besitzenden und Vornehmen rechnen. Entsprechend hochwertig ist der Schulunterricht, den er zunächst privat erhält, bevor er in Buenos Aires das renommierte Colegio Nacional besucht und schließlich an der juristischen Fakultät der Universität studiert. „Utilidad, valor y precio“ lautet der vielsagende Titel der Dissertationsschrift, mit der Cambaceres 1869 zum doctor en jurisprudencia promoviert wird. Ohne Lust und Notwendigkeit, einen geregelten Beruf auszuüben, bringt es der angehende Anwalt jedoch gerade einmal auf ein knappes Jahr in der Kanzlei. Ungleich verlockender erscheint zunächst ein Alltag als „mundano“ 28 , den der kultivierte Cambaceres mit anderen Dandys seiner Zeit auszukosten weiß. Der Überdruss am Genussleben lässt indes nicht lange auf sich warten. Eine Kompensation findet Cambaceres vorübergehend, indem er sich ins politische Tagesgeschäft stürzt. Als Abgeordneter im Provinzparlament der Hauptstadt, als Mitglied der Kommission zur Verfassungsreform und 26 David Viñas, Literatura argentina y realidad política II: De Lugones a Walsh, Buenos Aires: Ed. Sudamericana 1996, 10. Das kulturelle Klima der 1880/ 90er Jahre in Argentinien beschreibt ausführlich Schlickers (Lado oscuro de la modernización, 66-118), deren materialreicher Monographie folgende Bemerkungen zum argentinischen Naturalismus zahlreiche Informationen verdanken. 27 Die biographischen Hinweise orientieren sich an Noé Jitrik, „Cambaceres: adentro y afuera“, in: Ders., Ensayos y estudios de literatura argentina, Buenos Aires: Galerna 1970, 35-54; Claude Cymerman, „Introducción“, in: SR, 25-30 sowie an den Beobachtungen und Selbstzeugnissen bei Claude Cymerman, Diez estudios cambacerianos, acompañados de una bio-bibliografía, Rouen: Publications de l’Université de Rouen 1993, 11-50. Einen exhaustiven Überblick zu Cambaceres’ Leben und Werk im soziohistorischen Kontext gibt Claude Cymerman in seiner monumentalen Studie La obra política y literaria de Eugenio Cambaceres (1843-1889): del progresismo al conservadurismo, Buenos Aires: Corregidor 2007, 83-135. 28 So das Lemma zu dieser Lebensphase bei Cymerman, Obra política y literaria, 90. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 321 als Deputierter im Congreso Nacional fällt er hierbei nicht nur durch unregelmäßige Sitzungsteilnahme auf. Er macht zudem mit erfrischend unverblümten Äußerungen zum Laizismus und - man höre und staune im Voraus - zugunsten einer erleichterten Einbürgerung von sich reden. 29 Dass Cambaceres kein Blatt vor den Mund nimmt, bestätigt sich spätestens 1874. Als Parteiloser in den Nationalkongress gewählt, denunziert er dort die Unregelmäßigkeiten des Urnengangs, ja den ‚geheiligten Betrug‘ („el fraude santificado“ 30 ), von dem ausgerechnet die ihm gewogene Partei profitierte. Der Skandal ist perfekt: Die politischen Funktionäre und der honorige Club del Progreso, dem Cambaceres zeitweilig als Vizepräsident mit vorsteht (1873/ 74) und dessen Zerrbild er in En la sangre zeichnet, reagieren pikiert. Desillusioniert legt der 33-Jährige trotz Wiederwahl 1876 sein Kongressmandat nieder und beendet damit faktisch seine parlamentarische Karriere. 31 Es folgen Jahre unsteten Flanierens, in denen Cambaceres auch die Tätigkeit als Redakteur der liberalen Tageszeitung El Nacional einstellt (1877) und Gerüchte über seine Affären kursieren, in denen er den Tod beider Eltern (1875/ 78) zu verkraften hat und in denen er zunächst vom Salonlöwen zum Misanthropen sowie dann zum Familienvater (1883) mutiert. Bei alldem pendelt er zwischen Buenos Aires und seinem komfortablen Landgut in der Pampa, unterbrochen von Reisen nach Europa, die in einem ausgedehnten Frankreich-Aufenthalt (Paris/ Nizza) zwischen Herbst 1882 und Sommer 1884 gipfeln. In diese Phase fällt auch die Veröffentlichung der beiden ersten, jeweils anonym edierten Romane, wobei Potpourri. Silbidos de un vago (1882) noch unmittelbar vor Cambaceres’ Frankreich-Passage erscheint. Die satirischen Invektiven gegen die bourgeoise Hypokrisie, die der Roman lanciert, ziehen empörte Kommentare nach sich, die unter anderem einen „naturalismo“ inkriminieren, „que rebaja el hombre al nivel del bruto“ 32 . Wie eine Vielzahl von Besprechungen und vier Nachdrucke in 29 Hervorzuheben ist die Rede, die Cambaceres am 18. Juli 1871 vor der Verfassungskommission hält, in der er sich als „[p]artidario ardiente de la libertad“ vorstellt und „la más completa separación de la Iglesia y el Estado“ reklamiert. Im Fortgang seiner Ausführungen plädiert Cambaceres entschieden für die „naturalización del extranjero en nuestro suelo“, worauf zurückzukommen sein wird. Die vollständige Rede reproduziert Cymerman, Obra política y literaria, 653-668, hier 653 und 656. 30 Der kurze „Discurso sobre las elecciones fraudulentas“, mit dem Cambaceres im Juli 1874 den Kongress schockiert, findet sich ebenfalls bei Cymerman, Obra política y literaria (668-670, hier 669) abgedruckt. 31 Fiktionale Rechenschaft von dieser Desillusion gibt das sechste Kapitel in Potpourri (49ff.), das unter dem bezeichnenden Motto „Farsa política en cuatro actos“ mit der systematischen Korruption in der argentinischen Politik abrechnet. 32 So das harsche Urteil zu Potpourri des Rezensenten Pedro Goyena (am 11.11.1882 in La Unión), mit dem Cambaceres bekannt ist und dem er mit zwei öffentlichen Apologien antwortet; zitiert ist Goyenas Rezension nach der Anthologie von Teresita Frugoni de Fritzsche (Hg.), El naturalismo en Buenos Aires, Buenos Aires: Universidad de 322 Krisennarrative um 1880 nur zwölf Monaten bestätigen, kann Cambaceres Potpourri dennoch als Achtungserfolg werten. 33 Der Nachfolger Música sentimental, der Untertitel (Silbidos de un vago), Plot sowie Figuren des Debütromans aufnimmt und 1884 beim Pariser Verlag Denné erscheint, stößt hingegen auf ein verhaltenes Echo bei Leserschaft und Kritik. Umso bemerkenswerter ist das Aufsehen, das ein Jahr darauf Sin rumbo (1885) erregt und das sich in einer bis heute lebhaften Rezeption fortsetzt. Cambaceres selbst hat Mitte der 1880er Jahre bereits mit Symptomen einer Tuberkulose-Infektion zu kämpfen, die sich kontinuierlich verschärft und der er schließlich erliegen wird. Binnen kurzem heiratet er noch seine langjährige Geliebte Luisa Bacichi, die auch Mutter einer gemeinsamen Tochter ist, publiziert im Herbst 1887 En la sangre, siedelt abermals nach Frankreich über und koordiniert gewohnt umtriebig den argentinischen Auftritt auf der Pariser Weltausstellung 1889. Zurück in Buenos Aires verstirbt Cambaceres im selben Jahr (14. Juni), womit sich sein literarisches Vermächtnis - neben einigen Rezensionen 34 - auf die vier genannten Romane beschränkt. Diese aber musste er schreiben, wofür in gewisser Hinsicht schon die anskizzierte Vita des Autors spricht, dessen einstiger „halo negativo“ 35 längst intensiver Forschungspräsenz gewichen ist. Doch nicht in einer einfachen Widerspiegelungslogik, sondern in Form struktureller Vorentscheidungen wirkt sich Cambaceres’ Werdegang auf sein literarisches Agieren und dessen fiktionale Verdichtungen aus. Erst sein Vermögen, seine Kontakte in höchste Kreise und umfängliche - in Schul- und Universitätslaufbahn erworbene und mittels Reisen und Lektüren erweiterte - Bildungsressourcen gewähren Cambaceres ausreichend Bewegungsfreiheit, 36 um sich vom bewährten Publikumsgeschmack zu emanzipieren und moralische Vorbehalte ebenso auszublenden wie etwaige Idiosynkrasien der Mächtigen. Anders und mit Pierre Bourdieus feldtheoretischer Terminologie ge- Buenos Aires (Inst. de Literatura Argentina „Ricardo Rojas“) 1966, 66-68, hier 67. Rita Gnutzmann (La novela naturalista en Argentina (1880-1900), Amsterdam: Rodopi 1998, 68) macht in der Publikation des Romans gar einen handfesten „escándalo“ aus. 33 Einige Besprechungen zu Potpourri zitiert Cymerman, Obra política y literaria, 704ff. 34 Abgedruckt bei Cymerman, Obra política y literaria, 671-677. Zum Gesamtwerk kämen noch einige veröffentlichte Briefe, die besagten politischen Reden sowie die Dissertationsschrift hinzu. 35 Mit dieser Klage beginnt 1969 Claude Cymerman („Para un mejor conocimiento de Eugenio Cambaceres“, in: Diez estudios cambacerianos, 15-36, hier 15) seinen biographischen Abriss zu Cambaceres: „De todos los grandes novelistas de la literatura argentina es seguramente Eugenio Cambaceres el peor juzgado [...]. En realidad, todo este halo negativo o despectivo que rodea su figura no es más que el signo de una gran ignorancia respecto al hombre.“ 36 Cambaceres’ literarästhetische Emanzipation diskutiert detailliert Alejandra Laera, El tiempo vacío de la ficción. Las novelas argentinas de Eduardo Gutiérrez y Eugenio Cambace res, Buenos Aires: FCE 2004, bes. 31ff./ 155ff. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 323 sagt: Reich ausgestattet mit ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital ist Cambaceres nachgerade dazu prädestiniert, „à s’orienter vers les positions les plus risquées“ 37 und um somit ein ästhetisches Wagnis einzugehen, wie es unter den gegebenen Umständen der naturalistische Roman darstellt. Denn in den 1880er Jahren verspricht dieser - wie auf der Gegenseite des literarischen Spektrums die modernistische Lyrik - weder schnelle Verkaufsrenditen noch Beifall oder gar Gratifikationen von offizieller Seite. Dem lebensweltlich abgesicherten Cambaceres stellt er jedoch etwas ungleich Kostbareres in Aussicht: Konsequent bricht der naturalistische Diskursimport mit eingefahrenen Bewertungsmaßstäben und Rezeptionsgewohnheiten, weshalb er bereits in der Phase der Erprobung sichere Aufmerksamkeit unter den Experten aus Kritik und Schriftstellerzirkeln garantiert, gleich ob diese sich nun in Applaus, Gefolgschaft oder gegenteilig in harscher Ablehnung äußert. V.3.2 Schlacht-Feld-Getümmel Aber Cambaceres benötigt die symbolischen Vorschusslorbeeren auch dringend, da der Wettbewerb im zeitgenössischen Feld der rioplatensischen Erzählprosa tagtäglich härter wird und sich die Unterscheidungsmerkmale zwischen den Positionen unablässig verfeinern. Angesichts solcher Dynamik verwundert es nicht, dass die Institutionalisierung des argentinischen Literaturbetriebs gegen Jahrhundertende bereits eingehend dokumentiert ist. 38 Es mögen daher einige wenige Zahlen und Fakten genügen, um eine Spezialisierung anzudeuten, die dem Romancier Cambaceres im selben Maße zugutekommt wie sie ihn unter Druck setzt. Die Entwicklungen auf dem kulturellen Sektor, die sich im letzten Jahrhundertdrittel in Buenos Aires - weitgehend ohne Verbindung zum Hinterland - vollziehen, sind enorm und brauchen trotz divergenter Umstände den Vergleich mit euro- 37 Die Ausstattung mit hochwertigen sozioökonomischen und/ oder kulturellen Dispositionen bildet nach Bourdieu (Règles de l’art, 429f.) eine wesentliche Voraussetzung für literarische Innovation: „La propension à s’orienter vers les positions les plus risquées, et surtout la capacité de les tenir durablement en l’absence de tout profit économique à court terme, semblent dépendre pour une grande part de la possession d’un capital économique et symbolique important. […] De fait, ceux qui parviennent à se maintenir dans les positions les plus aventureuses assez longtemps pour obtenir les profits symboliques qu’elles peuvent assurer, se recrutent pour l’essentiel parmi les plus nantis, qui ont aussi l’avantage de n’être pas obligés de se consacrer à des tâches secondaires pour assurer leur subsistance.“ 38 Die Herausbildung eines intellektuellen und literarischen Feldes in Buenos Aires, das mit der Generación del 80 Konturen erhält, rekonstruieren Carlos Altamirano / Beatríz Sarlo, „La Argentina del Centenario: campo intelectual, vida literaria y temas ideológicos“, in: Hispamérica 9/ 25-26 (1980), 33-59; Viñas, Literatura argentina y realidad política II, 9ff. sowie Oscar Terán, Vida intelectual en el Buenos Aires fin-de-siglo (1880-1910). Derivas de la „cultura científica“, Buenos Aires: FCE 2000. 324 Krisennarrative um 1880 päischen Metropolen nicht zu scheuen. Staatliche Großinvestitionen in das Bildungswesen, die Entstehung wissenschaftlicher und künstlerischer Vereinigungen und Clubs, die Einrichtung oder Modernisierung von Theatern, Konzertsälen und als Meinungsforen dienenden Cafés verändern die Stadt ebenso nachhaltig wie die architektonischen Eingriffe. Die treibende Kraft für den Ausbau der literarischen Öffentlichkeit ist sicherlich die Presse, deren beeindruckende Zuwächse im Weiteren noch bedeutsam werden. Glaubt man dem Anuario bibliográfico de la República Argentina, so steigt das Aufkommen periodischer Veröffentlichungen allein zwischen 1880 und 1886 von 109 auf 407 Blätter. 39 Auch die Auflagenhöhe der großen Tageszeitungen kann sich sehen lassen: Neben den Marktführern La Nación und La Prensa mit täglich ca. 18000 Exemplaren im Jahr 1877 kommen El Diario und La Patria Italiana zur gleichen Zeit immerhin noch auf 12500 bzw. 11000 Exemplare; zehn Jahre später soll das in Montevideo verlegte Organ La Razón gar eine Druckstärke von 25000 Stück erreicht haben. 40 Von Bedeutung sind die Daten zum erstarkenden Pressewesen allein insofern, als Beilagen und Feuilletons großer diarios mittlerweile ein effektives Format bereitstellen, um dem anhaltenden Desinteresse für fiktionale Textsorten abzuhelfen. 41 Erfahrungsgemäß schwerer hat es dagegen die literarische und allgemein kulturell ausgerichtete Spartenpresse, die ohnehin nur eine restringierte Leserschaft adressiert. Nichtsdestoweniger gelingt es ab 1870 auch Zeitschriften wie El Álbum del Hogar (Literatur), Reseñas y críticas (Literatur und andere Künste), Ilustración Argentina (Literatur und Geschichte) oder Nueva Revista de Buenos Aires (Literatur, Geschichte, Recht, Naturwissenschaften), sich einen festen Abonnentenstamm zu sichern und einigermaßen rentabel zu wirtschaften. 42 Der Aufschwung der Printmedien bleibt nicht ohne Rückwirkungen für die narrative Produktion, die zu Cambaceres’ Lebzeiten zahlenmäßig ebenfalls ein merkliches Wachstum verzeichnet. Während zwischen 1870 und 1879 nur ganze zwölf Romane in Argentinien erscheinen, schnellt der Nä- 39 Anuario bibliográfico de la República Argentina (1880-1888); zitiert nach: Prieto, Discurso criollista, 37. 40 Angaben nach Prieto, Discurso criollista, 37 sowie Schlickers, Lado oscuro de la modernización, 70. Zur Schlüsselrolle der Presse im argentinischen Naturalismus vgl. überdies Fabio Espósito, La emergencia de la novela en la Argentina (1880-1890), tesis doctoral, La Plata: Universidad Nacional de la Plata 2006, URL: http: / / www.fuentesmemoria. fahce.unlp.edu.ar/ tesis/ te.295/ te.295.pdf (abgerufen am 7.6.2017). 41 Den Nexus zwischen der Genese literarischer Felder in Hispanoamerika und dem Zeitungswesen diskutieren González, Journalism and the Development of Spanish American Narrative und speziell für Argentinien Espósito, Emergencia de la novela en la Argentina, 22ff./ 98ff. sowie Laera, „Cronistas, novelistas“, 495-522. 42 Zur Landschaft der argentinischen Literatur- und Kulturzeitschriften um 1900 siehe die Gesamtdarstellung bei Washington Luis Pereyra, La prensa literaria argentina 1890- 1974, Bd. 1: Los años dorados 1890-1919, Buenos Aires: Colonial 1993. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 325 herungswert 43 für die folgende Dekade (1880-1889) auf 101 Titel empor, ehe er zum Jahrhundertende (1890-1899) wieder absinkt (48). Wenngleich die Angaben eher auf Schätzungen denn auf statistischen Präzisionserhebungen basieren, sei noch die stattliche Anzahl von 25 Romanen erwähnt, die Sabine Schlickers zwischen 1884 und 1902 allein für das naturalistische Lager nachweist. 44 Ein Grund für die Steigerungsraten ist, dass zur Jahrhundertwende auch die Verlagshäuser - die freilich nicht mit heutigen Konzernen zu verwechseln sind - an Anzahl, Größe und Reichweite zulegen, weshalb die riskante edición del autor oftmals verzichtbar wird. 1886 beispielsweise zählt man in Buenos Aires um die 50 casas editoriales, zu deren wichtigsten Alsina, Biedma oder Maucci gehören, während die größten Druckereien meist von Zeitungen betrieben werden. 45 Nicht zu vergessen sind jene Häuser, deren Stammsitz sich in Spanien oder Frankreich befindet, die aber, wie Lajouane oder Denné, Vertriebsfilialen am Río de la Plata einrichten. Cambaceres und seine Mitstreiter profitieren sowohl von der Ausweitung und Vervielfältigung publizistischer Kanäle als auch von der Etablierung partikulärer Konsekrationsinstanzen wie Universitäten, Akademien, Lektürezirkeln oder Literaturgeschichten. Denn mögen diese auch mehrheitlich gegen den unsittlichen Naturalismus protestieren, so verschaffen sie ihm genau dadurch eine Öffentlichkeit, derer er zum Durchbruch bedarf und die ihm bescheidene Margen der Autonomie gewährt. Die Zunahme programmatischer Fehden und stilistischer Rivalitäten ab 1880 rechtfertigt gewiss die optimistische Bestandsaufnahme „que el campo literario del Río de la Plata estaba desarrollado y diferenciado“ 46 , obschon sie gattungsmäßig eventuell zu differenzieren wäre. Im Teilsegment der argentinischen Erzählliteratur konkurrieren mittlerweile die populären Gaucho-Epen mit fantastischer und kriminalistischer Prosa, die criollistischen und historischen Feuilletonromane mit den Genreszenen und Reportagen der crónicas, die neuerdings auch in modernistischer Ausprägung kursieren. Das Panorama wäre selbstverständlich in jeder Richtung zu ergänzen und mit entsprechenden Vertretern, Titeln und rezeptionssoziolo- 43 Die Zahlen, die Myron I. Lichtblau (The Argentine Novel in the Nineteenth Century, New York: Hispanic Inst. in the United States 1959, 160) vor geraumer Zeit genannt hat, werden von Schlickers (Lado oscuro de la modernización, 71) als zu hoch bezweifelt. 44 Vgl. Schlickers, Lado oscuro de la modernización, 71 (Anm. 48). 45 Siehe den Überblick bei Sergio Pastormerlo, „1880-1899. El surgimiento de un mercado editorial“, in: José Luis de Diego (Hg.), Editores y políticas editoriales en Argentina (1880-2000), Buenos Aires u.a.: FCE 2006, 1-29. Zur Entwicklung des argentinischen Verlagswesens im 19. Jahrhundert vgl. Leandro de Sagastizábal, Diseñar una nación. Un estudio sobre la edición en la Argentina del siglo XIX, Buenos Aires: Norma 2002. 46 Schlickers, Lado oscuro de la modernización, 71. Wie obige Formulierung anzeigt, bemüht Schlickers für ihr Panorama des rioplatensischen Literaturbetriebs (ebd., 66-86) ebenfalls Bourdieus feldtheoretische Terminologie; die erhellenden Textanalysen der Verfasserin machen jedoch wenig von literatursoziologischen Kategorien Gebrauch. 326 Krisennarrative um 1880 gischen Fakten aufzufüllen. Allein die Präzisierung narrativer Varianten, die sich unter anderem mit dem Befund heimischer „Naturalismen avant la lettre“ 47 auseinanderzusetzen hätte, und die Berücksichtigung der beliebten spanischen und französischen Romane erbrächten eine Reihe weiterer Nuancen. 48 Schon der knappe Überblick signalisiert aber die Dominanz national oder gar nationalistisch orientierter Werke, die - häufig von öffentlicher Hand gefördert - beste Chancen auf baldige Kanonisierung durch die aufkommende Literaturgeschichtsschreibung haben. 49 Höchste Priorität genießt dabei das ebenso rigide wie vage Kriterium der Authentizität, das die erwähnten Gaucho-Narrative, das facettenreiche Reservoir kostumbristischer Texte oder romantische Gründungsfiktionen wie Jorge Mármols seitenstarkes Polit-Melodram Amalia (1851/ 56) optimal bedienen. Auf das gemeinschaftsstiftende Imaginarium, das die tränenrührigen Nationalromanzen transportieren, hat es der argentinische Naturalismus im Besonderen abgesehen, ungeachtet welche ideologische oder ästhetische Motivation sich jeweils mit den Attacken verbindet. Entsprechend angriffslustig und weit weniger spielerisch, als es der Kolumbianer Silva ein Jahrzehnt später in De sobremesa umsetzen wird, distanziert sich mithin auch Eugenio Cambaceres von der patriotischen Erbauungsliteratur. Um sich als Bilderstürmer unter den einheimischen Prosaautoren zu inszenieren, überzieht er den abgenutzten Idealismus der „literatura nacional“ bereits in seinem ersten Roman mit beißendem Spott. Im 1883 hinzugefügten Prolog zur dritten Auflage von Potpourri heißt es demnach: [P]ensé que muy bien podía antojárseme cambiar de rumbos, inventar algo nuevo [...]; ocurriéndoseme entonces una barbaridad como otra cualquiera: contribuir, por mi parte, a enriquecer la literatura nacional. Para que uno contribuya, por su parte, a enriquecer la literatura nacional, me dije, basta tener pluma, tinta, papel y no saber escribir el español; yo reúno discretamente todos estos requisitos, por consiguiente, nada se opone a que contribuya, por mi parte, a enriquecer la literatura nacional. 50 47 So der Terminus bei Dill, „Zola in Hispanoamerika“, 160. 48 Einen Überblick zur argentinischen Erzählliteratur zwischen 1880-1900 geben Aída Apter-Cragnolino, Espejos naturalistas. Ideología y representación en la novela argentina (1884-1919), New York u.a.: Lang 1999, 18ff.; Cymerman, Obra política y literaria, 27-81 sowie wiederum Schlickers, Lado oscuro de la modernización, 66-86. 49 Das kulturpolitische Bestreben, im 19. Jahrhundert eine Nationalliteratur in Argentinien zu etablieren, verhandeln u.a. Adriana G. Culasso, Geopolíticas de ficción. Espacio y sociedad en la novela argentina (1880-1920), Buenos Aires: Corregidor 2006; Prieto, Discurso criollista, 141ff.; Schlickers, Lado oscuro de la modernización, 78ff. Als entsprechende Kanonisierungsinstanz tritt dabei die Literarhistorie auf den Plan, wie Carrillo Zeiter (Erfindung einer Nationalliteratur, bes. 250ff.) nachweist. 