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Nahe Ferne - ferne Nähe

2017
978-3-8233-9077-0
Gunter Narr Verlag 
Csaba Földes
Detlef Haberland

Die 17 Beiträge dieses Bandes umkreisen die zentralen Begriffe des IV. Kongresses des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes (MGV) im April 2014 in Erfurt mit ganz verschiedenen Ansätzen und Fragestellungen. Ob es das Verhältnis des Menschen zur Natur ist, ob Migranten und Einheimische, ob Vergangenheit und Gegenwart - die Frage danach, wo im Leben, in Ästhetik und Philosophie randständige oder zentrale Probleme verhandelt werden, ist allen Aufsätzen gemeinsam.

9 Nahe Ferne - ferne Nähe Zentrum und Peripherie in deutschsprachiger Literatur, Kunst und Philosophie Csaba Földes/ Detlef Haberland (Hrsg.) Beiträge zur Interkulturellen Germanistik Herausgegeben von Csaba Földes Band 9 Csaba Földes/ Detlef Haberland (Hrsg.) Nahe Ferne - ferne Nähe Zentrum und Peripherie in deutschsprachiger Literatur, Kunst und Philosophie Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck: Hergestellt in der Druckerei der Pannonischen Universität Veszprém im Umfang von 20,5 Druckbögen (A/ 5). Arbeitsnummer: 2017/ 48 Printed in Hungary ISSN: 2190-3425 ISBN: 978-3-8233-9077-0 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Delia Eşian | Die wahren Lügen des biblischen und literarischen Jakob . . . . 1 Marcin Gołaszewski | Ein verlorenes Paradies am Rande Mitteleuropas: Ernst Wiechert und seine Heimat - Ostpreußen und die ostpreußische Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Anna Górajek | Auf Spurensuche - Deutsche unterwegs im zeitgenössischen Polen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Michael Haase | Sehnsucht nach dem „wahren Leben“. Das tragische Bewusstsein des frühen Lukács und seine kakanischen Wurzeln . . . . . . . . . . 43 Gudrun-Liane Ittu | Von Siebenbürgen nach Berlin: Regine Ziegler - eine Schriftstellerin und Dichterin als Mittlerin zwischen Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Małgorzata Jokiel | Zur Übersetzbarkeit interkultureller Literatur. Dariusz Muszer als Autor und Übersetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Achim Küpper | Franz Kafka, die Schrift und das Nomadische . . . . . . . . . . . . 85 Simone Elisabeth Lang | So nah und doch so fern. Rekonstruktion der Vergangenheit zwischen Homo- und Heterodiegese. . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Magdalena Latkowska | Danzig und Gdańsk in den publizistischen Texten von Günter Grass. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Mehmet Öztürk | Türkisch-deutsche ‚Freundschaft‘ in satirischer Zuspitzung. Ein Beitrag zur subversiven Macht der Literatur . . . . . . . . . . . . . 125 VI Inhalt Ewa Psuty | „Lodzer Typen“ in der Darstellung der Journalistin Berta Teplitzka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Sigurd Paul Scheichl | Franz Tumlers „Aufschreibung aus Trient“ (1965) - ein Roman über Konflikt und Kontakt an der Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Lejla Sirbubalo | „Träge, trüb und tückisch“ - Landschaftsbilder aus Bosnien und Herzegowina in literarischen Werken um 1900 . . . . . . . . . . 155 Jochen Strobel | Bikulturalität in der sorbischen Gegenwartsliteratur . . . . . . 171 Jens Stüben | Danzig als interkultureller Erinnerungsort bei Günter Grass und Sabrina Janesch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Anna Warakomska | Interaktionen zwischen Migranten und Mehrheitsgesellschaft und die Frage nach der Hybridisierung der Kultur anhand ausgewählter Werke der deutschsprachigen Migrantenliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Dominika Wyrzykiewicz | „Zitate einer Kultur lassen sich nicht Wort für Wort übersetzen“ - Überlegungen zu deutsch-polnischen Motiven in der Gegenwartskunst in Polen und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Herausgeber und Beiträger(innen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Vorwort Der Mitteleuropäische Germanistenverband (MGV) hat vom 10.-12.04.2014 seinen 4. Kongress mit dem Titel „Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturellen Beziehungen in Mitteleuropa“ an der Universität Erfurt veranstaltet. Ausgerichtet wurde der Kongress vom Präsidenten des MGV, Prof. Dr. Dr. Csaba Földes, und seinem Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft. Die Veranstaltung stand unter der Schirmherrschaft von Frau Christine Lieberknecht, Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen. Eingeladen wurden, wie auch schon bei den letzten drei Kongressen in Dresden (2003), Olmütz (2007) und Wien (2010), Germanistinnen und Germanisten aus vielen Regionen Mitteleuropas, aber auch darüber hinaus, die sich mit der Sprache und der Kultur des mitteleuropäischen Raums beschäftigen. Nach dem Grundkonzept der Veranstalter sollte sich der Kongress - dem Selbstverständnis des MGV als interkultureller und grenzüberschreitender Verband entsprechend - nicht nur mit den „Zentren“ der deutschen Sprache und Kultur auseinandersetzen, sondern auch mit den „Peripherien“, welche die harten Sprachgrenzen relativieren und Wechselbeziehungen zwischen diesen ermöglichen. Neben Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es doch mehrere „Zentren“ in Mitteleuropa, in denen Varietäten der Sprache Deutsch gesprochen werden und/ oder reiche deutschsprachige kulturelle Traditionen bestehen. Diese Zentren - im wörtlichen Sinne als Mittelpunkte betrachtet - können somit auch als Sprachinseln oder deutschsprachige Kulturbzw. Traditionsräume bezeichnet werden. Außerhalb der Zentren befindet sich die jeweilige Peripherie, welcher nur zu häufig eine Randstellung zugesprochen wird. Die sogenannten Peripherien sind aber wichtige Konnexe, da sie verschiedene Zentren verbinden und so auch Beziehungen zwischen den einzelnen Sprachen Mitteleuropas herstellen. Die deutsche Sprache, als Sprache im Zentrum Europas, hat sich aus Sicht sowohl der diachronen als auch der synchronen Sprachwissenschaft als Mittlerin zwischen den Kulturen erwiesen. Weitere Bereiche der Germanistik, wie die Literaturwissenschaft und die Fachdidaktik Deutsch bzw. Deutsch als Fremdsprache, erweitern in letzter Zeit ihre Forschungsthemen zunehmend um eine interkulturelle Perspektive. Der Kongress hatte u.a. das Ziel, zum einen eine Bestandsaufnahme der interkulturell orientierten Germanistik mit Bezug auf Mitteleuropa zu bieten, zum anderen aber auch neue VIII Vorwort einschlägige Forschungsansätze zur Sprache zu bringen und zu diskutieren. Folglich war der Bogen der Vorträge über die Linguistik hinaus viel weiter gespannt. ‚Deutsch‘ bedeutet bei weitem nicht nur ein sprachliches Phänomen, sondern konnotiert alle historischen, politischen, kulturellen und künstlerischen Zusammenhänge, die in einem politisch-geographischen Raum situiert sind (oder waren), der durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts das gewachsene, aber keineswegs immer spannungsfreie Verhältnis von Deutschen im Kontext der baltischen, polnischen, böhmischen, ungarischen und anderen Kulturen zerriss. In diesem Sinne gab es Vorträge interkulturell und mitteleuropabezogen arbeitender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu folgenden großen disziplinären Themenkomplexen: - Sprache und Interkulturalität, - Literatur und Interkulturalität, - Lernen, Studieren, Lehren und Forschen im In- und Ausland, - Kulturwissenschaftliche Forschung. Der vorliegende Band „Nahe Ferne - ferne Nähe. Zentrum und Peripherie in deutschsprachiger Literatur, Kunst und Philosophie“ umfasst einen Teil der umgearbeiteten und erweiterten Beiträge zur Literatur- und Kulturwissenschaft. Dabei hat der Begriff ‚Erinnerungsort‘ im Laufe seiner 25-jährigen Anwendungsgeschichte eine breite Variabilität erfahren: Mit ihm wurden hauptsächlich Orte und Örtlichkeiten in Verbindung gebracht, aber auch unter dem Gesichtspunkt einer metaphorischen Verwendung Kulte, Dichtung, Musik, besondere Ereignisse, aber auch soziale Einrichtungen wie die Bundesliga oder der Feierabend. Gemeint sind ‚Orte‘, also Seinsweisen, die unser aller Leben in irgendeiner Form normativ und prägend bestimmen. Durch sie (Geburtsort, Bachs Musik oder die Bundesliga) werden wir, die Teilhaber an gesellschaftlichen Prozessen, in bestimmte Richtungen gelenkt, unser Leben nimmt - mindestens in einem abstrakten Zusammenhang, wenn es nicht eine konkrete Örtlichkeit ist, die bestimmte Assoziationen auslöst - in seiner gedanklichen, politischen, gefühlsmäßigen oder spirituellen Dimension eine bestimmte Richtung. Und dies gilt nicht nur für eine (oder mehrere) Einzelpersonen, sondern für Gruppen oder sogar für „das Volk“. Wesentlich ist bei den ‚Erinnerungsorten‘ der Memoria-Aspekt: Ob es die Völkerschlacht bei Leipzig 1813, die Schlacht um Verdun 1916, das Woodstock- Festival 1969 oder der Fall der innerdeutschen Mauer 1989 ist - im kollektiven Gedächtnis einer sozialen Gruppe oder der gesamten Gesellschaft stellt das in Frage stehende Ereignis einen Markierungspunkt dar, der prägend oder stilbildend ist; und zwar kann das im negativen wie positiven Sinne sein. Möglicher- Vorwort IX weise werden mentale, kulturelle oder politische Einstellungen für mindestens eine, wenn nicht mehrere oder viele Generationen ‚programmiert‘. Es lassen sich aber auch ‚Erinnerungsorte‘ denken, die so weit zurückliegen, dass es absolut keine lebendige Erinnerung an sie gibt, und sie nur noch als Begriffe existieren, im besten Fall durch Denkmäler realisiert. ‚Erinnerungsorte‘ dieser Art sind etwa die Schlacht der Mongolen gegen das christliche Heer bei Liegnitz (poln. Legnica) 1241 oder die Schlacht bei Tannenberg 1440 (poln. Bitwa pod Grunwaldem; lit. Žalgirio mūšis). Die Schlacht bei Liegnitz ging zwar für das christliche Heer katastrophal aus (ähnlich wie die Schlacht bei Mohács 1526 gegen die Osmanen), aber der Ort wurde im Nachhinein, bedingt durch die Strategieänderung der Mongolen, nicht weiter nach Westen vorzurücken, umgedeutet als der Sieg Schlesiens über die Mongolen und die Verteidigung des Abendlandes. Die Schlacht bei Tannenberg hat etwa über die preußische Neubestimmung als den Ort der „Kolonisation des Ostens“ durch den Deutschen Orden, über Jan Matejkos Gemälde von 1872-78, über Sienkiewicz‘ Roman Krzyżacy (Die Kreuzritter) von 1900 oder die Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten als „Triumph von Grunwald“ verschiedenste politische Zuweisungen erfahren. Insofern ist es eine genuine Aufgabe des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes, immer wieder die Frage danach zu stellen, in welcher Weise sich ‚das Deutsche‘ in (Ost-)Mitteleuropa präsentiert und welche Ausformungen es in Sprache und Literatur im Laufe der Jahrhunderte bis heute erfährt. In diesem Sinne ist die Frage nach ‚Erinnerungsorten‘, nach ‚Memoria‘ und nach Gegenwartserfahrung, und damit eng verbunden die nach Bildern, Motiven, Stereotypen, Text- und Sprachstrategien jeglicher Art ein immer wieder erhellendes Unterfangen. In diesem Band sind 17 Beiträge versammelt, die sich dezidiert mit der Verarbeitung deutscher Kultur, Literatur und Kunst auseinandersetzen. Erst in der Kontrastierung durch Themen, die jenseits des (ost-)mitteleuropäischen Raums angesiedelt sind, erfährt das Thema eine Erweiterung, die es vergleichbar macht. Möge der Band zur Intensivierung und Vertiefung des akademischen Dialogs vor allem in mitteleuropäischen Wissenschaftskontexten, aber auch weit darüber hinaus beitragen. Erfurt und Oldenburg, im Herbst 2016 Csaba Földes und Detlef Haberland Die wahren Lügen des biblischen und literarischen Jakob Delia Eşian (Iaşi/ Jassy) Zusammenfassung In der philosophischen Diskussion über die Lüge, von Aristoteles über Augustinus bis hin zu Immanuel Kant, wurde immer wieder die Bedeutung der Wahrheit als höchstes Gut hervorgehoben. Wie lassen sich literaturwissenschaftliche Fragestellungen mit ethischen verbinden? Was geschieht, wenn man sich nun auf biblische Texte beruft? Und was heißt in diesem Zusammenhang Lügen? Auf diese Fragen versucht die vorliegende Arbeit am Beispiel des biblischen und literarischen Jakob eine Antwort zu geben. Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen (Mt 5, 37). 1 Zur Einführung „Es wird nie so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd“ (von Gerlach 1994: 21), obwohl wir „aus den großen alten religiösen und ethischen Traditionen der Menschheit die Weisung vernehmen: Du sollst nicht lügen! Oder positiv: Rede und handle wahrhaftig! “ (Küng 1997: 157). Lässt sich aber die Frage „Darf man lügen? “ (Rösel 2002: 1-20) pauschal mit Ja oder Nein beantworten? Am Beispiel des biblischen und literarischen Jakob werde ich auf diese Frage in dem vorliegenden Beitrag zu antworten versuchen. Die großen Philosophen, von Aristoteles über Augustinus bis hin zu Immanuel Kant werten die Lüge als moralisch verwerflich. Aristoteles beschreibt das Verhalten des ehrlichen Menschen und des Lügners. Er definiert die Lüge an sich nicht, aber im vierten Buch der „Nikomachischen Ethik“ zeigt er, warum die Menschen lügen: „der eine ist lügnerisch, weil ihm das Schwindeln an sich Spaß macht, der andere, weil er damit Ansehen oder Gewinn zu erreichen hofft“ (Aristoteles 2013: 114). In seinem Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ von 1797 vertritt Kant die These: „Es ist [...] ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklä- 2 Delia Eşian rungen wahrhaft (ehrlich) zu sein“ (Kant 1968: 427). Jeder, der lügt, ist für sämtliche Konsequenzen verantwortlich, die aus ihr möglicherweise folgen; „jemand aber, der die Wahrheit spricht, ist für die Folgen nicht verantwortlich“ (Kühn 2003: 466). Kants Aufsatz war eine Antwort auf Benjamin Constant, der behauptete: „Der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen“ (Kant 1968: 425). Nietzsche nennt in „Der Wille zur Macht“ die Welt „falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn“ (Nietzsche 1964: 575) und leitet daraus ab, dass wir die Lüge nötig haben, um in dieser „furchtbaren und fragwürdigen“ (Nietzsche 1964: 576) Welt zu leben. Der erste Theologe und Denker der antiken Welt, der die Lüge in den Schriften „De mendacio“ (Über die Lüge) von 395 n.Chr. und in „Contra mendacium“ (Gegen die Lüge) von 420 n. Chr. behandelt hat, ist Aurelius Augustinus von Hippo. Darin präsentiert er die Lüge aus einer doppelten Perspektive, einer ethischen und einer hermeneutischen (vgl. Bettetini 2003: 19f.). Der afrikanische Rhetor definiert die Lüge wie folgt: „Daher lügt einer, der etwas anderes im Sinn hat, als er durch Worte oder sonstige Äußerungen zum Ausdruck bringt“ (Augustinus 2013: 63), demnach ist eine Lüge „eine unwahre Äußerung, verbunden mit einer Täuschungsabsicht“ (Augustinus 2013: 245). Ihm zufolge darf man nie lügen, nicht einmal um ein Leben zu retten, denn das Leben der Seele wiegt mehr als das Leben des Leibes: „Da man also durch Lügen das ewige Leben verliert, darf man niemals um des zeitlichen Lebens einer Person willen lügen“ (Augustinus 2013: 83). Augustinus verweist auf biblische Vorbilder: Saras Leugnen, gelacht zu haben (Gen 18,10-15), den Betrug Jakobs (Gen 27,1-40), die Lüge der Hebammen in Ägypten vor dem Pharao (Ex 1,15-21), die alle gelogen hätten, und trotzdem von Gott belohnt worden seien. 2 Der biblische Jakob Die Geschichte von Jakob ist die wohl bekannteste Lüge des Alten Testaments, und Augustinus interpretiert sie mit Hilfe der Allegorese. Die allegorische Deutung biblischer Texte beruht auf der Überzeugung, den Texten liege ein mehrfacher Sinn zugrunde. Auf die Heilige Schrift wandte zuerst Origenes (etwa 185-254 n.Chr.) die Allegorese konsequent an: Er lehrte, daß die Bibel einen dreifachen Sinn besitze, den er in Anlehnung an die platonische Anthropologie bestimmte. Zuerst gilt es, den körperlichbuchstäblichen, also grammatisch-historischen Sinn eines Bibeltextes zu ermitteln, Die wahren Lügen des biblischen und literarischen Jakob 3 darauf den psychischen oder moralischen und zuletzt den pneumatischen oder geistlichen. Dabei glaubte er, daß nicht alle Bibeltexte überhaupt einen grammatisch-historischen Sinn besäßen, wohl aber alle einen geistlichen […] Origenes’ allegorische Methode hat eine ungeheure Nachwirkung gehabt. Die uns fremdartig anmutende Verfahrensweise verliert an Seltsamkeit, wenn man einmal ihre lange Vorgeschichte, zum anderen den sakralen Charakter der erklärten Texte und endlich den Umstand berücksichtigt, daß es kaum einen poetischen oder literarischen Text gibt, der nicht mehr bedeuten will, als sein Wortlaut im Zusammenhang umgangssprachlicher Rede verrät. Literarisch stilisierte Sprache weist immer durch Bilder, Metaphern, formale Konventionen und andere Mittel über das hinaus, was dem Wortlaut bei naivem Verständnis zu entnehmen ist, und dieses Mehr zu ermitteln, ist Aufgabe jedes Exegeten (Dihle 1989: 347). So sieht Augustinus Jakobs Lüge als „ein Geheimnis“, denn in „Contra mendacium“ heißt es wie folgt: Was Jakob dagegen auf Veranlassung seiner Mutter tat, nämlich daß er seinen Vater anscheinend täuschte (vgl. Gen 27), wenn man das genau und in rechter Weise betrachtet, dann ist es keine Lüge, sondern ein Geheimnis (Augustinus 2013: 231). Dieses Geheimnis soll der Exeget zu lüften versuchen, indem er das Geschehen allegorisch oder typologisch versteht. Für Augustinus bezeichnen die Bocksfelle, mit denen Jakob seine Glieder bedeckt, um seinem Vater Isaak als sein stark behaarter Esau zu erscheinen (Gen 27, 16), allegorisch die Sünden, nicht seine eigenen, sondern die fremden (vgl. Augustinus 2013: 235). Nach Genesis 27 erlangt Jakob durch eine ganze Reihe von Lügen - durch seine eigenen und die seiner Mutter - den Segen seines Vaters Isaaks, der eigentlich seinem Bruder Esau zustände. Täuschung und Betrug sind das Schlüsselwort für die verschiedensten Passagen seiner Geschichte: Jakob täuscht den Vater, er täuscht seinen Bruder Esau; Laban täuscht Jakob; Rahel täuscht Laban; die Söhne täuschen Josef, sie täuschen den Vater und so weiter. Gott erwählt sich ausgerechnet Jakob, segnet ihn mit seinem Wort und begleitet ihn fortan auf seinem Weg. Wir rühren damit an eine der großen Paradoxien der Geschichte, an ein Geheimnis, das sich das Alte Testament, die Hebräische Bibel, und das Neue Testament teilen: an die Ahnung dessen, was „Gnade“ (Riess 2008: 18) sein kann, Gnade jenseits von allem Moralismus und allem kleinbürgerlichen Rechtsempfinden. 4 Delia Eşian 3 Der literarische Jakob Die Bibel, das Buch der Bücher - „das am meisten literarisch ausgeschöpfte Buch, und zwar keineswegs nur im Sinne des bloßen Zitierens“ (Gössmann 1991: 10) - enthält in der Tat „einen ungeheuren Stoff“ (Heym 1985: 106) für Schriftstellerinnen und Schriftsteller. So wird von ihnen die Bibel ganz unterschiedlich gelesen und fruchtbar gemacht, denn - wie Georg Langenhorst so treffend bemerkt, wird [sie] bestaunt und bestätigt; kritisiert und verflucht; weiter gedacht und psychologisch ausgemalt; entlarvt und gegen den Strich gebürstet; identifikatorisch personalisiert und kollektiv ausgedeutet; parodiert und lächerlich gemacht; therapeutisch aufgesogen und befreiungstheologisch ideologisiert; zur Gewinnung von Tiefenschärfe und Überhöhung eingesetzt aber auch auf Chiffrenfunktion reduziert (Langenhorst 2005: 128). Viele der Autorinnen und Autoren gehen vom biblischen Erbe aus, um eigene Erlebnisse und Erfahrungen, Sehnsüchte und Hoffnungen fortzuschreiben. Nicht zufällig heißt der Lügner in Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“ ausgerechnet Jakob. Wie Becker am 7. Juli 1975 in einem Interview formuliert hat, sei „die Frage, welche Rolle der Hoffnung im Leben zufällt, wie die Kategorie der Lüge zu werten sei, ob die Lüge nur eine erkenntnistheoretische […] oder auch moralische Kategorie sei“ (Becker 1975), ein entscheidendes Motiv für die Niederschrift seines Romans gewesen. Als Kind jüdischer Eltern 1937 in der polnischen Stadt Łódz geboren, kommt Jurek Becker im Alter von zwei Jahren in das Ghetto von Łódz. Mit fünf verlässt er es in Richtung Lager. Bis Kriegsende ist er in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen interniert, wo ihn sein Vater nach der Befreiung findet. Seine Mutter stirbt an den Folgen der Mangelernährung im KZ Sachsenhausen (vgl. Kutzmutz 2008: 141). Über die Zeit, die er als Kind im Ghetto und in den Konzentrationslagern verbrachte, sagt Becker, es sei „das alles entscheidende Stück“ (Becker 1992c: 27) seines Lebens gewesen. Zu den Impulsen seines Schreibens äußert er sich folgendermaßen: Eigentlich schreibe ich nicht, um mich zu befreien, also wie man eine Notdurft verrichtet, oder um mir das Herz zu erleichtern. Das Motiv für Bücher ist das Finden einer Geschichte, die ich für erzählenswert halte; und sie muß mir wichtig genug vorkommen. Das hängt natürlich ganz entscheidend von der jeweiligen Situation, auch von der biographischen Situation, in der ich bin (Arnold 1992: 10f.). Die wahren Lügen des biblischen und literarischen Jakob 5 Beckers erster Roman „Jakob der Lügner“, „bis heute, die überzeugendste Darstellung der Shoah in der deutschsprachigen Literatur“ (Kaiser 1982: 106), erschien 1969 in der DDR und im folgenden Jahr in der Bundesrepublik. Ausgangspunkt ist nicht ein selbsterinnertes Erlebnis, sondern eine Geschichte, die ihm sein Vater aus dem Ghetto von Łódz erzählte: [E]s habe dort einen Mann gegeben, der hatte ein Radio versteckt, was bei Todesstrafe verboten war. Er hat mit diesem Gerät Radio Moskau, Radio London gehört und hat gute Nachrichten bei anderen verbreitet, und somit quasi Hoffnung. Eines Tages ist das der Gestapo zu Ohren gekommen, wie nahezu alles Verbotene, durch Spitzel vielleicht, durch eine Unvorsichtigkeit, und dieser Mann ist verhaftet und erschossen worden (Arnold 1992: 5). Die erhebliche Veränderung, die Becker in seinem Roman vornimmt, und was damit die Geschichte für ihn erzählenswert macht, ist die Tatsache, dass der Protagonist Jakob Heym kein Radio besitzt. Durch Zufall erfährt er, dass die Rote Armee auf dem Vormarsch ist und damit der Tag der Befreiung immer näher rückt. Jakob erfindet ein Radio - obwohl dessen Besitz bei Todesstrafe verboten ist, um Neuigkeiten unter den Mitgefangenen verbreiten zu können. Er lügt aus Menschenliebe, um Hoffnung zu verbreiten: „ganz plötzlich ist morgen auch noch ein Tag“ (Becker 1982: 32). Die Bewohner des Ghettos machen sich Gedanken über ihre Zukunft: „Alte Schulden beginnen eine Rolle zu spielen“, „Töchter verwandeln sich in Bräute“ und - was am wichtigsten ist - „die Selbstmordziffern sinken auf Null“ (Becker 1982: 83). 3.1 Nomen est omen „Der Name allein genügt, um in der Welt zu sein“ (Bachmann 1993: 238), denn Namen sind bewusste und unbewusste Bedeutungsträger. Es ist bekannt, dass Thomas Mann zum Beispiel beim Schreiben häufig zuerst den Namen (er-)fand und erst dann die entsprechenden Charaktereigenschaften und Begebenheiten daraus entwickelte (vgl. Denneler 2001: 22). In Beckers Roman eröffnet der Name Jakob Heym ein weites Feld von Anspielungen. Heym kann in Anlehnung an das hebräische Wort auch Chaim geschrieben werden, was „Leben“ oder „Licht“ (Karnick 1992: 218) bedeutet. Heym weist aber auch auf Heim hin, was mit Wärme und Geborgenheit, Vertrautheit und Sicherheit zu verbinden ist, Gefühle, die zum „Zu-Hause-Sein“ (Becker 1992a: 14) wohl gehören. Der biblische Jakob kauft seinem Bruder das Erstgeburtsrecht ab und betrügt ihn um den väterlichen Segen. Und trotzdem wird er letzten Endes geseg- 6 Delia Eşian net, denn aus dem „Betrüger“ Jakob wird der „Gottesstreiter“ Israel. Wie steht es nun mit Jakob Heym? 3.2 Lüge, Notlüge oder halbe Wahrheit? Diese Frage soll zunächst verschoben und ein anderer Einstieg gesucht werden: Das Thema von Wahrheit und Lüge wird am heikelsten in Zeiten einer Dikta- tur. Adrian Marino (1921-2005), rumänischer Essayist, Literaturkritiker, -historiker und -theoretiker, Träger des Herderpreises, der zwischen 1949 bis 1963 in politischer Haft war, äußert sich über die kommunistische Zeit in seiner Biografie mit folgenden Worten: „Die permanente Lüge ist die höchste Perversion des Systems“ (Marino 2010: 429), die überschwänglich und in vollem Maße praktiziert wurde. In seinem Roman „1984“ zeigt Georg Orwell, wie eine Diktatur auf Lug und Trug aufgebaut ist und wie sie alle wahrheitsliebenden Menschen verfolgt. Es wäre allerdings zu fragen, ob in der Welt des Ghettos, wo das Individuum täglich physische und psychische Unterdrückung, mit einem Wort - den „verschleierte[n] Tod“ (Kaiser 1992: 115) zu ertragen hat, logische Kategorien wie „wahr“ und „falsch“ (Jung 1998: 100) faktisch noch gelten können. Als Jakob schließlich seinem Freund Kowalski seine „gutmütige Lüge“ (Kant 1968: 426) bzw. Notlüge - die Nichtexistenz des Radios - gesteht, weil er die psychische Belastung nicht mehr aushält, verkraftet dieser die Wahrheit nicht und begeht Selbstmord. Jakob macht sich große Selbstvorwürfe und entschließt sich, das Radio wieder sprechen zu lassen. Sein Gewissen und seine Schuldgefühle an Kowalskis Tod motivieren ihn, weitere Notlügen bzw. halbe Wahrheiten zu erfinden und Hoffnung zu spenden. In der Welt des Ghettos, wo alle Werte auf den Kopf gestellt sind, werden Jakobs Lügen zu etwas Positivem (Jung 1998: 101). In dieser verkehrten Welt also ist alles zuerst eine Frage der Interpretation und dann der Logik (Becker 1990: 83). Dabei sei hier auch auf den doppelten Schluss des Romans hingewiesen. Ein gelungenes, „ordentliches Ende“ (Becker 1982: 258): Jakob wird bei einem Fluchtversuch erschossen, aber in derselben Stunde befreien die Russen das Ghetto. Daher rührt auch die Verblüffung der Ghettobewohner: „Warum wollte er fliehen? Er muß verrückt geworden sein. Er wußte doch genau, daß sie kommen. Er hatte doch ein Radio.“ Und ein „wirkliche[s] und einfallslose[s] Ende“ (Becker 1982: 272): Die Gefangenen werden abtransportiert, vermutlich in ein Vernichtungslager. Lina, das Waisenmädchen, freut sich über die Reise: „Wir verreisen! Wir verreisen […]“ (Becker 1982: 278). Die wahren Lügen des biblischen und literarischen Jakob 7 4 (Über-)Leben im Erzählen Dieses „erstaunlich sanft[e]“ Buch, das „weder Haß noch Groll“ (Reich-Ranicki 1992: 136) gegenüber den Tätern kennt, erzählt nicht in den Kategorien von Tränen und Schrecken die Shoah noch einmal, sondern mit viel Humor, und man muss während der Lektüre oft lächeln und lachen. Dahinter verbirgt sich jedoch nichts anderes als Schmerz und Schwermut, denn Lachen ist schließlich eine andere Form des Weinens. „Wir fahren, wohin wir fahren“ (Becker 1982: 283) lautet der letzte Satz im Roman, und der hellhörige Leser weiß genau, wohin dieser Weg führt. Der rumänische Dichter und Philosoph Lucian Blaga (1895-1961) behauptet in einem Aphorismus: „Der Dichter kämpft mit dem Wort wie Jakob mit dem Engel“ (Blaga 1977: 165). Auch Beckers Jakob ringt mit dem Wort, das hoffnungstragend und lebensspendend für die Ghettobewohner ist, aus Altruismus wird er zum ehrlichen Lügner. Ähnlich wie Scheherezade erfindet er Geschichten, aber diesmal nicht um sich selbst, sondern um die Anderen am Leben zu lassen, denn Erzählen bedeutet (Über-)Leben und Schweigen gleicht dem Tod. Der Erzähler selbst nimmt Jakob in Schutz, als sich dieser Vorwürfe über Kowalskis Tod macht, indem er ihm sagt: „Nicht du bist schuld an Kowalskis Tod, sondern er hatte es dir zu verdanken, daß er bis zu diesem Tag gelebt hat“ (Becker 1982: 257). Ob Jakob für seine halben Wahrheiten juristisch strafbar ist, bleibt jedoch dahingestellt. Was für ihn letzten Endes zählt: Unter unmenschlichen Bedingungen ein Mensch zu bleiben. In der philosophischen Diskussion über die Lüge wurde immer wieder auf die Bedeutung der Wahrheit als höchstes Gut hingewiesen. Aber es scheint, als sei das Wahre nicht immer auch das Gute (vgl. Dietz 2003: 9). Jakobs Geschichte in Jurek Beckers Roman belegt diesen Gedanken eindeutig. Auch Augustinus, der unerbittlich auf die Sündhaftigkeit der Lüge hindeutet, schließt „De mendacio“ mit einem Bibelwort aus dem zweiten Brief an die Korinther: „Den einen sind wir ein Geruch des Lebens zum Leben, den anderen ein Geruch des Todes zum Tode. Und wer ist dazu fähig? (2Kor 2, 17)“ (Augustinus 2013: 147), als wollte er sagen, „man darf nie lügen, aber mal ehrlich, wer ist dazu schon in der Lage? “ (Bettetini 2003: 25). 5 Literatur Arnold, Heinz L. (1992): Gespräch mit Jurek Becker. In: Text + Kritik 116. S. 4-14. Bachmann, Ingeborg (1993): Der Umgang mit Namen. In: Bachmann, Ingeborg: Werke. Bd. 1-4. Hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München/ Zürich. Bd. 4. S. 238-254. 8 Delia Eşian Blaga, Lucian (1977): Elanul insulei. Cluj-Napoca. Denneler, Iris (2001): Von Namen und Dingen. Erkundungen zur Rolle des Ich in der Literatur am Beispiel von Ingeborg Bachmann, Peter Bichsel, Max Frisch, Gottfried Keller, Heinrich von Kleist, Arthur Schnitzler, Frank Wedekind, Vladimir Nabokov und W[infried] G. Sebald. Würzburg. Dietz, Simone (2003): Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert. Reinbek bei Hamburg. Dihle, Albrecht (1989): Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit. Von Augustus bis Justinian. München. Gössmann, Wilhelm (1991): Die Bibel als Buch der Weltliteratur. In: Gössmann, Wilhelm (Hrsg.): Welch ein Buch! Die Bibel als Weltliteratur. Stuttgart. S. 8-12. Heidelberger-Leonard, Irene (Hrsg.) (1992): Jurek Becker. Frankfurt am Main. Heym, Stefan (1985): Die Bibel als Stoff für Schriftsteller. Über Marxismus und Judentum, Gespräch mit Karl-Josef Kuschel. In: Kuschel, Karl-Josef (Hrsg.): Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen. 12 Schriftsteller über Religion und Literatur. München/ Zürich. S. 102-112. 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Seitdem er sein Heimatdorf und die ostpreußische Natur verlassen hatte, um sich zuerst im politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Zentrum der Weimarer Republik in Berlin, dann in Wolfratshausen und letzten Endes in der Schweiz niederzulassen, war er unterwegs. Aus einer unstillbaren Unruhe entsprang sein ständiger Drang nach Stille und Frieden, nach Ruhe und Stabilität, die ihm sein ganzes Leben lang fehlten. Daher blieb er stets ein Pilger, ein Suchender, ein Denker ohne System, ein Gläubiger ohne Dogma, und man kann vielleicht sogar eine These wagen, ein heimatloser Deutscher, der seine Heimat vermisste und sich ständig nach ihr sehnte. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem Phänomen der verlorenen Heimat, dem verlorenen Paradies, das sein ganzes Schaffen bestimmt, und dominanten literarischen Motive wie Wald und Seen, Feuer und Wind. Abschließend wird auf die Ambivalenz bei der Auslegung der Naturverbundenheit Wiecherts durch die Nationalsozialisten hingedeutet. 1 Einführung und Zielsetzung „Im Anfang war das Paradies“ könnte das Motto aller Werke Wiecherts sein. Mit dieser Charakterisierung hat Joseph-François Angelloz in seinem Aufsatz „Vom Anfang des Abendlandes“ einen Schlüssel zu seiner Dichtung gegeben. Denn bei Wiechert ist die ostpreußische Natur ein Bezugspunkt seiner Dichtung und zugleich sein verlorenes Paradies, nach dem er sich sein Leben lang sehnt. Daher bilden die Natur und seine Kindheitserinnerungen eine Grundlage für sein Schaffen, in dem Ostpreußen und Königsberg die Zentren seiner dichterischen Tätigkeit sind. „[D]ie Zuordnung des jeweiligen Handlungsszenariums zur Wald- und Seenlandschaft Masurens ist“ eindeutig und erfolgt hauptsächlich „auf Grund der topographischen Angaben, die fast jeder beliebigen Textstelle entnommen werden können […] (zumal wissend, daß Wiechert 12 Marcin Gołaszewski in Kleinort im Kreis Sensburg/ Ostpreußen geboren wurde und aufwuchs)“ (Messing 1987: 65f.). „Ich glaube, daß, wie ein Baum seine Wurzeln im Dunkeln haben muß, um blühen zu können, der Dichter seine Wurzeln in Gott haben muß, um blühen zu können“ (Wiechert 1957g: 854), schreibt der Autor in seiner kurzen Skizze „Der Dichterglaube“ und verweist eindeutig auf die untrennbare Verbindung zwischen metaphysischer Größe und Natur. Das Paradies bezeichnet den Urzustand der Welt am Morgen der Schöpfung, und leider gibt es nur ein verlorenes Paradies. Daher ist auch die ostpreußische Landschaft für Wiechert ein einziges verlorenes Paradies: Als christliches Glaubensgut hat es Wiechert übernommen; als Erlebnis deckt es sich mit dem seiner Kindheit; als Ausgangspunkt wird es in verschiedenen Erzählungen zu einem architektonischen Element; als Gleichnis wird es unzählige Male erwähnt. Es ist ein Grunderlebnis des Dichters, das er literarisch immer neu gestaltet und das sein Schaffen in einem Maße prägt, dass es überhaupt schwierig ist, es ohne diesen Bezug zu analysieren. Ernst Wiechert ist in erster Linie als Heimatdichter bekannt. Seine moralisierende Absicht findet wohl nicht überall Anklang, seine Sprache mag eintönig wirken. Trotzdem zählen manche Seiten über ostpreußische Landschaft wohl zu den bekanntesten und ausdrucksvollsten Naturbeschreibungen der deutschen Literatur. Alle Romane, außer „Knecht Gottes Andreas Nyland“, spielen in Ostpreußen, „Missa sine nomine“, ebenfalls eine Ausnahme, schildert, wie Menschen, die ihre ostpreußische Heimat verloren haben, in einer Thüringer Moor- und Waldgegend eine neue Heimat finden. Zahlreiche Betrachtungen, autobiographische Skizzen und Geleitworte bezeugen Wiecherts Verbundenheit mit seiner Heimat. Bereits die Titel der Aufsätze in Band 9 und 10 der „Sämtlichen Werke“ machen dies deutlich: - „Wälder und Menschen“ (1935), - „Östliche Landschaft“ (1927), - „Der ostpreußische Wald“ (1929), - „Ostpreußische Landschaft“ (1930), - „Heimat und Welt“ (1932), - „Heimat und Herkunft“ (1932), - „Verzauberte Welt“ (o.J.), - „Geleit in die Heimat“ (1933), - „Land an der Memel“ (1935), - „Die Nehrung“ (o.J.), - „In der Heimat“ (1938). Ernst Wiechert und seine Heimat 13 Mögen sich auch mit dem Verhältnis des Dichters zu seiner Heimat und vor allem zur Natur viele Wissenschaftler beschäftigt haben, so scheint es jedoch noch immer angebracht, die Frage zu stellen, ob Wiechert nur ein ‚Heimatdichter‘ war. Inwiefern führt die Schilderung der Natur über eine stimmungsvolle Beschreibung hinaus zu einer Beseelung, zu einer Art Verwandlung, künstlerischer Gestaltung und Befreiung in einer Diktatur? Es kommt darauf an, wie Wiechert die Natur erlebt, versteht und ausdrückt, welche Bedeutung er der Natur in seiner Weltanschauung einräumt, denn auch wenn er stets jeglicher Weltanschauung misstrauisch gegenüberstand, so hat er doch ein einheitliches, wenn auch nicht philosophisch begründetes Gesamtbild von der Welt. Als Ausgangspunkt der Betrachtungen dient eine Äußerung des Dichters, die dem Kapitel „Kleine Literaturgeschichte“ aus der Selbstbiographie „Jahre und Zeiten“ entnommen wird. Stoff und Gestaltung, Einfluss der Landschaft und dichterische Leistung sind aufeinander abgestimmt: Ich komme aus keiner „Schule“, und ich gehöre keiner Richtung an. Aber ich komme aus einer großen Landschaft, die vieles an mir gebildet hat, und aus jener Einsamkeit, in der ein Mensch noch wachsen und werden kann. Das ganze spätere Leben hat diesen Ursprung und diese Ursprünglichkeit nicht auslöschen können, keine Bildung, keine Ratio, keine Welt. Aber ich habe diesen Ursprung durchdrungen mit dem, was ich gelernt, gesehen und erfahren habe. Er ist nicht nur Heimat geblieben und seine Darstellung nicht nur „Heimatliteratur“ (Wiechert 1957f: 739). Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht darin, deutlich zu machen, wie Wiechert seine heimatliche Landschaft dichterisch gestaltet hat. Es soll aufgezeigt werden, wie er die Natur in das Reich der Kindheit verwandelt und welche Elemente als konstituierend gelten sollten und welchen Charakter sie haben. Der Wald ist bei ihm nicht nur Jagdrevier, Garten für Pflanzen und Tiere. Es ist mehr als der Hort der Träume, denn er ist für ihn das gelobte Land, ewige Erinnerung, Trost und Genesung. Durch diese Elemente nimmt Ostpreußen in seiner Dichtung den zentralen Punkt ein. Und mag es von den Zentren des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und letzten Endes des Dritten Reiches weit entfernt sein, am Rande Mitteleuropas, so bleibt es in seinen Büchern das Zentrum seines Lebens, seines Schaffens und das bestimmende Element seiner Werke. In seiner Dichtung hat man es fast überall mit denselben konstituierenden Elementen zu tun: Es sind der Wald, der alles andere dominiert; ein kleines und weit abgelegenes Dorf; die Felder und Seen sowie Moorgebiete und das Feuer. Die Natur wird zum Symbol und gleichzeitig zum Kunstwerk. Sie wird aber auch zum Instrument des Rückzugs in die Innerlichkeit im Dritten Reich, zur Flucht „in die Idylle oder in die sogenannten einfachen und zeitlos mensch- 14 Marcin Gołaszewski lichen Verhältnisse, Flucht in den Traditionalismus, in die forcierte Betonung des alten Wahren und Unvergänglichen Flucht in das Bewährte und damit Problemlose. Flucht nicht zuletzt vor der Trivialität und der Barbarei in das Schöne, Edle und Ewige“ (Schonauer 1961: 127). 2 Die Verwandlung der Natur Die Verwandlung der Natur in den Werken beginnt im Spiegel der Erinnerung, der die harten Konturen des Erlebten verwischt. Es scheint, als ob die Vergangenheit mit einem Hauch kindlicher Erinnerung, sogar mit einer Art kindlicher Unschuld umgeben würde. Sie vollzieht sich, indem der Dichter die Umwelt auf sich allein bezieht oder indem die Gestalten seiner Romane mit der Landschaft innig verwachsen dargestellt sind. Zugleich hebt Wiechert mit Vorliebe das Seltsame, das Fremdartige, das Dunkle und Unerforschliche hervor. Er führt den Leser in eine entlegene, unbekannte, geheimnisvolle Welt. Denn für ihn bedeutet die ostpreußische Natur die Welt, die er in erster Linie als Kind erlebte. Seine Heimat ist Kleinort in Ostpreußen, wo er 1887 geboren wurde. Sie bestimmt ihn zutiefst, so dass er 1898 seinen ersten längeren Aufenthalt in der Stadt (Königsberg), als er die Burgschule besuchte, wohl als Verbannung wahrgenommen hat. Doch sowohl während der Schulzeit als auch im Studium besuchte er regelmäßig seine Eltern, bis sein Vater 1907 einen Unfall erlitt und die Familie die Försterei verlassen musste. Das war der erste Bruch in seinem Leben. Den zweiten bedeutete der Erste Weltkrieg, aber viel mehr der Selbstmord seiner ersten Frau Meta und sein Umzug nach Berlin und damit die Konfrontation mit der Großstadt. Denn [d]as Weltbild, das Ernst Wiechert in seinen Büchern gestaltet, baut sich auf den drei großen Erlebnissen seines Lebensweges auf: dem naturhaften Leben der Kindheit in den einsamen Wäldern Ostpreußens, der Ausstoßung aus der hier erlebten Einheit des Paradieses in die fremde Welt der Menschen und einer fragwürdigen Zivilisation und auf dem Erlebten des Weltkrieges (Ebeling 1947: 45). Nur ein halbes Jahr vor dem Tod seines Vaters 1937 konnte er ihn und die ostpreußische Heimat zum letzten Mal sehen. Und obwohl er nicht mehr in seine Heimat zurückkehrte, hat diese Welt ihn so stark geprägt, dass er in Ostpreußen fast sein gesamtes Schaffen ansiedelt. 1 Sehr richtig formuliert dies Beata Bułkowska in dem Beitrag „‚Ich komme aus einer großen Landschaft…‘ Die Einflüsse der ostpreußischen Landschaft auf die Werke von Ernst Wiechert“. 1 Zum Lebenslauf von Ernst Wiechert s. Ebeling (1947: 7-44). Ernst Wiechert und seine Heimat 15 Immer wieder kehren seine Helden in diese Welt zurück, um dort, der Zivilisation müde, den Frieden des Herzens zu finden. Oder es sind knorrige, bodenständige, in ihren masurischen Traditionen tief verwurzelte Menschen. Die Handlungsorte liegen in den Wäldern, an Seen und Mooren. Selbst im Roman Missa sine nomine, der irgendwo in Deutschland handelt, sind solche Landschaftsbilder zu finden (Bułkowska 2014: 5). Doch die Natur ist nicht nur Trostspender und Verkörperung der Erinnerungen, sondern zugleich auch eine dunkle Macht. Auf ihre Ambiguität weist Helmut Ollesch hin: „Aber diese Erde hat wie der Wald auch ein anderes Gesicht. Sie kann unheimlich und dunkel, sogar voll von Unruhe sein“ (1941: 32). Dies bestätigen vor allem die ersten Romane Wiecherts: „Der Wald“ und „Der Totenwolf“, die als Werke aus dem völkisch-nationalen Umkreis eingestuft werden können. Daher wurde Wiechert als Autor von den Nationalsozialisten so sehr begehrt und die Herausgabe seiner Romane gefördert. Das ist aber auch der Grund, warum er nach dem Zweiten Weltkrieg vielfach missverstanden und als Wegbereiter des Nationalsozialismus angesehen wurde. Denn zwischen seiner Nähe zur Natur und seiner Begeisterung für die ostpreußischen Wälder und den Nationalsozialisten gab es einige Berührungspunkte, die jedoch ganz unterschiedlich gedeutet wurden. „Nirgends auf der Welt gab es so viele Seen und Moore“, schreibt Wiechert in „Wälder und Menschen“, „so viele Reiher und Adler, so viele Jäger mit wunderbar schimmernden Büchsen, so viele uralte Eichen und so viele süße Himbeeren wie auf der zweistündigen Wagenfahrt von unserem Forsthaus nach dem großelterlichen Hause“ (Wiechert 1957e: 10). In diesem Werk äußert er sich ausführlich, wie er als Kind den Wald und die ostpreußische Natur wahrgenommen hat: Selten wohl war der Wald so sehr einem Kinde Haus und Hof wie mir. Moore lagen in ihm, deren fremdartige Namen schon etwas Lockendes und Verzauberndes für mich hatten […]. Zum Teil waren sie unbetretbar […]. Kraniche brüteten dort, und manchmal nahm ich heimlich zwei Bretter von zu Hause mit, um auf ihnen, Schritt vor Schritt, in die schwankende Welt vorzudringen, die so viel Geheimnisvolles hinter dem Festen der Erde verbarg (Wiechert 1957e: 113f.). Für Wiechert ist die Natur nicht nur schauerlich mit ihren geheimen und ungebändigten Kräften, sondern sie bietet zudem auch Schutz und Geborgenheit: „Man war nicht außerhalb der Erde, man war eingeschlossen, tief in das Grüne, Tröstende, Lebende und Seiende“ (Wiechert 1957d: 311). Die Erde ist für Wiechert die Heimat, das verlorene Paradies, ein wunderbares Märchenland. Hier leben Tier und Mensch in ursprünglicher Eintracht. In „Wälder und Menschen“ etwa erzählt der Dichter von einem Kranich: 16 Marcin Gołaszewski Er war nicht höher als meine Hand, als ich ihn bekam, und ebenso groß wie ich, als ich ihn wieder verlor. Er lebte in unserem Garten, und auch im Garten Eden konnten Mensch und Tier nicht zärtlicher zueinander gewesen sein als wir beide. Jeden Morgen und Abend brachte ich ihm kleine Fische vom See, und er nahm seine Speise aus meiner Hand. Wir erwachten, wenn die Sonne aufging, und begrüßten einander, wie zwei Geliebte einander begrüßen (Wiechert 1957e: 116). Der Wechsel der Jahreszeiten verändert das Antlitz der Erde. Die Jahre gehen über die Dörfer und über die Wälder. Die Falten auf den Gesichtern der Menschen vertiefen sich, aber ein Regenguss genügt und die Natur erwacht frisch und erneuert: Es schien […], als hätte es noch niemals einen solchen Morgen über dem Moor gegeben. Als sei die Erde zum ersten Mal aus der Tiefe der Urnacht heraufgehoben worden, damit die Schöpfung begänne. Sie funkelte von Nässe und Reinheit, und selbst die Stimmen der Heidelerchen klangen so, als hätte es bis dahin keine Heidelerche an diesem Ort gegeben. Das Morgenrot umfasste die Hälfte des Himmelraumes. Es stand ganz still und so groß, als verglühe eine ganze Erde hinter ihm. Die alte Erde, die Erde von Jahrtausenden, und als habe die neue Erde dieses Morgens keinen Teil mehr an ihr (Wiechert 1957d: 374). So wird durch das Dichterwort die Natur verwandelt und das Gesetz der Wiederholungen aufgehoben. Der Urzustand offenbart sich in unveränderter Pracht, der Zauber des verlorenen Paradieses steigt noch einmal vor den ehrfürchtigen Augen auf. Es ist, als hätte der Dichter Teil an Gottes Macht, um diese Verklärung mit Schöpferhand zu vollziehen. Auf diese Weise erhält die Natur Sinn und Gefühl. Der Wald steht oft gleichnishaft für die ganze Natur, für das Beständige in ihr. Der Mensch ist gebrechlich, seine Tage sind gezählt. Die Natur bürgt für das Unvergängliche. Das Pflügen ist ein Zeichen dafür, dass der Mensch Besitz ergreift von der Natur, und daraufhin Anteil am Ewigen hat. Kiewitt ist der ewige Pflüger: „Dieses würde bleiben und immer da sein“ (Wiechert 1957c: 312), heißt es in den „Jeromin- Kindern“. Und an einer anderen Stelle ist eine besonders in ihrem Ausdruck kräftige Beschreibung: Eine dunkle Erde unter dem Abendstern, ein weißes, hageres Pferd, älter als die Pferde der Apokalypse, ein Pflug, der leise durch die Stoppel rauschte, und ein Mann, der wie ein Schatten hinter ihm herging. Und es war gleich, ganz gleich, ob er dann Kiewitt hieß oder Michael oder Jons. Es war der Mann, der die Erde umbrach, um das Korn zu säen (Wiechert 1957c: 312f.). Ernst Wiechert und seine Heimat 17 Wiechert ist wohl neben Eichendorff und Stifter der größte Schilderer des deutschen Waldes. Er hat aber nie ein objektives, gefühlsfreies Bild seiner Heimatlandschaft gezeichnet. Diese Bemerkung enthält sowohl Kritik als auch Anerkennung. Größe und Schwäche liegen dicht beieinander in Wiecherts literarischer Gestaltung. Am besten gelingen ihm die Szenen der bewegten, in Aufruhr versetzten Natur, worin sich eine bedrängte, erschütterte Gefühlswelt widerspiegelt. Eisgang, Sturmwind, Gewitterregen, Donner und Hagelschlag sind beliebte Themen. Dazu gehören die am Himmel dahinziehenden Wolken und der schrille Schrei der Vögel über dem Moor. Wenn die Wälder im Winde rauschen, scheint es, als ob sein Herz eine gewaltige Melodie singt. In jedem Roman ist eine bestimmte Landschaft gezeichnet, die der Handlung nicht nur einen Rahmen gibt, sondern sie auch zum Sinnbild macht. Die Natur wird somit in das Geschehen einbezogen und dadurch als glücklicher Besitz oder ersehntes Ziel gezeichnet. Sie stimmt den Menschen froh und traurig, sie greift ein in den Lauf seines Schicksals. Der Wald ist erfüllt von Vogelstimmen, von Gerüchen und Bildern. Der Wald ist gefährlich für jemanden, der nichts zu tun hat, als eine Büchse über der Schulter zu tragen. Er stürzt sich hinein in die offenen Augen, in das horchende Blut, wie in einen Baum, den er erwecken will (Wiechert 1957b: 259). Manchmal erscheint die Natur dem Jäger unheimlich, und nur in seiner kleinen Hütte fühlt er sich geborgen: „In dem wilden und gärenden Leben des Waldes ist das Haus das Unbewegte und Verlässliche“, „[d]as Haus erwacht nicht wie der Wald“ (Wiechert 1957b: 259). Die Schilderung erfasst zwar die Landschaft in ihrer Eigenart; sie wirkt aber bald bezaubernd, bald bedrückend, durch eine gewisse Eintönigkeit, mit der dieselben Einzelheiten in kaum wechselnden Worten immer wieder dargestellt werden. In der Erzählung „Die Magd des Jürgen Doskocil“ fügen sich die Bilder zu einer düsteren Umgebung zusammen: der dumpf rauschende Strom, der das schwarze und das grüne Dorf trennt; die aufgehängte Pflugschar, die in der Nacht schauerlich ertönt; die Fähre, die über den Strom gleitet; das armselige Fährhaus, in dem noch ein Licht in dunkler Nacht hinter dem Fenster brennt; der schmale Pfad, der in den Wald zum Holzschlag führt, die staubige Dorfstraße mit den Wacholderbüschen, wohinter sich Marte ängstlich versteckt und niederkniet; das Fangeisen, vor dem Ziegenstall, das den Mormonenpriester wie einen Wolf, gefangen hält; das Haferfeld in der Lichtung im Hochwald, auf dem die grünen Halme, von heimtückischen Händen geschnitten, einen trostlosen Anblick bieten, bis die eherne Pflugschar die Erde frisch aufbricht für eine neue Saat. Der Roman ist „eine Liebeserklärung an Gott und die Natur, 18 Marcin Gołaszewski zeigt vor allen Dingen Wiecherts Glauben an das Gute im Menschen“ (Mielczarek 2010). Der Roman „Die Majorin“ bietet ein anderes Stimmungsbild mit sanfteren Zügen und hellerer Beleuchtung. Auch hier sind es nur wenige Elemente, die wie auf einer Bühne ausgewechselt werden: die Brüche, in denen der Totenvogel ruft; der Waldrand, wo der Jäger im Grenzgraben sitzt und vor sich hinträumt und die Wiesenscharre eintönig über die Felder ruft; das Roggenfeld, auf dem sich die reifenden Ähren immer tiefer neigen; die abgelegene Hütte des Jägers, die mit einem neuen Zaun umgeben ist und einem kleinen Garten voll blühender Blumen. Vor dem Fenster steht eine Bank. Drinnen hängen die geölten Gewehre neben der Tür. Eine Laubstreu, ein alter Herd, ein Tisch, das genügt zum einfachen Leben. An der Grenze der Felder liegt der Hof der Majorin, wo Jonas an der Pforte steht und auf seine Herrin wartet, wenn sie von ihrem Morgenritt zurückkommt. Auf der Terrasse heißt sie ihre Gäste willkommen. Und in der Ferne, zwischen den Wäldern erstreckt sich der See mit seinen verschilften Ufern, mit einer einsamen Insel, an der die Schwäne brüten. Da ist die Landstraße, die um das Moor herumführt. Da sind weiße Wolken, großartig getürmt, die mit wandernden Schatten über die Felder dahinziehen. Der Roman endet mit dem Bild der Ernte im Mondschein. Der Jäger und die Majorin schneiden gemeinsam das Korn, und als die Garten aufgestellt sind, bindet sie nach dem alten Brauch einen Strauß Ähren zusammen und singt als Danklied eine traurige Melodie. Scharf beobachtet und stimmungsvoll beschrieben, so erscheint die Natur in Wiecherts Romanen. In keinem ist die Umwelt mit solch schlichter Anschaulichkeit und so tiefsinnigem Bilderreichtum gezeichnet wie in den „Jeromin- Kindern“. Hier steht eine Welt mit biblischer Größe und Ruhe auf. Hier hat wohl Wiechert seinen dichterischen Höhepunkt erreicht. Friede ist ausgespannt über den glänzenden See inmitten der tiefen Wälder. Dort erhebt sich auf einsamer Insel die windumwehte Rohrhütte, wohin sich der Pfarrer Agricola, von Gott verlassen, zurückzieht. Vögel ziehen über die Torfbrüche, in den Schilfkämpen erschallt der Ruf der Rohrdommel. Jeder Axtschlag aus dem blauen Wald dringt über die Felder mit gedämpftem Echo. In der Ferne dengelt ein Bauer seine Sense. Die Kraniche rufen von den Moorwiesen her. Da liegt am Ende der Welt das winzige Dorf Sowirog mit seinen niedrigen Dächern. Auf dem Feld am menschenleeren Waldesrand ziehen Kiewitt und sein hageres Pferd langsam eine unendliche Furche bis an den Rand der Ewigkeit. Über Wäldern und Seen weht sanft der Wind. Im Jeromin-Haus brennt ein lustiges Feuer, und der alte Lehrer Stilling dreht einen Globus vor den Büchern mit bedächtiger Bewegung. Dem Herrn von Balk gehört ein Schloss hinter dem Walde und See, Wald und das ganze Dorf. Er hat keine Frau, aber einen sprechenden Papagei. Es ist eine seltsame, verklärte Welt. Ernst Wiechert und seine Heimat 19 Am schönsten ist die Schilderung des Waldes. In ihr hat Wiechert seine höchste dichterische Entwicklung erreicht. In einem schlichten Selbstporträt steht der knappe Satz: „Ich begann mit dem Wald und der Bibel, und damit werde ich wohl auch aufhören“ (Wiechert 1957f: 723). Es ist der Schicksalsweg, den der Knecht Gottes Andreas Nyland eingeschlagen hat. Er kam aus dem Wald und verschwand wieder in der Tiefe des Waldes. So heißt es am Ende des Romans: Er habe den Lebenslauf einer Zeitenwende durchlebt, vielleicht einer Weltenwende. Er habe ihn musterhaft durchlebt, das heißt mit Leidenschaft, Irrtum, Bekenntnis und Schuld. Er habe in einer wurzellosen Zeit ohne die herkömmlichen Wurzeln gelebt […]. Aber am Schluße seiner Bekehrungen könne er nichts sagen, als daß er die Schuhe ausziehen wolle, um zurückzutreten von der Erde in ein heiliges Land. Und er glaube nicht, daß ein Mensch seines Jahrhunderts mehr tun könne als dieses (Wiechert 1957a: 631f.). Der Wald ist Ausgangspunkt und Ziel für Wiecherts Menschen, Sinnbild der Geborgenheit, des unaufhörlichen Lebens der Natur, der geheimnisvollen Kraft, die alles Geschaffene erfüllt. Für den Dichter ist der Sinn noch nicht vom Bild getrennt, denn alles ruht hier noch in der ursprünglichen Einheit. Vielleicht besteht Wiecherts dichterische Eigenart sowie seine gerügte oder gelobte Zauberkraft eben darin, dass von seiner zartumrissenen Zeichnung, die vieles bis in die feinsten Einzelheiten festhält, aber alles stimmungsvoll aufeinander abtönt, eine so starke Wirkung ausstrahlt, dass sie dem Leser etwas von der Begeisterung und der Seelenruhe des Dichters mitteilt. So beschreibt er mit Vorliebe die stillen Stämme im Wald, ihren Harzgeruch, den Wechsel von Licht und Schatten, den Wind, der in der Höhe die Wipfel leise bewegt, das grüne Moos, die Lichtungen mit jungem Gras, wo das große Schweigen ist, die Stummheit ohne Ende (vgl. Wiechert 1957b: 204). Das geheimnisvolle Leben des Waldes zieht alle Protagonisten an, den Fährmann Jürgen Doskocil, Johannes Karsten, den Jäger Michael Fahrenholz, den Kapitän Thomas von Orla, den Großvater Michael Jeromin und Jakob den Köhler und Friedrich den Flötenspieler und Jons Ehrenreich, sowie die Brüder von Liljecrona. Am Abend kehren sie aus dem Wald nach Hause zurück und suchen Schutz und Wärme vor dem Feuer im Herd, wo die Flamme um das Holz spielt, indes der Wind im Schornstein weht. Wiecherts Trost war es, am Kaminfeuer zu lesen. So schreibt er in „Wälder und Menschen“: Auch das Räumliche meiner Kinderwelt bleibt lange in Dunkel gehüllt, das Haus, der Garten, der Hof, der Wald. Und nur eines taucht am frühesten aus dem Verhüllten: das Feuer im Küchenherd und darüber der riesige ‚Mantel‘ […]. Immer war das Bild des ersterbenden Feuers etwas Zauberhaftes für mich, und der kla- 20 Marcin Gołaszewski gende und singende Laut verglühenden Holzes war mir vom ersten Bewußtsein an der ‚Gesang des Feuermannes‘. Ging aber der Blick darüber hinaus, in den schwarzen Mantelschlund, in dem der Wind mit schauerlicher Klage stöhnte, so hatten die Teufel, Hexen und Zauberer einen kurzen Weg zu meiner zitternden Seele, und ich glaube, daß die Mächte der Unterwelt früh Besitz von mir ergriffen und an meiner Seele geformt haben (Wiechert 1957e: 18f.). So widmet er in allen seinen Romanen die stimmungsvollsten Seiten dem Spiel der lodernden Flamme. Die Feuerstätte wird zum Ort der Geborgenheit, und etwas Märchenhaftes umschwebt die nachdenklichen Menschen, die verstohlen die Hände zwischen den Knien falten. Viele Feuer hat der Jäger entzündet in den vielen Jahren und an ihnen gelegen, unter den Bäumen, die von unten sich rötlich beglänzten. Feuer unter Sternen und Feuer im Regen. Aber niemals hat er jemanden erwartet an diesen Feuern. Niemanden als den Schlaf. Und einmal, in schwerem Fieber, den Tod. Vorbei ist die Zeit, in der ein Feuer den Jäger traurig machen konnte. Es macht ihn nachdenklich, und still, und sehr einsam. Aber nicht traurig. Sehr lange kann man in die Flamme sehen, wie sie steigt und lodert und sinkt. Wie die Funken aufsteigen, hoch in die Zweige hinein, und das grüne Dach sich erhellt und verdunkelt (Wiechert 1957b: 251f.). Wie der Jäger der Majorin, so blickt auch Jakob der Köhler ins Feuer, „und man wußte nie, ob er nachdenke oder träume oder schlafe“ (Wiechert 1957c: 91). So wendet sich auch Jons Jeromin zum Feuer zurück: „Das Feuer war das Lebenselement der Jeromins. Der Großvater war in ihm gen Himmel gefahren, den Vater hatte es Tag und Nacht erfüllt, in seine eigenen frühesten Träume hatte es geschienen“ (Wiechert 1957c: 434). Als der sterbende Pfarrer Agricola seine Augen zum letzten Mal öffnete, „konnte er das Feuer im Herd sehen“ (Wiechert 1957c: 333). „Das Lebendige im Winter ist das Feuer. Es beherrscht den Abend und die Nacht“ (Wiechert 1957d: 115). Als Amadeus aus dem Konzentrationslager heimkehrt und über die Schwelle des Schafstalles tritt, wo seine beiden Brüder im kleinen Wohnraum des Schäfers eine notdürftige Unterkunft gefunden haben, brennt im alten Lehmherd ein kleines Torffeuer unter der Asche, an dessen Glut er sich wärmt und allmählich die Kraft zur Wandlung findet (vgl. Wiechert 1957d: 6, 32, 34, 35, 37 usw.). Die Natur verwandelt schließlich den Menschen, führt ihn zurück aus der Verbannung zu seinem Herzen, wie der Dichter sie verklärt mit seinen Worten. Im Alter beschränkt sich die Sehnsucht. Der Traum wird endlich Wirklichkeit. Das verlorene Paradies liegt hinter dem Haus: Es ist ein sorgfältig umzäunter Garten, der Trost und Freude schenkt. Mit Meisterhand hat Wiechert den ge- Ernst Wiechert und seine Heimat 21 reiften, befriedigten Menschen gezeichnet, der sich mit der „Herdflamme am Abend und Gottes Wort in dem Heiligen Buch“ (Wiechert 1957c: 929) zu begnügen weiß. Artur Schopenhauer, der den jungen Wiechert bedeutend beeinflusste, bemerkt mit kritischer Nüchternheit: „In Korn- und Gemüsefeldern […] sinkt das Ästhetische der Pflanzenwelt auf sein Minimum herab“ (Schopenhauer 1988: 454/ 469). Wiechert hingegen gelingt es, auch der Landschaft des täglichen Lebens einen geheimen Reiz abzugewinnen, denn alles Erschaffene ist schön. Und wenn dem Verstand, der gliedert und zerlegt, manches gering erscheinen mag, so fühlt das dichterische Gemüt die große Einheit der Natur. Wiechert hat allerdings immer wieder verkündet, dass nur das reine Herz die Schönheit auch im engen Bereich des Alltags zu erblicken vermag. In der „Majorin“ zeichnet er mit flüchtig hingeworfenen Zügen eine ausgeglichene Lehrerfigur, als suche er unversehens das Ideal festzuhalten, als wolle er das Bild des friedlichen Menschen entwerfen, der sich in der Natur endlich geborgen fühlt: Ein alter Mann mit einem Gesicht wie ein Herbstmorgen, still und klar, der von seinen Bienen kommt und die Majorin bittet, ein wenig bei seinen Rosen zu sitzen. Und der nicht von den Menschen spricht, sondern von seinen Blumen und Bienen, und daß es dem Menschen gut tue, ein paar alte Bäume in seinem Garten zu haben, die so still und ernst daständen, zumal am Abend, so daß man sich ein bißchen schäme, laut und unruhig zu sein, wenn man sie ansehe (Wiechert 1957b: 276). 3 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Natur bei Wichert nicht nur angedeuteter Hintergrund, Rahmen einer Handlung, örtliche Abgrenzung ist. Sie ist vielmehr Lebensraum seiner Dichtung, das Zentrum seines Schaffens, Ziel seiner Sehnsucht, verheißenes Land und Paradies der Träume und das Abbild der verlorenen ostpreußischen Heimat. Nicht einfach abstrakte Natur als Sinnbild der Gefühlswelt oder als Außenwelt im Gegensatz zum eigenen Ich, sondern erlebte Landschaft und Heimat werden in seinen Romanen plastisch dargestellt. Es ist ein erfüllendes und wirkendes Land mit erlösender und heilender Kraft: ein Land der Stille, der Einsicht, des beschränkten Horizontes. Zuerst sind es Wald und Moor, unendliche Seen und öde Schilfkämpe, dann mehr und mehr Feld und Furche, schließlich Hof und Garten. Und mag auch der Dichter seit Ende der 1920er Jahre nicht mehr in Ostpreußen gelebt haben, so bleiben trotzdem Königsberg und die ostpreußische Natur das Zentralmotiv seiner 22 Marcin Gołaszewski Dichtung. Nicht das Leben in der Hauptstadt Berlin thematisiert er in seinen Romanen, sondern ein Stück Land im Osten Mitteleuropas, am Rande der Welt. In allen seinen Romanen trifft der Leser auf die gleiche Landschaftsgrundstruktur. Es sind immer dieselben konstituierenden Elemente wie Wind, Feuer, Felder und Seen, die einen Rahmen für die Handlung schaffen. Und selbst wenn sie nicht aus Wiecherts Heimat Ostpreußen stammen, sondern die Handlung, wie in der Erzählung „Der weiße Büffel“, in das altertümliche Indien versetzt wird (vgl. Gołaszewski 2011: 91-114), sind die festgemachten Landschaftselemente trotzdem gut erkennbar und eindeutig auf diese Struktur zurückzuführen. „Wildheit und Trauer sind die Pole, in die Wiecherts Naturbild gespannt ist, und zwischen beiden so nah beieinander liegenden Extremen steht auch sein Mensch“ (Krüger 1943: 35). Das Landschaftsbild zieht sich wie ein roter Pfaden durch sein Werk und ist nicht nur mit seiner Herkunft zu verbinden. Dies wäre ein rein autobiographischer Bezug und würde ihn als Heimatdichter abstempeln. Darüber hinaus handelt es sich offensichtlich, wie Messing richtig bemerkt, „um ein Strukturprinzip der Erzähltechnik Wiecherts, der Landschaft im Rahmen einer realitätsnahen Beschreibung eine gewisse ‚Allgemeinheit‘ zu belassen“ (Messing 1987: 72). Deswegen ist anzunehmen, dass „die Natur-Thematik ganz gewiß nicht bloß als autobiographischer Reflex behandelt werden darf, sondern daß ihr eine das (Einzel- und Gesamt-)Werk gestaltende Rolle zukommt“ (Messing 1987: 72). Die Entwicklung des Weltbildes des Dichters erfolgt in vier Stufen. Zutreffend drückt dies Ebeling aus: Die erste, „sentimentalische, steht ganz unter dem Erlebnis der Ausstoßung und umfaßt die beiden frühesten Bücher des Dichters, Die Flucht und Die blauen Schwingen. Die zweite, überlodert vom Fegefeuer des Ersten Weltkrieges, ist eine des Sturzes, des „Sturmes und Dranges“, und umschließt vornehmlich die drei Bücher Der Wald, Der Totenwald und Der Knecht Gottes Andreas Nyland. Die dritte Stufe bezeichnet der Dichter selbst nach einem krisenreichen „Durchbruch der Gnade“ als „das neue Leben“ nach der „zweiten Geburt“. Sie bringt die harmonische Vermählung der drei Grunderlebnisse in einem neuen „panischen“ oder „magischen“ Weltgefühl (Ebeling 1947: 45). Diese Phase reicht bis „etwa zum Erinnerungsbuch Wälder und Menschen. […] Die jüngste Stufe endlich, eingeleitet von dem Erlebnis der KZ-Haft in Buchenwald, ist besonders in den Romanen Das einfache Leben und Die Jeromin-Kinder gestaltet, sie ist die Stufe der letzten Konsequenz seines Weges, der „entsagenden Vollendung“ (Ebeling 1947: 46). Ernst Wiechert und seine Heimat 23 Abschließend sei noch auf die Probleme der Deutung des Wiechertschen Naturbezugs hingewiesen. Dass Wiechert wegen seiner Naturverbundenheit im Nationalsozialismus ein begehrter Autor war, bedarf keiner Erklärung. Das bezeugt u.a. der Brief des Reichsministers und Generalgouverneurs von Polen, Dr. Hans Frank: Sehr geehrter Herr Wiechert! Ich möchte Ihnen meine Bewunderung für Ihr Meisterwerk ‚Das einfache Leben’ ganz kurz zum Ausdruck bringen, da ich aus diesem Ihrem Buch weiß, dass Sie den echten Klang noch so stiller Worte vernehmen, wenn diese im tiefen Erlebnisgrund wurzeln. Für das harte Leben, das sich bei uns Handvoll Deutscher als Führungsschicht in einem Raum mit 14,5 Millionen Fremdvölkischer abspielt - ist Ihr Buch von der Bedeutung eines dichterischen Gleichnisses, wie man es nicht prägnanter nicht vorstellen kann. Ich weiß, dass Sie große Schwierigkeiten mit manchen Dienststellen unseres Reiches hatten, ich bedaure dies auf das tiefste, denn ich halte mich verpflichtet, zu betonen, dass ein Mann, der solche Bücher schreibt wie dieses ‚Das einfache Leben‘, verdient die Achtung und den Schutz der in Zeit und Raum Mächtigen (vgl. Gołaszewski 2012: 459-473). 2 Etwas anderes belegt ein Gutachten über den Roman „Das einfache Leben“. In den 1930er Jahren, als Wiechert sich mehr und mehr von den Nationalsozialisten zu distanzieren begann, wurden ihm seine utopische Welt, sein Rückzug in die Innerlichkeit seiner ostpreußischen Heimat von der Zensur vorgeworfen. Sein letzter Roman im Dritten Reich, den er direkt nach seiner Freilassung aus dem KZ Buchenwald schrieb, und der als eine Reaktion auf die Schreckenserlebnisse gelesen werden soll, bedeutete seinen Abschied vom politischen und gesellschaftlichen Leben in der Diktatur. Er war zugleich eine Flucht in die Natur, in seine Kindheitserinnerungen und damit Absage an das Regime (vgl. Gołaszewski 2014: 57-70). Im Juniheft 1939 des „Lektoren-Briefes“ veröffentlichte Bernhard Payr vom Zentrallektorat der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums ein Mustergutachten über „Das einfache Leben“, das zugleich Rosenberg in seiner Zeitschrift „Bücherkunde“ abdruckte. In dem Gutachten wird der Roman auf Grund seiner darstellerischen Qualitäten als „eines der besten Bücher Wiecherts“ (Payr 1939: 1) bezeichnet. Aber Payr (1939: 1) wirft ihm auch vor, dass seine Helden eine „gemeinschaftsflüchtige Lebensweise“ zu Eigen sei. Die Schilderung seines Helden, der unter dem 2 Brief des Generalgouverneurs, Reichsministers Dr. Hans Frank, v. 11.06.1943 an Ernst Wiechert. In: Königsberger Sammlungen der Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr.). Inv.Gr. 4 Nr. 2/ 94. Nachlass von Ernst Wiechert im Besitz des Stadtarchivs der Stadt Duisburg. 24 Marcin Gołaszewski Soldatensein gelitten hatte, wird als ein „bei Wiechert beliebter und stets wiederkehrender Gedanke“ (Payr 1939: 4) bezeichnet. In der Hauptgestalt des neuen Romans von Wiechert, dem Korvettenkapitän a.D. von Orla, finden wir einen Menschen echt Wiechertscher Prägung. Letzten Endes geht es immer wieder um die Bespiegelung des eigenen Ich. Aus der Welt fliehend, bejaht der Held wohl ein tätiges Dasein, lebt jedoch trotzdem in hoffnungsloser Vereinsamung fern aller Gemeinschaft dahin. […] Das bedeutet eine Absage an die Idee der Gemeinschaft und das Bekenntnis zur bewussten Vereinzelung. Immer wieder ringt dieser Mensch mit seinen Gedanken und Gefühlen. Sie lassen ihn wohl in eine neue Welt hineinblicken, doch besitzt er nicht die Kraft, sie sich nun auch wirklich zu schaffen. […] Das Problem des Menschen, der nach 20 Jahren noch nicht aus dem Kriege heimgekehrt ist, besitzt heute keine unmittelbare Wirklichkeit mehr. Der Dichter zerreibt sich an diesem Stoff, der ihn Zeit seines Lebens beschäftigte und den er immer wieder in verschiedenen Abwandlungen gestaltete, wenn er auch hier und da Durchblicke in eine lichtere Zeit zu geben vermag. Aber es gelingt ihm nicht, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Und so blieb er schließlich doch im Unvollendeten, in Halbheit und Passivität stecken (Payr 1939: 4f.). Die Hauptvorwürfe sind Wiecherts Idealismus, die Absage an jeglichen Gemeinschaftsgedanken, seine Egozentrik und Passivität. Doch zeigt die Wertung des Gutachtens die Widersprüchlichkeit Wiecherts, die auch den Verantwortlichen des NS-Staates nicht verborgen blieb. Nach Ansicht von Payr ist Wiechert auf dem halben Weg zu der wahren Erkenntnis - nämlich der des Nationalsozialismus - stehen geblieben. Aus heutiger Sicht könnte man umgekehrt auch sagen, er hat die Konsequenzen aus seinen kritischen Ansätzen nicht gezogen, sondern durch seine passive Haltung dem Regime eher in die Hände gearbeitet. Zusammenfassend werden Wiecherts Innerlichkeit und Utopie als etwas Krankhaftes abgelehnt: Es ist keine Welt einer gesunden Innerlichkeit, die man bejahen kann, sondern eine Welt mit so vielen krankhaft anmutenden Zügen, dass man sie nur mit Nachdruck ablehnen kann. […] Der Roman kann nicht empfohlen werden (Payr 1939: 6). An diesem abschließenden Beispiel ist ersichtlich, wie verschieden die Naturverbundenheit eines Dichters verstanden werden konnte und dass diese Auslegung entsprechende Folgen hatte. Am Beispiel Wiecherts ist gut erkennbar, dass das Zentrum nicht wie meist gedacht geographisch oder politisch zu verstehen ist, sondern durch einen Autor durch zahlreiche Elemente, die sein Schaffen determinieren, bestimmt Ernst Wiechert und seine Heimat 25 wird. Bei Wiechert sind es die Natur und seine ostpreußische Heimat, die lebenslang zu Hauptmotiven seiner Werke und somit zum Zentrum seiner Welt wurden. Denn er empfand sich „im Gegensatz zu Thomas Mann oder Gerhart Hauptmann niemals als Repräsentant seiner Zeit […], sondern als Vereinsamter, Ausgestoßener, verkannter Mahner, Warner und Prediger in der Wüste“, da er in seiner Jugendzeit eine Lebensform kennengelernt hatte, „die im kolonialen Preußen des Ostens mit der festgefügten Ordnung ‚Für Thron und Altar‘ bestimmbar und bestimmt war“ (Hmb 1962: o.S.). Die beiden Weltkriege haben in Wiechert eine „in ihm vorhandene Anlage akzentuiert, ja zum Extrem entwickelt“ (Hmb 1962: o.S.) Bald galt sein Interesse allem, was mit Ostpreußen und seiner Natur verbunden war und seine Feindschaft allem, was er als das ‚moderne Leben‘ definierte. 4 Literatur Angelloz, Joseph-François (1951): Vom Anfang des Abendlandes. In: Ernst Wiechert. Der Mensch und sein Werk. Eine Anthologie. München. S. 279-296, hier S. 279. Bułkowska, Beata: „Ich komme aus einer großen Landschaft…“ Die Einflüsse der ostpreußischen Landschaft auf die Werke von Ernst Wiechert. www.ernst-wiechert.de/ Ernst_Wiechert_Bibliografie/ Beata_Bulkowska_Einfluesse_der_ostpreussischen_Land schaft_auf_Ernst_Wiechert.pdf (Stand: 02.04.2014). Ebeling, Hans (1947): Ernst Wiechert. Das Werk des Dichters. Wiesbaden. Gołaszewski, Marcin (2011): Die Schriftsteller und Dichter der Inneren Emigration im Ringen um humanistische Werte. Analyse der Novelle Ernst Wiecherts Der weiße Büffel oder Von der großen Gerechtigkeit. In: Baranowska-Szczepańska, Magdalena/ Karwat, Jan (Red.): Bezpieczeństwo współczesnego świata - Edukacja, Nauka, Kultura. Poznań. S. 91-114. Gołaszewski, Marcin (2012): Ernst Wiechert - Schriftsteller und Dichter der Inneren Emigration in politischer Schutzhaft im Dritten Reich. In: Kolago, Lech (Red.): Studia Niemcoznawcze. Bd. 49. Warschau. S. 459-473. Gołaszewski, Marcin (2014): Arbeit, Verzicht und Entsagung als Ausdrucksmittel der Inneren Emigration Ernst Wiecherts in seinem Roman Das einfache Leben. Innerlichkeit versus das Dritte Reich. In: Kapral, Elżbieta/ Sidowska, Karolina (Hrsg.): Lodzer Arbeiten zur Kultur- und Literaturwissenschaft. Frankfurt am Main. S. 57-70. Hmb (1962): Feuilleton. Der Wunschträumer. Zu Ernst Wiecherts fünfundsiebzigstem Geburtstag. In: Stuttgarter Zeitung v. 18.05.1962, Nr. 114, o.S. Krüger, H[orst]. K. (1943): Ernst Wiechert - Verfall einer dichterischen Sendung. In: Der Buchhändler im neuen Reich 8. S. 35-41. Messing, Axel Sanjosé (1987): Untersuchungen zum Werk Ernst Wiecherts. München. Mielczarek, Jörg (2010): Von Untertanen, Zauberbergen, Menschen ohne Eigenschaften. Meine Reisen durch die Literatur der Weimarer Republik. Bonn. www.literaturweimar.de/ autoren/ ernstwiechert.htm (Stand: 06.04.2014). 26 Marcin Gołaszewski Ollesch, Helmut (1941): Ernst Wiechert. Dichtung und Deutung. Wuppertal-Barmen. Schonauer, Franz (1961): Deutsche Literatur im Dritten Reich. Versuch einer Darstellung in polemisch-didaktischer Absicht. Olten/ Freiburg im Breisgau 1961. Schopenhauer, Artur (1988): Sämtliche Werke. Bd. 6: Parerga und Paralipomena 2. 19. Kapitel: Zur Metaphysik des Schönen und der Ästhetik. Hrsg. v. Arthur Hübscher. Mannheim. Quellen Payr, Bernhard (1939): Gutachten für Verleger (Abschrift). Berlin C2 v. 7.6.1939, Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums bei dem Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP. In: Königsberger Sammlungen der Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr.). Inv.Gr. 7 Nr. 5/ 78. Nachlass von Ernst Wiechert im Besitz des Stadtarchivs der Stadt Duisburg. Wiechert, Ernst (1957a): Der Knecht Gottes Andreas Nyland. In: Wiechert, Ernst: Sämtliche Werke. Bd. 2. Wien/ München/ Basel. Wiechert, Ernst (1957b): Die Majorin. In: Wiechert, Ernst: Sämtliche Werke. Bd. 4. Wien/ München/ Basel. Wiechert, Ernst (1957c): Die Jeromin-Kinder. In: Wiechert, Ernst: Sämtliche Werke. Bd. 5. Wien/ München/ Basel. Wiechert, Ernst (1957d): Missa sine nomine. In: Wiechert, Ernst: Sämtliche Werke. Bd. 6. Wien/ München/ Basel. Wiechert, Ernst (1957e): Wälder und Menschen. In: Wiechert, Ernst: Sämtliche Werke. Bd. 9. Wien/ München/ Basel. Wiechert, Ernst (1957f): Jahre und Zeiten. In: Wiechert, Ernst: Sämtliche Werke. Bd. 9. Wien/ München/ Basel. Wiechert, Ernst (1957g): Dichterglaube. In: Wiechert, Ernst: Sämtliche Werke. Bd. 10. Wien/ München/ Basel. Auf Spurensuche - Deutsche unterwegs im zeitgenössischen Polen Anna Górajek (Warszawa/ Warschau) Zusammenfassung Bis vor kurzem schien Polen für viele Deutschen am Ende der Welt zu liegen. Dabei ist es ein Land, das bei näherem Hinschauen in mancher Hinsicht den Deutschen näher als die Schweiz und verwandter noch als Österreich vorkommen kann (Schramm 2008: 137). Lange Zeit waren die zu Polen gehörenden Territorien auch traditionelle Siedlungsgebiete der Deutschen. Seitdem die Grenzen geöffnet sind und es einfacher ist, ins östliche Nachbarland zu reisen, wagen immer mehr Bundesbürger den Schritt über die Oder. Viele von ihnen begeben sich auf Spurensuche. Nicht wenige halten ihre Eindrücke in Form von Reiseberichten fest, die es dem Leser ermöglichen, eine doppelte Reise zu unternehmen - nach Polen und in eine ferne, fast vergessene, doch nicht gänzlich untergegangene Welt. Eine Analyse ausgewählter deutscher Reiseberichte über das heutige Polen zeigt, wie in Deutschland mit der Thematik der Grenzverschiebung generationsspezifisch umgegangen wird. 1 Einleitende Bemerkungen Im heutigen Europa der Regionen hat man den Staatsgrenzen ihre ehemals trennende Funktion genommen. Sie existieren weiter, sind aber durchlässig geworden und schotten die nationalen Welten nicht mehr ab. Die Oder überqueren (und das in beiden Richtungen) heißt nicht mehr in eine feindliche, unberechenbare Welt einzutauchen. Die Oder selbst - obwohl weiterhin Grenzfluss - ist mittlerweile einfach auch ein mitteleuropäischer Strom, besungen auf Polnisch und auf Deutsch. Die Oderregion hat zu sich selbst zurückgefunden, d.h. sie hat sich vom öden Grenzland zwischen sich feindlich gegenüberstehenden Mächten zurück zu einer europäischen Kulturlandschaft entwickelt - Viadrina als Markenzeichen. Doch die Geschichte der wechselseitigen Beziehungen, der slawischen und deutschen Einflüsse reicht weit zurück und umfasst viele andere, weiter östlich gelegene Regionen. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs treten diese Gebiete langsam wieder ins Bewusstsein der Deutschen und der Europäer, wovon auch die beträchtliche Zahl von Büchern deutscher Autoren zeugt, die in den letzten zwanzig Jahren Polen zum Gegenstand ihrer Texte werden ließen. 28 Anna Górajek Texte zu Polen von Autoren wie Günter Grass, Ralf Giordano, Klaus Bednarz, Tina Stroheker, Petra Reski, Elisabeth Göbel, Hans-Christian Kirsch, Michael Zeller, Artur Becker, Olaf Müller, Christian von Krockow, Matthias Kneip, Christa Blachnik, Sabrina Janesch, Gerhard Gnauck, Godehard Schramm, Wolfgang Büscher, Steffen Möller oder Anette Dittert lassen sich größtenteils der Reiseliteratur (Holdenried 1997: 283f.) zuordnen, jedoch nicht im Sinne sachorientierter Reisehandbücher oder wissenschaftlicher Reisebeschreibungen. Vielmehr sind es Texte, in denen tatsächliche oder erfundene Reiseerlebnisse literarisch geformt werden, also die literarische Reisebeschreibung bzw. den literarischen Reisebericht, die Reiseerzählung oder den Reiseroman. In diesem Beitrag möchte ich mich auf den Reisebericht beschränken, der allen Unkenrufen zum Trotz als Gattung nicht nur fortbesteht, sondern sich weiterhin sowohl bei Schriftstellern wie auch bei Lesern einer recht großen Beliebtheit erfreut. Eine Erklärung für diese Entwicklung sieht Deeken (1994: 498) in der Tatsache, dass, gerade weil es nun faktographische Gebrauchstexte und den realen bzw. gefilmten Augenschein gibt, sich die moderne Reiseprosa ganz auf rein literarische Aufgaben konzentrieren [kann]. Gerade im Zeitalter der Massenreisen kann sie ihre Kunst, Erfahrungen sprachlich und stilistisch zu verdichten, entfalten und damit den Leser faszinieren. Vielleicht mehr noch den Wissenschaftler, da es - wie die Analyse von Reisetexten immer wieder zeigt - keine kontextfreien Inszenierungen von Alterität und damit von kultureller Differenz gibt, denn die Wirklichkeit kann weder vom wahrnehmenden Subjekt noch von den Modi der Wahrnehmung getrennt werden (Biernat 2004: 211, 216). Da der Reisebericht eine äußerst „hybride Gattung“ ist (Kohl 1993: 149; s. auch Fuchs/ Harden 1995), die eine große Bandbreite unterschiedlicher Textsorten und deren Kombinationen umfasst, wird im Folgenden nach Brenner (1989: 9) unter diesem Begriff „die sprachliche Darstellung authentischer Reisen“ verstanden. Brenner bemerkt hierzu: Über ästhetische Qualitäten und Ambitionen ist damit nichts ausgesagt; die Gattung vereinigt in dieser Bezeichnung die extremsten Gegensätze. Auch ist damit nichts präjudiziert über den Wahrheitsgehalt des ‚Berichts‘. Er soll sich per definitionem nur auf wirkliche Reisen beziehen, aber den Verfassern liegt doch ein breiter Spielraum zwischen Authentizität und Fiktionalität der Beschreibung offen (Brenner 1989: 9). Biernat (2004: 22) formuliert in diesem Zusammenhang die These, die diesen Ausführungen zugrunde gelegt wird, dass Reiseberichte als Texte zu verstehen sind, die nicht-fiktive Reisen mit fiktionalen Mitteln (die historisch und kultu- Deutsche unterwegs im zeitgenössischen Polen 29 rell variabel sind) darstellen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Authentizität hier keineswegs Objektivität bedeutet, denn ein Reisebericht ist notwendig subjektiv, bei allem Bemühen um Wahrheit und Genauigkeit. Das objektiv Bestehende kann nicht anders als subjektiv wahrgenommen werden und wird dann subjektiv verformt wiedergegeben. Somit ist jeder Reisebericht ein Bericht über die bereiste Fremde und gleichzeitig über den Reisenden selbst (Korte 1996: 9f.). Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Denk- und Wahrnehmungsweisen die deutschen Reisenden an das zeitgenössische Polen herantragen, soweit Polen überhaupt ins Blickfeld der Deutschen gerät. 2 Auf Spurensuche 2.1 Polen, fremdes nahes Land Eine der Fragen, die eingangs aufgeworfen werden müssen, ist die nach den Autoren der Reisebeschreibungen. Es sind im Falle Polens nicht unbedingt die bekanntesten Namen, so wie auch das Land nicht zu den beliebtesten Urlaubs- und Ausflugszielen der Deutschen zählt. Wie die Statistiken zeigen, hält sich die Zahl der nach Polen reisenden Touristen in Grenzen. Obwohl die Deutschen unter den Westeuropäern mit Abstand diejenigen sind, die sich am meisten für das Land jenseits der Oder interessieren, reisen auch sie lieber nach West- oder Südeuropa (DRV 2013: 2). Elisabeth Göbel (1999: 9) schildert die Reaktionen ihrer Freunde und Bekannten, wenn sie ihnen mitteilt, in Polen Urlaub machen zu wollen, folgendermaßen: Leute, ihr seht mich an mit so seltsam leerem Gesicht, wenn ich erzähle, dass ich nach Polen fahre. Das vierte Mal schon große Ferien, Sommerfrische, zwei oder drei grüne Wochen. So schweig ich ein Weilchen, wie Ihr, und dann fragt einer: Ja, warum? Warum denn gerade Polen? Ich seh' es Euch an, Ihr meint, ich sei etwas übermütig, leichtsinnig oder seltsam romantisch, auf der Suche nach der verlorenen Heimat […]. Manch einer weiß nicht, dass es in Polen außer Masuren noch andere 'Gegenden' gibt. Und wenn wir Deutschen nun endlich wieder unser Vorpommern haben -, man weiß eigentlich nicht so recht, wo genau nun Hinterpommern liegt. (Oder lag.) […] Ich habe vergessen zu sagen, dass die Polen Nachbarn sind […]. Zugegeben, es gibt Nachbarn, die man immer wieder übersieht. Schlüter (2006: 9) nennt diese Haltung Bewusstseinsferne, entstanden „aus einem Jahrzehnte dauernden Mangel an Gelegenheiten“. Dabei dürfte Polen gerade für die Deutschen auch im Hinblick auf ihre eigene Geschichte und Kultur 30 Anna Górajek interessant sein. Man nenne nur in einem Atemzug Arthur Schopenhauer und Danzig (Gdańsk), Andreas Gryphius und Glogau (Głogów), Johann Gottfried Herder und Mohrungen (Morąg), Gerhart Hauptmann und Agnetendorf (Jagniątków/ Jelenia Góra) oder Joseph von Eichendorff und Lubowitz (Łubowice). Matthias Kneip (2012b: 275f.) gibt in einem Essay über Schloss Lubowitz zu: Irgendwie überrascht es mich, diesen Namen auf einem Ortsschild wiederzufinden, noch dazu in polnischer Sprache. Seit meiner Schulzeit existierte Lubowitz für mich nur als Synonym für einen romantisch verklärten Heimatbegriff, bestenfalls als Schloss und viel besungene Geburtsstätte des Dichters Joseph von Eichendorff. […] Nie wäre ich als Schüler auf den Gedanken gekommen, dass dieser Ort sich heute in Polen befindet. Kneip ist keine Ausnahme. Christa Blachnik (1999: 7) schreibt im Vorwort zu ihrem Buch „Kornblumen blühten am Wegesrand. Erinnerungen an Schlesien“: „Gespräche mit Bekannten zeigten immer wieder, dass viele gar nicht wissen, dass Schlesien einmal deutsch war“. Deutsch, polnisch, tschechisch - im Verlauf der Geschichte war Schlesien hin und her gerissen. Nach Polen reisen laut Statistik jährlich etwa zwei Millionen deutscher Touristen (Statistisches Bundesamt 2011: 139). Viele von ihnen sind - um es mit Petra Reskis Worten auszudrücken - „mit Polen verwandt“ (www.petrareski.com), d.h. dass sie oder ihre Vorfahren in den heute zu Polen gehörenden Regionen geboren worden sind. Nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war und Polen Mitglied der Europäischen Union wurde, machten sich nicht wenige auf, ihre Heimatorte bzw. die ihrer Vorfahren oder Ehegatten aufzusuchen. Manche Erfahrungen und Reiseeindrücke wurden aufgeschrieben, manchmal gab die Reise Anstoß, Erinnerungen niederzuschreiben, um Vergangenes der Vergangenheit zu entreißen oder es ihr nur nicht ganz preiszugeben. Denn die untergegangene Welt kann man nur auf eine einzige Weise retten, nämlich indem man sie im geschriebenen Wort beschwört. Die alte Heimat in Wort und Schrift zu fassen und sie dadurch zu verewigen, heißt zugleich - wie es Christian Graf von Krockow (1995: 323) ausdrückt - der Zerstörung ihren Triumph nicht gönnen. Das geschriebene Wort erscheint als eine Möglichkeit der Sicherstellung von Gedächtnis (Royon 2010: 324), was als eine Art Dispositionsmasse verstanden wird, aus der die Erinnerung auswählt und aktualisiert (Assmann 1991: 17). In der Erinnerung wird die Vergangenheit quasi rekonstruiert, jeweils vom aktuellen Standpunkt aus, denn sie existiert nicht in Form jederzeit abrufbarer, unveränderlicher Bestände. Sie wird stets neu erschaffen, eben anhand des vorhandenen, d.h. gespeicherten Wissens und der nicht zu unterschätzenden Sinneseindrücke. Die in Schriftform festgehaltenen Bruchstücke der erinnerten Wirklichkeit geben der Nachwelt, verstanden als eine Gemeinschaft von Indivi- Deutsche unterwegs im zeitgenössischen Polen 31 duen, die Möglichkeit, auch noch nach Jahrzehnten sich ein eigenes puzzleartiges Bild der Vergangenheit zusammenzustellen, die vergangene Wirklichkeit in ihrer Vielfalt, in all ihren Schattierungen wahrzunehmen. Denn die verstreichende Zeit geht mit den nichtarchivierten Wissensquellen erbarmungslos um. Nach und nach gehen sie samt dem kommunikativen Gedächtnis unter und sind für die nachfolgenden Generationen verloren. Dies trifft besonders auf diese Situationen zu, wo das Gedächtnis, infolge einer groben Veränderung bzw. des Verschwindens des Bezugsrahmens der kommunizierten Wirklichkeit, sich selbst nicht mehr in der Kommunikation erhalten kann (Assmann 2000: 37), wie eben im Falle der Bevölkerungsverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die niedergeschriebenen Erinnerungen sind subjektiv und bruchstückhaft wie jedes Erinnern. Doch sie öffnen jeweils ein Tor und erlauben einen Einblick in die vergangene Zeit. Aus dieser Fülle an Erinnerungsbildern lässt sich wie aus Mosaiksteinen die Vergangenheit einigermaßen objektiv rekonstruieren und die Gegenwart besser verstehen. 2.2 Zur Frage der Ortsbezeichnungen Zuvor eine Bemerkung zu den deutschen und polnischen Ortsnamen. Nehmen wir z.B. Christa Blachniks Geburtsort Kochsdorf in Schlesien. Es trägt heute den für Deutsche eher unaussprechbaren Namen Wierzbięcin. In diesem Falle haben wir es mit einer eindeutigen Polonisierung des Ortsnamens zu tun, denn das Dorf wurde vermutlich schon im 13. oder 14. Jahrhundert von deutschen Siedlern angelegt und erscheint bereits als Coxdorf auf einer Karte Schenks von 1760 (wikipedia.org 2014). Doch auch slawische Ortsnamen im ehemaligen Osten des deutschen Reiches waren bis Anfang des 20. Jahrhunderts keine Seltenheit. Erst Ende der 1920er Jahre und besonders im nationalsozialistischen Deutschland war man aus rein ideologischen Gründen bemüht, alle nichtdeutschen Spuren zu eliminieren. So verdeutschte man auch slawisch anmutende Ortsnamen sowohl in Schlesien als auch in Ost- und Westpreußen. Laut Bahlcke (2000: 140) gelang es den Nationalsozialisten, einen Großteil der auf slawische Wurzeln zurückgehenden Namen in Schlesien zu beseitigen. So wurde aus Miechowitz zum Beispiel Mechtal und aus Plawniowitz Flößingen (heute heißen beide Orte entsprechend Miechowice und Pławniowice). Ähnlich ging man auch in anderen Regionen vor. In Masuren (Ostpreußen) waren je nach Landkreis bis zu 70 % aller historischen Ortsnamen von dieser Maßnahme betroffen (Kossert 2003: 136). Die Auslöschung markanter regionaler Spezifika sollte die Neuschreibung der Geschichte der deutschen Grenzregionen erleichtern. 32 Anna Górajek Krockow (1995: 287) nennt in diesem Zusammenhang die Umbenennungen „Menetekel des Untergangs“. Denn nach 1945 schlug die Rache zurück. In den nun zu Polen gehörenden Gebieten wurden nicht nur die Umbenennungen der slawischen Ortsnamen revidiert, sondern zugleich auch die historischen deutschen Namen nach und nach polonisiert. So ist eben aus Kochsdorf Wierzbięcin geworden. Mit der Namensänderung gingen die Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung und das Verbot der deutschen Sprache für diejenigen, die als Autochthonen bleiben durften, einher. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass manche neu-deutschen (d.h. nationalsozialistischen) Ortsbezeichnungen den Untergang des Nationalsozialismus überlebten. Es war und ist verständlich, wenn manche Vertriebenen ihren Geburtsort nur in dieser Form kennen und den Namen, so wie er in der Geburtsurkunde steht, gebrauchen. Problematischer wird es, wenn die aus der NS-Zeit stammenden Ortsbezeichnungen von der am Ort verbliebenen deutschen Minderheit vorsätzlich gebraucht werden, bzw. wenn diese versucht, den Namen als offizielle deutsche Ortsbezeichnung durchzusetzen. Auf dieses Problem verweisen in ihren Reiseberichten sowohl Tina Stroheker wie Roswitha Schieb. Beide, nach dem Krieg geboren, sehen in einer solchen Haltung der Vertreter der deutschen Minderheit einen potenziellen Auslöser eines Konfliktes zwischen deutschen und polnischen Ortsbewohnern. „Wie peinlich, dass die deutsche Minderheit ausgerechnet an diese Namen wieder anknüpft, ausgerechnet um diese Namen auf den Ortsschildern kämpft, ein törichteres Eigentor lässt sich kaum denken“ - ärgert sich Schieb (2000: 63), als sie die Deutschen in Ortowice (ehemals Ortowitz) ihr Dorf Rehwalde nennen hört. Doch für die deutschen Einwohner klingen die traditionellen Ortsbezeichnungen allzu slawisch und dementsprechend zu abstrakt (Stroheker 2000: 149). Schieb (2000: 62) nennt es Unaufgeklärtheit, die zu nichts führt außer zu Konfrontationen. Das Vertrackte an dieser Situation ist, dass die deutsche Minderheit in Polen als letzten historischen Bezugspunkt die NS-Zeit hat. Es sind eben diese letzten deutschen Ortsnamen, die in Geburtsurkunden und Ausweisen der Flüchtlinge stehen, auch in den meisten Dokumenten der Zurückgebliebenen. So überdauerten sie auch in der Erinnerung. Vor Ort galt die deutsche Geschichte der Stadt, der Gemeinde, der Region lange Zeit als Tabuthema und auf Grund der Tatsache, dass es zu einem bedeutenden, mancherorts beinahe vollständigen Menschentransfer nach dem Krieg gekommen war, wurde sie auch nicht weiter hinterfragt. So gerieten die älteren historischen Ortsnamen in Vergessenheit und nach den Ursachen der Namensänderung (soweit dieses Bewusstsein überhaupt besteht) wird heute nicht mehr oder nur selten gefragt. Man hat in Polen mit Sicherheit viel zu lange die Diskussion um die deutschen Einflüsse, insbesondere in den westlichen und nördlichen Regionen, hinausgezögert. Die Tabuisierung dieser Thematik konnte jedoch die Erinne- Deutsche unterwegs im zeitgenössischen Polen 33 rung an alles Deutsche nicht auslöschen und diese klammerte sich unglücklicherweise u.a. auch an die doch so sehr deutsch klingenden Ortsnamen. Heute ist man in Polen nicht mehr darum bemüht, historische Spuren zu verwischen; vielmehr ist man bestrebt, das unendlich vielschichtige Universum Vergangenheit mit allen seinen Nuancen zu entziffern. Man hat gelernt, die kulturelle Hybridität der einzelnen Regionen nicht nur zu akzeptieren, sondern sie auch als eine Bereicherung wahrzunehmen. Doch die Zeit ist erbarmungslos. Nach dem Bevölkerungsaustausch wurde Deutsch durch Polnisch ersetzt. Das Deutsche wich dem Polnischen in Wort und Schrift. Wenn man heute nach Spuren des Deutschen sucht, an Orten, wo es einmal Alltagsprache war, findet man - wenn überhaupt - nur Reste von Inschriften an den Wänden, in den Kirchen und manchmal auf den Friedhöfen. Einzelne, übriggebliebene Wörter. 2.3 Die Vertriebenengeneration auf Heimatsuche Diese einzelnen liegengebliebenen Wörter lesen dann die deutschen Polenreisenden auf und versuchen sie mühsam zusammenzufügen. Die Reise ins Land jenseits der Oder ist immer eine Entdeckungsreise, doch vorab ist deren Befund nicht zu erahnen. Sie kann Rekonstruktion deutscher Geschichte oder der eigenen Familiengeschichte sein, Suche nach Identität oder Trauerarbeit. So individuell wie das eigene Schicksal sind auch die Motivation sowie die Reiseerwartungen und -erfahrungen der Reisenden. Eines ist jedoch allen gemeinsam: Die Reise nach Polen ist zugleich eine Zeitreise in eine unwiderruflich vergangene Zeit. Irgendwo in Pommern notiert Göbel (1999: 74f.) voller Traurigkeit: „Auf der Wetterseite, wo Regen die Farbe vom Putz gespült hat, legte er das Wort 'Kaufhaus' in Frakturschrift bloß, dann fiel ein Stück Putz von der Wand, und nur die letzten drei Buchstaben blieben: aus“. Dieses „aus“ verfolgt auch Blachnik in ihrem Geburtsort. Sie erinnert (1999: 31): Unser schöner kleiner Ort hatte früher 32 Häuser. Als wir 1945 unser ‚Kucksdorf‘ verlassen mussten und die Polen das Land besiedelten, kamen nur 5 polnische Familien in unser Dorf. Sie konnten sich die Häuser auswählen, in die sie ziehen wollten. Die anderen Gebäude wurden abgerissen, die Steine abtransportiert. Die Friedhöfe eingeebnet. Als die nun seit 50 Jahren in Thüringen lebende Schlesierin sich 1991 zum ersten Mal nach Polen auf Spurensuche begibt, muss sie feststellen, dass von ihrem Dorf nicht viel übriggeblieben ist. Zwar wird das Haus ihrer Eltern noch bewohnt, aber andere Gebäude im Dorf stehen leer und sind dem Verfall preis- 34 Anna Górajek gegeben. Auch das Haus der Großeltern ist nicht mehr zu finden, ebenso wie die Häuser von Bekannten und Freunden. Auf dem Friedhof gibt es nur noch Gräber mit polnischen Namen und Inschriften. Das Wiedersehen mit der alten Heimat scheint im Falle Blachniks gleichzeitig die endgültige Trennung von dieser zu sein. Um sie nicht ganz zu verlieren, schreibt sie ihre Erinnerungen auf. So entsteht das Buch „Kornblumen blühen am Wegesrand“ (1999), das zugleich Reisebericht und Erinnerungsbuch ist. Die Reise nach Polen ist eine Reise nach Kochsdorf. Da jedoch dieses nicht mehr existiert, wird die Reise zum Anlass, eine alte, vor Ort nicht mehr vorgefundene Welt zu beleben, und sei es nur in Schriftform, denn „es war einmal ein kleines Dorf mit dem Namen Kochsdorf“ (1999: 7). Das Buch ist in der deutschen Standardsprache geschrieben, einer Sprache, die anders ist als Blachniks Muttersprache es war, wovon die eingefügten Gedichte im schlesischen Dialekt zeugen. Der in der Heimat gesprochene Dialekt ist mitsamt der Heimat untergegangen. Er hat die Nachkriegsjahre nicht überdauert. Die ihn sprechenden Menschen wurden in alle Welt zerstreut. Um sich in der Fremde und unter Fremden, die die Vertriebenen nicht gerade mit offenen Armen aufnahmen, einigermaßen einrichten zu können, musste man auf die Muttersprache verzichten. Auch wenn man sie nicht verlernte, an die Kinder gab man sie nicht weiter. Man wollte ihnen die Unannehmlichkeiten ersparen, denen man selbst ausgesetzt gewesen war. Einsamkeit, Ausgrenzung und Ablehnung - waren die bitteren Erfahrungen vieler Ausgesiedelter am neuen Wohnort. Blachnik (1999: 104) erinnert sich nur ungern an diese Zeit, denn „danach“ war alles anders: Wir bekamen einen neuen Beinamen: Wir waren jetzt Umsiedler. Das war das amtliche Wort. Aber es gab auch deftigere. Wer glaubte uns schon, dass wir Haus und Felder besessen hatten […]. Einige beschimpften und verspotteten uns. Ihr habt ein Haus gehabt? Warum seid ihr nicht dortgeblieben? Ihr kommt doch aus Polen! Pollaken, Habenichtse, hergeloofenes Pack… Geht dahin zurück, wo ihr hergekommen seid! Gerne wären sie nach Hause zurückgekehrt, in der neuen, oft feindseligen Umgebung konnten sie lange keine Wurzeln schlagen. Dabei sprachen die Kochsdorfer nicht einmal Wasserpolnisch, sondern einen westschlesischen Dialekt ohne sichtbare polnische Einflüsse. In der Fremde ist die erste Aussiedlergeneration eher selten heimisch geworden. Ihr Leben lang hatten die Menschen Sehnsucht nach - wie es Petra Reski (2002: 260) in „Ein Land so weit“ formuliert - einem bestimmten Geruch und einem bestimmten Licht, das sie nirgendwo wiederfinden konnten. Doch wie es scheint, kann diese Sehnsucht gerade durch einen Besuch vor Ort geheilt werden, obwohl nicht gerade auf die jahrelang erhoffte Art und Weise. Deutsche unterwegs im zeitgenössischen Polen 35 Denn das Bewusstsein, dass man wieder auf dem Heimatboden steht und die Freude darüber weichen in Sekundenschnelle der Überzeugung, dass es nicht mehr die Heimat ist, nach der man sich sehnte. Ähnlich wie Blachnik besuchte auch Hans Eberhard Henkel nach über fünfzig Jahren zum ersten Mal wieder seine Geburtsstadt Breslau. Doch anstatt Breslau findet er das polnische Wrocław vor, eine Stadt, in der er sich fremd vorkommt. Und es liegt in erster Linie nicht an dem zum Teil veränderten Stadtbild. Denn auch da, wo die Zeit scheinbar stehengeblieben ist, kann er das Gefühl nicht loswerden, nicht dazuzugehören. Obwohl man der Stadt durch die liebevolle Restaurierung der Innenstadt und der vielen anderen Baudenkmäler ihre Seele gerettet hatte, so ist sie doch eine andere geworden. Für Henkel ist alles so unwiderruflich polnisch. Frustriert notiert er (1996: 75): „Ich höre die fremde Sprache mit ihren vielen Zischlauten, lese die polnischen Schilder überall und fühle mich fremd, überlebt in dieser Umgebung“. Überall, auf scheinbar bekannten Wegen und Plätzen polnische Namen und polnisch sprechende Menschen. Es gibt zwar noch die alten Straßen und auch die alten Häuser, aber es fehlen die alten Freunde und es gibt hier auch keine neuen. Fremde Menschen, die eine unverständliche Sprache sprechen, zerstören das Heimatbild. In Wrocław ist nichts mehr deutsch oder auch nur schlesisch, doch paradoxerweise erlöst diese Situation Henkel vom Trauma der Heimatlosigkeit. „Zwischen fremd gewordenen Mauern“ wird sich Henkel (1996: 79) dessen bewusst, wo er in Wahrheit beheimatet ist. Aus Breslau/ Wrocław kehrt er wie aus einem Traum in die westfälische Wirklichkeit zurück. Und erkennt, dass diese Welt ihm weitaus vertrauter ist. Die Reise nach Breslau und Ullersdorf veränderte auch das Leben von Isa Koschinsky. In Ulanowice-Podlesie/ Lubawka (Ullersdorf) sucht sie das Haus ihrer Großeltern auf, wo sie ihre Kindheit verbracht hat. Ihren ersten Eindruck geben folgende Worte wieder: „Es ist ein freudiger und zugleich trauriger Anblick. Froh bin ich, dass es noch da ist und die lange Zeit überdauert hat; aber sein Aussehen wirkt auf mich, als hätte es jahrzehntelang geweint“ (2002: 46). Betrübtheit macht sich breit. Doch dann lernt Koschinsky die jetzigen Bewohner des Hauses kennen, Übersiedler aus dem ehemaligen polnischen Osten, Vertriebene wie sie. Ein ähnliches Schicksal verbindet. Das Bewusstsein um die Not der polnischen Ausgesiedelten lässt zwar die eigene Not nicht vergessen, aber es erlaubt Koschinsky nach über 50 Jahren, sich mit ihrem eigenen Schicksal abzufinden. Auf der Rückreise nach Frankfurt am Main notiert sie: „Der Begegnung mit ihnen [Zenobia und Mirosław: A.G.] verdanke ich, dass ich das Schicksal der Vertreibung annehmen kann und will“ (2002: 106). 36 Anna Górajek 2.4 In der einstigen Heimat der Eltern und Großeltern Anders als die Vertriebenengeneration, die auf der Suche nach der verlorenen Heimat nach Polen reist, kommen die Vertreter der nachfolgenden Generationen zunächst eher als Touristen ins Land. Die Emotionen der Eltern oder Großeltern scheinen ihnen fremd zu sein. Matthias Kneip (2012a: 73), Jahrgang 1969, geboren in Regensburg, gibt zu: Lange Zeit habe ich verständnislos auf jene älteren Menschen geblickt, die mit Stadtplänen aus der Vorkriegszeit durch die nun polnisch gewordenen Stätten ihrer Kindheit irren, um wiederzufinden was längst verloren ist. Er konnte die Sehnsuchtsgefühle, auch die seiner Eltern, nicht nachvollziehen, bis er mit seinem Vater und seiner Großmutter, die sich auf Spurensuche begaben, nach Polen reiste. Anfänglich fühlte er sich lediglich als Chauffeur zweier Generationen, die irgendwelchen Geistern nachjagten. Doch so fremd ihm auch alles zu sein schien, die Geschichte holte ihn mit jedem Kilometer Fahrt ein. In Grzeboszowice (ehemals Greboschowitz), dem Geburtsort seines Vaters, hatte sie ihn endgültig eingeholt. In „Grundsteine im Gepäck. Begegnungen mit Polen“ (2002) schreibt Kneip (2012a: 76): Während die anderen wie selbstverständlich dem Ortsschild in Greboschowitz entgegensehen, durchfährt mich ein Kribbeln, das mir befiehlt, auf die Bremse zu treten, auszusteigen und ein Foto zu machen. Ein Foto vom Ortsschild des Geburtsdorfes meines Vaters. Ich bin angekommen in der Vergangenheit. Schlesien, das bis dahin fremde Phantom, nimmt Gestalt an und lädt zu weiteren Recherchen ein. In Deutschland fremd erscheinende Bräuche finden auf einmal ihre Erklärung, manche für pure Phantasie erklärte Geschichte scheint sich wirklich ereignet zu haben. Die Begegnung mit dem Land, wo sich die Gräber der Großeltern befinden, wirft die Frage nach den eigenen Wurzeln auf, nach der eigenen Herkunft und eben nach dem Land selbst und seiner wechselvollen Geschichte. Ähnlich wie Kneip erging es auch Petra Reski, Jahrgang 1958, geboren in Unna im Ruhrgebiet. Ihre Mutter stammte aus Schlesien, ihr Vater aus Ostpreußen. Sie wusste, dass beide Regionen seit 1945 zu Polen gehörten, einem Land, „das weiter weg war als der Mond“ (2002: 21). Ein Zufall führt sie dann nach Danzig. Sie ist Journalistin und soll für eine Zeitung den Arbeiterführer Wałęsa interviewen. Gäbe es diesen Auftrag nicht, wäre sie nicht nach Polen gekommen und, wie sie zugibt, nie auf die Idee gekommen, nach Allenstein zu fahren, das nun Olsztyn heißt, um ein kleines, in der Nähe liegendes Dorf ausfindig zu machen, wo ihr Vater das Licht der Welt erblickte (2002: 36). Nun aber in Po- Deutsche unterwegs im zeitgenössischen Polen 37 len angelangt, beschließt sie einen Abstecher nach Ruś (ehemals Reußen) zu machen. Doch sie will nur kurz vorbeifahren, eine Art Bestätigung finden, dass nicht alles, was die Großeltern über ihre einstige Heimat erzählten, eine Erfindung „heimwehkranker Ostpreußen“ war (2002: 44). Wie groß ist ihr Erstaunen als sie in Ruś, hunderte Kilometer vom Ruhrgebiet entfernt, Menschen trifft, die genauso wie ihre Großeltern sprechen - ein Deutsch ohne Ü und Ö, mit einem rollenden R, die Silben gedehnt, die Syntax uneinheitlich (2002: 57). Nach dem Tod der Großeltern hörte sie über Jahre kein Ostpreußisch mehr. Bis zu jenem Tag, als sie in Ruś bei Frau Bsdurek auf dem Sofa sitzt und versucht deren Erinnerungen zu folgen, so wie sonntagsnachmittags bei ihren Großeltern. 1 Eine Welt, an deren Existenz sie kaum glaubte, zieht sie in ihren Bann. „Es ist eigenartig“ gesteht Reski (2002: 86). Immer wenn ich hier die Namen meiner Großeltern ausspreche, fühle ich mich als begegnete ich einem früheren Leben. Als würde ich die Gesichter dieser Frauen bereits lange kennen, als hätte ich bereits alle ihre Geschichten gehört, ihr Essen geschmeckt, den Dunst ihrer Wohnungen gerochen. Als würde ich dazugehören. Unfassbar ist es für Reski, in einem fremden Land mit drei fremden Frauen auf einer Bank zu sitzen und sich heimisch zu fühlen. Nicht einmal ihr Name sticht hier hervor, wie so oft in Deutschland. Hier enden viele Nachnamen auf -ski, hier werden die Vornamen genauso ausgesprochen wie bei ihr zu Hause. Erst der eher zufällige Besuch in der Heimat der Vorfahren weckt in Reski die Neugier auf das Land, mit dem sie sich auf einmal verbunden fühlt. Die Fremde, in die sie fuhr, erwies sich als eine Gegend, die sie aus unzähligen Erzählungen von Zuhause kannte. Dieses Land zu erkunden und seine Geschichte kennenzulernen, heißt für Reski zugleich die eigene Familiengeschichte zu entdecken. Der Aufenthalt im polnischen Ermland wird zu einer Reise in die keineswegs nur deutsche Vergangenheit. 3 Schlussbemerkungen Die Vertreter der Vertriebenengeneration machen, wenn sie sich im Alter noch einmal aufmachen, in ihre alte Heimat zu fahren, meist die traurige Erfahrung, dass es diese nicht mehr gibt. In der Regel finden sie ein verändertes Stadt- oder Landschaftsbild vor. In den meisten Fällen enttäuscht das vor Ort Vorge- 1 In „Ein Land so weit“ trägt die Ostpreußin den Namen Piatek (www.petrareski.com/ reportagen/ wie-ich-die-heimat-fand, Stand: 20.06.2014). 38 Anna Górajek fundene, denn es weicht von dem Idealbild ab, welches man in Erinnerung hat. Doch das Bild, das man im Gedächtnis wie in einem Speicher verstaut hatte und es dort wie den größten Schatz aufbewahrte, veränderte sich mit der Zeit: Je unrealistischer die Rückkehr in die Heimat wurde, desto schöner, strahlender und beneidenswerter erschien diese in der Erinnerung. Alles Hässliche, Traurige oder auch das, was nicht gut erschien, kam irgendwie abhanden. Nach und nach idealisierte sich das Bild des Heimatortes, der heimatlichen Landschaft und der sie bevölkernden Menschen - kein Riss, kein Kratzer, keine Schramme. Heimat als Synonym des Ideals. Doch wie jedes Ideal existiert auch dieses nur in Gedanken, die Wirklichkeit kann der Vorstellung nie gerecht werden. Die imaginäre Welt ist vollkommen, an der Wirklichkeit hat man immer etwas auszusetzen. Die Enttäuschung vor Ort ist daher gewissermaßen vorprogrammiert, und eine Reise in die verlorene Heimat ist erst recht deren realer Verlust. Diejenigen, die sich auf eine solche Reise begeben, kehren wider Erwarten gar nicht heim, im Gegenteil, sie werden sich des Verlustes ihrer Heimat endgültig bewusst. Anders ist es im Falle der Nachkriegsgeneration. Ihr Besuch in der Heimat der Eltern oder Großeltern wird oft erst zum Anfang einer langen Reise. Es kann eine Reise in die Familienvergangenheit werden, aber auch eine Reise zu sich selbst. Sie ist, wie jede Reise in die Fremde, eine Bereicherung. Einerseits sammelt man neue Erfahrungen, lernt neue Menschen kennen, neue Zeichen und Symbole verstehen. Doch andererseits entdeckt man gerade auf solch einer Reise unerwartete Ähnlichkeiten mit dem bereits zu Hause Erlebten. Erst in der scheinbaren Fremde werden gewisse Verhaltensweisen, die man von Zuhause kennt, verständlich, gewisse Gepflogenheiten, die einen bis dahin durch ihre Andersartigkeit irritierten, gewinnen an Normalität. Man lernt die Dinge aus einer anderen Perspektive sehen. Man lernt dazu und gewinnt, statt zu verlieren. Die alte Heimat der Eltern und Großeltern wird aber nicht automatisch zur neuen Heimat der Kinder oder Enkelkinder. So ganz zu Hause können sie sich hier nicht fühlen. Zwar liegen die Gräber der Vorfahren in dieser Erde, aber sie selbst sind anderswo aufgewachsen und fühlen sich heimisch in einer anderen Gegend, umgeben von ihnen wohlgesinnten Menschen. Doch kalt kann sie dieses neu entdeckte Stück Land, das ihren Vorfahren Heimat war, nicht lassen. Kneip (2012a: 84) beschreibt den Zustand einer gewissen inneren Zerrissenheit, deren er sich in Schlesien bewusst wird, folgendermaßen: Vorbei an der Kirche zum Fußballplatz, frage mich unterwegs, ob der Ort mich trägt, auch ohne Vater, ohne Tante und Großmutter. Ob die Vergangenheit mir nur gegenübersteht, oder ob sie durch mich hindurchgeht, mich aufnimmt […]. Aber die Antwort stellt sich nicht ein in Form eines Ja oder Nein. Die Antwort of- Deutsche unterwegs im zeitgenössischen Polen 39 fenbart sich mir irgendwie dazwischen. Gibt mir zu verstehen, wer ich bin. Lügt mich nicht an, zwingt mir keine Heimat auf, die nicht meine ist. […] Ich fühle mich wohl zwischen den Zeiten, zwischen den Stühlen. Man merkt an dieser Aussage, dass es ein langer Prozess ist, ehe Kneip die fremden Orte als Teil der eigenen Vergangenheit akzeptiert. Auch wenn sie von dem Moment an, wo die ersten Anzeichen der Vertrautheit wahrgenommen werden (ein Name, ein Schild, eine spezifische Landschaft, ein Gericht, ein Geruch, ein Dialekt oder Ähnliches), nicht ganz fremd erscheinen, so bleiben sie doch lange Zeit außerhalb dessen, was man als die ganz persönliche Sphäre nennt und als identitätsstiftend begreift. Reski beobachtete diesen Prozess der langsamen Identitätserweiterung um anfänglich fremd erscheinende Elemente an sich selbst. Einer inneren Stimme gehorchend, die ostpreußisch klang und keinen Widerspruch zuließ (www. petrareski.com), fuhr sie immer wieder nach Ruś ins Ermland, um mit Frau Bsdurek zu sprechen oder auch nur gemeinsam zu schweigen. Sie war für Reski das Element, das die ostpreußische Vergangenheit und die deutsche Gegenwart in ihrem Leben verband. Sie verlieh durch ihre Leibhaftigkeit der ostpreußischen Vergangenheit das Echtheitszertifikat. Reskis Reise nach Polen entpuppte sich als Ausgangspunkt für eine Zeitreise. Mitverfolgen können wir sie in dem 2002 erschienenen Buch „Ein Land so weit“. Es ist Reisebericht und Familiengeschichte in einem, überdies ein Buch über die Suche nach Identität. Doch dies wurde selbst der Autorin erst im Nachhinein bewusst. Erst Jahre später, nach vielen Lesungen, und den sie begleitenden Begegnungen mit Vertriebenen und Nachgeborenen, gibt sie zu, tatsächlich ein Stück ihrer Identität auf den staubigen polnischen Landstraßen gefunden zu haben (www.petrareski. com). Blachnik, Henkel, Koschinsky, Kneip oder Reski, um nur diejenigen zu erwähnen, auf deren Texte ich hier einging, hat die Reise ins Land ihrer Kindheit oder ins Land ihrer Vorfahren nachdenklich gestimmt und sie dazu veranlasst, ihre Eindrücke niederzuschreiben. Der Bericht über eine Reise ins zeitgenössische Polen wurde jeweils um eine Zeitreise in die Vergangenheit erweitert, die ihn im Regelfall letztendlich dominierte. Polen als Ausgangspunkt, aber nicht unbedingt Ziel der Reise. Summa summarum haben wir es mit Reiseberichten zu tun, doch sie geben weniger Auskunft über Polen als darüber, wie die Grenzverschiebung und der damit verbundene Heimatverlust mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende in Deutschland wahrgenommen werden und wie damit generationsspezifisch umgegangen wird. 40 Anna Górajek 4 Literatur Assmann, Aleida (1991): Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Assmann, Aleida/ Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main. S. 13-35. Assmann, Jan (2000): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. (Beck’sche Reihe; 1307). Bahlcke, Joachim (2000): Die Geschichte der schlesischen Territorien von den Anfängen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. In: Bahlcke, Joachim u.a.: Schlesien und die Schlesier. München. (Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat; 7). 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Eine genaue Lektüre von Lukács’ frühen Schriften offenbart jedoch, dass der analytische Scharfsinn auch hier schon in apriorischen Postulaten gründet. Die Charakterisierung der Tragödie als „Form“, in der sich der Antagonismus von bürgerlicher Kultur und wahrem Leben manifestiert, lässt bereits im Kulturkritiker den marxistischen Ideologen erahnen. Darüber hinaus zeigt sich, wie stark Lukács’ Denken durch seine kakanischen Wurzeln bestimmt ist. Als junger, auf Ungarisch und Deutsch gleichermaßen publizierender jüdischer Intellektueller verkörpert und reflektiert er die sozialen Spannungsverhältnisse im Budapest der Vorkriegszeit auf evidente Weise. Lukács’ Bildungsweg nachzuzeichnen und die Konvergenz von Gattungs- und Gesellschaftsfragen zu zeigen, ist das Ziel dieses Beitrags. 1 Einleitende Bemerkungen In György Dalos’ 1994 veröffentlichtem Roman „Der Versteckspieler“ erinnert sich der Held Tamás Cohen an die Beerdigung von Georg Lukács im Juni 1971. Mit spürbarem Amüsement beschreibt er die buntgemischte Trauergesellschaft, bestehend aus Veteranen der 1919er-Revolution, Weggefährten der Moskauer Emigrationsjahre, Funktionären der ungarischen KP, Budapester Studenten und westlichen Adepten aus dem Umkreis der „Frankfurter Schule“. Die unterschiedlichen Milieus, die hier aufeinander treffen und bei Erdbeeren mit Schlagsahne aneinander vorbeireden, zeigen den Verblichenen als wahren Proteus, der in seiner Vielgestaltigkeit nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Nach Cohens Ansicht nehmen die „fünftausend Trauergäste“ deshalb auch „nicht von einem, sondern gleich von mindestens einem halben Dutzend Lukács’“ Abschied (Dalos 1994: 110). Ein ähnlicher Eindruck entsteht, folgt man den Spuren der Lukács-Rezeption in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Thomas Mann lobt bereits den frühen Essayisten Lukács („Die Seele und die Formen“, 1911) und meint, 44 Michael Haase dieser habe mit seinem Storm-Aufsatz das bislang „Vorzüglichste“ zum Verhältnis von Künstler und Bürger geschrieben (Mann 1988: 94). Selbst der frisch zum Kommunismus konvertierte Bürgersohn im Wiener Exil gleicht in den Augen des Dichters seine „unheimliche Abstraktheit“ noch durch „Edelmut“ und „Reinheit“ (Mann 1974: 782) aus. Und über Lukács’ später Studie zum „Dr. Faustus“-Roman schreibt Mann 1948 an den marxistischen Literarhistoriker Hans Mayer, sie habe „alles übertroffen, was bei dieser Gelegenheit geschrieben wurde“ (Marcus-Tar 1982: 49) Weniger schmeichelhaft äußert sich Bertolt Brecht, obwohl er anders als Thomas Mann Lukács politisch nahesteht. Dessen Kritik am Expressionismus als Formalismus wendet er gegen den Kritiker selbst, indem er das in Moskau entwickelte Realismus-Konzept des Philosophen mit einer Chaplin-Szene assoziiert, in welcher der Held beim Packen des Koffers die herausquellenden Kleidungsstücke kurzerhand mit der Schere abschneidet (Brecht 1967b: 415). Auch Ernst Bloch moniert, dass Lukács von einer „geschlossen zusammenhängende[n] Wirklichkeit“ ausgehe und sein Realismus die „Realität“ verfehle (Bloch 1962: 270). Nach 1945 erfährt die Polarisierung der Meinungen sogar noch eine Steigerung. Einerseits existiert unter DDR-Autoren eine tiefe, nahezu religiöse Lukács-Verehrung. Christa Wolf gesteht in ihrem letzten Roman, nach dem Krieg die Realismus-Thesen „begeistert aufgesaugt“ zu haben (Wolf 2010: 135), und Franz Fühmann sieht sich in den 1970er Jahren noch genötigt, seine Begeisterung für E.T.A. Hoffmann vor dem verehrten „Lehrer“ und dessen harscher Romantik-Kritik („Die Zerstörung der Vernunft“, 1954) zu rechtfertigen (Fühmann 1980: 7f.). Dagegen beschreibt der junge Hans Magnus Enzensberger Lukács als plump-kunstfeindlichen Ideologen, der in sprachlicher Hinsicht an Artikel aus dem „Völkischen Beobachter“ gemahnt (Enzensberger 1984: 55). Und Heiner Müller kommt aus ostdeutscher Perspektive zu einem ähnlichen Resümee, wenn er Lukács’ gegen die literarische Avantgarde gerichteten Dekadenz-Begriff als „ziemlich faschistisch“ (Müller 1994: 264) empfindet. Geistreich und borniert, erzieherisch und dogmatisch, subtil und grobschlächtig - angesichts der scharfen Gegensätze in den Einschätzungen, stellt sich die Frage nach einem Punkt, in dem diese Urteile konvergieren. Die naheliegende Vermutung, es könne hier die politische Einstellung helfen, erweist sich schon mit Blick auf die genannten Beispiele als Trugschluss. Im Gegenteil: Von Autoren, die Lukács’ Glauben an den Kommunismus teilten, kommt wie im Falle Brecht, Bloch und Müller meist starker Widerspruch. Autoren, die ihm politisch sehr fern standen oder zunächst einer ganz anderen Weltanschauung verbunden waren, wie der bürgerliche Thomas Mann oder die in ihrer Jugend der NS-Ideologie nahestehenden Wolf und Fühmann, beurteilen ihn währenddessen mit großer Bewunderung und Nachsicht. Dies lässt darauf schließen, dass der Streitfall Lukács weniger ein politischer als ein ästhetischer ist oder Sehnsucht nach dem „wahren Leben“ 45 besser gesagt: Politik und Ästhetik sind bei ihm nicht voneinander zu trennen, sondern unauflöslich miteinander verschmolzen. Diese Einsicht wäre freilich für sich genommen banal, gäbe es bei Lukács nicht die einmalige Gelegenheit, die Genesis dieses Verschmelzungsprozesses von ihren Ursprüngen her nachzuvollziehen und so die geistigen Wurzeln eines der wirkmächtigsten Ideologen des 20. Jahrhunderts aufzuspüren. Ausgangspunkt hierfür ist der Begriff der ‚Form‘. Im Verein mit dem der ‚Weltanschauung‘ dient er dem jungen Lukács als Rüstzeug, um über eine systematische Durchmusterung der literarischen Gattungen das für ihn zentrale Problem zu erörtern: „wie kann und muß man heute leben? “ (Lukács 1971: 69). Diese Frage und der Kontext, aus der heraus sie entwickelt ist, zeigt den Schnittpunkt von Philosophie/ Ethik, Soziologie und Literatur, an dem Lukács’ Denken sich von Anfang an bewegt. Um das Zusammenspiel dieser Disziplinen ganz ermessen zu können, gilt es jedoch, in einem zweiten Schritt die kakanischen Wurzeln des Philosophen zu berücksichtigen. Gemeint ist Lukács’ publizistische Doppelexistenz als ein ungarisch und deutsch schreibender Autor, die sich einem komplexen Herkunftsgeflecht als Spross einer jüdischen Bürgerfamilie österreichischer und ungarischer Provenienz verdankt. Hieraus resultiert das Spannungsverhältnis von „Form“ und „Weltanschauung“, dem Lukács sein geistiges Profil verdankt. 