50 Cambaceres, Potpourri („Dos palabras del autor“), 1-6, hier 1. Zur widersprüchlichen Semantik des Nationalen in Cambaceres’ Romanwerk vgl. ausführlich Austin, Exemplary Ambivalence in Late Nineteenth-Century Spanish America, 39-65. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 327 Was offiziell als Geistesdienst im Namen des Vaterlandes gilt, würdigt Cambaceres kurzerhand zur „barbaridad“ von Analphabeten herab, die ohnehin nur ein falsches „español“, die Sprache der einstigen Kolonialherren, für ihre argentinische Mission zur Verfügung hätten. Die Einlassung taugt daher kaum als buchstäbliches Plädoyer für eine literarische Volkserziehung, zumal die folgende Romanhandlung einen Rundumschlag gegen den bürgerlichen Konformismus nachlegt. Weder in Potpourri noch anderswo geht es Cambaceres ernsthaft um das alles andere als ‚neue‘ Anliegen („inventar algo nuevo“) einer verbindlichen Staatskunst. Das augenzwinkernde understatement, das in der Polemik des zitierten Prologs noch mitschwingt, verschwindet indes in der narrativen Praxis. Zurück bleiben bissige Abrechnungen, die sich in Sin rumbo und En la sangre zu tiefpessimistischen Gesellschaftspanoramen verdunkeln. Das adäquate Knowhow hierfür bietet der Naturalismus, dessen auf Dokumentation und Beobachtung 51 beruhende Erzählweise eine - zumindest nach außen hin - unbestechliche Gegenwartsdiagnostik erlaubt. Zolas „méthode scientifique“ 52 steht in Buenos Aires spätestens seit 1879 in Rede, nachdem die Tageszeitung La Nación am 3. August desselben Jahres mit der Feuilletonveröffentlichung von La taberna (L’assommoir im Original, 1876), beginnt und diese bereits tags darauf, angeblich „por falta de espacio“ 53 , wieder einstellt. Ein Kapitel des siebten Romans aus dem Rougon- Macquart-Zyklus reicht gleichwohl aus, um Anhänger zu versammeln und erbitterte Gegner auf den Plan zu rufen, die den Überlebenskampf des vierten Standes und die Pathologien des Alkoholismus als Tabubruch brandmarken. Die Empörung in den konservativen Reihen nimmt nochmals zu, als im Dezember 1879 ein aus Le Figaro übertragener Artikel Nana vorankündigt, ehe im Laufe des darauffolgenden Jahres - nur kurz nach der Pa- 51 Vgl. hierzu den programmatischen Passus in „Le roman expérimental“, 7f.: „Eh bien! en revenant au roman, nous voyons également que le romancier est fait d’un observateur et d’un expérimentateur. L’observateur chez lui donne les faits tels qu’il les a observés, pose le point de départ, établit le terrain solide sur lequel vont marcher les personnages et se développer les phénomènes. Puis l’expérimentateur paraît et institue l’expérience, je veux dire fait mouvoir les personnages dans une histoire particulière, pour y montrer que la succession des faits y sera telle que l’exige le déterminisme des phénomènes mis à l’étude.“ 52 Wiederum in „Le roman expérimental“ (42) zitiert Zola seinen Gewährsmann Claude Bernard mit folgenden Worten: „‚La méthode expérimentale est la méthode scientifique qui proclame la liberté de la pensée. Elle secoue non seulement le joug philosophique et théologique, mais elle n’admet pas non plus d’autorité scientifique personnelle. Ceci n’est point de l’orgueil et de la jactance; l’expérimentateur, au contraire, fait acte d’humilité en niant l’autorité personnelle, car il doute aussi de ses propres connaissances, et il soumet l’autorité des hommes à celles de l’expérience et des lois de la nature.‘“ 53 So der lapidare Hinweis in La Nación; zitiert nach: Gnutzmann, Novela naturalista en Argentina, 61. 328 Krisennarrative um 1880 riser Publikation - der Roman selbst in zwei bonaerensischen Zeitungen erscheint. Mit den erotischen Lizenzen in Nana halten die Kontrahenten Zolas zersetzende Perversionen endgültig für erwiesen und verurteilen sein neuestes Machwerk als „pintura cruda, aterradora, repugnante y viva del vicio cínico y desgreñado“ 54 . Es sei dahingestellt, inwiefern diese und zahlreiche weitere Kritiken das fiktionale Kaleidoskop der Rougon-Macquart auf ein ordinäres Sozialdrama reduzieren. Unstrittiges Faktum ist, dass sich an Nana eine Kontroverse entzündet, die in der argentinischen Hauptstadt und im gegenüberliegenden Montevideo ein gutes Jahrzehnt andauern wird, die inzwischen unter dem Forschungsrubrum batalla naturalista läuft und die hauptsächlich aus dem Kurzschluss literarischer und moralischer Argumente rührt. 55 Cambaceres selbst ist an dieser ‚Schlacht‘, in der sich die selbst ernannten Bewahrer des Anstands und die Verfechter einer naturalistisch schonungslosen Optik gegenüberstehen, lediglich am Rande beteiligt, obschon er die Diskussion mit seinen Romanen anheizt. Sieht man einmal von Feinheiten ab, so bekennt er sich denn auch unumwunden zur Doxa des französischen chef d’école, mit dessen Metaphorik er offensichtlich bestens vertraut ist. Statt den üblichen ‚Strohpuppen‘ und ‚Marionetten‘ - so proklamiert Cambaceres in einem Brief an seinen Freund Miguel Cané vom Weihnachtstag 1883 - müsse der naturalistische Roman erstmals „personajes de carne y hueso“ präsentieren, möge deren erbärmliche Erscheinung auch dem Geschmacksempfinden zuwiderlaufen. Der drastische Einblick sei jedoch in Kauf zu nehmen, um den menschlichen Organismus in all seinen Funktionen und Dysfunktionen zu sezieren: Entiendo por naturalismo, estudio de la naturaleza humana, observación hasta los tuétanos. Agarrar un carácter, un alma, registrarla hasta los últimos repliegues, meterle el calador, sacarle todo, lo bueno como lo malo, lo puro si es que se encuentra y la podredumbre que encierra, haciéndola mover en el medio donde se agita, a impulsos de los latidos del corazón y no merced a un mecanismo más o menos complicado de ficelles, zamparle al público en la escena personajes de carne y hueso en vez de títeres rellenos 54 Das vernichtende Fazit zu Nana stammt immerhin vom jungen Martín García Mérou („Naná y el naturalismo“, in: La Nación, 4.5.1880; zitiert nach: Gnutzmann, Novela naturalista en Argentina, 66f.), der gut fünf Jahre später mit Ley social (1885) selbst einen naturalistisch inspirierten Roman vorlegen wird. 55 Stationen, Positionen und wichtige Äußerungen in den argentinischen und uruguayischen batallas naturalistas rekapitulieren Gnutzmann, Novela naturalista en Argentina, 59-79; Apter-Cragnolino, Espejos naturalistas, 18-24; Cymerman, Obra política y literaria, 68-81 und Schlickers, Lado oscuro de la modernización, 104-126. Siehe ferner die elektronische Anthologie zeitgenössischer Rezensionen von Fabio Espósito et al. (Hg.), El naturalismo en la prensa porteña. Reseñas y polémicas sobre la formación de la novela nacional (1880-1892), La Plata: Universidad de La Plata 2011, URL: http: / / bibliotecaorbis tertius.fahce.unlp.edu.ar/ 04.Esposito (abgerufen am 7.6.2017). Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 329 de paja o de aserraduras [...]; sustituir a la fantasía del poeta o a la habilidad del faiseur, la ciencia del observador, hacer en una palabra verdad, verdad hasta la cuja como dice Ud. 56 Die positivistische Wahrheitsfiktion, die hier mit aggressivem Vokabular beschworen wird, gemahnt nicht nur an Zolas - fiktional oft unterlaufenes - Gebot des Szientismus. Die Forderung nach einer literarischen Versuchsanordnung, in welcher Phantasie und Metaphysik weitestmöglich einer „physiologistischen Kulturanthropologie“ 57 weichen, findet überdies direkten Widerhall im Künstlerroman L’Œuvre (1886). Als Sprachrohr seines Schöpfers Zola verabschiedet darin der Schriftsteller Sandoz ebenfalls die Mechanik romantischer ‚Hampelmänner‘ und macht es sich zur Aufgabe, „[d’]étudier l’homme tel qu’il est, non plus leur pantin métaphysique, mais l’homme physiologique, déterminé par le milieu, agissant sous le jeu de tous ses organes...“ 58 Cambaceres hingegen kommt der hyperrealistischen ‚Beobachtung bis ins Mark‘ („observación hasta los tuétanos“) nur bedingt nach. Entgegen der eigenen Forderung schreibt er meist als faiseur, der die artifiziellen Fäden seiner Sujets und Erzählakte spinnt. Das demonstriert besonders En la sangre, sein naturalistischster und zugleich konstruiertester Roman, dessen unleugbarer Erneuerungsimpuls früher oder später in sich zusammensackt. Eine der Ursachen hierfür liegt auf der Hand: Cambaceres sucht die ‚Lücke‘ 59 , die sich ihm in der argentinischen Prosalandschaft der Zeit bietet, nicht nur literarästhetisch mit einer resignativen Spielart des roman expérimental zu schließen. Um den Wirkungsradius von En la sangre zu erweitern, geht er zudem einen medialen Kompromiss ein, der unweigerlich zum Verrat an jenem (feld-)spezifischen Prestige führen musste, das er im 56 Cambaceres’ Brief ist zitiert nach: Cymerman, Obra política y literaria, 641f. Cambaceres’ Orientierung an Zolas naturalistischer Programmatik kommentieren Claude Cymerman, „Zola, Cambaceres y las cuestiones de moral, verdad y utilidad“, in: Juan P. Spicer-Escalante / Lara Anderson (Hg.), Au Naturel: Re(Reading) Hispanic Naturalism, Newcastle: Cambridge Scholars Pub. 2010, 39-58 und Juan Epple, „Eugenio Cambaceres y el Naturalismo en Argentina“, in: Ideologies and Literature 14/ 3 (1980), 16-50. 57 Die griffige Wendung zum epistemologischen Anspruch des Naturalismus stammt von Elke Kaiser, Wissen und Erzählen bei Zola. Wirklichkeitsmodellierung in den „Rougon- Macquart“, Tübingen: Narr 1990, 37/ 44. Für eine kenntnisreiche Summe der Zolaschen Experimentalpoetik und ihrer szientistischen Folie vgl. ebd., 17-44; David Baguley, Naturalist Fiction. The Entropic Vision, Cambridge: UP 1990, 40ff.; Hans-Joachim Müller, „Zola und die Epistemologie seiner Zeit“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 5 (1981), 74-101 sowie im Praxisabgleich Barbara Ventarola, „Der Experimentalroman zwischen Wissenschaft und Romanexperiment - Überlegungen zu einer Neubewertung des Naturalismus Zolas“, in: Poetica 42/ 3-4 (2010), 277-324. 58 Vgl. Émile Zola, L’Œuvre [1886], Paris: Gallimard/ Folio 1983, 191. 59 Zum Konzept der ‚strukturellen Lücke‘ („lacune structurale“) als latent vorhandene Option literarischer Innovation siehe die oben zitierte Definition bei Bourdieu, Règles de l’art, 386. 330 Krisennarrative um 1880 Vorgängerroman Sin rumbo noch mit einem konsistenten narrativen Instrumentarium errang. V.4 Eine Frage des Medien-Formats und der symbolische Verrat Mit dreitausend verkauften (Buch-)Exemplaren in zwei Wochen und insgesamt vier Nachdrucken, die der Verlag Félix Lajouane binnen weniger Monate in Buenos Aires lanciert, zählt Sin rumbo zweifelsohne zu den literarischen Sensationen des Jahresendes 1885. 60 Relevanter als die nackten Zahlen der Verbreitung sind indes die Reaktionen des Fachpublikums, die keineswegs einhellig positiv ausfallen, deren Quantität und Sorgfalt aber ein ausgeprägtes Interesse verraten. Kaum ist die editio princeps im Handel, zirkulieren extensive Besprechungen, die den Roman als „acontecimiento literario“ 61 feiern, als „organismo desequilibrado“ 62 geißeln oder ihn gerade ob seiner Komplexität als „estudio franco, profundo y desgarrador de una existencia perdida para el bien y la felicidad“ auszeichnen. Mit Sin rumbo avanciert Cambaceres endgültig zur streitbaren „personalidad literaria original“ 63 , den die einen als „écrivain d’avenir“ 64 begrüßen und die anderen als devianten Pornographen ablehnen. So oder so verhilft die vielstimmige Berichterstattung dem Argentinier zu einem Ruf als kühner Romancier, den er mit En la sangre weniger in bare Münze denn vielmehr in öffentliche Resonanz und Bekanntheit umzuwandeln trachtet. Kein leichtes Unterfangen, gilt es doch dafür der „indiferencia pública en esta bendita tierra donde tan poco se lee“ 65 entgegenzuwirken, die Cambaceres ausdrücklich beklagt. Um der Lesemüdigkeit seiner Landsleute beizukommen, nimmt er in En la sangre den naheliegendsten Weg und greift zu einem attraktiven Präsentations- und Distributionsme- 60 Unverzichtbar für die Verortung von Cambaceres’ Werk auf dem zeitgenössischen Literaturmarkt ist die minutiöse Studie von Alejandra Laera, El tiempo vacío de la ficción, 31-71/ 155-197/ 257-288. 61 So überschreibt der Rezensent aus El Diario am 29. Oktober 1885 seine Besprechung; zitiert nach: Cymerman, Obra política y literaria, 770-772. 62 Die Formulierung ist dem ausführlichen Artikel von Miguel Cané entnommen, der Sin rumbo ebenfalls am 29. Oktober 1885 in Sud-Améria bespricht; zitiert nach: Cymerman, Obra política y literaria, 773-781, hier 776. 63 Beide vorangehenden Zitate stammen vom vormaligen Cambaceres-Kritiker Martín García Mérou (7.12.1885 in Sud-América); zitiert nach: Cymerman, Obra política y literaria, 786-791, hier 790 und 791. 64 So die euphorische Bezeichnung für Cambaceres im transatlantischen Courrier de la Plata (12.11.1885); abgedruckt bei: Cymerman, Obra política y literaria, 785. 65 Mit der provokanten Formulierung beschließt Cambaceres seine am 28.10.1885 in Sud-América erschienene Besprechung des Romans Ley social von García Mérou; zitiert nach: Cymerman, Obra política y literaria, 677. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 331 dium. Statt im exklusiven Buchformat erscheint der Roman somit zwischen 12. September und 14. Oktober 1887 im Feuilleton der literaturaffinen Tageszeitung Sud-América. 66 Vorausgegangen war eine aufwendige Pressekampagne, die über ein Jahr hinweg die bevorstehende Veröffentlichung eines „cuadro naturalista con maestras pinceladas“ 67 des berühmten Verfassers von Sin rumbo ankündigt. Der Werbe- und Suspense-Effekt, der aus der Verzögerungstaktik resultiert, trägt beachtliche Früchte: Die etwa 1500 zusätzlichen Käufer und Abonnenten, die Sud-América der Fortsetzungsserie von En la sangre verdankt, lassen aufhorchen, zumal das Blatt insgesamt nur täglich 6000 Abnehmer hat. Berücksichtigt man ferner, dass die durchschnittliche Auflagenhöhe für Buchpublikationen Mitte der 1880er Jahre bei 500 Exemplaren liegt, 68 sind die ca. 6000 bis 7000 potentiellen Leserinnen und Leser, die En la sangre erreichen konnte, eine stolze Ziffer. Für einen Autor, der wie Cambaceres mit einer klar konturierten Stilvariante antritt - im Grunde also für einen „sous-champ de production restreinte“ 69 schreibt -, zeugt sie von einer ansehnlichen Diffusion, die im Gegenzug auf zahlreiche literarische Konzessionen schließen lässt. Zum Nachweis braucht man nicht einmal auf die intrikate Reziprozität zurückzukommen, die Ende des 19. Jahrhunderts in Argentinien Literatur- und Pressebetrieb verbindet und die im Fall von Sud-América überdies politisch gefärbt ist, d.h. eine nationalistisch gesinnte Grundierung annimmt. 70 Es genügt der Blick auf die Komposition von En la sangre, die gängige Strukturmerkmale der novela folletín wie Typisierung und Affektsteigerung, leserfreundliche Redundanzen und Kapitel-Segmentierungen, wiedererkennbare Schauplätze und eine geraffte Chronologie vereint. Wie sehr Cambaceres zusätzlich die Geschichte vereinfacht hat, um die naturalistische Beobachtungssituation andauernd präsent zu halten, zeigt ein knapper inhaltlicher Vergleich der beiden letzten Romane: Auf kaum hundertfünfzig Seiten entfaltet En la sangre ein Aufsteigersujet, in dessen Verlauf 66 Die Geschichte des jeweils nachmittags verkauften Blatts skizziert Tim Duncan, „La prensa política: Sud-América, 1884-1892“, in: Gustavo Ferrari / Ezequiel Gallo (Hg.), La Argentina del ochenta al centenario, Buenos Aires: Ed. Sudamericana 1980, 761-783. Vgl. ferner den Abdruck der im Feuilleton von Sud-América erschienenen Romanbesprechungen bei Espósito et al. (Hg.), El naturalismo en la prensa porteña, 156-206. 67 Mit dieser Wendung und mit ähnlicher Panegyrik preist Sud-América - hier Anfang August 1887 - den „realismo criollo“ in Cambaceres’ neuem Roman an; zitiert nach: Cymerman, Obra política y literaria, 797. Details zur mehrfach verschobenen Veröffentlichung von En la sangre versammeln Gnutzmann, Novela naturalista en Argentina, 126- 128 und Oscar M. Ramírez, „Oligarquía y novela folletín: En la sangre de Eugenio Cambaceres“, in: Ideologies and Literature 4/ 1 (1989), 249-269. 68 Angabe nach: Schlickers, Lado oscuro de la modernización, 69. 69 Bourdieu, Règles de l’art, 356. 70 Espósito (Emergencia de la novela en la Argentina, 122-126) stellt in seiner Entstehungsgeschichte des argentinischen Romans Sud-América unter dem doppelten Blickwinkel eines Literaturorgans und eines nationalistischen Propagandablatts vor. 332 Krisennarrative um 1880 sich der skrupellose Protagonist Genaro Piazza, Spross eines kalabrischstämmigen Kesselflickers, im bonaerenser Establishment einnistet. Trotz schädlichster Anlagen gelingt es Genaro, sukzessive das proletarische Umfeld zu verlassen, qua Betrug zeitweise an der Universität zu bestehen, sich das Vermächtnis seiner Eltern zu ergaunern und nach einer Quasi-Vergewaltigung schließlich die Tochter aus betuchter Familie Máxima zu heiraten, deren Erbe er zuletzt verspekuliert. Abgesehen von kleineren, meist unlauter überwundenen Rückschlägen stellt sich Genaros angeborener Durchtriebenheit, jener „astucia felina de su raza“ (ELS 76), kein wirkliches Hindernis in den Weg. Kein ernst zu nehmender Antagonist, kein offener Konflikt und keine überraschende Peripetie vermögen den rachsüchtigen Emporkömmling aufzuhalten, der im Umkehrschluss den Zerfall der morschen kreolischen Elite vorantreibt. 71 Im Gegensatz zur linearen (Fehl-)Entwicklung, die En la sange nachvollzieht, arbeitet Sin rumbo noch mit nuancierten Kontrast- und Symmetrierelationen, mit leitmotivischen Korrespondenzen 72 sowie mit einem binären, in Vorher und Nachher geteilten Handlungsgerüst. Auf- und Abschwünge des Geschehens und die finale Katastrophe erweisen sich jeweils als Resultate einer dialektisch gegeneinander geführten Erzählökonomie. Nur bedingt sympathischer, doch psychologisch weitaus schillernder als der flat character Genaro - der einzig als mit sich ringender focalizer Tiefenschärfe gewinnt - tritt dabei in Sin rumbo der (Anti-)Held Andrés auf und repräsentiert einerseits gewiss die Heuchelei des argentinischen Großbürgertums. Zum anderen verkörpert er aber den hochsensiblen, genusssüchtigen Décadent, der infiziert vom Spleen abwechselnd der Misanthropie oder den Ausschweifungen der Großstadt anhängt. Zur Gesundung zieht Andrés sich auf sein Landgut zurück, wo er ähnlich hemmungslos wie sein romanesker Nachfolger das Bauernmädchen Donata verführt und schwängert. Nach neuerlichem Rückfall in den urbanen Exzess und schwerer Erkrankung kommt seine Reue zu spät, da selbst intensivste Vatersorgen nicht den Tod der kleinen Tochter (Andrea) verhindern. Andrés’ minutiös geschilderter Suizid markiert den schockierenden Endpunkt der Geschichte - „[u]n chorro de sangre y de excrementos saltó, le ensució la cara, 71 In wechselhaften „peripecias“ ausfabuliert ist dieser Abstieg der kreolischen Oberschicht allerdings kaum, weshalb das Fazit der histoire bei Apter-Cragnolino (Espejos naturalistas, 88) bereits etwas forciert anmutet: „En la sangre adopta el tipo de argumento tópico de la novela naturalista que relata las peripecias de la declinación de una familia en el entretejido de sus condiciones sociales y hereditarias.“ 72 So korreliert etwa das brutale Szenario der Schafschur („esquila“) das erste (SR 77-79) und letzte Romankapitel (SR 233-235) und präfiguriert mithin den finalen Selbstmord des Protagonisten; siehe hierzu Culasso, Geopolíticas de ficción, 62f. Die durchkomponierte Erzählanlage von Sin rumbo resümiert prägnant Matilde Franciulli, „Sin rumbo de Eugenio Cambaceres: La estructura del relato“, in: Revista Canadiense de Estudios Hispánicos 15/ 2 (1991), 191-207. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 333 la ropa“ (SR 234) -, ohne dass damit die aufgebauten Spannungen zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen Vitalismus und Mortalismus, zwischen Gesellschaft und Individuum eliminiert wären. Dergleichen Offenheit sucht man in En la sangre vergebens. Genauso wie die sozioökonomische Sicherheit, die Cambaceres literarästhetisch freie Hand lässt, oder der Distinktionsdruck, der mittlerweile auf dem Markt narrativer Druckerzeugnisse herrscht, so hinterlässt auch das Kommunikationsdispositiv des Feuilletons markante Spuren im Roman: Das schlichte Parvenü-Schema, das dreiundvierzig übersichtliche Kurzkapitel in fünf Ereignisreihen 73 ausbuchstabieren, bleibt allseits zugänglich. Verschwunden sind die ästhetizistischen Digressionen und die nihilistischen, an Schopenhauer gemahnenden Grübeleien, 74 die in Sin rumbo umfängliche intellektuelle und intertextuelle Kenntnisse abverlangten. Im Gegensatz zur melodramatischen Variante des Feuilletonromans verweigert En la sangre zwar jedwede poetische Gerechtigkeit. 75 Statt mit einem versöhnlichen Happy- End schließt der Text mit einem Ausbruch ehelicher Gewalt (ELS 154) oder, wie die frühe Kritik moniert, „con esta desagradable escena, contada por el autor con un naturalismo zolaico de una crudeza de expresiones de bastante mal gusto.“ 76 Doch selbst das abstoßende Finale, das spätere Ausgaben nicht von ungefähr um das vulgäre Lexem „culo“ 77 zensieren, schadet der vergleichs- 73 Ich folge hier dem Gliederungsvorschlag von Rita Gnutzmann (Novela naturalista en Argentina, 126), der zufolge die ersten sechs Kapitel in En la sangre Genaros erbärmliche Kindheit bis zum Tod des Vaters, Kapitel VII bis XVII seine Jugend und Universitätszeit bis zur Abschiebung der kranken Mutter nach Italien, Kapitel XVIII bis XXIV seine sozialen Ambitionen samt deren zwischenzeitlicher Frustration, Kapitel XXV bis XXXV die Eroberung Máximas bis zur erzwungenen Heirat und Kapitel XXXVI bis XLIII schließlich sein brutales Regime als Ehemann schildern. 