2 Der Literarhistoriker Georg Lukács „Kalt stelle ich fest, daß ich sehr begabt bin“ (Lukács 1982: 48), hält der 23-jährige Lukács 1908 in einem nicht abgesandten Brief an seine Geliebte Irma Seidler fest. Es gibt keinen Hinweis darauf, diese Diagnose für einen Ausdruck der Selbstüberschätzung zu halten. Gerade ist Lukács für ein zweibändiges Werk zur „Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas“ mit dem Kisfaludy-Preis ausgezeichnet worden, und er arbeitet bereits an einem zweiten Buch. Aber seine schöpferische Produktivität und das wachsende Ansehen in der Budapester Intellektuellenszene lassen ihn unbefriedigt. Vielmehr verspürt er ein Ungenügen, eine quälende Realitätsferne. Gefangen in einem alexandrinischen Gehäuse aus Gelehrsamkeit ist es ihm unmöglich, am Dasein „teilhaben [zu] können“, wie er im gleichen Brief bekennt (Lukács 1982: 48). Es beklagt die fehlende Vermittlung zwischen Geist und Leben, ein Zustand, der für Lukács ein Epochenproblem ist. Die Essays, welche zunächst in ungarischen Zeitschriften erscheinen und 1911 schließlich unter dem Titel „Die Seele und die Formen“ auf Deutsch veröffentlicht werden, ziehen eine Entwicklungslinie von der Romantik zur Gegenwart und konstatieren an ausgesuchten Beispielen die Unmöglichkeit von Philosophie wie Poesie als Medien seelischer Aktivität zur Wirk- 46 Michael Haase lichkeit durchzudringen und eine soziale Verbindlichkeit zu erlangen. In immer neuen Anläufen beschreibt Lukács, wie der subjektive Versuch, die „tatsächliche Realität des Lebens“ (Lukács 1971: 75) zu erreichen, scheitert (Novalis). Die „Subjektivität der Wahrheit“ (Kierkegaard) stellt eine unüberwindbare Schranke dar (Lukács 1971: 49); jenes „ungebrochene alte Bürgertum“ (Lukács 1971: 93), das als „gesund, unproblematisch“ gepriesen wird, ist nur als rückwärtsgewandte Prophetie zu haben, als nostalgischer Ausblick auf ein goldenes Zeitalter. Dessen reines Dasein verdankt sich dem Umstand, dass ihr Schöpfer „in weitem Bogen“ der „Möglichkeit jeder Tragödie aus dem Wege“ (Storm) geht (Lukács 1971: 87). Unverkennbar sind in diesen Texten Lukács’ Anleihen bei dem Kulturphilosophen Georg Simmel, den er 1907 in Berlin kennenlernt und zu seinem Mentor erwählt (Hermann 1985: 19f.). Simmel trennt zwischen einer subjektiven Kultur im Sinne der individuellen Ausbildung geistig-intellektueller und musisch-künstlerischer Fähigkeiten und einer objektiven Kultur als gesellschaftlichem Rahmen, der im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr von einer fortschreitenden Technisierung und Geldwirtschaft bestimmt wird. Konsequenz dieser Entwicklung ist, so Simmel, eine „Tragödie der Kultur“ (Simmel 2008: 199f.). Dieser Diagnose liegt eine präzise Beobachtung des rasanten Umbruchprozesses zugrunde, wie er sich seit der Reichsgründung in Deutschland vollzieht. Aber sie ist auch nicht frei von jenem Ressentiment, demzufolge die Kultur durch die Einflüsse westlicher Zivilisation bedroht ist. Die Ideologen des Weltkriegs werden sich dieses Erklärungsmusters mit Nachdruck bedienen, auch Thomas Mann greift darauf zurück, wenn er sich in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ für seine militanten Wortmeldungen aus den Jahren 1914/ 15 zu rechtfertigen sucht. Die von Simmel (sowie von Tönnies, Sombart und Weber) entlehnten soziologischen Deutungsperspektiven bestimmen Aufbau und Struktur von Lukacs‘ Werk wesentlich, aber ein expliziter Verweis findet sich nicht. Ein Grund für diese Zurückhaltung mag die dezidiert aufs Ästhetische ausgerichtete Argumentation sein, wie sie vor allem in der Akzentuierung des Begriffs Tragödie hervortritt. Wenn Simmel von einer Tragödie der Kultur spricht, so beschreibt er einen aktuellen gesellschaftlichen Prozess, in dem Kunst und Geist als ohnmächtige Opfer figurieren, die den versachlichenden Tendenzen des modernen Zeitalters nichts entgegensetzen können. Bei Lukács hingegen dient die Tragödie nicht als deskriptive Kategorie im Rahmen einer soziologischen Analyse, sondern als normativ-ethisches Postulat. Bei ihm kann man erst von Tragödie sprechen, wenn die Repräsentanten der subjektiven Kultur die objektive Kultur der Gegenwart als Herausforderung betrachten, gegen die es anzukämpfen gilt. Das tragische Bewusstsein gründet demnach nicht allein in der Erkenntnis der Lage, sondern in der Bereitschaft zur Gegenwehr. Nichts anderes proklamiert Sehnsucht nach dem „wahren Leben“ 47 der Essay „Metaphysik der Tragödie“, in dem Die Seele und die Formen“ gipfeln. Hier spricht Lukács unverhohlen pathetisch vom „Wunder der Tragödie“, weil das Ich in ihr „seine Selbstheit mit einer alles ausschließenden, alles vernichtenden Kraft [betont]“. Diese „Selbstbejahung gibt stählerne Härte und selbstherrliches Leben allen Dingen, denen sie begegnet und hebt - beim endgültigen Höhepunkt der reinen Selbstheit angelangt - sich selber auf: die letzte Anspannung der Ichheit hat alles bloß Individuelle übersprungen“ (Lukács 1971: 229f.). Demnach findet die einzelne Seele in der Tragödie zu ihrem „innersten Wesen“ (Lukács 1971: 222), zugleich aber transzendiert sie dadurch ins Allgemeine in einem beispielhaften Sinne. Der Text, eigentlich ein Porträt des neoklassizistischen Dramatikers Paul Ernst, wirkt in vielen Passagen wie ein Bekenntnis des Interpreten. Er gipfelt in der militant-bellizistischen Aussage, die Tragödie führe einen „großen[n] Eroberungskrieg gegen das Leben“, um einen „unnahbar fernen Sinn in ihm zu finden“ (Lukács 1971: 240), der das „wahre Leben“ auf einer höheren, dem Wesentlichen nahen Stufe eröffne (Lukács 1971: 219). Irritierend an diesen Aussagen ist die Verquickung von Ästhetik und Ethik. Sie wird aber sofort transparent, wenn man Lukács’ Begriff der „Form“ berücksichtigt. Die Form ist für ihn „die höchste Richterin des Lebens“. „Gestaltenkönnen“ ist „ein Ethisches“, „Gestaltetsein“ enthält ein „Werturteil“. Und „über einen Menschen und sein Schicksal ist das alles entscheidende Wort ausgesprochen, wenn bestimmt worden ist, welche Form seine Lebensäußerungen ertragen“ (Lukács 1971: 248). Die Form ist für Lukács nicht nur ein ästhetischer Terminus, anhand dessen sich Gattungsprobleme diskutieren ließen, sondern sie ist eine genuin ethische Kategorie, deren Aufgabe es ist, die Seele des Menschen zu gestalten. Das heißt: Die Tragödie in ihrer Tragik, ist nur ein Abbild des Lebens, das auf seiner zu erstrebenden ‚wahren’ Stufe „immer schon tragisch“ (Kaiser 2006: 158) ist. Dieser Kurzschluss zwischen Kunst und Leben in Lukács’ Denken gründet demnach in der Form als dem „unsichtbaren Zentrum“, wie es in dem Essay „Zur Theorie der Literaturgeschichte“ (1910) (Lukács 1973: 29) heißt. Der Autor spricht hier von der „paradoxe[n] Aufgabe“, in der Literaturgeschichtsschreibung „eine Vereinigung von Literatursoziologie und Ästhetik“ zu erreichen. Während die soziologische Perspektive „Veränderungen und ihre Ursachen“ beschreibe, suche der ästhetische Blick nach „das Konstante in den Erscheinungen“ (Lukács 1973: 24). In dieser Definition wird kenntlich, dass Lukács im Ästhetischen eine metaphysische Kategorie mit apriorischen Qualitäten sieht. Die ethische Komponente kommt hinzu, wenn er schließlich den ästhetischen Grundbegriff der Form auf die Weltanschauung zurückführt: 48 Michael Haase Alle Formen sind Wertung und Urteil über das Leben und sie haben diese Macht und Kraft dadurch, daß sie in ihren tiefsten Gründen immer Weltanschauungen sind. Wir können jede Form bis zu ihren letzten seelischen Wurzeln analysieren: immer müssen wir zur Weltanschauung gelangen (Lukács 1973: 32). Mit diesen Einsichten hat man gleichsam die Herzkammer des frühen Lukács erreicht. Als Soziologe, Interpret und Gelehrter besitzt er eine bemerkenswerte Gedankenschärfe, als meinungs- und bekenntnisfreudiger Intellektueller stellt er hingegen Postulate auf, die keine reflexive Genese erfahren, sondern als grundlegende Credos jeder Hinterfragung entzogen bleiben und nach einem Durchbruch von der ästhetischen Sphäre in die ethische Praxis drängen - wie im Falle des Tragischen als Kunstu n d als Lebensform. Hier liegt, wie Kaiser (2006: 152) betont, ein ungelöster Widerspruch, der vielleicht auch erklärt, weshalb der frühe Lukács bei seinen Versuchen, die akademischen Weihen einer Habilitation zu erlangen, erfolglos geblieben ist. Bezeichnenderweise erhält er den abschlägigen Bescheid von der Heidelberger Universität just in dem Moment, als er in die KP Ungarns eintritt und Mitglied der von Béla Kún geführten Räteregierung wird (Jung 1989: 62). Das Streben nach einem Konnex von Geist und Tat im Sinne eines wesentlichen Lebens schlossen ein Dasein in der akademischen Nische aus. 3 Lukács’ Ästhetik Nur stellt sich die Frage, auf welchem historisch-biographischen Boden Lukács’ tragisches Bewusstsein gediehen ist. Woraus leitet sich seine Dringlichkeit ab? Es gilt, das Grundparadox des jungen Philosophen gegen ihn selbst zu wenden und den Glauben an die Kunst als beispielhafte Formgebung der Existenz im Zeichen ethischer Notwendigkeit auf ihre soziologischen Ursachen zu befragen. Einen ersten Denkansatz liefert ein Zitat aus dem 1910 auf Ungarisch erschienenen Essay „Ästhetische Kultur“, der erst 1997 in deutscher Übersetzung veröffentlicht worden ist und - wie Ernst Keller (1984: 83) hervorhebt - durch seinen direkten Bezug auf zeitgenössische Kunstströmungen und Ideen „eine besondere Stellung“ einnimmt: „die heutige Zeit hat nur zwei Typen hervorgebracht: den Fachmann und den Ästheten“ (Lukács 1997: 14). Ersterer ist als Produkt des Zivilisationsprozesses ganz der modernen Arbeitsteilung unterworfen und je nach Profession auf ganz bestimmte „partielle“ Bereiche des Lebens ausgerichtet, der Ästhet hingegen hat die „Ganzheit“ (Lukács 1997: 14) im Visier. Offenkundig werden hier der vertraute Gegensatz von Zivilisation und Kultur und der damit verbundene Rollengegensatz Bürger vs. Künstler bemüht. Bemerkenswert scheint aber dieser Bezug vor dem Hintergrund von Lukács’ Sehnsucht nach dem „wahren Leben“ 49 Herkunft. Hier spricht der 25-jährige Sohn des Bankiers Josef Löwinger, der gerade nicht ins Schema des schnöden homo oeconomicus passt. Obwohl Löwinger in seinem Fach durch Fleiß, Talent und Ehrgeiz eine sagenhafte Karriere macht, bereits als 24-jähriger Mann, ursprünglich aus dem Kleingewerbe und der Provinz (Szeged) stammend, zum Direktor der Englisch-Österreichischen Bank aufsteigt (Hermann 1985: 7f.), verkörpert er auf gerade mustergültige Weise die Einheit von Besitz und Bildung. Er nutzt seinen Reichtum, um in Budapest einen Salon zu führen, in dem führende Geistesgrößen aus dem In- und Ausland (Béla Bártok, Thomas Mann usw.) verkehren. Er steht der Entwicklung seiner Kinder aufgeschlossen gegenüber, akzeptiert deren Interessen, ja fördert sie mit allem Nachdruck (Gluck 1985: 77-79). So kann man bei Lukács den für die Zeit charakteristischen Vater-Sohn-Konflikt, wie man ihn von Franz Kafka, Georg Heym oder Gottfried Benn kennt, überhaupt nicht ausmachen. Und der „Partisanenkampf“ (Lukács 1981b: 41) gegen die aus Wien stammende Mutter, eine ganz den vorherrschenden Konventionen angepasste Gesellschaftsdame ist weniger eine ‚wilde Revolte‘ gegen fragwürdige Autoritäten als das Training eines ausgeprägten Eigensinns. Lukács’ antibürgerlicher Affekt und seine im tragischen Bewusstsein zur Geltung kommende Sehnsucht nach dem eigentlichen Leben haben daher keine familiären Wurzeln. Sie verdanken sich vielmehr der spezifischen Entwicklung der ungarischen Gesellschaft als Kernstück der Habsburgermonarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert. Im selben Jahr (1867), als Lukács’ Vater zum Bankdirektor aufsteigt, wird im ungarischen Parlament das Gesetz über die sogenannte Judenemanzipation verabschiedet, welches die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung festschreibt. Die Konsequenz ist nicht allein ein spürbarer Zuwachs ihres Anteils in der Gesamtbevölkerung. Die Juden befördern durch ihre Bereitschaft zur Assimilation auch ganz wesentlich die von der ungarischen Regierung erstrebte bevölkerungsstatistische Hegemonie der Magyaren innerhalb der unter der Stephanskrone stehenden Länder (Lendvai 2001: 369f.). Die Grenze liegt allein in der Politik. Die „jüdische Beteiligung an der politischen und administrativen, zentralen und lokalen Bürokratie“ ist „lange Zeit minimal“. Es gilt gleichsam der verschwiegene Konsensus über eine strikte „‚Arbeitsteilung‘“: die politische Macht bleibt in den Händen der Aristokratie und Gentry, während der finanzielle und industrielle Sektor den Juden als Entfaltungsraum zur Verfügung steht (Lendvai 2001: 373). Doch diese unausgesprochene Übereinkunft wird bald von zwei Seiten zugleich attackiert. Zum einen fühlen sich die herrschenden politischen Eliten, welche ihre Machtstellung meist ihrem Großgrundbesitz im agrarischen Sektor verdanken, der rasanten Modernisierung in Wirtschaft und Gesellschaft nicht gewachsen. Sie beginnen ihren stillen Vertragspartner sowie dessen gewachsene Stärke zu fürchten und versuchen ihren schwindenden faktischen Einfluss durch Antisemitis- 50 Michael Haase mus zu kompensieren. Zum anderen erhebt die zweite Generation des ‚emanzipierten‘ jüdischen Bürgertums Einspruch gegen den Konsensus. Die Söhne und Töchter der wirtschaftlichen Aufsteiger 1 betrachten voller Argwohn den Burgfrieden mit den um ihren Besitz und ihre Macht besorgten alten Eliten Ungarns. Deren Wirken als steuerfinanzierte und subventionsverwöhnte Klasse, die in ihrem politischen Gestaltungswillen allein auf die eigenen Interessen ausgerichtet ist, halten sie für parasitär und korrupt. Deshalb werten sie das Agreement der Eltern als faulen Kompromiss (Gluck 1985: 69f.). Ihre Kritik formulieren sie zunächst nicht auf politischem Wege, sondern aus der Perspektive von Kunst, Philosophie und Soziologie. Der Rückbezug auf Ästhetische, Akademische und Intellektuelle stellt jedoch kein Ausweichmanöver dar, im Gegenteil: der Ästhet, wie wir von Lukács wissen, zielt aufs Ganzes des Lebens, strebt nach Totalität, ist also in seinem kritischen Impetus von einem generellen Unbehagen geleitet. Für die behauptete Totalität des Ästhetischen konstitutiv ist die generelle Mehrsprachigkeit der jungen jüdischen Künstler und Intellektuellen. Dass Lukács schon durch die Eltern zweisprachig aufwächst (ungarisch/ deutsch) und durch Hauslehrer und gymnasiale Erziehung fließend Französisch, Englisch und Italienisch spricht, ermöglicht schon früh ein polyperspektivisches Denken, welches mit dem Anspruch korrespondiert, als Mittler zu fungieren. So gründet der 17-jährige Gymnasiast einen Theaterverein („Thalia“), um nichts Geringeres als eine Reform der ungarischen Theaterlandschaft zu bewirken. Was die Zeitschrift „Nyugat“ („Westen“) umtreibt, bestimmt auch die Tendenz des Vereins. Lukács möchte die Budapester Spielpläne, auf denen nur ‚unzeitgemäße Gesellschaftsstücke’ zu finden sind (Keller 1984: 32), mit den Dramatikern bestücken, die auf den Berliner und Wiener Bühnen Erfolge feiern. In Wildes, Hauptmanns und Schnitzlers Werken liegt für ihn ein wirksames Gegenmittel gegen den „grenzenlosen ungarischen Konservatismus“ (Keller 1984: 33). Er sieht im zeitgenössischen westlichen Theater ein Medium, das auf einheimischen Bühnen vorherrschende Dekorative und Operettenhafte zu durchbrechen hin zu „künstlerisch wahr[en]“ Formen, von denen im von Sándor Hevesi formulierten Programm der „Thalia“ die Rede ist. Unumstrittenes Leitbild für diese Reformbemühungen ist Henrik Ibsen, weil die Stücke des norwegischen Dramatikers, vor allem die späten Werke, „zur Tragödie“ streben (Lukács 1984: 244). Bei Ibsen treten Individuen auf, die aus ihren „tiefsten Motiven“ heraus agieren, die durch die üblichen Regulative wie Rationalismus und Aufklärung nicht zu domestizieren sind, die vielmehr die „seelischen Dispositionen“ ausleben, um „als Persönlichkeit zur Geltung zu kommen“ (Lukács 1984: 245). Es 1 Neben Lukács wären hier zu nennen: Karl Mannheim, Béla Balazs, Arnold Hauser und Anna Lesznai. Sehnsucht nach dem „wahren Leben“ 51 geht Lukács um eine Kenntlichkeit und Authentizität der Person, die sich erst zeigt, wenn ihre Widerstandskraft und Unbeirrbarkeit hervortritt. Hier liegt der grundlegende Unterschied zum herkömmlichen Individualismus, der sich allein in den Schranken der bürgerlichen Kultur bewegt. Die fortschreitende Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne macht Lukács indes deutlich, dass Ibsens Altersradikalismus eher die Ausnahme darstellt. Vor allem stößt sich der junge Theaterenthusiast an den „Priestern des l’art pour l’art“, welche die Form töten, indem sie sie zum bloßen Selbstzweck erheben und dadurch ihrer „Lebenskraft“, das heißt: ihres aufs Dasein wirkenden Ethos’ berauben (Lukács 1997: 17). Besonders polemisch verfährt Lukács mit den Stimmungskünstlern der Jahrhundertwende aus dem Umkreis des literarischen Impressionismus, die den klassischen Dramenaufbau zugunsten des szenenhaften Einakters verabschieden. In diesen Schöpfungen sieht er nicht nur einen kruden Dilettantismus am Werk, sondern vor allem die „[v]öllige Passivität“ zum „Lebensprinzip“ avanciert. Die Konsequenz ist „seelische Verlotterung“ statt Formung, eine „Ausgeliefertheit an die Augenblicke“ statt ein Vordringen zum wesentlichen Leben (Lukács 1997: 16). Jedoch verwirft Lukács auf der Suche nach Alternativen auch den Sozialismus als Ausweg. Die Werke, die dieser Ideologie verpflichtet sind, brächten nur „schwache und grobe Karikaturen der bürgerlichen Kunst“ zustande und zeigten, dass die seelische Kraft dieser Bewegung nur sehr bescheiden anmutet (Lukács 1997: 19). Lukács geht es um die einzelne Seele, die auf ihrem „Weg“ zum Wesen „alles von sich abmeißel[t], was nicht wahrhaft ihr eigen ist“, also einen Formungsprozess durchläuft, dessen Ergebnis, „das Geformte“, „über das rein Individuelle“ hinausweist und damit als „beispielhaft“ gelten kann (Lukács 1997: 25). Das „Beispielhafte“, das Lukács am Ende seines Essays „Ästhetische Kultur“ ins Spiel bringt, weist bereits über Ibsen hinaus. Wenn dessen Helden „die letzten Konsequenzen ihres Wesens ziehen“, offenbaren sie meist ihre „Kälte“ und „Einsamkeit“, aber sie geben allenfalls ein Beispiel im abschreckenden Sinne. Anders - und hier bahnt sich bei Lukács der Übergang in den Gattungen an - sieht es bei Dostojewski aus, dessen „geheiligte[r] Name“ in der „Ästhetischen Kultur“ in einer rätselhaften Nachschrift auftaucht (Lukács 1997: 26). Es wirkt, als mache das tragische Bewusstsein hier einen Sprung in Kierkegaards Sinne, als überwinde es die leerlaufende, kalt-einsame Heroik der Tragödie durch Zuflucht ins Messianische. Unter dem Einfluss Dostojewskijs kommt die Kategorie der „Erlösung“ ins Spiel und demonstriert, wie die „grausame Grenze“ als angestrebter Höhepunkt der Tragödie „Früchte treibt“, indem es zu einem Umschlag kommt (Lukács 2011: 245f.). Egoismus, der radikale Anspruch aufs Eigensein, verwandelt sich in sein radikales Gegenteil, in „Güte“. Der „mit Güte begnadete Mensch“ (Lukács 2011: 242) ist das ethische Pendant zum Genie in der Sphäre des Ästhetischen. In kultursoziologischer Perspektive gesprochen ver- 52 Michael Haase körpert er die Abkehr Lukács’ vom Westen und die Hinwendung zum Osten. Und in kulturgeschichtlicher Sicht manifestiert sich hier eine Abwendung der Gegenwart und deren „transzendentale[r] Obdachlosigkeit“ (Lukács 1963: 35) und die Hinwendung zu einer idealisierten Vergangenheit, wie sie in den Romanen Dostojewskis ihre Wiederauferstehung erlebt. Bei Dostojewski gewinnt die Form der Tragödie erlösende Kraft, erweist sich die zentrale Kategorie der Schuld als fruchtbar für Individuum und Gesellschaft. Vor allem gewinnt die Güte eine radikale soziale Dimension, die jedes Eigensein überwindet, ja in dieser Überwindung überhaupt erst erlösend wirkt. Wenn Lukács in seinem von Dostojewski ganz wesentlich inspirierten Essay „Von der Armut am Geiste“ behauptet, es komme nicht aufs „gut sein wollen“ an, sondern darauf „retten zu wollen“ (Lukács 2011: 241), so ist er nicht weit entfernt von Brechts Maxime: „Versinke in Schmutz/ Umarme den Schlächter, aber/ Ändere die Welt: sie braucht es! “ (Brecht 1967a: 652) In beiden Fällen manifestiert sich Güte nicht im personalen Gutsein, sondern in dem Anspruch, eine bessere Welt zu hinterlassen. Für den deutschen Leser kommt Lukács’ Wendung von West nach Ost relativ unmotiviert, scheint der Richtungs- und Paradigmenwechsel rätselhaft. Doch auch hier geben die kakanischen Wurzeln, die österreichisch-ungarische Doppelexistenz des Autors, wie sie durch jüngere Studien transparent geworden ist, erhellenden Aufschluss. Das Bindeglied zwischen Ibsen und Dostojewski stellt der ungarische Dichter Endre Ady dar, dessen Gedichte und Essays für Lukács zu einem Erweckungserlebnis werden (Hellenbart 1995: 83-85). Ihre Rezeption vermittelt ihm die Einsicht, dass zwischen Revolution und Religion eine notwendige Verbindung besteht. Ady verfügt einerseits über einen an Baudelaire und Verlaine geschulten modernen Stil, andererseits rekurriert er auf die biblische Sprache und deren archaische Wucht. In dieser Verquickung kann er im revolutionären Gestus die soziale wie nationale Emanzipation der Ungarn beschwören und dabei an die alten religiösen Formen anknüpfen, deren ethische Verbindlichkeit wiedererwecken. Seine lyrischen Gesänge sind so „Posaune“ und „Kampfeslied“ (Lukács 2014) zugleich, die in ihnen ersehnte Zukunft verweist auf den ursprünglich existierenden, aber in der Praxis immer verfehlten Entwurf von Ordnung, also auf eine Revolution im Wortsinne. 4 Sozialisation und frühe literarische Prägung Im Lichte dieser Erkenntnisse zeigt sich, dass Lukács’ frühe Jahre nachhaltig geprägt sind durch seine Sozialisation im Budapest der Jahrhundertwende. Hier erlebt er den fragwürdigen Kompromiss zwischen einem aufstrebenden jüdischen Bürgertum, welches das wirtschaftliche, technische und gesellschaftliche Sehnsucht nach dem „wahren Leben“ 53 Leben rasant modernisiert, und der alteingesessenen Aristokratie und Gentry, die um des eigenen Machterhalts verhindert, dass die gesellschaftliche Entwicklung auch einen politischen Wandel nach sich zieht. Die jüdische Logik, die Assimilation und Integration durch politischen Verzicht zu erkaufen, mag als rationales Kalkül einleuchten, erweist sich aber weder als krisenresistent noch als auf die nächste Generation vererbbar. Das zeigt sich nicht nur in Budapest, sondern auch in deutschen und österreichischen Regionen. Der Antisemitismus des Hitler-Idols Karl Lueger und die Entwicklungswege Ernst Blochs und Walter Benjamins, bei denen Kulturkritik auf ähnliche Weise im Messianismus mündet, mögen als Beispiele genügen. Aber in Ungarn wird das Spannungsverhältnis besonders manifest, weil nirgends in Europa der jüdische Anteil am rasanten gesellschaftlichen Modernisierungsprozess so groß und auch nirgends die Sehnsucht der jungen jüdischen Intellektuellen nach dem „wahren Leben“ derart ausgeprägt war. Dass Lukács’ Streben nach einer Revolution der Kultur schließlich in der Kommunistischen Partei endete, mag man als Verrat betrachten, vor allem angesichts Unbeirrbarkeit, mit der er dieser Ideologie anhing. Aber sein frühes tragisches Bewusstsein legitimiert auch hier, was liberalem Denken als bloße Borniertheit erscheint. Eine für das eigene Ich und die Gemeinschaft fruchtbare Schuld auf sich nehmen, sei besser als rein zu bleiben. Die gute Welt hat Priorität vor dem guten Ich. Oder mit dem späten Lukács gesprochen: „Selbst der schlechteste Sozialismus ist besser als der beste Kapitalismus“ (Reif 1970). Angesichts der Millionen GULAG-Opfer wirkt ein solcher Satz und die ihm innewohnende Logik zynisch und unmenschlich. Vor dem Hintergrund der ungarischen Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg, die schließlich 1944/ 45 zur nahezu vollständigen Vernichtung der dort ansässigen Juden führte, erscheinen Lukács’ Maximen wie eine in ihren Wirkungen verfehlte, aber im Denkansatz immerhin nachvollziehbare Selbstverteidigungstaktik. 5 Literatur Bloch, Ernst (1962): Diskussionen über Expressionismus (1938). In: Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit. Erw. Ausg. Frankfurt am Main. S. 265-275. Fühmann, Franz (1980): Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste der DDR [1976]. In: Fühmann, Franz: Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann. Hamburg. S. 7-33. Gluck, Mary (1985): Georg Lukács and His Generation 1900-1918. Cambridge/ London. Hellenbart, Gyula (1995): König Midas in Budapest. Georg Lukács und die Ungarn. Wien. Hermann, István (1985): Georg Lukács. Sein Leben und Wirken. Budapest/ Graz/ Wien. Jung, Werner (1989): Georg Lukács. 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Regine Ziegler beabsichtigte nicht nur ihre Landsleute im entlegenen Siebenbürgen zu unterhalten, sondern ihnen die kulturellen und technischen Errungenschaften der modernen Weltstadt näher zu bringen. Diese Bestrebungen machten sie zur Mittlerin zwischen dem deutschsprachigen Zentrum und einer Peripherie, in der damals noch eine zahlreiche deutsche Minderheit zu Hause war. 1 Regine Ziegler (1864-1925) in der Peripherie der Forschung Der Name der siebenbürgisch-sächsischen Dichterin und Schriftstellerin Regine Ziegler, deren Geburtstag sich in diesem Jahr zum 150. Mal jährt, ist vermutlich nur noch Wissenschaftlern bekannt, die sich mit transsilvanischer bzw. rumäniendeutscher Literatur befassen. 1939 behauptete der Schriftsteller Harald Krasser über Regine Zieglers Lyrikband „Gedichte“ (Ziegler 1896), dass dieser „ein Protest, eine Absage an die sächsische Pfarrhausidylle“ sei und sich durch „übersteigertes Emanzipationspathos“ auszeichne (Krasser 1939: 101f.). Vierzig Jahre später sah der Literaturhistoriker Stefan Sienerth in diesem Lyrikband den „sich anbahnenden Umbruch in der sächsischen Lyrik“, den „Expressionismus vorwegnehmen[d]“ (Sienerth 1979: 226). Auch wies Sienerth darauf hin, dass „Regine Zieglers dichterisches Gesamtwerk, das sich, neben den als Band erschienenen Produktionen, aus einer großen Anzahl von Gedichten und kurzen Prosaarbeiten zusammensetzt, größtenteils noch ungesichtet in periodischen Schriften“ liege (Sienerth 1979: 226). Seit diese Feststellung gemacht wur- 1 Der vorliegende Text geht auf den gleichnamigen Vortrag der Verfasserin in der von Frau Prof. Dr. Magdolna Orosz und Frau Dr. Gabriella Rácz geleiteten Sektion 4 „Narration und Kultur“ zurück. 58 Gudrun-Liane Ittu de, hat sich niemand der Bergung und Erschließung dieses brachliegenden Schatzes angenommen. Während der letzten drei Jahre (2011-2013) habe ich zum Thema „Frauenemanzipation in Siebenbürgen. Bildende Künstlerinnen“ geforscht und auf diesem Wege Regine Ziegler entdeckt. Ihre literarischen Werke, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im „Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatt“ 2 , der wichtigsten deutschsprachigen Tageszeitung Siebenbürgens, abgedruckt wurden, sind jedoch viel reichhaltiger und komplexer. Da ich sie sehr interessant fand - in jenen Jahren gibt es in dem Periodikum nichts Vergleichbares - habe ich es als meine Aufgabe angesehen, an diese begabte, moderne, aufgeschlossene und selbstsichere Frau zu erinnern. Obwohl während des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts auch im deutschsprachigen Umfeld Transsilvaniens viel über Frauenbildung und -emanzipation diskutiert wurde (Bacon 1895: 462), konnten nur wenige einen Beruf erlernen und ausüben. Familien, in denen es sowohl Töchter als auch Söhne gab, ermöglichten nur den Letztgenannten den Besuch einer höheren Schule, während die Töchter im Hinblick auf Ehe und Mutterschaft erzogen wurden. Gleichwohl die Eltern von Regine Ziegler gebildet waren, wurde nur der Sohn zum Studium nach Berlin geschickt, während die beiden Töchter im Elternhaus verblieben und sich autodidaktisch fortbildeten. Regine veröffentlichte 1913 eine „Autobiographische Skizze“, in der sie die Tatsache, dass es ihr verwehrt wurde, Lehrerin zu werden, als Tragik ihres Lebens bezeichnete: Meine Kindheit und glückliche Schulzeit verlebte ich in Schässburg, wo der Vater Gymnasialdirektor war. Später kamen wir nach Arkeden [Archita: G.-L.I.], aus dem Stadtkind wurde eine Landpfarrerstochter, die den Wunsch Lehrerin zu werden unterdrücken musste, weil damals noch keine Möglichkeit war, sich die Qualifikation hiezu in der Heimat zu erwerben, und zu einem Studium außerhalb derselben reichten die Mittel nicht, oder man glaubte es, da ich ja nur ein Mädchen war […]. Es ist das Tragische in meinem Leben geworden, dass es nicht geschehen, und es wird es auch bleiben“ (Ziegler 1913a: 1). Die junge Frau eignete sich zunächst auf dem „autodidaktischen Bildungsweg“ (Ziegler 1913a: 1) 3 ein umfangreiches Wissen an und pflegte ihr schriftstellerisches Talent. Als dann ihre Mutter 1895 starb, übersiedelte Regine nach Berlin, wo ihr Bruder Karl (1866-1945) bereits seit zehn Jahren lebte. Der Familientra- 2 Die Tageszeitung Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt erschien von 1874 bis 1944 in Hermannstadt/ Sibiu. 3 Regine Ziegler meinte, „wenn der autodidaktische Bildungsweg schon für den Mann ein schwieriger ist, so ist er es noch mehr für die Frau. Von Siebenbürgen nach Berlin: Regine Ziegler 59 dition folgend, hatte dieser ein Studium der Theologie und Geschichte an der Universität Berlin begonnen, das er jedoch nach einem Jahr aufgab, um seine malerische Begabung an der Kunstakademie ausbilden zu lassen. Karl verzeichnete bereits als Student erste Erfolge, und nach Abschluss des Studiums wurde er bald ein gefragter Porträtmaler, dessen Klientel vorrangig aus großbürgerlichen Kreisen stammte. Kurz nachdem sich Regine in Berlin niedergelassen hatte, konnte es sich der „Maler weiblicher Eleganz“, wie Karl in Kunstchroniken bezeichnet wurde, leisten, ein eigenes, zentral gelegenes Atelier in der Tauentzienstraße zu beziehen, einer neuen, vornehmen Straße Berlins. Es wird wohl der Konservatismus des sächsischen Milieus gewesen sein, der die Dichterin 1895 dazu bewog, der provinziellen Enge zu entfliehen, um in der Hauptstadt des Deutschen Reiches ein neues Leben zu beginnen. Trotz der immensen Unterschiede zwischen Siebenbürgen und der aufstrebenden Weltstadt Berlin hat die Dichterin in der neuen Umgebung keinen Kulturschock erlitten. Sie fand sogleich Anschluss an den ansehnlichen Bekannten- und Freundeskreis ihres Bruders und genoss das vielseitige kulturelle Angebot in vollen Zügen. Der Volkszählung von 1895 zufolge hatte Berlin knapp 1,7 Millionen Einwohner, von denen 27.000 Ausländer waren, davon stammten 13.000 aus Österreich-Ungarn (wikipedia.org/ wiki/ Einwohnerentwicklung_von_Berlin). Zu den ungarischen Staatsangehörigen zählten auch Siebenbürger Sachsen, 4 die ihren festen Wohnsitz in der Reichshauptstadt hatten oder sich nur zeitweilig dort aufhielten. Mit zahlreichen von ihnen waren die Geschwister Ziegler befreundet. Obzwar Regine Ziegler von der blühenden Kultur, Kunst und Wissenschaft Berlins, sehr begeistert war, übersah sie die Misere, in der die unteren Gesellschaftsschichten lebten, nicht. Sie brachte diesen Verständnis und Mitleid entgegen, ohne sich jedoch politisch zu engagieren. Desgleichen hegte sie Sympathie für die Zielsetzungen der Frauenbewegung und besuchte Vorträge der schwedischen Feministin Ellen Key, deren Grundsätze sie sich aneignete und thematisierte (Ziegler 1905: 2f.; 1907: 4f.). Der Dichterin war es wichtig, ihre Bildung nicht nur durch den Besuch kultureller und künstlerischer Veranstaltungen zu bereichern, sondern sie hörte auch Vorlesungen berühmter Professoren wie Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf, Erich Schmidt und Heinrich Wölfflin an der Berliner Universität (Ziegler 1907: 4f.). Später erteilte ihr ein bekannter Schauspieler Deklamationsunterricht (Ziegler 1913b: 97-107). Zwischen 1895 und 1901 kam der Name Regine Zieglers in der deutschsprachigen Presse Siebenbürgens nicht vor, danach jedoch ziemlich häufig. In der 4 Infolge des österreich-ungarischen Ausgleichs von 1867 wurden Siebenbürgen und das Banat Ungarn zugesprochen. Folglich wurden die Siebenbürger Sachsen ungarische Staatsbürger. Nach Beendigung des Ersten Weltkrieges wurden beide Provinzen Rumänien angegliedert. 60 Gudrun-Liane Ittu Ausgabe vom 15. September 1901 berichtete das „Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt“, dass Regine Ziegler vorhabe, ab dem 1. Oktober in der Pfalzburgerstraße eine Pension für Siebenbürgerinnen, die sich als Touristinnen oder zu Studienzwecken in Berlin aufhielten, zu eröffnen (SDT 1901: 1007). 5 Vermutlich lebte sie in der zentral gelegenen Wohnung zusammen mit dem Bruder, da es sich - wie im Falle des Malerateliers - um ein elegantes und teures Apartment handelte, dessen Miete sie nicht allein bezahlen konnte. Im Januar 1902 begann die Schriftstellerin ihre Kooperation mit dem eben genannten Periodikum, eine Zusammenarbeit, die sich bis zu ihrem Todesjahr erstreckte. Sie veröffentlichte Gedichte, Erzählungen, Dorfgeschichten, Tagebuchaufzeichnungen und Berichte, die ich für literarische Reportagen halte. Es handelt sich um nichtfiktionale Texte in Prosaform, die Raum- und Zeitdeiktika, direkte Rede, Zitate, detaillierte Deskriptionen, Zahlenangaben, Rückblenden usw. enthalten. 6 Diese Schriftstücke bilden den Gegenstand der folgenden Untersuchung. Es geht um insgesamt 27 Reportagen, die zwischen 1902 und 1904 im Unterhaltungsteil des „Siebenbürgisch-Deutschen Tageblattes“ erschienen. Der thematische Bogen derselben ist sehr weit gespannt, ein Beweis dafür, dass die Literatin sehr vielseitig interessiert war. So schrieb sie über mondäne Ereignisse wie den Berliner Presse- (Ziegler 1903b: 135) und Sezessionsball (Ziegler 1903d: 293), über die Promenadefahrten der hohen Gesellschaft (Ziegler 1903h: 429), über die neuen Kunstakademien in der Hardenberg-Fasanenstraße (Ziegler 1903c: 187) und das neue Lettehaus am Viktoria-Luisen-Platz (Ziegler 1903p: 1185), über das Kaufhaus Wertheim an der Leipzigerstraße (Ziegler 1902c: 1141), über Volkstypen (Ziegler 1903l: 653), über den Zoologischen Garten (Ziegler 1902b: 535; 1903o: 1105) und sonstige nahegelegene Ausflugsziele (Ziegler 1903a: 35; 1903f: 345), über das rege Treiben, das hohen religiösen Feiertagen vorausging (Ziegler 1903g: 375; 1903r: 1357), über Begegnungen mit Landsleuten (Ziegler 1902d: 1250; 5 Die Anzeige lautet: „Unsere Landsmännin, die Schriftstellerin Fräulein Regine Ziegler, will in Berlin eine Pension für Siebenbürgerinnen errichten, wo sich unsere Berlin besuchende Landsmänninnen wie zu Hause fühlen sollen. Fräulein Ziegler wohnt schon so lange in der deutschen Residenz, dass sie diese genau kennt, daher ihren Pensionärinnen bei der Besichtigung der Stadt stets helfend und ratend an die Hand gehen kann. Aber nicht nur Touristinnen aus unserer Heimat finden in der Pension Aufnahme, sondern auch Siebenbürgerinnen, die irgendein Studienzweck nach Berlin führt und die daher einen längeren Aufenthalt dort nehmen müssen. Die Wohnung von Fräulein Ziegler, Berlin W., Pfalzburgerstraße 8, I. Stock, ist äußerst günstig gelegen. Die Pension wird dort am 1. Oktober d. J. eröffnet. Bis 25. d. M. weilt Fräulein Ziegler noch im elterlichen Hause, im Pfarrhause zu Arkeden, wohin etwaige schriftliche Anfragen zu richten sind.“ 6 www.meienberg.ch/ fileadmin/ Meienberg/ _dokumente/ _studienmaterial/ Liz-Arbeit_ Lussi.pdf (Stand: 20.03.2014). Von Siebenbürgen nach Berlin: Regine Ziegler 61 1903e: 293) und Kunstschaffenden (Ziegler 1904b: 733; 1904d: 1003). Der Bereich bildende Kunst ist in den Artikeln Regines sehr gut vertreten. Der wöchentliche Modellmarkt an der Kunstakademie (Ziegler 1903q: 1297), das Entstehen eines Porträts (Ziegler 1904c: 865), das Atelier des Bruders (Ziegler 1903n: 763), die großen Berliner Kunstausstellungen (Ziegler 1903i: 487) waren Veranstaltungen und Ereignisse, denen die Schriftstellerin große Aufmerksamkeit schenkte. Für die siebenbürgische Kunstgeschichte sind die Informationen über das Schaffen des Malers Karl Ziegler sehr wichtig, da er heutzutage fast vergessen ist und sehr wenige seiner Arbeiten Eingang in öffentliche Sammlungen gefunden haben. Das „Siebenbürgisch-Deutsche Tageblatt“ brachte Zieglers Reportage „Die Eröffnung der Großen Berliner Kunstausstellung“ nur wenige Tage nach dem Ereignis (Ziegler 1903i: 487). Sie schildert zunächst die mondänen Aspekte der internationalen Veranstaltung, geht dann auf die baulichen Veränderungen ein, die Architekt Alfred Balcke an der Ausstellungslokalität vorgenommen hatte und führt schließlich durch die Säle. Obzwar einige der ausländischen Aussteller wie Alfred Sisley, Fernand Khnopff, James Ensor, Claude Monet, Camille Pissaro, John Singer Sargent heute zu den bedeutendsten Künstlern der Zeit gehören, nahm Regine Ziegler ihre Arbeiten gar nicht wahr. Dafür begeisterte sie sich für Werke von Künstlern wie Edwin Austin Abbey, Victor Gilsoul und Adrien-Joseph Heymans, die heute fast vergessen sind, was darauf hinweist, dass ihr Kunstgeschmack eher konservativ war. Die Adressaten der Reportagen waren ihre siebenbürgisch-sächsischen Landsleute - Männer wie Frauen - von denen die wenigsten die Möglichkeit hatten zu reisen und Ähnliches wie sie zu sehen und zu erleben. Es ist offensichtlich, dass die Schriftstellerin für die gebildete Schicht schrieb, für Menschen, die über genügend Informationen und Vorkenntnisse verfügten, das Dargestellte zu verstehen. In diesen Schriften nennt sie Namen von Politikern (Bernhard von Bülow, Freiherr von Rheinhaben, Hermann von Budde), Dichtern und Schriftstellern (Hermann Sudermann), Schauspielerinnen (Jenny Groß, Sophie Wachner, Eleonora Duse, Rosa Poppe, Anna Schramm, Gertrud Arnold, Leonie Taliansky) und Schauspielern (Friedrich Haase, August Junkermann), bildenden Künstlern (Hugo Lederer, Adolf Brütt, Johann Vierthaler, Ludwig Dettmann, Carl Vinnen u.a.), die sie als bekannt voraussetzt. Auch erwähnt sie etwa den von Friedrich Delitzsch hervorgerufenen „Bibel- und Babel- Streit“, der Anfang des 20. Jahrhunderts in gebildeten Kreisen zur Tagesdebatte gehörte. Es ist anzunehmen, dass in Siebenbürgen zumindest die Theologen von dieser Debatte wussten. 7 7 de.wikipedia.org/ wiki/ Babel-Bibel-Streit (Stand: 22.03.2014). 62 Gudrun-Liane Ittu Einige Reportagen, besonders jene in denen die Schriftstellerin über mondäne Ereignisse, Bildungsmöglichkeiten für Frauen und Mädchen, über das Kaufhaus Wertheim, über die Institution der Aufwartefrau (Ziegler 1903l: 653) u.a. berichtete, haben gewiss Frauen in höherem Maße angesprochen als Männer, da sie Vorzüge des modernen Großstadtlebens aufzeigten, von denen eine Provinzlerin nur träumen konnte. Die Berliner Bälle bildeten einen willkommenen Anlass, über Mode im Allgemeinen zu schreiben und die Roben der teilnehmenden Damen ins Detail gehend vorzustellen. Die Schriftstellerin offenbart sich dabei als vorzügliche Society-Journalistin und Fürsprecherin des um die Jahrhundertwende in Mode gekommenen Reformkleides, das dank seines bequemen Schnittes und des Verzichts auf ein Korsett als ein Symbol der jüngst erworbenen Rechte und Freiheiten der Frauen betrachtet wurde. Außer diesen etwas frivolen Nachrichten konnten die Leserinnen den Reportagen auch ernste Informationen entnehmen, wie z.B. solche über die Vorteile der sportlichen Betätigung, damals „intelligente Leibeszucht“ genannt (Ziegler 1902a: 445), oder über die Vielzahl von Berufen, die im Lettehaus, einem Tempel der Frauenemanzipation, erlernt werden konnten (Ziegler 1903p: 1185). 8 Obwohl seit der Veröffentlichung dieser kleinen literarischen Werke über ein Jahrhundert vergangen ist und das Moderne von damals längst der Geschichte angehört, bilden Regine Zieglers Reportagen auch heutzutage eine interessante, lehrreiche und spannende Lektüre, die nicht nur durch die vermittelten Informationen, sondern auch durch die bildhafte, gehobene, kunstvolle Sprache besticht. In ihrer Darstellungsweise nahm sie kinematografische Techniken vorweg, indem sie auf ein Gesamt- oder Panoramabild Details folgen ließ, die zuerst aus einer gewissen Distanz betrachtet und dann gleichsam durch Zoomen vergrößert und näher gebracht wurden. 2 Zur Poetologie Die Reportage „Berliner Bilder. Bei Wertheim“ (Ziegler 1902c: 1141) kann als ein Musterbeispiel für das vorhin Behauptete betrachtet werden. Dazu kommt, dass es um ein Bauwerk geht, das während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurde, eine Tatsache, die ihren Artikel zum Zeitdokument macht. Um dies zu verdeutlichen, sollen einige Passagen daraus zitiert werden. 8 Im Lettehaus gab es eine Kochschule, eine Wasch- und Plättschule, eine Handelsschule, eine Haushaltungsschule und eine Gewerbeschule und dazu eine fotografische Lehranstalt. Außerdem konnten sich Frauen zur Buchdrucker- und Buchbinderin, zur Röntgenschwester und Arzthilfe ausbilden lassen. Von Siebenbürgen nach Berlin: Regine Ziegler 63 Im einführenden Absatz folgt auf die Orts- und Zeitangabe die Beschreibung der Fassade des von Architekt Alfred Messel (1853-1909) zwischen 1896 und 1906 errichteten Gebäudes, eine Beschreibung, die den Leser neugierig auf das macht, was sich dahinter verbirgt: Am Ende der großen Verkehrsader Berlins, der Leipzigerstraße, erhebt sich seit Kurzem ein architektonisch und künstlerisch interessanter Kolossalbau, das große Warenhaus Wertheim. Die Front zeigt mächtig aufstrebende Pfeiler, unterbrochen nur durch Glastafeln, hinter denen sich oben und unten die einzelnen Etagen und geschmackvoll ausgestatteten Schauläden ausbreiten. Und drinnen welch ein Leben! Beim Betreten des Einkaufszentrums lenkt die Autorin ihren Blick zunächst auf die Besucher, Menschen aller Altersstufen und Gesellschaftsschichten, von sehr Reichen bis hin zu solchen, die für Gauner gehalten werden konnten: Ein Menschenstrom wogt tagaus, tagein durch die Räume, so recht ein Gesamtbild der Berliner Bevölkerung, von der mit höchstem Geschmacksraffinement gekleideten Dame von Welt an, deren glänzendes Coupe draußen harrt, um die gekauften Sachen, vielleicht eine Balltoilette für 500 Mark, oder einen Pelzmantel zum gleichen Preise in Empfang zu nehmen, bis zu der mit ängstlicher Bewunderung der ‚Elektrischen‘ entstiegenen kleinen Provinzlerin, die sich herein wagt, weil man ihr sagte: ‚bei Wertheim muss man nicht kaufen, kann sich bloß alles ansehen‘, sind alle Typen der Frauen vertreten. Und nicht weniger die Männer, junge und alte, solche mit dem Zeichen des eleganten Müßiggängers in dem übernächtigen Gesicht und alle bis herab zum Müßiggänger anderer Sorte, derjenigen, die dicht am Verbrechen vorbeistreift oder in seine Sphäre greift. Von der Menschenmenge abgekehrt, schweift der Blick der Reporterin über das reiche Warenangebot und deren Umgebung, Elemente, die den Betrachter in die irreale, märchenhafte Welt des Konsumtempels transponieren: Es ist Abend und das Bild, das diese mit allen möglichen Waren, Toilettengegenständen, Hauseinrichtungen und Kunstsachen angefüllten Stockwerke bieten, märchenhaft. […] Mitten im Zentrum rauscht ein Springbrunnen und das elektrische Licht der vielen Lampen bricht sich in diesen Perlen, so dass sie schimmern wie Kristall. In natürlich geschmackvoller Weise scheiden Gold verzierte Säulen die einzelnen Räume. Arbeit, Geldmacht und Geschmack haben sich die Hände gereicht und das Einzigartige ist, dass jede Ware sich gleich in dem für sie passenden Milieu präsentiert. 64 Gudrun-Liane Ittu Regine Ziegler setzt ihren Weg im Inneren des Kaufhauses fort und konzentriert sich schließlich auf einen vornehmlich von Männern aufgesuchten Stand, an dem Tabakwaren angeboten werden. Sie nimmt dabei zwei halbwüchsige Jungen unter die Lupe, Jungen die gerne eine Zigarette geraucht hätten, und malt eine kleine Genreszene, knapp gefasst und doch sehr anschaulich: Dort drüben die kleine japanische Ecke lockt vor allem die Herrenwelt: da gibt’s Zigarren in allen Größen und zu allen Preisen […]. Auch echte Berliner Jungs, denen Mutter das Rauchen verboten hat und die es nun gerade extra schön finden, sind mitten im Trubel drin. Da, der Langaufgeschossene mit dem bleichen, scharf geschnittenen Gesicht und daneben der Kleine mit dem pfiffigen Lachen in den zugekniffenen Äuglein, die scheinen heute den großen Entschluss gefasst zu haben, etwas von der verbotenen Frucht zu erstehen. Richtig! Erst kramen sie in ihren Rocktaschen und holen dann endlich etwas hervor. Dann ein verstohlenes zählen und gegenseitiges verständnisinnige Zunicken: ‚Es reicht! ‘ steht in den Gesichtern geschrieben und nun haben sie das Gewünschte in Gestalt von zwei Zigaretten mit Goldmundstück. In der nächsten Szene tritt eine Schülerin auf, deren Wunschobjekt die Köstlichkeiten der Zuckerwaren- und Kuchenabteilung sind: Da steht unweit ein reizendes blondes Backfischchen, die Schulmappe unterm Arm, vor den köstlichen Stillleben aus Zuckerwaren und Kuchen. Seine großen Augen hängen in ausgesprochenem Entzücken daran und das fein geschwungene Mündchen scheint große Lust nach näherer Bekanntschaft mit den Sachen zu empfinden. Der Leser erfährt jedoch nicht, ob sich die Kleine eine der Köstlichkeiten leisten kann, denn die Reporterin blickt bereits in eine andere Richtung, in der sich eine noch interessantere Szene abspielt. In der Teppichabteilung ist die Verkäuferin mit einem bürgerlichen Ehepaar beschäftigt, das einen Teppich kaufen will. Zahlreiche Objekte entfalten bereits ihre Pracht, doch können diese die versnobte Käuferin, die etwas ganz Spezielles sucht, nicht zufriedenstellen: So, wie der Teppich, den Gräfin so und so zu ihrem letzten Geburtstag erhalten hat, so ist keiner von diesen und sie mag nur einen gleichen haben. Der Gatte zieht verdrießlich die Uhr und seufzt verstohlen, er kennt das und weiß, da hilft nur Geduld. Kurz vor dem Ende des Geschäftsbummels wird Regine Ziegler Zeugin einer weniger erbaulichen Szene, in der die Protagonisten weder Jugendliche noch Von Siebenbürgen nach Berlin: Regine Ziegler 65 anmaßende Damen sind, sondern ein etwa vierzigjähriger, ärmlich gekleideter, vermutlich tuberkulosekranker Arbeiter, der sich nichts von all dem Guten und Schönen leisten kann. Die Reporterin meint in ihm ein Opfer des aggressiven Großkapitals zu erkennen, das Schwächlinge vernichtet: [E]in Hustenanfall unterbricht ihn mitten im Gespräch mit einem Gärtnergehilfen, den er kennt und der im ‚Wintergarten‘, denn auch einen solchen gibt es hier, die Gewächse umstellt. Ein schmerzerfülltes Zucken geht über sein verhärmtes Arbeitergesicht beim Anblick all des Glanzes, der Pracht ringsum. Wer weiß, vielleicht gehört er auch zu jenen, die nicht mehr mittun können im Riesenkampf auf dem Lebensmarkte […], die die vorwärtsstürmende alles verschlingende Löwin, Großkapital genannt […] zu Boden wirft und kalt lächelnd über sie hinwegstampft. Zuletzt richtet sich das Objektiv der virtuellen Kamera auf zwei nette Einrichtungen, den Wintergarten und den Erfrischungsraum, wo die Besucher des Wertheim nach den Strapazen des Kaufens und Betrachtens in einem angenehmen Ambiente Stärkung und Erholung finden: Nach einstündigem oder noch längerem Bummel durch sämtliche Stockwerke sitzt es sich herrlich in dem mit Palmen, Farnkraut und blühenden Gewächsen geschmückten Wintergarten, der zu einem behaglichen Erfrischungsraum führt. 3 Die letzten Jahre Regine Zieglers Karl Ziegler wurde 1904 als Professor und Museumsfachmann an das neu gegründete Kaiser-Friedrich-Museum in Posen (heute Poznań, Polen) berufen, ein Posten, den er mit Begeisterung annahm. So trennten sich nach beinahe zehn Jahren, in denen die Geschwister Regine und Karl Ziegler viel zusammen unternommen und sich gegenseitig in ihrem künstlerischen Schaffen angeregt hatten, ihre Wege. Regine blieb noch einige Jahre in Berlin, wo sie 1908 ihr Prosawerk „Wenn Ähren reifen“ herausbrachte. Das Buch wurde nicht nur in der siebenbürgischen Zeitschrift „Die Karpathen“ (DK 1908: 159) 9 anerkennend be- 9 „[D]as reifste, was Regine Ziegler bisher geschaffen hat, weit wichtiger als ihre Gedichte in Versen, bei deren Sammlung die Qualität noch wenig mitsprach. Möge es ihr auch bald gelingen, in einem neuen Werke von der […] Skizze aufzusteigen zu einem großen Gemälde.“ 66 Gudrun-Liane Ittu sprochen, sondern 1909 auch mit einem Preis der Weimarer Schiller-Stiftung ausgezeichnet (SDT 1909: 3) 10 . Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges - der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt - kehrte Regine Ziegler in ihre Heimat zurück, wo sie weiter schriftstellerisch arbeitete und 1925 starb. 4 Die Bedeutung der Journalistin Ziegler Selbst wenn Regine Ziegler keine große Schriftstellerin war, liegt ihre Bedeutung darin, dass sie sich als eine der ersten siebenbürgisch-sächsischen Frauen wünschte, mehr als nur Ehefrau und Mutter zu sein. Aus dieser Perspektive kann sie zu den Pionierinnen der Frauenemanzipation gezählt werden, die für andere Frauen vorbildlich gewirkt haben. Sie entfloh aus der entlegenen Provinz in die Großstadt, um sich dort weiterzubilden und die Vorzüge des modernen Lebens zu genießen. Die Reportagen, die sie im „Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatt“ veröffentlichte, machten ihre Landsleute mit zahlreichen Facetten der Moderne bekannt. Indem Regine Ziegler in Siebenbürgen über Berlin und in binnendeutschen Zeitschriften über die Siebenbürger Sachsen berichtete (Ittu 2013: 65), wurde sie zur Mittlerin zwischen Zentrum und Peripherie. 5 Literatur Bacon, Therese (1895): Zur Frauenfrage. In: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt (fortan SDT) 3. Mai. S. 462. Ittu, Gudrun-Liane (2013): Eigen- und Fremdbilder in den Schriften Regine Zieglers (1864-1925). In: Germanistische Beiträge 32. S. 63-73. Krasser, Harald (1939): Vom Anteil der Frauen an der deutschen Dichtung Siebenbürgen. In: Klingsor 16. S. 101-102. DK (1908): Regine Ziegler. Wenn Ähren reifen. In: Die Karpathen 5. S. 159. SDT (1909): Ehrung einer Schriftstellerin. In: SDT 17. September. S. 3. 10 „Unsere einheimische Schriftstellerin Fräulein Regine Ziegler […] wurde für ihr letzt erschienenes Buch ‚Wenn Ähren reifen‘ von der Schillerstiftung in Weimar durch Verleihung eines Preises ausgezeichnet. Es ist zum ersten Mal, dass ein solcher Preis nach dem fernen Siebenbürgen seinen Weg genommen hat und es ist erfreulich, dass er einer von ernstem Streben erfüllten Schriftstellerin verliehen wurde, die nebst manch schönem Erfolg doch auch oft genug den Becher des Leides gekostet hat.“ Von Siebenbürgen nach Berlin: Regine Ziegler 67 Sienerth, Stefan (1979): Regine Ziegler. In: Die Literatur der Siebenbürger Sachsen in den Jahren 1849-1918. Beiträge zur Geschichte der rumäniendeutschen Dichtung. Bukarest. S. 226. Quellen Ziegler, Regine (1896), Gedichte. Kronstadt. Ziegler, Regine (1902a): Der Verein für intelligente Leibeszucht. In: SDT 24. Januar. S. 445. Ziegler, Regine (1902b): Im Berliner Tiergarten. Frühlingsbrief aus Berlin. In: SDT 18. Mai. S. 535. Ziegler, Regine (1902c): Berliner Bilder. Bei Wertheim. In: SDT 19. Oktober. S. 1141. Ziegler, Regine (1902d): Siebenbürgen in Berlin. In: SDT 16. November. S. 1250. Ziegler, Regine (1902e): Berliner Brief. In: SDT 21. Dezember. S. 1397. Ziegler, Regine (1903a): Berliner Brief. Der Grunewald im Winter. In: SDT 11. Januar. S. 35. Ziegler, Regine (1903b): Der Berliner Presseball. In: SDT 8. Februar. S. 135. Ziegler, Regine (1903c): Die neuen Berliner Kunstakademien. In: SDT 22. Februar. S. 187. Ziegler, Regine (1903d): Berliner Brief. Der Sezessionsball im Zoologischen Garten. In: SDT 8. März. S. 239. Ziegler, Regine (1903e): Berliner Brief. In: SDT 22. März. S. 293. Ziegler, Regine (1903f): Berliner Brief. Frühlingsbild am Neuen See. In: SDT 5. April. S. 345. Ziegler, Regine (1903g): Ostern in Berlin. In: SDT 12. April. S. 375. Ziegler, Regine (1903h): Die neuen Promenadenfahrten in Berlin. In: SDT 26. April. S. 429. Ziegler, Regine (1903i): Die Eröffnung der Großen Berliner Kunstausstellung. In: SDT 10. Mai. S. 487. Ziegler, Regine (1903j): Berliner Brief. Baumblüte in Werder. In: SDT 24. Mai. S. 541. Ziegler, Regine (1903k): Großstadt-Idyll. In: SDT 7. Juni. S. 595. Ziegler, Regine (1903l): Berliner Brief. Typen aus dem Volk. In: SDT 21. Juni. S. 653. Ziegler, Regine (1903m): Berliner Brief. Die Kaiserregatta in Grünau. In: SDT 5. Juli. S. 709. Ziegler, Regine (1903n): Berliner Brief. Stimmungsbild aus Zieglers Atelier. In: SDT 19. Juli. S. 763. Ziegler, Regine (1903o): Brief aus Berlin. Der „billige“ Sonntag im Zoologischen Garten. In: SDT 18. Oktober. S. 1105. Ziegler, Regine (1903p): Das neue Lettehaus in Berlin. In: SDT 8. November. S. 1185. Ziegler, Regine (1903q): Modellmarkt in der Berliner Kunstakademie. In: SDT 6. Dezember. S. 1297. Ziegler, Regine (1903r): Weihnachtsmarkt in Berlin. In: SDT 20. Dezember. S. 1357. Ziegler, Regine (1904a): Ein Rest „Alt Berlin“. In: SDT 5. Juni. S. 595. Ziegler, Regine (1904b): Bei Hermann Sudermann. In: SDT 10. Juli. S. 733. Ziegler, Regine (1904c): Wie ein Porträt entsteht. In: SDT 14. August. S. 865. Ziegler, Regine (1904d): Berliner Brief. Ein Abend bei August Junkermann. In: SDT 18. September. S. 1003. 68 Gudrun-Liane Ittu Ziegler, Regine (1905): Eine Studie zur Frauenfrage. In SDT 24. Oktober. S. 2-3. Ziegler, Regine (1907): Tagebuchblätter aus Berlin IX. In: SDT 7. Oktober. S. 4-5. Ziegler, Regine (1908): Wenn Ähren reifen. Berlin. Ziegler, Regine (1913a): Autobiographische Skizze. In: Von der Heide 8. S. 1. Ziegler, Regine (1913b): Rezitationsstunden. In: DK 4. S. 97-107. Internetquellen de.wikipedia.org/ wiki/ Einwohnerentwicklung_von_Berlin (Stand: 17.02.2014). www.meienberg.ch/ fileadmin/ Meienberg/ _dokumente/ _studienmaterial/ Liz-Ar beit_Lussi.pdf (Stand: 20.03.2014). de.wikipedia.org/ wiki/ Babel-Bibel-Streit (Stand: 22.03.2014). Zur Übersetzbarkeit interkultureller Literatur. Dariusz Muszer als Autor und Übersetzer Małgorzata Jokiel (Opole/ Oppeln) Zusammenfassung Von interkultureller Literatur sprechen wir, wenn literarische Werke zwischen (mindestens) zwei Kulturen, Sprachen und Literaturen stehen. Das Besondere an derartigen Texten ist, dass sie einerseits in beiden Systemen beheimatet sind, andererseits aber selbst diese beeinflussen können. Der Fokus des vorliegenden Beitrags ist auf den Stellenwert der in einer Fremdsprache abgefassten Werke von AutorInnen mit Migrationshintergrund innerhalb der Nationalliteratur ihres Herkunftslandes gerichtet. Da solche Texte vor allem durch Übersetzungen rezipiert werden, steht die weitgefasste Frage nach der Übersetzbarkeit interkultureller Literatur am Beispiel des in Deutschland lebenden polnischstämmigen Schriftstellers Dariusz Muszer im Zentrum dieses Beitrags. Er ist insofern als ein Sonderfall zu bezeichnen, da er sowohl Deutsch als auch Polnisch schreibt und darüber hinaus eigene wie fremde literarische Werke (z.B. die Artur Beckers) aus dem Deutschen ins Polnische übersetzt. Den zweiten Schwerpunkt bildet Muszers persönliches Verhältnis zur deutschen Sprache. Abgerundet wird der Beitrag durch den Versuch, grundsätzliche Unterschiede zwischen den durch den Autor selbst und durch einen Dritten verfasste Übersetzungen literarischer Werke aufzuzeigen. 1 Einleitung Die Präsenz polnischstämmiger Autoren und Autorinnen ist ein im deutschsprachigen Raum seit Jahrhunderten bekanntes Phänomen. Während es sich aber früher (z.B. im 19. Jahrhundert, nach den nationalen Aufständen 1830 und 1863, nach dem Zweiten Weltkrieg oder in den 1980er Jahren 1 ) hauptsächlich um politisch verfolgte Schriftsteller handelte, haben wir es seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts und insbesondere seit dem polnischen EU-Beitritt (2004) zunehmend mit freiwilligen Migranten zu tun, die sich für das Leben und Schaffen in einem anderen Land entschieden haben. Je nach individuellen Sprachbiografien und weiteren persönlichen Umständen verfassen sie ihre 1 Zu der Exilwelle der 1980er Jahre, zu der die hier behandelten Autoren Muszer und Becker gehören, werden darüber hinaus beispielsweise solche Autorinnen und Autoren gezählt wie Natasza Goerke, Brygida Helbig, Maria Kolenda, Iwona Mickiewicz, Krzysztof Niewrzęda, Leszek Oświęcimski, Janusz Rudnicki und Krzysztof Maria Załuski (s. auch Henseler/ Makarska 2013). 70 Małgorzata Jokiel Werke entweder (immer noch) in der Muttersprache Polnisch und/ oder auf Deutsch. Richtet man sich nach der Zahl der Muttersprachler weltweit, so ließe sich Polnisch (mit 60 Mio. Sprechern) gegenüber dem Deutschen (‚Sprache des Zentrums‘, 109 Mio. Muttersprachler) als ‚Sprache der Peripherie‘ bezeichnen. 2 Die Wahl der Schreibsprache hat für Schriftsteller mit Migrationshintergrund weitreichende Konsequenzen, insbesondere im Hinblick auf den potenziellen Rezipientenkreis. Die Muttersprache als Denksprache und Sprache des Herzens scheint zu Beginn der literarischen Laufbahn in einem fremden Land, insbesondere wenn die Kenntnisse der fremden Sprache noch nicht ausreichend sind, die selbstverständliche Lösung. Wenn ein Autor allerdings in seiner Wahlheimat als Schriftsteller wahrgenommen werden will, so ist die Entscheidung für die Landessprache praktisch zwingend. Denn „in der Fremdsprache schreiben“ ist nicht mit „in die Fremdsprache übersetzt werden“ 3 vergleichbar. Wie Hans-Christian Trepte bemerkt, wird „die in Folge eines erfolgreichen Sprachwechsels entstandene Literatur slawischer Provenienz“ kaum von breiterem Publikum wahrgenommen, da sie als entkulturiert gelte und zumeist „im Niemandsland zwischen den Kulturen und Literaturen“ (Trepte 2013: 281) bleibe. Dies ist auch wohl einer der Gründe dafür, dass die auf Deutsch entstandene Literatur polnischstämmiger Autoren selten in die Sprache des Herkunftslandes des Schriftstellers übersetzt wird. 4 Die in zwei Sprachen, zwei Kulturen 2 Angaben zu der Zahl der Muttersprachler nach: www.ethnologue.com (Stand: 12.04. 2014). 3 Der polnischstämmige Autor Grzegorz Kielawski, der seit acht Jahren in Österreich lebt und schreibt, formuliert diese Erfahrung folgendermaßen: „Die Sprache verändert natürlich den Textausgang - auf Polnisch wäre er wahrscheinlich anders geworden“ (Kielawski 2007: 25). 4 Allerdings trifft dieses Phänomen nicht auf alle Schriftsteller mit Migrationshintergrund zu, wie das Beispiel der erfolgreichen ungarischstämmigen Autorin Terézia Moras zeigt, deren Werke nicht nur ins Ungarische sondern auch in andere Sprachen übersetzt werden. Wenn es um auf Deutsch verfasste literarische Werke polnischstämmiger Autoren geht, kann in der Zeit nach der 1989er Wende, wohl im Zusammenhang mit zunehmendem Interesse an der Migrationsproblematik insgesamt, auf eine Reihe von Übersetzungen ins Polnische hingewiesen werden, von denen hier ein paar stellvertretend zu nennen sind: Roma Ligockas „Dziewczynka w czerwonym płaszczyku“ (Kraków 2001, übers. von Katarzyna Zimmerer); Radek Knapps „Franio“ (Poznań 1995, übersetzt von dem Autor und Marek Szalsza, mit einem Vorwort von Stanisław Lem), „Lekcje pana Kuki“ (Kraków 2003, übers. von Sława Lisiecka); Artur Beckers „Kino Muza“ (Olsztyn 2008), übersetzt von Dariusz Muszer, der ebenfalls seine zwei eigenen auf Deutsch entstandenen Romane ins Polnische über- Zur Übersetzbarkeit interkultureller Literatur 71 und zwei literarischen Traditionen verankerten Schriftsteller mit Migrationshintergrund stellen somit in beiden Ländern einen Sonderfall dar. Für die literaturwie auch sprachwissenschaftliche Erschließung derartiger Literatur scheint daher die Auslandsgermanistik besonders prädestiniert zu sein. In diesem Kontext sollen die mit diesem Problem zusammenhängenden translationsrelevanten Probleme am Beispiel von Dariusz Muszers Roman „Die Freiheit riecht nach Vanille“ sowie dessen eigene Übersetzung ins Polnische exemplarisch erläutert werden. Der Begriff ‚Übersetzbarkeit‘ ist hierbei allerdings in einer weiteren Bedeutung aufzufassen als die übliche „potenzielle Möglichkeit, in eine andere Sprache zu übersetzen“ (vgl. Koller 2001: 179-188), die vorausgesetzt wird; er soll vielmehr für die ‚Begründung für die Übersetzung‘ bzw. ‚Übersetzenswertsein‘ stehen. Darüber hinaus werden Artur Beckers Roman „Kino Muza“ und dessen gleichnamige polnische Übersetzung von Muszer berücksichtigt, um grundsätzliche Unterschiede zwischen den vom Autor selbst und von einem Dritten verfassten Übersetzungen literarischer Werke aufzuzeigen. Die Verfasserin des Beitrags vertritt dabei die Meinung, dass die Erforschung literarischer Übersetzungen einer differenzierten interdisziplinären Herangehensweise bedarf, zu der sowohl translationswissenschaftliche Aspekte als auch literatur-, kultur- und sprachwissenschaftliche Fragestellungen und Instrumente gehören. 2 Dariusz Muszer als Autor und Übersetzer Dariusz Muszer, geboren 1959 in Górzyca (Polen), ist als Schriftsteller, Lyriker, Dramatiker sowie Journalist und Übersetzer tätig und wurde mit zahlreichen polnischen wie deutschen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet. 5 Der ausgebildete Jurist lebt seit 1988 in Deutschland (Hannover). Nach seinen eigenen Angaben erfolgte seine Übersiedlung teils aus politischen teils aus materiellen Gründen. 6 Die literarische Karriere Muszers begann bereits vor seiner Auswanderung und bis heute schreibt er sowohl auf Deutsch als auch auf Polnisch. Sein literarisches Werk umfasst acht Romane, davon drei auf Deutsch verfasst („Die Freiheit riecht nach Vanille“ 1999, „Der Echsenmann“ 2001 sowie setzte: „Wolność pachnie wanilią“ (Szczecin 2008) sowie „Homepage Boga“ (Szczecin 2013). 5 Eine ausführliche Aufstellung der Auszeichnungen ist der Homepage des Schriftstellers zu entnehmen: www.dariusz-muszer.de/ html/ person (Stand: 01.07.2014). 6 Nach der Videoaufnahme „Lange Nacht polnischer Literatur mit Dariusz Muszer“ vom 26.10.2012, auf: www.youtube.com/ watch? gl=DE&v=BKbJ8yqDpuk (Stand: 20.06. 2014). 72 Małgorzata Jokiel „Gottes Homepage“ 2007) und zwölf Gedichtbände, einer davon ist in deutscher Sprache erschienen („Die Geliebte aus R. und andere Gedichte“, 1990). Darüber hinaus übersetzte er sechs literarische Werke ins Polnische, einschließlich seiner Romane „Die Freiheit riecht nach Vanille“ und „Gottes Homepage“ sowie „Kino Muza“ seines neun Jahre jüngeren, ebenfalls polnischstämmigen Kollegen Artur Becker. Die Übersetzung eigener Werke durch den Verfasser kommt relativ selten vor und ist somit als ein translatorischer Sonderfall zu bezeichnen, da sich aus dieser Konstellation mehrere Besonderheiten gegenüber Übersetzungen Dritter ergeben. 7 In der translationsrelevanten Texttypologie von Katharina Reiß (1993: 5-26) gehören literarische Texte grundsätzlich zu dem expressiven Texttyp und zeichnen sich durch ihre Senderorientiertheit sowie künstlerische Aussage (als primäre Textfunktion) aus, somit erfordern sie bei der Übersetzung eine Analogie der künstlerischen Gestaltung als Äquivalenzmaßstab. 8 Reiß empfiehlt die so genannte autorgerechte (identifizierende) Übersetzungsmethode als angemessene translatorische Vorgehensweise für diesen Texttyp. Im Vordergrund stehen dabei die individuelle Prägung des jeweiligen Textes und „der Gestaltungswille des Autors“ unter Bewahrung der äußeren Form (Reiß 1993: 21). Bei der Übersetzung des Werkes durch dessen Verfasser wird die Identität des Senders automatisch beibehalten. Die Verantwortung für die Gestaltung des Translats trägt der Produzent des Ausgangtextes, so dass eventuelle Abweichungen von der Vorlage auf den Willen des Verfassers zurückzuführen sind. Zu den Vorteilen, die der Autor in der Rolle des Übersetzers gegenüber einem fremden Übersetzer besitzt, gehört ebenfalls die Kenntnis der Entstehungsbedingungen des Werkes sowie möglicher Kontexte und Absichten. Des Weiteren kann sich der Verfasser als Übersetzer seiner Texte mehr erlauben (Zusätze, Erläuterungen, Auslassungen bzw. Modifizierungen des Inhaltes) als ein Dritter, der mit einer solchen Aufgabe betraut wird. Darüber hinaus sind dabei der Faktor ‚Subjektivität des Übersetzers‘ (verstanden als sein individuelles Verständnis des Werkes) sowie dessen abweichende Persönlichkeitsstruktur auszuschließen (Reiß 1971: 106-114). 7 Zu den bekanntesten Beispielen von Autoren der Weltliteratur, die ihre eigenen Werke selbst übersetzt haben, gehören Vladimir Nabokov und Samuel Beckett. 8 Nach Reiß ist zwar die Zuordnung literarischer Genres zu dem expressiven Texttyp nur theoretisch und trifft nicht immer zu, da man vor allem die kommunikative Funktion des jeweiligen Werkes sowie texttypübergreifende Genres/ Textsorten wie z.B. Biographie, Tendenzroman, Satire berücksichtigen soll. Die im vorliegenden Beitrag erwähnten Romane von Muszer und Becker sind jedoch von ihrer kommunikativen Funktion her als typische Beispiele für den expressiven Texttyp aufzufassen. Zur Übersetzbarkeit interkultureller Literatur 73 Eine erfolgreiche Übersetzung eigener Werke setzt allerdings ausreichende translatorische Kompetenz des Verfassers voraus, die weit über ausgezeichnete Kenntnisse der Ausgangs- und Zielsprache hinausgeht. Nach Kohlmayer (2008: 1-5) handelt es sich hierbei um eine Reihe von Einzelkompetenzen, die sich jeweils auf ein Sprachenpaar beziehen, von denen im Hinblick auf das Übersetzen von Literatur insbesondere sprachkontrastives Wissen und Können, interkulturelles Wissen und Können sowie vielfältige Kommunikationsfertigkeiten anzuführen sind. Bei Witte (2007) wird hingegen die Kulturkompetenz des Übersetzers in den Vordergrund gestellt. Im Fall von Muszer, der im Alter von knapp 30 Jahren ausgereist ist und seit 26 Jahren in Deutschland lebt, dürfte von seiner Bikulturalität ausgegangen werden. Er erfüllt auch Voraussetzungen für die aktive Beherrschung des Polnischen wie des Deutschen für literarische Zwecke, da er sich bereits vor seiner Ausreise als Autor etabliert hatte und bis heute seine Werke in beiden Sprachen mit Erfolg 9 veröffentlicht. Vor diesem Hintergrund scheint daher die Frage berechtigt, ob man im Fall einer Selbstübersetzung statt von einer ‚Translation‘ eher von einer ‚fremdbzw. anderssprachigen Fassung des Originals‘ sprechen sollte. Eine solche Schlussfolgerung liegt nahe, wenn man sich Muszers Homepage anschaut, auf der einige Werke mit dem deutschen und dann mit dem gleichen ins Polnische übersetzten Titel und einem späteren Erscheinungsdatum aufgelistet sind. Unter ‚Übersetzungen‘ stehen hingegen nur Texte anderer Autoren (zwei Titel von Corinne Hofmann sowie je ein Werk von Galsan Tschinag und Artur Becker), die von Muszer aus dem Deutschen ins Polnische übertragen wurden. Da aber auf den Titelseiten der Romane „Wolność pachnie wanilią“ und „Homepage Boga“ Dariusz Muszer sowohl als Verfasser des Werkes sowie als dessen Übersetzer genannt wird, ist hier von dem ursprünglichen Charakter der deutschen Fassung des Werkes auszugehen. Wird die moderne translationswissenschaftliche Definition der Übersetzung herangezogen, so stellt sich heraus, dass eine Übersetzung alle Veränderungen der Vorlage bezüglich Stoff, Form und Gehalt einschließt, die sich entweder zwingend aus der Zielsprache oder aber aus den Spezifika der Adressaten und deren Rezeptionsmöglichkeiten ergeben, also nicht willkürlich sind (Salevsky 2002: 385). Die Vertreter der Descriptive Translation Studies gehen noch weiter, indem sie auf eine präskriptive Definition der Übersetzung verzichten und als Übersetzungen alle Texte verstehen, die als solche in einer Kultur akzeptiert werden. Sie werden vielmehr in ihren tatsächlichen Erscheinungsformen als 9 Davon zeugen z.B. zahlreiche positive oder gar begeisterte Rezensionen zu Muszers Veröffentlichungen sowie Interviews, weitere Artikel und Sekundärliteratur, zusammengestellt auf der Internetseite des Autors: www.dariusz-muszer.de/ html/ presse. html (Stand: 10.02.2014). 74 Małgorzata Jokiel historische und kulturelle Phänomene betrachtet und nicht nach tatsächlicher Äquivalenz untersucht (nach Apel/ Kopetzki 2003: 37). Vor diesem Hintergrund ist die polnische Fassung von „Die Freiheit riecht nach Vanille“ als eine Übersetzung zu verstehen, die mehrere Besonderheiten aufweist, da es sich dabei um eine Selbst-Translation des Verfassers handelt. 3 Der Roman „Die Freiheit riecht nach Vanille“ als Übersetzungsvorlage Aus der Analyse der deutschen Originalfassung ergeben sich mehrere Auffälligkeiten, die potenziell zu Übersetzungsproblemen werden dürften. Nach Nord (2009) kann bei der übersetzungsrelevanten Ausgangstextanalyse zwischen internen und externen Faktoren unterschieden werden. Zu der erstgenannten Gruppe gehören Kategorien wie Sender, Intention, Empfänger, Medium, Ort, Zeit, Anlass und Textfunktion. In Bezug auf literarische Texte erscheinen allerdings nicht alle aufgeführten Aspekte relevant. Im Fall der Selbst-Übersetzung ist der Sender mit dem Verfasser identisch, es dürfte auch von der gleichen Intention des Autors im Hinblick auf den Ausgangstext sowie des Übersetzers in Bezug auf den Zieltext ausgegangen werden. Der Empfänger des Originals (deutschsprachiger Leser) unterscheidet sich grundsätzlich von dem der Übersetzung (polnischer Rezipient), ähnlich verhält es sich mit dem Ort und Zeitpunkt der Rezeption: Die Übersetzung des Romans „Die Freiheit riecht nach Vanille“ (2008) kam erst neun Jahre nach der Veröffentlichung der deutschen Vorlage (1999) in Polen heraus. 10 Das Medium Buch bietet zahlreiche typografische wie formale Möglichkeiten der Gestaltung, angefangen mit dem Buchdeckel und der Titelseite über die äußere Gestaltung und innere Gliederung bis hin zur Interpunktion, so dass sich in diesem Bereich viele Unterschiede nennen ließen, die jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrags sind. 11 Die Textfunktion ergibt sich aus der jeweiligen sprachlichen Fassung und gestaltet sich in Abhängigkeit von dem Vorwissen des Rezipienten sowie von seiner nationalen Zugehörigkeit. Während es sich für deutschsprachige Leser in Muszers Roman hauptsächlich um die Darstellung der vertrauten innenpolitischen Wirklichkeit aus der Außenperspektive eines Einwanderers handelt, lernen polnische Empfänger das Leben eines 10 Der andere ebenfalls ins Polnische übersetzte Roman Muszers „Gottes Homepage“ wurde 2007 auf Deutsch und 2013 auf Polnisch veröffentlicht. 11 Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass beide Ausgangstexte von Muszer im Verlag A1 (München) erschienen sind und die polnischen Übersetzungen beim Verlag Forma (Szczecin) in derselben Reihe. Zur Übersetzbarkeit interkultureller Literatur 75 Landsmannes in einem fremden Land kennen. Da der untersuchte literarische Text zahlreiche Bezüge zur deutschen Zeitgeschichte aufweist, handelt es sich auf der textinternen Ebene des Ausgangs- und Zieltextes um unterschiedliche Präsuppositionen und eventuell notwendige inhaltliche Modifizierungen des Translats, die im Folgenden punktuell exemplifiziert werden. In „Die Freiheit riecht nach Vanille“ wird das Schicksal eines Spätaussiedlers nach seiner Ausreise aus Polen nach Deutschland mit viel Ironie und (schwarzem) Humor dargestellt. Aus der Perspektive des ausgangssprachigen (deutschen) Lesers scheint der Großteil der Romanhandlung durchaus nachvollziehbar und wird dank der geschilderten Realien (wie z.B. das Durchgangslager Friedland, Hannover als Handlungsort, Fachbezeichnungen für Unterlagen und Ausweise der Aussiedler) glaubwürdig gemacht. Während sich aber die Originalwerke nach Salevsky (2002: 398) in der Regel durch ihren einmaligen Charakter und ihr Verhältnis zu einem diachronen und einem synchronen literarischen Kontext sowie zu einer literarischen Tradition auszeichnen und Bezug zu einer Kultur-, Sprach- und Kommunikationsgemeinschaft haben, ist Muszers Roman in dieser Hinsicht untypisch. In ihm wird an viele literarische Traditionen angeknüpft, indem alle Kapitel mit Zitaten aus der Weltliteratur (wie z.B. Hamsun, Nabokov, Defoe, Gombrowicz, Orwell, Hebbel, Tolkien, Kafka) bzw. mit einem Spruch oder Sprichwort beginnen, die in engem inhaltlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Kapitel stehen. Darüber hinaus weist der Roman, was sich bei Autoren mit Migrationshintergrund sehr oft beobachten lässt, nicht nur Bezüge zu deutschen Realien auf, sondern enthält auch vereinzelt Anspielungen auf bedeutende Phänomene der polnischen Geschichte und Kultur, die sich beispielsweise hinter Jahresangaben verstecken bzw. nur stichwortartig erwähnt werden (wie Kielce 1946, 1968, Herbst 1979), die wiederum dem ausgangssprachigen Publikum entweder unbekannt sein dürften oder von ihm anders assoziiert werden können. Gemäß Neubert (zitiert nach Reiß 1993: 5f.) gehören literarische Texte zu den primär ausgangssprachlich gerichteten Texten, die aber je nach dem kulturellen Hintergrund potenziell für einen breiteren Leserkreis bestimmt werden können und bei denen Neubert von partieller Übersetzbarkeit ausgeht. Bei der Translation in eine andere Sprache und Kultur sowie - was damit einhergeht - für eine andere Zielgruppe ändern sich zwangsläufig die außersprachlichen Verstehensvoraussetzungen der Leser. Gemeint sind dabei nicht nur ein anderes Vorwissen und fehlende Kenntnis der breit gefassten Landeskunde, sondern beispielsweise ebenfalls eine andere Perspektive auf die gemeinsame Geschichte (s. z.B. Müller-Ott 2002: 87-93). Derartige Defizite hat der Übersetzer zu beheben, indem er entsprechende Kompensationsstrategien entwickelt und beispielsweise die zielsprachige Fassung mit zusätzlichen Erläuterungen ergänzt bzw. stellenweise modifiziert. Muszer versucht in seinen Selbstübersetzungen 76 Małgorzata Jokiel einerseits Elemente der deutschen Kultur beizubehalten, andererseits bietet er dem zielsprachigen Leser auch Zusatzerläuterungen, wie beispielsweise an der Stelle, wenn der Protagonist im Grenzdurchgangslager Friedland Urkunden erhält, deren Bezeichnungen in der polnischen Fassung des Romans zunächst im Originalwortlaut („Registrierschein“, „Vertriebenenausweis“) genannt und gleich mit polnischen Äquivalenten erklärt werden: „zaświadczenie rejestracyjne“, „dowód osobisty wypędzonego“ (Muszer 2008: 61). In einem anderen Kapitel wird auf das Autokennzeichen von Hamburg angespielt: „Dort blieb ich stehen und holte aus meinem Rucksack ein Blatt Papier mit den Buchstaben HH.“ (Muszer 1999: 129), was ohne einen ausdrücklichen Hinweis für polnische Leser nicht unbedingt verständlich sein dürfte; daher wird der zitierte Satz in der polnischen Übersetzung um den Zusatz „das Autokennzeichen von Hamburg“ (Muszer 1999: 103) ergänzt. 4 Zum Spannungsverhältnis zwischen Deutsch und Polnisch in Muszers Werken Wenn es sich um den Umgang mit der deutschen und polnischen Sprache in Muszers „Die Freiheit riecht nach Vanille handelt“, ist eine Reihe von Besonderheiten zu beobachten. Grundsätzlich wird der Roman auf Deutsch verfasst, an mehreren Stellen werden allerdings auch polnische Phrasen im Originalwortlaut zitiert. In den meisten Fällen wird der Wechsel zwischen Deutsch und Polnisch gemäß den üblichen Literatur- und Filmkonventionen nur indirekt synchronisiert bzw. metasprachlich markiert, ohne die Sprache tatsächlich zu wechseln, und beispielsweise durch folgende Formulierungen eingeleitet: Er sprach zu mir halb polnisch, halb deutsch (Muszer 1999: 63f.), murmelte ich auf polnisch (Muszer 1999: 70), dann erklärte ich in gebrochenem Polnisch (Muszer 1999: 130), Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mit meinem Vater polnisch gesprochen hatte (Muszer 1999: 138). Darüber hinaus werden die im Roman auftretenden Polen in einen breiteren, (ober)schlesischen bzw. (ost)slawischen Kontext eingebettet, 12 und zwar durch Hinweise wie: 12 Siehe auch bei Radek Knapp, einem weiteren polnischstämmigen deutsch schreibenden Autor, der seine polnische Identität in dem osteuropäischen Kontext wahrnimmt und oft Ausdrücke wie „slawische Seele“, „wir Slawen“, „Ostblock“, „Ostler“ verwendet (z.B. Knapp 1999, 2005). Zur Übersetzbarkeit interkultureller Literatur 77 Mit Händen und Füßen zu reden und die typischen Gesten der Ostslawen habe ich mir bis heute nicht abgewöhnt (Muszer 1999: 142), oder: Die Sprache, die er im Moment höchster Gefahr benutzte, verriet ihn. Er war gewissermaßen ein Landsmann von mir. Nicht, weil er auch Außerirdischer war, sondern weil er aus Oberschlesien stammte (Muszer 1999: 36). An einer Stelle, wo im Original das Polnische sowohl wörtlich zitiert wird als auch metasprachlich erscheint, entscheidet sich Muszer in der Übersetzung für eine paradoxe (? ) Lösung. Im deutschen Original (Muszer 1999: 108f.) heißt es: „Du hast dich noch nicht vorgestellt.“ „Mam na imię Sarah.“ „Wie schön für dich Sarah. Du sprichst sogar Polnisch, das ist bemerkenswert.“ „Ein paar Brocken. Ich habe Polen 1968 verlassen, da war ich gerade drei geworden. Meine Eltern sprachen zu Hause nur Polnisch, po polsku. Polnisch war also die erste Sprache, die ich einigermaßen beherrschte.“ In der polnischen Fassung lesen wir entsprechend (Muszer 2008: 88): - Jeszcze się nie zdążyłaś przedstawić. - Ich heiße Sarah - odezwała się pierwszy raz po polsku 13 [rückübersetzt: sagte sie zum ersten Mal auf Polnisch, M.J.]. - To się ciesz, Saro. I mówisz nawet po ichniemu, to godne podziwu. [Du sollst froh darüber sein, Sarah. Und du sprichtst sogar ihre Sprache, das ist bewundernswert.] - Tylko trochę - wróciła na niemiecki [wechselte sie ins Deutsche]. - Opuściłam Polskę w 1968 roku, skończyłam wtedy akurat trzy lata. Moi rodzice mówili w domu tylko po polsku. Polski był pierwszym językiem, który jako tako opanowałam. Außer den auffallenden Unterschieden im Bereich der Zeichensetzung bei der Anführung von Zitaten (Gedankenstriche statt Anführungszeichen), die auf Konventionen der jeweiligen Nationalliteratur zurückzuführen sind, wird die zielsprachige Variante um drei Sätze ergänzt (im vorangestellten Zitat kursiv markiert), welche den Wechsel zwischen den Sprachen nachvollziehbar machen sollen. Allerdings wirkt der deutsche Satz („Ich heiße Sarah“) mit dem 13 Durch Kursivierung werden in dem zitierten Dialog Hinzufügungen gegenüber dem deutschen Ausgangstext markiert, in eckigen Klammern stehen von der Verfasserin ins Deutsche rückübersetzte Zusätze. 78 Małgorzata Jokiel Kommentar: „odezwała się pierwszy raz po polsku“ (rückübersetzt: sagte sie zum ersten Mal auf Polnisch) immer noch merkwürdig und unlogisch. Das Thema der Sprachenwahl ist auch als Teil der Handlung des Romans „Gottes Homepage“, 14 der sich in der Zukunft, „im Zeitalter des Regenbogens, im Jahr des achtundachtzigsten Violetts“, als die Erde nur von wenigen echten Menschen und zunehmend von Geklonten und Hologrammen bewohnt wird, und ein Schriftsteller (Gepin) als einer der wenigen überlebenden Menschen seine Erinnerungen niederzuschreiben versucht. In diesem Zusammenhang wird er von einem Vertreter der Kulturbehörde (Dr. Multer) gefragt, welche Sprache er verwenden werde. Daraufhin entwickelt sich ein Gespräch, das als Kommentar zur Lage der Schriftsteller mit Migrationshintergrund in dem aufnehmenden Land interpretiert werden kann; zugleich werden Fragen nach dem Stellenwert einzelner Sprachen sowie sprachliche Assoziationen und Vorurteile aufgeworfen. Zu Beginn heißt es: Dr. Multer fragte mich, in welcher Sprache ich zu erzählen beabsichtige, worauf ich antwortete, ich würde immer noch auf Polnisch denken und träumen. Es sei meine erste Muttersprache, fügte ich nach einer Weile hinzu. […] Am liebsten würde ich also meine Memoiren auf Polnisch verfassen (Muszer 2007: 21f.). Dr. Multer zeigt sich allerdings mit dieser Entscheidung unzufrieden und gibt Gepin klar zu verstehen, was von ihm erwartet wird (Muszer 2007: 22): „Sie müssen eine andere Sprache verwenden, Herr Gepin“, sagte er. „Wie wäre es zum Beispiel mit Rumänisch, Skandinavisch oder … Deutsch? Ja, Deutsch klingt ausgezeichnet. Finden Sie nicht? “ „Herr Multer, ich will doch keine Gebrauchsanweisung schreiben.“ „Hat hier jemand irgendwelche Vorurteile gegenüber den Germanen und ihrer fabelhaften Sprache? Wenn ja, dann müsste ich das sofort melden.“ Am Ende des Gesprächs sagt Dr. Multer Gepin ausdrücklich seine Meinung: „Denken Sie, wie Sie wollen, auf Anglos [eine fiktive Sprache, M.J.] oder meinetwegen auf Polnisch. Doch schreiben dürfen Sie nur auf Deutsch. Ist das klar? “ (Muszer 2007: 24). Im weiteren Teil des Romans wird über die Arbeit an der Niederschrift der Erinnerungen in der deutschen Sprache berichtet, doch im Lebenskontext des Verfassers scheint dies wieder eine selbstbezogene Aussage oder gar Bekennt- 14 Aus Gründen des Umfangs wird der zweite von Muszer übersetzte eigene Roman nur am Rande erwähnt. Zur Übersetzbarkeit interkultureller Literatur 79 nis Muszers zu sein, die vielleicht seine Entscheidung für Deutsch als (zweite) Schreibsprache einigermaßen zu erklären versucht: Ein Menschenleben auf Deutsch zu verarbeiten ist keine angenehme Aufgabe, besonders wenn man kein Sprachforscher ist […] Ja, zuweilen kann ich nicht abschalten und denke in der Sprache, in der ich schreibe. Das gehört zu meiner Rolle als Schriftsteller, glaube ich (Muszer 2007: 48f.). 5 Muszer als Übersetzer von fremden Werken - Artur Beckers „Kino Muza“ Durch die Migrationsproblematik ist auch ein weiteres von Muszer übersetztes Werk geprägt: Artur Beckers Roman „Kino Muza“. Ähnlich wie Muszer gehört sein Freund Becker zu den in Deutschland lebenden polnischstämmigen Schriftstellern. Er wurde mit dem renommierten Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, mit dem herausragende deutsch schreibende Autoren geehrt werden, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist, und die ein bereichernder Umgang mit Sprache verbindet. 15 Beckers Verhältnis zum Polnischen und Deutschen kann als kompliziert und differenziert aufgefasst werden. Er bezeichnet sich selbst als „polnischen Autor deutscher Sprache“. 16 Polnisch sei seine Muttersprache, in der er seine ersten literarischen Arbeiten verfasste. Nach der Übersiedlung entschied er sich jedoch eindeutig für Deutsch als seine Literatursprache, die er „Dienstsprache“ nennt (zitiert nach Balzer 2009: 4-10). Seine private Sprachphilosophie bringt er in einem Aufsatz auf den Punkt: „Sprache als System von Zeichen existierte praktisch nicht. Ich wollte vergessen, dass ich eine Sprache benutzte, wollte nicht wissen, ob sie deutsch oder polnisch war, und das war ein neues befreiendes Gefühl“ (Becker o.J.). Nationalliteraturen hält er daher für irrsinnig. Mit seiner Familie spricht er Polnisch und ist in beiden literarischen Traditionen beheimatet, was man unter anderem an seiner zweigeteilten Bibliothek erkennt (Balzer 2009: 8). Beckers Sprachphilosophie scheint auch eine mögliche Selbstübersetzung seiner Werke 15 Zum Chamisso-Preis s. www.bosch-stiftung.de (Stand: 02.07.2014). 16 In einem Beitrag über Artur Becker, veröffentlicht auf der Website des Goethe-Instituts (www.goethe.de/ kue/ lit/ aug/ de7488893.htm, Stand: 20.06.2014) wiederholt Klaus Hübner diese Meinung: „Der Autor Artur Becker behauptet bei jeder passenden Gelegenheit, er schreibe polnische Literatur - nur eben in deutscher Sprache“ und fügt gleichzeitig hinzu: „Becker […] handhabt die deutsche Literatursprache derart virtuos, dass man ihn mit einigem Recht als deutschen Schriftsteller bezeichnen darf, und zwar als einen der besten im Lande“. 80 Małgorzata Jokiel auszuschließen. Zwei seiner Romane sind bisher auf Polnisch erschienen: „Kino Muza“ (2009) und „Wodka und Messer“ („Nóż w wódzie“, 2014), übersetzt von Joanna Demko und Magdalena Żółtowska-Sikora. „Kino Muza“ (in der polnischen Übersetzung gleichlautend) ist das erste ins Polnische übersetzte Werk Artur Beckers. 17 Der Roman spielt sich größtenteils (etwa zwei Drittel des Textumfangs) in der polnischen Heimat des Verfassers, in Bartoszyce/ Masuren, ab. Seine Handlung steht in einem engen Zusammenhang mit der polnischen Geschichte (die Zeit der Volksrepublik Polen). Die Übersetzung ins Polnische wird somit zu einer Quasi-Rückübersetzung: Bei der Lektüre der deutschen Originalfassung entsteht der Eindruck, als ob wir es mit einem im Kopf des Autors ursprünglich auf Polnisch entstandenen Text zu tun hätten, der zunächst in der deutschen Sprache niedergeschrieben wurde, um schließlich von einem Landsmann des Verfassers und ebenfalls Schriftsteller (Dariusz Muszer) ins Polnische rückübersetzt zu werden. Der implizite Empfänger des Romans ist eindeutig ein deutscher Leser. Dies lässt sich z.B. an zahlreichen Erläuterungen und Kommentaren zu polnischen Realien deutlich erkennen: Die ZOMO war die Spezialeinheit der Miliz (Becker 2003: 41). Vor dem Geschäft mit Westwaren, dem PEWEX, lauerten immer zwei, drei junge Männer auf Kunden (Becker 2003: 183). An der Weichsel und in Bartoszyce sagte man: mit der Zunge am Hals (Becker 2003: 293) Plakate und Schilder mit Parolen der PZPR, der Arbeiterpartei (Becker 2003: 136). Marian schloss ihnen auf und sprang sie an - mit offenen Armen und nassen Küssen, nach alter polnischer Sitte (Becker 2003: 267). Die Landschaften, Realien, Sitten und Verhaltensmuster der Helden müssen dem polnischen Rezipienten bekannt vorkommen. Im Gegensatz zu der Übersetzung von „Die Freiheit riecht nach Vanille“ könnten bei „Kino Muza“ manche im Original berechtigterweise enthaltenen Erläuterungen auf Grund des Adressatenwechsels und der damit einhergehenden Redundanz für polnischsprachige Leser ausgelassen werden. Dies kommt jedoch kaum vor; was dadurch erklärt werden kann, dass bestimmte Umstände der polnischen Nachkriegsgeschichte auch manchen polnischen Lesern, insbesondere denjenigen, die nach der Wende geboren sind, unbekannt sein dürften. Anderseits ist zu vermuten, dass sich der Übersetzer nicht berechtigt fühlte, derartige Kürzungen vorzunehmen. Und lediglich diese Zusätze könnten ein Hinweis darauf sein, dass wir es hier mit einer Übersetzung zu tun haben. Die polnische Fas- 17 Das deutsche Original erschien 2003, die polnische Übersetzung 2008 in der Reihe „Remigracje“ des Borussia-Verlags in Olsztyn. Zur Übersetzbarkeit interkultureller Literatur 81 sung liest sich sonst wie ein Original in polnischer Sprache, zumal der Übersetzer auch im stilistischen Bereich eine weit gehende „Analogie der künstlerischen Gestaltung“ zu schaffen vermochte. Die polnische Sprache ist im Original nur symbolisch präsent - einzelne Wörter (darunter Schimpfwörter), Anreden (pani, pan, panowie [Frau/ Herr/ Herren] - im Buch kursiv hervorgehoben), Eigennamen (von Personen: Gienek Pajło, Zbyszek Muracki, August Kuglowski, sowie von Institutionen: PKO, PZPR, Solidarność), Zitate (z.B. aus Liedern: Chciałbym być sobą), die die Handlung glaubwürdig machen, ohne den deutschsprachigen Leser zu irritieren. Besonders hervorgehoben werden polnische Marken (Autos: Tarpan, Polonez, Polski Fiat, Jelcz, Komar; Wodka: Bałtycka). Wie bei Muszer wird auch in „ Kino Muza“ der Sprachwechsel in den meisten Fällen nur konventionell angedeutet („sprach sie weiter auf Polnisch“ usw.). Auf Grund der Ausreise des Protagonisten spielt die Handlung des fünften und sechsten Buches des Romans in Deutschland. Im Hinblick auf den Translationsprozess hat es zufolge, das sich somit die Verstehensvoraussetzungen ändern und die polnischen Realien durch fremdkulturelle ersetzt werden. 18 6 Schlussfolgerungen Laut der Polysystem-Theorie von Even-Zohar 19 erfolgt die Auswahl der zu übersetzenden Texte gemäß den spezifischen Bedürfnissen der aufnehmenden Literatur. Diese stehen allerdings in einem engen Zusammenhang mit jeweils aktuellen Themen, Trends, Genres. Als weitere Einflussfaktoren, die über die Veröffentlichung einer literarischen Übersetzung entscheiden, sind die Verlagspolitik 20 sowie in- und ausländische Kulturförderung zu nennen. 21 Die in den zwei letzten Jahren veröffentlichten Übersetzungen deutschsprachiger Prosa polnischstämmiger Autoren (Muszer 2013, Becker 2014) scheinen ein Indiz für zu- 18 In diesem Zusammenhang empfiehlt sich eine ausführlichere vergleichende Analyse des Ausgangstextes mit dem Zieltext auf der lexikalischen Ebene. Dies würde jedoch den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 19 Nach Prunč (2012: 235-239). 20 Beispielsweise durch die Einrichtung einer Reihe wie „Remigracje“ des Borussia- Verlags in Olsztyn. 21 Die Veröffentlichung aller drei in diesem Beitrag erwähnten Werke wurde vom Goethe-Institut gefördert; im Fall von „Kino Muza“ kamen darüber hinaus Mittel der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, des Deutschen Generalkonsulats Danzig sowie der Georg und Maria Dietrich Stiftung (Offenburg) hinzu. 82 Małgorzata Jokiel nehmendes Interesse an der so genannten interkulturellen Literatur in Polen zu sein. Übersetzte Literatur kann grundsätzlich entweder das zielkulturelle literarische System unterstützen oder aber neue Impulse, Ideen, ästhetische wie sprachliche Konzepte in die jeweilige Nationalliteratur einführen (Prunč 2012: 238). Dieses Prinzip lässt sich allerdings auf übersetzte Texte der Schriftsteller mit Migrationshintergrund kaum anwenden, da ihre Werke meistens zwischen zwei Literatur- und Sprachsystemen stehen und sowohl der muttersprachlichen als auch der deutschen Literatur zugeordnet werden können, was Artur Becker mit seiner Skepsis gegenüber dem Begriff ‚Nationalliteratur‘ prägnant zum Ausdruck bringt (Becker o.J.). Während sich also Muszers und Beckers Originalwerke innerhalb des Systems der deutschen Sprache und Literatur befinden, wird ihren Übersetzungen immer noch eine periphere Bedeutung für die polnische Nationalliteratur beigemessen. Sowohl den Äußerungen (Becker) als auch den literarisch verarbeiteten Geschichten (Muszer) der genannten polnischstämmigen Autoren lässt sich entnehmen, dass ihnen die Entscheidung für Deutsch als Literatursprache keinesfalls leicht gefallen ist. Dariusz Muszer, der bereits vor seiner Ausreise als Autor auf Polnisch debütierte, setzt seine literarischen Tätigkeiten parallel in beiden Sprachen fort. Artur Becker, der als Jugendlicher Polen verließ, schreibt hingegen konsequent Deutsch. Die erwähnten deutschsprachigen Werke polnischstämmiger Autoren bieten keine unüberwindbaren translationsrelevanten Probleme, zumal wenn sie die polnische Wirklichkeit darstellen und von ihrem Verfasser selbst ins Polnische übersetzt werden. Potenzielle Schwierigkeiten ergeben sich eventuell aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem Deutschen und Polnischen sowie aus dem Umgang mit fremdkulturellen Realien. Bei der Übersetzung der eigenen Werke ins Polnische genießt Dariusz Muszer eine größere translatorische Freiheit, was sich in einer Reihe von kleinen Hinzufügungen und weiteren Modifizierungen beobachten lässt. Muszers Translation des Romans von Artur Becker steht dem Original näher, der Übersetzer verzichtet auf eine funktional-adressaten-orientierte Anpassung bei der Darstellung polnischer Realien für zielsprachige Leser. 7 Literatur Amodeo, Immacolata (1996): ‚Die Heimat heißt Babylon‘. Zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen. Apel Friedman/ Kopetzki, Annette (2003): Literarische Übersetzung. Stuttgart. Zur Übersetzbarkeit interkultureller Literatur 83 Balzer, Vladimir (2009): Die deutsche Sprache als Geliebte. In: Chamisso. Viele Kulturen - eine Sprache, hrsg. von der Robert-Bosch-Stiftung, März - Mai, S. 4-10. Bürger-Koftis, Michaela (Hrsg.) (2008): Eine Sprache. Viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutschsprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien. Henseler, Daniel/ Makarska, Renata (Hrsg.) (2013): Polnische Literatur in Bewegung. Bielefeld. Hoff, Karin (Hrsg.) 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Im vorliegenden Beitrag werden diese Zusammenhänge insbesondere an drei Texten: „Jäger Gracchus“, „Beim Bau der chinesischen Mauer“ und „Ein altes Blatt“ untersucht. Dabei zeigt sich, dass das an sich paradoxe Konzept nomadischer Schriftlichkeit bei Kafka eine Transition zwischen Visualität und Akustik sowie einen Übergang zwischen schriftlicher und mündlicher Referenzialität impliziert, der freilich im literarischen Endprodukt nicht eingelöst, sondern im Werk, im Text zuletzt wieder in Schriftlichkeit überführt wird, allerdings in eine fragmentierte Schriftlichkeit. Auch darin ist Kafkas Schreiben paradox. Die grundsätzlich antinomadischen Bauwerke der Texte generieren Nomadismen, die aus den Zentren der Ordnung und der Macht hinausführen in die Peripherie, in eine liminale Zone auch medialer Übergänge zwischen visuellem und akustischem Geschehen, zwischen skripturaler und oraler Referenz wie zwischen dem Absender der literarisch-medialen Botschaft, der schon lange tot ist, und dem Empfänger dieser Botschaft, dem Leser, der sie nie erhält. Der Bote kommt nicht an. 1 Einleitung In der deutschsprachigen Literaturgeschichte Mitteleuropas nimmt das Werk Franz Kafkas unbestritten einen zentralen Platz ein. Als Prager deutscher Autor und als Erbe der alten K.-u.-k.-Monarchie im Moment ihres historischen Zusammenbruchs wirkt Kafka gleichzeitig an der drei- oder vierfachen Peripherie, die das Schreiben als Deutschsprachiger und als Jude im Prag zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutet, an einer kulturellen und geographischen Schnittstelle (Bauer 1971: 10f.), in einer insularen Volks- und Sprachenklave (Goldstücker 1996: 8f.), 1 aber auch am Rand einer Epoche. Das Thema interkultureller Zentren und Peripherien sowie des Insularen, der „Sprachinseln“ in Mitteleuropa durchzieht also schon von der Ausgangssituation her das Schreiben Kafkas. 1 Vergleiche auch Bauer (1971: 11). Im weiteren Zusammenhang zu Kafka und Prag: Salfellner (1998); Krolop/ Zimmermann (1994). 86 Achim Küpper Deleuze und Guattari (1975) erklären Kafkas Schaffen zum Idealbild dessen, was sie als eine ‚kleine‘ oder ‚minoritäre‘ Literatur bezeichnen. Darunter verstehen sie eine Literatur, die eine Minderheit in einer großen oder majoritären Sprache schafft (29) und deren Hauptcharakteristika Deterritorialisierung, politische Affektion und kollektive Aussagekraft seien (33). Die Idee des Minoritären bzw. Peripheren steht bei Deleuze und Guattari in Zusammenhang mit der Vorstellung des Nomadischen. Eine minoritäre Literatur zu schaffen bedeutet für sie, zum Nomaden, zum Immigranten, zum Zigeuner seiner eigenen Sprache zu werden (35). Kafkas singuläres und solitäres Schreiben heißt für Deleuze und Guattari, die Sprache langsam, fortschreitend in die Wüste zu führen (47f.). Manche Texte Kafkas führen tatsächlich in die Wüste, wie „Schakale und Araber“, manche in eine Eiswüste, wie „Der Kübelreiter“ oder das Ende von „Ein Landarzt“, alle in den Wintermonaten 1916/ 1917 entstanden. Hier soll es darum gehen, das Nomadische als Bildarchiv und zugleich als (Schreib-)Konzept, d.h. als konkretes Figuren- oder Motivfeld und als davon abstrahiertes Text-Paradigma in Kafkas Werk aufzuzeigen und mit einer Analyse visueller und akustischer Konfigurationen in den Texten zu verbinden. Das Nomadische erscheint also einerseits als Handlungselement, andererseits als literarisches Prinzip in einer selbstreflexiven Dimension des Werks. Immer wird der Ursprung des Nomadischen in einem geopolitischen Zentrum- Peripherie-Gefüge am Rand verortet. Auf einer medienreflexiven Ebene bezeichnet gerade die implizite Transition zwischen Visualität und Akustik den Raum nomadischer Bewegungen als einen werkinternen Übergang im Zwischenbereich der Medien. Mit den medialen Kategorien verbinden sich entsprechende Vermittlungssysteme: Schriftliche Kommunikation verläuft über visuelle, mündliche Kommunikation über akustische Kanäle. Nomadische Schrift stellt dabei insofern ein Paradox dar, als Schriftlichkeit grundsätzlich der Fixierung, der Festlegung, dem Festhalten dient und damit prinzipiell antinomadische Impulse hat, im Gegensatz etwa zur verhallenden Stimme der Mündlichkeit, die der „Wiedererkennbarkeit von Sinn […] widerspricht“ und in der die „Möglichkeiten des Aufbewahrens und Erinnerns […] beschränkt“ sind (Luhmann 1998: 251). Bei Kafka wird der antinomadische Status der Schrift aufgebrochen in der textinternen, impliziten Transition zwischen Visualität und Akustik, Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Zuletzt wird dieses Gesamtkonstrukt aber wiederum schriftlich, nämlich im literarischen Werk, vermittelt. Auch darin ist Kafkas Schreiben paradox. Aus produktionsspezifischer wie aus editionsphilologischer Sicht ließe sich das Paradigma des Nomadischen, verstanden als das Nichtfixierte bzw. das Nichtfixierbare, auch auf den konstitutiven Fragmentstatus von Kafkas Werk ausweiten: etwa auf den „durch und durch fragmentarische[n] Charakter des Franz Kafka, die Schrift und das Nomadische 87 Nachlasses“ (Reuß 1995: 16) oder auch auf die „in Kafkas Nachlaß häufigen internen Manuskriptwanderungen“ (Reuß 1995: 17). In einer Tagebucheintragung vom 12. Januar 1911 vermerkt Kafka zum Problem der schriftlichen Fixierung: Ich habe vieles in diesen Tagen über mich nicht aufgeschrieben, […] endgiltig durch Aufschreiben fixiert, dürfte eine Selbsterkenntnis nur dann werden, wenn dies in größter Vollständigkeit bis in alle nebensächlichen Konsequenzen hinein sowie mit gänzlicher Wahrhaftigkeit geschehen könnte. Denn geschieht dies nicht - und ich bin dessen jedenfalls nicht fähig - dann ersetzt das Aufgeschriebene nach eigener Absicht und mit der Übermacht des Fixierten das bloß allgemein Gefühlte nur in der Weise, daß das richtige Gefühl schwindet, während die Wertlosigkeit des Notierten zu spät erkannt wird (T 143). 2 Auch in diesem Sinn kann Kafkas fragmentarisches und in vielfacher Hinsicht nichtfixiertes Werk als ‚nomadisch‘ bezeichnet werden. Es entzieht sich der letzten Festlegung durch die Schrift, der Sesshaftigkeit des Zu-Ende-Geschriebenen. Der Begriff des Nomadischen eröffnet damit eine auch produktionsästhetische Kategorie, 3 die hier jedoch allererst durch eine textorientierte Analyse fundiert und abgesichert werden soll. Grundlage der hier vorgenommenen Untersuchungen bilden drei Texte, in denen konkrete Figuren bzw. Figurationen der Wanderung und des Nomadischen als werkimmanente Verankerungen des abstrakten Denkmodells des Nomadismus zu beobachten sind: die Textbruchstücke um den „Jäger Gracchus“, das Fragment „Beim Bau der chinesischen Mauer“ sowie die Erzählung „Ein altes Blatt“. Die drei Texte sind allesamt in Kafkas produktiver Schaffensphase im Winter/ Frühjahr 1916/ 1917 (dazu Neumann 1979) entstanden, sie finden sich in den so genannten Oktavheften B bis D. Während es sich bei der Titelfigur des 2 Alle Texte Kafkas, die Selbstzeugnisse wie die literarischen Werke, werden hier aus Gründen der Zugänglichkeit nach der Kritischen Kafka-Ausgabe (KKA) zitiert, im Text durch Siglen ausgewiesen und die entsprechenden Bände im Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt. Es gelten dabei die folgenden Siglen: T = Tagbücher; NSF I = Nachgelassene Schriften und Fragmente I; NSF I, App. = Nachgelassene Schriften und Fragmente I, Apparatband. Für eine historisch-kritische Edition der hier behandelten literarischen Werke (Faksimiles der Handschriften mit diplomatischer Transkription) s. die Ausgaben der Oxforder Oktavhefte 2 (Kafka 2006) und 3 (Kafka 2008). 3 Eine andere, wohl eher linguistisch orientierte Kategorie scheint dagegen Wagner (2007) im Blick zu haben, wenn er bei Kafka eine „Kreuzung von administrativen und nomadischen Schreibverfahren“ (117) sieht, was aber lediglich mit dem Verweis auf „seine nomadisierenden, alle Sektoren des Lebens, der Technik, der Gesellschaft und der Kultur durchstreifenden Bild-Chiffren“ (126) expliziert wird. 88 Achim Küpper „Jäger Gracchus“ um einen Nomaden im übertragenen Sinne, nämlich um einen zu endloser Wanderschaft Verdammten, handelt, tauchen in „Beim Bau der chinesischen Mauer“ und „Ein altes Blatt“ Nomaden im eigentlichen, wörtlichen Sinne auf. 2 „Jäger Gracchus“ Kommen wir zunächst zu den aus dem Nachlass veröffentlichten Erzählfragmenten um den „Jäger Gracchus“, die Kafka Ende Dezember 1916 in den Oktavheften B und D festgehalten hat. 4 Es geht hier im Wesentlichen um fünf Fragmente, auch wenn sich der „Gracchus“-Komplex inhaltlich noch weiter ausdehnen ließe. 5 Die Fragmente weisen heterogene Formen auf, lassen sich mit Haase (1978) aber auch als zusammenhängendes Themen- und Motivgeflecht verstehen. Die Titelfigur dieser Textstücke ist zu einer nomadischen Existenz verdammt, die zwischen Leben und Tod ihren Ort nicht findet. Vor fünfzehnhundert Jahren ist der Jäger Gracchus gestorben, kann aber seitdem nicht ins Jenseits eingehen. 6 Im ersten Fragment erzählt Gracchus, wie sein „Todeskahn […] die Fahrt […] verfehlte“, weshalb er „auf der Erde blieb und […] seither die irdischen Gewässer befährt“ (NSF I: 309): „So reise ich“, sagt er, „nach meinem Tode durch alle Länder der Erde“ (NSF I: 309). Der Jäger ist damit zu einem ewigen Nomadisieren in einer Art Transitraum zwischen Diesseits und Jenseits verurteilt; „auf der großen Treppe die hinaufführt“ sei er „immer in Bewegung“ (NSF I: 309). Anders als die nomadische Wanderung im ursprünglichen ethnologischen Sinne folgt Gracchus’ moderne Existenzreise einer unkontrollierbaren Bewegung; er meint: „Mein Kahn ist ohne Steuer, er fährt mit dem Wind der in den untersten Regionen des Todes bläst“ (NSF I: 311). „Schuld“ trage er selbst an der Situation ausdrücklich „[k]eine“ (NSF I: 310). Doch erfahren wir von Gracchus auch, dass er „als Jäger im Schwarzwald […] [a]ufgestellt“ war, „wo es damals noch Wölfe gab“ (NSF I: 310), dass er aber „von einem Felsen […] stürzte“, als er „eine Gemse verfolgte“ (NSF I: 309). Das erinnert unter anderem an die schuldhafte Tötung des Albatros durch den zu endloser Wanderschaft 4 Grundlegendes zum Text, Datierung, Lokalisierung des Geschehens, Deutungsaspekte liefert Binder (1971). 5 Der Text „Auf dem Dachboden“ aus Kafkas Oktavheft A lässt sich als eine Vorstudie zum „Jäger Gracchus“ ansehen. Krock (1974: 51-56) rechnet insgesamt 15 Fragmente zum „Gracchus“-Themenkreis. 6 In dieser Erzählung gerät damit „selbst die Ordnung des Todes […] aus den Fugen“ (Nägele 1974: 61). Franz Kafka, die Schrift und das Nomadische 89 verdammten Seemann in Samuel Taylor Coleridges 1798 erschienener Ballade „The Rime of the Ancient Mariner“. 7 Aufgrund solcher Motive hat Frank (1979: 22) den „Jäger Gracchus“ in die „Tradition des Fliegenden Holländers“ gestellt. Zugleich zeigt sich aber noch ein anderer Zug an Kafkas Text, der sich mit dem nomadischen Themenzusammenhang verbindet, und zwar die visuelle Dimension der Erzählfragmente und ihre implizite mediale Zirkulation oder Transition zwischen Text und Bild. Bei der Beschreibung seiner Kajüte, in der er „auf einer Holzpritsche“ liegt (NSF I: 312), sagt der Jäger: „Auf der Wand mir gegenüber ist ein kleines Bild, ein Buschmann offenbar, der mit einem Speer nach mir zielt und hinter einem großartig bemalten Schild sich möglichst deckt“ (NSF I: 312). Dieses Bild schafft nicht nur mit der Evokation des „Buschmann[s]“ einen kolonialen Kontext (vgl. etwa Frank 1979: 24), es stellt zugleich eine Spiegelung der Geschichte des Jägers Gracchus selbst dar: Wie er ist auch der „Buschmann“ ein Jagender, der eine Waffe trägt; wie Gracchus bei seinem Jagddienst „lauerte“ (NSF I: 310), so „deckt“ sich der Buschmann hinter einem „bemalten Schild“ (NSF I: 312), der als Kunstobjekt seinerseits eine heraldische Mise en abyme eines Gemäldes im Gemälde bildet, so wie das Bild in der Kajüte eine visuelle Mise en abyme der Geschichte in der Geschichte darstellt. Deutet man die Jagd auf die Gemse als Gracchus’ Urschuld, dann ließe sich außerdem eine seiner früheren rätselhaften Bemerkungen auf diesen Fehler münzen und auf das Bild an seiner Wand beziehen; Gracchus sagt: „Der Grundfehler meines einstmaligen Sterbens umgrinst mich in meiner Kajüte“ (NSF I: 309f.). Auch in diesem Sinne „zielt“ der Buschmann des Bildes auf den Jäger (NSF I: 312): Er ist sein gemaltes Alter Ego, das „kleine […] Bild“ (NSF I: 312), die visuelle Miniatur der Erzählung und der verdeckten Schuld des Jägers. Die visuelle Komponente beschränkt sich aber nicht allein auf das Bild an Gracchus’ Wand, sie geht zugleich in das narrative Verfahren und die Textkonstruktion über. Den Auftakt der Erzählung bildet eine sprachlich vermittelte Aneinanderreihung visueller Einzelbilder, die hier als ‚optische Parataxen‘ bezeichnet und an den ersten Sätzen des Textes belegt werden sollen. Das verbindet sich zugleich mit dem, was Alt (2009: 145-159) als Kafkas „Stereoskopisches Sehen“ charakterisiert, und könnte auch mit Kafkas Interesse für den frühen Kinematographen (dazu Zischler 1996) in Zusammenhang gebracht werden. Der Anfang der Geschichte wirkt, als beschreibe ein Beobachter, eigentümlicherweise im Präteritum, was er sieht bzw. sah, ohne einen narrativen oder kausallogischen Zusammenhang zwischen den Einzelbildern herzustellen. Der Beginn des „Jäger Gracchus“ lautet: 7 Andere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Texten stellt Krock (1974: 51) heraus. 90 Achim Küpper Zwei Knaben saßen auf der Quaimauer und spielten Würfel. Ein Mann las eine Zeitung auf den Stufen eines Denkmals im Schatten des säbelschwingenden Helden. Ein Mädchen am Brunnen füllte Wasser in ihre Bütte. Ein Obstverkäufer lag neben seiner Ware und blickte auf den See hinaus. In der Tiefe einer Kneipe sah man durch die leeren Tür- und Fensterlöcher zwei Männer beim Wein. Der Wirt saß vorn auf einem Tisch und schlummerte. Eine Barke schwebte leise als werde sie über dem Wasser getragen in den kleinen Hafen (NSF I: 305). Dieser Textanfang gleicht einer Bildbeschreibung, die in einem seriellen Verfahren optische Segmente als erstarrte Einzelbilder aneinanderreiht und zu einem fragmentierten Panorama versammelt. Zudem fällt eine Akkumulation von Verben des Sehens auf. Zwei Elemente aus dieser Eingangsschilderung erhalten dabei zusätzlich poetologische Bedeutung: erstens die „Würfel“, mit denen die „Knaben“ spielen und die zugleich die Zergliederung und Zerwürfelung als poetologische Verfahren des Textes spiegeln; zweitens die „leeren Tür- und Fensterlöcher“, durch die man „zwei Männer beim Wein“ sieht und die als visuelle Öffnungen fungieren; es sind Sichtluken aus der narrativen Welt in eine dahinter geschichtete Bildrealität, die später wiederkehren und sich in Form multipler visueller Rahmungen in der Erzählung serialisieren. Exemplarisch zeigt sich dies an dem „Fenster“, das etwas weiter im Text ein „kleiner Junge öffnet“ und „wieder eilig“ schließt, nachdem er gesehen hat, „wie der Trupp im Haus verschwand“ (NSF I: 306). „Auch das Tor“, heißt es dort, „wurde nun geschlossen“ (NSF I: 306). Blicke werden in der Erzählung eröffnet und versperrt. Das Fenster reproduziert sich, der textinternen Logik der Serialisierung folgend, im späteren Motiv der „Luke“, das Gracchus bei der Beschreibung seiner Barke evoziert und das eine Öffnung an der Seite seines „Holzkäfig[s]“ bildet (NSF I: 312). Allerdings hat die Öffnung inzwischen ihre mediale Funktion verändert, sie dient nun nicht mehr dem Einblick in ein optisches Geschehen, sondern der Vermittlung einer akustischen Wirklichkeit. Durch die Luke dringt eine nächtliche Klangwelt zu Gracchus in die Barke. Im vierten Fragment sagt er: „Durch eine Luke der Seitenwand kommt die warme Luft der südlichen Nacht und ich höre das Wasser an die alte Barke schlagen“ (NSF I: 312). Dieser Übergang von Visualität zu Akustik lässt zugleich an Deleuzes und Guattaris allgemeinere Entgegensetzung eines sonoren Blocks und einer visuellen Erinnerung bei Kafka denken (1975: 10). Im Horizont dieses Wandels hin zur Akustik erhält auch der im Oktavheft zwischen das erste und zweite „Gracchus“-Fragment eingestreute Textfetzen mit der Anfangszeile „Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich“ eine neue Dimension; er steht mit der Konzentration auf die akustische Ebene in Relation zu den umgebenden Textstücken des „Jäger Gracchus“: Franz Kafka, die Schrift und das Nomadische 91 Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich. Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen. Wenn einer schnell geht und man hinhorcht, etwa in der Nacht wenn alles ringsherum still ist, so hört man z.B. das Scheppern eines nicht genug befestigten Wandspiegels oder der Schirm (NSF I: 310). Blicken wir zurück auf den „Jäger Gracchus“, so hat sich in Einklang mit der medialen Transition der Luke seit dem Textanfang auch auf sprachlicher Ebene die mediale Referenz gewandelt: Dominieren zu Beginn Wortfelder der Visualität - „blickte“ (NSF I: 305), „sah“ (NSF I: 305), „zeigte“ (NSF I: 306), „schien“ (NSF I: 308), „sieh“ (NSF I: 308), „sehn“ (NSF I: 309), „offenbar“ (NSF I: 306), „scheinbar“ (NSF I: 307), „sichtbar“ (NSF I: 308), „Anblick“ (NSF I: 307), auch die „Augen“ (NSF I: 307f.) -, so multiplizieren sich ab der zweiten Hälfte des ersten Fragments Begriffe aus dem Bereich der Akustik: „sagte“ (sechsmal NSF I: 308f.), „rief“ (NSF I: 308), „antwortete“ (dreimal NSF I: 308f.) usw. Dieser immanente mediale Wandel zwischen Visualität und Sonorität wie zwischen Bild und gesprochenem Wort wird auch textformal umgesetzt, indem die direkte Rede an Gewicht gewinnt und das letzte der fünf Fragmente ganz die Form eines Dialogprotokolls annimmt. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: So wie Gracchus zur rastlosen Reise in einem Übergangsbereich zwischen Leben und Tod gezwungen ist, so nomadisieren auch die Erzählfragmente figurativ in einem Transitraum, sie bewegen sich unterschwellig in einer liminalen Zone zwischen Akustik und Visualität. Die Thematik der Wanderschaft verlängert sich dadurch bis in die Medialität des Texts hinein. Der Nomade Gracchus ist auch eine Repräsentation des Autors. Der Protagonist ist nämlich zugleich ein Schreibender. Zu Beginn des vierten Fragments notiert der Jäger: „Niemand wird lesen, was ich hier schreibe; niemand wird kommen, mir zu helfen“ (NSF I: 311). In der Überblendung von rastlosem Wanderer und Schreibendem artikuliert sich nicht allein die Selbstreflexivität einer „Schrift als Bewegung“, wie sie Kremer (1989: 153-157) genereller in Bezug auf Kafka formuliert. In der Figur des Gracchus ist zugleich eine konkrete Autorkonfiguration im Text entworfen. Der Name Gracchus lässt sich bekanntermaßen auf das lateinische graculus bzw. das italienische gracchio beziehen, beide bezeichnen die Vogelart der „Dohle“, die wiederum die deutsche Entsprechung des tschechischen Vogelnamens kavka bildet. 8 Wegen der lautlichen Ähnlichkeit hatte Kafkas Vater Hermann eine Dohle zum Emblem seines geschäftlichen Briefpapiers erkoren. 9 Im Bild des Gracchus überlagern sich damit para- 8 Zu diesen Verbindungen auch Jahraus (2006: 364f.). 9 Eine Abbildung des Briefemblems, in zwei verschiedenen Varianten, findet sich bei Neumann (2002: 317). 92 Achim Küpper doxerweise eine paternal verwurzelte und eine nomadische, vogelhaft entwurzelte Ikonographie des Schriftstellers. 3 „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ Während es sich bei der „Gracchus“-Gestalt um eine nomadische Existenz im figurativen Sinne handelt, geht es in einem anderen Text Kafkas um Nomaden im ursprünglichen, wörtlichen Sinne, und zwar in Kafkas Erzählfragment „Beim Bau der chinesischen Mauer“, das wohl gegen Ende März 1917 entstanden, im Oktavheft C niedergeschrieben und zu Lebzeiten als solches nicht publiziert worden ist. In dem Text berichtet ein Ich-Erzähler von der Errichtung der chinesischen Mauer, die „zum Schutz gegen die Nordvölker gedacht“ ist, gegen die „Nomaden“ (NSF I: 338), die „mit unbegreiflicher Schnelligkeit wie Heuschrecken ihre Wohnsitze wechsel[n]“ (NSF I: 339). Allerdings bietet diese Mauer keinen ausreichenden Schutz vor den Nomaden, da man bei ihrer Errichtung einem „System des Teilbaues“ folgt (NSF I: 337), nach dem jeweils nur einzelne Fragmente fertiggestellt und aneinandergeschlossen werden sollen: Natürlich entstanden auf diese Weise viele große Lücken, die erst nach und nach langsam ausgefüllt wurden […]. Ja es soll Lücken geben, die überhaupt nicht verbaut worden sind, nach manchen sind sie weit größer als die erbauten Teile […]. Wie kann aber eine Mauer schützen die nicht zusammenhängend ist. Ja eine solche Mauer kann nicht nur nicht schützen, der Bau selbst ist in fortwährender Gefahr. Diese in öder Gegend verlassen stehenden Mauerteile können ja immer wieder leicht von den Nomaden zerstört werden (NSF I: 338). Dieses architektonische „System des Teilbaus“ (NSF I: 341), das lediglich einzelne, teils unverbundene Fragmente nebeneinanderreiht, lässt sich zugleich mit der schriftstellerischen Arbeitspraxis des Autors und seinem fragmentarischen Gesamtwerk in Verbindung setzen. Tatsächlich bietet der im Text beschriebene Mauerbau ein selbstreflexives Äquivalent von Kafkas eigenem literarischen Schreibprozess (vgl. etwa Schütterle 2002: bes. 140-151) bzw. eine werkinterne Spiegelung der Textkonstruktion des Mauer-Fragments an sich und seines teils verwinkelten, verschachtelten Satzbaus (Heinemann 1994). Die Erzählung schafft ein machtkonstellatives Oppositionsfeld zwischen der Bedrohung von außen durch die Nomaden und den „Anordnungen der obersten Führerschaft“ (NSF I: 344). Damit stellt der Text den Konflikt zwischen Nomadismus und Staatsordnung in eine Konstellation von Peripherie und politischem Machtzentrum. Die Arbeitskräfte, die an dem Bau, an der Umsetzung der „Pläne“ zu dem großen „Werk“ (NSF I: 344) beteiligt sind, werden zum ei- Franz Kafka, die Schrift und das Nomadische 93 nen angetrieben von patriotischer, völkischer Aufbruchssehnsucht: „Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein Reigen des Volkes“ (NSF I: 342) im Bann der „Führerschaft“ (NSF I: 345). Zum anderen zeigt das Volk der Arbeiter und Tagelöhner gleichzeitig deutliche subversive Potentiale, etwa in dem in der Erzählerrede artikulierten Gedanken, „über das Kaisertum […] zuerst das Volk [zu] befragen“ (NSF I: 349), oder in der heimlich-spöttischen Reaktion der Dorfbewohner auf die „Forderungen“ und „langen Ermahnungen“ des „kaiserliche[n] Beamte[n]“ vor der „herbeigetriebene[n] Gemeinde“: „dann geht ein Lächeln über alle Gesichter. Einer blickt verstohlen zum andern, man beugt sich zu den Kindern herab, um sich vom Beamten nicht beobachten zu lassen“ (NSF I: 353). So werden die Arbeitskräfte beim Bau der Mauer auch ihrerseits wieder zu Nomaden: „[W]ie ewig hoffende Kinder nahmen sie von der Heimat Abschied, die Lust wieder am Volkswerk zu arbeiten wurde unbezwinglich, sie reisten früher von zuhause fort als es nötig gewesen wäre“ (NSF I: 342). In Analogie dazu ähnelt der Bericht des Erzählers selbst mit seiner Mischung verschiedenster Themen und Redeformen einem „Nomadentum im Reich der Diskurse“ (Kittler 1985: 73). Als prinzipiell antinomadisches Bauwerk generiert die Mauer zugleich Instabilitäten, Unbeständigkeiten, Nomadismen. Ähnliches gilt, in nochmaliger reflexiver Spiegelung, für Franz Kafkas fragmentarisches Œuvre. Als Grund für das architektonische System des Teilbaus wird im Text die enorme historische Dimension unter nomadisierenden Arbeitsbedingungen in der Fremde angegeben: „Die Mauer sollte ein Schutz für die Jahrhunderte werden“ (NSF I: 339), aber für die untern, geistig weit über ihrer äußerlich kleinen Aufgabe stehenden Männer mußte anders vorgesorgt werden. Man konnte sie nicht z.B. in einer unbewohnten Gebirgsgegend, hunderte Meilen von ihrer Heimat, monate- oder gar jahrelang Mauerstein an Mauerstein fügen lassen; die Hoffnungslosigkeit solcher fleißigen aber selbst in einem langen Menschenleben nicht zum Ziele führenden Arbeit hätte sie verzweifelt und vor allem wertloser für die Arbeit gemacht. Deshalb wählte man das System des Teilbaus, fünfhundert Meter Mauer konnten etwa in fünf Tagen fertiggestellt werden (NSF I: 341). Erneut erscheint hier also das Nomadische als Prisma einer literarischen Selbstreflexion in Kafkas Werk. Die mit dem literarischen Œuvre parallelisierte Mauer ist ein in seiner Idee und Anlage antinomadisches Bauwerk, das aber selbst Nomadismen generiert und durch seine Fragmentarität und Instabilität seinerseits auch Nomaden anzieht. Dabei werden die Nomaden aus dem Norden zu einem Feindbild erklärt bzw. verklärt, das die Bevölkerung nach Aussage des Erzählers nicht aus eigener Anschauung oder Erfahrung, sondern lediglich über die Vermittlung durch 94 Achim Küpper zwei Mediensysteme kennt, nämlich durch die Schrift (Bücher) und durch das Bild. Abgesehen davon, dass sich auch die teils bandwurmartig langen Sätze dieser Erzählung mit dem in ihm beschriebenen architektonischen Bauwerk der sich lang schlängelnden „große[n] Mauer“, also Textform und Textinhalt, Satzbau und Satzreferenz, in Parallele zueinander setzen ließen, 10 ist in der medialen Konstellation des Texts mit den Vermittlungssystemen Schrift und Bild erneut die Ebene der Visualität, wie sie auch als Ausgangspunkt, als Anfangssituation im medialen Spannungsfeld des „Jäger Gracchus“ bekannt ist, zunächst besonders exponiert: Gegen wen sollte die große Mauer schützen? Gegen die Nordvölker. Ich stamme aus dem südöstlichen China. Kein Nordvolk kann uns dort bedrohn. Wir lesen von ihnen in den Büchern der Alten, die Grausamkeiten, die sie ihrer Natur gemäß begehn, machen uns aufseufzen in unserer friedlichen Laube, auf den wahrheitsgetreuen Bildern der Künstler sehen wir diese Gesichter der Verdammnis, die aufgerissenen Mäuler, die mit hoch zugespitzten Zähnen bedeckten Kiefer, die verkniffenen Augen, die schon nach dem Raub zu schielen scheinen, den das Maul zermalmen und zerreißen wird. Sind die Kinder böse, halten wir ihnen diese Bilder hin und schon fliegen sie weinend an unsern Hals. Aber mehr wissen wir von diesen Nordländern nicht, gesehen haben wir sie nicht, und bleiben wir in unserm Dorfe, werden wir sie niemals sehn, selbst wenn sie auf ihren wilden Pferden geradeaus zu uns hetzen und jagen; zu groß ist das Land und läßt sie nicht zu uns, in die leere Luft werden sie sich verrennen [Hervorhebung: A.K.] (NSF I: 346-347). Genauso wie sich im „Jäger Gracchus“ am Ende jedoch eine Bewegung von der Visualität hin zur Akustik vollzieht, so wird auch in „Beim Bau der chinesischen Mauer“ die visuell vermittelte bzw. konstruierte Bildrealität zuletzt durch eine akustische Dimension abgelöst. Der Übergang kündigt sich implizit schon in der negativen Visualität zum Schluss des zitierten Passus an („gesehen haben wir sie nicht“, „werden wir sie niemals sehn“). Auch in diesem Text ist im Zusammenhang des Nomadischen eine Transition von visueller zu akustischer Ebene zu beobachten, die sich zum Ende der Erzählung hin in zweifacher Ausführung, an zwei verschiedenen Stationen des Texts ereignet. Die erste Station bildet die als Binnenerzählung in den Text eingelagerte „Sage“ (NSF I: 351), die später unter dem Titel „Eine kaiserliche Botschaft“ (1919) separat erschienen ist, die hier aber in ihrer Funktion im „Mauer“-Fragment be- 10 Eine ähnliche Parallelisierung zwischen Bedeutung und Form stellt Christen (2007: v.a. 19) in Bezug auf Kafkas sowohl in semantisch-metaphorischer als auch in graphischer Hinsicht ‚wolkige‘ Schrift heraus. Franz Kafka, die Schrift und das Nomadische 95 handelt werden soll. 11 Die „Sage“ evoziert schon von ihrer Gattungsbezeichnung her einen oralen Status des Erzählens, also einen ursprünglich auf Akustik beruhenden Vermittlungsmodus. In dieser Sage geht es allerdings nicht nur gattungsformal, sondern auch inhaltlich um ein „Gesagte[s]“, nämlich um eine mündlich formulierte Botschaft: Der Kaiser, so heißt es, hat gerade Dir, dem einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen […] von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft zugeflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes […] hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht (NSF I: 351). Das akustisch konstruierte Geschehen um die orale Botschaft wird im Text narrativ und übermittlungstechnisch in einer visuellen Szene („Kopfnicken“, „Zuschauerschaft“ usw.), also quasi mit Bild, aber ohne Ton, wiedergegeben - und bleibt daher unverständlich. Ebenso wenig kommt der Bote jemals an, er müsste die unendlichen, konzentrisch ineinandergelagerten Kreise durchschreiten, die das Zentrum der Macht von den Peripherien trennen: „die Gemächer des innersten Palastes“, „die Treppen“, „die Höfe“, „der zweite umschließende Palast, und wieder Treppen und Höfe und wieder ein Palast und so weiter durch Jahrtausende“, dann „erst die Residenzstadt […], die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten an einen Nichtigen“ (NSF I: 352). Die zweite und letzte Station bildet die mündlich überlieferte Botschaft an den Vater des Ich-Erzählers, die sich dieser wiederum ganz am Ende des Textes weiterzusagen anschickt, bevor dann aber das „Mauer“-Fragment abbricht. Diese mündliche Botschaft wird dem Vater durch einen „Schiffer“ übermittelt, der - auch hierbei lässt sich an den „Jäger Gracchus“ denken 12 - auf einer „Barke“ ankommt: „In der Mitte trafen sie einander, der Schiffer flüsterte meinem Vater etwas ins Ohr“ (NSF I: 356). Etwas später beginnt der Vater zu „berichten was er gehört hätte“ (NSF I: 357). Der Erzähler versucht den Wortlaut oder vielmehr „eine Art Wortlaut wiederzugeben“: „Mein Vater sagte also etwa: “ (NSF I: 357). Hier bricht die Erzählung ab. Das Fragment führt damit nicht nur diejenige Bruchstückhaftigkeit auch narrativ, formal und strukturell - im Bau der Erzäh- 11 Der Text an sich lässt sich ebenso gut im Kontext von Hugo von Hofmannsthals Gedicht „Der Kaiser von China spricht“ (Politzer 1978) wie des jüdischen Mystizismus (Vaughan 2001) lesen. 12 Vergleiche dazu ebenfalls Schütterle (2002: 158), die überhaupt auf mehrere strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den beiden Texten hinweist (passim). 96 Achim Küpper lung - vor, von der es thematisch handelt, es vollzieht am Ende auch noch einmal, abschließend und für diesen Text endgültig, die Transition zur Mündlichkeit, die Bewegung von der Visualität (Bild, auch Schriftbild) zur Akustik (gesprochene Rede): „Mein Vater sagte“ (NSF I: 357). Botschaften kommen in diesem Text dabei permanent zu spät. Die zeitlich verzögert eintreffende Nachricht stellt ein Grundmotiv der Erzählung dar, das auch in Zusammenhang mit der machtgeographischen Struktur von Peripherie und Zentrum steht. Der Ich-Erzähler stellt Spekulationen über den „lebendige[n] Kaiser“ an, doch: „Wie sollten wir davon erfahren tausende Meilen im Süden, grenzen wir doch schon fast ans tibetanische Hochland. Außerdem aber käme jede Nachricht, selbst wenn sie uns erreichte, viel zu spät, wäre längst veraltet“ (NSF I: 350). So trifft auch der „kaiserliche […] Beamte […], der die Provinz bereist“, offenbar viel zu spät „im Namen des Regierenden“ ein: „Wie, denkt man, er spricht von einem Toten wie von einem Lebendigen, dieser Kaiser ist doch schon längst gestorben, die Dynastie ausgelöscht“ (NSF I: 353). Die Thematik von Botschaft und Bote, wie sie in Kafkas Text vorkommt, hat zugleich generellere medientheoretische Implikationen. In ihrer „Kleinen Metaphysik der Medialität“ beantwortet Krämer (2008: 9f.) „die Frage ‚Was ist ein Medium? ‘ im Horizont der Idee vom Botengang“, den sie zum Modell von Medialität schlechthin erklärt. Liest man Kafkas Text „Beim Bau der chinesischen Mauer“ vor diesem Hintergrund, liegt genau hierin seine mediale Crux: Botschaften treffen in der Welt des Erzählers, wenn überhaupt, mit großer zeitlicher Verzögerung ein, der Kommunikationsfluss ist gestört, die Datenübermittlung funktioniert nicht richtig. Und: „In diese Welt drang nun die Nachricht vom Mauerbau. Auch sie verspätet etwa dreißig Jahre nach ihrer Verkündigung“ (NSF I: 356). Die Erzählung präsentiert damit auch ein gestörtes Kommunikations- und Mediensystem. 