74 Vgl. Pedro Lasarte, „Misreadings of Arthur Schopenhauer in Sin Rumbo by Eugenio Cambaceres“, in: Sebastian Hüsch (Hg.), Philosophy and Literature and the Crisis of Metaphysics, Würzburg: Königshausen&Neumann 2011, 403-413. 75 Darauf verweist luzide Schlickers (Lado oscuro de la modernización, 149f.), deren konzentrierte Lektüre zu En la sangre (ebd., 141-150) in einen Vergleich mit Zolas (Feuilleton-)Roman Au bonheur des dames (1883) mündet. 76 So urteilt Alberto Navarro Viola in der Besprechung zu En la sangre, die 1888 im Anuario Bibliográfico de la República Argentina erscheint; zitiert nach: Cymerman, Obra política y literaria, 808-810, hier 809. 77 Am Romanende sucht Genaro erfolglos seiner Frau Máxima den letzten Erbteil abzupressen, woraufhin er gewalttätig ihre sexuelle Unterlegenheit ausnutzt. Während der unflätige „culo“ in der Erstausgabe von Sud-América noch erscheint, verschwindet das Lexem in den Folgeeditionen, wie Josefina Ludmer (El cuerpo del delito. Un manual, Buenos Aires: Perfil 1999, 82) und Alejandra Laera (Tiempo vacío de la ficción, 287f.) bemerken. Hier die brutale Schlusseinstellung im Kontext (ELS 154): „- ¿La dueña, dices? de tu plata, pero no de tu… [culo] ¡de eso soy dueño yo! ... Y arrojándose sobre ella y arrancándola del lecho y, por el suelo, a tirones, haciéndola rodar, dejó estampados los cinco dedos de su mano en las carnes de su mujer [...].“ 334 Krisennarrative um 1880 weise leichten Konsumierbarkeit des Romans nicht. Mit aufdringlicher Grausamkeit bindet es noch einmal Emotionspotentiale, die im Primäreindruck zur Geltung kommen und die mithin integraler Bestandteil des Tricks sind, dessen prekäres Ergebnis En la sangre ist: Indem Cambaceres seinen narrativen Reformanspruch als populistische Brandrede camoufliert, vermag er sich anfangs sowohl die Anerkennung der Literaturszene als auch den Zuspruch eines breit(er)en Publikums zu sichern. Das volle, beide Leserschichten erfassende Kalkül lässt dünkelhaft bereits eine der Vorabwerbungen aus Sud-América (am 19. August 1887) durchblicken: „[En la sangre está] destinado a ser gustado por el público selecto en virtud de su alto valor artístico, y por el público grueso - ajeno a los primores de una alta producción literaria - en virtud de la crudeza de los cuadros“ 78 . Im Voraus zu erwarten stand somit aber auch, dass En la sangre im Laufe der Rezeption einer schrittweisen Demaskierung ausgesetzt sein würde. Die professionelle Kritik kam und kommt nicht umhin, den medialen Opportunismus anzuprangern, mit dem Cambaceres symbolisches Kapital und teilweise Talent verspielt, ohne deshalb sogleich zum Propagandaautor herabzusinken. V.5 Transkulturation als Manipulation: Naturalismus und / oder / als Ideologie Die Auswirkungen des partiellen Verrats manifestieren sich vielmehr auf jener Ebene des Romans, die im hiesigen Zusammenhang als transkulturelle Aneignung konzeptualisiert wurde und der Wolfang Matzat in jüngerer Zeit eine konzise Analyse gewidmet hat. 79 Zu präzisieren wäre demnach, inwiefern En la sangre das naturalistische Darstellungs- und Themenset heranzieht, anpasst und dergestalt umfunktioniert, dass es sich für eine finstere Nabelschau der argentinischen Gesellschaft eignet. Die gängigste Hypothese hierzu veranschlagt ein zweiseitiges Procedere, das die Übernahme der französischen Vermittlungsmethode mit einer schlichten Verlegung der Geschichte paart. Anstelle des Niedergangs des Second Empire, den Zola romanesk rekonstruiert, sei es nun das unkontrollierte Wachstum der Metropole Buenos Aires, das Cambaceres als narratives Experimentierfeld ausmesse. Bis zu einem gewissen Grad ist der Befund, dem gemäß - intertextualitätstheoretisch gesprochen - syntagmatisch dichte „Strukturalität“ auf modifizierte „Referentialität“ 80 trifft, auch nicht von der Hand zu 78 Hier zitiert nach: Laera, Tiempo vacío de la ficción, 63. 79 Vgl. Wolfgang Matzat, „Transculturación del naturalismo en la novela argentina. En la sangre de Eugenio Cambaceres“, in: Folger / Leopold (Hg.), Escribiendo la Independencia, 301-316. 80 So nochmals zwei der sechs „qualitativen Kriterien für die Intensität intertextueller Verweise“ bei Pfister, „Konzepte der Intertextualität“, 26ff. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 335 weisen. Die Schlussfolgerungen fallen jedoch eher bescheiden aus und wiederholen sich regelmäßig: Monothematisch kaprizieren sie sich auf die Problematik der aus den Fugen geratenen Massenimmigration, die En la sangre als Grundübel eines bedrohten Gemeinwesens denunziere. 81 In seinem letzten Roman, so der Tenor vieler Interpretationen, ge- und missbrauche Cambaceres die naturalistische Diagnostik, um die Einwanderer zu Sündenböcken zu stilisieren, deren Opferung - René Girards Anthropologie entsprechend 82 - die Gefahr sozialer Entdifferenzierung bannen und die kreolisch dominierte Hierarchie wiederherstellen soll. Nur nebenbei vermerkt sei, dass der Opfermechanismus in Cambaceres’ Konstellation gründlich fehlschlägt. Statt der Reinigung der Gesellschaft, die man als Telos unterstellt, beschwört der Plot von En la sangre allererst eine ‚sakrifizielle Krise‘ 83 herauf, in welcher der bouc émissaire den Spieß umdreht und sich gegen seine Henker wendet. Schließlich ist es am Ende der minderprivilegierte Immigrantensohn Genaro, der zumindest im Verhältnis der beteiligten Figuren triumphiert und sexuelle wie materielle Ressourcen der Oberschicht plündert. Zunächst von Belang ist aber nur die Annahme, dass Cambaceres Zolas republikanischen Fortschrittsglauben ins ultrakonservative Gegenteil verkehrt und die vitalistische Matrix des Rougon-Macquart-Zyklus 84 zum rassistischen Biologismus umdeklariert. Das entspräche sowohl der tagespolitischen Stimmung als auch dem wissensgeschichtlichen Trend, der gegen Jahrhundertende in Argentinien ähnlich beunruhigende Auswüchse treibt wie in Europa. Hochgradig ideologisierte Ausprägungen des Sozialdarwinismus und des Positivismus, wie sie Arthur de Gobineau mit seinem Essai sur l’inégalité des races humaines (1853/ 55), Cesare Lombrosos pseudo-genetische Kriminologie - L’uomo delinquente datiert aus dem Jahr 1876 - oder Gustave Le Bons Massenpsychologie - am bekanntesten sollte die Psychologie des foules (1895) werden - 81 Ideologiekritische Positionen in dieser Richtung vertreten etwa Jitrik, „Cambaceres: adentro y afuera“, 129; Cymerman, Obra política y literaria, 475ff.; Gnutzmann, La novela naturalista en Argentina, 137f. 82 Vgl. dazu die kulturgeschichtlichen Ausführungen bei René Girard, Le bouc émissaire, Paris: Grasset 1985, bes. 25ff. und Ders., La violence et le sacré, Paris: Grasset 1972, 13ff. 83 Girard, La violence et le sacré, 63ff. 84 Im Anschluss an Foucaults Diskursarchäologie (Naissance de la clinique [1963], Paris: Gallimard 5 1997, 146ff.), die eine Koexistenz von Vitalismus und Mortalismus im Wissenshorizont des 19. Jahrhunderts annimmt, diskutieren Zolas exzessive Imagination einschlägig Warning, „Kompensatorische Bilder einer ‚wilden Ontologie‘“, 240- 268 und Thomas Stöber, Vitalistische Energetik und literarische Transgression im französischen Realismus-Naturalismus. Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola, Tübingen: Narr 2006, 117-148. Am Beispiel von La bête humaine (1890) extrapoliert bereits Gilles Deleuze („Zola et la fêlure“, in: Ders., Logique du sens, Paris: Minuit 1969, 373-386) den freudianischen Todestrieb als geheimes Movens in Zolas Romanzyklus. Treffsicher resümiert Matzat („Transculturación del naturalismo“, 310f.) die Distanz, die En la sangre vom epistemologischen und soziologischen Fundament der Rougon-Macquart trennt. 336 Krisennarrative um 1880 liefern, sind in Buenos Aires längst Gesprächsstoff. Sie finden in medizinischen, psychiatrischen und sozialphilosophischen Diskursen breiten Anklang, wovon die aus heutiger Sicht dubiosen Essays eines José María Ramos Mejía (u.a. Las multitudes argentinas, 1899), Carlos Octavio Bunge (u.a. Nuestra América: Ensayo de psicología social, 1903) oder José Ingenieros (u.a. La psicopatología en el arte, 1902) zeugen. 85 Auch der literarische Niederschlag lässt nicht lange auf sich warten, weshalb Cambaceres keineswegs der erste ist, der sich narrativ der mehrheitlich aus Italien stammenden Migranten annimmt. 86 Bereits 1884 legt der Arzt Juan Antonio Argerich mit ¿Inocentes o culpables? einen Roman vor, der unter dem Deckmantel einer novela naturalista - so der Titelzusatz - gegen eine „inmigración inferior“ 87 polemisiert. Greller noch als Argerichs Diatribe fällt gleichwohl die Überzeichnung aus, mit der drei Jahre später En la sangre die Axiome des Experimentalromans für eine bedenkliche, wiewohl modische Verhandlung des Stoffs in Dienst nimmt. Es genügt, drei dieser Parameter näher ins Auge zu fassen, weil allein sie reichlich Anlass zu Infragestellungen und Relativierungen geben. Exemplarisch indizieren sie Cambaceres’ Unentschiedenheit zwischen sensationsheischendem Feuilletonroman und dem Anliegen, En la 85 Angesichts der Panoramen bei Gnutzmann (Novela naturalista en Argentina, 46-57), Schlickers (Lado oscuro de la modernización, 86-101) und Nouzeilles (Ficciones somáticas, 35-58) verzichte ich auf die Präsentation argentinischer Spielarten des Biologismus. Verwiesen sei ferner auf die detaillierte Studie zur Medizin- und Sexualgeschichte von Jorge Salessi, Médicos maleantes y maricas: Higiene, criminología y homosexualidad en la construcción de la nación argentina (Buenos Aires, 1871-1914), Rosario: Viterbo 1995. 86 Oft verarmte (Süd-)Italiener machen Ende des 19. Jahrhunderts 50% der Immigranten in Argentinien aus. Diese lassen sich hauptsächlich in Buenos Aires nieder, so dass vor der scharfen Ley de Residencia (1902) fast die Hälfte der Bevölkerung in der Kapitale Einwanderer sind. Zur Geschichte der Immigration, der Argentinien gleichzeitig einen ökonomischen Aufschwung verdankt, siehe Tulio Halperin Donghi, „¿Para qué la inmigración? Ideología y política inmigratoria y aceleración del proceso modernizador: el caso argentino (1810-1914)“, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 13 (1976), 437-489; Fernando Devoto, Historia de la inmigración en la Argentina, Buenos Aires: Ed. Sudamericana 2003 sowie speziell zur italienischen Einwanderung Alberto Sarramone, Nuestros abuelos italianos: Inmigración italiana en la Argentina, Buenos Aires: Ediciones B 2010. 87 So eine Formulierung aus Argerichs programmatischem Prolog (¿Inocentes o culpables? [1884], Buenos Aires: Hyspamérica 1984, IV). Es existiert eine umfangreiche Forschung zur Migration und deren Figuren in der argentinischen Erzählliteratur; genannt seien Evelyn Fishburn, The Portrayal of Immigration in Nineteenth Century Argentine Fiction (1845-1902), Berlin: Colloquium Verlag 1981, 70ff. (zu En la sangre); Glady S. Onega, La inmigración en la literatura argentina (1880-1910) [1965], Buenos Aires: Centro Edidtor de América Latina 1982, 48ff. (zu En la sangre); María Graciela Villanueva, „Metamorfosis de la imagen del extranjero en las novelas de Eugenio Cambaceres“, in: Río de la Plata 17/ 18 (1996-97), 487-497 sowie Dies., „La imagen del inmigrante en la literatura argentina entre 1880 y 1910“, in: Les Cahiers ALHIM 1 (2000), URL: http: / / alhim.revues.org/ 90 (abgerufen am 4.10.2016). Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 337 sangre als literarisches Ereignis in Zolas Nachfolge zu profilieren. Denn anders als zuweilen behauptet, 88 ist der orthodoxe Naturalismus nicht einfach durchsichtiger Vorwand für fremdenfeindliche Agitation, sondern bildet das entscheidende Fragment in einem mehr schlecht als recht zusammengesetzten Erzählmosaik. V.5.1 „El dedo de la fatalidad“: Moralischer Determinismus? Vor diesem Hintergrund ist wohl auch zweitrangig, welchem Aspekt der naturalistischen Agenda Cambaceres den Vorrang in seinem Roman einräumt. Am prominentesten, da lexematisch kontinuierlich markiert hebt sich sicherlich die spekulative Vererbungslehre ab, die Zola dem Traité de l’hérédité naturelle (1847-1859) des Docteur Lucas entnahm und die En la sangre unverzüglich im Titel ankündigt. Was der - schon namentlich diskreditierte 89 - Anti-Held Genaro ‚im Blut‘ hat, verheißt wahrlich nichts Gutes: Vom Vater, einem gefühllosen Handwerker sowie gemeinen Verwandten des Zola‘schen Immobilienmaklers und Geldschneiders Aristide Saccard 90 , kommen auf ihn einerseits physiognomische Eigenschaften wie eine fiese Visage „[d]e cabeza grande, de facciones chatas, ganchuda la nariz, saliente el labio inferior“ (ELS 51). Anatomisch gesellt sich dazu die rachitische Konstitution der kränklichen, den Sohn verhätschelnden Mutter. Äußerlich mithin als „haraposo y raquítico, con la marca de la anemia en el semblante“ (ELS 53) gezeichnet, verdankt Genaro seinem Erzeuger andererseits eine sittliche Verrohung, die als angeborener Defekt jegliche se- 88 Die These vertreten in argumentativer Abschattung Aída Apter-Cragnolino, „Ortodoxia naturalista, inmigración y racismo en En la sangre de Eugenio Cambaceres“, in: Cuadernos Americanos 14/ 3 (1989), 46-55 oder Giuseppe Bellini, „Eugenio Cambaceres o el naturalismo como pretexto“, in: Eugenio Suárez Galbán (Hg.), La ínsula sin nombre: homenaje a Nilita Vientós Gastón, José Luis Cano y Enrique Canito, Madrid: Orígenes 1990, 69-80. Eine avancierte Lektüre des Romans im wissensgeschichtlichen Kontext des Sozialdarwinismus findet sich bei Elisabeth L. Austin, „Darwin’s Monsters and the Politics of Race in Eugenio Cambaceres’s En la sangre (1887)“, in: Symposium 67/ 4 (2013), 175-188. 89 Im Zusammenhang des Erbdeterminismus kommt dem Namen als symbolischer Transkription des im Romantitel beschworenen ‚Blutes‘ eine herausragende Bedeutung zu. Aufgrund seiner hereditären Deklassierung verflucht der Protagonist stetig „su nombre, su oscuro, su desconocido nombre, el nombre ‚del hijo del gringo tachero‘“ (ELS 85). Der Ruf des kalabrischen Taugenichts haftet Genaro Piazza schon per Eigennamen an, welcher - neben dem fiktionsinternen genetischen - Stigma auf den Schutzpatron Neapels San Gennaro (Januarius) verweist. Dessen Legende gründet sich bezeichnenderweise auf die wiederkehrende Verflüssigung seines nach der Enthauptung getrockneten Blutes. 90 Zum Psychogramm des habgierigen, ebenfalls namentlich gezeichneten Saccard siehe den zweiten und achtzehnten Roman des Rougon-Macquart-Zyklus: Émile Zola, La curée [1872], hg. von Henri Mitterand, Paris: Gallimard/ Folio 1981 und L’argent [1891], hg. von Henri Mitterand, Paris: Gallimard/ Folio 1980. 338 Krisennarrative um 1880 riöse Genetik dementiert. Die ‚Raffgier des Geiers‘ (ELS 51), die vom ersten Satz an die väterlichen Gesichtszüge verzerrt, schlägt voll auf den Sohn durch, der Gewinnstreben und Egoismus in gesteigerter, da mit Faulheit, mangelnder Intelligenz und Selbsthass gepaarter Form ausagiert. Die Charakterologie, die En la sangre zeichnet, erscheint derart negativ und dick aufgetragen, dass vermeintlich hereditäre Prädispositionen mühelos als pauschale Diskriminierungen kenntlich werden. Genaro, so der Eindruck, repräsentiert den Prototyp des geborenen Verbrechers, den Lombroso und andere selbst ernannte Kriminalanthropologen der Zeit wissenschaftlich zu beschreiben meinen. 91 In Personalunion verkörpert Cambaceres’ Kreatur all das Monströse, was in den Abgründen des Menschen schlummert und was Zola in verschiedentlich dosierten „profondeurs de la vie“ 92 auf sein vielgestaltiges Figurenkarussell verteilt. Umso mehr erstaunt es, dass Genaro - anders als etliche familiär vorbelastete Rougon-Macquarts - über seine Degeneration vollauf im Bilde ist. Es will nicht recht zu seiner widerwärtig-dumpfen Erscheinung passen, dass der Protagonist den Ursprung des Übels eigens ergründet und bereits im Jugendalter ausgiebig bedauert. Angesichts des Spotts, den er sich im elitären Umfeld der Universität zuzieht, stimmt er unter anderem folgende Klage an (ELS 72), die kurz darauf in offene Aggression, in einen generalisierten „sentimiento de odio“ (ELS 73) umschlagen wird: Y víctima de las sugestiones imperiosas de la sangre, de la irresistible influencia hereditaria, del patrimonio de la raza que fatalmente con la vida, al ver la luz, le fuera transmitido, las malas, las bajas pasiones de la humanidad hicieron de pronto explosión en su alma. ¿Por qué el desdén al nombre de su padre recaía sobre él, por qué había sido arrojado al mundo marcado de antemano por el dedo de la fatalidad, condenado a ser menos que los demás, nacido de un ente despreciable, de un napolitano degradado y ruin? ¿Qué culpa tenía él de que le hubiese tocado eso en suerte para que así lo deprimieran los otros, para que se gozasen en estarlo zahiriendo, reprochándole su origen como un acto ignominioso, enrostrándole la vergüenza y el ridículo de ser hijo de un tachero? 91 In einer nuancierten Interpretation zeigt Nouzeilles (Ficciones somáticas, 165-181), inwiefern sich En la sangre als biologistische Delinquenz-Studie und „texto policial“ lesen lässt. Den diskursiven Kontext, in dem Genaros romaneske Kriminalisierung steht, umreißt auch Salessi, Médicos maleantes y maricas, 134f. 92 So Zolas Wendung im „Premier plan remis à Lacroix“ (1869) des Rougon-Macquart- Projekts: „Fouiller en un mot au vif même du drame humain, dans ces profondeurs de la vie où s’élaborent les grandes vertus et les grands crimes, et y fouiller d’une façon méthodique, conduit par le fil des nouvelles découvertes physiologiques.“ (Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire, hg. von Armand Lanoux, Bd. 5, Paris: Gallimard 1978, 1755). Das facettenreiche Figureninventar der Rougon-Macquart systematisiert Philippe Hamon, Le personnel du roman. Le système des personnages dans les „Rougon-Macquart“ d’Émile Zola, Genève: Droz 1983. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 339 Was der Erzähler vorab als Ausbruch ‚niederster Triebe‘ abkanzelt, nimmt sich in der figuralen Gedankenrede als Selbstmitleid aus, welches sämtliche Schuld für die eigene Verkommenheit der wertlosen väterlichen Erbmasse zuschiebt. Das ist zwar weder sympathisch noch entspricht es genau betrachtet der naturalistischen Doktrin. Gleichwohl zeugt es von einer erstaunlichen Bewusstheit, die Genaro fortan erlauben wird, sich und seine Umwelt treffsicher, d.h. stets zum eigenen Vorteil zu taxieren. Indem er sich von Geburt an aber auch mit dem „dedo de la fatalidad“ geschlagen wähnt, widerlegt er postwendend die verfluchte (Bio-)Logik der Abstammung. Die scheinbar äußerste Konsequenz physiologischer Erkenntnis entpuppt sich in En la sangre als Inkonsequenz. Ungehört bleibt hier Zolas ausdrückliche, mit seinem wichtigsten Gewährsmann Claude Bernard vorgetragene Mahnung, wissenschaftlichen Determinismus keinesfalls mit metaphysisch waltendem Fatalismus zu verwechseln. Für den „romancier expérimentateur“ gilt nämlich diesbezüglich: Et j’arrive ainsi au gros reproche dont on croit accabler les romanciers naturalistes en les traitant de fatalistes. Que de fois on a voulu nous prouver que, du moment où nous n’acceptions pas le libre arbitre, du moment où l’homme n’était plus pour nous qu’une machine animale agissant sous l’influence de l’hérédité et des milieux, nous tombions à un fatalisme grossier, nous ravalions l’humanité au rang d’un troupeau marchant sous le bâton de la destinée! Il faut préciser: nous ne sommes pas fatalistes, nous sommes déterministes, ce qui n’est point la même chose. Claude Bernard explique très bien les deux termes: „Nous avons donné le nom de déterminisme à la cause prochaine ou déterminante des phénomènes. Nous n’agissons jamais sur l’essence des phénomènes de la nature, mais seulement sur leur déterminisme, et par cela seul que nous agissons sur lui, le déterminisme diffère du fatalisme sur lequel on ne saurait agir. Le fatalisme suppose la manifestation nécessaire d’un phénomène indépendant de ses conditions, tandis que le déterminisme est la condition nécessaire d’un phénomène dont la manifestation n’est pas forcée. […]“ 93 Es kann an dieser Stelle getrost übergangen werden, dass Zolas romaneske Imagination selbst die Maxime naturgesetzlichen Erzählens oftmals überschießt und ins Mythische überwechselt. Dergleichen produktive Abweichungen finden in En la sangre wenig Widerhall. Um der stärkeren Wirkung willen setzt Cambaceres das oben inkriminierte ‚Vermächtnis der Rasse‘ („patrimonio de la raza“) mit einem unvordenklichen Verhängnis gleich, gegen das keine soziale Mobilität und keine noch so insistente Willenskraft des Individuums ankommen. Ein weiteres, in erlebter Rede gehaltenes Lamento aus dem sechzehnten Kapitel illustriert die Unerbittlichkeit eines Schicksals, das in En la sangre 93 Zola, „Le roman expérimental“, 26. 340 Krisennarrative um 1880 ein ums andere Mal den eingeforderten genetischen Positivismus überformt (ELS 91): Y habría querido él no ser así, sin embargo, había intentado cambiar, modificarse, día a día no se cansaba de hacer los más sinceros, los más serios, los más solemnes propósitos de enmienda y de reforma; sí, a la par que de vergüenza, en el hondo sentimiento de desprecio que a sí mismo se inspirara, con las ansias por vivir de quien siente que se ahoga, no había cesado de agitarse, de debatirse desesperado en esa lucha; sí, a todo el ardor de su voluntad, a todo el contingente de su esfuerzo, mil veces había apelado... inspirarse, retemplarse, redimirse en el ejemplo de lo bueno, de lo puro, de lo noble, que en torno suyo veía, resistir, sobreponerse a esa ingénita tendencia que lo impulsaba al mal... ¡Vana tarea! ... Obraba en él con la inmutable fijeza de las eternas leyes, era fatal, inevitable, como la caída de un cuerpo, como el transcurso del tiempo, estaba en su sangre eso, constitucional, inveterado, le venía de casta como el color de la piel, le había sido transmitido por herencia, de padre a hijo, como de padres a hijos se transmite el virus venenoso de la sífilis... Das ‚Gute, Reine und Edle‘ bleibt für Genaro a priori unerreichbar, mag er sich noch so sehr danach verzehren. Da ihm die Besserung seiner minderwertigen Persönlichkeit kraft Fatum verwehrt ist, müssen alle Vorsätze der Läuterung scheitern und früher oder später den ‚ehernen Gesetzen‘ des Blutes unterliegen. Doch, anders als das vergleichende Syntagma glauben macht, bringen diese in En la sangre gerade keinen pathophysiologischen „virus venenoso de la sífilis“, 94 keine nachweisbare „lésion organique“ zum Ausbruch, wie sie Zolas Roman-Familie seit der ersten Generation anhaftet. 95 Stattdessen pflanzen sie Cambaceres’ Protagonist eine „ingénita tendencia […] al mal“, eine ‚angeborene Neigung zum Bösen‘ ein, die ihn als moralische Erblast begleiten, zur Unmenschlichkeit anstacheln und notwendigerweise in die Delinquenz treiben wird. 94 Die Tatsache, dass Syphilis nur bedingt genetisch übertragen wird - das heißt von der schwangeren Mutter auf das Kind übergehen kann, statt direkt das Genom zu verändern - und obendrein ein Bakterium ist, lässt Cambaceres’ Bild des ‚syphilitischen Virus‘ aus heutiger Sicht noch unglaubwürdiger erscheinen. 95 Erinnert sei an Zolas berühmte Vorstellung der Familie (1870) im „Préface“ des ersten Rougon-Macquart-Romans La fortune des Rougon (hg. von Henri Mitterand, Paris: Folio/ Gallimard 1981, 23): „Les Rougon-Macquart, le groupe, la famille que je me propose d’étudier, a pour caractéristique le débordement des appétits, le large soulèvement de notre âge, qui se rue aux jouissances. Physiologiquement, ils sont la lente succession des accidents nerveux et sanguins qui se déclarent dans une race, à la suite d’une première lésion organique, et qui déterminent, selon les milieux, chez chacun des individus de cette race, les sentiments, les désirs, les passions, toutes les manifestations humaines, naturelles et instinctives, dont les produits prennent les noms convenus de vertus et de vices.“ Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 341 V.5.2 Durchlässige Milieus Dennoch soll die „constante exacerbación de su moral“ (ELS 77), die Genaro von höherer Macht in die Wiege gelegt ist, nicht ausschließlich auf Kosten der „irresistible influencia hereditaria“ (ELS 72) gehen. Als beschlagener Naturalist, der sein ganzes Können unter Beweis stellen will, sucht Cambaceres selbstverständlich auch das zweite Konstituens positivistischer Anthropologie, den Milieueffekt in En la sangre geltend zu machen. Der „travail réciproque de la société sur l’individu et de l’individu sur la société“ 96 , der damit in Frage steht, lässt sich zuallererst an den elenden Lebensumständen nachvollziehen, in denen Genaro fernab familiärer Geborgenheit aufwächst. Seine „precoz y ya profunda corrupción“ (ELS 54) nimmt ihren Anfang in den sogenannten conventillos, Hinterhofhäuser, in denen italienische Einwanderer - viehgleich zusammengepfercht und seuchengefährdet 97 - hausen müssen. Die „tranquila animalidad de aquel humano hacinamiento“ (ELS 52), die hier untergebracht ist, veranlasst En la sangre allerdings nicht zu detaillierten Schilderungen, wie Zola sie etwa in Germinal oder L’assommoir den proletarischen Lebensräumen widmet. 98 Cambaceres beschränkt sich auf einige magere, vor Hygienismus strotzende Skizzenstriche in den ersten beiden Kapiteln. 99 Immerhin etwas mehr Beachtung findet der menschliche Umgang, den der kleine Genaro pflegt und der ihn von Kindesbeinen an pervertiert. Mit kaum fünf Jahren tritt er eine schulmäßige Kriminellenlaufbahn an, indem er sich zunächst einer Bande („pandilla“) von Straßenkindern anschließt, die sich zum Rauchen, Trinken, Stehlen sowie gemäß elterlichem Vorbild zu frühreifen sexuellen Versuchen zusammenrottet. Fasziniert und alar- 96 Zola, „Le roman expérimental“, 19. Andernorts in der Programmschrift (ebd., 26f.) verknüpft Zola unmittelbar Erb- und Milieutheorie: „Le circulus social est identique au circulus vital: dans la société comme dans le corps humain, il existe une solidarité qui lie les différents membres, les différents organes entre eux, de telle sorte que, si un organe se pourrit, beaucoup d’autres sont atteints, et qu’une maladie très complexe se déclare. Dès lors, dans nos romans, lorsque nous expérimentons sur une plaie grave qui empoisonne la société, nous procédons comme le médecin expérimentateur, nous tâchons de trouver le déterminisme simple initial, pour arriver ensuite au déterminisme complexe dont l’action a suivi.“ 97 So führt beispielsweise die große Gelbfieber-Epidemie des Jahres 1871 dazu, dass die Armenviertel von Buenos Aires zunehmend in den Süden der Stadt abgedrängt werden. Inwiefern die conventillos zu Brennpunkten hygienistischer Debatten und polizeilicher Kampagnen werden, rekonstruiert im historischen Rahmen Salessi, Médicos maleantes y maricas, 76ff. 98 Den deskriptiven Leerstellen in En la sange wendet sich weiter unten Passus V.6.1 zu. 99 Zur elenden Mietskaserne, in der Genaro geboren wird, heißt es gleich zu Anfang des Romans (ELS 51): „Dos hileras de cuartos de pared de tabla y techo de cinc, semejantes a los nichos de algún inmenso palomar, bordeaban el patio angosto y largo. Acá y allá entre las basuras del suelo, inmundo, ardía el fuego de un brasero, humeaba una olla, chirriaba la grasa de una sartén [...].“ 342 Krisennarrative um 1880 miert zugleich beleuchtet der heterodiegetische Erzähler diesen Fall von „imitación social“ 100 (ELS 54): Como murciélagos que ganan el refugio de sus nichos, a dormir, a jugar, antes que acabara el sueño por rendirlos, tirábanse en fin acá y allá, por los rincones. Jugaban a los hombres y las mujeres; hacían de ellos los más grandes, de ellas los más pequeños, y, como en un manto de vergüenza, envueltos entre tinieblas, contagiados por el veneno del vicio hasta lo íntimo del alma, de a dos por el suelo, revolcándose se ensayaban en imitar el ejemplo de sus padres, parodiaban las escenas de los cuartos redondos de conventillo con todos los secretos refinamientos de una precoz y ya profunda corrupción. Die evozierte Halb- und Unterwelt, in der sich bereits die Jüngsten herumtreiben, steht augenscheinlich für die Misere, die die überstürzte Urbanisierung im Zuge der demographischen Explosion verschuldet hat. Streiten lässt sich indes über die dokumentarische Sachlichkeit solcher Einlassungen, in denen Cambaceres - hier mit den jugendlichen „murciélagos“, die sich unzüchtig in ihren „nichos“ verbergen - eine Atmosphäre des Primitiven und Schlüpfrigen kreiert, die er gleichzeitig mit klassenfernen Attributen konterkariert. Was sich in den beengten Armenbehausungen, in den genannten „cuartos redondos de conventillo“ sexuell abspielt, hat wenig mit den ‚geheimen Finessen‘ („secretos refinamientos“) eines Liebesspiels zu tun, das eher an materiell saturierte Dekadenz gemahnt. Letzterer gilt denn auch der eigentliche Fokus der narrativen Soziologie in En la sangre. Das städtische Großbürgertum, in das sich der „parasit[o]“ (ELS 75) Genaro einzuschleichen gedenkt, führt dem italienischen „gringo“ (ELS 73) zumindest anfangs aber die Illegitimität seines Karrierestrebens vor Augen: Sei es, dass ihn betuchte Studiengenossen als „hijo de un tachero“ (ELS 72) verhöhnen; sei es, dass man ihm die heißersehnte Aufnahme in den Renommiersalon des Club del Progreso 101 verwehrt (Kapitel XXI- XXIII, ELS 101-109); oder dass ihn die feine Gesellschaft mitsamt der umworbenen Máxima im Teatro Colón zunächst geflissentlich übersieht (Kapitel XIX, ELS 96-98). Derlei Diffamierungen schüren umso mehr Genaros revanchistische Gelüste - „el rencor, la envidia, el odio, la venganza“ (ELS 78) -, die sich schließlich in einem manischen Ehrgeiz Bahn brechen. Diesem hat das vermeintliche Bollwerk der Oligarchie nichts entgegenzuset- 100 Unter dem treffenden Lemma subsumiert Nouzeilles (Ficciones somáticas, 168) Genaros milieubedingten Einstieg in die Delinquenz. 101 Man erinnere sich, dass Cambaceres in den 1870er Jahren kurzzeitig selbst dem prestigereichen Club del Progreso in führender Position angehört, weshalb die bissige Darstellung in En la sangre umso pikanter erscheint. Die autobiographischen Substrate in En la sangre inventarisiert Claude Cymerman, Obra política y literaria, 487f. sowie kurz am Ende seines Beitrags „Lo autobiográfico en la narrativa cambaceriana“, in: José M. Ruano de la Haza (Hg.), Estudios sobre literatura argentina. In memoriam Rodolfo A. Borello, Ottawa: Dovehouse Ed. Canada 2000, 61-86. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 343 zen; und mit einem Mal schwinden die Standesbarrieren und zeigt sich die Hautevolée von ihrer wohlmeinendsten Seite. In Gestalt von Máximas Familie nimmt man den namenlosen Emporkömmling herzlich auf. Ja man gewährt Genaro sogar großzügig Umgang mit der heiratsfähigen Tochter, ohne zu wittern, dass hier jemand ein falsches Spiel treibt und einzig sein selbstsüchtiges Bedürfnis nach Anerkennung stillt. Wie sich der in Máximas Eltern personifizierte Gesinnungswandel einer ganzen Gesellschaftsklasse vollzieht, bleibt ebenso im Dunkeln wie der plötzliche Ausfall diaphasischer und diastratischer Handicaps, die dem radebrechenden Kalabrier bisher zusetzten. Denn um dem naturalistischen Credo auch linguistisch gerecht zu werden - wie Zola es beispielsweise mit der Verwendung rotwelscher Elemente (langue verte) in L’assommoir vormacht -, lässt Cambaceres seine Figuren zunächst häufig koloquial, im Argot der porteños, dem lunfardo, und im cocoliche, 102 der literarisierten Kontaktvarietät italienischer Einwanderer, kommunizieren. Kaum hat sich Genaro Zugang zu den besseren Kreisen verschafft, verschwindet indes die Mündlichkeitsfiktion und der Protagonist bedient sich mühelos eines geschliffenen Sprach- und Verhaltenskodex, der in En la sangre wie in Cambaceres’ anderen Romanen einen stark französischen Einschlag verrät. Nichts in der Geschichte motiviert schlüssig, warum und wie auf einmal die Exklusionsmechanismen durchlässig werden und worauf sich die neue Mobilität gründet. Ohne ersichtlichen Umschwung tut sich darin stattdessen der zielstrebige Weg eines Parvenüs auf, der über soziale Grenzen, über emotionale wie moralische Hemmungen und, falls nötig, über Leichen geht. V.5.3 Erlebte Rede als gespaltene Rede Die Erklärungsnöte und Leerstellen häufen sich, sobald man den Blickwinkel modifiziert und das Dargestellte aus der Perspektive der Darstellung betrachtet. Als drittes Markenzeichen naturalistischen Erzählens tritt in En la sangre nämlich die „Objektivitätsillusion“ 103 der Narration hervor, die sich oftmals unter der Trias von impersonnalité, impassibilité und impartialité 104 subsumiert findet und die Zola als „désintéressement“ 105 weitgehend 102 Es handelt sich - verkürzt gesagt - um eine alltagssprachliche, zumeist despektierlich nachgeahmte Hybridisierung des argentinischen Spanisch mit italienischen Morphem- und Syntaxstrukturen. Siehe nur die literaturorientierten Erläuterungen bei Rolf Kailuweit, „Spanisch und Italienisch im Spiegel der argentinischen Literatur um 1900. Varietäten- und medientheoretische Überlegungen“, in: PhiN 27 (2004), 47-66 und Markus Klaus Schäffauer, scriptOralität in der argentinischen Literatur. Funktionswandel literarischer Mündlichkeit in Realismus, Avantgarde und Post-Avantgarde (1890- 1960), Frankfurt/ Main: Iberoamericana/ Vervuert 1998, bes. 166ff. 103 Joachim Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet, Stuttgart: Steiner 1987, 111ff. 104 Die Begriffstrias ergibt sich aus diversen Äußerungen in Flauberts Korrespondenz; konzeptualisiert hat sie etwa Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der 344 Krisennarrative um 1880 deckungsgleich vom Mentor Flaubert übernimmt. Angestrebt ist damit sowohl die Unsichtbarkeit eines gottähnlichen Autors 106 als auch der Rückzug eines unbeteiligten Erzählers, wobei die potentielle Verstrickung beider Instanzen hier vernachlässigt sei. Es mag die schlichte Feststellung genügen, dass die Minimierung extradiegetischer Äußerungsanteile einen Vorrang interner Fokalisierung bedingt, den Cambaceres - getreu dem französischen Anschauungsmaterial - in En la sangre wie zuvor schon in Sin rumbo konsequent umsetzt. Zugunsten der proklamierten Enthaltsamkeit konturiert er in seinem letzten Roman die Innensicht des hereditär wie sozial gezeichneten Protagonisten, was im Fall des monströsen Genaro aber zu erheblichen Unstimmigkeiten führt. Diese manifestieren sich hauptsächlich im discours indirect libre, den Cambaceres nicht selten überstrapaziert, zumal er darin auch Analepsen, vergangene Ereignisse oder Dialogsequenzen einflicht. Im Ganzen verunklart der aufdringliche Gebrauch erlebter (Gedanken-)Rede die Verantwortlichkeiten, die Erzähler und Protagonist für Gesagtes, Gefühltes und Gedachtes tragen. So entstehen Michail Bachtins Formulierung zufolge „hybride Konstruktionen mit zwei Akzenten und zwei Stilen“ 107 , die in En la sangre nicht ohne Weiteres als implizite Korrektur oder Zurückweisung der figuralen abendländischen Literatur [1946] Bern/ München: Francke 1971, 449: „[B]ei Flaubert wird der Realismus unparteiisch, unpersönlich und sachlich.“ 105 „Le romancier naturaliste affecte de disparaître complètement derrière l’action qu’il raconte. Il est le metteur en scène caché du drame. Jamais il ne se montre au bout d’une phrase. On ne l’entend ni rire ni pleurer avec ses personnages, pas plus qu’il ne se permet de juger leurs actes. C’est même cet apparent désintéressement qui est le trait le plus distinctif.“ (Émile Zola, „Gustave Flaubert: L’Écrivain“ [1875], in: Ders, Le roman naturaliste: Anthologie, hg. von Henri Mitterand, Paris: Poche 1999, 55f.). 106 Das prominente Credo entstammt einem Brief an Louise Colet vom 9. Dezember 1852: „L’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout, et visible nulle part. L’art étant une seconde nature, le créateur de cette nature-là doit agir par des procédés analogues: que l’on sente dans tous les atomes, à tous les aspects, une impassibilité cachée et infinie.“ In einem Brief an Mlle Leroyer Chantepie vom 18. März 1857 formuliert Flaubert ähnlich: „Madame Bovary n’a rien de vrai. C’est une histoire totalement inventée; je n’y ai rien mis ni de mes sentiments ni de mon existence. L’illusion (s’il y en a une) vient au contraire de l’impersonnalité de l’œuvre. C’est un de mes principes, qu’il ne faut pas s’écrire. L’artiste doit être dans son œuvre comme Dieu dans la création, invisible et tout-puissant; qu’on le sente partout, mais qu’on ne le voie pas.“ (Beide Zitate: Gustave Flaubert, Correspondance II: juillet 1851 - décembre 1858, hg. von Jean Bruneau, Paris: Gallimard 1980, 204/ 691). 107 Bachtin, Ästhetik des Wortes („Das Wort im Roman“), 195. Eine hybride Konstruktion ist mithin eine Äußerung (ebd.), „die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ‚Sprachen‘, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Äußerungen, Stilen, Sprachen und Horizonten gibt es, wie wir wiederholen, keine formale - kompositorische und syntaktische - Grenze; die Unterteilung der Stimmen und Sprachen verläuft innerhalb eines syntaktischen Ganzen […].“ Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 345 Weltsicht zu verrechnen sind. Die Überlagerung narrativer Stimmen lässt sich nicht schematisch auflösen, 108 indem man dem subalternen italienischstämmigen Anti-Helden kurzerhand eine kreolische Erzählinstanz überordnet. Gerade mit Fortgang des Geschehens ist die statische Hierarchie nicht zu halten, da das scheinbar dominante telling mehr und mehr in den Hintergrund tritt, bisweilen verstummt und ganze Kapitel Genaros Introspektion überlassen muss. Der Abgleich zweier Textpassagen, die beide größtenteils im estilo indirecto libre verfasst sind, jedoch verschiedene Grade auktorialer Kommentierung aufweisen, kann zur Illustration dienen. 109 Die Enttäuschung über die verwehrte Aufnahme in den Club del Progreso, der Genaro in einer Tirade gegen die selbsternannte „aristocracia [criolla]“ (ELS 109) Luft macht, kanalisiert hier noch eine vorgeschaltete Erzählerintervention, die den Wutausbruch als „bajo estallido de odios“ (ELS 108) in Verruf bringt (ELS 108f.): ¡Quién los veía, quién los oía a ellos, a todos... de dónde procedían, de dónde habían salido, quiénes habían sido, su casta, sus abuelos... gauchos brutos, baguales, criados con la pata en el suelo, bastardos de india con olor a potro y de gallego con olor a mugre, aventureros, advenedizos, perdularios, sin Dios ni ley, oficio ni beneficio, de esos que mandaba la España por barcadas, que arrojaba por montones a la cloaca de sus colonias; mercachifles sus padres, tenderos mantenidos a chorizo asado en el brasero de la trastienda y a mate amargo cebado atrás del mostrador; tenderos, mercachifles ellos mismos! ... [...] ¿Él? Sí, cierto, era hijo de dos miserables gringos él, pero habían sido casados sus padres, era hijo legítimo él, había sido honrada su madre, no era hijo de puta por lo menos, no tenía ninguna mancha de ésas encima, mientras que no podían decir todos otro tanto y que levantándoles a muchos de los más engreídos la camisa... Bemerkenswert ist in jeder Hinsicht die Drastik, 110 mit der sich Genaro ausgerechnet jener Klischees bedienen darf, die der rassistische Diskurs ihm zur Last legt und die Cambaceres als Stimulans für seinen Roman ausbeutet. Nachgerade paradox mutet es an, wenn der Neu-Immigrant den Alt- 108 Zu dieser Annahme tendieren hingegen z.B. Cymerman, Obra política y literaria, 475- 496; Apter-Cragnolino, „Ortodoxia naturalista,“, 46-55 oder Bellini, „El naturalismo como pretexto“, 69-80. 109 Den massiven Gebrauch erlebter Rede erläutern schlüssig Gnutzmann (Novela naturalista en Argentina, 136ff.) und v.a. Matzat („Transculturación del naturalismo“, 311- 314), dessen Lesart folgender Stellenvergleich etliche wichtige Hinweise verdankt. 110 Fishburn (The Portrayal of Immigration, 81) bemerkt daher verwundert zu obiger Textstelle, dass der Erzähler scheinbar Genaros Attacke auf die kreolische Elite stützt. Bereits der zeitgenössische Rezensent des Anuario Bibliográfico de la República Argentina (zitiert nach: Cymerman, Obra política y literaria, 810) konstatiert 1888 eine ähnliche Inversion des xenophoben Tenors in En la sangre und moniert generell die Unwahrscheinlichkeit, dass just der einfältige Genaro als „profundo psicólogo“ auftritt. 346 Krisennarrative um 1880 Immigranten den Makel einstiger Migration oder Mestizierung vorhält, der nahezu alle Argentinier betrifft und daher kaum als Diskriminierung greifen kann. Genaros ausfallender „narrated monologue“ 111 mag sich in seiner sprachlichen Derbheit zwar selbst disqualifizieren. Dennoch sitzen die Brüskierung sogenannter argentinischer limpieza de sangre und die Seitenhiebe gegen die obskure Provenienz spanischer und indigener Vorfahren, die als Wilderer, Abenteurer, Hausierer und Halsabschneider bloßgestellt werden. An der Süffisanz, mit welcher der referierte Gedankenstrom das unabhängige Argentinien auf seine Wurzeln in einer ‚kolonialen Kloake‘ verweist, ändern auch die Vorbehalte gegen die Figur nichts. Denn obschon es Genaros Invektive an Ehrlichkeit und Durchsetzungsvermögen mangelt, wie der Erzähler im Voraus zu bedenken gibt, 112 entfaltet sie allein ob ihrer Ausführlichkeit, marktschreierischen Rhetorik und Impulsivität eine Sprengkraft, die das kreolische Selbstbewusstsein gewollt oder ungewollt ins Mark trifft. Hinzu kommt, dass der unverschämte Einwanderer zweiter Generation wenig später nachlegen darf, ohne noch von einer narrativ höheren Äußerungsinstanz zensiert zu werden. Kapitel XXXVIII (ELS 139-142) ist vollständig im discours indirect libre gehalten und expliziert die hinterhältigen Erwägungen, die Genaro - mittlerweile als verhasster Ehemann - anstellt, um das Vermögen seines Schwiegervaters zu erschleichen. Ohne Filterung wird hier der ätzende Sarkasmus laut, mit dem der Reflektierende einen hohlen Nationalstolz zerpflückt und die Scheinheiligkeiten der Funktionärskaste entlarvt (ELS 141): ¿De patriota entonces, de puro patriota, como quien decía de puro zonzo, iría a andar metido en danzas, arriesgando a que el día menos pensado le agujerearan el cuero de un balazo en los atrios o de una estocada en algún duelo? Se reía él cuando los oía hablar de patria a los otros, de patria y de patriotismo, decir con orgullo, llenándoseles la boca, que eran argentinos... ¿Qué más tenía ser argentino que cafre, haber nacido en Buenos Aires que en la China? ¡La patria... la patria era uno, lo suyo, su casa, la mejor de las patrias, donde más gorda se pasaba la vida y más feliz! ... Es ist wohl eine Ermessensfrage, inwiefern sich die Bedeutungspotentiale dieser Introspektion noch vereindeutigen lassen, inwiefern also auch hier eine unsichtbare Autorität waltet, die dem entwurzelten Italiener eine Lek- 111 Begriff nach: Dorrit Cohn, Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction [1978], Princeton: Princeton UP 1983, 99ff. 112 Der obiger Gedankenrede vorangestellte Erzählerkommentar hat folgenden Wortlaut (ELS 108): „No fue, pues, el golpe asestado a traición de la sorpresa, ni el grito honrado que subleva la injusticia, ni el negro abatimiento, ni la honda postración del infortunio; fue el despecho de la envidia, la rabia de la impotencia, un bajo estallido de odios, lo que brotó de su labio.“ Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 347 tion in Sachen argentinischer Patriotismus erteilt. Die aufgesetzte Parteinahme fürs Vaterland, die einzig der Steigerung des Selbstwertgefühls dient, ist jedenfalls keinen Deut besser als Genaros unverfrorene Distanzierung zugunsten des eigenen Komforts. So oder so laufen derlei Deutungsunsicherheiten einer Lesart zuwider, die En la sangre als didaktischen Thesenroman begreift, 113 welcher die Eliten oder wahlweise die bürgerliche Mittelschicht allen Ernstes vor der Perfidie kürzlich zugewanderter Proletarier warnt. V.5.4 Inkonsistenzen einer Erfolgsformel Der Zweifel an einem veritablen Glaubensakt taugt freilich nicht, um den Verfasser zu exkulpieren, um ihn und seinen Roman vom Vorwurf der Demagogie freizusprechen. Nichtsdestoweniger ist Cambaceres kein eingefleischter Rechtspopulist, als Abgeordneter vertritt er sogar einen ausgesprochen liberalen Standpunkt, der im Duktus des jungen Sarmiento den Segen eines geregelten Zuzugs nach Argentinien preist. In einer Rede vor der Verfassungskommission plädiert er demnach entschieden für eine gesetzliche Erleichterung der Einbürgerung: Allanemos en vez de acumular los obstáculos que se oponen a la naturalización del extranjero en nuestro suelo y a la identificación con nosotros mismos; que cultive nuestros campos, que desarrolle nuestro comercio; que perfeccione nuestras industrias, que vele sobre la educación de sus hijos, ciudadanos argentinos encargados de transmitir a las generaciones venideras la herencia de la libertad, y que, labrando su propia felicidad contribuya al aumento de la riqueza nacional y labre a la vez la prosperidad y el engrandecimiento de la República Argentina. 114 Da die Stellungnahme vom 18. Juli 1871 datiert, ließe sich einwenden, dass Cambaceres binnen fünfzehn Jahren sehr wohl eine 180°-Wende vollzogen haben kann, deren Ursache sich in der pulverisierten Quantität der Immigration fände. Doch um Vermutungen dieser Art kann und darf es einer fundierten Textanalytik nicht zu tun sein, zumal ja unstrittig ist, dass En la sangre polarisierend in eine Debatte hineinschreibt sowie gefährliche Gemeinplätze und Kollektivängste ausschlachtet. Als authentischer Aufschrei einer vom Verfolgungswahn ergriffenen Klassengesellschaft wäre das xenophobe Imaginarium, das der Roman ak- 113 Zu dieser Schlussfolgerung tendieren selbst differenzierte Studien wie jene von Nouzeilles (Ficciones somáticas, 179-181) oder Apter-Cragnolino (Espejos naturalistas, 96), die resümiert: „La novela de Cambaceres deviene así una novela didáctica, que intenta educar el sector social hegemónico al formalizar novelísticamente el discurso xenófobo, clasista y racista que predominaba en algunos sectores de la clase dirigente argentina a fines del siglo XIX.“ 114 Zitiert nach der Originaltext-Sammlung bei: Cymerman, Obra política y literaria, 656. 348 Krisennarrative um 1880 tiviert, jedoch überschätzt. Bezieht man die Brechung 115 mit ein, die alles Ideologische beim Übertritt in das literarische Kommunikationssystem erfährt, erweist es sich vielmehr als Teil einer publizistischen Erfolgsformel, mit der Cambaceres En la sangre ins Gespräch bringen will. Und zwar in doppelter Hinsicht: Sowohl ästhetisch als auch politisch sucht er etwas auszubuchstabieren, was in der Luft liegt, was radikal mit alten Werten und Überzeugungen bricht und was unbedingte Neuheit signalisiert: Sektiererischer Fanatismus ersetzt solcherart die Harmonie nationaler Identitätsnarrative, 116 biologistisches Wissen verdrängt den überkommenen Fortschrittsidealismus und naturalistische Investigation tritt an die Stelle romantisch grundierter Liebeshandlungen. In der Summe ergibt sich daraus ein gewöhnungsbedürftiger Synkretismus, dessen Nahtstellen nicht zur Gänze verschwunden sind und der Cambaceres’ Roman - unter der heiklen Oberflächensemantik - als das offenbart, was er immer schon war: die Artikulation einer hochgradig intertextuellen und transkulturellen Erzählpraxis. Abermals in die einzelnen Bestandteile zerlegt, gewahrt man indes die blinden Flecken in En la sangre, die der Seitenbzw. Rückblick auf Sin rumbo umso deutlicher zu Tage treten lässt. So stellt sich zunächst die Frage, inwiefern genau Genaro, der allerorten als geistig beschränktes Instinktwesen kompromittiert wird, das psychologische und narrative Bewusstseinszentrum vorstellen kann? Wie kommt es, dass ausgerechnet er als „buey uncido al yugo“ (ELS 74) seiner intellektuellen Ohnmacht („su impotencia“, ELS 75) eine kontinuierliche Aussprache mit sich hält, die genüsslich die Eitelkeiten der Reichen und Schönen ausbreitet sowie den eigenen Geltungsdrang seziert? Einem Andrés, dem verfeinerten Ästheten und Lebemann aus Sin rumbo, wären derlei subtile und zumeist zynische Kommentare wohl zuzutrauen. Dem Sohn eines „napolitano degradado y ruin“ (ELS 72) nimmt man sie hingegen nur schwer ab, zumal Cambaceres 115 Ich rekurriere nochmals auf Pierre Bourdieus (Règles de l’art, 381) Terminus des „effet de réfraction“, des ‚Brechungseffekts‘, der jede extraliterarische Intervention in literarische Positionen übersetzt. 116 Bezeichnenderweise verfügt der Protagonist über keinen Familiensinn und keinerlei Zuneigung für den eigenen Sohn, so dass fehlende Vaterliebe mit mangelnder Vaterlandsliebe einhergeht. Nouzeilles („Pathological Romances and National Dystopias in Argentine Naturalism“, in: Latin American Literary Review 24/ 47 (1996), 23-39 sowie Dies., Ficciones somáticas, 169) zeigt plausibel, inwiefern En la sangre die Euphorie nationaler Gründungsfiktionen konterkariert. Zu bezweifeln ist indes, dass Cambaceres’ dystopisches Krisennarrativ - wie die Verfasserin suggeriert - ein Identifikationspotential jenseits des geeinten Volkskörpers offeriert, nämlich „instrumentos de identificación con los cuales el público podía diferenciar entre argentinos ‚puros‘ y advenedizos“ (ebd., 171). Die Metapher der nationalen Krankheit verfolgt im argentinischen Naturalismus auch Juan Pablo Spicer-Escalante, Visiones patológicas nacionales: Lucio Vicente López, Eugenio Cambaceres y Julián Martel ante la distopía argentina finisecular, College Park: Hispamérica 2006, bes. 71ff. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 349 nicht müde wird, Genaro auf eine atavistische Triebnatur zu reduzieren, wie Zola sie in La bête humaine (1890) beschwören wird. In En la sangre gebricht es dagegen selbst den redundanten Tiermetaphern 117 an Überzeugungskraft, sofern just der affektgeleitete Protagonist mit der Schlauheit eines Fuchses („maravilloso instinto de zorro“, ELS 85) brilliert, der die Kunst der Verstellung perfekt beherrscht. Dank dieser Gabe, diesem „don de […] disfrazar“ (ELS 76), simuliert sich Genaro die Gesellschaftsleiter empor und greift als literarische Figur sogar einer diskursiven Entwicklung vor, der die mehr oder minder seriösen Medizin- und Biowissenschaften erst einige Jahre später in Argentinien, mit Veröffentlichungen wie José Ingenieros’ La simulación de la locura (1900) oder José María Ramos Mejías Los simuladores del talento en las luchas por la personalidad y la vida (1904), nachkommen werden. 118 In En la sangre prallt die Verschlagenheit der „sagacidad hereditaria“ (ELS 77) und „astucia felina de su raza“ (ELS 76) jedoch auf eine angeblich ererbte Einfältigkeit, die Cambaceres ähnlich indigniert ausstellt. Offenkundig kollidieren hier mit ruchloser Arglist und animalischer Körperlichkeit zwei ebenso banale wie zugkräftige Stereotype, die seit jeher allen Sündenböcken angedichtet wurden. Anders als beabsichtigt und vielfach angenommen, erschöpft sich Genaros Gestalt folglich nicht in einem physiologisch-sozialen Derivat, sondern gewinnt als kongenialer Simulant und kongenitaler Schwachkopf ein doppeltes Eigenleben, dessen weder Verfasser noch Erzählinstanz Herr werden. Letztere eignet sich ohnehin denkbar schlecht als Autorität, entwickelt sie sich im Laufe des Romans doch selbst zu einer Art Zwitterwesen, das ineins Naturalist und Nationalist sein soll. Genau besehen füllt Cambaceres’ Erzähler keine der beiden Rollen mit der notwendigen Konsequenz aus. Ebenso wenig wie Zolas „moralist[e] expérimentateu[r]“ 119 geriert er sich ausschließlich als objektiver Wissenschaftler, der beobachtet, Proben nimmt und seine Schlüsse zieht; noch überzeugt er als lauthals wetternder Pamphletist, weil er sich unentwegt zu mythisierenden Spekulationen und Imaginationen - allem voran über die Natur des Bösen - hinreißen lässt. 120 117 Die plakative Tiermotivik, die in En la sangre menschliche Aggressivität und Sexualität metaphorisiert, untersucht Claude Cymerman, „Las imágenes zoomorfas y sexuales en la obra de Eugenio Cambaceres“, in: Eckhard Höfner / Konrad Schoell (Hg.), Erzählte Welt. Studien zur Narrativik in Frankreich, Spanien und Lateinamerika (Festschrift für Leo Pollmann), Frankfurt/ Main: Iberoamericana/ Vervuert 1996, 77-87. 118 Darauf verweist Schlickers, El lado oscuo de la modernización, 147. Die Vorreiterrolle, die Cambaceres’ Protagonist hinsichtlich psychosozialer Simulationsstrategien zukommt, macht auch Nouzeilles (Ficciones somáticas, 172) namhaft und rückt Salessi (Médicos maleantes y maricas, 133-147) in einen diskursgeschichtlichen Kontext ein. 119 Präziser gesagt, bezieht Zola („Le roman expérimental“, 27) das Paradoxon der „moralistes expérimentateurs“ freilich nicht auf Erzählinstanzen, sondern unmittelbar auf die „romanciers naturalistes“. 120 Die labile Erzählerposition in En la sangre kommentiert hellsichtig Matzat, „Transculturación del naturalismo“, 313f. 350 Krisennarrative um 1880 Beiden Intentionen fehlt es an narrativer Konsistenz, was zur Folge hat, dass En la sangre gänzlich ohne Sympathielenkung auskommt. Nicht einmal ansatzweise werden darin Identifikationsfiguren konstruiert, aus deren Warte erst eine unhintergehbare Politisierung, wie man sie dem Roman regelmäßig unterstellt(e), formulierbar würde. Denn was in Sin rumbo vordringliches Beweisziel war, schlägt auch in En la sangre unmissverständlich durch; das heißt: Die Spitze der Gesellschaftspyramide ist nicht minder depraviert als ihr Bodensatz. 121 Die urbane High Society, die Sin rumbo wahlweise als ‚Schlammgrube‘ („fondo de barro“, SR 85) oder ‚lebensechte Farce‘ („farsa vivida“, SR 119) an den Pranger stellt, bildet im Folgeroman das Komplement des ‚Kesselflickerbalgs‘ (ELS 72), weil sie - mit mehr Wirtschaftskraft und sozialer Reputation ausgestattet - denselben Ambitionen und Lastern frönt. Die weibliche Seite, der Cambaceres lediglich mit Máxima Gestalt verleiht, ergeht sich in einer schematischen Passivität, die leicht in fleischliche Schwäche und latente Geilheit umgedeutet ist. Beinahe hat es den Anschein, als ob die Tochter aus gutem Hause mit ihrem „intenso poder de sentimiento“ (ELS 96), ihren „labios gruesos y rojos“ (ebd.) und „todo el calor, todo el ardiente fuego de la sangre criolla“ (ebd.) danach verlangt, vom aggressiven Kalabrier genommen zu werden. Die männliche Oberschicht wiederum kennzeichnet eine ausgemachte Naivität, wenn sie wie Máximas Vater dem dahergelaufenen Eindringling Tür und Tor öffnet, ihm Hab, Gut sowie Frauen überlässt und somit eigens den Verlust teurer Privilegien befördert. 122 Aus Genaros Perspektive, deren Vertrauenswürdigkeit natürlich fortwährend in Frage steht, sind die kreolischen Salonlöwen und ihre Nachkommen, seine hochnäsigen Kommilitonen, nichts als aufgeblasene Gockel und stricto sensu genau dieselben gemeinen Karrieristen, Schwarzhändler und angeschwemmten „aventureros, advenedizos, perdularios“ (ELS 108) wie sein Vater. Das durchweg negativ gezeichnete Personal schließt in En la sangre selbst eine implizite Melodramatik, wie Zola sie zugunsten seiner geschundenen Heldinnen oder Helden zuweilen einzieht, 121 Dies blenden auch die avancierten Deutungen von Ramírez („Oligarquía y novela folletín“, 255/ 268); Apter-Cragnolino (Espejos naturalistas, bes. 88f.); Cymerman (Obra literaria y política, 488ff.) und Matzat („Transculturación del naturalismo“, 310) tendenziell aus, um eine ideologische Eindeutigkeit des Romans zu legitimieren und, wie Matzat (ebd.) formuliert, die „oposición entre la naturaleza sana de los criollos y la naturaleza pervertida de los inmigrantes“ aufrechtzuerhalten. Noch einen Schritt weiter geht David Mauricio Solodkow („La oligarquía violada: Etnografía naturalista, xenofobia y alarma social en la última novela de Eugenio Cambaceres, En la sangre“, in: Decimonónica 8/ 1 (2011), 93-112), der die Vergewaltigung der kreolischen Elite als demagogisches Beweisziel in En la sangre ausmacht. 122 Die mannigfaltig ausgestellte Schwäche der kreolischen Eliten in En la sangre kommentiert luzide Austin, Exemplary Ambivalence in Late Nineteenth-Century Spanish America, 53. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 351 rundweg aus. 123 Vom vierten bis zum ersten Stand - Cambaceres’ Roman suggeriert die völlige Zersetzung der Gesellschaft, das komplette Desaster, in dem jeder und alles im entdifferenzierten melting pot der Großstadt unterzugehen droht. Er suggeriert dies allerdings nicht, so die hier vertretene These, mit der Botschaft, dass sich diese Zersetzung verhindern ließe, sofern Argentinien die Menschenströme aus Europa aufhielte und sich in einem autarken Paradies am Río de Plata abschottete. Für solch isolationistische Phantasien ist der weitgereiste und transatlantisch kultivierte Cambaceres zu sehr Kosmopolit. Mehr noch ist er aber darauf bedacht, unter dem gestiegenen Konkurrenzdruck sein Profil als Romancier zu schärfen. Denn darum geht es ihm und seinen Verbündeten in Buenos Aires hauptsächlich, wenn sie sich das Erzähl- und Erkenntnisparadigma des französischen Naturalismus zu eigen machen, dessen modernisierungsoptimistische Komponente kassieren und mit alarmierenden Schreckensszenarien Neues zu produzieren suchen. Wie En la sangre einlässlich belegt, gelingt dies nur zum Teil. Cambaceres’ letzter Roman muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er seinen literarischen Innovationsanspruch weitgehend preisgibt, indem er ihn mit brisanter Stimmungsmache abfedert. V.6 Die Stadt als Phantom: Vom Chronotopos zur geschichtslosen Karte In Anbetracht der polyphonen Textur von Sin rumbo wäre dem Autor durchaus zuzutrauen gewesen, dass er seine Diagnose sozialer Desintegration in Bilder fasst, deren Bedeutungsradius erst dort anfängt, wo ein verkürzter Determinismus ans Ende kommt. Ebendaran scheitert jedoch En la sangre, weil Cambaceres hier - zugespitzt formuliert - überhaupt von Vorstellungsbildern absieht, um seinen Versuch am lebenden Objekt möglichst kondensiert durchzuspielen. Schuldig bleibt er indessen eine nachhaltige Einbettung in Raum und Zeit, was für einen gegenwartsbezogenen Roman, der zudem unter naturalistischen Vorzeichen antritt, zum Verhängnis werden muss. Er riskiert permanent die „Aufspaltun[g] von Zeit und Sujet“ 124 , mit der in En la sangre unweigerlich auch die Aufspaltung von Raum und Sujet einhergeht. Der Schauplatz, dieses Buenos Aires, dessen negative Entwicklungsspirale den Protagonisten angeblich verdirbt, entbirgt sich nur in Umrissen und verblasst meist unter effekthascherischen Bio- und Soziologismen. 123 Zolas kompensatorische Melodramatik veranschaulicht etwa in L’assommoir Jacques Dubois, „L’Assommoir“ de Zola: société, discours, idéologie, Paris: Larousse 1973, 30ff. 124 Michail M. Bachtin, Chronotopos, übers. von Michael Dewey, mit einem Nachwort von Michael C. Frank / Kirsten Mahlke, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2008, 142. 352 Krisennarrative um 1880 Realistische und naturalistische Romane, darauf ist mit Michail Bachtins zitierter Wendung angespielt, zeichnen sich gemeinhin durch eine klar konturierte Chronotopik aus, d.h. durch ihre außerordentliche „Fähigkeit, die Zeit im Raum zu sehen“ 125 , wie der russische Literaturwissenschaftler vermerkt. Ohne die prominente Begrifflichkeit, ihre kulturtheoretischen Wurzeln und ihre erzählanalytische Anwendbarkeit nochmals zu diskutieren, 126 sei hier zumindest Bachtins Basisdefinition des Chronotopos in Erinnerung gerufen. Angeregt durch die Relativitätstheorie und in Absetzung vom kantianischen Raum-Zeit-Apriori heißt es hierzu in der 1937/ 38 verfassten und 1973 ergänzten Studie Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman (Untersuchungen zur historischen Poetik): Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. 127 Die sinnhafte Verräumlichung von Zeitläufen ordnet Bachtin in ein gattungsgeschichtliches Raster ein, dessen Details und Stimmigkeit hier nicht weiter zu interessieren brauchen. 128 Festzuhalten ist aber, dass darin auch Balzacs Comédie humaine einen (nachträglichen) Platz findet, der ohne Weiteres bis zu Zola auszudehnen wäre. Der realistische und naturalistische Roman aktiviert mithin - wie Rainer Warning resümiert - in ausgeprägter Weise „die gestalterische Funktion [des Chronotopos], die sujetkonstitutiven Ereignisse aus der bloßen Mitteilung in die raumzeitliche Konkretion zu überführen, sie bildhaft zu veranschaulichen.“ 129 V.6.1 Deskriptive Leerstellen Die chronotopische Veranschaulichung leistet gewöhnlich nicht das Erzählen als solches, sondern das in den narrativen Pausen stattfindende Beschreiben, mit dem Zola sich nicht umsonst eigens befasst. In einer kurzen 125 „Balzacs Fähigkeit, die Zeit im Raum zu ‚sehen‘, war außerordentlich. Es sei nur daran erinnert, in welch bemerkenswerter Weise er Häuser als materialisierte Geschichte darstellt oder wie er Straßen, eine Stadt, eine Dorflandschaft unter dem Aspekt ihres Geprägtseins von Zeit und Geschichte zeigt.“ (Bachtin, Chronotopos, 185). 126 Eine kluge Präsentation des Konzepts enthält das Nachwort von Kirsten Mahlke und Michael C. Frank (Bachtin, Chronotopos, 201-242) in der deutschen Neuausgabe. 127 Bachtin, Chronotopos, 7-196, hier 7f. 128 Der gattungsgeschichtliche Abriss setzt bei Heliodors Abenteuerroman ein und reicht bis zu Rabelais, ehe Bachtin in einem Nachsatz zu den Realisten fortschreitet. 129 Warning, „Der Chronotopos Paris bei den ‚Realisten‘“, in: Ders., Phantasie der Realisten, 272. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 353 Abhandlung aus dem Jahr 1880 130 legitimiert er die scheinbare Verselbstständigung ausladender Deskriptionen, indem er erwartungsgemäß auf deren wissenschaftliche Notwendigkeit, also die Bestandsaufnahme ‚äußerer‘ Einflüsse und ‚innerer‘ Entsprechungen hinweist. 131 In Zolas romanesker Praxis erwachsen daraus die Bindung der Beschreibung an Wahrnehmungsvorgänge, deren rhetorische Segmentierung, der Impressionismus der „cinq tableaux du même décor“ 132 oder die metonymische Figur-Umwelt-Reziprozität, die man bereits von Balzac her kennt. In En la sangre vermisst man hingegen ähnliche Operationen; und das, obwohl Cambaceres eine vergleichbare Lokalisierung und Historisierung des Plots vornimmt wie Zola in den Rougon-Macquart. Das Paris des Zweiten Kaiserreichs, so scheint es, hat eine passgenaue Entsprechung im Buenos Aires des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in dem die Flut der Einwanderer strandet. Das liegt auch insofern nahe, als die literarische Kartierung der Hauptstadt unter den Vertretern der 1880er-Generation hoch im Kurs steht. Journalistische und fiktionale Texte gehen dabei nahtlos ineinander über, wie an erster Stelle Lucio Vicente López’ genrebildender Roman La gran aldea - Costumbres Bonaerenses (1884) dokumentiert. 133 Mit López’ nostalgischem Kostumbrismus haben Cambaceres’ Romane nurmehr wenig gemein, weder die beiden ersten Potpourri und Música sentimental, die vornehmlich das mondäne Buenos Aires fokussieren, noch die zwei ungleich bekannteren Nachfolger. Während Sin rumbo aber eine nuancierte Topographie entfaltet, die den Gegensatz zwischen Stadt und Pampa schärft und 130 Émile Zola, „De la description“ [1880], in: Ders., Le roman expérimental, 227-233. 131 Vgl. Zola, „De la description“, 229: „[N]ous sommes dans l’étude exacte du milieu, dans la constatation des états du monde extérieur qui correspondent aux états intérieurs des personnages. Je définirai donc la description: un état du milieu qui détermine et complète l’homme.“ Spätestens seit Georg Lukács („Erzählen oder Beschreiben? Zur Diskussion über Naturalismus und Formalismus“ [1936], in: Ders., Kunst und objektive Wahrheit. Essays zur Literaturtheorie und -geschichte, Leipzig: Reclam 1977, 113-165), der die Dysfunktionalität von Zolas Deskriptionen nachzuweisen sucht, ist die Beschreibung fester Bestandteil der Naturalismus-Forschung. Genannt seien dazu nur die einschlägigen Arbeiten von Philippe Hamon, darunter: Introduction à l’analyse du descriptif, Paris: Hachette 1981; „Qu’est-ce qu’une description? “, in: Poétique 12 (1972), 465-485 oder „Notes sur la description naturaliste“, in: L’École des Lettres 8 (1992), 5-8. Vgl. ferner das voluminöse Kompendium von Dorothea Kullmann, Description. Theorie und Praxis der Beschreibung im französischen Roman von Chateaubriand bis Zola, Heidelberg: Winter 2004, 557ff. sowie in mediengeschichtlicher Perspektive Irene Albers, Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk Émile Zolas, München: Fink 2002, bes. 189ff. 132 Zola, „De la description“, 232. 