4 „Ein altes Blatt“ Um das Absenden einer Botschaft geht es auch in der kurzen, 1917 entstandenen und erschienenen Erzählung „Ein altes Blatt“, die sich im Kontext des China-Komplexes wie auch im Zusammenhang des Nomadischen analysieren lässt. Kreiste das Geschehen in „Beim Bau der chinesischen Mauer“ mitsamt der Binnenerzählung „Eine kaiserliche Botschaft“ um die mündlich artikulierte und zu übermittelnde Nachricht, so handelt es sich in „Ein altes Blatt“ allerdings um eine schriftliche Botschaft oder vielmehr: Die Erzählung selbst i s t diese schriftliche Botschaft, der Text ist konzipiert als Nachricht eines Ich-Erzählers an die Außenwelt, als schriftlich übermittelter Hilferuf, womit „Ein altes Blatt“ zu einer Art skripturalem Pendant von „Eine kaiserliche Botschaft“ wird. Be- Franz Kafka, die Schrift und das Nomadische 97 reits der Titel „Ein altes [! ] Blatt“ verweist darauf, dass auch hier die Übermittlung von einer zeitlichen Verzögerung geprägt ist: Die Botschaft erreicht den Leser, dem Titel nach zu urteilen, erst spät. Wie bereits im „Jäger Gracchus“ manifestiert sich dabei auch in diesem Werk eine nomadische Ikonographie des Schriftstellers. In dem Text berichtet der Bewohner einer Stadt davon, wie sich „auf dem Platz vor dem kaiserlichen Palast“ fremde Reiter eingenistet haben, bei denen es sich „offenbar“, so heißt es, um „Nomaden aus dem Norden“ handelt (NSF I: 358). „Ihrer Natur entsprechend“, meint der Erzähler - vor dessen perspektivischer Sichtweise sich der Leser allerdings genereller hüten muss (Zobel 1990: v.a. 51f.) - „lagern sie unter freiem Himmel, denn Wohnhäuser verabscheuen sie. Sie beschäftigen sich mit dem Schärfen der Schwerter, dem Zuspitzen der Pfeile, mit Übungen zu Pferde“ (NSF I: 358). Obwohl die Nomaden gegenüber den Stadtbewohnern keine „Gewalt anwenden“ (NSF I: 359), fürchten sich die Bürger vor den Jägern, bringen den ‚Barbaren‘, um sie zu besänftigen, „Fleisch“, von dem sich Pferd und Reiter gleichermaßen „nähren“, „oft […] vom gleichen Fleischstück“ (NSF I: 360). Schutz gibt es für die Stadtbewohner keinen. Die Erzählung endet mit einer kollektiven Klage, vermittelt in der schriftlichen Botschaft, im Hilferuf des anonymen Verfassers dieses ‚alten Blattes‘: „Wie wird es werden? “ fragen wir uns alle. „Wie lange werden wir diese Last und Qual ertragen? Der kaiserliche Palast hat sie angelockt, versteht es aber nicht sie wieder zu vertreiben. Das Tor bleibt verschlossen; die Wache, früher immer festlich ein- und ausmarschierend, hält sich hinter vergitterten Fenstern. Uns Handwerkern und Geschäftsleuten ist die Rettung des Vaterlandes anvertraut; wir sind aber einer solchen Aufgabe nicht gewachsen; haben uns doch auch nie gerühmt dessen fähig zu sein. Ein Mißverständnis ist es und wir gehn daran zugrunde“ (NSF I: 361). Besonderheiten bietet die topographische Anlage des Textes, die sich strukturell - ähnlich wie im „Mauer“-Fragment - in vier teils konzentrisch ineinandergelagerten Kreisen organisiert, die die Handlungsschauplätze darstellen. Den ersten, innersten Kreis bildet der Platz vor dem Palast, auf dem der Laden des Erzählers, eines Schusters, liegt: „Ich habe eine Schusterwerkstatt auf dem Platz vor dem kaiserlichen Palast“ (NSF I: 358). Den zweiten Kreis der Handlungsszene stellt der kaiserliche Palast selbst dar, der zwar nicht konzentrisch in oder um, sondern neben den Platz angelagert ist, der aber seinerseits eine konzentrische Struktur aufweist und selbst wiederum in innere und äußere Räume unterteilt ist: Gerade damals glaubte ich den Kaiser selbst in einem Fenster des Palastes gesehen zu haben, niemals sonst kommt er in diese äußeren Gemächer, immer nur 98 Achim Küpper lebt er in dem innersten Garten, diesmal aber stand er, so schien es, an einem Fenster und blickte mit gesenktem Kopf auf das Treiben vor seinem Schloß (NSF I: 360). Den dritten sowie den vierten Kreis bilden schließlich die Stadtgrenze sowie - als nochmalige konzentrische Erweiterung dessen im vierten, äußersten Kreis - die Reichsgrenze, die nicht allein die „Hauptstadt“, sondern auch die gesamten drei ersten Handlungskreise konzentrisch in sich einschließt; diese Kreise werden von den Nomaden aber von außen durchdrungen: „Auf eine mir unbegreifliche Weise sind sie bis in die Hauptstadt gedrungen, die doch sehr weit von der Grenze entfernt ist“ (NSF I: 358). Die topographische Organisation des Textes lässt sich als ein Gefüge der politischen Ordnung im Inneren, im Zentrum der Macht, und deren Durchbrechung durch das Eindringen der Nomaden von außen, von der Peripherie her, lesen. Die Machtkonstellation, die der Text räumlich in einer Zentrum-Peripherie-Struktur verdichtet, stellt eine Opposition zwischen Kaiser und Nomaden her: Der Kaiser, der sich gewöhnlich nur „in dem innersten Garten“ des Palastes, dem Zentrum der Macht aufhält (NSF I: 360), wird als oberster Träger der Staatsordnung bedroht von den Nomaden, die diese Ordnung buchstäblich unterwandern, von außen, von der Peripherie her in die Kreise der Handlung und der Macht eindringen, die bestehende Ordnung zerstören. Die Ferne und Unerreichbarkeit der Macht, der Staatsordnung sowie ihrer Verkörperung in Gestalt des Kaisers, die aus dem topographischen System des Texts hervorgeht, legt einerseits eine politische Lektüre im Schatten bürokratisch verwalteter Machtstrukturen nahe. Anderseits lässt sich die figurative Konstellation von „Ein altes Blatt“ auch im Zusammenhang einer „Entmächtigung des Ich“ (Tauber 1941: 71) bzw. als ein psychologisches Dispositiv entziffern, wie dies Wolkenfeld (1976) tut, indem sie den Ich-Erzähler als leidendes und klagendes Ego, den Kaiser - neben seiner figurativen Rolle als ferner, abwesender Gott (29) - als passives und impotentes Über-Ich und die Nomaden schließlich als wildes, ungezähmtes, animalisches Es im Freudschen Sinne deutet (28). Damit erhält die Erzählung zugleich eine generellere Tragweite: The investigation of intrapsychic catastrophe provides an insight into the recurrence of social violence in human history. The invasion of the country by “nomads from the North” […] recalls the fall of the Roman Empire before the barbarians. […] Social violence seems inevitable because of the “nomads” within (Wolkenfeld 1976: 29). Der Titel des Texts lautete in der Handschrift ursprünglich „Ein altes Blatt aus China“, den Zusatz „aus China“ hat Kafka im Heft wieder gestrichen (vgl. NSF I, Franz Kafka, die Schrift und das Nomadische 99 App.: 303). Entstanden ist die Erzählung im Umfeld des China-Komplexes in Kafkas Oktavheft C: Sie folgt im Anschluss an das Erzählfragment „Beim Bau der chinesischen Mauer“, von dem „Ein altes Blatt“ kaum losgelöst betrachtet werden kann; zwischen die beiden Texte fügt sich lediglich das kurze Erzählstück vom frühen Geschäftsschluss eines Kaufmanns an einem Winternachmittag (NSF I: 357f.), das aber seinerseits eine narrative Verknüpfung zwischen den beiden umgebenden Texten herzustellen scheint, indem es auf die Thematik der Kaufleute und der (geschlossenen) Läden aus „Ein altes Blatt“ vorausweist. Dem Entstehungszusammenhang des Texts entsprechend und unter Verweis auf Kafkas Interesse für China sowie einige mögliche Textquellen deutet Goebel (1996) „Ein altes Blatt“ im Kontext des zeitgenössischen historischen Diskurses über die chinesische Ch’ing-Dynastie: „Kafka’s text is not a timeless, mythological parable, but makes a historically concrete statement about China as it was known to the European public around the turn of the century“ (103). Diese historische und diskursive Festlegung des Erzählgeschehens bedeutet nicht allein eine Reduktion gegenüber der Interpretation des Textes im Zeichen psychologischer, aber auch allgemeiner (menschheits-)geschichtlicher Prozesse, wie sie Wolkenfeld (1976) vornimmt, sie bedeutet auch eine Reduktion gegenüber Kafkas eigener Öffnung des Textes hin zum Unbestimmten durch die Löschung des Titelzusatzes „aus China“. Hier soll dagegen eine andere Möglichkeit vorgeschlagen werden, die zuletzt einen antiken Bezug herstellt und die auch an die Bemerkung des Erzählers aus dem Mauer-Fragment über die Nomaden aus dem Norden denken lässt: „Wir lesen von ihnen in den Büchern der Alten“ (NSF I: 347). Die hier nahezulegende Referenz ersetzt den möglichen China-Bezug nicht, sondern ergänzt, erweitert die Erzählung ins Indefinite, ins Nichtfestlegbare und damit auch ins Nomadische, semantisch Nichtsesshafte, historisch Nichtfixierte. Der Titel „Ein altes Blatt“ korrespondiert mit der archaischen Grundierung des Texts. Wie im Folgenden argumentiert werden soll, rührt beides zugleich daher, dass Kafkas Erzählung intertextuell eine antike historische Schrift, also ein anderes „altes Blatt“ zitiert, und zwar die Beschreibung Libyens aus den „Historien“ Herodots aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Dieser verborgene Bezug liefert einige neue Erklärungen zu Kafkas Text. Er steht in Zusammenhang mit dem Nomadischen als Selbstreferenz des Schreibenden. Im 4. Buch seiner „Historien“ beschreibt Herodot (1973) die Wüste Libyens und insbesondere die libyschen „Nomaden“ (IV.181: 391). Sein Ton ist distanzierend und aus heutiger Sicht von wenig Verständnis für die indigenen Völker geprägt. An einer Stelle kommt Herodot auf die „Garamanten“ zu sprechen; das ist ein riesenhaftes, „mächtig großes Volk“, das „mit Viergespannen […] Jagd auf die aithiopischen Höhlenbewohner“ macht (IV.183: 392). Diese „[e]rnähren“ sich „von Schlangen und Eidechsen und anderm solchen Gewürm“ (IV.183: 100 Achim Küpper 392). Und dann heißt es bei Herodot: „Eine Sprache ist bei ihnen in Übung, die ist keiner andern ähnlich, sondern sie kreischen wie Fledermäuse“ (IV.183: 392). In Kafkas „Ein altes Blatt“ sagt der Erzähler über die Reiter: Sprechen kann man mit den Nomaden nicht. Unsere Sprache kennen sie nicht, ja sie haben kaum eine eigene. Unter einander verständigen sie sich ähnlich wie Dohlen. Immer wieder hört man diesen Schrei der Dohlen (NSF I: 359). Hier kehrt der Begriff der ‚Dohlen‘ also wieder, der auf kavka, den Namen und die Sprache des Autors selbst verweist und der sich in der Erzählung „Ein altes Blatt“ zu einem literarischen Bezug auf Herodots „Historien“ verdichtet. Das „[K]reischen“ der „Fledermäuse“ Herodots wird bei Kafka offenbar zu einem „Schrei der Dohlen“, zum Ort selbstreferenzieller Artikulation, die in der Überschneidung von Nomaden und Schreibendem die eigene Sprache identifiziert. 5 Schluss Es ist bekannt, dass die Übung zu Pferde bei Kafka genereller als Sprachübung, das Reiten als ein Bild des Schreibens erscheint, etwa in dem kurzen Text „Wunsch, Indianer zu werden“ (Erstdruck 1912/ 1913) oder auch in visueller Form auf einer Zeichnung wie Kafkas „Jockey zu Pferd“ (ca. 1908-1910). Gerade das Nomadische wird bei Kafka aber zum eigentlichen Schreibmodell, das nicht nur in der Sprache, sondern auch im Bild wie in der Bewegung zwischen Visualität und Akustik zirkuliert. Diese Zirkulation weist bis an die Grenzen, an den Ort des Nomadischen, der seinen Ursprung in der Peripherie der Wüste hat. 6 Literatur Alt, Peter-André (2009): Stereoskopisches Sehen (Der Jäger Gracchus). In: Alt, Peter- André: Kafka und der Film. Über kinematographisches Erzählen. München. S. 145- 159. Bauer, Johann (1971): Kafka und Prag. Stuttgart. Binder, Hartmut (1971): „Der Jäger Gracchus“. Zu Kafkas Schaffensweise und poetischer Topographie. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 15. S. 375-440. Christen, Felix (2007): Die erträumte Botschaft. Zu Franz Kafkas Oktavheft C. In: Schriftenreihe der Deutschen Kafka-Gesellschaft 1. S. 9-24. Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix (1975): Kafka. Pour une littérature mineure. Paris. Frank, Manfred (1979): „Der Jäger Gracchus“. 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Das Ziel des Beitrags ist die präzisere Darstellung der unterschiedlichen Erzählerstandpunkte; der Nutzen der Diversifikation der narratologischen Kategorie wird anhand zweier Interpretationen verdeutlicht. Geschichten müssen vergangen sein, und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts (Mann 2002: 9). 1 Problemstellung und Zielsetzung Diese wohlbekannten Worte aus dem Vorsatz von Thomas Manns „Zauberberg“ weisen die Eigenschaft des Vergangenseins einer Fabel als erzählerischen Vorteil der über sie berichtenden Erzählung aus. Sie weisen aber - geradezu nebenbei - auch auf ein Phänomen hin, das in der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung bisher zu wenig Beachtung gefunden hat: die Eigentümlichkeit, dass eine Geschichte mehr oder weniger vergangen sein kann. Diese Grade des Vergangenseins sind eng verknüpft mit der Frage nach der An- oder Abwesenheit des Erzählers in der erzählten Welt, die wiederum ausführlicher diskutiert wurde. Hierbei ist bisher aber davon ausgegangen worden, dass die An-/ Abwesenheit eines Erzählers in einer Geschichte eine Entweder-oder-Entscheidung 104 Simone Elisabeth Lang erfordert und nicht mit einem Mehr oder Weniger zu beantworten ist (vgl. Genette 2010: 159). In diesem Beitrag sollen die Zusammenhänge der Grade des Vergangenseins einer Geschichte und die hiervon abhängige An- oder Abwesenheit des Erzählers in der erzählten Welt thematisiert und auf Basis dieser Untersuchung eine Erweiterung des Katalogs der Erzählertypen vorgeschlagen werden. Ziel ist es damit erstens, darzustellen, welche unterschiedlichen Erzählerstandpunkte es genau geben kann. Die Erzähltheorie Genettes ist dafür der Bezugspunkt. Nun ist in der Erzählforschung seit langem bekannt, dass seine Bestimmungen der Begriffe ‚Homodiegese‘ und ‚Heterodiegese‘ nicht hinreichend sind, um die erforderlichen narratologischen Unterscheidungen zu treffen. Seiner Terminologie soll eine Erweiterung hinzugefügt werden, die möglicherweise Missverständnisse ausräumt, die durch die ungleiche Verwendung der genannten Termini entstanden sind. Diese Kategorie soll als ‚Peridiegese‘ bezeichnet werden. Den Nutzen dieser Überarbeitung der narratologischen Kategorie wird anhand zweier Interpretationen verdeutlicht, denn die dieser Kategorie zuzuordnenden Erzähler weisen eine Eigentümlichkeit auf: Diese Narratoren können in besonderer Weise mit Literatur, die die Vergangenheit rekonstruiert, verknüpft sein. Sie sind hervorragend geeignet, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen und dabei gleichzeitig die gebotene Distanz zu wahren. 2 Zu den unterschiedlichen Erzählerstandpunkten 1 Homo- und Heterodiegese werden in Genettes Erzähltheorie über die Teilhabe bzw. die Abwesenheit des Erzählers in der Geschichte definiert (Genette 2010: 159). Demgegenüber wird die Diegese selbst aber als „Universum“ beschrieben. Sie ist „eher ein ganzes Universum als eine Verknüpfung von Handlungen (Geschichte): Die Diegese ist mithin nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt“ (Genette 2010: 183). Definition und Bezeichnung passen in Genettes Erzähltheorie nicht zusammen; die Begriffe ‚Homo-/ Heterodiegese‘ legen eine andere Festlegung nahe, als er sie liefert. Nach der Beschreibung, die sich auf das Universum der Geschichte bezieht, ist es nicht anders erklärbar, als dass ‚homo-‘ und ‚heterodie- 1 Zu den unterschiedlichen Erzählerstandpunkten und dem Problem der Heterodiegese vgl. ausführlicher Lang (2014b). Hier plädiere ich nicht nur für die Einführung der Peridiegese als „Auffangbecken“ für all diejenigen Erzähler, die in das strenge Raster der ontologischen Verschiedenheit nicht passen, sondern beschreibe überdies wichtige Unterschiede homodiegetischen Erzählens, die in diesem Beitrag nicht berücksichtigt werden können. So nah und doch so fern 105 getisch‘ auf den Standpunkt des Erzählers im Hinblick auf die erzählte Welt zu sehen sind. Dies wiederum bedeutet, dass ein homodiegetischer Erzähler nicht, wie von Genette ursprünglich definiert, Teil der Geschichte sein muss, konstitutiv ist in diesem Fall die Zugehörigkeit zur erzählten Welt der Geschichte (Welt G ). Diese Unterscheidung von Diegese als erzählte Welt und als Geschichte ist deshalb so bedeutend, weil sie zwei unterschiedliche Kriterien zur Beschreibung des Erzählerstandortes offenbart: (a) Der ontologische Status der Erzählinstanz, der von ihrer Teilhabe am raumzeitlichen Universum der Erzählung - der erzählten Welt - abhängt (b) Der Grad der Beteiligung der Erzählinstanz am Geschehen, von dem sie berichtet, an der Geschichte. 2 Homo- und Heterodiegese sind als Dichotomie angelegt, es soll eine Entwederoder-Entscheidung zwischen ihnen gefällt werden. Wenn aber die Bezugspunkte der Definition zwischen Teilhabe an der Geschichte und Teilhabe an der erzählten Welt schwanken, funktioniert diese Dichotomie nicht. Die uneinheitliche Begriffsverwendung ist Ursache für eine Reihe von Missverständnissen, die innerhalb der erzähltheoretischen Untersuchung fiktionaler Texte aufgetreten sind. Die unterschiedlichen Bezugspunkte der erzählten Welt und der Geschichte legen eine Grauzone offen. Erzähler, die nicht Teil der von ihnen erzählten Geschichte sind, aber dennoch Teil der erzählten Welt, können - je nach Bezugspunkt - entweder der Homo- oder der Heterodiegese zugerechnet werden. Wenn z.B. ein Erzähler die Geschichte der Jugend seiner Großmutter erzählt, gibt es einerseits gute Gründe, diesen Erzähler als homodiegetisch einzustufen (er ist Teil der erzählten Welt) andererseits aber auch gute Gründe, ihn als heterodiegetisch zu kategorisieren (er ist nicht Teil der von ihm erzählten Geschichte). 2 Dieser Unterschied lässt sich noch aus einem anderen Blickwinkel darstellen. Köppe/ Stühring (2011) gehen der Frage nach, welche Kriterien dafür angeführt werden, dass ein Erzähler nicht Teil der Geschichte ist: „The claim that a narrator is not part of the story can come down to different things; amongst them are: (1) It is a contingent fact that the narrator is not part of his story; thus a narrator may tell about his brothers and sisters, accidentally leaving himself out of the picture (although he might as well have included himself). (2) It is physically impossible that the narrator is part of his story; thus a narrator may tell about events that happened in some distant past that preceded his lifetime. (3) It is logically impossible that the narrator is part of his story; thus a narrator may tell about some made-up events“ (Köppe/ Stühring 2011: 76). 106 Simone Elisabeth Lang Es scheint angebracht, Homo- und Heterodiegese mithilfe einer Neudefinition in genau die Dichotomie zu verwandeln, die sie eigentlich sein sollte. Damit soll die „unüberschreitbare Grenze“ zwischen den erzählten Welten, die Lahn/ Meister (2008: 69) als Demarkationslinie zwischen Homo- und Heterodiegese gesetzt sehen, als bestimmend für die Unterscheidung angesetzt werden. Das heißt, ein Erzähler ist heterodiegetisch, wenn er nicht Teil der erzählten Welt ist. Der ontologische Status der Erzählinstanz (a) ist damit ausschlaggebend für die Klassifizierung. Zur Welt G gehört ein Erzähler immer dann, wenn er der Welt angehört, von der die Geschichte sozusagen ein Element oder eine Ereignisfolge sein kann. Die Welt G ist damit eine raum-zeitliche, die sich zwar verändert, aber dennoch immer in gewisser Weise die gleiche bleibt. Dieser Annahme zufolge spricht man erst dann von einer anderen Welt, wenn der Rezipient erfährt, dass etwa der Erzähler sich die Geschichte ausgedacht hat. Die Zugehörigkeit zur Welt G ist damit über das von Köppe/ Stühring (2011: 76) als dritte Möglichkeit der Verschiedenheit von Erzähler und Geschichte angeführte Kriterium der ‚logischen Unmöglichkeit‘ bestimmt (vgl. Fn. 2 und Abb. 1). Für die Homodiegese heißt das, dass sie ebenfalls mit Bezug auf die Welt G statt mit Bezug auf die Geschichte zu bestimmen ist. Homodiegetische Erzähler sind demnach Teil der erzählten Welt der Geschichte und müssen nicht Teil der Geschichte sein. Damit ist die oben angedeutete „Lücke“ zwischen den Begrifflichkeiten zwar geschlossen, dafür ergibt sich aber für die Homodiegese sein sehr weites Spektrum. Die Homodiegese umfasst nun sowohl Erzähler, die Teil der Geschichte sind (z.B. der Erzählerprotagonist aus Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“) als auch Erzähler, die nicht Teil der Geschichte sind wie z.B. der erzählende „Freund“ aus Hoffmanns „Der Sandmann“ 3 (s. Abb. 1). Dass diese Erzählertypen unterschieden werden müssen, liegt auf der Hand, da sie für die Beziehung zwischen Geschichte und Erzähltem und damit auch für die Authentizität, die der Erzähler beanspruchen kann, einspringen. Auch (b) - Genettes Bestimmung der Zugehörigkeit zur Geschichte - sollte nicht aus den Augen verloren werden. Sie kann zur Beschreibung unterschiedlicher Typen homodiegetischen Erzählens verwendet werden. Erzähler, die Teil der Geschichte sind, sind homodiegetisch im eigentlichen Sinne und werden zur besseren Unterscheidung ‚geschichtlich-homodiegetische Erzähler‘ genannt. Diesen Erzählern stehen, immer noch Teil der Homodiegese, da Teil der erzählten Welt, weitere Erzähler gegenüber, die nicht Teil der 3 Zu einer exakteren Beschreibung des Erzählertyps in Hoffmanns „Der Sandmann“ vgl. Lang (2014b). So nah und doch so fern 107 Geschichte sind. Diese Erzähler sollen ‚peridiegetisch‘ genannt werden. 4 Der Filmnarratologe Christian Metz (1997: 45) prägte diesen Begriff, um eine Off- Stimme, eine Stimme, die nicht diegetisch ist, zu beschreiben. Abb. 1: Erzählerstandpunkt: Hauptfigur vs. berichtender Erzähler Im Folgenden soll anhand zweier peridiegetisch erzählter Geschichten der Nutzen dieser Kategorie verdeutlicht werden. 3 Die Peridiegese und das Erzählen über die Vergangenheit 3.1 Heinrich Böll: „Die Waage der Baleks“ „In der Heimat meines Großvaters lebten die meisten Menschen von der Arbeit in den Flachsbrechen“ (Böll 2006: 20). So beginnt die Novelle Heinrich Bölls, die von der falsch geeichten Waage der Baleks und den Ereignissen um die Be- 4 Zu einer exakteren Beschreibung des Erzählertyps in Hoffmanns „Der Sandmann“ vgl. Lang (2014b). 108 Simone Elisabeth Lang kanntmachung dieses Betrugs berichtet. Die Baleks als herrschende Familie des Dorfes, in dem auch der kleine Franz Brücher, der Großvater des Erzählers, aufwächst, kaufen den Kindern des Dorfes die im Wald und auf den Feldern mühsam gesammelten Güter seit Generationen ab. Niemand prüft die Gerechtigkeit der Baleks und niemand kann sie prüfen, denn den Dorfbewohnern ist der Besitz einer Waage verboten. Zudem scheint niemand an der Rechtmäßigkeit des Verbotes oder der Aufrichtigkeit der Baleks zu zweifeln. Niemand, bis auf den kleinen Franz, der den Betrug entdeckt und öffentlich macht. Das Volk lehnt sich auf, und dabei stiehlt ein Wilderer die Waage und das Kassenbuch der Baleks. Als die Gendarmen die Wohnung der Brüchers stürmen, in der sich die Dorfbewohner zum Errechnen der Schulden der Baleks versammelt hatten, wird die kleine Schwester von Franz erschossen, ein Gendarm vom Wilderer erstochen und weitere verletzt. Die Brüchers müssen das Dorf verlassen und ziehen mit ihrer abgemagerten Ziege als Korbflechter umher. Nirgends blieben sie „lange, weil es sie schmerzte, zuzusehen, wie in allen Orten das Pendel der Gerechtigkeit falsch ausschlug“ (Böll 2006: 27). Die Geschichte ist vor allem in ihrer Verwendung als Schullektüre Gegenstand vielfacher Interpretationen geworden. Eine auffällige Uneinigkeit „der Interpreten über den Aussagegehalt dieser Erzählung“ (Stückrath 1980: 239) wird dabei offenbar. Während eine - in sich allerdings ebenso heterogene - Gruppe die Lesart der Novelle als gegen die Herrschenden und den Kapitalismus gerichtete Gesellschaftskritik liest (vgl. zuerst Waidson 1959: 270 und in dieser Tradition dann besonders Thiemermann 1971, Helmers 1973 und Vogt 1974: v.a. 118-121), argumentiert eine andere Gruppe von Exegeten strikt gegen diese Lesart. Nach John Fetzer (1972) und auch schon nach Bernhard Schulz (1966) ist diese Novelle ein Aufruf dazu, die Forderung nach Reformen in Frage zu stellen. Dabei rücken besonders der kleine Franz und die Frage danach, wie seine Einstellung zu bewerten ist, in den Fokus: Der Dichter indessen macht diese Haltung des Jungen nicht zu seiner eigenen. Er schreibt kein Rebellenstück, d.h. er tritt nicht als Ankläger auf, erst recht nicht als Revolutionär. Der Junge wird nicht zum Befreier-Helden. Das Aufbegehren versinkt in der Vergangenheit von Großvaters Zeiten. Es ist am Ende schlimmer als am Anfang. Die Aktion mit dem „frommen“ Widerstandslied in der Kirche kaum erst anhebend und tragisch mit dem Rechtsbruch Dritter verknüpft, bricht zusammen (Schulz 1966: 33). Gemäß dieser Lesart trifft die Baleks keine Schuld an der Ungerechtigkeit, da sie persönlich nicht davon wussten (Schulz 1966: 31). Franz hingegen wird als volksverhetzender Rebell dargestellt, den eine enge Verwandtschaft zu Michael Kohlhaas auszeichne (Fetzer 1972: v.a. 476). Bezüglich der Schuld der Baleks So nah und doch so fern 109 hält Fetzer hingegen fest: „In distributing the guilt in the story, the author allots some to the Brüchers for a precipitous act, some to the world at large for its all too great tolerance of injustice, but strangely enough charges none to the Baleks specifically“ (Fetzer 1972: 178). Auf Basis einiger fiktiver Fakten wie beispielsweise der Tatsache, dass die Waage jährlich neu geeicht wurde und die Baleks damit nicht frei von Schuld sein können und v.a., dass es insgesamt nicht um die Schuld eines einzelnen Familienmitgliedes der Baleks, sondern vielmehr um ihre Schuld als herrschende Familie geht, ist bereits eingehend gegen die Interpretation Fetzers argumentiert worden (Conrad 1978: 104, Stückrath 1980: 242-244). Diesen inhaltlichen Argumenten ist aber auch ein narratologisches hinzuzufügen, das die Prägnanz der oben eingeführten und erläuterten Kategorie der Peridiegese rechtfertigt. Böll legt die Geschichte einem Ich-Erzähler in den Mund, den er als Enkel des jungen Franz Brücher auftreten lässt. Schon in dieser verwandtschaftlichen Bindung der Erzählperspektive an die Brüchers liegt ein Hinweis unter vielen, daß die Erzählung sich nicht gegen diese Opfer feudal-kapitalistischer Macht und Willkür richtet (Stückrath 1980: 241). Bei der Frage nach der Aussage der Novelle geht es um die Frage danach, wessen Partei der Erzähler ergreift, so das Hauptargument gegen Fetzer. Diese Parteinahme ist bereits an der dargestellten verwandtschaftlichen Bindung zwischen Erzähler und Protagonist festzumachen. Und auch wenn eine Verwandtschaft selbstredend nicht ausreichend ist, um dem Erzähler die Normen und Werte seiner Vorfahren zuzuschreiben, so ist sie doch der Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen, die die enge moralische Bindung zwischen Protagonist und Erzähler letztendlich belegen. Nichtsdestoweniger lässt die Erzählung Platz für weitere Deutungen; die einseitige Parteinahme der Familie des Großvaters wäre ebenso wenig gerechtfertigt, auch der Diebstahl der Waage durch den Wilderer, der in unmittelbarer Nähe zu den Ereignissen um das Aufdecken des Betruges steht, muss kritisch beleuchtet werden. Der Erzähler selbst nimmt diesen kritischen Part allerdings nur sehr bedingt ein. Stückrath argumentiert mit Cases sogar dafür, dass der Wilderer hier überhaupt nicht moralisch verurteilt werde (Stückrath 1980: 242, Cases 1968: 229). Wenn aber im Text vom Wilderer Vohla die Rede ist, wird sein Name stets von der Apposition „der Wilderer“ (Böll 2006: 26f.) begleitet, was informationspolitisch - jedenfalls bei der zweiten Nennung - redundant ist, da der Leser bereits darüber informiert wurde, wer Vohla ist. Doch verstärkt durch die Wiederholung weist der Erzähler hier darauf hin, dass derjenige, der Gewalt anwendet und damit auch die Gegengewalt der Gendarmen provoziert, kein guter Mensch ist. Eingeführt wurde 110 Simone Elisabeth Lang die Gruppe der Wilderer zu Beginn der Erzählung nämlich mit folgenden Worten, auf die die zweifache Apposition an dieser späteren Stelle zurückverweist: „Zwar gab es zwischen diesen stillen Menschen auch welche, die das Gesetz mißachteten, Wilderer, die begehrten, in einer Nacht mehr zu verdienen, als sie in einem ganzen Monat in der Flachsfabrik verdienen konnten“ (Böll 2006: 22). Diese moralische Positionierung des Erzählers ist nicht zuletzt seinem Standpunkt zuzuschreiben. Der Erzähler ist ein Nachgeborener. Er war nicht Zeuge der Handlung und hätte es auch nicht sein können, da er noch nicht geboren war. Er ist demnach nicht Teil der Geschichte, die er erzählt. Andererseits ist er aber Teil der erzählten Welt. Er hat sich die Geschichte nicht ausgedacht, sondern lebt in derselben Welt, von der die Geschichte um seinen Großvater und die Baleks ein Element ist. Er ist ein peridiegetischer Erzähler. Peridiegetische Erzähler sind von zwei Seiten aus bestimmbar. Einerseits bauen sie eine gewisse Verbindung zu der von ihnen erzählten Geschichte auf, andererseits wahren sie den nötigen Abstand zu den Ereignissen, da sie nicht als Zeitzeuge auftreten. In Bölls Erzählung „Die Waage der Baleks“ wird durch die Erzählinstanz des Enkels intendiert, dass sich zwischen Leser und den lange geschehenen Ereignissen ein gewisser Konnex aufbaut. Hier ist es denkbar, dass die verwandtschaftliche Nähe ein Aufruf ist, sich ein Beispiel zu nehmen. Es ist wichtig, dass die Geschichte ausgerechnet vom Enkel erzählt wird, das trägt nicht nur zur Authentifizierung bei, sondern stellt eben auch ein Verhältnis zwischen den Ereignissen und dem Rezipienten her, das mit der Kategorie der Peridiegese besonders treffend beschrieben werden kann. Diese Art der Nähe zwischen Erzähler und Geschichte ist besonders geeignet, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Deutlich wird das auch und ganz besonders in Geschichten, in denen diese Vergangenheit von wunderbaren Ereignissen berichtet. So z.B. in Storms „Schimmelreiter“. Der Schulmeister - Erzähler dritter Stufe - erzählt eine Geschichte, in der er selbst nicht vorkommt, da sie sich vor langer Zeit abgespielt hat: Dieser [der Schulmeister: S.E.L.] war inzwischen aus einer Ofenecke hervorgekommen und hatte sich neben mir an den langen Tisch gesetzt. […] Der Alte sah mich mit verständnisvollem Lächeln an: „Nun also! “ sagte er. „In der Mitte des vorigen Jahrhunderts, oder vielmehr, um genauer zu bestimmen, vor und nach derselben, gab es hier einen Deichgrafen, der von Deich- und Sielsachen mehr verstand, als Bauern und Hofbesitzer sonst zu verstehen pflegen (Storm 1978, 256). So nah und doch so fern 111 An dieser Erzählung lässt sich ein Argument für die Prägnanz der Differenzierung von Hetero- und Peridiegese, also für die Prägnanz der Unterscheidung der Definition der Homodiegese nach der Teilhabe an der erzählten Welt und nicht an der Geschichte, aufzeigen. Wenn die Narratologie als eine Heuristik für die Interpretation zu verstehen ist, und dafür haben Kindt/ Müller (2003) wohl schlagende Gründe angeführt, ist die Frage danach, was eine Neuerung der narratologischen Unterscheidungskriterien für die praktische Werkinterpretation zu leisten imstande ist, unbedingt zu stellen und das reziproke Verhältnis von Narratologie und Interpretation zu berücksichtigen. Gerade bei Erzählungen mit phantastischen Anklängen, wie eben der Schulmeistererzählung, scheint es von Belang zu sein, dass die Ereignisse sich in derselben Welt abgespielt haben. Der Schulmeister bestimmt den Ort des Geschehens mit dem deiktischen Adverb hier, was eine Beziehung zwischen ihm und der Geschichte herstellt. Dies verdeutlicht dem Leser, dass sich diese unglaublichen Ereignisse genau an diesem Ort abgespielt haben. Eine Verbindung zwischen dem Unheimlichen und der Gegenwart wird angeboten und dient nicht nur zur Authentifizierung der Geschichte, sondern auch zur Herstellung einer emotionalen Nähe zwischen den Ereignissen und dem Zuhörer. Wie Monika Schnitz- Emans in Anschluss an Roger Caillois feststellt, „spielen phantastische Geschichten vorzugsweise in der Gegenwart oder doch zumindest in einer Zeit, die dem Vertrauenshorizont der erwarteten Leserschaft noch angehört“ (Schmitz-Emans 1995: 74, Caillois 1974: 51f.). Auch wenn das Auftreten wunderbarer Ereignisse wohl das stärkste Argument für die Einführung der Peridiegese liefert, gilt dies auch für die allgemeine Rekonstruktion von Vergangenheit. Die Verbindung, die zwischen Erzähler und Geschichte hergestellt wird, ist im Gegensatz zu der Distanz, die das heterodiegetische Erzählen erzeugt, zur Authentifizierung einerseits und zur Vergegenwärtigung andererseits geeignet. Rückwirkend kann hiermit nochmal gerechtfertigt werden, weshalb es nicht sinnvoll ist, das Kriterium der Geschehensbeteiligung als bestimmend für die Trennung von Homo- und Heterodiegese anzusetzen und das ontologische Kriterium aus den Augen zu verlieren. Gerade die Peridiegese mit ihrer „Nähe“ zur Geschichte ist wichtig, um derartige Interpretationen zu stützen und das vom Autor intendierte Moment der Nähe nicht hintan zu stellen. 5 5 Für ausführlichere Anmerkungen zum Erzähler in der fantastischen Literatur und den Zusammenhängen zwischen Erzählerstandpunkt und dem Aufkommen des fantastischen Zweifels vgl. auch Lang (2014a). 112 Simone Elisabeth Lang 3.2 Uwe Timm: „Die Entdeckung der Currywurst“ Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden, das in der näheren Vergangenheit spielt und deshalb besonders geeignet ist, die Nähe zum Geschehen einerseits und die Nähe zum Erzähler andererseits zu verdeutlichen, die peridiegetisches Erzählen beim Rezipienten hervorruft. Diesen Erzähler verstehen wir deshalb so gut, weil er genau wie wir nach der „Wende und Grenze“ lebt, mit der Thomas Mann im „Zauberberg“ schon die Ereignisse des Krieges (wenn auch des Ersten und nicht des Zweiten Weltkrieges) bezeichnet: Um aber einen klaren Sachverhalt nicht künstlich zu verdunkeln: die hochgradige Verflossenheit unserer Geschichte rührt daher, daß sie v o r einer gewissen, Leben und Bewußtsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt… Sie spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. Vorher also spielt sie, wenn auch nicht lange vorher (Mann 2002: 9f.). Auch die Geschichte, die der Erzähler aus Uwe Timms Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ aufzudecken versucht, spielt vor einer „Wende und Grenze“. Auch in dieser Novelle wird von vergangenen Ereignissen berichtet, auch hier gehen Nähe und Distanz zwischen Erzähler und Geschichte miteinander einher und auch hier muss das so sein. Denn auch in „Die Entdeckung der Currywurst“ ist es wichtig, wer die Geschichte erzählt. Berichtet wird hier die Kriegsgeschichte Lena Brückers, die den Deserteur Bremer zu Ende des Zweiten Weltkrieges in ihrer Wohnung versteckt. Erzählt wird die Liebes- und Leidensgeschichte der beiden, die verbunden ist mit den großen politischen Ereignissen des Jahres 1945. Und ganz nebenbei wird die titelgebende Erfindung der Currywurst geschildert. Der Erzähler kennt Frau Brücker von früher, als er des Öfteren an ihrem Imbiss gegessen hat. Auch seine Eltern waren gut mit der mittlerweile greisen und blinden Frau bekannt. Nachdem er sie in einem Altenheim in Harburg gefunden hat, besucht er sie an sieben Nachmittagen und lässt sich von ihr die Begebenheit von der Entdeckung der Currywurst erzählen. Diese Geschichte wird aber nicht etwa in direkter Rede Frau Brückers wiedergegeben, sondern vom Erzähler der Rahmenhandlung vermittelt: [Sie] erzählte von notwendigen und zufälligen Ereignissen, wer und was alles eine Rolle gespielt hatte bei der Entdeckung der Currywurst […] Das alles erzählte sie stückchenweise, das Ende hinausschiebend, in kühnen Vor- und Rückgriffen, so daß ich hier auswählen, begradigen, verknüpfen und kürzen muß. Ich lasse die Geschichte am 29. April 1945, an einem Sonntag beginnen (Timm 2011: 16). So nah und doch so fern 113 Dabei transponiert der Erzähler die Geschichte, die Frau Brücker ihm erzählt, streckenweise in die dritte Person und berichtet, ganz nach Manier eines sogenannten allwissenden Erzählers, auch über Gedanken anderer Personen als Frau Brücker. Diese hat er entweder nicht von ihr erfahren und spekulativ ergänzt, oder Frau Brücker selbst mutmaßt darüber, was dann im Erzählerbericht nicht als eine solche Ungewissheit, die es aus evidenten Gründen sein muss, gekennzeichnet ist. So waren Hermann Bremer und Lena Brücker Schritt um Schritt hierher und hintereinander zu stehen gekommen, und er hatte sie mit seinem Gepäck, einem Seesack mit einer daraufgebundenen, eingerollten graugrün gesprenkelten Feldplane, gestreift. Macht nichts. Erst ein Zufall ließ sie ins Gespräch kommen. Sie kramte in ihrer Handtasche nach der Geldbörse, da rutschte ihr der Haustürschlüssel raus. Er bückte sich, sie bückte sich, sie stießen mit den Köpfen zusammen, nicht stark, nicht schmerzhaft, er spürte nur kurz ihr Haar im Gesicht, sanft, weichblond. Er hielt ihr den Schlüssel hin (Timm 2011: 19). Zwischendurch werden immer wieder kurze Passagen in wörtlicher Rede eingeschoben, die nicht gekennzeichnet sind: Was war ihr zuerst aufgefallen? Die Augen? Nee, die Sommersprossen, er hatte Sommersprossen auf der Nase, mittelblondes Haar. Hätt glatt mein Sohn sein können. Sah aber noch jünger aus, als er war, damals 24 Jahre. […] Sie wollte wissen auf welchen Einheiten er fahre. Sie fragte das mit dem richtigen Begriff. Das hatte man ja täglich gehört und gelesen: schwere Einheiten, die Schlachtschiffe, Panzerkreuzer, Schweren Kreuzer (Timm 2011: 19f.). Der Erzähler hat hier durch die persönliche Bekanntschaft mit der Protagonistin der Geschichte eine Verbindung aufzuweisen. Doch die Geschichte, die Lena Brücker erzählt, spielt zur Zeit des Dritten Reiches. Der Krieg ist dem Ende nahe, Lebensmittel sind knapp und Frau Brücker versteckt einen fahnenflüchtigen jungen Soldaten in ihrer Wohnung, mit dem sie eine Affäre unterhält. Der Erzähler hingegen lebt in der Zeit nach Ende des Krieges. Distanz und Nähe sind bei der Rekonstruktion der Ereignisse im Spiel und beide sind wichtig. Es ist von Bedeutung, dass der Erzähler sich die Geschichte nicht ausgedacht hat, ebenso wie es von Bedeutung ist, dass er nicht dabei war, als sich die Ereignisse abgespielt haben. Auch hier kann die Kategorie der Peridiegese dabei helfen, diese besondere Erzählkonstellation beschreibbar zu machen. Indem durch die Einordnung des Erzählers als peridiegetisch einerseits darauf verwiesen wird, dass der Erzähler nicht bei den Ereignissen zugegen war und die Ereignisse nur aus zweiter Hand schildern kann und gleichzeitig auf die fiktionstheoretischen Implikationen der Identität der Erzählerwelt und der erzählten Welt dieser Ka- 114 Simone Elisabeth Lang tegorie verwiesen wird, kann schon die narratologische Kategorisierung des Erzählers entscheidende Hinweise für weitergehende Interpretationen liefern. 4 Fazit Was die Peridiegese also beschreibbar macht, ist nicht zuletzt die Wirkung, die der Erzählstandpunkt auf den Rezipienten haben kann. Während heterodiegetisches Erzählen eine gewisse Distanz zwischen Erzähltem und Erzähler aufrechterhält, ist geschichtlich-homodiegetisches Erzählen geeignet, eine besondere Nähe zwischen Erzähler und Erzähltem zu präsentieren. Diese Distanz/ Nähe übertragen sich auch auf den Leser. Peridiegetisches Erzählen als Unterform homodiegetischen Erzählens ist ebenso befähigt, ein Moment der Nähe zum Geschehen zu vermitteln. Durch die Abwesenheit des Erzählers in der Geschichte, wird aber gleichzeitig eine gewisse Distanz aufgebaut, die zwar schwächer ist, als diejenige, die heterodiegetisches Erzählen in der Regel aufbaut, die aber trotzdem spürbar wird. Für die Rekonstruktion von Vergangenheit und die Thematisierung von Erinnerungen ist diese Erzählform deshalb besonders geeignet. Einerseits kann so alleine durch den Standpunkt des Erzählers die Ungewissheit verdeutlicht werden, die aufkommt, wenn man über ein Ereignis berichtet, das man nur aus den Berichten Dritter kennt. Andererseits wird die Nähe dargestellt, die die Nachgeborenen mit der Geschichte ihrer Vorfahren verbindet. Ich möchte nicht sagen, dass dies mit bestimmten Fokalisierungsstrategien im Rahmen geschichtlich-homo- oder heterodiegetischen Erzählens nicht erreicht werden könnte. Ziel dieses Beitrages ist nur, auf die mit der Peridiegese verbundenen Wirkungen zu verweisen, die für die Interpretation einiger Werke gewinnbringend sein kann. 5 Literatur Caillois, Roger (1974): Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Zondergeld, Rein (Hrsg.): Phaïcon. Almanach der phantastischen Literatur. Bd. 1. Frankfurt am Main. Cases, Cesare (1968): Die Waage der Baleks dreimal gelesen. In: Reich-Ranicki, Marcel (Hrsg.): In Sachen Böll. Ansichten und Einsichten. Köln/ Berlin. S. 224-232. Conrad, Robert C. (1978): Böll contra Brecht: The Balek Scales Reassessed. In: Ley, Ralph u.a. (Hrsg.): Perspectives and Personalities. 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Es wird darauf hingewiesen, dass die behandelten Themen aus sozialdemokratischer Perspektive präsentiert werden; Begriffe wie Interkulturalität, Offenheit und Toleranz kommen in den Texten besonders stark zum Ausdruck. Im zweiten Teil des Beitrags werden die Quellen für die politischen Ansichten von Grass einer kurzen Analyse unterzogen. Zum Schluss wird sein Verhältnis zur Stadt dadurch ergänzt, indem seine Einstellung zum Heimatverlust gezeigt wird. 1 Die Gegenwart von Gdańsk und die Geschichte von Danzig Die publizistischen Texte, in Form von Essays, Reden, Artikeln und Briefen, die Günter Grass dem heutigen Gdańsk widmete, entstanden meistens unmittelbar nach seinen zahlreichen Reisen in die Stadt und waren sowohl von persönlichen Erfahrungen als auch aktuellen politischen Ereignissen inspiriert. Während der ersten Besuche versuchte Grass, die in seinem Gedächtnis weiterlebenden Bilder in der Nachkriegsrealität wiederzufinden und sie mit dem aktuellen Stand der Dinge zu konfrontieren: „Ich fahre alle zwei, drei Jahre nach Gdańsk, suche Danzig, finde Reste davon und einen Teil meiner kaschubischen Verwandtschaft“ (Heym 1990: 61). Manchmal drückte er diesen Prozess der Suche noch persönlicher aus: In Gdańsk suchte ich Danzig, fand auch zwei der ehemaligen polnischen Postbeamten, die mittlerweile auf der Werft Arbeit gefunden hatten […]. In Gdańsk schritt ich Danziger Schulwege ab, sprach ich auf Friedhöfen mit anheimelnden Grabsteinen, saß ich (wie ich als Schüler gesessen hatte) im Lesesaal der Stadtbi- 1 Dieser Beitrag entstand mit finanzieller Unterstützung des polnischen nationalen Wissenschaftszentrums (Narodowe Centrum Nauki) aufgrund der Entscheidung Nr. DEC-2013/ 09/ B/ HS2/ 01187. 118 Magdalena Latkowska bliothek und durchblätterte Jahrgänge des ‘Danziger Vorposten’, roch ich Mottlau und Radaune. In Gdańsk war ich fremd und dennoch fand ich in Bruchstücken alles wieder (Grass in Hermes 1997: 112). Bis in die frühen 1980er Jahre reiste Grass ausschließlich als Privatperson nach Polen, da er als offizieller Gast von den Behörden ungern gesehen war. Erst 1981, nach langjährigen Bemühungen der polnischen akademischen Welt wurde er zum ersten Mal von staatlicher Seite nach Polen eingeladen und sogar mit einer Medaille für seine Verdienste um Gdańsk ausgezeichnet. Damals stellte er gerührt fest: „[Man muss] zuerst seine Heimat verloren haben, um dann dort festlich aufgenommen zu werden“ (Die Zeit: 05.03.1976). Dieser Preis muss ihm besonders wichtig gewesen sein, da er später mehrmals daran anknüpfte. Ich bin aber auch stolz, dass von meiner Heimatstadt etwas ausgeht. Als ich im Jahr 1981 wieder einmal in Gdańsk war und in einer Ausstellung meine Grafiken gezeigt wurden, hielt der Bürgermeister dort eine kleine Rede auf Deutsch und sagte sinngemäß: Ein Sohn unserer Stadt ist zum internationalen Ruhm gekommen. Wir sind stolz auf ihn (Grass 1990: 23). Ein Jahr später beschrieb er die Verhängung des Kriegsrechts in Polen und konzentrierte sich dabei auf die Reaktion der westlichen Länder, die seiner Meinung nach nicht angemessen war. Der Westen, sagte Grass, blickt weg und handelt heuchlerisch: Vielleicht gehört jene Meldung eines Lebensmittelkonzerns, die für alle Haushalte bestimmt war, indem sie versicherte, die Versorgung des Marktes mit polnischen Weihnachtsgänsen sei gesichert, zu den wenigen ehrlichen Zeugnissen deutscher Anteilnahme nach dem 13. Dezember 1981 (Grass 1982 in Hermes 1997: 35). Gleichzeitig würdigte er die demokratischen Impulse, die aus der Gdańsker Solidarność herauskamen. Auf den überzeugten Sozialdemokraten musste die Tätigkeit von der polnischen Arbeiterbewegung, die nach Gerechtigkeit rief und freie Wahlen forderte, einen großen Eindruck gemacht haben, er erwähnte sie mehrmals: Käme doch den westdeutschen Gewerkschaften der solidarische Gedanke, bei den anstehenden Tarifverhandlungen ein Prozent mehr Lohn zugunsten der polnischen Arbeiter auszuhandeln; doch nicht aus Mitleid, sondern aus Dankbarkeit für nachwirkende demokratische Impulse, die von Polen ausgingen und uns hilfreich sein können (Grass 1982 in Hermes 1997: 37). Danzig und Gdańsk in den publizistischen Texten von Günter Grass 119 In den 1970er und 1980er Jahren (aber auch später noch) ergriff Grass zahlreiche Initiativen, die der Entwicklung der Stadt dienen sollten. 1976 rief er zum Beispiel die Behörden der Stadt Lübeck dazu auf, Gdańsk eine Glocke zurückzugeben, die vor dem Krieg einer dortigen Kirche gehörte. Da sich aber im Laufe der Aktion herausstellte, dass die Übergabe der Glocke kein Kriegsdiebstahl, sondern ein rechtlich einwandfreier Vorgang gewesen war, organisierte Grass zusammen mit einem Lübecker Aktivisten eine Geldspende, um eine neue Glocke für Gdańsk zu finanzieren (Die Zeit: 05.03.1976). Nicht alle seine Ideen waren jedoch genauso erfolgreich: Als er in den 90er Jahren vorschlug, in Gdańsk zahlreiche Verlage zu gründen, um aus der Stadt ein Verlagszentrum zu machen, gelang dies nur zum Teil. Auch die Gründung des „Museums der Beutekunst“ auf der deutsch-polnischen Grenze in Frankfurt an der Oder erwies sich aus praktischen Gründen als unrealisierbar. Als Grass der Gdańsker Werft vorschlug, sich vor der Insolvenz durch die Produktion der Schiffe auf hanseatische Art zu retten, wurde sein Vorstoß in Deutschland nur mit bissiger Ironie kommentiert. Wenn Grass in seiner Publizistik über die Stadt Danzig schreibt, macht er nicht die Welt seiner Kindheit zum Hauptthema, die im Mittelpunkt seiner fiktionalen Literatur steht, sondern eine noch ältere Geschichte der Stadt. Dabei preist er die Interkulturalität, Offenheit und Toleranz, die wohl dort seit dem Mittelalter geherrscht haben sollen sowie auch die Tatsache, dass sich die Stadt nicht immer in ihrer Geschichte in nationalen Kategorien erfassen ließ: „Die Geschichte der Stadt Danzig und Gdańsk ist länger und reicher, als mit der üblichen nationalen Messlatte errechnet werden kann“ (Grass 1993 in Hermes 1997: 386). Manchmal betonte er diesen Gedanken noch stärker: Doch bevor nationaler Wahn die Völker Europas ergriff und unduldsam machte, stand diese Stadt immer neuen Schüben von Flüchtlingen offen: Holländische Mennoniten, Schotten und französische Calvinisten fanden hier Zuflucht (Grass 1993 in Hermes 1997: 387). Auch herausragende Persönlichkeiten von Danzig sind ein wichtiges Thema seiner Texte; ihre Biographien sollen die Toleranz, die Offenheit und die Interkulturalität der Stadt verkörpern. Während einem seiner Besuche bewog Grass die Behörden der Stadt, eine wissenschaftliche Konferenz über die Rolle des Danziger Barocks in der Literatur des 17. Jahrhunderts zu organisieren, indem er dessen Bedeutung betonte: Während in Deutschland der Dreißigjährige Krieg tobte, galt Danzig schlesischen Schriftstellern als friedlicher Ort. Hier starb Martin Opitz. Hier schrieb der junge Andreas Gryphius seine ersten, bis heute gültigen Sonette. Hier begegne- 120 Magdalena Latkowska ten Kultur und Sprache einander. Welch ein Reichtum besonderer Art! Wie viele Zeugnisse europäischer Aufklärung: Beispielhaft sei Daniel Chodowiecki! (Grass 1993 in Hermes 1997: 387). Der Person des Zeichners und Kupferstechers Chodowiecki widmete Grass besonders viel Raum in seinen Essays. Seine Biographie bezeichnete er als beispielhaft interkulturell und dadurch zum Bild der Stadt passend. Väterlicherseits polnischer Herkunft, mütterlicherseits schweizerisch-calvinistisch geprägt, schrieb Chodowiecki seine Tagebuch-Aufzeichnungen in französischer Sprache nieder. Er, der spätere Präsident und Reformator der Königlich- Preußischen Akademie der Künste, hing Ideen der Aufklärung an und ließ sich auf keinen nationalistisch bemessenen Leisten spannen (Grass 1991 in Hermes 1997: 308). Grass bedauerte auch, dass Chodowiecki keine entsprechende Anerkennung in Polen gefunden habe. Die Gründe dafür sah er in einer angeblich nationalistischen Einstellung mancher polnischer Entscheider: „Chauvinistische Erbsenzähler verübeln ihm immer noch, dass er während seiner letzten Lebensjahre als Akademiedirektor ein preußischer Staatsbeamter gewesen ist“ (Grass 1991 in Hermes 1997: 309). 2 Grundlagen von Grass’ politischen Überzeugungen Die politischen Überzeugungen von Grass spielten zweifelsohne eine Schlüsselrolle in seiner Publizistik. Sozialdemokrat wurde Grass nach dem Krieg durch den Schock und das Grauen, das durch die Entdeckung der Wahrheit über die Massenmorde und Konzentrationslager ausgelöst wurde. Wie er später zu wiederholen pflegte, wurde er das Gefühl des Schocks nie richtig los, dieser war seither ein „Motor“ seines politischen Engagements. Das Gefühl, manipuliert und belogen worden zu sein, hat ihn wohl gegen jegliche extreme Ideologien „geimpft“, was Mayer-Iswandy wie folgt formuliert: Anfang 1946 wurde Grass aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Bald darauf setzte ein Prozess ein, in dessen Verlauf ihm allmählich klar wurde, ‘was man, überdeckt von Fanfarenruf und Ostlandgeschwafel, mit meiner Jugend angestellt hatte’. Hier liegt der Motor für sein unermüdliches politisches Engagement, die Basis für sein Selbstverständnis als Künstler und Bürger und für die Kraft, sich als Querdenker und Spielverderber zu präsentieren (Mayer-Iswandy 2002: 32). Danzig und Gdańsk in den publizistischen Texten von Günter Grass 121 Definitionen in nationalen Kategorien und „konservative“ Werte lehnte Grass seit dem Krieg entschieden ab. Die Ausschlagung der nationalen Komponente ist wohl am besten anhand seiner negativen bzw. skeptischen Einstellung zur Idee der Wiedervereinigung Deutschlands zu sehen, über die er übrigens schon seit den 60er Jahren schrieb. Statt einer „nationalistisch“ ausgerichteten Wiedervereinigung schlug Grass eine Konföderation der zwei deutschen Staaten vor, die durch eine allmähliche Annäherung zu erreichen wäre, natürlich unter der Voraussetzung der Abrüstung und Anerkennung der polnischen Westgrenze (Grass 1967a in Hermes 1997: 203-212). Die Hauptfrage, die Grass in Bezug auf die Bildung einer Konföderation stellte, betraf ihren Gründungsmythos. Die „Staatsnation“ sollte es nicht sein, denn der deutsche Nationalstaat stelle eine Bedrohung für sich selbst und für die Nachbarländer dar: Meine These heißt: Da wir, gemessen an unserer Veranlagung keine Nation bilden können, da wir, belehrt durch geschichtliche Erkenntnis - und unserer kulturellen Vielgestalt bewusst - keine Nation bilden sollten, müssen wir endlich den Föderalismus als einzige Chance begreifen (Grass 1967b in Hermes 1997: 255). Die „alte“ Definition der Nation als ethnische Gemeinschaft sollte gegen einen anderen Begriff von Nation ausgetauscht werden, deren Grundlage eine gemeinsame Kultur bilden würde. An Herder angelehnt nennt Grass eine solche Gemeinschaft „Kulturgemeinschaft“ oder „Kulturnation“ - eine ideale Staatsform, die religiöse und kulturelle Unterschiede auf deutschem Gebiet respektieren würde (Augstein 1990: 60). Dabei sieht Grass zwar Probleme im Zusammenhang mit der Interkulturalität und mit den Folgen der Migration, verbindet aber deren Wurzeln nicht mit dem Migrantenmilieu selbst, sondern mit der Einstellung der Behörden zu den Migranten: In miserablen Unterkünften, durch Mietwucher gepresst, von den Gewerkschaften nur unzureichend geschützt, latent der Kriminalität verdächtigt und kleinlich beargwöhnt - so leben Türken, Spanier, Kroaten, Italiener, Griechen […]. Hat man vergessen, welche Impulse Berlin den eingewanderten Hugenotten verdankt? […] Wie keine andere Stadt ist Berlin auf Neubürger, also auf Gastarbeiter und deren Familien angewiesen. Viele möchten bleiben, Frau und Kinder nachkommen lassen, scheitern jedoch an den Behörden, wie die Behörden an sich scheitern (Grass 1971b in Hermes 1997: 90). 122 Magdalena Latkowska Die Toleranz, die Offenheit und die Interkulturalität, die in der Danziger/ Gdańsker Publizistik von Grass eine so wichtige Rolle spielten, sind also auch in diesem Fall Schlüsselworte. 3 Grass als Heimatverlierer Das Bild des Verhältnisses von Grass zur Danziger Vergangenheit und Gdańsker Gegenwart wäre unvollständig, wenn sie nicht um seine Einstellung zum Heimatverlust ergänzt wäre. Auch sie wurde nämlich von seinen politischen Ansichten stark geprägt. Grass hat sich lebenslang als „Heimatverlierer“, nie aber als „Heimatvertriebener“ bezeichnet. Als Sozialdemokrat war er gegen jegliche „revisionistische[n] Tendenzen“, was er schon seit der Adenauerzeit unterstrich: „Wenn nun jemand glauben sollte, [...] ich wisse, wie man Konrad Adenauers Wahlversprechen an die Flüchtlinge ‘Ihr alle kommt in Eure alte Heimat zurück! ’ endlich einlösen könne, den muss ich enttäuschen“ (Grass 1965 in Hermes 1997: 112). Seit Mitte der 60er Jahre plädierte er dafür, dass sich die Heimatverlierer mit dem Verlust der Gebiete abfinden: Ich, als jemand, der da von unten kommt, kann nur zähneknirschend und gegen die eigene Brust schlagend die Wahrheit aussprechen: Wir haben diese Provinzen vertan, verspielt, eine Welt herausfordernd verloren (Grass 1965 in Hermes 1997: 113). In den 1970er Jahren unterstützte Grass die sozialliberale Politik Willy Brandts sowie seine Ostpolitik und setzte sich aktiv dafür ein, die polnische Westgrenze rechtlich anzuerkennen. 1970 begleitete er den Kanzler in seiner Reise nach Polen, wo der Vertrag zwischen der BRD und der Volksrepublik Polen unterzeichnet wurde, und wo Brandt vor dem Denkmal der Ghetto-Helden niederkniete. Grass bezeichnete den Vertragsabschluss als Erfolg: „Pünktlich schloss sich die Unterzeichnung des Deutsch-Polnischen Vertrages an. Ich gebe zu, dem ruhig und mit Distanz zugesehen zu haben. Unterschriften beglaubigten die Folgen eines begonnenen und verlorenen Krieges“ (Grass 1971a in Hermes 1997: 80). Durch falsche Hoffnungen, warnte Grass, würden die ehemaligen deutschen Gebiete auf zweierlei Weise verloren: materiell und symbolisch. Dem Begriff der Kultur und nicht der Nation verbunden, setzte er sich dafür ein, sich keine weiteren Illusionen über eine materielle Wiedergewinnung zu machen, sondern eher dafür zu sorgen, das kulturelle Erbe der verlorenen Gebiete zu erhalten und zu pflegen: „Die Hoffnung, es lasse sich wiedergewinnen, was unwiederbringlich vertan ist, hat uns behindert, der Kultur dieser verlorenen in der Bundesrepublik, eine neue Heimat, neuen Nährboden zu geben“ (Grass 1970: 1). Danzig und Gdańsk in den publizistischen Texten von Günter Grass 123 Erst viele Jahre nach der Wende ist in den Aussagen von Grass ein Tonwandel zu bemerken, wenn er über die Vertreibungen (nicht aber über die verlorenen Gebiete) spricht. Ein Beispiel davon kann eine Rede anlässlich der Verleihung des Preises der Universität Viadrina 2001 sein, in der er sagte: Nicht selten wurde Verbrechen mit Verbrechen vergolten. Darüber ist lange geschwiegen worden, doch jetzt ist es an der Zeit, diese Geschehnisse der ersten Nachkriegsjahre als Teil und Erblast der polnischen Geschichte zu begreifen: zwar ist die Vertreibung der Deutschen erklärbar, doch haften ihr zugleich alle Erkennungszeichen einer ‘ethnischen Säuberung’ an (Verleihung 2001: 29f.). Als 2002 Im Krebsgang veröffentlicht wurde, warf man Grass vor, seine bisherigen Ansichten zur Vertreibung geändert zu haben. Tatsache ist aber, dass der Schriftsteller über die deutschen Opfer des Krieges und ihr Gedenken bis zum Krebsgang eigentlich schwieg, die Forderungen der Vertriebenen unterstützte er aber nie, ganz im Gegenteil, er war ein scharfer Gegner ihrer Tätigkeit und stand mit ihnen oft im Konflikt. Seine „Wende“ wurde ihm also eher wider Willen zugeschrieben und politisch instrumentalisiert. Günter Grass hat sich mit dem Verlust seiner Heimat abgefunden und doch ließ ihn die Heimat, nicht nur im literarischen und publizistischen Sinne, nie los: „Danzig, Gdańsk und Polen sind Teile einer nicht nachlassenden Obsession von mir - Resultat des Verlusts von Heimat“ (Grass 18.04.2001: 130). 4 Literatur Augstein, Rudolf (1990): Günter Grass, Deutschland, einig Vaterland? Ein Streitgespräch. Göttingen. S. 60. Mayer-Iswandy, Claudia (2002): Günter Grass. München. S. 32. Sammeln für Danzig (1976). Günter Grass will in Lübeck trommeln. In: Die Zeit 05.03.1976. Verleihung des Viadrina-Preises 2001 an Günter Grass: am 13. Juli 2001. Hrsg v. d. Stiftung Viadrina-Preis. Frankfurt an der Oder. S. 29-30. Quellen Grass, Günter (1965): Was ist des Deutschen Vaterland. In: Hermes, Daniela (Hrsg.): Günter Grass. Essays und Reden 1. 1955-1969. Göttingen (1997). S. 110-120. Grass, Günter (1967a): Über die erste Bürgerplicht. In: Hermes, Daniela (Hrsg.): Günter Grass. Essays und Reden 1. 1955-1969. Göttingen (1997). S. 203-219. Grass, Günter (1967b): Die kommunizierende Mehrzahl. In: Hermes, Daniela (Hrsg.): Günter Grass. Essays und Reden 1. 1955-1969. Göttingen (1997). S. 243-256. Grass, Günter (1970): Zur Flüchtlingsfrage. Berlin. S. 1. 124 Magdalena Latkowska Grass, Günter (1971a): Politisches Tagebuch. Betroffen sein. In: Hermes, Daniela (Hrsg.): Günter Grass. Essays und Reden 1. 1955-1969. Göttingen (1997). S. 80-82. Grass, Günter (1971b): Politisches Tagebuch. In Kreuzberg fehlt ein Minarett. In: Hermes, Daniela (Hrsg.): Günter Grass. Essays und Reden 1. 1955-1969. Göttingen (1997). S. 89-91. Grass, Günter (1982): Der Dreck am eigenen Stecken. Der „freie“ Westen und das Kriegsrecht in Polen. In: Hermes, Daniela (Hrsg.): Günter Grass. Essays und Reden 1. 1955-1969. Göttingen (1997). S. 35-38. Grass, Günter (1990): Viel Gefühl, wenig Bewusstsein. In: Grass, Günter. Deutscher Lastenausgleich: wider das dumpfe Einheitsgebot. Berlin/ Weimar. 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Erst das Verständnis dessen, was Freundschaft für Türken bedeutet und wie sich Freundschaften in der türkischen und deutschen Gesellschaft entwickeln, erlaubt es, das Anderssein von Menschen eines anderen Kulturkreises zu akzeptieren und bestehende Vorurteile abzubauen. Erst dadurch wird ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen möglich. 