133 Eine eingehende raumsemantische Lektüre zu La gran aldea bietet Culasso, Geopolíticas de ficción, 23-57. Zur erzählerischen Buenos-Aires-Darstellung im 19. Jahrhundert siehe generell das Panorama von Cecilia María Graña, La utopía, el teatro, el mito. Buenos Aires en la narrativa argentina del siglo XIX, Roma: Bulzoni 1991. 354 Krisennarrative um 1880 semantisch zugleich überschießt, 134 konzentriert En la sangre die Aufmerksamkeit ganz auf das urbane Setting, dessen rasanter Wandel dennoch nur verschwommen vor Augen tritt. Dabei liegt es mitnichten an fehlender toponymischer Präzision, dass sich in Cambaceres’ letztem Roman keine „Materialisierung der Zeit im Raum“ 135 einstellen will. Bereits die ersten Kapitel (ELS 51-55) von En la sangre situieren das Geschehen an der Mündung des Riachuelo, in der Gegend um La Boca, 136 wo sich - nach baulichen Restrukturierungen und innerstädtischer Migration 137 - die Elendsquartiere der untersten Bevölkerungsschichten befinden. Hier wird Genaro geboren und hier wohnt demgemäß sein Vater, wobei wenig ins Gewicht fällt, dass es dem rücksichtslosen „tachero“ immerhin gelingt, den ärmsten Südosten der Stadt zu verlassen. Ohnehin nimmt es Cambaceres nicht allzu genau mit dem reduzierten Sichtfeld seines proletarischen Anti-Helden. Analog zu dessen intellektuellem Quantensprung weitet sich unversehens auch sein räumlicher Gesichtskreis. Von der „calle San Juan entre Bolívar y Defensa“ (ELS 51), von „Europa y Buen Orden“ (ELS 55), wo die Wohnbaracken liegen, wandert der romaneske Blick fortan in feinere Gegenden, ohne dass dies stets an Genaros zwielichtige Karriere gekoppelt bliebe. Mit einem Mal kehrt En la sangre in die Straßenzüge, Boulevards und Viertel des aristokratischen Buenos Aires zurück, wo bereits Potpourri und Música sentimental heimisch waren: calle de la Florida, calle del 25 (de Mayo), Paseo de Julio, Palermo, Recoleta, etc.; daneben Plätze wie die Plaza de la Victoria oder die Plaza del Parque und nicht zuletzt Repräsentationsbauten wie die Universität, das damalige Teatro Colón, die Kathedrale, die Börse, die Sociedad Rural, die Banco de la Provincia oder das Café de París. Ganz zu schweigen von den eleganten Warenhäusern und Bekleidungsgeschäften, über deren Lage und meist französische Namen Genaro, der ungehobelte Vorstadtspross, erstaunlicherweise bestens informiert ist. 138 Be- 134 Strukturanalysen zur Semantik und Ideologie des Raumes in Sin rumbo liefern Culasso, Geopolíticas de ficción, 59-89 sowie Marcelo Coddou, „Significación del espacio en Sin rumbo de Eugenio Cambaceres“, in: Universidad (Santa Fe) 81 (1970), 339-361. 135 Bachtin, Formen der Zeit im Roman, 188: „Somit bildet der Chronotopos als die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum das Zentrum der gestalterischen Konkretisierung, der Verkörperung für den ganzen Roman. Alle abstrakten Romanelemente […] werden vom Chronotopos angezogen, durch ihn mit Fleisch umhüllt und mit Blut erfüllt und werden durch ihn der künstlerischen Bildhaftigkeit teilhaftig.“ 136 Die urbane Kartographie, die En la sangre entfaltet, resümieren bündig Laera, Tiempo vacío de la ficción, 235-237 und Cymerman, Obra literaria y política, 473-475. 137 Aufgrund der Seuchengefahr, die im verheerenden Gelbfieber des Jahres 1871 gipfelt, lassen sich die reichen Porteños zu dieser Zeit weiter nördlich nieder. 138 Beispielhaft angeführt sei das siebzehnte Kapitel (ELS 92f.), in dem der sonst so einfältige Genaro das üppige Dasein ersinnt, das er mit dem mütterlichen Vermögen zu führen beabsichtigt: „Le habría gustado una casa, aunque hubiese sido chica, en la calle Florida como entre Cuyo y Temple, por ejemplo, a esas alturas, en el barrio de Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 355 nennung und Lokalisierung allein reichen allerdings nicht aus. Die „hypertrophie du paradigmatique“ 139 , die Philippe Hamon zufolge deskriptive Prädikationen generieren, schafft von sich aus noch keine wiedererkennbaren Konturen. Materialität und Historizität gewinnt der erzählte Raum erst als Schauraum, der durch die Augen einer Figur erfahr- und lesbar wird. Darum sind es hauptsächlich optische Wahrnehmungen, die in den Romanen der Rougon-Macquart die großen Tableaus und spektakulären Paris- Ansichten motivieren. 140 Unter vielem anderen ließe sich an das berühmte Incipit in L’assommoir denken, 141 welches eine „scène-type“ 142 , nämlich den Fensterblick der Protagonistin Gervaise (Macquart) mustergültig vor- und ausführt. Sämtliche Beschreibungs- und Erinnerungsmomente kreisen hier um das Panorama, das sich der verzweifelt auf ihren Liebhaber Lantier wartenden Gervaise bei Tagesanbruch im Arbeiterviertel Goutte d’Or im Pariser Norden darbietet. Im Sinne eines „organisateur du récit“ 143 kündigt es die Implosion der Außenwelt in das traute Heim an, deren detaillierte Chronik sich anschließt. 144 Die Parallele mit En la sangre drängt sich umso mehr auf, 145 als der Stoff und die Situierung beider Texte beachtliche Schnittmengen aufweisen. Wie Cambaceres‘ Roman führt auch L’assommoir in einen Vorstadtbezirk, wo in diesem Fall landflüchtige Provinzler einen Unterschlupf in heruntergekommenen Mietskasernen finden, in Eisenfabriken oder Wäschereien schuften und ihr kärgliches Auskommen vertrinken. Schlüssig verklammert Zola Anfang und Ende des Einleitungskapitels, indem er die wortreichen Beschreibungen jeweils an Perzeptions- und Emotionsfolgen rückbindet und damit sogleich Umwelt und Figurenpsychologie in Beziehung setzt. tono, donde no se veían sino familias decentes, estar allí él también, vivir entre esa gente, poder mostrarse, salir, pararse en la puerta de calle los domingos, a la hora en que pasaban las pollas al Retiro. Soñaba con tener tertulia en el Colón, con ir en coche a Palermo, hacerse vestir por Bonás o Fabre, ser socio de los dos clubs, el Plata y el Progreso, de este último sobre todo, cuyo acceso era mirado por él como el honor más encumbrado, como la meta de las humanas grandezas, y frente al cual, al retirarse a su casa del Colón, solía pasar en noches de baile, contemplando desde abajo la casa bañada en luz, como contemplaba las uvas el zorro de la fábula.“ 139 Hamon, Introduction à l’analyse du descriptif, 104. 140 Die Bindung der Beschreibung an optische Situationen theoretisiert Hamon, Introduction à l’analyse du descriptif, 186ff. Die Schlüsselrolle des Gesichtssinns für Zolas Romanpoetik erläutert Albers, Sehen und Wissen, bes. 33ff. 141 Émile Zola, L’assommoir, hg. von Henri Mitterand, Paris: Gallimard/ Folio 1978, 19-51. 142 Begriff nach: Hamon, „Qu’est-ce qu’une description? “, 473. 143 So wiederum die Formulierung bei Hamon, „Qu’est-ce qu’une description? “, 483. 144 Zu Zolas Fensterblicken und der damit verbundenen kataklystischen Raumsemantik vgl. Warning, „Der Chronotopos Paris bei den Realisten“, in: Ders., Phantasie der Realisten, 286-296. 145 Dementsprechend zog die Cambaceres-Forschung L’assommoir bereits als Vergleichsfolie für En la sangre heran - prägnant etwa Matzat („Transculturación del naturalismo“, 306-308) -, ohne dabei den Romanauftakt genauer ins Auge zu fassen. 356 Krisennarrative um 1880 Die Relation könnte kaum enger geknüpft sein, gleich ob es sich um das schäbige Zimmer im Hôtel Boncœur handelt, in dem Gervaise mit ihren beiden Kindern und Lantier untergebracht ist, oder ob sie das Treiben im Quartier, die Arbeiter, die Schlachthöfe, die Kneipen und nicht zuletzt das Krankenhaus betrachtet. Das Schicksal der Heldin ist bereits in ihrer ersten Blicksequenz präludiert, vom anfänglichen „Et, lentement, de ses yeux voilés de larmes, elle faisait le tour de la misérable chambre garnie“ über die (neuerliche) Außenwendung in „Et, pieds nus […], elle retourna s’accouder à la fenêtre, elle reprit son attente de nuit, interrogeant les trottoirs, au loin“ bis zur resignativen Vorahnung, mit der das Kapitel schließt und Gervaises Geschichte, ehe sie richtig begonnen hat, auf ihr trauriges Ende hin transparent wird: C’était sur ce pavé, dans cet air de fournaise, qu’on la jetait toute seule avec les petits; et elle enfila d’un regard les boulevards extérieurs, à droite, à gauche, s’arrêtant aux deux bouts, prise d’une épouvante sourde, comme si sa vie, désormais, allait tenir là, entre un abattoir et un hôpital. 146 Gemessen an Zolas szenischer Systematik und dichter Visualität, nimmt sich die Topographie in En la sangre zwangsläufig defizitär aus, obschon Cambaceres’ Roman ebenfalls mit einer schulmäßigen Konstitution des Handlungsortes anhebt. Eine veritable Milieustudie initiiert diese dennoch nicht, da fortlaufend Wahrnehmungssprünge und tendenziöse Setzungen ihre Glaubwürdigkeit in Mitleidenschaft ziehen. Zwar hat es zunächst den Anschein, als ob Genaros Vater als focalizer auftritt, um die Eindrücke der verwahrlosten und überfüllten conventillos wiederzugeben (ELS 51): De vez en cuando, lentamente paseaba la mirada en torno suyo, daba un golpe - uno solo - al llamador de alguna puerta, y, encorvado bajo el peso de la carga que soportaban sus hombros: „tachero“... gritaba con voz gangosa, „¿componi calderi, tachi, siñora? “. Un momento, alargando el cuello, hundía la vista en el zaguán. Continuaba luego su camino entre ruidos de latón y fierro viejo. Había en su paso una resignación de buey. Alguna mulata zarrapastrosa, desgreñada, solía asomar; lo chisteaba, regateaba, porfiaba, „alegaba“, acababa por ajustarse con él. Tierhafte Physiognomie 147 und schwerfällige Bewegungsweise signalisieren von vornherein die Verunglimpfung der Figur, die in der stammelnden Verwendung des cocoliche ihre Bestätigung findet. Vielmehr noch irritiert indes, dass mit einem Mal, gewissermaßen aus dem narrativen Off, eine 146 Die drei vorangehenden Zitate: Zola, L’assommoir, 19/ 20/ 51. 147 „De cabeza grande, de facciones chatas, ganchuda la nariz, saliente el labio inferior en la expresión aviesa de sus ojos chicos y sumidos, una capacidad de buitre se acusaba.“ So nochmals der erste Satz des Romans (ELS 51), der keinerlei Zweifel an der animalischen Durchtriebenheit von Genaros Vaters lässt. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 357 heterodiegetische Instanz interveniert und die Hoheit der Rede und der Optik an sich reißt. Verschwunden ist der umherwandernde ‚Geierblick‘ („buitre“, ELS 51) des Kesselflickers, dessen Vorgeschichte nun eine minimalistische Analepse einspielt, die zugleich an den deskriptiven Duktus des Vorangehenden anzuschließen sucht (ELS 51): Poco a poco, en su lucha tenaz y paciente por vivir, llegó así hasta el extremo Sud de la ciudad, penetró a una casa de la calle San Juan entre Bolívar y Defensa. Dos hileras de cuartos de pared de tabla y techo de cinc, semejantes a los nichos de algún inmenso palomar, bordeaban el patio angosto y largo. Cambaceres verzichtet nicht nur auf jeglichen Konnex zwischen urbanem Außenraum und dem erbärmlichen Intérieur, in dem Genaro aufwächst (ELS 53). Übergangslos changiert er anfangs zudem zwischen interner Fokalisierung und Nullfokalisierung, so dass die Schilderungen ohne innere Kohäsion verbleiben. Selbst dem Protagonisten Genaro wird die „vision ‚avec‘“ 148 mitunter schlagartig entzogen, weshalb seine Umgebung - das Buenos Aires der Armen und der Reichen - lediglich fragmentarisch, an einigen selektiven Brennpunkten ansichtig wird. Während Zola in L’assommoir die Transformation der Stadt organisch mit dem Werdegang seiner Figur korreliert, zwingt En la sangre unverbundene Stationen zusammen, wechselt zu Beginn beliebig die Perspektivträger und spricht allen die Zuverlässigkeit ihrer Außensicht ab. Unvermutet greift demnach die Erschließung der argentinischen Metropole schon im zweiten Kapitel in die nobleren Viertel aus. Statt aber die „vida andariega del pilluelo“ (ELS 53), die der kleine Genaro führt, in einem „Chronotopos des Weges“ 149 nachzuzeichnen, der die ungeheuren, besonders architektonischen Veränderungen in Buenos Aires seit 1850 zur Anschauung brächte, beschränkt sich Cambaceres wiederum auf eine wertende Erzählerrede. Eine ortskundige und zeitgebundene Beschreibung weicht darin der Konzentration auf das halbkriminelle Treiben der Straßenkinder, das der Kommentar mit unverhohlener Lust am Anstößigen ausstellt (ELS 53f.): Era, en las afueras de los teatros, de noche, el comercio de contraseñas y de puchos. Toda una cuadrilla organizada, disciplinada, estacionada a las puertas del Colón, con sus leyes, sus reglas, su jefe; un mulatillo de trece años, reflexivo y maduro como un hombre, cínico y depravado como un viejo. [...] 148 Begriff nach: Jean Pouillon, Temps et roman, Paris: Gallimard 1946, bes. 74-84. 149 Bachtin, Formen der Zeit im Roman, 180. Zu diesem Typus chronotopischer Modellierung vermerkt Bachtin weiterhin (ebd., 181): „Die Zeit ergießt sich hier gleichsam in den Raum und fließt durch ihn hindurch (wobei sie Wege entstehen lässt), was sich in den so zahlreichen Metaphern des Weges und der Straße niedergeschlagen hat […]; die Metaphorisierung des Weges ist vielfältig und vielschichtig, doch ihr eigentliches Kernstück ist der Strom der Zeit.“ 358 Krisennarrative um 1880 Tarde en las noches de función, llegado el último entreacto, a una palabra de orden del jefe, dispersábase la banda, abandonaba el vestíbulo desierto del teatro, por grupos replegada a sus guaridas: las toscas del bajo, los bancos del „Paseo de Julio“, las paredes solitarias de algún edificio en construcción, donde celebraba sus juntas misteriosas. Wie hier sind es zumeist Momentaufnahmen und verstreute Hintergrundbilder, in denen En la sangre die Großstadt als Hort grassierender Amoral zeigt. Gleich der Gegend um das Teatro Colón, die in diesem Fall als Platzhalter für die jugendliche Delinquenz steht, reihen sich die Kulissen aneinander und rekodieren immerzu die Verderbtheit oder die Schwäche der Akteure. Fabel und Figuren auf der einen sowie Raum und Zeit auf der anderen Seite verbindet keine zwingende Metonymie oder gar kausallogische Gegenseitigkeit. Verbürgt ist ihre Beziehung allenfalls in einer willkürlichen Metaphorik, die keinerlei Verschiebungen zwischen primum und secundum zulässt. Das Panoama der „barrios del Sud“ (ELS 55) 150 semantisiert derart nur das ungehörige Statusstreben von Genaros Vater, dessen Leichenzug Cambaceres schließlich in groteskem Kontrast über Prachtavenuen rumpeln lässt (ELS 60-62). Derselbe Spott trifft auch den Sohn, wenn er sich im universitären Amüsierbetrieb als namen- und mittelloser Fremdkörper verrät (ELS 86) 151 , wenn er lächerlicherweise von einem Leben im Überschwang nahe des Stadtzentrums träumt (ELS 92-94) oder wenn er sich an die Fersen der angebeteten Máxima heftet und ihr verstohlen durch das vornehme Buenos Aires folgt (ELS 99): calle San Martín im historischen Stadtkern, calle (de la) Florida, Kathedrale, Retiro - doch niemals bis ins exklusive Palermo, wo er sich mit seinem rustikalen Gespann blamieren müsste. Die Beispielliste ließe sich erweitern, 152 zumal auch die Wohnviertel und Treffpunkte der Oligarchie allein deren hausgemachte Dekadenz illustrieren: Der Club del Progreso - dessen damaliger Sitz an der Ecke der calles Perú und Victoria nicht einmal expliziert ist - präsentiert sich als Ansammlung 150 Hier der Passus, der den selbstgefälligen Kesselflicker auf der Suche nach einer Niederlassung zeigt, im Kontext (ELS 55): „Uno a uno recorrió los barrios del Sud de la ciudad, observó, pensó, estudió, buscó un punto conveniente, alejado de toda adversa concurrencia; resolvióse finalmente, después de largos meses de labor y de paciencia, a alquilar un casucho que formaba esquina en las calles de Europa y Buen Orden el que, previa una adecuada instalación, fue bautizado por él en letras verdes y rojas, sobre fondo blanco, con el pomposo nombre de Gran Hojalatería del Vesubio.“ 151 „Existía en la calle Reconquista, entre Tucumán y Parque, un llamado ‚Café de los Tres Billares‘, cuya numerosa clientela en gran parte era compuesta de hijos de familia, empleados públicos, dependientes de comercio y estudiantes de la Universidad y de la Facultad de Medicina.“ (ELS 86) In besagtem Café zieht Genaro den Spott auf sich, als er - zur Rede aufgefordert - ob seiner „cabeza seca“ (ELS 88) stumm bleibt und die Situation dennoch listig rettet, indem er sich als betrunken ausgibt. 152 Den ideologisch interessierten Nexus zwischen „movilidad geográfica y [...] social“ in En la sangre deutet ausgewogen Laera, Tiempo vacío de la ficción, 230-238, hier 236. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 359 von „[r]etrógrados, reacios por principio y por sistema“ (ELS 103); das Colón ist nicht etwa Heimstätte hoher Theater- und Opernkunst, sondern lediglich Parkett für das eitle Schaulaufen der oberen Zehntausend (ELS 96ff.); und Máximas Elternhaus (in der calle San Martín) erweist sich trotz stattlicher Erscheinung als wenig wehrhaft, als leicht für den Raffke Genaro zu erobern und letztlich als Relikt einer obsoleten Besitzerklasse. Der Glaubenseffekt, jenes „faire-croire“ 153 , auf das realistisches wie naturalistisches Beschreiben zielen muss, um eine nachvollziehbare Welt erstehen zu lassen, verändert in En la sangre die persuasive Richtung. Er bzw. es beschränkt sich nicht mehr auf den Schein des Wirklichen, den Zola und andere qua sprachlicher Ostentation des Gegenständlichen anvisieren. Mit Jacques Rancières Titelformulierung gesprochen, transformiert Cambaceres den „Wirklichkeitseffekt“ der narrativen Fiktion in eine „Politik der Fiktion“ 154 , deren Inszeniertheit durchgehend ins Auge springt. Darunter zu leiden haben nicht ausschließlich die aus Italien und anderen europäischen Gegenden herbeiströmenden Arbeitskräfte, denen En la sangre die Schuld für die argentinische Krise aufbürdet. Auch und gerade der romaneske Schauplatz sieht sich auf diese Weise in eine vorab fixierte Schablone gepresst. Genauso wie der Protagonist Genaro - mit den benannten Paradoxien - zum Ausbund allen Übels stilisiert wird, erstarrt Buenos Aires als Bühne ebendieser Bestialität. Einzig der historische Index des Sujets und der Figur, also einmal mehr die Skandalisierung der Immigration gemahnt seltsamerweise noch daran, dass der Chronotopos am Río de Plata eine Vielzahl weiterer Modernisierungserscheinungen implizieren müsste, die jenseits der perhorreszierten Überfremdung liegen. V.6.2 Coda: Das Opfer der Stadt als Opfer der Transkulturation Claude Cymerman rückt die umrissene Problematik in einen Vergleichszusammenhang mit Cambaceres’ anderen Romanen ein: En En la sangre, la ciudad no viene estudiada por sí misma sino que viene bosquejada tan sólo para servir de telón de foro y de soporte para la acción. Sentimos que en el fondo el autor ha guardado de ella un recuerdo nostálgico y que sufre al verla abandonada así a las ambiciones y a las depredaciones de las „hordas“ extranjeras. Ya no viene condenada en sí, sino que viene evocada con el matiz de compasión y de conmiseración que podemos sentir hacia un animal herido o martirizado. El contraste no resulta por tanto menos acentuado entre el Buenos Aires de Potpourri, argentino pero rico de valores europeos reunidos por la intelligentsia porteña, y el Buenos 153 Philippe Hamon, Du descriptif, Paris: Hachette 1993, 38f. 154 So der Titel eines Aufsatzes zu aktuellen Realismen mit Rückblick auf Flaubert von Jacques Rancière, „Der Wirklichkeitseffekt und die Politik der Fiktion“ [übers. von Mario Horta], in: Dirck Linck et. al. (Hg.), Realismus in den Künsten der Gegenwart, Zürich: diaphanes 2010, 141-157. 360 Krisennarrative um 1880 Aires de En la sangre, europeizado pero emprobecido más que embellecido por el aporte de los subproductos de Europa que ha arrastrado tras ella la inmigración. La capital ya no aparece aquí, al revés de Música sentimental y Sin Rumbo, como un veneno o narcótico, sino como una víctima de la inmigración corruptora. Muy lejos de corromper al habitante, la ciudad es corrompida por él [...]. 155 Beschränkt man den Analysefokus auf die Geschichte, so ist Cymermans umsichtigem Fazit sicherlich wenig hinzuzufügen. Mit Blick auf die narrative Vermittlung wäre das ‚Opfer der Stadt‘, das En la sangre in der Tat fordert, womöglich aber noch anders zu konzeptualisieren. ‚Korrupt‘ und ‚korrumpierend‘ agieren nämlich nicht nur die so benannten ‚Ausländerhorden‘, die nach Buenos Aires drängen und denen Cambaceres‘ Fiktion um des thematischen Zündstoffs willen zu Leibe rückt. Korrumpierend oder, genauer gesagt, manipulatorisch verfahren ebenfalls der Autor und sein Text, indem sie die Großstadt als Schlachtfeld extremistischer Scheingesinnungen missbrauchen. Die literarästhetischen Einbußen hinterlassen nirgendwo so tiefe Spuren wie in der räumlichen Anlage des Romans, die verglichen mit dem vielschichtigen Vorläufer Sin rumbo und Zolas Paris- Darstellung geradezu elliptisch anmutet: En la sangre verzichtet auf einen ausgearbeiteten Stadt-Land-Kontrast, 156 blendet die zeitgenössische Technisierung und Industrialisierung beinahe völlig aus und nutzt nicht einmal die Intrusion des Protagonisten in die Upperclass, um dem sozialen Gefälle ein einprägsames topographisches Relief zu verleihen. Als unvermeidliche Konsequenz dieser Leerstellen, die nicht zuletzt den geringen Umfang des Romans bewirken, betritt man in der Lektüre ein Buenos Aires, das skizzenhaft abstrahiert scheint, dem es entgegen Cambaceres’ naturalistischer Devise genau an ‚Fleisch und Blut‘ 157 mangelt und das regelrecht zum Phantom gerät. En la sangre, so ließe sich nochmals mit Michel de Certeaus kulturtheoretischem Vokabular resümieren, entwirft zwar eine plane „carte“ der argentinischen Hauptstadt, die mit den erwähnten Vierteln, Straßen und öffentlichen Gebäuden ein panoptisches 155 Cymerman, Obra literaria y política, 474f. 156 Inwiefern En la sangre die romaneske Topographie zugunsten ideologischer Brisanz schleift, verdeutlicht gerade die vergebene Option, den Antagonismus zwischen urbanem und ruralem Raum semantisch aufzuladen: Das junge Ehepaar, die schwangere Máxima und ihr (Quasi-)Vergewaltiger, verbringen zwar „en el campo la luna de miel, lejos, en una de las propiedades del padre de Máxima, fronteriza, al Sud“ (ELS 130). Der so etablierte Gegensatz zum städtischen Setting erschöpft sich aber erneut darin, Genaros Gefühllosigkeit und fehlenden Familiensinn zu denunzieren. 157 So nochmals der Brief vom 24.12.1883 an Miguel Cané, in dem Cambaceres dem naturalistischen Roman folgende Aufgabe zuweist (zitiert nach: Cymerman, Obra política y literaria, 641f.): „[Z]amparle al público en la escena personajes de carne y hueso en vez de títeres rellenos de paja o de aserraduras, [...] sustituir a la fantasía del poeta o a la habilidad del faiseur, la ciencia del observador, hacer en una palabra verdad, verdad hasta la cuja como dice Ud.“ Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 361 Verzeichnis bietet. 158 Ohne Einbettung in figurales Handeln, Wahrnehmen und Bewegen bleibt die Karte gleichwohl leb-, gesichts- und am Ende geschichtslos. In einem weiten Sinn mag der Roman somit noch als mimetischer „Stadttext“ über die argentinische Metropole durchgehen, obschon Letztere darin mitnichten ein „über referentielle bzw. semantische Rekurrenzen abgestütztes […] dominantes Thema“ 159 ist, wie Andreas Mahlers diesbezügliches Kriterium reklamiert. Jedenfalls aber verhindert die geschichtslose Kartographie, mit welcher sich En la sangre begnügt, dass der „Stadttext“ eine vielschichtige „Textstadt“ 160 hervorbringt, die ein eigenständiges Imaginäres evozieren könnte. Das ist gleichsam der Blutzoll, den Cambaceres‘ Roman vom Titel an entrichtet, parawissenschaftlich überhöht, polemisch ausspielt und trotz kompositorischer Brüchigkeit durchhält. Unter seine Opfer zählt er dabei neben dem fiktiven Buenos Aires auch das Kontinuum, das die vorliegende Untersuchung in der diskontinuierlichen Genealogie der hispanoamerikanischen Narrativik verfolgte: Die transkulturelle Prozessualität, die aus dem Import französischer Diskursmodelle rührt, reduziert sich in En la sangre auf eine Schwundstufe, die nurmehr ansatzweise, eben umrisshaft wie der Chronotopos der Stadt, greifbar wird. Die enge Anlehnung an Zolas Experimentalpoetik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Cambaceres den naturalistischen Roman einem plakativen Kommunikat unterstellt. Die bloße Verlagerung historischer und geographischer Koordinaten - von der Verfallsgeschichte des Zweiten Kaiserreichs zur sozioökonomischen Zerreißprobe in Argentiniens Kapitale - etabliert noch kein konsistentes „sistema literario autónomo donde se dan cita elementos de distintas culturas“, wie es Ángel Ramas zugrunde gelegte Kategorie vorsieht. Solch kreative „plasticidad [trans-]cultural“ 161 bleibt En la sangre verwehrt. Den Schriftsteller Cambaceres dürfte das seinerzeit wenig geschmerzt haben, garantierte ihm sein lose verkittetes Erzählkonstrukt doch sowohl Beachtung in literarisch informierten Kreisen als auch die Aufmerksamkeit einer bereits aufgewiegelten Öffentlichkeit. Derlei Widersprüche brechen in der narrativen Fiktion selbst auf, was philologisch redlich nicht etwa zu beklagen, sondern in seinem exemplarischen Charakter zu erkennen ist. Denn En la sangre steht repräsentativ für eine Reihe argentinischer Romane, die Ende des 19. Jahrhunderts naturalistische Vertextungsmuster und urbane Schauplätze für Radikalisierungen in 158 Zu Michel de Certeaus Konzept der pratiques de l‘espace mit den entsprechenden Binomen (lieu vs. espace, carte vs. parcours) vgl. Invention du quotidien, 175-180 sowie die betreffenden Erläuterungen in Kapitel II.5.2 der hiesigen Untersuchung. 159 Andreas Mahler, „Stadttexte - Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie - Mimesis - Imagination, Heidelberg: Winter 1999, 11-36, hier 12. 160 Vgl. nochmals Mahler, „Stadttexte - Textstädte“, 11-36. 161 Beide Zitate: Rama, Transculturación narrativa, 208/ 38. 362 Krisennarrative um 1880 Dienst nehmen, deren Aussage stets inakzeptabel ist, die aber - das sollte gezeigt werden - ebenso literarisch wie ideologisch motiviert sind. Für ein gravierendes Beispiel sei einzig an La bolsa (1891) erinnert, 162 zumal Julián Martels im Feuilleton publizierter Roman einen Zyklus von Prosatexten anführt, die sich - teils an Zolas L’argent (1890/ 91) geschult - dem tiefgreifenden Finanzkrach in Argentinien nach dem Zusammenbruch des britischen Kreditinstituts Baring Brothers (1889/ 90) widmen. 163 Das Scheitern eines vormals ehrlichen und durch Spekulation ruinierten Advokaten ist in La bolsa als Ereignisfassade nur vorgeschoben, um mit einem Raubtierkapitalismus abzurechnen, dessen freilich jüdische Exponenten nun anstelle der italienischen Einwanderer als Sündenböcke herhalten müssen. Eine kurze Kostprobe des stereotypen, nahezu wörtlich an zeitgenössische Pamphlete wie Édouard Drumonts La France juive (1886) anknüpfenden Antisemitismus sollte genügen: ¿Por qué no trabajaba el judío? ¿Por qué hacía alarde de no haber empuñado nunca el arado, de no haber sido nunca agricultor, ni haber ejercido jamás ninguna profesión útil? „Vampiros de la sociedad moderna, su oficio es chuparle la sangre“ - decía el doctor manoteando -. „Él es quien fomenta la especulación, quien aprovecha el fruto del trabajo de los demás... Banquero, prestamista, especulador, nunca ha sobresalido en las letras, en las ciencias, en las artes, porque carece de la nobleza de alma necesaria [...].” 164 Die rassistischen Hetzreden, die Martel seinem Protagonisten in den Mund legt, sind abstoßend und nichtsdestoweniger wären sie mit politisch korrekter Empörung unzureichend, da de-kontextualisierend verhandelt. In Rechnung zu stellen ist stattdessen die gefährliche Mischung, die der thematische Aktualismus mit dem ästhetischen Faszinosum des Kataklysmus eingeht. So versteht man denn auch, warum sich gerade das naturalistische Instrumentarium dazu eignet, Untergangsvisionen zu beschwören, deren 162 Eine kurze Inhalts- und Verfahrensskizze zu La bolsa findet sich in Kapitel I.4.3 dieser Studie. Lektüren, die der antisemitischen Ideologisierung des Romans ebenso nachgehen wie deren inhärenten Widersprüchen, bieten Carlos Javier Morales, Julián Martel y la novela naturalista argentina, Logroño: Universidad de La Rioja 1997, 77ff.; Schlickers, Lado oscuro de la modernización, 208-220; Culasso, Geopolíticas de ficción, 91ff.; Alejandra Laera, Ficciones del dinero: Argentina 1890-2001, Buenos Aires u.a.: FCE 2014, 37ff. und Kurt Hahn, „Cash und Crash, Spekulanten und Sündenböcke: Die gespenstische Kommunikation des Kapitals und die Krise der Repräsentation in Julián Martels Roman La bolsa“, in: Christoph Hornung et al. (Hg.), Kommunikation und Repräsentation in den romanischen Kulturen (Festschrift für Gerhard Penzkofer), München: AVM 2015, 281-302. 163 Den verbindenden Stoffkreis der modernen Finanzwelt in der Romanserie beleuchtet Katharina Niemeyer, „‚Este es un pueblo que se desarrolla de golpe‘: La (re)presentación de la modernidad en la novelas argentinas del ‚ciclo de la Bolsa‘“, in: RCLL 24/ 47 (1998), 123-145. 164 Martel, La bolsa, 130. Transkulturelle Ausdifferenzierung und naturalistischer Extremismus 363 angeblich physiologische und/ oder soziologische Ursachenforschung dem Druck eines dichten Marktes erliegt und in chauvinistische Ressentiments abgleitet. La bolsa und En la sangre nehmen sich in dieser Hinsicht wenig, beide Romane sind Resultate einer Gemengelage, in der literarische von medienökonomischen Ansprüchen überformt zu werden drohen, was sie ihrerseits mit Populismus kontern. Transkulturelles Erzählen hat es hier nochmals schwerer als zu Beginn des Jahrhunderts in Mexiko bzw. Neuspanien, wo Fernández de Lizardi sein aufklärerisch-pikareskes Romanhybrid El Periquillo Sarniento immerhin auf freiem Feld platzieren kann; schwerer auch als im beinahe zeitgenössischen Kolumbien, wo man Jorge Isaacs’ französische María zur lateinamerikanischen Ursprungsfabel kürt und wo wenig später José Asunción Silvas Dialog mit dem europäischen Ästhetizismus zumindest eine ironische Autonomie für den hispanoamerikanischen Roman erschreibt. Wo hingegen das Gesetz unbedingten Erfolges regiert, da haben Ambivalenzen, wie sie Silvas De sobremesa ausbuchstabiert, keinen Platz; da gilt es das Fremde nur möglichst aufsehenerregend in Eigenes zu konvertieren und da ergeben sich ob des double-bind heteronomer Interessen zwangsläufig Unstimmigkeiten. Oder wie sonst sollte man es deuten, wenn just der tumbe Genaro jene Maxime, der sich Cambaceres bedauerlicherweise in En la sangre - nicht in Sin rumbo - beugt, auf eine krude, wiewohl wegweisende Gleichung bringt (ELS 83)? Tal había sido siempre su regla, su norma, su criterio, así entendía las cosas él; marchaba con su siglo, vivía en tiempos en que el éxito primaba sobre todo, en que todo lo legalizaba el resultado. Lo demás era zoncera, pamplinas, paparruchas, el bien por el bien mismo, el deber por el deber… ¿dónde se veía eso? Abgesang nach 1900 VI Vom Narrativ zur Ideologie, von der Transkulturation zur Autochthonie und wieder zurück Ausgerechnet die ideologische Zuspitzung, die Cambaceres als fragwürdige Erfolgsgarantie seines letzten Romans bemüht, nimmt eine Tendenz vorweg, die sich auf hispanoamerikanischem Boden alsbald generalisieren wird. Mit der Dämonisierung europäischer Produktivkräfte, deren menschliche Inkarnation der ehrgeizige Genaro vorstellt, antizipiert En la sangre eine Entwicklung, die kaum fünfzehn Jahre später auf literarische Darstellungsverfahren, kollektive Wahrnehmungsmuster und zunehmend auch politische Orientierungen übergreifen wird. Denn nachdem in den 1880er und 1890er Jahren mit Naturalismus und Modernismo noch zwei Bewegungen das Feld erobern, die keinen Hehl aus ihrem „galicismo de la mente“ 1 machen und die das geistige Erbe Frankreichs etwa gegen den erstarkenden US-Pragmatismus wenden, ändert sich in der Folge merklich die Tonlage. Bis heute „ohne Ende“ mag zwar die „Faszination“ sein, die laut Walter Bruno Berg die transatlantischen Kulturkontakte kennzeichnet. 2 Seitens des südlichen Amerikas erfährt sie gleichwohl eine markante Unterbrechung, als sich mit Eintritt in das 20. Jahrhundert ein Generalverdacht gegen die Alte Welt erhebt, wovon selbst das Hexagon nicht verschont bleibt. Das Misstrauen, das En la sangre noch klassenborniert auf die gefährlich mobile Unterschicht italienischer Neuankömmlinge beschränkte, erweitert sich insofern, als europäische Werte, Ideenformationen und Güter fortan ungachtet ihrer partikulären Herkunft unter Beobachtung stehen. Was einerseits zweifellos als Stärkung des hispano- und lateinamerikanischen Selbstbewusstseins aufzufassen ist, das gerade mit den Hundertjahrfeiern zu den jeweiligen Unabhängigkeiten Auftrieb erhält, tangiert andererseits auch die französischen Affinitäten des vorangehenden Jahrhunderts. In einem Zugang, der mit der Erzählliteratur ein schmales Segment soziokulturellen Lebens fokussiert, wäre es selbstverständlich vermessen, die diversen Motive für die crise du modèle français zu bündeln oder gar in Beziehung zu setzen. In seiner voluminösen Untersuchung gleichen Titels bietet dem- 1 Siehe nochmals Valera, „Carta a D. Rubén Darío” [1888] in: Darío, Azul..., 107 sowie Darío, „Los colores del estandarte“ [1896], in: Ders., Obras completas, Bd. 4, 874. 2 Vgl. Walter Bruno Berg, „Frankreich und Lateinamerika - Faszination ohne Ende? “, in: Fernand Hörner / Rolf G. Renner (Hg.), Deutsch-französische Berührungs- und Wendepunkte. Zwanzig Jahre Forschung, Lehre und öffentlicher Dialog am Frankreich-Zentrum, Freiburg: Frankreich-Zentrum 2009, 449-458. 368 Abgesang nach 1900 entsprechend auch der Historiker Denis Rolland eine eher abstrakte Ursachentypologie: Dans les premières décennies du vingtième siècle, sans que le sens de ces représentations de la France évolue notablement, „l’épaisseur“ de l’image amorce une durable diminution. Cela pour quatre types de raisons, au moins, dont l’affirmation chronologique s’inscrit dans une relative succession: raisons internes à l’Amérique latine, déclin de la présence française, évolution de la perception de la France et concurrence de modèles étrangers. 3 Sowohl internationale Schwerpunktverlagerungen und Allianzen - der Einfluss des großen Nachbarn im amerikanischen Norden wuchs schließlich unaufhörlich - als auch reaktionäre Nationalismen, neu erwachende Sozialismen und Anarchismen wären also zur Diskussion zu stellen, um die betreffenden „[l]ogiques et mécanismes d’un éloignement“ 4 zu erkunden. Geführt werden kann die Diskussion hier freilich nicht, was angesichts Rollands quellenkundlich minutiöser Forschung nicht allzu schwer wiegt. Dieser Ausblick begnügt sich hingegen mit dem heuristischen Befund, dass ab der Jahrhundertwende auch das kulturelle Prestige Frankreichs in der hispanoamerikanischen Öffentlichkeit leidet, weil neokoloniale Implikate klarer erkannt, zunehmend skeptisch beäugt, alarmierend angemahnt oder mitunter erst erfunden werden. Das breite Angebot literarästhetischer oder kulturgeschichtlicher Etikettierungen signalisiert schon namentlich die intendierte Stoßrichtung. Mit dem Criollismo 5 und wenig später - und meist auf der Gegenseite des Spektrums angesiedelt - dem Indigenismo 6 seien lediglich zwei Losungen 3 Denis Rolland, La crise du modèle français. Marianne et l’Amérique latine: Culture, politique et identité, Paris: L’Harmattan 2011, 108. Rolland rekonstruiert auf Basis statistischer Erhebungen und umfassender Quellen die politischen, sozialen und teils kulturellen Ursachen für Lateinamerikas Distanzierung (ebd., 107-256) vom französischen Vorbild. Selbst ohne einschlägige Titel beizubringen, ist anzumerken, dass der hier erzählanalytisch perspektivierte Ideentransfer zwischen Frankreich und Lateinamerika seit geraumer Zeit auch geschichtswissenschaftlich umfänglich beforscht wird; vgl. beispielhaft die Bibliographie ebd., 417-436. 4 Rolland, La crise du modèle français, 107. 5 Zum criollistischen Erzählen samt seinen ideologischen Problemlagen vgl. systematisch Prieto, Discurso criollista, bes. 141-187; Arturo Sergio Visca, Aspectos de la narrativa criollista, Montevideo: Biblioteca Nacional 1972; Ernesto Quesada / Alfredo V. Rubione (Hg.), En torno al criollismo: El criollismo en la literatura argentina, Buenos Aires: Centro Ed. de América Latina 1983. Maßgebliche Gesichtspunkte resümiert bereits Horst Rogmann, „Grundmotive des kriollistischen Romans im spanischen Amerika“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 206/ 207 (1970), 401-422. 6 Siehe exemplarisch Antonio Cornejo Polar, Literatura y sociedad en el Perú: La novela indigenista, Lima: Centro de Estudios Literarios „A. C. Polar“ 2005; Julio Rodríguez- Luis, Hermenéutica y praxis del indigenismo. La novela indigenista, de Clorinda Matto a José Vom Narrativ zur Ideologie 369 benannt, unter denen das hispanoamerikanische Erzählen sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gegen scheinbar Fremdes zu immunisieren trachtet. Derart zu Sprachrohren autochthoner Vorstellungswelten (v)erklärt, 7 muss es literarischen Texten zumindest vordergründig darum zu tun sein, ihr transkulturelles Erbe abzustreifen und so auch etwaige französische Wurzeln zu kappen. Falls nötig, geschieht dies mit schriller Rhetorik. So ruft beispielsweise der venezolanische Ex-Modernist, Dichter und Romancier Rufino Blanco Fombona 1913 zur bedingungslosen Abrechnung mit der schädlichen Flucht nach Frankreich auf: „¡Abajo el exotismo! El enemigo es París. ¡Muera París! “ 8 Es kommt weniger darauf an, ob der zu dieser Zeit selbst in Paris ansässige Blanco Fombona seiner Invektive auch in der Praxis, etwa im weiterhin symbolistisch grundierten Roman El hombre de hierro (1907) gerecht wird. Ausschlaggebend ist allein die übergreifende Symptomatik, 9 die der provokanten Äußerung ebenso eignet wie der Laufbahn anderer Autoren, die dem kosmopolitischen Ästhetizismus entsagen, um künftig die tierra americana zu idealisieren - unter den bekanntesten der Uruguayer Horacio Quiroga oder der Argentinier Leopoldo Lugones, der vom avantgardistischen Neuerer des Modernismo zum Gaucho-Experten und sodann zum patriotischen Reaktionär einen weiten Weg zurücklegt. Denn ohne dass Frankreich, dass gerade Paris nach 1900 in Hispanoamerika seine Attraktivität als Zentrum künstlerischer Innovationen, kultureller Interaktionen und publizistischer Optionen verloren hätte, 10 vollzieht sich analog zur politischen Innenwendung ein Strukturwandel literarischer und näherhin narrativer Observanz. Obschon die Vertreter der María Arguedas, México: FCE 1980 und José Alcina Franch (Hg.), Indianismo e indigenismo en América, Madrid: Alianza 1990. 7 Zur Autochthonie im hispanoamerikanischen Roman des frühen 20. Jahrhunderts siehe nochmals Alonso, Spanish American Regional Novel, 1-37. 8 Rufino Blanco Fombona, „Ensayo sobre el modernismo literario en América“ [1913]; zitiert nach: Ricardo Souza de Carvalho, „La Revista Americana y el diálogo intelectual en Latinoamérica“, in: Revista Iberoamericana 70/ 208-209 (2004), 665-676, hier 669. 9 Schon Rubén Darío verhehlt - in einem Artikel aus La Nación vom Dezember 1901 - nicht seine Ernüchterung, nachdem er seiner Ansicht nach den Ausverkauf der französischen Leitkultur erlebt hat: „Llegué a París con todas las ilusiones, con todos los entusiasmos. Mi deseo era poder oír de cerca la palabra de los maestros, intimar con los nuevos escritores, aprender, sentir al lado de ellos el fuego secreto, la misteriosa llama que hace pensar y realizar tan bellas cosas. Recibir lecciones de consagración, de fidelidad a un ideal, a un alto objeto moral, a un culto artístico y humano. Desde lejos el miraje era ciertamente encantador. Llegué, ví, quedé desconcertado. El arte, la literatura, ha sufrido la esclavitud de todas las demás disciplinas: el industrialismo.“ (Escritos dispersos, hg. von Pedro Luis Barcia, La Plata: Universidad Nacional de La Plata 1977, Bd. 2, 112). 10 Das Gegenteil ist wohl eher der Fall, gewahrt man die Vielzahl hispanoamerikanischer Publikationen, Verlage und Karrieren, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Paris ihren Ausgang nehmen; vgl. Villegas, Paris, capitale littéraire, 13ff.; Streckert, Hauptstadt Lateinamerikas, 79ff. und Rolland, La crise du modèle français, 45ff. 370 Abgesang nach 1900 regionalistischen novela de la tierra nach wie vor das Stimulans betonen, das ein Aufenthalt in der französischen Hauptstadt verspricht, 11 können und wollen sie nicht mehr unbefangen auf die dort kursierenden Erzähltypen zurückgreifen. Der proklamierte Anspruch der Selbstdarstellung verbietet eine je nach Interessenslage funktionalisierte Bezugnahme, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts möglich war und wie sie das Vorangehende in verschiedenen Abschattungen nachvollzog. Das symbolische Kapital, das ehedem eine flexible, entweder getarnte oder ironische, nostalgische oder gar extremistische Transkulturation französischer Stil- und Sujetvarianten garantierte, büßt unter solchen Umständen rapide an Wert ein. Es verfällt, weil die Konjunktur des Heimischen, die in den ersten Jahrzehnten des neuen Säkulums herrscht, jedwede manifeste Übertragung als unamerikanischen europeísmo oder cosmopolitismo ahnden kann. Zwar verstummen deshalb nicht mit einem Mal sämtliche world literary discourses, deren erster Entwicklungsschub in Lateinamerika Mariano Siskind zufolge immerhin bis 1925 reicht. 12 Dennoch sucht man jetzt nicht nur das ‚Koloniale‘, sondern auch das ‚Kosmopolitische‘ zu überwinden, um schließlich den ersehnten „período nacional“ einzuläuten, der selbst Exponenten des marxistischen Lagers wie José Carlos Mariátegui als Telos eines gelungenen „proceso literario“ 13 vorschwebt. Ein tatsächlicher Zuwachs an literarischer Autonomie verbindet sich damit noch nicht. Im Gegenteil, treten doch insbesondere erzählende Gattungen auf diese Weise mehr und mehr Terrain an ideologische Positionierungen ab, die ihre Brechung durch die Fiktion bestmöglich leugnen. Die Verabsolutierung des Politischen, die mithin droht, muss nicht unbedingt in aggressiv nationalistische Gesinnungen münden, wie sie ein schematischer Criollismo fraglos begünstigt. Sie 11 „En París, pues, me decidí une fois pour toutes […] a convertirme en escritor“ - gesteht so etwa mit Ricardo Güiraldes („A modo de autobiografía“ [1925], in: Ders., Obras completas, hg. von Juan José Güiraldes, Buenos Aires: Emecé 1962, 25-36, hier 30) ein wichtiger Vertreter der novela de la tierra, dessen Roman Don Segundo Sombra (1926) eine narrativ avancierte Revision des Gaucho-Genres unternimmt. 12 Vgl. Siskind, Cosmopolitan Desires, 103-183: „The Rise of Latin American World Literary Discourses (1882-1925)“. 