1 Einleitung Um das Kräftespiel zwischen Eigenem und Fremdem in konkreten literarischen Texten zu zeigen sowie die möglichen nachbarschaftlichen Konstellationen in modernen multikulturellen Gesellschaften zu hinterfragen, eignet sich meines Erachtens die Prosa von Şinasi Dikmen am besten. Dikmen ist ein auf Deutsch schreibender Autor türkischer Herkunft, der das Leben in Deutschland genau beobachtet, die kulturellen sowie mentalen Unterschiede zwischen der türkischen Minderheit und der einheimischen Mehrheit sensibel aufzeichnet und dadurch zur kulturellen Verständigung zwischen den beiden Nationen wesentlich beiträgt. Er tut dies mit viel Einfühlungsvermögen und höchst ironisch, womit er nicht nur das Lesepublikum gewinnt, sondern auch bei Schriftstellerkollegen und Satirikern hohes Ansehen genießt. Dieter Hildebrandt bezeichnet Dikmen als „ein[en] Freund für länger“ (Hildebrandt 1995: 7) und meint, dass die Deutschen sich selbst nicht akzeptieren können, wie Dikmen sie beschreibt (Hildebrandt 1995: 7). In diesem Beitrag soll versucht werden, ‚Freundschaft‘ Dikmens Erzählung „Hurra, ich lebe in Deutschland“ hinsichtlich der Frage nach Hegemonialität und Marginalität in einer modernen Gesellschaft zu analysieren und anhand dieser Interpretation die Leistungsfähigkeit der Literatur zu reflektieren, d.h. der Frage nachzugehen, inwieweit die Literatur in der Lage ist, unser Denken zu beeinflussen und eventuell unser Handeln zu leiten. 126 Mehmet Öztürk 2 Zur Funktion der Literatur Je nach politischem, gesellschaftlichem oder geschichtlichem Hintergrund werden der Literatur unterschiedliche Funktionen zugeschrieben. Dementsprechend kann sie z.B. zur Entspannung, zur Teilhabe am kulturellen Leben, zur Vermittlung von Wissen, zum Selbstbewusstsein einer Schicht, einer Klasse oder eines Geschlechts, zur Vermittlung fremder Lebenserfahrungen, zur kulturellen Identifikation, zur Gesellschaftskritik oder zur politischen Bildung (vgl. www.schule-der-rhetorik.de/ funktionen.htm, Stand: 24.02.2014) dienen. (mehr dazu vgl. Kircher 1995: 229-332). An dieser Stelle lässt sich fragen, nach welchem Kriterium Literatur kategorisiert werden sollte. Ist ein literarisches Werk als ein autonomes Werk an sich zu betrachten oder steht seine Aufgabe und Funktion im Vordergrund? Im literarischen Diskurs bietet diese Kategorisierung immer wieder Zündstoff für angeregte Debatten. Antagonistisch stehen sich die Begriffe gegenüber, und damit die gegensätzlichen Meinungen über Kunst: Engagierte oder autonome Literatur, Tendenzdichtung oder l’art pour l’art, entweder Parteilichkeit oder reine Kunst (www.eingreifendes-denken.phil.uni-erlangen.de/ aufgaben.html, Stand: 24. 02.2014). Die Kunstauffassung „l’art pour l’art“ entstammt der französischen Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, und „in ihr kommt die Ansicht zum Ausdruck, dass Kunst sich selbst genügt, sich keinem äußeren Zweck dienstbar machen darf“ (de.wikipedia.org/ wiki/ L’art_pour_l’art, Stand: 02.03.2014). Die Gegenrichtung vertritt die Auffassung, dass die Kunst für die Gesellschaft da sei. In diesem Sinne dient die Literatur einem bestimmten Zweck und beabsichtigt, bei den Adressaten die Bildung einer politischen Meinung, einer Ideologie oder einer Moral hervorzurufen. In Deutschland findet diese Auffassung ihren Widerhall etwa in der Zeit des Jungen Deutschland und wird ‚Tendenzliteratur‘ genannt. Unter dem Einfluss des Westens wurden auch in der osmanischen Literatur der Tanzimat-Periode 1 Werke geschaffen, in denen zum Ausdruck gebracht wurde, dass die Kunst der Gesellschaft, dem Vaterland, der Freiheit und dem Volk dienen sollte. Unter der Fragestellung, welche Bedeutung dem Begriff ‚Freundschaft‘ in der deutschen und türkischen Kultur zukommt, wird hier untersucht, ob und inwieweit die Literatur die Individuen und die Gesellschaft in ihrem Handeln 1 Das Wort Tanzimat bedeutet ‚Anordnung‘, ‚Neuordnung‘ und wird als Epochenbezeichnung der osmanischen Geschichte verwendet. „Die Tanzimat begannen im Jahr 1839 nach dem Regierungsantritt des neuen Sultans, Abd’l Mecid, und endeten erst mit der Aufhebung der osmanischen Verfassung 1876“ (Nicolle 2006: 143). Türkisch-deutsche ‚Freundschaft‘ in satirischer Zuspitzung 127 und ihrem Urteil gegenüber dem Anderen und dem Fremden beeinflussen und sie zur Selbstkritik führen kann. Denn die Individuen können infolge dieser Selbstkritik das Andere und das Fremde besser verstehen, und dies kann zum Abbau gegenseitiger Vorurteile und damit schließlich zur Entstehung einer Gesellschaft beitragen, in der verschiedene Kulturen friedlich miteinander leben. 3 Zum Begriff ‚Freundschaft‘ Die Verhältnisse und Beziehungen einzelner Menschen richten sich nach der jeweiligen Kultur, in der und mit der sie aufwachsen, und ihre Verhaltensmuster entwickeln sich aus den Werten dieser Kultur. Unter diesen Werten kann als erster die Liebe zu den Mitmenschen genannt werden, die quasi ein elementarer Wert ist, auf dem die anderen Werte aufbauen. Yunus Emre († um 1321), ein anatolischer Dichter und Mystiker, brachte dies in dem Vers zum Ausdruck: „Ich liebe das Geschöpf um des Schöpfers willen.“ Er will also den Menschen als Mensch an sich lieben, ohne dabei an dessen Hautfarbe, Rasse, Religion, Sprache zu achten, und an seine eigenen Vorteile zu denken. Aus einer solchen Liebe entstehen Freundschaften. Eine wahre Freundschaft erfordert Verzicht auf seinen Anteil, Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit. In der türkischen Kultur gibt es zwei verschiedene Begriffe für den deutschen Begriff ‚Freund‘; der eine ist ‚arkadaş‘ im Sinne von ‚Freund‘ und der andere ist ‚dost‘ und hat eine gewichtigere und tiefere Bedeutung als ‚arkadaş‘; er entspricht etwa dem deutschen Begriff ‚Kamerad‘. Wenn man in einem deutsch-türkischen Wörterbuch nachschlägt, stehen für das deutsche Wort Freundschaft die türkischen Entsprechungen arkadaşlık und dostluk. Aber diese Entsprechungen arkadaşlık und dostluk unterscheiden sich in ihrer Bedeutung. Dieser Unterschied lässt sich an einem einfachen Beispiel erklären: Lernt man jemanden auf einer Reise im Bus oder im Zug kennen, so kann man diese Person erst nur als arkadaş nennen, oder jemand, mit dem man in der gleichen Fabrik arbeitet ist nur iş arkadaşı (Arbeitskollege), aber noch kein dost. Dass die Begriffe ‚arkadaş‘ und ‚dost‘ sich im Türkischen konnotativ unterscheiden, kann man leicht durch die Ableitungen mit den Wörtern arkadaş und dost feststellen: Für das deutsche Wort Arbeitskollege kann man im Türkischen iş arkadaşı sagen, aber ein Wort wie iş dostu lässt sich nicht bilden und ist semantisch nicht korrekt. Dass der Begriff ‚dost‘ einen kräftigeren semantischen Inhalt hat als ‚arkadaş‘, kommt in einer anderen Erzählung von Dikmen zum Ausdruck: Ein Türke möchte die Wohnung wechseln und muss deshalb in der Zeitung ein Inserat aufgeben, dafür braucht er die Hilfe eines Kollegen: 128 Mehmet Öztürk Ich bat meinen Freund Karl im Betrieb, dass er ein eindrucksvolles Inserat für mich formuliert. […] Auf dieses Inserat bekam ich keine Antwort. Mein Freund Karl im Betrieb - ich sage immer ‚mein Freund Karl im Betrieb‘, weil wir uns noch nie außerhalb des Betriebs getroffen haben (Dikmen 1995: 68). Hier wird deutlich, dass der Begriff ‚Arbeitskollege‘ nichts anderes bedeutet, als dass man ihn täglich am Arbeitsplatz trifft und darüber hinaus keinen Kontakt zu ihm hat. Im türkischen Wörterbuch findet man unter dem Stichwort dost folgende Definition: „eine Person, die man gerne hat, der man vertraut, mit der man gut auskommt und sich gut versteht“. 2 Deshalb ist es zuerst notwendig, darauf hinzuweisen, dass es sich in der vorliegenden Arbeit um Freundschaft im Sinne von ‚dostluk‘ handelt, obwohl der Titel der behandelten Erzählung ‚Freundschaft‘ (türkisch ‚arkadaşlık‘) heißt. 4 Der Inhalt der Erzählung Eine türkische Familie wohnt seit zwölf Jahren mit einer deutschen Familie, der Familie Berger, im selben Haus, aber sie haben keinen Kontakt zueinander, außer in den Fällen, in denen Herr Berger sich bei der türkischen Familie über den Krach ihrer Kinder beschwert. Ihn stören vor allem die Stimmen der Kinder. Erstaunlicherweise lädt Familie Berger eines Tages die türkische Familie zum Abendessen ein. Diese ist misstrauisch, was die Absicht dieser Einladung betrifft; es stellt sich heraus, dass die deutsche Familie sie nicht ohne Grund eingeladen hat. Denn es geht um die neue Stelle, die Frau Berger im Betrieb bekommen hat. Und diese Stelle hat viel mit Türken zu tun, sodass Frau Berger die Türkei und die Türken näher kennenlernen will, um in ihrem Beruf vorwärts kommen zu können. Während die Einladung der deutschen Familie nicht aus rein nachbarschaftlichen Gründen erfolgt, ist auch die Freude der türkischen Familie über den jahrelang ersehnten Kontakt mit der deutschen Familie nicht ganz unbedenklich, weil die türkische Familie sich dadurch ein größeres Ansehen in ihrem Heimatdorf zu verschaffen hofft. 2 Dost: Sevilen, güvenilen, yakın arkadaş, gönüldaş, iyi görüşülen (kimse). Türk Dil Kurumu Türkçe Sözlük, 1. Cilt, Sekizinci Baskı, Ankara 1988, S. 626 [Übersetzung: M.Ö.]. Türkisch-deutsche ‚Freundschaft‘ in satirischer Zuspitzung 129 5 Entwicklung von Freundschaft in der türkischen und in der deutschen Kultur Zu Beginn der Erzählung beschreibt Dikmen, dass „Freundschaften in Deutschland […] durch Zufälle“ (Dikmen 1995: 106) entstehen; dagegen versuchen Türken „mit gewaltsamer Zielstrebigkeit, deutsche Freunde zu gewinnen“ (Dikmen 1995: 106). Dieser Versuch lässt sich z.B. auf einer Busreise unternehmen: Man wird von einem Mitreisenden, der im Bus zufällig neben einem sitzt, nach vielen Daten und Fakten gefragt. Nachdem man sich eine gute Reise gewünscht hat, bombardiert dieser einen mit Fragen wie: Woher kommen Sie? Wo wohnen Sie? Was sind Sie von Beruf? Haben Sie Kinder? usw. Aber der Gesprächspartner ist mit den Antworten nicht zufrieden und fragt solange weiter, bis man vielleicht auf einen Menschen stößt, der beiden Reisenden bekannt ist; oder man versucht, über den Mitreisenden möglichst genaue Auskünfte zu erhalten und herauszufinden, ob man vielleicht aus demselben Dorf oder Bezirk kommt. Von dieser Zielstrebigkeit erzählt auch Hülya Özkan in ihrem Buch „Güle Güle Süperland“, und beschreibt, wie ihr Bruder im Urlaub mit einem deutschen Paar in Kontakt zu kommen versuchte, indem er diesem seine Hilfe beim Ankerwerfen angeboten hat: Die Frau, wie sich herausstellte eine Deutsche, ließ sich nur ungern helfen und schaffte es am Ende sogar ganz alleine, den Anker zu setzen. Das hielt meinen Bruder jedoch nicht davon ab, diese wildfremden Menschen an diesem Tag zum Abendessen einzuladen. […] Aber worüber sprach man mit diesem Pärchen, das wir soeben kennengelernt hatten und einen etwas verstockten Eindruck machte? […] Aber mein Bruder war wie immer zu einem kleinen Schwätzchen aufgelegt […]. Er fragte die Gäste, woher sie kämen und wohin sie fahren würden. Darauf folgten ein paar Fragen zu den Daten und Fakten über das Schiff des Pärchens (Özkan 2011: 158f.). Ihr Bruder strebt die Freundschaft dieses deutschen Pärchens so sehr an, dass er ihnen noch anbietet, ihn in Berlin zu besuchen: „Die meiste Zeit des Abends redete mein Bruder, und am Ende gab er ihnen seine Visitenkarte. Sie könnten ja mal bei ihm vorbeischauen, wenn sie in Berlin seien“ (Özkan 2011: 160). An diesem Beispiel lässt sich erkennen, wie Türken eine Freundschaft anstreben, während bei den Deutschen für die Freundschaft das Prinzip der Zufälligkeit gilt. Aber Dikmen spitzt seine Erzählung dahingehend zu, weil es ja sehr lange dauerte, bis es zu diesem Zufall kam: „Zwölf Jahre lang wohnten wir mit Familie Berger unter einem Dach. Sie auf der oberen Etage, wir unter ihnen. Zwölf Jahre lang haben sie weder mich noch ein Mitglied meiner Familie gegrüßt“ (Dikmen 1995: 106). 130 Mehmet Öztürk Als kultureller Wert ist neben der Freundschaft auch die Nachbarschaft zu erwähnen. Aufgrund einer Hadith 3 wird in der türkischen bzw. islamischen Kultur der nachbarschaftlichen Beziehungen eine große Bedeutung zugeschrieben. Allâhs Prophet Mohammed hat einmal gesagt: „Derjenige ist kein (wahrhaftiger) Gläubiger, der sich satt isst, während sein Nachbar Hunger leidet“ (www. ditib.de/ default1.php? id=7&sid=19&lang=de, Stand: 06.03.2016). Deshalb hat Nachbarschaft Vorrang vor Verwandtschaft. Ein türkisches Sprichwort besagt: „Der Nachbar ist sogar auf die Asche seines Nachbarn angewiesen.“ Aber eine solche Nachbarschaft fehlt zwischen der deutschen und türkischen Familie, und eine nachbarschaftliche Beziehung kommt auch deshalb nicht zustande, weil ihr Verhalten mit Vorurteilen behaftet ist. In der Erzählung werden diese ebenfalls satirisch dargestellt: Beide Familien haben ein falsches Bild voneinander, und damit wird die Annäherung der Menschen erschwert. 6 Freundschaft und Nachbarschaft im Schatten der Vorurteile Die türkische Familie sieht der Einladung der deutschen Nachbarsfamilie mit Skepsis entgegen, weil sie erst nach zwölf Jahren erfolgt und die türkische Familie befürchtet, dass die Deutschen niemand grundlos einladen. Die Skepsis wird bestätigt, als Herr Berger den Grund der Einladung zur Sprache bringt: Frau Berger bekam eine neue Stelle im Betrieb, und diese neue Stelle sollte viel mit den Türken zu tun haben. Damit seine Frau vorwärts kam, und sie nicht mehr in diesem Arbeiterviertel wohnen müßten, sollte sie erst die Türkei kennen lernen. Das würden wir doch einsehen, oder? Wir sind doch Nachbarn, und Nachbarn müßten sich gegenseitig helfen (Dikmen 1995: 108). Es stellt sich also heraus, dass es bei der Einladung um Frau Bergers Karriere geht, und die türkische Familie auf der anderen Seite erhofft sich von einer Freundschaft und Nachbarschaft mit der deutschen Familie Ansehen in der Türkei: Welches Ansehen würde ich in meinem Dorf genießen, wenn ich in meinem Wagen mit den deutschen Gästen ins Dorf hineinführe! Ein deutscher Freund mit seiner Familie würde mich besuchen, meine Familie, meine Verwandten, würde Wasser und Brot mit mir teilen, freiwillig dieselbe Luft einatmen, auf gleiche Art und Weise wie ich in meinem Dorf leben (Dikmen 1995: 108f.). 3 Hadith: Berichte des Propheten Mohammed, in denen er angibt, wie sich die Muslime in allen Lebensbereichen zu verhalten haben. Türkisch-deutsche ‚Freundschaft‘ in satirischer Zuspitzung 131 Auch wenn die türkische Familie bei der Freundschaft und Nachbarschaft mit der deutschen Familie eher auf ihren Vorteil bedacht ist, möchte der türkische Mann dennoch gerne dafür sorgen, dass die deutsche Familie im Urlaub bequem übernachten kann. Er nimmt sogar einen Kredit auf, um für seine deutschen Gäste ein neues Haus zu bauen. Solche Zuspitzungen, die die Unterschiede zwischen beiden Kulturen markieren, ziehen sich durch die ganze Erzählung hindurch. Einige dieser zugespitzten Unterschiede sollen hier genannt werden: Die Deutschen - laden nicht ohne Grund ein, - wollen anderen Menschen keine Umstände machen, - sind integrationsfähiger als die Türken, - brauchen keine Geschenke, sondern Ruhe und Alleinsein, - besichtigen immer alte Steine, wenn sie im Urlaub sind, - zeigen gerne ihre Urlaubdias, - waschen sich nicht so oft. Dikmen stellt auch die Charaktereigenschaften der Türken satirisch dar und weist darauf hin, dass türkische Migranten in Deutschland die Türken insgesamt nicht repräsentieren können, weil sie sich selbst geändert haben. Herr Berger berücksichtigt die muslimischen Regeln und kauft für seine türkischen Gäste Rindfleisch, weil er davon ausgeht, dass sie als muslimische Familie kein Schweinefleisch essen dürfen. „Er fügte hinzu, daß er für uns Rindfleisch gekauft hätte, und er hoffe, daß wir die Einladung nicht ablehnen würden“ (Dikmen 1995: 107). Aber am Beispiel dieser türkischen Familie macht der Schriftsteller darauf aufmerksam, dass die Türken in Deutschland sich doch veränderten und in ihren religiösen Vorschriften lockerer wurden: Daß er unsere Eßgewohnheiten berücksichtigte, fand ich ausgesprochen aufmerksam von ihm. Die Deutschen hinken zwar hinter unseren Gewohnheiten hinterher, aber das macht nichts. Wir hatten schon lange angefangen, Schweinefleisch zu essen, aber nur in der Familie, das wussten die anderen Türken nicht, und wir würden das ihnen gegenüber auch nie zugeben (Dikmen 1995: 107). Doch betont er, dass die Türken die europäische Lebensweise noch nicht vollständig adaptiert hätten: Sie wollten den Urlaub auch nicht dort verbringen, wo es von Deutschen nur so wimmelt, sondern da, wo echte Türken leben. Von unserem Aussehen und Benehmen ausgehend, nahmen sie an, daß wir aus einem Dorf stammten (Dikmen 1995: 108). 132 Mehmet Öztürk An diesem Zitat wird deutlich, dass beim Aussehen und Benehmen der Türken keine Veränderungen zu verzeichnen sind. Sie sehen immer noch wie Dorfbewohner aus und benehmen sich immer noch so, als ob sie noch im Dorf leben würden. Hier lässt sich die Frage stellen, ob und inwieweit man sein Aussehen und sein Benehmen ändern und sich an die Normen des Landes, in dem man gerade lebt, anpassen sollte. So sagt Bernhard Schneider, Leiter der Sprachabteilung des Goethe Instituts in Ankara, in einem Interview über deutsche Touristen in der Türkei: „Nach Alanya oder Antalya gehe ich ungern. Dort sind zu viele deutsche Touristen, die sich schlecht benehmen. Gerade die Pauschaltouristen benehmen sich furchtbar“ (Galler/ Uslu 2010: 34). Es gibt also in jeder Gesellschaft Personen, die von den Normen abweichen, aber das berechtigt uns nicht, ihr Benehmen zu verallgemeinern und dies zum Vorwand für unsere Vorurteile gegen die gesamte Gesellschaft zu nehmen. In der Diskussion um die Integration von Migranten wird diesen immer wieder vorgeworfen, dass sie sich von der deutschen Gesellschaft ausschlössen und kein Interesse an Kontakten zu den Deutschen und an ihrer Integration hätten (vgl. Picardi-Montserado 1985: 1; Dominik 1999: 10). Der Journalist Jürgen Gottschlich stellt allerdings dieselbe Abschottung der in Alanya lebenden Deutschen von der türkischen Gesellschaft fest: „Die Szenerie von Alanya finde ich eher traurig. Viele deutsche Rentner, die dort leben, haben überhaupt keinen Kontakt mit der türkischen Gesellschaft“ (Galler/ Uslu 2010: 11). Infolge der Einwanderung vieler ausländischer Arbeitskräfte haben sich die Mieten in Deutschland erhöht. Obwohl dies ein Phänomen von Nachfrage und Angebot ist, schiebt man die Schuld auf die Migranten; dasselbe Problem taucht auch in der kleinen Kreisstadt Alanya in der Türkei auf, nachdem sich deutsche Rentner dort niedergelassen haben. Gottschlich stellt fest: „Natürlich gibt es Konflikte mit der türkischen Bevölkerung, weil durch den Zuzug der Deutschen die Mieten drastisch gestiegen sind“ (Galler/ Uslu 2010: 11). Unabhängig davon, in welches Land die Migration erfolgt, hat sie unausweichliche soziale Folgen wie Mieterhöhungen, Arbeitslosigkeit u.a. (Schierloh 1984: 12). Dabei werden nicht die Vermieter selbst kritisiert, die die Wohnungsnot ausnutzen und die Mieten ohne Grund erhöhen. Das gleiche Problem hat man zurzeit auch in türkischen Städten an der syrischen Grenze, wo inzwischen die Zahl syrischer Flüchtlinge auf 700.000 gestiegen ist. In türkischen Städten wie Gaziantep, Kilis, Hatay haben sich die Mieten bereits verdoppelt, und daran sind nicht die Flüchtlinge schuld, sondern diejenigen, die die Mieten ohne Grund erhöhen. Diese Menschen, seien es Arbeitsmigranten oder Flüchtlinge, bringen nicht nur Probleme, sondern auch gesellschaftliche Werte und Traditionen mit, die für die Einheimischen ein Maßstab sein könnten, um diese Menschen zu verstehen und mit ihnen in Kontakt zu kommen. Dies wird insbesondere anhand Türkisch-deutsche ‚Freundschaft‘ in satirischer Zuspitzung 133 der künstlerischen Tätigkeit mancher Migranten deutlich, was Uwe Pörksen zu der Einsicht führt: Schriftsteller ausländischer Herkunft verfügen über den Hintergrund eines Kulturraums, der dann als eigentümliches Gepäck bei uns anlangt und als ein Blick, der eine andere Auswahl trifft, neue Seiten bemerkt. Im glücklichen Fall erweitern sie den Horizont unserer Wertvorstellung und Gestaltungsformen (Pörksen 2008: 7). Freundschaft und Nachbarschaft gehören ebenfalls zu den Werten, die für Türken von großer Bedeutung sind. Freundschaft, Nachbarschaft und Gastfreundschaft unter den Türken werden auch von den Deutschen mehrfach bestätigt. „Die Menschen haben wenig, aber von dem wenigen geben sie auch noch ab. […] Ich war viel im Land unterwegs, den ganzen Osten habe ich gesehen. […] Die Menschen dort waren sehr freundlich“ (Galler/ Uslu 2010: 35). In dem Bericht über ihren Aufenthalt in der südostanatolischen Stadt Diyarbakir betont die Kulturwissenschaftlerin Catharina Müller auch die Gastfreundschaft der Türken (Galler/ Uslu 2010: 42). Ein anderer Deutscher, der beruflich in der Türkei war, berichtet ebenfalls von diesen gesellschaftlichen Werten: Begeistern kann ich mich für die Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Menschen, die leider in Deutschland verloren gegangen ist. […] Als unterschied zu Deutschland empfinde (ich) die enorme Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Leute, die menschliche Wärme“ (Galler/ Uslu 2010: 53f.). Die Deutschen nennen die Türken „Überlebenskünstler“, weil sie in Deutschland auch unter den schlechtesten Umständen einen Ausweg finden, um ihr Leben fortzusetzen. Das kommt daher, dass sie zusammenhalten und sich gegenseitig helfen, und diese Hilfe kommt natürlich auch Freunden und Nachbarn zugute, worauf auch die Diplom-Pädagogin Karin Eiba hinweist: Das soziale Miteinander hier in den Familien, mit den Kindern und unter Freunden beeindruckt mich immer wieder. Diese gegenseitige Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft tun meiner Seele gut (Galler/ Uslu 2010: 56f.). Auch Anneliese Krüger erzählt begeistert von dem sozialen Miteinander und dem intensiven Familienleben der Türken, was sie in Deutschland vermisst: Die Spontaneität und Gastfreundschaft und das soziale Miteinander sind etwas, das ich in der Türkei stets äußerst bereichernd erfahren habe. Auch wenn Berufs- und Schulleben arbeitsaufwendig sind, ist das Familienleben intensiver und 134 Mehmet Öztürk die wenige Freizeit wird in Geselligkeit verbracht - und das jederzeit, spontan. Nicht wie in Deutschland nach wochenlanger Absprache (Galler/ Uslu: 2010: 21). Alle hier zitierten Aussagen sprechen dafür, dass Werte wie Freundschaft, Nachbarschaft, familiärer Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft u.a. in der türkischen Gesellschaft noch immer sehr viel bedeuten und auch von Deutschen sehr geschätzt werden. Daraus lässt sich folgender Schluss ziehen: Man wird in eine Gesellschaft hineingeboren, die über ihre eigenen Normen und Werte verfügt. Daher ist es meiner Meinung nach wichtig, dass man sich in die Lage des Anderen hineinversetzt und die Ereignisse aus dessen Perspektive betrachtet und beurteilt. Das ist die Grundlage für das friedliche Zusammenleben der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Am Beispiel der hier behandelten Erzählung wird darauf aufmerksam gemacht, dass Literatur durchaus auch eine subversive Macht hat, durch die Şinasi Dikmen die Menschen sowohl aus dem deutschen als auch aus dem türkischen Kulturkreis darüber zum Nachdenken zu bringen versucht, ob ihre Vorurteile berechtigt sind und wie man diese beseitigen kann. 7 Literatur Dominik, Katja u.a. (Hrsg.) (1999): Angeworben, eingewandert, abgeschoben. Ein anderer Blick auf die Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland. Münster. Galler, Sonja/ Uslu, Zeki (Hrsg.) (2010): Kommen und Bleiben. Deutsche Auswanderer in der Türkei. Ein Interviewheft. Diyarbakır. Kircher, Hartmut (1995): Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. In: Dürscheid, Christa/ Kircher, Hartmut/ Sowinski, Bernhard: Germanistik. Köln/ Weimar/ Wien. S. 229-332. Nicolle, David (2006): Die Osmanen - 600 Jahre islamisches Weltreich. Wien. Picardi-Montserado, Anna (1985): Die Gasterbeiter in der Literatur der Bundesrepublik Deutschland. Berlin. Pörksen, Uwe/ Busch, Bernd (Hrsg.) (2008): Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positionen des Schreibens in unserem Einwanderungsland. Darmstadt. Schierloh, Heimke (1984): Das alles für ein Stück Brot. Migrantenliteratur als Objektivierung des ‚Gasterbeiterdaseins‘. Frankfurt am Main. Wörterbücher Türk Dil Kurumu Türkçe Sözlük (1988). 1. Cilt. Sekizinci Baskı. Ankara. Quellen Dikmen, Şinasi (1995): Hurra, ich lebe in Deutschland. Satiren. Mit einen Vorw. v. Dieter Hildebrandt. München. Türkisch-deutsche ‚Freundschaft‘ in satirischer Zuspitzung 135 Hildebrandt, Dieter (1995): Sinasi - ein Freund für länger. In: Dikmen, Sinasi (1995): Hurra, ich lebe in Deutschland. Satiren. München. S. 7-9. Özkan, Hülya (2011): Güle Güle Süperland. Eine Reise zu meiner schrecklich netten türkischen Familie. München. Internetquellen www.schule-der-rhetorik.de/ funktionen.htm (Stand: 24.02.2014). www.eingreifendes-denken.phil.uni-erlangen.de/ aufgaben.html (Stand: 24.02.2014). de.wikipedia.org/ wiki/ L’art_pour_l’art (Stand: 02.03.2014). www.ditib.de/ default1.php? id=7&sid=19&lang=de (Stand: 06.03.2016). „Lodzer Typen“ in der Darstellung der Journalistin Berta Teplitzka Ewa Psuty (Łódz/ Lodz) Zusammenfassung 1 Vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte die deutschsprachige Journalistin Berta Teplitzka in der „Lodzer Zeitung“ satirische Texte über Lodzer Menschen. In ihren kurzen Artikeln schilderte sie auf lustige Art und Weise die Bewohner von Lodz, ihr Leben und ihre Tätigkeiten. Ihr Ziel war es nicht, nur bestimmte Verhaltensweisen zu verspotten, sondern auch die in Lodz herrschende Atmosphäre einzufangen. Sie gab die Miniaturen 1913 unter dem Titel „Lodzer Typen“ heraus. Nach dem Ersten Weltkrieg erschienen weitere Satiren dieser Art in der „Neuen Lodzer Zeitung“. Es ist nicht sicher, ob Berta Teplitzka auch diese schrieb, weil sie nicht signiert sind. Ihr Stil lässt jedoch den Schluss zu, dass sie Texte weiter von Teplitzka geschrieben wurden. Es werden einige literarische Miniaturen vorgestellt und narratologisch analysiert und das Bild des „Lodzer Menschen“ im Verständnis der Autorin umrissen. 1 Einleitung Bislang beschäftigte sich die Forschung zur Geschichte und Kultur von Lodz, wenn überhaupt, nur mit Männern dieser Stadt. Hierzu zählen etwa die Publikationen von Kucner (Kucner 2005: 161-180; Krawczyk-Wasilewska/ Kucner/ Zimnicka-Kuzioła 2012), Kuczyński (Kuczyński 2005) oder Radziszewska (Radziszewska 1999 und 2000). Die Lodzer Journalistin Berta Teplitzka hingegen ist in diesem Kontext eine relativ neue Entdeckung. Sie schrieb vor dem Ersten Weltkrieg in der „Lodzer Zeitung“. Neuere Forschungen ergaben, dass sie nach dem Ersten Weltkrieg für die „Neue Lodzer Zeitung“ (eine Fortsetzung der „Lodzer Zeitung“) schrieb (Kaszubina 1967: 116-147). Darauf deuten die veröffentlichten Texte hin, die in einem ähnlichen Stil verfasst sind und gleiche Themen behandeln. Einen Nachweis dafür gibt es jedoch noch nicht. Berta Teplitzka schrieb auf Deutsch und fühlte sich höchstwahrscheinlich den Lodzer Deutschen verbunden. Trotzdem wurde sie als Jüdin von den Nationalsozialisten in das Lodzer Getto deportiert. 1 Der vorliegende Text geht auf den gleichnamigen Vortrag der Verfasserin in der von Frau Prof. Dr. Magdolna Orosz und Frau Dr. Gabriella Rácz geleiteten Sektion 4 „Narration und Kultur“ zurück. 138 Ewa Psuty In der „Lodzer Zeitung“ veröffentlichte sie kurze Texte, die jeweils einen bestimmten Menschentyp thematisieren. Später publizierte sie diese in einem Band mit dem Titel „Lodzer Typen“ (Teplitzka 1913). Das Buch erschien erneut 2008, herausgegeben von Lodzer Germanisten (Teplitzka 2008). Obwohl auf der Titelseite des Buches der Name von Berta Teplitzka steht, war es für die Lodzer Journalisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eher ungewöhnlich, ihre Texte namentlich zu kennzeichnen. Die kurzen Artikel, die Teplizka veröffentlichte, waren ebenfalls nie mit ihrem oder gar mit einem anderen Namen signiert. Vielleicht war der Autor eines Artikels der damaligen Leserschaft unwichtig oder vielleicht der Leserschaft so bekannt, dass die Nennung des Namens nicht nötig war. Man kann aber nicht verallgemeinern, dass kein Artikel unterschrieben wurde, weil es doch einige Ausnahmen gab. Es war auf jeden Fall die Regel in der Lodzer Presse, dass nur der Chefredakteur und der Herausgeber namentlich genannt wurden. Immerhin steht der Name Teplitzkas auf der Titelseite ihres Buches. Hier finden wir nur noch die Information, dass das Werk im Verlag von A. Drewing erschien (Teplitzka 1913: o.S.). Die Frage, ob die Herausgabe eine Eigeninitiative von Berta Teplitzka war, oder ob es Bedarf für eine Sammlung solcher Texte seitens der Leserschaft gab, kann nicht beantwortet werden. Teplitzkas Lodzer Typen sind witzige Satiren mit einem Umfang von einer bis sechs Seiten, die immer einen bestimmten Personentyp verspotten. Besonders interessant ist der Anfang der Buchausgabe, in der Teplizka in einem Vorwort die Boshaftigkeit ihrer Texte rechtfertigt, indem sie diese harmlos als „Photographien“ bezeichnet: „Dieses Büchlein, die gesammelten „Lodzer Typen“, entspricht nun gleichsam einem Album, in welchem die Photographien von Verwandten, Freunden und Bekannten untergebracht sind“ (Teplitzka 1913: 8). Eine Fotografie zeigt nur einen Teil der Realität. Sie fängt einen bestimmten Moment ein, ist einseitig und hebt bestimmte Merkmale hervor, die im wirklichen Leben unter Umständen nicht bemerkbar sind. Zugleich legt der Vergleich der Texte mit der Fotografie aber auch nahe, dass es sich um eine Abbildung der Realität handeln soll, ohne dass etwas erfunden ist. Teplitzka behauptet, sie beschreibe wirklich lebende Lodzer, jedoch erlaubt sie sich bewusst eine gezielte Einseitigkeit und Untiefe in der Darstellung. Ihr Ziel ist es natürlich, eine bestimmte Verhaltensweise zu verspotten. Selbst gibt sie zu: „Sein eigenes Bild tut man gewöhnlich in solch ein Album nicht hinein“ (Teplitzka 1913: 8). Höchstwahrscheinlich gibt es deswegen keine Beschreibung der Lodzer Journalisten in der Sammlung. Am Ende des Vorworts tröstet Teplitzka ihre Leser, dass sie sicherlich als Typ im Buch nicht vorkommen. Sie behauptet, sie beschreibt jeden anderen, nur nicht ihre Leser. Auf diese Art und Weise setzt sie „Lodzer Typen“ 139 schon im Vorwort das Mittel der Ironie ein, die im ganzen Buch vorhanden ist (Teplitzka 1913: 8). 2 Narratologische Analyse Wenn die Texte von Teplitzka mit der Hilfe der Narratologie untersucht werden sollen, sind vorab einige Fragen zu stellen. Vor allem hat man zu bedenken, dass sie in einem Periodikum veröffentlicht wurden und eine unterhaltende Funktion hatten. Die Frage nach der Authentizität oder Fiktionalität, Darstellung und Perspektivierung sind zu stellen (Martinez/ Scheffel 2009: 27-108). Berichtet Teplitzka von Fakten oder denkt sie sich das Geschehen aus? Am Anfang der Sammlung stehen zwei längere Erzählungen, die jeweils von Lebensabschnitten zweier junger Leute in Lodz handeln. Die erste Erzählung mit dem Titel „Der junge Mann“ handelt von einem solchen, der nach Lodz kommt um Karriere zu machen. Er schafft es recht schnell, sich hier durchzusetzen, jedoch ist seine Moral durch die Lodzer Atmosphäre verdorben (Teplitzka 1913: 9-14). Der zweite Text „Marysias Werdegang“ schildert eine ganz andere Geschichte. Ein Mädchen kommt nach Lodz, um etwas Geld für sich und ihre Familie zu verdienen. Am Ende ist sie gescheitert, weil ihr Leben durch die Stadt vernichtet wurde (Teplitzka 1913: 15-19). Inwieweit waren solche Vorgänge für Lodz typisch? Waren die beiden Handlungen ausgedacht oder real? Der oben erwähnte Vergleich mit einem Fotoalbum scheint nahezulegen, dass es sich nicht um fiktive Geschichten handelt. Es ist jedoch schwer, an ihre Realität zu glauben, da vor allem die Geschichte des Mädchens sehr melodramatisch ist. Generell ist das Melodramatische nicht untypisch für Teplitzkas Stil. Sie benutzt es gern, um bestimmte Verhaltensweisen, vor allem Dummheit und Einfalt, zu verspotten. Unter ihren „Lodzer Typen“ sind viele unglaublich absurde Figuren. Wie die Autorin jedoch im Vorwort schreibt, schildert sie nur die schriftlichen Fotografien der Menschen. Da ein Fotograf manchmal auch gestellte Bilder mit erdachten Posen aufnimmt, können wir annehmen, dass die Ereignisse bei Teplitzka nur vertextete Mise-en-scene sind. „Lodzer Typen“ mögen grundsätzlich auf den Beobachtungen der Journalistin basieren, aber das Geschehen ist wohl von ihr erfunden. Die Geschichte des jungen Mannes ist mit sechs Seiten die längste in der Sammlung. Die Länge ergibt sich daraus, dass Teplitzka in diesem Fall die Entwicklung eines Mannes schildert, während sie in anderen Texten lediglich eine Situation beschreibt oder einfach einige komische Charaktereigenschaften nennt. Die Ereignisse sind hier chronologisch angeordnet. Einzelne Geschehen sind kurz dargestellt, um durch einen ausführlichen ironischen Kommentar bereichert zu werden: 140 Ewa Psuty Nun beginnt die Büreauarbeit, das Sichhineinfinden in die neue Beschäftigung. Es herrschen nicht mehr dieselben patriarchalischen Verhältnisse wie einst zwischen Chef und Angestellten. Jetzt heißt man nicht mehr Lehrling oder Bursche, wird nicht mehr geduzt, braucht nicht, wie früher, Kinder des Chefs spazieren zu führen, Besorgungen für den Haushalt der gnädigen Frau zu machen, wohnt nicht mehr im Hause wo man streng kontrolliert wurde und nur an Sonn- und Feiertagen ausgehen durfte (Teplitzka 1913: 10). Manchmal ist für Teplitzka ein erzähltes Ereignis nur ein Aufhänger, um einen lächerlichen Typen darzustellen, wie beispielsweise im Text „Die Heiratsfähige“. Die Beschreibung beginnt folgendermaßen: „Papa Dorobkiewicz hat sich nach reichen [sic! ] Mittagsmahl zu seiner kleinen Siesta in seinem Kabinett niedergelassen“ (Teplitzka 1913: 96). Das ist die einzige Handlung auf der vierseitigen Darstellung eines Vaters, der darüber nachdenkt, mit wem er seine Tochter verheiraten soll. Im Laufe des Textes überlegt sich dieser einerseits, wie gut er seine Tochter erzogen hat; dennoch ist sie noch immer nicht verheiratet. Herr Dorobkiewicz beklagt sich anderseits, dass er gerade in einer Krise steckt und daher seiner Tochter keine angemessene Mitgift geben kann. Die Tochter solle einfach ihren „Zweck“ erfüllen und einen reichen Industriellen heiraten. Es heißt, dass der Vater für seine Überlegungen während der Siesta immer 15 Minuten braucht; Teplitzka bedient sich hier der Zeitraffung, denn man liest die Erzählung nicht länger als fünf Minuten (Teplitzka 1913: 96). Letztere Beobachtung ist gültig für alle „Lodzer Typen“. Die Zeitraffung ist bei anderen Texten noch deutlich stärker. Beispielsweise beschreibt sie in „Strohwitwer“ acht Wochen im Leben des Herrn Bummelmann auf fünf Seiten (Teplitzka 1913: 25-30). Nicht zu vergessen ist, dass diese Texte als witzige Beiträge in der Zeitung veröffentlicht wurden und sicherlich nicht viel Zeit und Platz in Anspruch nehmen sollten (Martinez/ Scheffel 2009: 39-45). Teplitzka beschreibt Ereignisse, Charaktereigenschaften oder setzt sich mit einzelnen Begriffen auseinander. Sie verwickelt ihre Figuren in Gespräche oder lässt sie Monologe führen, vor allem um ihre absurde Denkweise zu verspotten. Manchmal ist der Übergang zwischen der Beschreibung und den inneren Monologen nicht gekennzeichnet, aber trotzdem verständlich: Heute ist Papa Dorobkiewicz bei besonders schlechter Laune. Das hat man davon! Zwei Jahre lang war sein Töchterchen, nachdem sie das Gymnasium beendet hatte, in Lausanne in einer faschionablen Pension gewesen, und jetzt hatte er sie von dort abgeholt, um „zu einem Zweck zu kommen“, wie er es nannte. Sie wollte zwar durchaus weiter studieren. Aber als ob sie jetzt nicht gebildet genug wäre! “ (Teplitzka 1913: 96). „Lodzer Typen“ 141 Am Anfang wird das Befinden von „Papa Dorobkiewicz“ geschildert. Unmittelbar danach kommt Gedankenrede, die nicht gekennzeichnet ist. Der Leser kann sich daher sofort in die Laune des Vaters hineinfühlen. Dann folgt die Beschreibung der Situation, in der sich der Protagonist gerade befindet. Sein lustiger Ausspruch, höchstwahrscheinlich auch seine Meinung über das Heiraten, steht in direkter Rede. Dann meldet sich plötzlich die Tochter selbst zum Wort in Form der indirekten Rede. Ihr Wunsch („ich will weiter studieren“) ist mit einem Ausrufesatz ihres Vaters kommentiert. Der Ausrufesatz ist erneut eine nicht gekennzeichnete zitierte Gedankenrede. Möglicherweise hat es sogar eine solche Auseinandersetzung oder Streit zwischen Papa Dorobkiewicz und seiner Tochter gegeben. Der Leser weiß dies nicht, aber die Darstellungsweise ermöglicht verschiedene Vorstellungen darüber, wie diese ausgesehen haben könnte. Obwohl die Situation ausschließlich aus der Perspektive des Vaters gezeigt wird, erkennt der Leser auch die Ansichten und Wünsche der Tochter (vgl. Teplitzka 1913: 96-100). 3 Zusammenfassung und Ausblick Die verschiedenen Lodzer Typen sollen dem Leser bekannt vorkommen, und dank der verschieden gehandhabten Figurenrede kann man sich in ihre Situation hineinfühlen. Die Darstellung der Protagonisten ist zwar zum Teil boshaft und manchmal hat man sogar ein wenig Mitleid mit ihnen, aber durch Teplitzkas Schreibfähigkeit liest man die Erzählungen doch mit Vergnügen. Es bleibt jetzt die Aufgabe, ihre Texte, die sie nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben hat, zu finden und zu veröffentlichen. Obwohl Teplitzka die Texte nie unterschrieb und kein weiteres Buch herausgab, könnte etwa mit Hilfe der Narratologie und Stilistik erforscht werden, ob die in der „Neuen Lodzer Zeitung“ veröffentlichten neuen Lodzer Beschreibungen ebenfalls von ihr stammten. 4 Literatur Kaszubina, Wiesława (1967): Bibliografia prasy łódzkiej 1863-1944. Warszawa. Krawczyk-Wasilewska, Violetta/ Kucner, Monika/ Zimnicka-Kuzioła, Emilia (2012): Kultura Łodzi jako ważny czynnik rozwoju miasta. Łódź. Kucner, Monika (2005): Prasa niemiecka w Łodzi w okresie międzywojennym. In: Kuczyński, Krzysztof Antoni (Red.): Wizerunek Łodzi w literaturze, kulturze i historii Niemiec i Austrii, materiały z konferencji. Łódź. S. 161-180. Kuczyński, A. Krzysztof (2005): Wizerunek Łodzi w literaturze, kulturze i historii Niemiec i Austrii. Łódź. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael (2009): Einführung in die Erzähltheorie. München. 142 Ewa Psuty Radziszewska, Krystyna (1999): Gdzie są Niemcy z tamtych lat? Łódź. Radziszewska, Krystyna (2000): Pod jednym dachem. Niemcy i ich polscy i żydowscy sąsiedzi w Łodzi w XIX i XX wieku. Łódź. Quellen Teplitzka, Berta (2008): Portrety Łódzkie. Łódź. Teplitzka, Berta (1913): Lodzer Typen. Lodz. Franz Tumlers „Aufschreibung aus Trient“ (1965) - ein Roman über Konflikt und Kontakt an der Peripherie Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck) Zusammenfassung Die Situierung der Handlung von Tumlers komplex erzähltem Roman „Aufschreibung aus Trient“ (1965) in Trento/ Trient ist für dessen Thema von größter Bedeutung. Der zum Teil autobiografische Erzähler macht hier nicht nur eine wichtige persönliche Entwicklung durch, sondern er erfährt hier, in der seit jeher italienischsprachigen Stadt in der Kontaktzone zum deutschsprachigen Raum, auch etwas über die Fragwürdigkeit von fest gezogenen Grenzen. Tumler, der deshalb den 1916 eben in Trient hingerichteten italienischen Freiheitshelden Cesare Battisti als Beobachter einführt, unterstreicht die Gemeinsamkeiten der Menschen in Südtirol und im Trentino, die stärker sind als die vor allem sprachlichen Unterschiede. Indirekt erscheinen so die im Hintergrund des Romans stehenden Attentate der Südtiroler gegen Italien von 1961 sehr problematisch. 1 Einleitung Die Prägung der Stadt Trient/ Trento und ihres Umlands durch zwei Kulturen macht den Schauplatz von Franz Tumlers 1965 bei Suhrkamp erschienenem, 1 dann fast vergessenem, seit Kurzem wieder zugänglichem Roman „Aufschreibung aus Trient“ (Tumler 2012) 2 zugleich zu einem seiner Hauptthemen. Hinweise auf die historische Bedeutung der Stadt sind über den ganzen Roman verstreut. Mitteleuropa wird gemeinhin vor allem gegen Osten hin abgegrenzt, viel weniger gegen Westen, Norden und Süden. Hört Mitteleuropa am Po auf, ist Mailand noch eine mittel-, Florenz schon eine südeuropäische Stadt? Mit Braudels (1990: 21) von der Geografie bestimmten Merkmalen des Mediterranen, das er aus guten Gründen mit den ersten Olivenhainen beginnen lässt, könnte man sich wahrscheinlich auch kulturell dem Problem annähern - doch zwingt die Geschichte dazu, die lange Zugehörigkeit zumal des seit jeher italienischsprachigen Trentino (in dem Oliven wachsen) und des Gebiets von Triest zum Habsburgerreich, einem eindeutig mitteleuropäischen Staat, hier eine Über- 1 Es gab auch zwei Taschenbuchausgaben. 2 Alle Zitate aus dieser Ausgabe, mit Seitenzahlen im Fließtext. 144 Sigurd Paul Scheichl gangszone anzunehmen, die über die nördlichsten Ölbäume noch weit nach Süden reicht. Andererseits gehören diese Gebiete, was auch kulturell seine Spuren hinterlassen hat, seit fast 100 Jahren zu einem mediterran geprägten Staat, abgesehen davon, dass man seit jeher dessen Sprache spricht. Die Konflikte um das deutschsprachige Südtirol, der Hintergrund von „Aufschreibung aus Trient“, sind auch Konflikte zwischen einem mediterranen Staat und von einer nicht-mediterranen Kultur geprägten, obendrein anderssprachigen Menschen. Bevor auf den Roman näher eingegangen wird, ein kurzes historisches Repetitorium. Teile des seit 1363 habsburgischen Tirol, zu dem das Hochstift Trient mit sowohl italienischals auch deutschsprachigen Bewohnern de facto seit dem 13. Jahrhundert gehörte, wurden seit dem Beginn der Bemühungen um die italienische Einigung für Italien beansprucht. Sowohl 1848/ 49 als auch 1859 und 1866 führten die Italiener die Einigungskriege auch um das Trentino; darüber hinaus gab es schon früh die Forderung nach dem Alpenhauptkamm als natürliche Grenze für den neu zu schaffenden und dann den neu konstituierten italienischen Staat - trotz einer ziemlich klaren Sprachgrenze, die etwa 30 km nördlich von Trient und über 100 km südlich der heutigen Staatsgrenze zwischen Italien und Österreich verläuft. 1918 erreichte Italien diese Grenze und hatte damit eine deutschsprachige Minderheit von etwa einer Viertelmillion Menschen, dazu die in den Dolomitentälern lebenden etwa 20.000 Ladiner, die eine rätoromanische Sprache in verschiedenen dialektalen Ausprägungen spreche. Der Kriegseintritt Italiens im Jahr 1915 stellte die italienischsprachigen Bürger der österreichisch-ungarischen Monarchie vor ein Dilemma: Eine deutliche Mehrheit blieb dem Habsburgerstaat gegenüber loyal und kämpfte in dessen Heer, trotz einem starken Misstrauen sowohl der politischen Behörden als auch der Armeeführung gegen die italienischsprachigen Bürger der Doppelmonarchie. Einzelne verließen aber deren Territorium und kämpften im italienischen Heer für die Befreiung der ‚unerlösten‘ Gebiete, unter ihnen der Politiker Cesare Battisti (1875-1916). Als er in Kriegsgefangenschaft geriet, wurde er als ‚Hochverräter‘ in seiner Heimatstadt Trient/ Trento verurteilt und am 12. Juli 1916 hingerichtet. Nach 1918 wurde er zu einer Kultfigur des italienischen Nationalismus. Die italienische Minderheitenpolitik strebte in der Zwischenkriegszeit und noch einige Jahre nach 1945 eine Zwangsassimilierung der deutschen Minderheit in der eroberten Provinz Bozen an, auch wenn Italien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewisse Konzessionen machen und vor allem deutschsprachige Schulen zulassen musste. Gegen die Benachteiligung der deutschen Südtiroler erhob sich Anfang der 60er Jahre gewaltsamer Widerstand - die Attentäter wurden 1964 zu langen Haftstrafen verurteilt. Allerdings beruhigte Italien schließlich die widerständige Nordprovinz durch eine großzügige Autonomie- Franz Tumlers „Aufschreibung aus Trient“ 145 regelung. Zum Zeitpunkt des Erscheinens von „Aufschreibung aus Trient“ war dieses politische Problem aktuell, seine Kenntnis konnte bei deutschsprachigen Lesern - selbst in der Deutschen Demokratischen Republik 3 - vorausgesetzt werden. Dass die Bischöfe von Trient, viele von ihnen Deutsche, Fürstbischöfe, also - freilich recht machtlose - Reichsfürsten waren, hat in der Stadt Spuren hinterlassen (zu deutschen Zügen in Trient vgl. Braudel (1990, 191). Immer wieder ist vom Konzil des 16. Jahrhunderts die Rede, das in diese Stadt einberufen wurde, weil sie im Reich lag, aber doch in der Nähe Italiens und damit der päpstlichen Territorien. Deutsche Spuren in Trient, etwa ein für Georg Fugger errichteter Palast, werden im Roman einige wenige Male erwähnt (53f.). Noch einige allgemeine Worte zur Vorstellung von Tumlers Roman, der durch seine mehrstimmige Erzähltechnik einer der interessanteren Romane der 1960er Jahre ist. 4 Zoderer (2010: 49) nennt den Autor zu Recht einen „experimentellen Erzähler“. Tumler, 1912 in Bozen geboren († 1998 in Berlin), aber nach dem frühen Tod des Vaters in Österreich aufgewachsen und nur gelegentlich als Besucher bei Verwandten des Vaters in Südtirol, seit den 1950er Jahren in Berlin lebend, wählt ein erzählendes Ich, das seiner empirischen Person sehr nahesteht: Es ist wie er in Bozen als Sohn eines Gymnasiallehrers geboren, hat Verwandte im Vinschgau, ist aber außerhalb Südtirols aufgewachsen. Selbst den Unfall des erzählenden Ich scheint Tumler selbst gehabt zu haben (Klettenhammer 2012: 324). Erst gegen Ende des Romans (277) erfährt der Leser, dass die Geschichte im Rückblick aufgeschrieben ist, aus der Distanz von etwa einem Jahr nach dem Geschehen, das sich aufgrund erwähnter realer Ereignisse auf den August 1963 datieren lässt. Aufgrund des bis dahin stark dominierenden, oft als innerer Monolog gestalteten personalen Erzählens vergisst man geradezu, dass schon recht früh im Roman Gespräche erwähnt werden, die nach der Handlung stattfinden („Erst viel später, als wir wieder zu Hause waren“, 35). Das Ich fährt mit einer viel jüngeren Partnerin - „das Mädchen“ wird sie von einem Dritten genannt (z.B. 282) - über den Reschenpass nach Süden, aus einem nicht genannten Zweck (Stockhammer 2010: 98), vielleicht in den Urlaub. Wo die Beiden herkommen, erfahren die Leser nicht. Bei den Südtiroler Verwandten des Erzählers machen sie nicht Station, sondern fahren an deren Dorf vorbei ohne anzuhalten. Kurz vor Trient haben sie einen Unfall, der sie wegen 3 Vergleiche den Polit-Krimi von Hans Walldorf [= Erich Loest]: Der grüne Zettel. Berlin (DDR): Das neue Berlin 1969 (NB-Romane; 60). 4 Zur Form des Romans und zu dessen hier nicht beachtetem poetologischen Charakter vgl. ausführlich Huber (1994, bes. 106-157). Kritik an Fehlern Hubers bei Strobl (1999: 135 Anm. 145). 146 Sigurd Paul Scheichl der notwendigen Reparatur des Pkw einige Tage in der Bischofsstadt festhält. Zufällig logieren der Icherzähler und seine Freundin gegenüber dem Castello del Buonconsiglio, dem alten Schloss der Bischöfe, in dessen Hof Cesare Battisti 1916 hingerichtet worden war. Sehr oft wechselt die Perspektive nun zum toten italienischen Heros, der aus seiner ehemaligen Zelle die Beiden im Hof beobachtet. 5 In der Fiktion hat Battisti den Vater des Ich-Erzählers gekannt (der wiederum dem Vater Franz Tumlers 6 , 1878-1913, nachgebildet ist, wenn auch nicht in allen Einzelheiten). Battisti beobachtet aus dem Off, wie der Erzähler und seine Partnerin in diesen Tagen des erzwungenen Aufenthalts in Trient immer mehr zusammenfinden und lernen offener - oder überhaupt - miteinander zu reden. Mindestens einmal ist das Ich eines solchen Monologs auch das der Partnerin des Erzählers (176f.; dazu vgl. Costazza 2010: 142). Dass der Roman unabhängig von allen politischen und historischen Motiven ein Liebesroman und ein Roman des Findens zu sich selbst ist und „ohne geschichtliches Wissen“ gelesen werden könnte, kann hier nur festgestellt, aber ebenso wenig weiter ausgeführt werden wie die Vater- und die Sprachthematik. 7 Auch das komplexe Erzählverfahren - mit dem Wechsel zwischen der Perspektive des autornahen Erzähler- Ich und jener Battistis - kann hier nur angedeutet werden. 2 Trient als Ort kultureller Begegnung und kultureller Gemeinsamkeiten Hier soll es viel mehr um die Darstellung Trients als eines Orts kultureller Begegnung und kultureller Gemeinsamkeiten gehen, 8 was nur eines von mehreren Themen des Romans ist. Die vom erzählenden Ich behauptete „genaue Trennung zwischen zwei Völkern“ (33) im Etschtal ist die eine Seite dieses Grenzraums; die andere Seite sind kulturelle Gemeinsamkeiten, eine tiefere Einheit dieser Landschaft und ihrer Menschen über die sprachlichen Unterschiede hinaus. Anders als im „Tal von Lausa und Duron“, seiner Erfolgserzählung von 1935, deren Thema die Bedrohung der archaischen Dolomitenwelt durch das moderne Italien ist, 9 stehen hier die Gemeinsamkeiten in der Landschaft zwischen Brenner und Verona im Vordergrund. 5 Über Battisti als Erzähler vgl. Galvan (1989). 6 Zur Biografie von Tumlers Vater und zu den Abweichungen von ihr im Roman s. Stockhammer (2010, bes. 100f.). 7 Zu diesen Ebenen des Romans Zoderer (2010: 52f.). 8 Zu den Funktionen von Trient vgl. Huber (1994: 156f.). 9 Eine interessante Deutung bei Thurnher (2005). Franz Tumlers „Aufschreibung aus Trient“ 147 Ein wichtiges Leitmotiv des Romans im Dienste dieses Themas ist der Marmor. 10 Der erste Satz lautet: „Das Hotel klein, heiß, das heißt: unten geht es, auf dem Fußboden aus weißem Marmor“ (5). Aus diesem Stein sind auch Waschbecken und Fenstergesims des Hotelzimmers; immer noch im ersten Absatz betrachtet der Erzähler das gegenüber liegende Castello del Buonconsiglio und sieht: „aber die zierlichen Fenster haben Stäbe und Bogen und Kleeblätter - und wieder aus weißem Marmor“ (5f.). Gleich im ersten Abschnitt ist dann schon die Rede von dem Dorf, aus dem die Familie des Erzählers stammt, denn: „Der weiße Marmor kommt von dort her“ (10). In dem Dorf, dessen Name nicht genannt wird, 11 leben die Verwandten des Erzählers; später im Roman berichtet er seiner Partnerin von einem Besuch bei diesen und damit in Zusammenhang ausführlich von den Marmorbrüchen (250ff.); ein Abschnitt - aus der Sicht Battistis - beginnt sogar mit dem elliptischen Satz „Der Marmor.“ (249). „Dieser weiße schöne Stein ohne Farbe des Lebens in der Tiefe des Berges“ (251) kommt in diesem Rückblick besonders ausführlich vor; doch ist er auch sonst immer präsent: bei der Beschreibung der Treppe im Hotel (11, 101), 12 als „Marmortischchen“ in einem Bozner Café (24), bei einem neuerlichen Blick auf die Fensterloggia (53, 77), als „weißer Marmor“ des Waschbeckens (140), als „weiße Marmorwand an der Bar“ (278). Dass in einem mehrfach beschriebenen Geschicklichkeitsspiel im Hotel, bei dem es darum geht mit einem Greifarm eine Zigarettenpackung aus einem Glaskasten herauszufischen, dessen Boden mit Marmorschotter bedeckt ist (zuerst 8, 10), verbindet dieses Leitmotiv mit einem anderen. Denn immer wieder werden Versuche beschrieben, die Packungen zu angeln; zuletzt, an einer für den privaten Teil der Geschichte ganz zentralen Stelle, betätigt das erzählende Ich - erfolgreich! - diesen Mechanismus (279), was wohl, nicht nur wegen des Marmorschotters am Boden des „Aquariums“ eine stärkere Integration des Ich in die Trentiner Umwelt andeutet. Noch am Ende denkt Battisti an die Geschichten aus der bischöflichen Zeit Trients, die „aus dem grauen Stein und den weißen Marmorstäben zu lesen“ sind (310) und spricht in Zusammenhang mit dem kleinen Hotel vom „weißen 10 Zum Leitmotiv ‚Marmor‘ s. Burger (1989: 178-183). Ob man den Marmor über die Funktion eines Leitmotivs hinaus als „Chiffre für die Anwesenheit des Vaters“ deuten kann (178), bezweifle ich allerdings. 11 Gemeint ist eindeutig Laas im Vinschgau; warum Tumler die Nennung geografischer Namen auch dort vermeidet, wo ganz klar ist, um welchen Ort es sich handelt, muss ich hier offen lassen. 12 Über eine mögliche symbolische Bedeutung dieser leitmotivisch wiederkehrenden Treppe Huber (1994: 149). 148 Sigurd Paul Scheichl Stein“ (312), einem Synonym für ‚Marmor’. Ganz wichtig ist die Erinnerung Battistis: Ich habe mich, als sie mich damals einlieferten hier, 1916, ins Kastell, sofort an meinen Besuch bei seinen Verwandten [i.e. den Verwandten des Vaters des Erzählers: S.P.S.] erinnert, denn das erste, was ich sah […] war dieser weiße Marmor an den Stäben und Rosetten der Loggia […]. Es war an sich für mich nichts Neues, denn bei uns im Lande ist fast in jedem Dorf etwas von diesem weißen Marmor zu finden: angefangen von den Friedhöfen bis zu den Türschwellen und Fenstergesimsen an den Häusern (249). Wendungen wie „bei uns im Lande“ sind selbstverständlich dem weisen toten Battisti vorbehalten; dem Erzähler, der nur aus dem Land stammt, aber nicht hier aufgewachsen ist, steht es nicht zu. Und doch ist dieses „bei uns“ für den Roman ganz wichtig, denn er will ja gerade die Einheit des Etschlands - dieses Wort kommt im Roman freilich nicht vor, wohl selbst der Name des Flusses kaum oder nie - betonen, damit die Sinnlosigkeit nationalen Streits in diesem Raum. Darüber hinaus verweist die Omnipräsenz des weißen Steins aus Laas in Trient einerseits auf die Zusammengehörigkeit der Stadt mit dem ‚alten Tirol‘, speziell mit dem Herkunftsort des Marmors im Vinschgau. Andererseits verbindet sich der Marmor auch mit unserer Vorstellung von der italienischen Kunst, zumal mit der Architektur und mit den Bildhauern der Renaissance (selbst wenn diese Marmor aus Carrara verwendet haben). Mit dieser Konnotation zieht das Leitmotiv eine Verbindungslinie zwischen dem deutschen Raum und Italien, die über Trient hinausführt (vgl. auch 117f. die Gedanken Battistis über die Ideen des Vaters des Erzählers). Noch ein anderes Motiv ist mit dem Marmor verbunden, ein politisches im engen Sinn. Denn der in die Attentate von 1961 verwickelte Vetter im Vinschger Dorf „wohnte im Depot bei den Marmorwerken, konnte an Sprengstoff heran“ (14), wie man gleich am Anfang erfährt; und dann noch einmal: „wohnte im Lagerhaus, und hinten war ein Depot von Sprengstoff für das Marmorwerk“ (256; vgl. eine andere Verbindung von Marmor und Sprengstoff, 251). Auch in dieser Hinsicht, durch die Verbindung mit den Sprengstoffattentaten, gehört der Stein zum Land. Klettenhammer (2012: 327) spricht zu Recht von einer „einen homogenen regionalen Raum konstruierenden Gesteinsmotivik“, die sich in der Tat nicht auf den Marmor beschränkt (vgl. z.B. 313, ganz am Ende des Romans). Zusammengehörigkeit des Landes über die Sprachgrenzen hinweg wird auch durch andere Motive angedeutet, wobei für Tumler - wie anderswo in seinem Werk (vgl. Scheichl 2009: 61-67) - nicht die historische Grafschaft Tirol der Bezugspunkt ist, die das österreichische Bundesland Tirol (mit der früheren Franz Tumlers „Aufschreibung aus Trient“ 149 gemeinsamen Hauptstadt Innsbruck), die deutschsprachige Provinz Bozen und das Trentino umfasste, sondern allein deren südlich des Alpenhauptkamms liegende, heute zu Italien gehörende Teile, also die südliche Periferie des deutschen und die nördliche des italienischen Raums, die Kontaktzone zwischen den beiden Sprachen und Kulturen. Von Österreich-Ungarn als einem „schlecht geführten Haus“ (146) ist zwar vereinzelt die Rede, auch von den verwitternden äußeren Spuren „des schwerfälligen […] Reiches“ in Oberitalien (196); doch kommen Deutschland und Österreich in dem Roman so gut wie gar nicht vor - wohl ein Grund dafür, dass nie erwähnt wird, wo die Reise des Erzählers und seiner Freundin begonnen hat -, Italien ein bisschen mehr, aber im Grunde geht es allein um die Kontaktzone zwischen Deutsch und Italienisch im Etschtal. Mehrfach wird von Figuren, denen der Erzähler in Trient begegnet, ausdrücklich gesagt, dass sie aus den Tagen der Monarchie noch des Deutschen mächtig sind; eine davon hatte „noch in der österreichischen Armee gedient.