13 „El proceso de la literatura” ist der letzte der Siete ensayos de interpretación de la realidad peruana (hg. von Elizabeth Garrels, Caracas: Ayacucho 1979, 156) überschrieben, mit denen Mariátegui 1928 die peruanische Gesellschaft und Kultur im Licht des historischen Materialismus seziert. Literaturgeschichtlich setzt er dabei auf einen teleologischen Dreischritt, der zwangsläufig Gefahren der Verkürzung birgt: „Una teoría moderna - literaria, no sociológica - sobre el proceso normal de la literatura de un pueblo distingue en él tres períodos: un período colonial, un período cosmopolita, un período nacional. Durante el primer período un pueblo, literariamente, no es sino una colonia, una dependencia de otro. Durante el segundo período, asimila simultáneamente elementos de diversas literaturas extranjeras. En el tercero, alcanzan una expresión bien modulada su propia personalidad y su propio sentimiento.” Für eine kritische Würdigung des Essays vgl. Ette, Viellogische Philologie, 118-130. Vom Narrativ zur Ideologie 371 innerviert genauso - tendenziell links - engagierte Filiationen der Narrativik, wie sie mit dem mexikanischen Revolutionsroman einsetzen und am markantesten im andinischen Indigenismo eines Ciro Alegría oder José María Arguedas Niederschlag finden. Für eine Fortschreibung der hiesigen Genealogie wäre sicherlich zu bedenken, dass man in Hispanoamerika weitaus undogmatischer mit der literatura comprometida umgeht als in Europa, dass diese folglich nicht in einem planen sozialistischen Realismus aufgehen muss, sondern mitunter hochkomplexe Wirklichkeitsentwürfe hervorbringen kann. Von Bedeutung ist abschließend aber nur, dass trotz verbesserter Rahmenbedingungen, trotz größerer Spielräume der Literatur in der Gesellschaft und neuer medientechnischer Potentiale die Transferprozesse zwischen Frankreich und Hispanoamerika ab 1900 zwar nicht völlig versiegen, doch teilweise zurückgedrängt oder unterschlagen werden. Der Botschaft hispanoamerikanischer Authentizität wegen minimiert oder eskamotiert man jene Dialektik, die den oben gelesenen Romanen als verbindendes Movens zugrunde lag: Schärfte darin jeweils die Auseinandersetzung mit dem Fremden das Bewusstsein für das Eigene, so blockiert nun just die programmatische Fixierung auf das Eigene die Sensibilität für das unweigerlich Fremde im Eigenen. Krisen- und Ursprungsnarrative - so wäre die veranschlagte Systematik eventuell weiterzudenken - gehen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Allianz ein, die nurmehr wenig Raum für die Entfaltung von Globalisierungsnarrativen lässt. Der Druck einer Lebenswelt, in der ebendiese Globalisierung unaufhaltsam voranschreitet, trägt wohl seinen Teil zu dieser literarischen Konterreaktion bei. Gerade noch vom weltläufigen Modernismo gefeiert, sieht sich der „novelista de la universalidad humana“ 14 wenigstens vorübergehend ins Abseits verbannt. José Enrique Rodós 1896 ausgegebene, im Nachhinein regelrecht präventiv anmutende Devise „[que] la patria intelectual no es el terruño“ 15 , stößt kurz darauf weitgehend auf taube Ohren und gerinnt spätestens um 1910, als besagtes Unabhängigkeitsgedenken den Nationalstolz beflügelt, zwangsläufig zum Anachronismus. Die Bestandsaufnahme impliziert wohlgemerkt kein pauschales Qualitätsurteil. Auch die Mystifikationen oder Mythisierungen des Eigenen - wahlweise verstanden als Region, Vaterland, Ethnie oder Natur - generieren unter Umständen nuancierte Erzählökonomien, wie vorrangig ab 1920 erscheinende Romane bezeugen: José Eustasio Riveras La vorágine (1924) in 14 José Enrique Rodó, „La novela nueva. A propósito de Academias de Carlos Reyles“ [1896], in: Ders., Obras completas, hg. von Emir Rodríguez Monegal, Madrid: Aguilar 1967, 155-164, hier 163. Rodós Romanbesprechung versteht sich als eindringliches Plädoyer für eine zugleich transkulturelle wie selbstbewusst hispanoamerikanische Narrativik, reklamiert er darin doch (ebd., 162) „la necesidad de la vinculación fundamental de nuestro espíritu con el de los pueblos a quienes pertenece el derecho de la iniciativa y la dirección, por la fuerza y la originalidad del pensamiento“. 15 Rodó, „La novela nueva“, in: Ders., Obras completas, 156. 372 Abgesang nach 1900 Kolumbien, Ricardo Güiraldes’ Don Segundo Sombra (1926) in Argentinien, Rómulo Gallegos Doña Barbara (1929) in Venezuela oder wenig später auf indigenistischer Seite Huasipungo (1934) des Ecuadorianers Jorge Icaza liefern eindrucksvolle Belege dafür und laufen doch zuweilen Gefahr, die Topoi des Autochthonen und Regionalen zu überziehen. Es bedarf erst des Durchbruchs der Avantgarden, bis narrative Transkulturationsbewegungen wieder in der Breite salonfähig und vor allem kreativ wirksam werden. Die sukzessive Öffnung und Internationalisierung, die die Prosa eines Jorge Luis Borges ausgehend von ihren criollistischen Anfängen vollzieht, repräsentiert unter etlichen anderen Beispielen ein Paradigma der Wiederkehr, das der hispanoamerikanischen Erzählliteratur spätestens ab 1950 zu Weltgeltung verhelfen wird. Immerhin als Sehnsuchtsort, Inspirationsquelle und Projektionsfläche scheint Frankreich bei alldem seine Signifikanz für hispanoamerikanische Schriftstellerinnen und Schriftsteller bewahrt zu haben. Der Schein trügt jedoch oder, besser gesagt, er vervielfältigt sich in einem widersprüchlichen Schillern. Zwar sind alle, die zu Rang und Namen kommen, einmal da, bringen in Paris Lehrjahre zu und saugen das Fluidum der Lichterstadt ein, um später nicht selten kontrastiv die Mentalitäten ihrer jeweiligen Heimat zu ergründen: Alejo Carpentier ebenso wie Miguel Ángel Asturias, Gabriel García Márquez wie Mario Vargas Llosa, schließlich auch Carlos Fuentes und Julio Cortázar. 16 Letzterer wird bekanntlich bleiben und den Großteil seines Werkes in Paris verfassen, obgleich es auf die kulturelle Infrastruktur vor Ort nicht mehr zwingend ankommt. Gewiss, die französische Verlagsindustrie, ein vielstimmiges und vielsprachiges Pressewesen, zahlreiche Künstlerzirkel, renommierte Bildungsinstitutionen und die intellektuellen Aufbruchsstimmungen der 1940er bis 60er Jahre bieten Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten, die eine Übersiedelung weiterhin erstrebenswert machen. 17 Doch mit der Anerkennung, die einst die bloße Bezugnahme auf französische Diskursimporte gewährleistete, kann man in den diesseits wie jenseits des Atlantiks ausdifferenzierten Literaturlandschaften nicht mehr rechnen. Der Kategoriensprung gegenüber dem 19. Jahrhundert ist schwerlich zu übersehen. Symbolisches Kapital ist inzwischen nur noch in und mit der narrativen Fiktion selbst zu haben, genauerhin im Modus eines Imaginären, das einseitigen Glorifizierungen abschwört und dem Faktischen fortwährend ambivalente Weltmodelle entringt. Kaum jemand hat dies umfassender ausgelotet und fantastischer ausfabuliert als besagter Julio 16 Vgl. hierzu jeweils die entsprechenden Abschnitte bei Weiss, Lights of Home, 47ff. und Nelle, Atlantische Passagen, 296ff. 17 Soziokulturelle und genuin literarische Faktoren, die Paris nach 1945 für hispanoamerikanische Autorinnen und Autoren weiterhin attraktiv machen, versammelt detailliert Villegas, Paris, capitale littéraire, 13ff. Vom Narrativ zur Ideologie 373 Cortázar, der einerseits nochmals unverhohlen den Mythos Paris 18 wachruft und in all seinen - romantischen, surrealistischen und existentialistischen - Facetten durchdekliniert: etwa in Erzählungen wie „Carta a una señorita en París“ (1951) 19 oder „Cartas de mamá“ (1959) 20 , die Argentiniens spießbürgerlicher Enge zumindest vordergründig den weiten Horizont französischer Selbstverwirklichung gegenüberstellen, und mehr noch im Meisterroman Rayuela (1963). Wie gesagt, verhält es sich jetzt aber anders, als es auf den ersten Blick scheint, woran auch Cortázars Stilisierung der Seine- Metropole zum Schauplatz eigener literarischer Neugeburt im Zeichen des Engagements nichts ändert. 21 Denn gerade Rayuela führt andererseits vor Augen, wie eng mittlerweile sogar im vermeintlichen Herzen des okzidentalen Denkens Himmel und Hölle, Traum und Albtraum, geistige Verfeinerung und schierer Wahnsinn beieinanderliegen. Die binäre Raumsemantik und Erzähltektonik, vermittels derer der Roman abermals die globale Kulturhauptstadt Paris („Del lado de allá“) mit dem transatlantisch isolierten Buenos Aires („Del lado de acá“) zu kontrastieren vorgibt, findet sich daher in den ‚verzichtbaren‘ Kapiteln des dritten Teils („De otros lados: capítulos prescindibles“) relativiert und ihrer logozentrischen Ordnungsfunktion beraubt. Die Sinndimensionen, die der genius loci der französischen Kapitale entbindet, verzweigen sich konsequenterweise in sämtliche Richtungen. Paris, das ist in Rayuela nicht mehr der Ort, wo es potentielle Künstlernaturen wie der Protagonist Horacio Oliveira zu etwas bringen können und bringen müssen, wollen sie sich behaupten. Gleich Oliveiras Pseudo-Muse, der sagenumwobenen Maga, ist Paris stattdessen eine „enorme metáfora“ 22 , ein Kosmos oszillierender Bedeutungen, stadtgewordene Semiose, stetige Neuerfindung, 18 Siehe die einschlägige, größtenteils auf das 19. Jahrhundert konzentrierte Studie von Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris: Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München: Hanser 1993. 19 Vgl. Julio Cortázar, „Carta a una señorita en París“ [1951], in: Ders., Bestiario, Buenos Aires: Ed. Sudamericana 1970, 19-34. 20 Vgl. Julio Cortázar, „Cartas de mamá“ [1959], in: Ders., Las armas secretas, hg. von Susana Jakfalvi, Madrid: Cátedra 1997, 69-91. Panoramen zu Cortázars Paris-Erfahrungen, die zugleich biographische wie narrative Komponenten berücksichtigen, bieten Weiss, Lights of Home, 81-94 und Nelle, Atlantische Passagen, 402-446. 21 „De mi país se alejó un escritor para quien la realidad, como lo imaginaba Mallármé, debía culminar en un libro; en París nació un hombre para quien los libros deberán culminar en la realidad. […] Empecé por tener conciencia de mi prójimo, en un plano sentimental y por decirlo así antropológico.“ So Cortázar in einem veröffentlichten Brief an Roberto Fernández Retamar aus dem Mai 1967; zitiert nach: Julio Cortázar, Último round II [1969], México: Siglo XXI 2004, 265-280, hier 272. 22 Julio Cortázar, Rayuela [1963], hg. von Andrés Amorós, Madrid: Cátedra 2007, 278 (Kapitel 26). Die Bedeutungspotentiale, die die Paris-Kartographie in Rayuela entfaltet, finden sich versuchsweise visualisiert im Bildband von Héctor Zampaglione, El París de „Rayuela“. Homenaje a Cortázar, Barcelona: Lunwerg 1998. 374 Abgesang nach 1900 zugleich ‚Zentrum‘ und dezentriertes ‚Mandala‘, bald selbstbewusster ‚Logos‘, bald flüchtiges ‚Pneuma‘ 23 , exakte mathematische Formel oder absurde Pataphysik und am Ende jeweils das, was der einzelne „lector cómplice“ 24 hinein- und herausliest. Hier reüssiert man nie und verliert sich immer in einem labyrinthischen Palimpsest intertextueller Überschreibungen und Transkulturationen, die mehr als ein Jahrhundert nach dem Einsatzpunkt dieser Studie ebenso unverzichtbar wie gefährlich und für manche selbstzerstörerisch geworden sind: Así es cómo París nos destruye despacio, deliciosamente, triturándonos entre flores viejas y manteles de papel con manchas de vino, con su fuego sin color que corre al anochecer saliendo de los portales carcomidos. Nos arde un fuego inventado, una incandescente tura, un artilugio de la raza, una ciudad que es el Gran Tornillo, la horrible aguja con su ojo nocturno por donde corre el hilo del Sena, máquina de torturas como puntillas, agonía en una jaula atestada de golondrinas enfurecidas. Ardemos en nuestra obra, fabuloso honor mortal, alto desafío del fénix. 25 Cortázar hat aus solch halluzinatorischer Zerrüttung ein Kultbuch verfertigt und somit als hispanoamerikanischer Romancier letztlich doch reüssiert. Die Leidtragenden sind seine Figuren, auf deren Kosten er in Rayuela postmoderne Weltliteratur erschafft. Sie laborieren an einem mentalen Gallizismus, der als Syndrom kultureller Überlastung inzwischen allerlei psychopathologische Fälle hervorbringt. 23 Die beiden vorangehenden Binome entstammen wörtlich dem poetologischen „capítulo prescindible“ 93 (Cortázar, Rayuela, 595): „París es un centro, entendés, un mandala que hay que recorrer sin dialéctica, un laberinto donde las fórmulas pragmáticas no sirven más que para perderse. Entonces un cogito que sea como respirar Paris, entrar en él dejándolo entrar, neuma y no logos.“ Zu den unerschöpflichen Sprach- und Zeichenspielen in Rayuela vgl. exemplarisch Walter Bruno Berg, Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart, Frankfurt/ Main: Iberoamericana/ Vervuert 1991, 185ff. 24 Vgl. Cortázar, Rayuela, 559-561 (Kapitel 79). 25 Cortázar, Rayuela, 546 (Kapitel 73). 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Barrès, Maurice 187, 195, 206, 208, 226 Bashkirtseva (Bashkirtseff), Maria 206f., 209, 239 Baudelaire, Charles 85, 188, 197, 206, 208, 230 Beck, Ulrich 177 Beckman, Ericka 203, 236 Bécquer, Gustavo Adolfo 183, 187 Bello, Andrés 22f., 38, 56, 83 Benítez-Rojo, Antonio 31f., 108, 174 Benjamin, Walter 18, 36, 85, 216, 219, 230, 235f., 238, 312 Benveniste, Émile 165 Berg, Walter Bruno 41, 46, 199, 367, 374 Bernardin de Saint-Pierre, Jacques- Henri 126, 253, 271-276, 279f., 282, 289f., 303 Bernecker, Walther L. 34, 45, 244, 259 Bhabha, Homi K. 35, 38, 312 Bilbao, Francisco 26 Blanchard, Jean Baptiste 125, 131f., 140, 143-145, 154 Blest Gana, Alberto 36, 40f., 314 Bloch, Ernst 83, 243 Blumenberg, Hans 293 Borges, Jorge Luis 30, 251, 306, 372 Borsò, Vittoria 130 Bourdieu, Pierre 39 40, 49-51, 86f. , 97, 99-105, 173, 185, 257, 304, 322f., 325, 329, 331, 348 Bourget, Paul 187, 195, 198f., 208, 229, 245 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 23-25, 125 Burns, Bradford Edward 73 Cadalso, José de 112, 137 Calderón de la Barca, Pedro 277 Cambaceres, Eugenio 40f., 63, 84, 311, 316-363, 367 Carpentier, Alejo 30, 33, 372 Carrió de la Vandera, Alonso 65f. Certeau, Michel de 61, 82, 98, 130, 156, 165-169, 360f. Cervantes, Miguel de 96, 105, 111- 113, 172, 276f. Charcot, Jean-Martin 188, 212 Chateaubriand, François-René de 24, 54, 126, 253, 271-274, 276- 284, 289f., 303, 353 Condorcet, Nicolas de 157 Cornejo Polar, Antonio 46, 368 Cortázar, Julio 30, 372-374 Cymerman, Claude 273, 316, 319- 322, 326, 328-331, 333, 335, 342, 345, 347, 349f., 354, 359f. D’Annunzio, Gabriele 189, 195, 208, 226 Dällenbach, Lucien 161f., 205 Damrosch, David 174 Dante, Alighieri 208, 210 Darío, Rubén 20-22, 78f., 81, 83, 86, - 412 Personenregister 88, 180, 183, 192, 206, 231, 257, 367, 369 Deleuze, Gilles 123, 169, 172, 335 Derrida, Jacques 121, 147, 157, 219, 297, 299f., 302f., 312 Desportes, Marc 69 Diderot, Denis 24, 129, 133f., 147 Dostojewskij, Fjodor M. 217 Dünne, Jörg 39, 86, 164, 166, 229, 240 Echeverría, Esteban 52-57, 223 Ehrlicher, Hanno 164f., 167 Espejo, Eugenio 13-16, 19 Espósito, Fabio 324, 328, 331 Ette, Ottmar 25, 34, 56, 67, 82, 89, 106, 112, 116, 128, 161, 164, 167, 177, 191, 370 Feijoo, Benito Jerónimo 16, 18, 129 Fénelon, François 126, 129, 140 Fernández de Lizardi, José Joaquín 63, 66, 75, 79, 93-174, 177, 179, 181, 194, 202, 208, 246, 252, 363 Flaubert, Gustave 49, 87, 188, 209, 272, 343f., 359 Folger, Robert 38, 55, 67, 124, 264, 334 Foucault, Michel 15, 17, 25, 32, 35, 58-62, 64, 94, 128, 149, 182, 197, 209, 213, 215, 233-235, 240f., 250, 252, 281, 313, 335 Freud, Sigmund 137, 213, 219, 227, 232, 269, 297, 300 Frömmer, Judith 134f., 137, 147, 150 Fuentes, Carlos 30, 35, 58, 174, 372 Fuguet, Alberto 291 Gallegos, Rómulo 372 García Canclini, Néstor 89, 177- 180, 312 García Márquez, Gabriel 30, 33, 174, 181, 184f., 254, 372 Gautier, Théophile 187, 272 Genette, Gérard 111, 113, 115, 118, 124, 182, 193, 243, 267f., 273 Girard, René 120, 335 Glissant, Édouard 46 Gnutzmann, Rita 317, 322, 327f., 331, 333, 335f., 345 Goethe, Johann Wolfgang von 54, 211, 295 Gómez de Avellaneda, Gertrudis 36, 251 Gómez, Sergio 291 González Echevarría, Roberto 31- 35, 251, 290 González, Aníbal 79f., 95, 105, 119, 122f., 183, 192, 205, 222, 236, 324 González-Stephan, Beatriz 29, 50, 54, 67, 105, 282 Gruzinski, Serge 177 Guattari, Félix 169, 172 Güiraldes, Ricardo 370, 372 Gutiérrez Girardot, Rafael 94, 190, 192 Gutiérrez Nájera, Manuel 77, 80, 180, 187 Habermas, Jürgen 154 Hamon, Philippe 338, 353, 355, 359 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23, 25 Heidegger, Martin 63, 164, 300 Hempfer, Klaus W. 31, 215 Hobsbawm, Eric 51 Horkheimer, Max 72, 155 Hugo, Victor 19, 54, 56, 183, 187, 272 Huysmans, Joris-Karl 195-197, 200f., 204, 207 Icaza, Jorge 372 Innis, Harold A. 69-72, 74f., 82, 85, 87, 223 Iriarte, Juan de 15 Iriarte, Tomás de 15, 119, 126 Isaacs, Jorge 33f., 36, 63, 186, 249- 307, 311f., 363 Iser, Wolfgang 29 Jakobson, Roman 44 Jameson, Fredric 36 Janik, Dieter 54, 68, 130 Jitrik, Noé 180, 192, 282, 319f., 335 Jurt, Joseph 27, 39, 50, 52, 319 Kittler, Friedrich 71f., 221, 223, 227, Personenregister 413 291-293, 295 König, Hans-Joachim 25, 28, 244, 259, 304f. Koselleck, Reinhart 84, 159, 296 Kristeva, Julia 46 Küpper, Joachim 343 Lacan, Jacques 129, 137 Laera, Alejandra 78, 322, 324, 330, 333f., 354, 358, 362 Lamartine, Alphonse de 19, 54, 187, 273f., 279, 303 Leopold, Stephan 38, 55, 67, 124, 130, 147, 202, 251, 263f., 266, 268f., 273, 299, 334 Leroi-Gourhan, André 82 Lotman, Jurij M. 29, 166, 265 Ludmer, Josefina 191, 333 Lukács, Georg 252, 353 Lyotard, Jean-François 35, 249 Mahler, Andreas 17, 39, 86, 162, 229, 361 Mallarmé, Stéphane 17, 187, 197, 207 Man, Paul de 36, 147 Mariátegui, José Carlos 370 Mármol, José 33f., 36, 56, 326 Martel, Julián (Miró, José María) 85, 362 Martí, José 18, 22, 51, 67, 79, 83, 87f., 187, 257 Martín-Barbero, Jesús 79 Martínez Estrada, Ezequiel 83 Marx, Karl 192 Matto de Turner, Clorinda 67 Matzat, Wolfgang 167, 251, 280f., 312, 314, 334f., 345, 349f., 355 McGrady, Donald 258, 262, 272, 280, 282, 293, 305 McLuhan, Marshall 69, 71f., 74f., 221 Meyer-Minnemann, Klaus 95, 158, 183, 185, 191, 195f., 199, 239, 242, 245, 282, 319 Mignolo, Walter 19, 27, 30, 173, 315 Molloy, Sylvia 206, 263, 268 Montesquieu (Secondat, Charles de) 27, 97, 129, 133, 137 Moraña, Mabel 28, 45, 51, 101 Müller, Gesine 174, 177 Musil, Robert 60 Nietzsche, Friedrich 58-64, 199, 200, 206, 208, 222 Nitsch, Wolfram 69, 81, 86 Nordau, Max 205-207, 211, 239 Nouzeilles, Gabriela 318, 336, 338, 342, 347-349 Orjuela, Héctor H. 181, 183-185, 192, 196, 206 Ortiz, Fernando 42-44 Osterhammel, Jürgen 63, 177 Paatz, Annette 39, 76f., 80, 255, 314 Pagni, Andrea 25, 34, 41, 54, 278 Paz, Octavio 250 Pfister, Manfred 31, 47f., 155, 196, 334 Phelan, John Leddy 26 Platon 121, 208, 211, 240 Pollmann, Leo 31, 83 Poppenberg, Gerhard 130, 147 Pratt, Mary Louise 20, 34, 41, 46, 131 Prieto, Adolfo 34, 77f., 319, 324, 326, 368 Quevedo, Francisco de 133 Rama, Ángel 43-49, 60, 74, 78, 94, 100f., 123, 131, 180, 192, 361 Ramos, Julio 56, 67, 78, 83, 315 Rancière, Jacques 359 Ranger, Terence 51 Raynal, Guillaume-Thomas F. 24 Rincón, Carlos 31, 129, 178, 255 Rodó, José Enrique 22, 86, 371 Rodríguez, Simón 22, 278 Rolland, Denis 368f. Roloff, Volker 32, 158, 262 Rossetti, Dante Gabriel 206, 211 Rössner, Michael 15, 124, 135, 138, 251 Rousseau, Jean-Jacques 27, 97, 120, 129-134, 136, 138-147, 149-152, 414 Personenregister 154f., 157, 162, 174, 208, 240, 252, 273, 302 Rulfo, Juan 30 Sarmiento, Domingo Faustino 20, 22, 29, 33, 35, 41, 51, 56, 67, 73, 76, 83, 231, 347 Schlickers, Sabine 32, 315, 320, 324- 326, 328, 331, 333, 336, 349, 362 Schmidt-Welle, Friedhelm 38, 42, 45f., 54, 96, 113 Seneca, Lucius Annaeus 204f. Shumway, Nicolas 20 Siegert, Bernhard 297f. Silva, José Asunción 63, 177-246, 249f., 252f., 255, 316, 326, 363 Siskind, Mariano 21, 44, 174, 370 Sloterdijk, Peter 177 Sommer, Doris 35-38, 40, 51, 108, 174, 191, 251f., 260, 263-266, 268, 299, 313f. Spell, Jefferson Rea 99, 102, 126, 128-130, 143, 159, 164 Starobinski, Jean 139 Stierle, Karlheinz 134, 373 Streckert, Jens 18, 41, 77, 188, 210, 369 Strosetzki, Christoph 140 Teuber, Bernhard 9, 167 Todorov, Tzvetan 82, 165 Tolstoi, Leo N. 206, 208, 246 Toro, Alfonso de 28, 42, 178 Tschilschke, Christian von 18, 21, 129 Valera, Juan 21f., 88, 367 Vargas Llosa, Mario 30, 174, 372 Vergara y Vergara, José María 186, 267, 270 Verlaine, Paul 206, 208 Villanueva-Collado, Alfredo 185f., 196, 201, 205f., 208, 211, 239 Villegas, Jean-Claude 18, 41, 369, 372 Viñas, David 320, 323 Virilio, Paul 71, 85, 224f. Vogeley, Nancy 96-99, 102f., 106, 110, 117, 126, 134, 141, 149, 152, 159, 170, 173 Voltaire (Arouet, François-Marie) 13, 24, 27, 97, 129, 133f., 217 Wagner, Richard 206, 208, 217, 242 Warning, Rainer 17, 29, 84, 147, 151, 162, 194, 215, 233, 242, 265, 283, 335, 352, 355 Weber, Max 49, 218 Wehr, Christian 9, 66, 172, 194, 223 Weigel, Sigrid 87 Welsch, Wolfgang 45 Wentzlaff-Eggebert, Harald 32, 66, 158, 262 Wolfzettel, Friedrich 34, 135, 194, 274 Zanetti, Susana 66, 78, 255, 257, 291, 319 Žižek, Slavoj 137 Zola, Émile 209f., 315-319, 326f., 329, 333-335, 337-341, 343f., 349- 353, 355-357, 359-362 Französische Lebens-, Denk- und Schreibstile erfreuen sich seit der Unabhängigkeit in Lateinamerika einer ausgeprägten Wertschätzung, welche die vorliegende Studie auf dem Feld der hispanoamerikanischen Erzählliteratur erkundet. In Frage steht dabei die transkulturelle Aneignung prestigeträchtiger Kulturimporte aus Paris, die im 19. Jahrhundert jenseits des Atlantiks sicheres Renommee verheißen. Dass gerade die kreative Bearbeitung des Fremden - d.h. französischer Prätexte, Darstellungsmuster und Diskurse - die Herausbildung einer eigenen, dezidiert hispanoamerikanischen Narrativik befördert, leitet als Basisthese Kurt Hahns Untersuchung. Sie gewährt damit einen vielfältigen Einblick in die global verzweigten Kultur-, Literatur- und nicht zuletzt Mediengeschichten, die das postkoloniale Lateinamerika prägen. ISBN 978-3-8233-8052-8 Hahn Mentaler Gallizismus Mentaler Gallizismus und transkulturelles Erzählen Kurt Hahn Fallstudien zu einer französischen Genealogie der hispanoamerikanischen Narrativik im 19. Jahrhundert