“ (7) Auch „der Kellner, der uns bediente, sprach deutsch; er war, wie der Mann vom Abschleppdienst, aus der alten Zeit, als das Trentino österreichisch gewesen war. Er hatte auch in Wien gearbeitet und am Semmering“ (52). Der Dienst im ‚anderen‘ Heer kommt mehrfach vor, nicht nur an der zitierten Stelle. Der Invalide, der im Castello del Buonconsiglio an der Kassa sitzt und der ebenfalls Deutsch kann, „war auf der österreichischen Seite im Krieg, und sie haben ihm das Bein abgeschossen. Aber in seinem Alter […] spielt das keine Rolle mehr, auf welcher Seite es war“ (73f.). Anders als Battisti, der das sagt, weiß der Erzähler „nicht einmal auf welcher Seite“ der Veteran gestanden ist (271). Von Beppo/ Pomodoro, einer Figur, die zur Biografie des Vaters des Erzählers gehört (ein mit den Irredentisten zusammenarbeitenden Italiener aus Bozen), heißt es als offene Frage: „ob auf der österreichischen Seite gefallen oder der italienischen“ (84). Allein der tote Battisti weiß, was mit dem Obsthändler geschehen ist: Er ist gefallen, „als er herübergehen wollte“ (91), bei der Desertion zum italienischen Heer. Dem toten Battisti sind auch immer wieder Sätze und Wendungen in den Mund gelegt wie das schon zitierte „bei uns im Lande“ (249); ihm bleibt es vorbehalten, die Gemeinsamkeiten zwischen den Deutschen und den Italienern in dieser südalpinen Landschaft hervorzuheben. Nur einige Beispiele für dieses Motiv, das ein Thema dieses auch politischen Romans ist. Aber er kommt mir bekannt vor, so daß ich […] etwas von Ähnlichkeit auch entdecke an ihm. Aber das liegt vielleicht daran, daß wir uns alle ein wenig ähnlich sehen in diesem Land; und da ist kein Unterschied, ob einer von oben kommt, wo es deutsch ist, oder hier aus Trient ist; es ist überall Tal und Gebirge, und es gibt ei- 150 Sigurd Paul Scheichl nen bestimmten Typ, der durchgeht im ganzen Land. Es gibt außer ihm auch die Leute, die deutsch aussehen; und bei uns die Leute, die italienisch aussehen wie weiter unten in der Ebene. Aber dazwischen gibt es diesen Typ. Weil ich selber dazugehöre, kann ich ihn schwer beschreiben (48). Dass Battistis Betonen eines solchen Typus - den er im Erzähler zu erkennen glaubt - an die Rassenlehren erinnert, die in Tumlers Jugend im Schwange gewesen sind, soll nicht verschwiegen werden. Noch weitere Beispiele für Battistis Hervorhebung der Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen in diesem Land: In seiner Erinnerungen an den Vater des Erzählers heißt es: „Wir sprachen übrigens italienisch damals, er sprach fließend italienisch; manchmal sprachen wir auch deutsch, das ging ebenso fließend“ (62). Oder, über die geistige Entwicklung des Vaters des Erzählers: „Das hat mich [i.e. Battisti: S.P.S.] schon immer beschäftigt als etwas Besonderes in unserem Land. Denn man findet es bei uns in Trient genau so wie droben bei den Deutschen“ (69). An einen Besuch im Heimatort des Vaters erinnert sich Battisti schließlich so: „Und ich verstand nun auch, daß sich in einem solchen Leben der Sinn für Rechnung und Ausgleich entwickeln muß. Ich hatte ihn schon immer bemerkt in unserem Land“ (253). Der Erzähler seinerseits beobachtet Ähnliches am Mann vom Abschleppdienst: Dieser imitiert zuerst ein paar Worte des deutschen Südtiroler Dialekts und geht dann ins Italienische über: „- aber ich denke: es ist derselbe Dialekt, Klang und Färbung in beiden Sprachen, ob italienisch oder deutsch - wenn er ‚schu‘ sagt, und nicht ‚su‘“ (187). Ähnlich seine Beobachtung zu den Alpinisten, die als Gäste in die Weinstube kommen, in der er gerade sitzt: [J]unge Leute mit Rucksäcken und Edelweiß auf dem Hut und Bergschuhen. Im ersten Augenblick glaubte ich, es seien Deutsche, denn das hatte ich nur in Bozen so gesehen. Aber dann hörte ich aus ihrem Gespräch, daß sie von hier waren, Trentiner, und italienisch sprachen. Und da erkannte ich, wie wenig doch Meinungen gelten dürfen, und wie sie aus Vorurteil kommen: hier aus dem Vorurteil, diese Leute mit Edelweiß und Liebe zum Bergsteigen für Deutsche zu halten wegen des Vorurteils, die Italiener seien doch ganz andere Leute; und nun sah ich, wie es in Wirklichkeit war (52f.). Auf die Ununterscheidbarkeit der Bergsteiger aus dem deutschen Südtirol und aus dem italienischen Trentino kommt es an; die Suche nach Unterschieden erweist sich als Vorurteil, die „Wirklichkeit“ sind ausgeprägte Gemeinsamkeiten. Die stellt der tote Battisti für die Zeit vor 1914, trotz der politischen Zuspitzung, auf eine sehr viel handfestere Weise fest: Franz Tumlers „Aufschreibung aus Trient“ 151 Dabei wir unsere Interessen hatten auf beiden Seiten, weil beide Teile des Landes verflochten waren durch Geschäft, Besitz und Geld, hier ging alles ohne Streit weiter; und wir nahmen das öffentliche ‚Nichtmehrsprechenkönnen miteinander‘ auch nicht so ernst, weil wir in Austausch und Verkehr immerfort auf Gespräch angewiesen waren, und es deutsch und italienisch führten - dabei nicht vergaßen, was wir waren (183). Impliziert wird mit dieser Erinnerung Battistis, dass man heute, in der Zeit der Erzählung, - bei aller andauernden Verflechtung - nicht mehr „ohne Streit“ sprechen kann. Auf ganz vertrackte, die Zeiten miteinander verschränkende Weise wird diese Gemeinsamkeit auch durch das Motiv der Kisten Battistis zum Ausdruck gebracht. Obwohl von den Aktionen der deutschen Attentäter gegen den Staat Italien nur wenig die Rede ist, lässt Tumler einmal seinen Battisti das Aufladen von rätselhaften und vielleicht mit den Attentaten zu verbindenden Kisten beobachten, und zwar in ein Auto von Trentinern (201; vgl. auch 204). Umgekehrt versteckt der Irredentist Battisti um 1914 selbst Kisten mit bedenklichem Inhalt - was in ihnen ist, erfahren wir nicht genau - beim Vater des Erzählers bzw. in dessen Heimatort, den er aus diesem Grund dann auch besuchen muss. Sowohl dieser Besuch als auch das Verbergen verbotener Gegenstände (Sprengstoff: 79) stellen, als „provokatorische Analogie“ (Costazza 2010: 140), eine weitere Parallele zwischen den Italienern und den Deutschen in diesem Raum her, erinnern daran, dass der deutsche Widerstand von 1961 dem der Irredentisten aus den Jahren vor 1914 spiegelverkehrt entspricht. Diesen Blick für Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten hat auch der Vater des Erzählers, von dem Battisti in einer zentralen Passage berichtet: „Es war eine seiner Lieblingsideen, die er mir da entwickelte, von einem vorrömischen Zusammenhang aller mittelmeerischen Völker, der noch heute, gleich welcher Sprache sie sind, durchkommt in ihrer Kunst“ (125). In diesen Zusammenhang bezieht der Gymnasiallehrer den Tiroler Raum ein: „Ich habe mir eine Zeitlang eingebildet, daß wir, in den Alpentälern, von den Etruskern abstammen“ (126), also zu dieser gemeinsamen mittelmeerischen Welt gehören. Freilich: „Ich sage es jetzt nicht mehr, weil ich es nicht nachweisen kann“. Das zentrale Motiv in diesem Zusammenhang ist selbstverständlich der Rückblick des toten Battisti auf seine Begegnung mit dem Vater des Ich-Erzählers, einem an Ortsnamenkunde und Sprachgeschichte des Alpenraums interessierten, wissenschaftlich ambitionierten Lateinlehrer, einem Kind einfacher Leute aus dem Dorf der Marmorbrüche. Die sprachwissenschaftlichen und speziell toponomastischen Interessen der beiden Romanfiguren beruhen weniger auf der Biografie der beiden dem Roman zugrundeliegenden realen Personen, sondern sind eher eine Art Kontamination aus mehreren Biografien von ein- 152 Sigurd Paul Scheichl schlägig tätigen Männern der gleichen Generation aus dem Raum Trient und Bozen (Stockhammer 2010). Insbesondere dürfte Tumler, der sich mit dem Ladinischen beschäftigt hat (Stockhammer 2010: 103f.), mit „C. Battisti“ gezeichnete einschlägige Veröffentlichungen des ebenfalls aus Trient stammenden, in Wien ausgebildeten und zunächst in deutscher Sprache publizierenden Sprachwissenschaftlers Carlo Battisti (1882-1977) 13 vorschnell dem Politiker Cesare Battisti zugeordnet haben; Carlo Battisti hat übrigens den Ersten Weltkrieg als Angehöriger eines Kaiserjäger-Regiments auf österreichisch-ungarischer Seite mitgemacht. 14 Der Sprachwissenschaftler Battisti vertrat für den Raum des ladinisch- und des deutschsprachigen Südtirol Thesen, mit der sich die faschistische Italianisierungspolitik rechtfertigen konnte, und unterscheidet sich also wesentlich von den Positionen der Figur Cesare Battisti im Roman. Mit diesem Verweis auf die historische Realität soll aber keineswegs die Fiktion kritisiert werden. Was Battisti über das Privatleben des Bozener Gymnasiallehrers weiß, muss im Hinblick auf das Thema dieses Aufsatzes unerörtert bleiben; dass er viel darüber weiß und darüber nachdenkt, ist freilich wichtig: Denn zwischen dem Irredentisten und dem loyalen, aber weitblickenden Tiroler entsteht eine von nationalen Unterschieden unberührt bleibende Freundschaft. Die freundschaftliche Fürsorge überträgt er - als Toter - auf den in Trient gestrandeten Sohn des früheren Bekannten. Die Interessen an den sprachlichen Verhältnissen in ihrem Land begründen einerseits die Bekanntschaft zwischen Battisti und dem Vater des Erzählers, sind andererseits und vor allem wichtig für das uns interessierende Problem. Die Beiden treffen sich in der Bibliothek, weil sie sich beide für die „rätoromanischen Sprachen“ interessieren, Battisti speziell für deren Lehnwörter im Italienischen der Region (63). Durch den fiktiven Vater erfährt der fiktive Politiker, „wie stark der romanische Untergrund auch in den ganz deutschen Tälern seiner Heimat war“ (69). Dieser Untergrund ist neuerlich ein Element der Gemeinsamkeit zwischen den Italienisch- und den Deutschsprachigen der Region. 3 Schluss In den Büchern Tumlers aus den 1930er Jahren „bleibt die Grenze nach Süden doch scharf gezogen“, wie Sieglinde Klettenhammer (2012: 320) feststellt. Nun 13 Über diesen Stockhammer (2010: 107-109). 14 Schon Galvan (1989), die die mutmaßliche Verwechslung von Cesare und Carlo Battisti noch nicht kennen konnte, vermutet übrigens, dass Tumlers Recherchen über Battisti nicht sehr gründlich gewesen seien. Franz Tumlers „Aufschreibung aus Trient“ 153 gibt es auch in „Aufschreibung aus Trient“ Reflexionen des toten Battisti über grundsätzliche Unterschiede zwischen Italienern und Deutschen, zumal in der Auffassung des Rechts (z.B. 268-270). Tumler will also keineswegs alle kulturellen Unterschiede verwischen. Er will aber zeigen - auf einer Ebene dieses komplexen Romans -, dass es in der Kontaktzone zwischen Bozen/ Bolzano und Trient/ Trento auch sehr viele Gemeinsamkeiten gibt, nicht nur die Konflikte von 1914 und 1961. Das Thema der Südgrenze des deutschen Sprachraums und der Kontaktzone zu Italien war nach 1938 für fast drei Jahrzehnte aus dem Werk des Autors verschwunden - was mit Veränderungen in seinem Leben zu erklären ist. Die Rückkehr zu diesem Thema in „Aufschreibung aus Trient“ ist eine Art späte Zurücknahme der frühen Südtirol-Erzählungen, wahrscheinlich ausgelöst durch die aktuellen politischen Ereignisse, über die er sich genau informierte (Klettenhammer 2010: 80) und zu denen er auch explizit Stellung nahm. Denn jetzt ist Tumler, unter anderen politischen Verhältnissen, bewusst, dass diese Grenze doch nicht so scharf gezogen ist, wie er in seiner Jugend geglaubt hat. Der Reisende, der am Anfang gegenüber seiner Begleiterin die „genaue Trennung zwischen zwei Völkern“ (33) im Etschtal behauptet, erkennt bei dem Aufenthalt in Trient - einer mitteleuropäische Stadt? , nur „eine Vorbotin Italiens“ (308)? -, dass diese genaue Trennung eine Fiktion ist, eine weitere von den „festgemachten Geschichten“ (216), gegen die sich „Aufschreibung aus Trient“ wehrt. 4 Literatur Braudel, Fernand (1990): La méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. Bd. 1. Paris. Burger, Wilhelm (1989): Heimatsuche. Südtirol im Werk Franz Tumlers. Frankfurt am Main. (Europäische Hochschulschriften; 1, 1125). Costazza, Alessandro (2010): Die Suche nach dem Dialog: Aufschreibung aus Trient als hermeneutischer Roman. In: Holzner, Johann/ Hoiß, Barbara (Hrsg.): Franz Tumler. Beobachter - Parteigänger - Erzähler. Innsbruck. S. 133-143. Galvan, Gudula (1989): Cesare Battisti in Franz Tumlers „Aufschreibung aus Trient“. Diplomarbeit [unveröff.]. Innsbruck. Holzner, Johann/ Hoiß, Barbara (Hrsg.) (2010): Franz Tumler. Beobachter - Parteigänger - Erzähler. Innsbruck. Huber, Leonhard (1994): Die Architektur des Textes. Das Verhältnis von Raumzu Sprachkonstrukten in Franz Tumlers Prosa. Bern. (Europäische Hochschulschriften; 1, 1438). Klettenhammer, Sieglinde (2010): „Die Bilder unserer Erinnerung führen in uns ein merkwürdig unabhängiges Leben.“ Franz Tumlers Poetik und Rhetorik der Erinne- 154 Sigurd Paul Scheichl rung und der Roman Aufschreibung aus Trient. In: Holzner, Johann/ Hoiß, Barbara (Hrsg.) (2010): Franz Tumler. Beobachter - Parteigänger - Erzähler. Innsbruck. S. 57-95. Klettenhammer, Sieglinde (2012): Nachwort. In: Tumler, Franz (2012): Aufschreibung aus Trient. Roman. Mit einem Nachwort von Sieglinde Klettenhammer. Innsbruck. S. 315-339. Scheichl, Sigurd Paul (2009): Franz Tumlers „Das Land Südtirol“. Eine Vinschgauer Perspektive auf die Tiroler Geschichte? In: Klettenhammer, Sieglinde (Hrsg.): Kulturraum Tirol. Literatur - Sprache - Medien. Jubiläumsband „150 Jahre Germanistik in Innsbruck“. Innsbruck. (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe; 75). S. 55-68. Stockhammer, Harald (2010): Franz Tumlers „Aufschreibung aus Trient“. Eine Spurensuche. In: Holzner, Johann/ Hoiß, Barbara (Hrsg.): Franz Tumler. Beobachter - Parteigänger - Erzähler. Innsbruck. S. 97-116. Strobl, Thomas (1999): Hin und Her. Franz Tumlers „literarischer Selbstbefreiungsprozeß“. Nachprüfung einer Literatur-Geschichte. Diplomarbeit [unveröff.]. Innsbruck. Thurnher, Eugen (2005): Dolomiten-Schicksal. Zu Franz Tumlers Erzählung „Das Tal von Lausa und Duron“ (zuerst 1964). In: Thurnher, Eugen: Zwischen Siebzig und Achtzig. Studien zur deutschen Geistesgeschichte. Innsbruck. S. 393-409. Zoderer, Joseph (2010): Vorwort zu Franz Tumlers Aufschreibung aus Trient [1989/ 90]. In: Holzner, Johann/ Hoiß, Barbara (Hrsg.): Franz Tumler. Beobachter - Parteigänger - Erzähler. Innsbruck. S. 49-55. Quelle Tumler, Franz (2012): Aufschreibung aus Trient. Roman. Mit einem Nachwort von Sieglinde Klettenhammer. Innsbruck. „ Träge, trüb und tückisch“ - Landschaftsbilder aus Bosnien und Herzegowina in literarischen Werken um 1900 Lejla Sirbubalo (Mostar) Zusammenfassung 1 Im vorliegenden Beitrag werden bosnisch-herzegowinische Landschaftsbilder deutschsprachiger Autoren, die meist Repräsentanten des habsburgischen Verwaltungsapparates waren (Beamte, Militärs usw.), im Kontext nationaler Emanzipationsgelüste und Hegemonialvorstellungen, aber auch unter Berücksichtigung habsburgischer Vereinheitlichungsbestrebungen und der dabei durchaus vertretenen patriotischen Haltung untersucht und im Rahmen der damaligen literarischen Tendenzen und Richtungen analysiert. 1 Einleitung Die mediale Aufnahme Bosnien-Herzegowinas in das kulturelle und gesellschaftlich-soziale Gefüge der K.-u.-k.-Monarchie zwischen 1878 und 1919 (Okkupation und Annexion) erfolgte nicht nur durch diverse wissenschaftliche und publizistische Abhandlungen; auch zahlreiche literarische Werke nahmen sich seiner an. 2 Bosnien und die Herzegowina wurden angesichts ihres „exotischen Potentials“, ihrer vermeintlichen Rückständigkeit und der Wildnis ihrer Landschaften besondere Aufmerksamkeit zuteil. Zunächst als orientalisch, barbarisch und wild empfunden, erfuhr die bosnische Landschaft nach der Okkupation bzw. der erfolgreichen Intervention von Seiten der österreichischungarischen Monarchie eine Art Aufwertung und präsentierte sich sodann als malerisch, harmonisch, unberührt und sehr bald auch als österreichisch (vgl. dazu ausführlicher Sirbubalo 2012). In der Begegnung mit der Fremde spielt die (fremde) Landschaft bekanntlich eine wichtige Rolle. Sie präsentiert sich meist als Erstes dem Auge des Erfassenden, ist in den literarischen Werken stimmungsgebend und ist überhaupt 1 Der vorliegende Text geht auf den gleichnamigen Vortrag der Verfasserin in der von Frau Prof. Dr. Magdolna Orosz und Frau Dr. Gabriella Rácz geleiteten Sektion 4 „Narration und Kultur“ zurück. 2 Das Thema des vorliegenden Beitrags entstand unter anderem aus meiner Dissertation: Sirbubalo (2012). 156 Lejla Sirbubalo der erste Impuls, der eine Reaktion oder Emotion auszulösen vermag. Landschaft - präsentiert als locus amoenus und/ oder locus terribilis - gilt als fester und wichtiger Bestandteil der Literatur und ist sicherlich einer der meistuntersuchten und -erörterten literarischen Topoi überhaupt. Die bosnische Landschaft weckte aufgrund ihrer Unbekanntheit, Wildnis und Unberührtheit bei deutschsprachigen Autoren schon seit dem 18. Jahrhundert besonderes Interesse. Das nahe gelegene osmanische, aber doch slawisch gebliebene Land, das nach dem Wiener Kongress und der Inkorporation Dalmatiens zu einem direkten, seit dem 19. Jahrhundert äußerst unruhigen Nachbarn und zum Hinterland der habsburgischen Monarchie wurde, wurde lange vor der Okkupation in der deutschsprachigen Literatur thematisiert. Diese weist bis zum Zusammenbruch der Monarchie relativ starre und einheitliche Landschaftsbilder und Naturschilderungen auf, die besonders in belletristischen Werken zunehmend metaphorisch auf das bosnische Volk übertragen wurden. Ein Blick ins Lexikon führt zu folgender grundsätzlicher Definition des Begriffes Landschaft: Es handelt sich um ein „Gebiet, das durch sein besonderes Gepräge eine Einheit bildet und sich von anderen Landschaften abhebt“ (Brockhaus 1994: 560). Dieses „besondere Gepräge“ einer Landschaft bietet also die Möglichkeit, ein bestimmtes Gebiet von einem anderen abzugrenzen und im Hinblick auf unterschiedliche Faktoren und Intentionen (z.B. geographisch, geologisch, botanisch, aber auch politisch und national) zu definieren. Zudem lassen sich bei der Betrachtung einer Landschaftsschilderung Rückschlüsse auf den Autor selbst ziehen, und wir können dessen eigenes Weltbild, seine Intentionen und Emotionen ergründen, aber auch seine Ausgangskultur und die bei ihr vorherrschenden Stereotypen und Einstellungen gegenüber diesem Gebiet und seiner Bevölkerung. Ohne nähere Charakterisierung würde Landschaft lediglich „einen Teil der Oberfläche“ bezeichnen, erklärt Kaszyński in seinem Beitrag zu „habsburgischen Landschaften“, wobei ihre „Konkretisierung […] erst bei der zweckmäßigen Bestimmung der Landschaft“ erfolge, was letztlich zur Aufteilung in Naturlandschaft und Kulturlandschaft führe (Kaszyński 1995: 11). Wenngleich festgehalten werden muss, dass auch hier die Grenzen sehr fließend und jedenfalls nicht immer eindeutig zu definieren sind. Der Landschaftsbegriff ist sehr vielschichtig und lässt sowohl soziologisch als auch (sprach-)psychologisch viel Raum für Analysen und Begriffsbestimmungen. Laut Kaszyński konstituiert die Beschreibung eines bestimmten (politisch-)geographischen Gebietes, „in der Malerei und in der Literatur einen wesentlichen Identifikationsfaktor“, der eine Objektivierung der im Grunde werteneutralen Landschaft anrege und schließlich dazu führe, „sie unvoreingenommen einer Gemeinschaft zuzuordnen oder sie zu ideologisieren, also so künstlerisch zu manipulieren, daß aus ihr eine politisch verfügbare ästhetische Qualität ent- Landschaftsbilder aus Bosnien und Herzegowina 157 steht“ (Kaszyński 1995: 13). Besonders dieses identitätsstiftende Potential der Landschaft steht in der vorliegenden Arbeit im Fokus. Es soll jedoch zunächst ein kurzer Überblick über einige signifikante Merkmale der sogenannten „habsburgischen Landschaft“, zu der unter anderem auch die bosnische Landschaft in einer bestimmten und äußerst brisanten Zeitspanne gehörte, geboten werden. Als „habsburgisch“ werden nämlich laut Kaszyński all jene Landschaften bezeichnet, die entweder „unter der Gewalt der Habsburger Dynastie“ stehen oder aber auf bestimmte Art und Weise - durch Architektur, gewisse Verhaltensweisen der Bevölkerung, Institutionen usw. - vom habsburgischen Lebensstil beeinflusst werden bzw. wurden (Kaszyński 1995: 14). Die habsburgische Landschaft sei „keine reale Landschaft“, betont Kaszyński, „und obwohl sie ständig mit konkreten Realitätszeichen operiere“, baue „sie daraus mittels ästhetischer Verfahrensweisen eine literarische, oder wenn wir mit den Kategorien von Roland Barthes, Mircea Eliade oder Leszek Kolakowski sprechen, eine mythisierte, ja sogar eine mythische Landschaft“ (Kaszyński 1995: 12f.). Das Ziel der Literarisierung der Landschaft sei demnach keine „geographische, sondern eine ideologische, bzw. mythische Wiedergabe der Landschaft“ (Kaszyński 1995: 13). Die österreichischen Autoren, Schöpfer dieser besonderen Landschaftskonstruktionen, gliedern sich, so Kaszyński weiter, mit ihren „landschaftsbezogenen Werken in einen breiten, historisch-ideologischen Kontext“ ein, und ihre Werke können aus diesem Kontext heraus interpretiert und gewertet werden (Kaszyński 1995: 13). Auf der Basis zahlreicher literarischer Belege formuliert er sodann drei Thesen zu den „habsburgischen Landschaften“ in der österreichischen Literatur: die habsburgische Landschaft sei „historisch determiniert, multinational geprägt und in der Dynamik der Wahrnehmung der Realitätszeichen eng mit der politischen Geschichte des mitteleuropäischen Raums verbunden“, sie sei zudem „weitgehend ein mythisiertes Gebilde, wo das Nachdenken über die Landschaft der Nachzeichnung der Realität voransteht“ und sei „vor allem eine Sprachlandschaft, das ideologisierende Wortmaterial bestimmt unverkennbar das Bild (Ästhetik), die Atmosphäre (Aura) und den Charakter (Politik) dieser Landschaft“ (Kaszyński 1995: 15). Alle drei Thesen scheinen durchaus plausibel und gänzlich kompatibel mit der Präsentation der bosnischen Landschaft in der österreichischen bzw. deutschen Literatur. In Bezug auf die Bosnien-Literatur ist zudem ebenfalls keine tiefgründige Interpretation und Analyse notwendig, um festzustellen, dass, wie Kaszyński weiter ausführt, die „landschaftlich bezogenen sprachlichen Kunstwerke […] über ein Selbstbewusstsein verfügen […], in dem die Elemente der realen äußeren Landschaft auch als Zeichen einer tieferen ontologischen, psychologischen oder ideologischen Landschaft gelesen werden können“ (Kaszyński 1995: 16). Die Intention des Autors und vor allem die Interpretation der Leser bzw. der rezipierenden Kultur sind entscheidend für das Verständnis und die 158 Lejla Sirbubalo Auslegung eines solchen landschaftlich geprägten literarischen Elements (vgl. Kaszyński 1995: 16). Nicht zuletzt muss auch die Ästhetik der Landschaftsschilderungen, der in der Literaturkritik und Literaturästhetik eine besondere Rolle zufällt, kurz erwähnt werden. Landschaft, vor allem die nicht kultivierte Landschaft, fungiert zum Beispiel gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts als Rückzugsort, dient als Fluchtraum vor den oft als erschreckend empfundenen Modernisierungs- und Industrialisierungstendenzen und bietet die Chance für die Genesung des Individuums (vgl. Kaszyński 1995: 18). Ungefähr in diese Zeitspanne fallen auch die meisten deutschsprachigen Werke zu Bosnien. Die Romane, die im vorliegenden Beitrag analysiert werden, erschienen etwa zwischen 1900 und 1960, thematisieren jedoch ohne Ausnahme die österreichischungarische Zeit in Bosnien. In der um die Jahrhundertwende sehr populären literarischen Richtung des Regionalismus und der Heimatkunstbewegung spielen Landschaft, Dörfer und Weiden zum Beispiel eine zentrale Rolle (vgl. Kaszyński 1995: 17). 3 Unter den verschiedenen Ausprägungen des Regionalismus ist es gerade die Heimatkunstbewegung, die einen passenden Rahmen für die deutschsprachigen Bosnien-Romane bietet (Kaszyński 1995: 17). Bosnien wurde in den letzten Jahren häufig als eine Semibzw. Quasikolonie des habsburgischen Reiches bezeichnet und im Kontext eines (post-)kolonialen Diskurses untersucht. Neben der von Moritz Csáky geleiteten Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die sich mit der „spezifische[n] Mehrdeutigkeit des kulturellen Gedächtnisses in Zentraleuropa“ beschäftigte, waren es in erster Linie die „Kakanier“, die die literarische Präsenz des habsburgischen Bosnien analysierten. 4 Die Arbeiten dieser Forscher sind von großer Bedeutung, da sie den Blick für bestimmte politische und nationale Tendenzen sowie kulturelle Hegemonialansprüche schärfen und die Aufmerksamkeit auf gewisse kolonialistisch anmutende Konzepte in der Bosnien-Literatur lenken. Eine Einordnung der vielschichtigen deutschsprachigen Bosnien-Literatur in eine autochthone literarische Bewegung österreichischer Provenienz ist jedoch nur anhand des Konzeptes der erwähnten Heimatkunstbewegung möglich. Die Bosnien-Literatur enthält zahlreiche Elemente dieser Heimatkunstbewegung, die sich, um ein volkstümliches Bewusstsein zu wecken, dem „Völkischen und Nationalen zu- 3 Vergleiche ausführlicher in Bezug auf die Bosnien-Literatur Sirbubalo (2012: 4-27 und 141-156), insbes. das Kapitel „Heimatkunst in der Fremde“. 4 Die „Kakanier“ sind eine Gruppe von Forschern, die „kulturelle Symbolisierungsprozesse im Kontext der spezifischen Machtkonstellationen zwischen den Völkern Österreich-Ungarns von 1867-1918 aus literatur- und kulturwissenschaftlichem Blickwinkel untersucht“. Vgl. ausführlicher dazu Sirbubalo (2012: 7). Landschaftsbilder aus Bosnien und Herzegowina 159 wendet“, eine „heroische Einsamkeit“ in den harmonischen ländlichen Gegenden dem Trubel und Industrialisierungswahn der Großstädte vorzieht und den Bauern als den wichtigsten Repräsentanten eines gesunden deutschen Menschen proklamiert (Rossbacher 1975). In den Randgebieten der Monarchie habe diese literarische Richtung jedoch dazu geführt, dass vermehrt „Merkmale scharf nationalistischer Haltung“ auftraten, und zwar mit dem Ziel, die kulturelle Suprematie und die hegemoniale Ordnung innerhalb des K.-u.-k.-Vielvölkerstaates zugunsten des deutschen Elements auszulegen (Rossbacher 1975: 22f.). Die Verbindung der österreichischen Heimatkunstbewegung zur kolonialen bzw. imperialistischen Haltung wird zudem auch durch die These Dohnkes bestätigt, derzufolge die „umgedrehte Heimatkunstbewegung, ‚die Heimatkunst ex negativo‘“ in enger Verbindung zur Kolonialliteratur stehe, mit der eindeutigen Tendenz, die eigene Kultur als die superiore und dominante zu präsentieren (Dohnke 1998: 492). 5 Abgesehen von Robert Michels Romanen, die eine gesonderte Analyse erfordern, haben die meisten Bosnien-Romane, die in der Folge näher analysiert werden, leider einen eher geringen literarischen bzw. ästhetischen Wert. Bei den Autoren handelt es sich zumeist um ehemalige Beamte und Militärs, die ihren Aufenthalt in Bosnien, einem um die Jahrhundertwende exotischen Land, über das man in der Heimat gerne las, für einen günstigen Moment hielten, um ihre literarische Karriere zu beginnen. Diese nun als (deutsch-)österreichisch empfundenen Landschaften sollten gezielt in die Literatur des österreichischen Kulturbzw. Sprachraums eingeführt werden, was gänzlich den Zielen und Postulaten der Heimatkunstbewegung entspricht, nach denen jede Region ihren literarischen Vertreter und Führer bekommen sollte (Rossbacher 1975: 19). Habsburgische Landschaften sind also, zusammenzufassend formuliert, „kein ideologisch und historisch neutraler Begriff“, da durch die Beschreibung der Landschaften und die dort stattfindende Interaktion zwischen Protagonisten unterschiedlicher Provenienz patriotische Ideale und die habsburgische Weite und Multikulturalität, aber auch „territoriale Ansprüche“, Suprematie- Gelüste und Anciennität transferiert und wiedergegeben werden können (Rossbacher 1975: 14). Johann Sonnleitner schreibt zum Beispiel in seinem Artikel 5 Andererseits dürfen auch patriotische Bekundungen und Elemente einer anationalen Idee des Habsburgerreiches nicht verschwiegen werden. Diese können unter Claudio Magris’ Konzept der habsburgischen Heimatliteratur subsumiert werden. Eines ihrer wichtigsten Merkmale ist die Abwendung des Blickes von der (meist politischen) Wirklichkeit hin zu Folkloristischem, Fröhlichem und Gemeinsamem, das ein ideales, harmonisches Miteinander der habsburgischen Völker demonstriert. Vgl. dazu auch Rossbacher (1975: 22). Ausführlicher in Zusammenhang mit der Bosnien-Literatur in Sirbubalo 2012: (5, 148-150). 160 Lejla Sirbubalo über böhmisch-mährische Landschaften, dass im Kontext der Nationalitätenkonflikte, die vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die habsburgische Monarchie stark belasteten, die „Monopolisierung der Landschaft […] eine Reihe semantischer Transformationen und Reduktionen des literarischen Landschaftsdiskurses“ verlangt habe, mit dem Ziel und dem Ergebnis, durch „die nationale Polarisierung […] den Landstrichen ihren Stempel auf[zudrücken]“ (Sonnleitner 1995: 197, 199). Es sind also nicht mehr wertfreie Attribute und die „gängige Topik der Landschaftsschilderungen und der Reisebeschreibung, die die Natur individualisieren und sie dem Leser oder dem Betrachter eines Bildes in eine Landschaft verwandeln“, von Bedeutung; die Beschreibung einer Landschaft, vor allem jener an den Rändern der Monarchie (zu denen auch die bosnische gehörte), dient in erster Linie der eigenen Positionierung und der Legitimierung von nationalen Ansprüchen (Sonnleitner 1995: 197, 199). 2 Literarische Landschaftsbilder 2.1 Reinsberg-Düringsfeld Die erste Studie, die im weitesten Sinne als literarische Arbeit bezeichnet werden kann und die die bosnische Landschaft thematisiert, wurde von Ida von Reinsberg-Düringsfeld (1815-1876) verfasst. Sie stammte aus Schlesien und sprach eine Reihe romanischer und slawischer Sprachen; ihren Mann, den Kulturforscher Otto Reinsberg-Düringsfeld, begleitete sie 1852 nach Dalmatien. Dort verfasste sie ihre Studien „Aus Dalmatien“, 6 in denen hie und da Eindrücke über Bosnien, in erster Linie über die bosnischen Volkslieder, die sie gut kannte, und die bosnische Landschaft wiedergegeben werden. Als Trennungslinie zwischen Dalmatien, der damals jüngsten und rückständigsten habsburgischen Provinz, und Bosnien fungiere der Fluss Narenta (bosn. Neretva), den sie auch als den „bosnischen Nil“ bezeichnet. Über Überfälle, Unruhen und diverse Übergriffe, die das Grenzgebiet zwischen Dalmatien und Bosnien prägen, berichtet die Autorin eingehend. In Ragusa (Dubrovnik) wird sie zum ersten Mal mit orientalischen Trachten, „Turbanträgern“ und Bazaren konfrontiert und stellt etwas überrascht fest, dass die Bewohner Dubrovniks in durchaus gutem Kontakt mit ihren wichtigen Handelspartnern stehen (Reinsberg-Düringsfeld 1857: 194f.). Die Neretva beschreibt sie folgendermaßen: 6 Das Werk erschien 1857 mit Anmerkungen von Otto Freih. von Reinsberg-Düringsfeld im Carl Bellmann’s Verlag in Prag. Ein Bezug zu Bosnien ist v. a. in Band 2 und 3 zu finden. Ausführlicher zu Ida Reinsberg-Düringsfeld s. Sirbubalo (2012: 36-40). Landschaftsbilder aus Bosnien und Herzegowina 161 Die Narenta stürzt sich nicht über Felsen nieder wie die Kerka und die Cettina, wie die Ombla und die Fiumera, sie fließt breit und träge, trüb und tückisch daher aus der Herzegowina, welche ebenso dalmatinisch sein könnte, wie sie türkisch ist (Reinsberg-Düringsfeld 1857: 195). Die vier genannten Karstflüsse, die sich bereits im habsburgischen Reich befinden, weisen also Stärke und Schnelligkeit auf und werden deshalb als reine Naturkraft und somit als naiv und ungefährlich empfunden. Die Beschreibung der Neretva hingegen weist etwas Hinterhältiges, Invasives und Bedrohliches auf. In der Zuweisung dieser Attribute evoziert die Verfasserin beim Leser das Gefühl, dass die Bedrohung durch den Fluss überlegt und beabsichtigt ist. Das Adjektiv träge mit all seinen Synonymen begegnet in der Bosnien-Literatur sehr häufig und bezeichnet nicht nur wie in diesem Fall ein Naturphänomen, sondern wird häufig auf die Bevölkerung übertragen. Ihre Schilderung schließt sie mit den Worten, Herzegowina könne ebensogut dalmatinisch sein, womit sie einerseits auf die ähnlichen geologischen Naturverhältnisse anspielt, andererseits aber, ebenso wie andere Autoren, die sich zu diesem Zeitpunkt in Dalmatien aufhielten (z.B. Therese von Artner), das Gefühl vermittelt, dass nur eine Okkupation die schwierigen Verhältnisse an der Grenze zu Bosnien lösen könne. Die Beschreibung der Verhältnisse an der türkischen Grenze, an der sich Offiziere und Soldaten „hoffnungslos auf den Tod vor[bereiten]“, erfolgt dementsprechend in sehr düsterem und bedrohlichem Ton: „Das Erdbeben macht das gezeichnete Thal erzittern, bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang durchbrüllen es Stimmen wie von unterirdischen Stieren. Entschieden gibt es glücklichere Gegenden“ (Reinsberg-Düringsfeld 1857: 198). 2.2 Heinrich Penn und Hanns M. Kadich Nach der Okkupation 1878 thematisierten die ersten deutschsprachigen Romane vorrangig die Kämpfe in den einzelnen Städten und Dörfern. Die Okkupation, obwohl im Rahmen der Berliner Konferenz beschlossen, wurde vorderhand als Eroberungszug des habsburgischen Militärs präsentiert. Sie sei sowohl mit Steuergeldern als auch mit dem „Blut der Söhne“ bezahlt, hieß es in vielen politischen und kulturwissenschaftlichen Studien, was bald dazu führte, dass eine dauerhafte Einverleibung Bosniens verlangt wurde. 7 In jenen Romanen, die die Okkupation thematisieren, wird die bosnische Landschaft vorrangig in Verbindung mit Gräueltaten der Osmanen geschildert. In Heinrich Penns (1838-1918) 7 Eine solche Ansicht wird auch stark in dem Werk „Bosnien als Neuösterreich“ vertreten (hier vor allem 41), das 1886 anonym in Leipzig erschien. 162 Lejla Sirbubalo Roman „Hadschi Lojo und die schwarze Sultanin von Trebinje“ finden die österreichisch-ungarischen Soldaten bei ihrem Vordringen in das Landesinnere Landschaften vor, in denen verstümmelte Leichen, abgeschnittene Nasen und Ohren und andere osmanische Untaten das Bild dominieren (Penn 1879: 402, 452f.). Die bosnische Landschaft präsentiert sich als vom Blut der habsburgischen Soldaten getränkt, welche ja eigentlich nur - und das wird in allen Romanen oft beteuert und betont - Frieden, Ordnung und Kultur nach Bosnien bringen wollten. Naturbilder und Landschaftsschilderungen bilden bekanntlich in den meisten Werken den stimmungsweisenden Rahmen für den Verlauf der Handlung und die Interaktion der Protagonisten; sie stehen nicht für sich selbst, sie dienen „als Kulisse, Hintergrund, Schauplatz für das Agieren menschlicher Gestalten“ (Klańska 2004: 70). Auch in den meisten Bosnien-Romanen dient die Beschreibung der Natur in erster Linie der Einführung des Lesers in die fremde bosnische Welt: Zum einem dient die Natur der Stimmungsbildung, und zum anderen wird anhand der Schilderung des Umgangs der meist deutsch-österreichischen Protagonisten mit der Natur die persönliche und die kulturelle Dominanz demonstriert. In „Hamsibeg“, einem Roman von Hanns M. Kadich, wird dem Leser zunächst sehr detailliert die Karstlandschaft der Herzegowina vorgestellt. Die Neretva wird in diesem Roman äußerst positiv geschildert. Nachdem sie sich durch Felsenschluchten gezwängt hätte, trete sie in der Ebene über ihre Ufer und bringe Segen, denn sie „wühlt überall den von der Sonne schwarzgebrannten Boden auf“ und mache das Land fruchtbar (Kadich 1903: 1). In Kadichs Roman, der im nun österreichisch-ungarischen Bosnien spielt, erfährt die Neretva im Vergleich zu Ida von Reinsberg-Düringsfelds Schilderungen eine Aufwertung. Der Fluss spendet also Leben und wird als „länderverknüpfend“, Bosnien mit österreichischen Territorien verknüpfend, beschrieben (Kadich 1903: 4). Die Neretva scheint sogar die einzige lebendige Naturkraft in diesem Gebiet zu sein, denn die Herzegowina bzw. ihre wasserlosen Karstgebirge werden anschließend als eine „Welt, über der der Tod liegt“ beschrieben: Die Karstgebirge „sehen so aus, als hätten in uralter Zeit bösartige Riesen hier ihre Schlachten mit Steinen geschlagen - Jahrtausende hindurch - oder aus bloßem Zorn die Steine der ganzen Welt hier zusammengetürmt und auseinandergebreitet“ (Kadich 1903: 4f.). Das Bild Kadichs von der herzegowinischen Landschaft, „über der der Tod liegt“, wird durch die Beschreibung der tagsüber präsenten „Totenstille“ konsequent beibehalten, denn die Hitze in den Karstgebieten, die sehr häufig thematisiert wird, gestatte keinerlei Regung der Natur. Die weitere Beschreibung dieser Gegend, die zahlreiche visuelle, aber auch akustische Elemente enthält, entwirft die Szenerie eines beeindruckenden und äußerst seltenen Naturschauspiels, das jedoch bald durch das Auftreten der bosnischen Bevölkerung und ih- Landschaftsbilder aus Bosnien und Herzegowina 163 rer Zivilisation gestört wird - ein Moment, das ebenfalls häufig in den Bosnien- Werken identifiziert werden konnte. 2.3 Ernst Graf von Uiberacker Es soll an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass in zahlreichen Romanen Friedhöfe, alte Grabmäler (von Bogumilengräbern bis zu osmanischen bzw. altmuslimischen Grabsteinen), aber auch Gräber der österreichisch-ungarischen Repräsentanten das Bild der Landschaften begleiten und es prägen. Die alten Grabmäler stehen für eine untergegangene Welt, die oft im Postulaten, die an Darwin anklingen, als die schwächere und nicht lebenswerte Welt präsentiert wird. Die neuen österreichisch-ungarischen Gräber spielen meist darauf an, dass Bosnien nun dauerhaft zur habsburgischen Monarchie gehöre (vgl. Schlick 1909, 2. Buch: 216f.). Grabmäler und Gräber als wichtige Wahrzeichen in dieser Region spielen in einigen Romanen auch eine durchaus zentrale Rolle: Im Roman „Der Herr auf Zombor“ von Ernst Graf von Uiberacker ist das Zentrum der Handlung ein leeres einsames Grab auf einem abgelegenen Hügel, das nach altem slawischen Brauch geschlossen werden muss. Denn das Grab stehe für eine Christin bereit, die von einem türkischen Beg entführt wurde. Nach ihrer Befreiung verlange der alte Brauch von ihr den Freitod, und nur wenn sie in diesem vorbereiteten Grab beerdigt werde, könne sie ihren Frieden finden (Uiberacker 1938: 83). 8 Diese Bräuche sowie der Glaube an gute und böse Feen, an den bösen Blick, an Blutrache und Mädchenentführung, allesamt beliebte Motive der deutschsprachigen Bosnien-Literatur, entfalten ihre volle Wirkung erst durch die detaillierte Schilderung der Landschaft, die in diesem Sinne eine stimmige Kulisse darstellt. Die literarische Schilderung suggeriert, dass diese Bräuche, die oft herablassend als rückständig und von Aberglaube geprägt abgetan werden, durch das Unverständnis der Bevölkerung gegenüber den Abläufen in der Natur zusätzliche Nahrung erhielten. Während in der literarisierten Landschaft die bosnischen Protagonisten oft gerade durch Vorkommnisse in der Natur in ihrem (Aber-)Glauben bestätigt werden, enttarnen die superioren und aufgeklärten deutsch-österreichischen Protagonisten jedes als übernatürlich präsentierte Naturschauspiel sofort. Die herzegowinische Landschaft, und das muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, scheint einen größeren Reiz auf deutschsprachige Autoren auszuüben als auf bosnische, denn die meisten Romane spielen in der Herzegowina. Robert Michel, der bekannteste Schriftsteller, der sich dem Themenkomplex 8 Siehe dazu auch Sirbubalo (2012: 253). Ausführlicher zu den in der Bosnien-Literatur beschriebenen Bräuchen und zum Aberglauben auch S. 231-258. 164 Lejla Sirbubalo Bosnien widmete, erklärt in diesem Zusammenhang, dass er „die liebliche Landschaft längs der Bosna […] in ihrem Wesen manchen Gebieten [seiner] Heimat ähnlich [fand]“ und sie ihn deshalb nicht sonderlich abgelenkt habe, „[a]ls aber die Reise über den Ivansattel in das herzegowinische Karsthochland weiter ging“, sei er „von der Tragik dieser aufgerissenen Kalksteingebirge nicht weniger ergriffen [gewesen] als von der gewaltigen Schönheit des Laufs der grünen Narenta“. 9 2.4 Heinz Schlick Auch in dem Roman „Wolfgang Dahlen“ von Heinz Schlick wird der stets als „malerisch“ beschriebenen Herzegowina der Vorzug gegenüber Bosnien gegeben (Schlick 1909: 176). Hier wird auch die Hauptstadt der Herzegowina, die als die schönste und einzige „unverfälscht orientalische Stadt des Landes“ bezeichnet wird, beschrieben: Mostar habe etwas „[M]elancholisch-[R]omantisches“ (Schlick 1909: 176). Und tatsächlich ist Mostar die einzige bosnisch-herzegowinische Stadt, die in erster Linie bei Robert Michel als literarischer Ort fungiert. Die meisten anderen Romane spielen nämlich in einer ländlichen Umgebung, in weit abgelegenen Orten, Wäldern und Bergen. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich: Einerseits bedeutete dies den Rückzug in eine „apolitische Natur“, von der keinerlei Opposition, Widerstand und Regung ausgeht, und andererseits auch eine Flucht in „die ländliche und von der Zivilisation recht unberührte Sphäre“, in der der meist deutsch-österreichische Romanheld „keinerlei Konkurrenz von der Lokalbevölkerung“ fürchtet (Sirbubalo 2012: 228). Die Protagonisten treten konkurrenzlos als „dominierende und lenkende Figur[en] im Umfeld des ohnehin als rückständig eingestuften Volkes, aber auch der wilden Natur“ auf, die sie bald zu beherrschen wissen (Sirbubalo 2012: 228). 3 Der bosnische Orient In diesem Zusammenhang ist die Art der literarischen Darstellung des bosnischen Orients zu erwähnen. In den Jahren vor der Okkupation, aber auch in den ersten Jahren danach wurde den Lesern Bosnien als orientalisches Land präsentiert. Diese Tatsache macht im politisch-sozialen Kontext der Monarchie durchaus Sinn, denn die Okkupation Bosniens stieß nicht nur auf Begeiste- 9 Der Nachlass von Robert Michel wird im österreichischen Literaturarchiv aufbewahrt. Besonders interessant ist für den vorliegenden Beitrag der Bereich „Autobiographisches“. Vgl. dazu ausführlich Sirbubalo (2012: 157). Landschaftsbilder aus Bosnien und Herzegowina 165 rung. Ganz im Gegenteil, man fürchtete, das mühevoll erreichte Gleichgewicht in der Monarchie und den politischen Kompromiss des Dualismus durch die Vermehrung des slawischen Elements zu gefährden. Es muss jedoch ebenfalls darauf verwiesen werden, dass in der Herzegowina sowohl die Aufstände gegen die Osmanen als auch die Aufstände gegen die habsburgische Regierung ihren Anfang nahmen. Die Nähe zur montenegrinischen Grenze, so unterstellen die meisten Romane, habe den Ausbruch dieser Aufstände gegen die Kulturmission der Habsburger in Bosnien maßgeblich mitbestimmt - meist werden die Montenegriner und Serben, finanziert vom Zarenreich, als die eigentlichen Unruhestifter identifiziert. Der große Aufstand der Herzegowzen gegen die habsburgischen Vertreter 1882 wurde jedoch, ebenso wie alle kleinen Zeichen des Widerstands und der Revolte, vom österreichisch-ungarischen Militär erfolgreich niedergeschlagen, was diesen Landstrich zur absoluten Sieges- und Machtzone der habsburgischen Vertreter machte. Dass sowohl die subjektive Empfindung der Autoren als auch die Landschaft, in diesem Fall die Bevorzugung der herzegowinischen gegenüber der bosnischen, oft auf die dort lebende Bevölkerung übertragen wurden, beweist die unterschiedliche Beschreibung und Bewertung der Bosnier und der Herzegowzen, die in einigen Romanen zu finden ist. In „Wolfgang Dahlen“ wird die herzegowinische Bevölkerung wie folgt beschrieben: Sehr interessant fand Dahlen das Studium des herzegowinischen Volkes, welches so stark vom Charakter des Bosniers abweicht. Auch schon äußerlich fällt in der Herzegowina der auffallend hohe, kräftige Wuchs der Leute auf, während das Volk in Bosnien kleiner, schlanker und feiner erscheint. Der Herzegowce ist der wilde, unbändige, etwas rauhe Sohn der Berge, dabei urwüchsig, aufrichtig. Der Bosnier, von der Kultur schon viel mehr beleckt, hat mehr Manieren, kann sich besser akkommodieren, ist aber viel schlauer und bei weitem weniger aufrichtig. (Schlick 1909, 2. Buch: 17). Auch in den autobiographischen Werken von Ernst Uiberacker, insbesondere in seinen zwei bosnischen Romanen, die eindeutig deutsch-nationale Züge aufweisen, findet man eine solche Übertragung der Landschaftsattribute auf das Volk. In einer ausführlichen und affirmativen Beschreibung erklärt er die „Alte Brücke“ von Mostar zum dominanten Landschaftsmerkmal. Diese bilde den „nationalen Stolz des Herzegowzen“ und sei „gleichsam ein Sinnbild seiner selbst“, denn „[e]benso stolz, so ruhig und so stark wie diese Brücke über die tollkühn dahinschießende Narenta sich wölbt, so mutigstolz, so starr und stark ist auch der Herzegowze“ (Uiberacker 1934: 41). Umgekehrt werden jene Landschaften, die die Protagonisten generell als schön oder stimmig empfinden würden, konsequent vernachlässigt bzw. abgelehnt, sofern die Einheimischen 166 Lejla Sirbubalo der K.-u.-k.-Regierung feindlich gegenüberstanden: Dem Protagonisten Wolfgang Dahlen gefiel „das so idyllisch zwischen zwei Flüssen gelegene kleine Städtchen Bosnisch-Novi sehr gut“, heißt es im gleichnamigen Roman, „es sah sehr friedlich aus. Später hörte er aber, daß es eigentlich ein Nest der Malcontenten sei und nicht für regierungsfreundlich gilt“ (Schlick 1909, 1. Buch: 22). Die literarisierte Stimmigkeit, Unberührtheit und Harmonie der bosnischen Natur wird oft von den Einheimischen und ihren „Geschichten“ und Klagen, die meist in die gesetzlose osmanische Zeit zurückreichen, gestört. Ein Beispiel dafür, dass der positiv geschilderten Natur sofort eine negative Beschreibung der Einheimischen entgegengesetzt wird, findet man in Kadichs Roman „Hamsibeg“: Es war noch recht zeitlich am Tage so früh, daß selbst die gefiederten Schmetterlinge, die schillernden Bienenfresser, welche zerstreut in den dornigen Hecken saßen, noch mit der Toilette ihrer Federn beschäftigt waren. Sie nestelten in ihnen herum und kümmerten sich blutwenig um die Katze, welche vor dem Hause auf einem trockenen Holzbündel lag und schnurrte. […] Ob die Bewohner wohl auch bei der Toilette waren …? Schwer anzunehmen in dieser Gegend, wo Wasser nur an den drei höchsten Jahresfeiertagen äußerlich zur Anwendung kommt (Kadich 1903: 26). Wirts- und Einkehrhäuser werden generell als schmutzig, abgenutzt und „wenig europäisch“ beschrieben. Dieser Kontrast ist in allen Romanen stark vertreten. Einzig die Schlösser der wohlhabenden Begs werden im positiven Licht geschildert, denn Respekt zollte man meist nur den bosnischen Begs. Prinzipiell, wenn auch mit einigen Ausnahmen, dominiert in Bezug auf Bosnien das Bild zweier Gegensätze, das interessanterweise auch Johann Sonnleitner hinsichtlich der Bukowina identifizieren konnte: Reinheit, Ordnung und Reichtum, die ausschließlich der unberührten Natur und jenen landschaftlichen Gegenden gelten, in denen die Lokalbevölkerung auftritt, und Schmutz, Aberglaube, Rache und in bestimmten Umfang auch Armut (vgl. Sonnleitner 1995: 204), 10 die 10 Sonnleitner fasst diesen Aspekt in Bezug auf die Bukowina folgendermaßen zusammen: „Reichtum und Armut werden also distinktive Merkmale zur Identifizierung von Landschaften.“ Er betont, dass demnach „[i]n der gängigen Dichotomie von Kultur und Barbarei […] auch Klassengegensätze eingeschrieben [sind], die die Armut […] als naturhaft in der Eigenschaft des Slawen begründet sieht“ (Sonnleitner 1995: 204). In Bezug auf Bosnien stimmt dieser Aspekt der Armut, die den Einheimischen bzw. den Slawen zugeschrieben wird, nur bedingt. Sie bezieht sich, wenn überhaupt, auf bosnische Christen, da die Muslime, denen aufgrund ihrer Exotik mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, durchaus auch wohlhabend waren. Außerdem Landschaftsbilder aus Bosnien und Herzegowina 167 dem bosnischen Volk zugeschrieben werden, werden einander entgegengesetzt (Sonnleitner 1995: 202ff.). Ein extremes Beispiel findet sich bei dem bereits erwähnten Uiberacker, den die unberührte Wildnis der herzegowinischen Berge und Jagdreviere nahezu in Ekstase versetzt, wohingegen er die einheimische Bevölkerung kaum erwähnt: Auf einer Weide trifft er auf ein bosnisches Hirtenmädchen, „ein Tschutschenmäderl“, deren Geruch sein Hund Wotan (! ) gar nicht mag, wodurch er, trotz seiner Sympathie für die bosnisch-herzegowinischen Landschaften, eine diffamierende Haltung gegenüber dem bosnischen Volk zum Ausdruck bringt (Uiberacker 1958: 155-183). 4 Wildnis und Dominanz über die Natur Die Wildnis der Berge, Täler und Wälder und die unberührte bosnische Natur dominiert in allen Romanen mit deutschsprachigen Protagonisten und ist auch emotional als „österreichisch“ besetzt. An dieser Stelle sei auf Sonnleitners Feststellung in Bezug auf die Landschaften der Bukowina verwiesen, da diese durchaus auch im bosnischen Kontext wegweisend sind: der meist national gefärbte Landschaftsdiskurs zielt in erster Linie auf Legitimierung der „bestehenden Herrschafts- und Besitzverhältnisse“ ab. Diese Art der Legitimierung, eine regelrechte Besetzung der Landschaften, findet in der Bosnien-Literatur auf unterschiedliche Weise statt. Zum einem wird eine Art Inventur dessen betrieben, was die Natur Bosniens (den Österreichern) zu bieten habe. Unter dem Vorwand eines naturwissenschaftlichen Interesses und mit dem Selbstverständnis eines aufgeklärten Kulturträgers begeben sich die deutschen Protagonisten in weit abgelegene und schwer zugängliche Gegenden, die vermeintlich nie oder nur selten von Menschen betreten wurden. Dort machen sie Aufzeichnungen über Flora und Fauna, jagen und präparieren Wildvögel, die sie dann selbstlos den bosnischen Museen überlassen. Sie treten als Naturwissenschaftler auf und machen sich bei der Erschließung dieser unbekannten Gegenden verdient, was in den Heimatromanen bzw. in der Heimatkunstbewegung ein häufiges Motiv darstellt. In diesem Kontext wird die Legitimierung der Macht- und Besitzverhältnisse durch eine Art Quantifizierung und Verifizierung der Natur konstruiert. Die deutsch-österreichischen Protagonisten werden zudem als die ersten Eroberer und Gönner dieser wilden Landschaften präsentiert, und dies verschafft ihnen in gewisser Weise ein Vorrecht auf das Land selbst. Ein ebenfalls weit verbreitetes Motiv der Dominanz über die Natur wird durch eine Unzahl an Jagdbeschreibungen verbreitet. Die deutschen Protagoschützt die in der Literatur häufig dargestellte vermeintliche Einfachheit und das Unwissen den Bosnier davor zu begreifen, dass er arm ist. 168 Lejla Sirbubalo nisten der Bosnien-Literatur bezeichnen sich selbst in erster Linie als Jäger und sind selbstverständlich bessere Jäger als die Bosnier oder Türken. Die Bosnier, aber vor allem die Türken, werden als „Fleischmacher“ und „Schächter“ bezeichnet (Uiberacker 1934: 55). In Uiberackers „Der Herr auf Zombor“ wird erklärt, dass der Türke, der sogar sein Pferd schonungslos reite und wohl generell der Natur mit wenig Respekt begegne, Schonzeiten nicht kenne und er die Jagd als ein Vergnügen sehe, das ihm als Herrn zustehe. Ihm sei die Jagd lediglich „eine Gelegenheit, Fleisch zu machen, weshalb er sich mit Vorliebe weibliche Tiere zur Erlegung“ suche (Uiberacker 1938: 10). Als der lokalen Bevölkerung nach den Aufständen aus militärischen Gründen ein Waffenverbot auferlegt wurde, sei das, so Uiberacker, der Jagd zugutegekommen: Es wurden Jagdkarten eingeführt, die lediglich österreichisch-ungarische Offiziere und Beamte und einige wenige als verlässlich eingestufte Bosnier besaßen (Uiberacker 1958: 44f.). Waffenkartenbesitzer, also vornehmlich Vertreter der österreichisch-ungarischen Monarchie, erhielten so die Oberherrschaft über die wildreichen Jagdgebiete und empfanden sich nun selbst als deren einzige Herren. Einheimische haben in den Romanen nur die Rolle der dienenden Begleitperson oder des Wegführers. Die Jagd in den unberührten bosnischen Wäldern wird als ein Ereignis geschildert, das so verlockend, naturverbunden und ursprünglich ist, dass die deutsch-österreichischen Protagonisten aus ihrer zivilisierten Welt, in erster Linie aus Wien, flüchten und zu Zivilisationsaussteigern werden, um in Bosnien ein „freies Jägerleben“ zu führen (Ellminger o.J.: 11). Die schönsten und wildreichsten Jagdreviere sowie die Natur Bosniens helfen den Protagonisten, ihre von der Industrialisierung und der Großstadt verursachten Wunden zu heilen. Besonders in den Romanen Otto Ellmingers ist die Genesung der kranken Großstadtmenschen in der von „der Geldgier verschont“ gebliebenen bosnischen Natur ein zentrales Thema. „[D]er verweichlichte Körper des Salonmenschen machte eine gründliche Veränderung“ in den bosnischen Bergen und Wäldern durch, wird im Roman „Der Einsiedler von Debelo“ betont (Ellminger 1931: 29). Malerische Landschaften, unverbaute und unverfälschte Wildnis, gepaart mit traditionellen Bräuchen, der Einfachheit des Landvolkes und folkloristischen Elementen, bringen den Protagonisten Erholung und Gesundung, was zu den häufigsten Motiven in den Werken der Heimatkunstbewegung gehört. „Ruhe und Zufriedenheit“ sei den Kulturmenschen, zu denen sich der Protagonist in Ellmingers Roman „Fatimas Grab“ ohne Zweifel zählt, verloren gegangen. Jene aber, die das erkennen würden, flöhen zurück zur Natur (Ellminger o.J.: 64). Laut Kłańska fällt der Natur Galiziens prinzipiell eine stimmungsbildende Rolle zu. Die Naturschilderungen bei Sacher-Masoch etwa würden „der Vermittlung der Stimmung und Seelenzustände der Menschen“ dienen (Kłańska Landschaftsbilder aus Bosnien und Herzegowina 169 2004: 55f.). Diese Rolle der Natur, die zunächst als frisch, innovativ und exotisch empfunden wurde, sei jedoch oft zu einem Klischee erstarrt, und durch stete Wiederholungen gewisser Landschaftsbilder und Typen habe sie bald ihren Reiz verloren (Kłańska 2004: 56). Die bosnischen Landschaften, die ein ähnliches Schicksal hatten, begeisterten in den frühen Jahren nach der Okkupation durch ihre Ursprünglichkeit, Unberührtheit und Wildnis. Die früh formulierten, literarisierten und einseitig bzw. konsequent gleichbleibenden Landschaftsbilder, ja sogar stilistische Wendungen und die Wortwahl erfuhren aber bei ein und demselben Autor sowie auch bei verschiedenen Autoren, die sichtlich die Werke der anderen kannten, eine stete Wiederholung, was der Bosnien-Literatur in Hinblick auf Ästhetik und Qualität sicherlich nicht zugutekam. 11 Prinzipien und Motive der Heimatkunstbewegung, die eine literarische Inkorporierung (deutsch-)österreichischer Landschaften zur obersten Priorität erklärte und offen für Kolonisierung und Landgewinn eintrat, können ohne Zweifel in den Bosnien-Romanen identifiziert werden. 5 Fazit Das bosnische Landschaftsbild ist, wie so oft bei Schilderungen von Landschaften in der habsburgischen Monarchie, ein Bild der Kontraste und Kongruenzen (Kłańska 2004: 70): Einerseits werden Bilder einer harmonischen Natur und idyllischer Landschaften gezeichnet, um sie dann mit negativen Äußerungen über die Bevölkerung zu kontrastieren. Andererseits besteht eine Kongruenz zwischen dem Landschaftsbild und dem Bild der Bevölkerung, wenn auch der bosnisch-herzegowinischen Natur mehr Respekt entgegengebracht wird als der Bevölkerung. Abschließend sei auf ein Zitat Maria Kłańskas verwiesen, das im Kontext solcher Untersuchungen sicherlich wegweisend ist: Es sei, so Kłańska, nicht primär die Natur, „die eine bestimmte Stimmung schafft, sondern der Mensch, der sie erlebt und wahrnimmt“ und „ihr nach seinen eigenen Stimmungen und Gefühlen positive oder negative Vorzeichen“ verleiht (Kłańska 2004: 68). 11 Identische Beschreibungen der Vogel- und Wasserwelt findet man etwa in Hanns Kadichs Roman „Hamsibeg“ von 1903 und in den Romanen Ernst Uiberackers ab den 1930er Jahren. Beide Autoren legen den Schwerpunkt der Darstellung auf die Ornithologie, die Hauptrollen spielen stets österreichische Offiziere, die ihre freie Zeit in der Wildnis der Herzegowina verbringen. 170 Lejla Sirbubalo 6 Literatur Brockhaus in einem Band (1994). Leipzig/ Mannheim. Dohnke, Kay (1998): Heimatliteratur und Heimatkunstbewegung. In: Kerbs, Diethart/ Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Wuppertal. S. 481-493. Kaszyński, Stefan H. (1995): Die habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur. In: Kaszyński, Stefan H./ Piontek, Sławomir (Hrsg.): Die habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur. Beiträge des 11. Polnisch-Österreichischen Germanistentreffens in Warschau 1994. Poznań. S. 11-22. Kłańska, Maria (2004): Die Funktionen der galizischen Landschaft in den Werken von Leopold Sacher Masoch, Karl Emil Franzos und Joseph Roth. In: Battiston-Zuliani, Régine (Hrsg.): Funktion von Natur und Landschaft in der österreichischen Literatur. Bern. S. 51-73. Rossbacher, Karlheinz (1975): Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart. Schlick, Heinz (1909): Wolfgang Dahlen. Der Werdegang eines bosnischen Beamten. Dresden. Sirbubalo, Lejla (2012): „Wie wir im 78er Jahr unten waren“. Bosnien-Bilder in der deutschsprachigen Literatur. Würzburg. Sonnleitner, Johann (1995): Deutscher Wald und Böhmisches Dorf. Die böhmischmährischen Landschaften im Nationalitätenkonflikt. In: Kaszynski, Stefan H./ Piontek, Slawonir (Hrsg.): Die habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur. Beiträge des 11. Polnisch-Österreichischen Germanistentreffens in Warschau 1994. Poznań. S. 197-218. Quellen Ellminger, Otto (1931): Der Einsiedler von Debelo. Bosnischer Jagd- und Volksroman. Wien. Ellminger, Otto (o.J.): Fatimas Grab. Roman aus den bosnischen Bergen. Wien. Kadich, Hanns M. Von (1903): Hamsibeg. Ein Roman aus den Gebirgswildnissen der Balkanhalbinsel. Wien. Penn, Heinrich (1879): Hadschi Lojo und die schwarze Sultanin von Trebinje, oder die österreichische Okkupation Bosniens. Zeitgeschichtlicher Sensations-Roman. Brünn. Uiberacker, Ernst Graf (1934): Bekenntnisse eines Jägers. Erstrebtes, Erlebtes und Gefehltes. Wien. Uiberacker, Ernst Graf von (1938): Der Herr auf Zombor. Roman aus der Okkupation Bosniens. Graz. Uiberacker, Ernst J. (1958): Bei den Strafunis. Erinnerungen eines alten Jägers und Soldaten. Salzburg. Bikulturalität in der sorbischen Gegenwartsliteratur Jochen Strobel (Marburg) Zusammenfassung Die Sprache der in der Lausitz beheimateten, etwa 20.000 Sprecher umfassenden ethnischen Minderheit der Sorben ist nie deren alleinige Muttersprache. Die Kultur der Sorben ist seit geraumer Zeit zweisprachig, mit einem zunehmenden Übergewicht des Deutschen. Der Beitrag untersucht Formen der Bikulturalität in ihrer teils ein-, teils zweisprachigen Gegenwartsliteratur, die die Funktion der ethnischen Distinktion sowie der Gewinnung und Erhaltung nationaler Identität bis heute nicht verloren hat. Im Einigungsvertrag von 1990 ist der Schutz der sorbischen Minderheit festgeschrieben, wie er etwa auch durch gezielte Fördermöglichkeiten im literarischen Feld sichtbar ist. Angesichts geringer werdender Sprachkenntnisse hat sich eine wirkungsästhetisch funktionale Literatur wie die sorbische in mehreren Segmenten weiterentwickelt: erstens in einer als kulturelle Nische fortbestehenden Einsprachigkeit; zweitens in einer zweisprachig (oder auch allein in deutscher Sprache) artikulierten Bikulturalität; drittens in einer formalästhetisch erzeugten Transkulturalität, die gleichsam eine dritte Sprache mit Hilfe der beiden vorgegebenen schafft. 1 Kultur der Sorben Ein Germanist ohne Sorbischkenntnisse nimmt zweifellos eine eingeschränkte Beobachterperspektive ein, wenn er ausgerechnet über die Gegenwartsliteratur der Sorben schreibt, die zwar auch, aber nicht ausschließlich Literatur in deutscher Sprache ist. Geht man von einer doppelten Adressierung sorbischer Literatur aus, die sich einerseits in toto an Leser mit guter Lesefähigkeit im Sorbischen, andererseits aber mit einer Teilmenge potenziell an alle deutschsprachigen Leser richtet, 1 dann bleibt ihm für seine Beobachtungen weitestgehend nur die besagte Teilmenge, angereichert durch sekundäre Informationen. Die Besonderheit der sorbischen Kultur der Gegenwart ist damit schon bezeichnet, denn sie existiert und wird existieren, wie etwa der 1936 geborene Schriftsteller und Journalist Jurij Koch einräumt, auch wenn die Sprache einst nicht mehr gesprochen werden sollte. In einem Gespräch mit dem Verfasser im Jahr 2000 1 Vergleiche Kito Lorenc über seinen 1967 erschienenen Gedichtband „Struga“: „[I]n den Struga-Gedichten vor allem, die ja ursprünglich zweisprachig erschienen sind, wollte ich […] den Deutschen etwas über die Sorben erzählen, aber auch den Sorben einiges über sich“ (Lorenc 2013d: 63). 172 Jochen Strobel räumte Koch ein, „die Ethnie existiere selbst dann noch, wenn die Sprache bereits verloren sei; es gebe immer noch einen inneren Bezugspunkt zu etwas Gewesenem, noch auf Jahrzehnte hin“ (Strobel 2009: 394). Was bedeutet es also, wenn von Bikulturalität in der Gegenwartsliteratur der Sorben überhaupt die Rede ist? Gehen wir einen Schritt zurück und blicken auf das Volk der Sorben und die Geschichte seiner Kultur überhaupt. Das kleine westslawische Volk lebt in der Ober- und in der Niederlausitz in den deutschen Bundesländern Sachsen und Brandenburg und ist als nationale Minderheit in Deutschland anerkannt, doch sind die Sorben in der Regel deutsche Staatsangehörige. In den 1990er Jahren bekannten sich etwa 50.000 Menschen dazu, Sorben zu sein. 2 In dem 1958 gegründeten und bis heute sich vorwiegend aus Fördermitteln finanzierenden Bautzener Domowina-Verlag für das sorbische Schrifttum erschien 1995 eine „Kurze Geschichte der Sorben“, in der es über sie heißt: „In der Mehrheit sprechen sie Sorbisch und Deutsch, viele, vornehmlich in der Niederlausitz, nur deutsch“ (Kunze 1995: 7). Die sorbische Minderheit wurde bis 1945 immer wieder benachteiligt und unterdrückt, vor allem im Deutschen Reich seit 1871 dürften erhebliche Assimilitationsprozesse angestoßen worden sein, die dazu führten, dass das Sorbische als Erstsprache zu verschwinden begann. Insbesondere aber in der Zeit des Nationalsozialismus waren Sprache und Kultur der Sorben verboten; es wurde behauptet, so berichtet Kunze (1993: 45), die Sorben seien ein deutscher Volksstamm. Zu Zeiten der DDR wurde den Sorben erstmals nationale Gleichberechtigung zugesprochen; nun wurden Sprache und Kultur an den Schulen gelehrt - zugleich war der ideologische Zugriff auf die in der Dachorganisation „Domowina“ organisierten Sorben unübersehbar und trieb die Assimilation faktisch voran. Jurij Koch weiß in seiner 2012 erschienenen Autobiographie „Das Feuer im Spiegel“ von einem Minderwertigkeitsgefühl in seiner Kindheit und Jugend aufgrund des Sorbischen zu berichten. Die mit großen Hoffnungen verbundene sorbische Wiedergeburt von Stalins Gnaden erwies sich als Strohfeuer (vgl. Koch 2012: 20, 55). Die teils sehr bereitwillige Integration der Sorben in ihr Heimatland DDR - wie sie der sorbische Nationalautor Jurij Brĕzan in den fünfziger Jahren propagierte (vgl. Strobel 2009: 389f.) - hatte als Kehrseite eine schleichende Reduzierung staatlicher Förderung, namentlich des sorbischen Schulunterrichts (vgl. Pech 1999). Da die Sorben niemals ernsthaft an staatliche Autonomie denken konnten, war die seit dem 19. Jahrhundert entstehende Nationalliteratur in sorbischer Sprache eine Literatur der Abgrenzung, Förderung, Stabilisierung und Erhaltung nationaler Identität - das Sorbische wurde nun als Literatursprache er- 2 Heute gibt es möglicherweise nur noch 7.000 aktive Sprecher des Niedersorbischen und 15.000 des Obersorbischen, vgl. de.wikipedia.org/ wiki/ Sorben (Stand: 07.08.2014). Bikulturalität in der sorbischen Gegenwartsliteratur 173 probt. Immer schon stand sie im Zeichen der ethnischen Minderheit, ihrer politischen Unterdrückung und einer Befürchtung des nahen Untergangs. Gedichte des 1938 geborenen sorbischen Autors Kito Lorenc erfuhren nicht zufällig Übersetzungen ins Weißrussische und ins Ukrainische, schon in den 60er Jahren wurde er zum Erfahrungsaustausch nach Minsk eingeladen und registrierte, dass seine Kollegen, die Autoren der DDR, von weißrussischer Literatur, also einer Minderheitenliteratur innerhalb der UdSSR, keinerlei Kenntnis besaßen (vgl. Lorenc 2013f). Hier, im Austausch mit anderen slawischen Sprachen und Kulturen, vor allem mit dem Polnischen und Tschechischen, besaß und besitzt die sorbische Literatur bis heute ein ‚Marktsegment’, das weniger auf Abgrenzung denn auf Gemeinsamkeiten und Verwandtschaft beruht. 3 Nach innen ist die sorbische Literatur funktional im Sinne einer Wirkungsästhetik (vgl. Strobel 2009: 384), indem sie, ähnlich wie die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert, kulturelles Wissen vermittelt sowie die Kenntnis der Sprache erhält - im 21. Jahrhundert bedeutet dies, dass viele der im Domowina-Verlag auf Sorbisch erscheinenden Bücher Kinder- oder Schulbücher sind. Bekenntnis ist die sorbische Literatur auch in deutscher Sprache, eben als Zeugnis für die Leser, die Sorbisch sprechen, aber auch als ein an alle interessierten Nicht-Sorben gerichtetes Zeugnis. War Jurij Brĕzan stellvertretender Vorsitzender des DDR-Schriftstellerverbandes, so gibt es heute keinen deutschlandweit prominenten sorbischen Autor. Es muss hier nicht an Beispielen festgemacht werden, dass viele sorbische Autorinnen und Autoren bis heute ein hohes Maß an Identifikation mit der Literatur ihres Volkes an den Tag legen, wie es etwa in der deutschen Literatur spätestens seit dem dritten Drittel des 20. Jahrhunderts kaum mehr gegeben ist. Kito Lorenc legte 1981 bei Reclam Leipzig ein vielhundertseitiges „Sorbisches Lesebuch“ zweisprachig vor: Kanonizität der sorbischen Literatur hatte sich bereits im sozialistischen Staat mit einer Überschreitung der bloß einsprachigen Binnenkommunikation zu verbinden, an der immer weniger kompetente Sprecher teilhaben konnten: Die Form der Zweisprachenedition wurde gewählt, weil sich dieses Lesebuch ebenso an primär sorbischsprachige wie an deutschsprachige Leser wendet. […] Für eine Parallelausgabe sprach unter anderem, daß die sorbische Literatur, in vielen ihrer Zeugnisse slawisch-deutscher Wechselseitigkeit verpflichtet, sich heute zugleich als Teil der slawischen Literaturfamilie wie als Bestandteil der DDR-Literatur versteht und sich angesichts veränderter, mannigfache Interfe- 3 Zu prägenden Erfahrungen auf dem sorbischen Gymnasium im tschechoslowakischen Varnsdorf vgl. Koch (2012: 104ff.). 174 Jochen Strobel renzerscheinungen zeitigender sprachlicher und literarischer Kommunikationsverhältnisse zunehmend in beiden Sprachen darbietet (Lorenc 1981: 9f.). In der DDR durfte die sorbische Literatur also erstmals auch zweisprachig werden, sei es in Original und Übersetzung, sei es, dass sorbische Autoren wie Jurij Brĕzan manche Bücher ausschließlich in deutscher Sprache publizierten. 4 Ein „sorbisches Anliegen“, wie es Kito Lorenc formuliert, konnte in den 1960er Jahren noch nicht auf Deutsch artikuliert werden - ein Deutsch, das sich als Sprache auch für die Kultur der Sorben eignete, musste erst gefunden werden (vgl. Lorenc 2013c: 24). Doch angesichts einer kleiner werdenden ethnischen Minderheit verteidigte Lorenc 1987 seine Zweisprachigkeit selbstbewusst: „[I]ch meine schon, dass mein literarischer Bilinguismus keine individuelle oder sorbische Ausnahmeerscheinung ist, sondern - soweit ich das übersehe - für ethnische Minderheiten und für Berührungszonen verschiedener Sprachen überhaupt […] charakteristisch werden kann, gewiss manchmal auch literarisch bedeutsam“ (Lorenc 2013e: 105). 5 Bikulturalität lebten die Sorben spätestens seit dem 19. Jahrhundert insofern, als sie ihre Sprache und Kultur praktizierten und tradierten und doch zugleich deutsche Staatsbürger waren, deutsch sprechen und schreiben mussten sowie sich sozial und kommunikativ zu keinem Zeitpunkt von der deutsch sprechenden Öffentlichkeit abgrenzen konnten - dies mag in den Dörfern der Lausitz allerdings bis ins 20. Jahrhundert hinein mancherorts möglich gewesen sein. 2 Die ‚Wende‘ als Einschnitt Der 1990 geschlossene Einigungsvertrag sicherte den Schutz der nationalen Identität der Sorben; in den Verfassungen der Bundesländer Sachsen und Brandenburg sind die Rechte der Sorben festgeschrieben. Zweisprachigkeit und teils sogar Einsprachigkeit des Sorbischen werden seither an Kindergärten und Schulen gefördert wie nie zuvor. Verheerend wirkte sich die Abwanderung der Bevölkerung aus der bis heute strukturschwachen Lausitz aus. Doch waren mit der mit Bundeswie auch Landesmitteln gut gerüsteten „Stiftung für das sorbische Volk“ erstmals institutionelle Bedingungen für ungehinderte Bikulturalität gegeben - in einem Augenblick, da ökonomische Zwänge (man wird aber auch 4 Zu Brĕzan als Autor des DDR-Literaturkanons vgl. Rüther (1997: 257). 5 Vergleiche weiterhin Lorenc (2013a), zuerst 1994 publiziert: „Deutschsprachiges kann […] durchaus auch zur sorbischen Kultur gehören und gehört dazu“ (Lorenc 2013a: 136). Bikulturalität in der sorbischen Gegenwartsliteratur 175 sagen dürfen: die Zwänge einer das Nationale transzendierenden Globalisierung) die sorbische Minderheitskultur in Windeseile auszuhöhlen begannen. Doch solange es ein Bekenntnis zum sorbischen Volk gibt, wird es auch jene gelebte Bikulturalität geben - für das Feld der Literatur ist dies keineswegs selbstverständlich, stellt sich doch bei sorbischsprachigen Texten die Frage, wer diese eigentlich noch lesen soll und kann, und müssen sich die auf Deutsch verfassten Texte daraufhin befragen lassen, was an ihnen überhaupt noch sorbisch sei. Die im Einigungsvertrag festgelegten quasi-mäzenatischen Förderstrukturen in den Künsten der Sorben (Druckkostenzuschüsse für Bücher, die auf Sorbisch bei Domowina erscheinen, etwa Auftragsarbeiten, aber auch z.B. Stipendien des Freistaates Sachsen für Autoren) garantieren deren Überleben - doch geht die Zahl der Veröffentlichungen ebenso zurück wie offenbar in den letzten 20 Jahren nur mehr wenige jüngere Talente ausfindig gemacht werden konnten. 6 Die monopolistische Stellung des Domowina-Verlags könnte nun beklagt werden, doch ist sie unvermeidlich und auch sinnvoll - auch dass man in der kleinen Community viel mehr noch als in der deutschlandweiten Literaturszene einander kennt und möglicherweise nicht unbedingt allzu kritisch rezensiert, muss in Kauf genommen werden. 7 Zuviel Wettbewerb verträgt eine so kleine Literaturszene nicht. Die Autorenhonorare des Verlags, beispielsweise für die zahlreich erscheinenden Kinderbücher, nicht selten Auftragswerke, sind jedoch nicht nur Ausdruck einer Art von literarischem Binnenmarkt der Sorben, sondern sie sind Voraussetzung dafür, dass einige der sorbischen Autoren die Grundsicherung, die die Domowina gewährt, nutzen können, um auch außerhalb dieses Binnenmarktes Erfolg zu haben. Die 1951 geborene Lyrikerin Róža Domašcyna publizierte um 2000 herum mehrere Gedichtbände in Gerhard Wolfs Janus-Press und hat auch seither mindestens fünf Bände in kleineren Verlagen zwischen Halle und Heidelberg veröffentlicht. Anlässlich des 65. Geburtstags von Kito Lorenc erschien eine Auswahl seiner Gedichte, eingeleitet von Peter Handke, in der Bibliothek Suhrkamp - die Gedichte weitgehend in deutscher Sprache (Lorenc 2013b). Beide Autoren publizierten auch auf Sorbisch bei Domowina. Da nur Texte in sorbischer Sprache gefördert werden, ist in der Nachwendeliteratur eine Tendenz zur Segmentierung erkennbar. Drei Segmente seien benannt, die nicht in Reinkultur bestehen, die sich in den vergangenen 20 Jahren aber zunehmend ausgeprägt haben: Einsprachigkeit als Nischenbildung - Bi- 6 Dies geht etwa aus der Homepage des Verlages hervor: www.domowina-verlag.de/ de/ verlag (Stand: 07.08.2014). 7 Einen Einblick gibt ein Interview, das 2000 mit der damaligen Leiterin des Verlages, Ludmila Budarjowa, geführt wurde, vgl. Bernig/ Strobel (2000b). 176 Jochen Strobel kulturalität zweisprachig (oder auf Deutsch) - Transkulturalität. Diese drei Segmente der Literaturproduktion werden nachfolgend skizziert. 3 Nach der Wende 3.1 Einsprachigkeit als Nischenbildung Wer heute auf Sorbisch schreibt, kann auf Förderung hoffen, stellt sich aber in die inzwischen zum Nationalheiligtum gewordene literarische Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts. Einengend mag die Tatsache wirken, dass man mit der Normativität eines literaturgeschichtlichen Evolutionsmodells an die Bewertung der literarischen Produktion heranzugehen gewohnt ist: Die sorbische Literatur habe nach Aufklärung und Romantik mit Verspätung auch eine Moderne ‚entwickelt‘ und diese Moderne, so liest es sich manchmal nicht nur zwischen den Zeilen, müsse nun auch zur vollen Entfaltung gelangen: „Die Normativität eines literaturgeschichtlichen Evolutionsmodells führt zu strikten Einordnungen einzelner Texte oder Autoren, die gleichsam zur Komplettierung des Bildes beitragen müssen“, so Strobel (2009: 400). Es scheint, sorbische Autoren stünden jetzt unter Druck, endlich ‚zeitgemäß‘ zu schreiben - das heißt aber auch: sorbische Autor/ innen schreiben immer unter den Augen der Literarhistoriker und somit beinahe schon sub specie aeterni. Es gibt nur sehr wenige Nachwuchsautor/ innen, die es zu einer eigenen Buchpublikation bringen. Eine Stichprobe: Unter den 96 sorbischsprachigen Schriftstellern, die eine einschlägige Wikipedia-Liste aufzählt, sind 23 lebende, davon aber sind nur drei jünger als 50 Jahre. 8 Die 1976 geborene Lubina Hajduk-Vejlkovic hat zeitweilig als freie Schriftstellerin gearbeitet, heute gibt sie an der Universität Leipzig Sorbisch-Sprachkurse, ist für Domowina mit Übersetzungen von Belletristik und von Schulbüchern ins Sorbische tätig - und schreibt selbst Gedichte und Romane. Von ihr stammt der erste sorbische Krimi, der stolz als Phänomen besagter literarischer Evolution präsentiert wird - die moderne Unterhaltungsliteratur ist im Obersorbischen angekommen. 9 8 Vergleiche de.wikipedia.org/ wiki/ Liste_sorbischsprachiger_Schriftsteller (Stand: 07. 08.2014). 9 Vergleiche einen Artikel der „Lausitzer Rundschau/ Hoyerswerda“ vom 04.01.2007: N.N.: Krimispannung in der Sprache der Lausitz. Aus Verbundenheit zu ihrer Heimat hat Lubina Hajduk-Vejlkovic einen Kriminalroman auf Sorbisch geschrieben. (www.wiso-net.de/ webcgi? START=A60&DOKV_DB=LR&DOKV_NO=010704863& DOKV_HS=0&PP=1). S. auch die Homepage der Autorin: www.lubina-hajduk.de (Stand: 07.08.2014). Bikulturalität in der sorbischen Gegenwartsliteratur 177 Doch favorisiert die Autorin additiv eine nachzureichende Übersetzung ins Deutsche - strenge Einsprachigkeit verringert die Chance, rezipiert zu werden, und sie verhindert jene Bikulturalität, von der die sorbische Kultur im Grunde immer schon lebt. Vorläufig ist Hajduk-Vejlkovic die einzige jüngere Autorin, die ausschließlich auf Sorbisch schreibt. Einsprachige Texte auf Sorbisch müssen ein breites Publikum ansprechen; schon in den frühen 1990er Jahren fand man heraus, „dass Sorben in ihrer Muttersprache vor allem solche Literatur lesen, die mit ihrer (nationalen) Befindlichkeit in irgendeiner Beziehung“ steht (Elle 1992: 51). Seit damals haben sich die Bedingungen für die Lektüre solcher Texte nochmals verschlechtert, so hat man auch in der Lausitz das ‚Leseland DDR‘ weit hinter sich gelassen, dürfte das Bedürfnis nach nationaler Selbstverständigung kleiner geworden sein. 3.2 Bikulturalität zweisprachig (oder auf Deutsch) Mit dem Einzug der Moderne in die sorbische Literatur - sei es formal, thematisch, sei es genrespezifisch - verlässt sie die engen Grenzen der Ethnie und wendet sich im Grunde an nichtsorbische Rezipienten; sie bedarf dann auch der Übersetzung, der Zweisprachigkeit, kommt irgendwann vielleicht ganz in der Einsprachigkeit, im Deutschen, an. 10 Nach dem Vorbild Jurij Brĕzans entstehen Œuvres, in denen deutsch- und sorbischsprachige Bücher zwanglos aufeinander folgen. 10 Vergleiche aber die problematische evolutionistische ‚Herleitung‘ dieser Moderne durch den Direktor des Sorbischen Instituts Dietrich Scholze. Sein Blickpunkt ist der einer homogenen Ethnie, für die Öffnung „offenkundig“ mit „Gefahren für die nationale und kulturelle Identität“ verbunden ist (Scholze 2012: 112). Scholze unterscheidet zwei Evolutionslinien der sorbischen Literatur, neben der primären, naturalistisch-realistischen, stehe seit der vorletzten Jahrhundertwende eine sekundäre, deren Autoren „zeichenhafte, nicht-gegenständliche Bedeutungen“ bevorzugten: „Die zweite Linie schloß den fremden, den andersethnischen Rezipienten bewußt ein, die literarische Kommunikation wurde zur strukturellen Dialogizität hin erweitert. Mitte des 20. Jahrhunderts erwuchs daraus in der Konsequenz der sukzessive Übergang von der sorbischen Einsprachigkeit zur sorbisch-deutschen Zweisprachigkeit“ (Scholze 2002: 111). Auf diese Weise wird aus einem (vielleicht noch in der Nachfolge Georg Lukács’) als problematisch empfundenen Modernismus in der Literatur eine gesamtgesellschaftliche kommunikative Öffnung und in letzter Konsequenz die Gefahr des Verlustes der sorbischen Einsprachigkeit abgeleitet. Komplexere kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Prozesse des 20. Jahrhunderts geraten bei der Konstruktion einer so verstandenen ‚Evolution‘ nicht in den Blick. 178 Jochen Strobel Mit einer weiteren Abnahme der Lesefähigkeit des Sorbischen überhaupt musste sich das Deutsche bzw. die Zweisprachigkeit zur sorbischen Literatursprache entwickeln. Indem Anthologien zweisprachig erscheinen, Lyriker Versionen bzw. Übertragungen ihrer sorbischen Gedichte ins Deutsche publizieren, schließlich indem im deutschsprachigen Text da und dort Einsprengsel des Sorbischen für Lokalkolorit und sprachliche Präzision sorgen, bleibt die sorbische Literatur über die engen Grenzen der Lausitz hinaus überhaupt rezipierbar. Es ist keine Frage, dass die Bikulturalität des touristisch sehr wirksamen sorbischen Brauchtums (am bekanntesten ist das Osterreiten) mehr oder weniger ohne Sprachverstehen funktioniert und auch weiterhin funktionieren wird. Hiervon zeugt etwa, dass die sorbische Kultur auch auf Youtube repräsentiert ist - bemerkenswerter Weise sind auch Videos mit niedersorbischen Texten vertreten. 11 Zur prinzipiell zweisprachigen literarischen Bikulturalität zählt etwa auch Christian Schneiders 2013 auf Deutsch bei Domowina erschienener sorbischer Familienroman „Das Ende vom Paradies“, der die Lebensbedingungen der Sorben über die Zäsur von 1945/ 49 hinweg veranschaulicht. Deutsche und sorbische Leser erfahren, wie das Sorbische als Amtssprache eingeführt wurde und sich die Sorben erstmals selbstbewusst als „Teil vom großen Slawenstamm“ fühlen durften, der viel größer ist als „das kleine Deutschland“ (Schneider 2013: 233). 3.3 Transkulturalität Mit dem von Wolfgang Welsch stammenden Begriff ‚Transkulturalität‘ (Welsch 2009) ist die aus der Begegnung fremder Kulturen resultierende Grenzverwischung gemeint - eine Denkfigur, die im Begriff ‚Bikulturalität‘ nicht enthalten ist: Sie denkt stets das Nebeneinander oder Miteinander des Doppelten, nicht ein Drittes, eigenständig Neues. Den Sorben eine Doppelidentität, einen bikulturellen „Spagat“ (Tschernokoshewa 1999: 106) zuzuschreiben, heißt doch, mit einem universalistischen und ganzheitlichen Ideal des sorbischen Volkes zu arbeiten und zugleich die Zwangsläufigkeit einer Spaltung festschreiben zu wollen. Als transkulturell sind prinzipiell wohl nur ein kleines, besonders literaturinteressiertes Publikum ansprechende, hochgradig artistische und meist lyrische Texte einzustufen, die im Spiel mit beiden Sprachen zu etwas Neuem gelangen, ja: die besagte Grenzen zwischen den Sprachen verwischen. Korrelat ist der Verzicht, das Sorbische in irgendeiner Reinheit oder Ursprünglichkeit auf- 11 Vergleiche www.youtube.com/ watch? v=zxU4f59EYEg&list=UU6fV3CKFNSLjHUJ8eD beKCA (Stand: 07.08.2014). Bikulturalität in der sorbischen Gegenwartsliteratur 179 suchen zu wollen, wie es Lorenc 1967 in seinem programmatischen Gedicht „Die Struga“ (Lorenc 2013b: 26-28) noch angedeutet hatte. Dort versammeln sich dem lyrischen Ich Heimat, Kindheit und das Instrument der Produktion von Kunst im heimatlichen Fluss Struga. Bild des zeitgenössischen Verfalls ist die Verschmutzung des Flusses - ein Ausweg ist gewonnen in der Hoffnung, aus eigener Entscheidung das gestörte Ensemble von Erinnerung, Wahrnehmung und Kreativität wieder ins Lot bringen zu können: […] Die Struga in uns eine Saite, wie tönt sie. Ich geh sie zu stimmen, heut geh ich zur Quelle (Lorenc 2013b: 28). War der gleichnamige Band der erste in der sorbischen Literatur, der von der „Wechselwirkung von deutschem und sorbischem lyrischen Text“ bestimmt war (Prunitsch 2001: 201), so verzichten bereits Texte der siebziger Jahre auf ein Austarieren zwischen defizitärem Gegebenen und der Rückwendung zum allein Eigenen in der sorbischen Sprache. Im Gedicht „Flurnamen“ (Lorenc 2013b: 41-43) von 1973 kombiniert Lorenc Bilder der ländlichen Natur mit solchen einer Grenzüberschreitung zwischen Sprachen und Kulturen, zugespitzt in der Metapher der „Sprachinsel“, die auch die Zweisprachigkeit unmissverständlich als Anfang und Ausgangsbedingung setzt: „Sprachinselland, kein Wasserhindernis - / es ist ŁUŽICA—LAUSITZ, der Grassumpf, nasser Wiesengrund“ (Lorenc 2013b: 41). Hier ist das Ideal wechselseitigen Verstehens trotz des Gebrauches unterschiedlicher Sprachen verwirklicht: „Und sie sprechen irgend anders, obwohl / man alles versteht“ (Lorenc 2013b: 41). An der Bezeichnungskompetenz des lyrischen Ich, das der Landschaft auch literaturtheoretische Metaphern als Flurnamen verpasst („Tierfabelbusch“, „Bildquell“, „Hügel der Ode“), besteht kein Zweifel; Landschaftsbeschreibung und die Bildsprache der Literatur funktionieren in dieser Welt unterschiedslos, so dass das Ich schließlich dem Leser zuruft: „Und jetzt können wir überall hingehn, / nicht wahr? “ (Lorenc 2013b: 43). In einem Gedicht aus den neunziger Jahren wie „Volksrätsel“ dürfen in an Ernst Jandl und letztlich auch, wie Prunitsch (2001: 224) konstatiert, den Dadaismus erinnernder Manier einer antipädagogischen Sprache autoritative ‚väterliche‘ Äußerungen ad absurdum geführt werden, indem eine Deklinationsübung die Fragwürdigkeit jeglicher positiver Aussage über ‚das Volk (der Sorben)‘ sinnfällig macht. Mein Volk gibts nicht dein Volk gibts nicht 180 Jochen Strobel das Volk gibts nicht ein Volk gibts nicht (Lorenc 2013b: 61). Schließlich sei nochmals auf das Werk der Lyrikerin Róža Domašcyna hingewiesen, einer Schülerin von Lorenc (vgl. Prunitsch 2001: 232), die sich nacheinander das Sorbische und das Deutsche als Literatursprachen erarbeitete (vgl. Bernig/ Strobel 2000b: 16-18) und der es gelingt, in zwei Autorversionen zwei komplementäre, miteinander in Dialog tretende Texte zu schaffen. Kennzeichnend für ihre Arbeiten der neunziger Jahre sind allerdings Sprachexperimente mit ihren beiden (und manchmal auch noch mehr) Sprachen innerhalb eines Gedichtes, ein „Spiel mit den zwei Sprachen“ (Goebel 1997: 14) bis hin zu „[m]ehrsprachige[r] Polysemie“ (Prunitsch 2001: 264). Ihr „Ausweg“ aus der Bedrängnis durch die diversen Harmonieformeln des Binären, denen letztlich kaum harmonisierbare Signifikate zuzuordnen sind, ist der Rückzug auf das Spiel der Signifikanten. Bei ihr fehlt bereits der konsequente Gebrauch des Sorbischen, aber auch das nachhaltige Bekenntnis zu ihrem Volk. Zugrunde liegt ihrem Schreiben eine auch nach außen hin vertretene Diagnose: „Sorbisch ist eine sterbende Sprache“ (1999: 32). Im Dialog-Gedicht „Windeierei“ von 2006 bekennt sie sich zum Erbe mehrerer - vielleicht dreier - Sprachen, wird die „‚Drittsprache‘ als Zeichenuniversum“ sichtbar (Prunitsch 2001: 290): B: die ich zuerst lernte sprach nur der vater die ich fünfeinhalb tage später lernte sprach nur die mutter ich lebe vielmehr in der dritten A: Sie wollen mir doch nicht weismachen die mutter daß Sie in einer drittsprache leben B: ja erstklassig (Domašcyna 2006: 8). 4 ‚Macht‘ und ‚Ohnmacht‘ der Sorben Die Zahl der Neuerscheinungen des Domowina-Verlages geht zurück, 12 das bisherige Förderkonzept geriet in die Kritik, weil ‒ so der Dresdner Slawist Christian Prunitsch (2008: 17) ‒ allzu wenig Innovation, kaum Experimente zu verzeichnen seien. Zudem hat die Literatur wohl auch bei den Sorben jenen verpflichtenden, identitätsstiftenden Charakter eingebüßt, den sie vor dreißig Jah- 12 Vergleiche den Artikel der „Lausitzer Rundschau/ Weißwasser“ vom 09.03.2013, S. 19: „Weniger Geld: Sorbischer Verlag plant 31 Neuerscheinungen“ (www.wiso-net.de/ webcgi? START=A60&DOKV_DB=LR&DOK_NO=G3V4BBQCM1&DOKV_HS=0&PP=1, Stand: 07.08.2014). Bikulturalität in der sorbischen Gegenwartsliteratur 181 ren noch gehabt haben dürfte. Dass wohl bis heute zahlreiche Westdeutsche nichts über die Sorben wissen oder allenfalls Kenntnis vom sorbischen Brauchtum haben, ist nicht einer Literatur anzulasten, deren Funktionalität nach innen und nach außen fortbesteht. Die politische Macht der sorbischen Minderheit in Deutschland mag gesetzlich verbrieft sein - sie mag in Zeiten, da ein Sorbe Ministerpräsident des Freistaates Sachsen ist, denkbar unangetastet sein -; in der literarischen Produktion der letzten Jahrzehnte kristallisiert sich die Ohnmacht einer Literatur, die ihre Leser zu verlieren droht. 5 Literatur Bernig, Jörg/ Strobel, Jochen (2000a): Interview mit Ludmila Budarjowa. In: Bernig, Jörg/ Schmitz, Walter (Hrsg.): Literaturlandschaft im Wandel. Gespräche zur literarischen Kultur in Sachsen und Ostdeutschland. 1990 bis 2005. Dresden. S. 232-237. Bernig, Jörg/ Strobel, Jochen (2000b): Interview mit Róža Domašcyna. In: Bernig, Jörg/ Schmitz, Walter (Hrsg.): Literaturlandschaft im Wandel. Gespräche zur literarischen Kultur in Sachsen und Ostdeutschland. 1990 bis 2005. Dresden. S. 13-18. Elle, Ludwig (1992): Sorbische Kultur und ihre Rezipienten. Ergebnisse einer ethnosoziologischen Befragung. Bautzen. Goebel, Anne (1997): Spiel mit den zwei Sprachen. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 172. S. 14. Kunze, Peter (1993): Aus der Geschichte der Lausitzer Sorben. In: Scholze, Dietrich (Hrsg.): Serbja w Němskej. Die Sorben in Deutschland. Sieben Kapitel Kulturgeschichte. Bautzen. S. 7-55. Kunze, Peter (1995): Kurze Geschichte der Sorben. Ein kulturhistorischer Überblick in 10 Kapiteln. Bautzen. Pech, Edmund (1999): Die Sorbenpolitik der DDR 1949-1970. Anspruch und Wirklichkeit. Bautzen. Prunitsch, Christian (2001): Sorbische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Untersuchung zur Evolution der Gattung. Bautzen. Prunitsch, Christian (2008): [Interview: ] „Die Sorben sollten mehr Mut zum Experiment zeigen“. In: Sächsische Zeitung/ Bautzen. 25.01.2008. www.wiso-net.de/ webcgi? START=A60&DOKV_DB=SZO&DOKV_NO=7717159&DOKV_HS=0&PP=1 (Stand: 07. 08.2014). Rüther, Günther (1997): Nur ein „Tanz in Ketten“? DDR-Literatur zwischen Vereinnahmung und Selbstbehauptung. In: Rüther, Günther (Hrsg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn u.a. S. 249-282. Scholze-Šołta, Dietrich (2002): Der Beitrag der Literatur zur Ausprägung sorbischer nationaler Identität. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät Berlin 53. S. 105-118. Strobel, Jochen (2009): Schreiben - aus einer sterbenden Sprache heraus. Die sorbische Minderheitsliteratur innerhalb der deutschen Mehrheitsliteratur vor und nach 1989. In: National-Texturen. National-Dichtung als literarisches Konzept in Nordosteuropa = Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte. N.F. 16. S. 381-410. 182 Jochen Strobel Tschernokoshewa, Elka (1999): Nachdenken über Zugehörigkeiten: Leben im Spagat. In: Müllner, Eva (Hrsg.): Entweder-und-Oder. Vom Umgang mit Mehrfachidentität und kultureller Vielfalt. Wien. S. 106-124. Welsch, Wolfgang (2009): Was ist eigentlich Transkulturalität? 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Lorenc, Kito (2013d): „Flurbereinigung“ - Gespräch mit Luise Köpp [1973]. In: Lorenc, Kito: Im Filter des Gedichts. Essays, Gespräche, Notate. Přez křidu basnje. Eseje, rozmołwy, nastawki. Bautzen. S. 62-66. Lorenc, Kito (2013e): Interview für die Wochenzeitung Tvorba in Prag [1987]. In: Lorenc, Kito: Im Filter des Gedichts. Essays, Gespräche, Notate. Přez křidu basnje. Eseje, rozmołwy, nastawki. Bautzen. S. 104-109. Lorenc, Kito (2013f): Reise nach Minsk. Tagebuchnotizen vom Dezember 1965. In: Lorenc, Kito: Im Filter des Gedichts. Essays, Gespräche, Notate. Přez křidu basnje. Eseje, rozmołwy, nastawki. Bautzen. S. 12-16. Schneider, Christian (2013): Das Ende vom Paradies. Roman. Bautzen. Danzig als interkultureller Erinnerungsort bei Günter Grass und Sabrina Janesch Jens Stüben (Oldenburg) Zusammenfassung In diesem Beitrag werden Strukturen der literarischen Gestaltung der Stadt Danzig und ihrer Menschen als Ort der Erinnerung und als aktueller Handlungsschauplatz in Texten von Günter Grass und Sabrina Janesch untersucht. Einleitend wird die Rolle Danzigs als literarischer Raum und kollektiver Erinnerungsort betrachtet, es folgt ein Durchgang durch Grass’ Romanwerk. Gezeigt wird, wie er den historischen Ort ausgestaltet, mit welchen epischen Mitteln er Erinnerung provoziert und festhält. Intertextuelle Reminiszenzen an Grass, aber auch die eigene Sichtweise ihrer Protagonistin sind Gegenstand des Blicks auf Janeschs 2012 erschienenen Roman „Ambra“. Die Autorin entwickelt für den dargestellten Raum eine spezifische Symbolik, mit der sie einen Strang der Motivgeschichte der Danzig-Literatur - Danzig als mythologischer Erinnerungsort - fortschreibt. 1 Einleitung „Günter Grass und Danzig“ ist das ursprünglichste aller Themen der Grass- Forschung. In dessen Rahmen konzentriert sich der vorliegende Beitrag auf die Strategien des Erinnerns und Beschreibens, die Danzig/ Gdańsk, seit jeher Stadt an der Peripherie, als Erinnerungsort für Deutsche und Polen - und darüber hinaus - präsentieren. Nach einem Durchgang durch die Epik des Nobelpreisträgers - auf sein Danzig-Gedicht „Kleckerburg“ sei hier nur verwiesen - folgt ein Blick auf einen aktuellen Roman einer jungen Autorin mit polnischen und deutschen Wurzeln, der auch auf Grass anspielt. Eine gründliche Aufarbeitung des Danzig-Motivs bei Grass, allerdings beschränkt auf die „Danziger Trilogie“, mit Schwerpunkten auf der Darstellung der plurikulturellen Geschichte und Gesellschaft der Stadt, leistete Monika Hryniewicka (2009). Gertrude Cepl-Kaufmann (2007) beschrieb Grass’ geschichtsphilosophisch-erzählerische Deutung Danzigs als Stätte menschlichen Versagens und deutete die Weichselniederung als zugleich verklärten und verfluchten Raum der Kindheit und verlorenen Ort. Mirosław Ossowski (2012: 172) untersuchte Grass’ Transformierung des realen, erlebten und erinnerten Danzig zu einem als Modell „inszenierten“ „Erinnerungsort“. Zuletzt hat sich Joanna Bednarska-Kociołek (2010: 55) mit dem magischen Danzig als „doppelter Erin- 184 Jens Stüben nerungsort“ bei Grass und Stefan Chwin auseinandergesetzt. Peter Oliver Loew (2012) geleitete uns in einem als Nachwort fungierenden Essay, ausgehend von Grass, zu mythisch aufgeladenen Schauplätzen in Sabrina Janeschs „Ambra“. Im Folgenden sollen anhand der Texte der beiden Autoren gleichsam die sprachliche Architektur des Erinnerungsortes Danzig exemplarisch vermessen werden. 2 Danzigs Bedeutung als Erinnerungsort Von 1945 an gab es ein gewissermaßen virtuelles Danzig, das Danzig in den Köpfen seiner früheren Bewohner, und ein reales Danzig, das Gdańsk seiner heutigen, polnischen, Bevölkerung. Danzig wurde neu konstruiert, das heißt neu aufgebaut und zu einer polnischen Stadt mit einer - der Kommunismus kannte hier keine Skrupel - urpolnischen Geschichte gemacht. Weit entfernt von Danzig schufen einzelne Autoren, Vertriebene meist der älteren Generation, Danzig-Gedichte und -Erzählungen im Zeichen der Erinnerung und der Sehnsucht. Mit seiner „Blechtrommel“ und anderen Werken zerstörte Günter Grass partiell dieses Danzig-Bild. Grass schrieb ebenfalls aus dem Geist der Erinnerung und des virtuellen Wiederaufbaus in Texten. Aber er verklärte nicht. Er ließ kein Bild von einem urdeutschen Danzig entstehen, sondern von einem stark von kaschubischen Einsprengseln bestimmten Kleineleutemilieu. Grass zeigte ein Danzig, wo sich Deutsches und Polnisches überschnitten, das sowohl Deutsche (auch jüdische Deutsche) wie Polen (auch jüdische Polen) beherbergte („Die Blechtrommel“, „Hundejahre“); er erinnerte an vergessene Personen der Danziger Geschichte und Zeitgeschichte, an die Danziger jüdische Geschichte („Aus dem Tagebuch einer Schnecke“), und er fügte das wiederaufgebaute Danzig, das Gdańsk der Arbeiterbewegung, der Solidarność-Ära und der postkommunistischen Zeit, in sein Panorama der Stadt ein („Der Butt“, „Die Rättin“, „Unkenrufe“). Jahrhundertelang war das an der Peripherie des deutschen Sprachraums gelegene Danzig ein Randgebiet der deutschen Literatur gewesen; kaum ein Autor, der es über lokale Bekanntheit hinausgebracht hätte. Mit Grass, der mit knapp 17 Jahren Danzig verlassen musste, wurde Danzig in der Rückschau - nur mehr als Gegenstand der Erinnerung - plötzlich zu einem wichtigen Ort in der deutschsprachigen, ja der europäischen Literatur. Doch zu Anfang sei die Frage gestellt: Warum ist gerade Danzig als Erinnerungsort, lieu de mémoire, bedeutsam? Was macht das Erinnerungsträchtige dieser Stadt aus? Es sind mehrere Punkte, die auch bei Grass immer wieder als Aspekte des Erinnerungsortes Danzig eine Rolle spielen: Einst von slawischen, germanischen und baltischen Völkern besiedelt, standen Danzig und sein Umland später im Schnittpunkt der Interessen Polens, Preußens und Deutsch- Danzig als interkultureller Erinnerungsort 185 lands. Es entstand die wohl stolzeste, wohlhabendste Hanse-, Patrizier- und Kaufmannsstadt mit bedeutenden Bauwerken wie der größten Backsteinkirche der Welt. Danzig war Zufluchtsort und Ort des Friedens im Dreißigjährigen Krieg, Opfer der Teilungen Polens, als Hauptstadt der gevierteilten Provinz Westpreußen mit mehr als 95 Prozent deutscher Bevölkerung Leidtragende der Versailler Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg, als Freie Stadt unter dem Völkerbund mit speziellen Rechten Polens (Post, Eisenbahn, Hafen, Militärwesen) ein historischer Sonderfall und Streitobjekt zwischen Deutschland und Polen. Mit dem deutschen Angriff auf eine polnische Einrichtung begann in Danzig der Zweite Weltkrieg; die ersten Polen ließen hier ihr Leben; die jüdischen Bürger wurden entrechtet, verfolgt, deportiert und ermordet; Danzig - Stichworte: KZ Stutthof, Schutt und Asche, Vertreibung - war ein Ort der Unmenschlichkeit und der Zerstörung. Nach dem Bevölkerungsaustausch und beeindruckendem Wiederaufbau zeichnete sich Danzig/ Gdańsk aus im Kampf gegen die kommunistische Diktatur, als Wohnort des Solidarność-Vorsitzenden und ersten Staatspräsidenten des demokratischen Polen Lech Wałęsa, als deutsch-polnischer Erinnerungsort par excellence und Ort der „Danziger Erklärung“. 3 Danzig in Grass’ Romanen 3.1 „Der Butt“ Die Geschichte dieses plurikulturellen Erinnerungsortes bis in die 1970er Jahre, gegen den Strich gebürstet, präsentiert Günter Grass im Roman „Der Butt“. Da ist zunächst die Weichselmündung mit Danzig als Schnittpunkt der Interessensphären - von der Frühgeschichte bis ins 20. Jahrhundert Zankapfel der Mächte, einst Berührungsraum von Slawen und Balten, dann ein Ort früher Ansiedlung von Deutschen. Der Erzähler spricht aus der Perspektive der Kaschuben („Wir Pomorschen“, Grass 2007: 6, 111, 137), 1 jener alteingesessenen Ethnie zwischen Polen und Deutschen, der sich Grass selbst zugehörig fühlte. Urdatum der Erinnerung ist die Missionierung der Pomorschen durch den Bischof Adalbert von Prag, der als Märtyrer heiliggesprochen wurde. Der gusseiserne Kochlöffel, mit dem eine Kaschubin den Bischof erschlagen habe, sei „1889“ von einem pensionierten Schulmann „als Einzelfund ausgegraben und der historischen Sammlung der Stadt Danzig zum Geschenk gemacht“ worden: „‚Pommerellisches Hausgerät‘ stand auf einem Pappschildchen geschrieben“ (6, 111). So 1 Grass’ Werke werden nach der „Göttinger Ausgabe“ mit Band- und Seitenzahl zitiert. 186 Jens Stüben hat Grass nicht nur die Ereignisgeschichte, sondern zugleich die Danziger Erinnerungskultur in der Zeit des Historismus ironisch thematisiert. Gleichfalls in bissigem und saloppem Ton schildert er Danzig als Beute des „gefräßige[n] Deutschritterorden[s]“, der 1308 „die Stadt einsackte“ (6, 139) und dabei der Überlieferung zufolge viele Einheimische „abschlachten“ ließ (6, 144) - die Zahlen schwankten zwischen 16 und 10.000, wie man auch nicht wisse, wie viele Arbeiter der Leninwerft in Gdańsk und Gdynia im Dezember 1970 erschossen wurden, als 30.000 aus Protest gegen die Partei streikten und demonstrierten. Der Erzähler springt in der Chronologie hin und her und bezieht die Ereignisse aufeinander, so dass der Erinnerungsort historische Tiefe gewinnt. Zugrunde liegt Grass’ Konzept vom Ineinandergreifen der Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der „Vergegenkunft“ (Grass 2000: 167). Auch wenn der Butt sich sträubt: die erinnerte, erzählte „Geschichte“ geht weiter, und die „Verantwortung“ für das Geschehene lastet auf der „Gegenwart“ (6, 572). Dabei ist ein Erinnern an geschichtliche Ereignisse gleichzeitig ein Aufzeigen der Kontinuität: Auch ein Danziger Handwerkeraufstand 1378 und die Hinrichtung von sieben Rädelsführern wird parallelisiert mit den Dezemberereignissen 1970. Mehr als ein Namenswechsel sei nicht eingetreten, „verändert“ habe sich seit jenem Aufstand am Umgang der Höheren mit den Niederen nichts, nur „soviel […]: Die Patrizier heißen jetzt anders“ (6, 152). Zwar gibt es Zäsuren wie die katastrophale Auslöschung des alten Danzig „für alle Zeit“ durch den „Flächenbrand“ 1945 (6, 139f.), doch selbst dieser Vergangenheit folgt Zukunft, eine Zukunft, die der Vergangenheit eingedenk ist: Den Erzähler fasziniert der Wiederaufbau, dokumentiert auf Fotografien, die in einer Gedenkausstellung gezeigt werden. Ob er von dem Gemälde des Stadtmalers Anton Möller als Dokument für die Rekonstruktion des Stadtbildes spricht, von der Fotoausstellung berichtet oder über die aktuellen Dreharbeiten eines Danzig-Fernsehfilms plaudert - sein Text vermittelt, wie schon bei dem Hinweis auf die historische Sammlung der Stadt Danzig, unterschiedliche Modi des Erinnerns und macht dabei gleichzeitig weitere Facetten des Erinnerungsortes Danzig anschaulich. Grass schildert die deutsch-polnisch-kaschubische Geschichte Danzigs und der Region aus der Perspektive von unten, der Aufständischen und der Köchinnen, und zieht Verbindungslinien. Die Gesindeköchin Amanda Woyke ist im kaschubischen, damals polnischen Żukowo geboren, im inzwischen preußischen Zuckau gestorben. Die Suppenköchin Lena Stubbe - am Ende ihres langen Lebens selbst eine Institution der „Erinnerung“ (6, 570) - und ihr Mann sind in einen Streik in der Danziger Klawitterwerft involviert. Maria Kuczorra ist Kantinenköchin auf der Leninwerft zur Zeit des Streiks im Dezember 1970; ihr Freund Jan ist unter den Opfern des Aufstands. Wieder wird auf Danzigs Vergangenheit, diesmal auf Highlights seiner Geistesgeschichte, Bezug genommen, und es werden verschiedene Formen ihrer Vergegenwärtigung angespro- Danzig als interkultureller Erinnerungsort 187 chen: Jan hat sich mit der Frühgeschichte des Danziger Raumes beschäftigt und sich in einem Gedicht auf Martin Opitz bezogen, das bei der Trauerfeier rezitiert wird. Indem der Erzähler mitteilt, wie er der Witwe Kuczorra in der „Frauengasse, die jetzt Mariacka heißt“, begegnet und die Polin mit der Mystikerin Dorothea von Montau in einem Atemzug nennt (6, 156, 692), verknüpft er im Sinne der „Vergegenkunft“ deutsche Vergangenheit und polnische Gegenwart. Noch an anderen Stellen erinnert der Erzähler des „Butt“ an Danzigs Kulturgeschichte und Erinnerungskultur: Die Stadt ist Begegnungsort der großen Barockdichter Opitz und Gryphius und Druckort des Lebensberichts der Dorothea von Montau. Für deren Kanonisierung habe sich der Lateinlehrer von Grass als Danziger Kommunalpolitiker eingesetzt, dem wiederum der Erzähler ein Denkmal setzt. Und er erinnert an Abraham Friedrich Blech, Pastor an St. Marien, der die Chronik Danzigs während dessen Zeit als Freie Stadt und Beute Napoleons (1807 bis 1814) schrieb: „Geschichte der siebenjährigen Leiden Danzigs“ (6, 458). Ist nicht der Held der „Blechtrommel“ ein zweiter Blech, ebenfalls ein Chronist - der Freistadtzeit im 20. Jahrhundert, der Beute Hitlers und der Leiden in den sieben Jahren 1939 bis 1945? 3.2 „Die Blechtrommel“ Viele Namen und Orte im „Butt“ begegnen schon in Grass’ Debütroman. Obwohl „Die Blechtrommel“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt, greift der Erzähler Oskar Matzerath hier ebenfalls auf die ältere Geschichte der See- und Festungsstadt zurück. Die besondere Situation Danzigs in der Zwischenkriegszeit zwischen Deutschland und Polen kommt durch die Figur des Jan Bronski ins Spiel. Als Kaschube steht er zwischen „de Deitschen“ und „de Polacken“ (3, 547). Als Beamter in polnischen Diensten will er seinen Sohn Stephan - Stephan in deutscher Schreibweise mit <ph> - auf die polnische Schule schicken. Polen, heißt es, erhielt im Danziger „Stadtgebiet einen Freihafen, die Westerplatte mit Munitionsdepot, die Verwaltung der Eisenbahn und eine eigene Post am Heveliusplatz“ (3, 48) - Orte, die später, mit schrecklicher historischer Bedeutung belastet, zu polnischen Erinnerungsorten wurden. Danzig erhält die Bedeutung eines Museums für Alltägliches, eines Archivs für menschliches Verhalten und Versagen, eines Steinbruchs für Geschichten. Das untergegangene alte Danzig ist, trotz seiner schuldhaften Verstrickung in den Nationalsozialismus, erhaltenswert - in den Köpfen. Das betont Oskar: Er spricht von „dieser insgesamt aufbewahrenswerten Stadt“ (3, 238). Und das leistet Grass mit der „Blechtrommel“: Bewahrung der „Geschichte der Stadt Danzig“ mit ihren Höhen und Abgründen im Bewusstsein - auf ganz andere Weise als das häufig zitierte wissenschaftliche Buch dieses Titels (3, 111, 217, 305, 572). 188 Jens Stüben Wie im „Butt“ wird auch in der „Blechtrommel“ der Umgang mit Erinnerungsstücken als Teil der Danziger Geschichtskultur thematisiert: Oskar schildert, wie die Stadt an ihrer Erinnerungskultur arbeitet, wie sie bestrebt ist, ihre Geschichte sichtbar zu machen. Die Fassade des Zeughauses ist mit Kanonenkugeln verziert, damit sie „die Historie der Stadt jedem Passanten in Erinnerung riefen“ (3, 127). Im Schifffahrtsmuseum zu Danzig zeigt man „die sorgfältig katalogisierte Geschichte der Hafenstadt“ (3, 238). Nichts anderes, wenn auch pikaresk verfremdet, tut Grass: „Die Blechtrommel“ ist ein Bilderbuch der Stadtgeschichte - erinnerungsträchtiger, anheimelnder, aber auch verstörender Bilder. Bezeichnenderweise schenkt der Museumswärter Truczinski Oskar eine Blechtrommel. Die Kinderblechtrommel ist das Symbol für das Beschwören der Orte und der an ihnen haftenden Geschichte(n). Oskar ertrommelt die Geschichtsträchtigkeit der Örtlichkeiten, ruft sie ins Bewusstsein. Er sucht „das Land der Polen […] mit seinen Trommelstöcken“ (3, 134). Alle seine Trommeln sind weiß-rot. Das sind die Farben Polens, aber auch die Farben Danzigs. Die „weißrot geflammte Blechtrommel“ (3, 271) wird zum vorausdeutenden Sinnbild für das in Flammen aufgehende Danzig. Und sie steht für das Blut der Polen, die in der Polnischen Post fallen oder später erschossen werden, woran sich Oskar, der am 1. September 1939 bei dem Gefecht um das Postamt anwesend war, mitschuldig fühlt, da er den kaschubisch-polnischen Postbeamten Jan Bronski, der schon auf dem Nachhauseweg war, trommelnd in die Polnische Post zurücklockte: „meine Schuld, meine übergroße Schuld“ (3, 324). Die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg, die in Danzig konkret wurde, wird damit angesprochen. Grass erzählt hier von seinem Onkel zweiten Grades Franz Krause, dem Lieblingscousin seiner Mutter, der sich zur polnischen Minderheit zählte, als Beamter der Polnischen Post einer ihrer Verteidiger war und dafür erschossen wurde. Sein Name durfte in der deutsch sein wollenden Familie Grass nicht mehr genannt werden. Grass warf sich vor, „keine […] Fragen gestellt“ zu haben (10, 217). Als Schriftsteller hat er das Schicksal des Toten und Totgeschwiegenen erzählend „wieder zum Leben erweckt“ (12, 562). Über sein Sich-Erinnern sagt Oskar: „Immer wenn ich mich an die Narben […] Herbert Truczinskis […] erinnern wollte, saß ich trommelnd, also trommelnd dem Gedächtnis nachhelfend“ (3, 228). Ein andermal: „An einem Dienstag - so genau vermag ich mich mittels meiner Trommel zu erinnern“ (3, 238). Das also ist es, was das Blechtrommeln leistet: Es hilft, die Erinnerung in Gang zu setzen, dann weiter: das Erinnerte festzuhalten, es aufzuschreiben. Oskar schreibt seine Lebensgeschichte im Anstaltbett fern von Danzig und schlägt dabei die Trommel. Er nennt sich „von Beruf Blechtrommler“ und kann „ohne Blechtrommel“, also ohne das Sich-Erinnern und Schreiben, „nicht leben“ (3, 259). Die gesammelten gebrauchten Trommeln werden im Keller gelagert. So Danzig als interkultureller Erinnerungsort 189 lagert, deponiert der Autor Grass seine Erinnerungen - und holt sie aus der Tiefe herauf, ruft sie sich selbst ins Bewusstsein zurück, bringt sie anderen nahe. Die Trommel schlägt sogar, wenn Oskar draufschlägt, „anklagend zurück“, dann nämlich, wenn er die Trommel, Zeugin seiner Schuld und Schmach, vernichten will, indem er besonders heftig trommelt, um „einen bestimmten, zeitlich begrenzten Teil meiner Vergangenheit auszuradieren“ (3, 334). Worauf Grass hier anspielt? Vermutlich auf das, was er als größte Schuld und Schmach empfand ‒ von „Oskars Geheimnis und Schande“ (3, 335) spricht der Held des Romans hier verhüllend ‒, nämlich seine Verführbarkeit durch die Ideologie des Nationalsozialismus und seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS, zu der er sich erst sechzig Jahre später bekannte. Die Trommel dient also auch dazu, mit sich ins Gericht zu gehen; sie ist die Instanz, die für Wahrheit und Gerechtigkeit sorgt, indem sie, wenn die mit persönlicher Schuld kontaminierte historische Wahrheit malträtiert wird, zurückschlägt. Der Abtransport aus Danzig im Güterwaggon im Juni 1945 - daran zu denken, schmerzt Oskar. Seine Finger sind geschwollen, er kann nicht trommeln. Das bedeutet, Grass’ Alter Ego - der jahrelang Dreijährige ist drei Jahre älter als der Autor - kann sich nicht erinnern. Auch Grass selbst kann dies übrigens nicht, er hat jenen Abtransport selbst nicht erlebt. Und folgerichtig kann Oskar darüber auch nicht schreiben: Trommelstöcke und Füllfederhalter entgleiten ihm. Und in einem letzten Rückblick wird nochmals deutlich, dass Trommeln, „die Kunst des Zurücktrommelns“ (3, 623), Sich-Erinnern heißt: „ich begann zu trommeln, der Reihe nach, […] meine Geburtsstunde […]; den Stundenplan der Pestalozzischule trommelte ich rauf und runter, […] die Verteidigung der Polnischen Post“ usw. (3, 667). Das Schlagen der Trommel ist also ein Bild für den Schreibprozess des Autors, der im Sich-Erinnern schreibt, sich schreibend erinnert - und dabei die Orte der Erinnerung erstehen lässt, auf dem Papier und im Bewusstsein der Leser. Danzigs Inferno 1945 erlebte Grass selbst nicht mit. Eindrucksvoll ist dennoch seine Schilderung. Die historische Tiefenlotung fehlt auch hier nicht. Aufgezählt werden die Stadtbrände, die Gassen und die Gebäude aus der Perspektive des Blechtrommlers, der auf das in Flammen stehende Danzig blickt. Mit Bitterkeit und beißendem Spott kleidet Oskar das Gesehene in einprägsame Metaphern: „Die Marienkirche brannte von innen nach außen und zeigte Festbeleuchtung durch Spitzbogenfenster“ (3, 512). Im nächsten Kapitel greift er noch tiefer zurück und holt im Schnelldurchlauf die ganze Geschichte Danzigs nach. Dies mündet wiederum in Sarkasmus: „Marschall Rokossowski […] erinnerte sich beim Anblick der heilen Stadt an seine großen internationalen Vorgänger, schoß erst einmal alles in Brand, damit sich jene, die nach ihm kamen, im Wiederaufbau austoben konnten“ (3, 523). 190 Jens Stüben 3.3 „Die Rättin“ Waren die Themen der „Blechtrommel“ und im „Butt“ Danzigs ältere und jüngere Vergangenheit, so geht es im Roman „Die Rättin“ um düstere Visionen der Zukunft. Was im „Butt“ als miterlebte Zeitgeschichte dargeboten wird, ist in der „Rättin“ die Imagination eines vor langer Zeit - realiter in der Gegenwart, zwischen dem Erscheinen des „Butts“ und der „Rättin“ - errichteten Erinnerungsortes: „Dort ragte […] das Denkmal für jene Arbeiter, die im Dezember siebzig von der Miliz erschossen wurden“ (7, 352). Doch das polnische Gdańsk als Erinnerungsort der Werftarbeiteraufstände gegen die kommunistische Diktatur ist ebenfalls bereits Geschichte: „Schonbomben“ seien über Danzig gezündet worden; die Menschen sind vernichtet, die Mauern stehen. Es fehlte der alten, immer wieder von Menschenhand zerstörten und wiederaufgebauten Stadt kein Turm: „Sankt Marien gluckte wie eh und je. Nach wie vor hob der elegante Rathausturm irgendeinen […] vergoldeten König himmelwärts“ (7, 348). Diese Beispiele zeigen, wie Grass Anthropo- oder Zoomorphismen schafft und ausdrucksstarke Verben verwendet, um den Erinnerungsort für den phantasiebegabten Leser anschaulich und gleichsam lebendig werden zu lassen. Und wie die Rattenvölker sich durch Danzigs Gassen drängen, ersteht vor dem Auge des Lesers das einzigartige Stadtbild mit den reichgegiebelten Patrizierhäusern. Die einst rekonstruierte Stadt ist Denkmal ihrer selbst. Die Ratten haben sie von Staub und Schlamm befreit. Der die Rathausturmspitze zierende goldene polnische König glänzt wieder. Jede prächtige Fassade ist „zwar geschwärzt und entglast, aber bis in den letzten Schnörkel heilgeblieben“ (7, 351). Doch Sehenswürdigkeiten ohne Betrachter, Schönheit, ohne dass sie jemand schaut? In einer „menschenfreie[n] Stadt“ (7, 350) gibt es niemanden, der sich erinnert, und Erinnerungsort ist sie für keinen mehr. Und so zerfällt am Schluss die türmereiche Kulisse. Grass’ apokalyptischer Roman liest sich als Zeugnis der Angst vor dem nochmaligen, endgültigen Ausgelöschtwerden. Den Autor quält die Frage, ob „meine Heimatstadt Danzig […] das Glück haben sollte, […] mit all ihren Türmen […] den dritten Weltkrieg [zu] überdauern“ (7, 383). Vielfach also wird der literarische Erinnerungsort Danzig in neue thematische Kontexte, die durch das außerliterarische Weltgeschehen gegeben sind, hineingetragen, umgewandelt, ja in diesem Fall deformiert. Grass sagt denn auch, das Danzig-Thema sei niemals „abgearbeitet“, nie am Ende (Grass 2000: 218). 3.4 „Unkenrufe“ In dem Roman „Unkenrufe“ wendet sich Grass’ Blick von der Zukunft zurück in die unmittelbare Vergangenheit, die Umbruchzeit 1989 bis 1992. „Vergänglich- Danzig als interkultureller Erinnerungsort 191 keit“ (7, 653), „Gedächtnis“ (7, 686) und - kulturenübergreifend - „Erinnerung“ (7, 639), allesamt Assoziativbegriffe zu ‚Vergangenheit‘, sind das Thema. Alexander Reschke (geboren als Reszkowski), Professor für Kunstgeschichte, forscht über spezielle Erinnerungsmale: Grabplatten in den Danziger Kirchen. An seinen und Grass’ Geburtsjahrgang, 1927, knüpft sich Erinnerung, Bedeutung: Es war der, „als der Turm der Marienkirche, weil baufällig, bis zur stumpfen Kappe hoch eingerüstet stand“ (7, 672). Auch der Erzähler ist gleich alt, und so erinnert man sich an die gemeinsame Schulzeit in Danzig: „Weißt Du noch“ (7, 667). Reschke arbeitet an einer „Denkschrift“ zum Thema „Das Jahrhundert der Vertreibungen“ (7, 718). Danzig wird hier also zum Ort, wo an die Vertreibungen, von den Armeniern über die Juden bis hin zu Polen und Deutschen - Reschke zählt sie alle auf -, erinnert wird. Die Denkmalrestauratorin Aleksandra Piątkowska - „Denkmäler bauen können wir Polen […]. Überall […] Denkmäler von Märtyrer! “ (7, 647) - arbeitet an der astronomischen Uhr in der Marienkirche. Eine zu restaurierende Uhr symbolisiert in doppelter Weise Zeit und Zeitlichkeit. Die Restaurierung als Gegenmaßnahme ist vergleichbar mit der Erinnerung, die gegen das Vergessen angeht. Vor allem aber geht es in dem Roman um Friedhöfe, Orte ganz persönlicher Erinnerung, überwucherte oder eingeebnete Gräber, redende Steine. Das Anliegen des Deutschen und der Polin ist das Recht der Toten, in Heimaterde bestattet zu werden. Das setzt voraus, dass ein Leben lang die positiven Erinnerungen, die sich an die Heimat knüpfen, so stark und dominant sind, dass der Wunsch nach Heimkehr am Ende ausschlaggebend ist. Danziger Erde wird somit zur Metonymie für Heimat, zum individuellen Erinnerungsort schlechthin. Eine „Chronik“ des „Versöhnungsfriedhofs“-Projekts soll, so Reschkes Bitte, der Erzähler schreiben. Sein Schreibimpuls ist also, die Erinnerung an das Projekt eines - im wahrsten Sinne des Wortes verstandenen - Erinnerungsortes der Danziger Heimatvertriebenen zu bewahren. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen in Reszkowskis der Zeit vorgreifenden Aufzeichnungen, indem er sich „Jahre nach der Jahrtausendwende“ (8, 842) „wiederholt“ an Erna Brakup „erinnert“ (8, 846). Erna Brakup ist die personifizierte Erinnerung und Kontinuität der Stadt: „ [E]ch mecht miä äinnern“ (7, 772). Sie gehört zu den nach 1945 in Gdańsk verbliebenen Deutschen und „erinnert“ als Person auch „die Polen an Unrecht, das nicht, wie sonst üblich, den Russen zugeschoben werden konnte“ (7, 810). Ihre „Erinnerungen“ (7, 837) nimmt Jerzy Wróbel begierig auf. Der von Polens östlicher Peripherie Zugewanderte interessiert sich brennend für Danzig als bikulturellen Erinnerungsort. Wichtig ist ihm richtiges Erinnern, keine chimärenhaften Konstruktionen. Die „deutschen Kulturleistungen in Polens Westprovinzen“, fordert Wróbel, sollten nicht mehr wie im Kommunismus verdrängt und geleug- 192 Jens Stüben net werden; er plädiert für ein „gesamteuropäische[s] Kulturverständnis“ (7, 830). Die plurikulturelle Geschichte Danzigs und die „Vergegenkunft“ werden auch deutlich an Umbenennungen. Die Straße Grunwaldzka, früher Große Allee, später Hindenburgallee genannt, nach dem Krieg - an ihr liegt ein sowjetisches „Ehrenmal“ (7,806) ‒ Stalinallee, werde einmal den Namen Gralathallee tragen und damit an den Danziger Bürgermeister erinnern, der sich einst durch Anpflanzung der breiten Allee verdient gemacht hatte. Letztlich aber werde sie „Rabindranath-Tagore-Allee“ heißen (7, 852). Das Motiv der indischen Minderheit in Danzig steht für die Erweiterung des Blicks über deutsch-polnische Themen hinaus, für Globalisierung und „Weltkultur“ (7, 671). „Die Zukunft gehört der Fahrradrikscha“ (8, 871), das meint nicht nur deren Umweltfreundlichkeit. Es bedeutet auch: In der Zukunft werden Migrantengruppen aus Asien und ihre Kultur an Einfluss gewinnen und das Stadtbild europäischer Städte mitprägen. Erinnerungsorte werden multikulturell. Danzig und andere Städte werden für viele Kulturen Erinnerungsort sein. 3.5 Danzig für Grass Punkt für Punkt beschrieben wird Danzig in „Unkenrufe“ von einer Rikschafahrt aus, ebenso die Silhouette der vieltürmigen Stadt beim Ausblick aus dem 17. Stock eines Hotels. Immer wieder hat Grass den Handlungsort, wie er dem Autor aus Jugendjahren in Erinnerung war, durch akribische Aufzählung der Örtlichkeiten bild- und ausdrucksstark heraufbeschworen, fast so wie auch Fotos oder Landkarten einen Wirklichkeitsausschnitt vollständig, ohne weiße Flecken, wiedergeben. Mehrmals finden wir solche Aufzählungen schon in dem dritten Teil seiner „Danziger Trilogie“, „Hundejahre“. Hier wird ein Hund, den ein Züchter aus Danzigs Vorstadt Langfuhr Adolf Hitler zum Geschenk macht, erzähltechnisch dazu benutzt, die Topographie des Schauplatzes flächendeckend nachzuzeichnen, denn ‒ dies bedeutet das Bild ‒ ganz Langfuhr ist es, das sich dem „Führer“ bereitwillig unterwirft: „Überall in Langfuhr, auf Schellmühl, in der Schichau-Kolonie, […] den Jäschkentaler Weg hinauf, […] an bestimmten Bäumen des Uphagenparkes, an bestimmten Linden der Hindenburgallee“ usw. „setzte Harras seine Duftmarken“ (4, 311). Danzig-Langfuhr wird vorgestellt als ein Deutschland im Kleinen, das stellvertretend steht für viele Städte im Osten des Deutschen Reiches und die Mentalität ihrer Menschen. Darauf verengt sich der Blick vom Mikrokosmos zum Individuum. Danzig bildet in Grass’ Romanen einen Hintergrund, an dem sich Weltgeschichte ereignet, vor diesem Hintergrund Lokalgeschichte, Alltagsgeschichte, Individual- Danzig als interkultureller Erinnerungsort 193 geschichte. Dieses „Unterfutter der Geschichte“ (12, 552) differenziert sich in die privaten, banalen, tragischen oder grotesken Erlebnisse, Erlebniskomplexe und Schicksale der Menschen, gerade auch der kleinen Leute - gleichsam die einzelnen Bauten des Erinnerungsortes Danzig. Als Grass 1958 erstmals wieder seine Geburtsstadt aufsuchte, Spuren suchend und im Geiste schreibend, wurde die reale Stadt mitsamt ihrem im Erinnerungsprozess entstehenden mentalen, dann auch literarischen Bild zu seinem ganz persönlichen Erinnerungsort. Danzig ist der Brennpunkt seines „professionellen Erinnern[s]“ (12, 580) und darum der Mittelpunkt fast jedes erzählten Geschehens in seinem Werk. Jeder seiner Sätze, so resümierte er in einer späten autobiographischen Äußerung, habe seine Grundlage, seinen Ausgangspunkt „in der Stadt Danzig“ (Grass 2010: 161). Nicht nur seine fiktiven Werke, sondern auch seine Autobiographie „Beim Häuten der Zwiebel“ ist ein Buch der persönlichen Erinnerung an diesen Erinnerungsort. „Erinnerung“, sagt Grass, neige „zum Schönreden“, ja sie verstecke sich (10, 210). Daher gelte es, sie freizulegen, wie das Innere einer Zwiebel, also das Verdrängte ins Bewusstsein heraufzuholen und das Geschönte einer realistischen Sicht zu unterziehen. Kritisch und selbstkritisch stellte er etwa in der Schülergeschichte „Katz und Maus“ die Verhältnisse am Gymnasium Conradinum, das er zeitweise besuchte, und die geistige Enge dieses Ortes realistisch dar. Zumeist seien es „Gegenstände“, an denen sich seine „Erinnerung“ reibe (10, 212) - ist doch Grass, der gelernte Steinmetz und -bildhauer, ein eher haptischer Mensch -, und so fallen ihm, denkt er an den September 1939 - er ist elf -, folgende Erinnerungsstücke ein: Als […] in Danzig […] der Krieg ausbrach, sammelte ich - kaum hatten die polnischen Verteidiger der Westerplatte nach sieben Tagen Widerstand kapituliert - im Hafenvorort Neufahrwasser [...] eine Handvoll Bomben- und Granatsplitter (10, 211f.). Beim Schreiben der „Blechtrommel“ nahm er das Substrat der Erinnerung mit allen Sinnen in sich auf - „schritt ich Danziger Schulwege ab, […] roch ich Mottlau und Radaune“ usw. (11, 878) -, um sein Erinnerungsvermögen anzuregen und den Handlungsschauplatz authentisch darstellen zu können. Im Zuge seiner Bekenntnisse „beim Häuten der Zwiebel“ kommen ihm historisch bedeutsame, schwierige, ihn als Schriftsteller herausfordernde Erinnerungsorte in Danzig und Umgebung in den Blick: Grass war als elfjähriger „neugieriger Zuschauer“ dabei, als die Langfuhrer Synagoge von einer Horde SA-Männer „geplündert, verwüstet“ wurde (10, 226). Als ein Schulfreund verschwand, dessen Vater, sozialdemokratischer Politiker in Danzig, ins KZ Stutthof kam, sei er „stumm“ geblieben (10, 225). 194 Jens Stüben In einer kurzen Erzählung hat Grass genau dieses Bekenntnis zum Thema gemacht, das „Verschweigen“ (9, 146): In seinem Zyklus „Mein Jahrhundert“ ist einer der wichtigsten Texte über das Jahr 1945. Die Kriegsjahre werden aus der Perspektive eines Treffens ehemaliger Kriegsberichterstatter reflektiert. Indem sich der Erzähler dieser Episode an sein Versagen erinnert und dabei nun in der Rückschau die Erinnerungsorte, bei denen er einst wegsah, benennt, spricht er das an, was auch Grass beschäftigte. Die Bedeutung von Ausbruch und Ende des Zweiten Weltkriegs für Danzigs Geschichte und zugleich als Einschnitte in seiner eigenen Biographie betont der Autor in „Beim Häuten der Zwiebel“. Der Untergang des alten Danzig und dann Deutschlands beendete seine nationalsozialismusgläubige Jünglingszeit. Weil er es mit dem Kriegsbeginn und dem Kriegsende doppelt und unwiederbringlich verlor, das Danzig seiner frühesten, intensivsten Erinnerungen, kam Grass von Danzig als Thema nicht los. Mit Danzig verbanden sich für ihn sowohl Geborgenheit als auch Trennungsschmerz, und sein dichterisches Werk bedeutet für ihn den Versuch der Heilung. Erinnernd und erzählend sollte die zerstörte und verlorene Heimatstadt „beschworen werden. Diese Schreibobsession hat mich angestachelt“ (12, 568f.). Danzig wurde für ihn „zum andauernden Anlaß für zwanghaftes Erinnern“ (12, 579), war jedoch nicht nur Ausgangs-, sondern auch Zielpunkt oder, wie er es selbst formulierte, „Quelle und Müllgrube, Fixpunkt und Weltmitte“ (12, 569). Die Heraufholung des Erinnerten in die Gegenwart, um es für die Zukunft zu bewahren: darum geht es Grass. Dies ist der tiefste Sinn seiner Neuschöpfung „Vergegenkunft“. „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ wirken gleichzeitig, nicht nacheinander, denn wir „denken“ und „erinnern“ uns, so Grass, „nicht chronologisch“ (Grass 2000: 167), sondern schaffen Verknüpfungen. Die „Vergegenkunft“ entsteht im Schreibprozess. Geschichte ragt in die Gegenwart hinein, „ist belebt und immer wieder zu beleben, insbesondere durch erzählerische Kraft“ und „epischen Einfallsreichtum“ (Grass 2000: 169). Das heißt, den Bezug zum Jetzt herzustellen, bedarf der Anstrengung. Vergangenes fügt sich nicht von selbst der Gegenwart ein. Es muss heraufgeholt, vergegenwärtigt werden durch Literatur. Der Erinnerungsort muss immer wieder neu aufgebaut werden, damit er nicht verfällt: Er, Grass, schreibe „gegen die verstreichende Zeit“ (12, 257, 559). In Grass’ Werk, so lässt sich zusammenfassen, entfaltet sich ein Netz von gespeicherten, in Orten verdichteten Erinnerungen. Es spiegelt den Erinnerungsort Danzig als Ganzes und in seinen Teilen, die je für sich Erinnerungsorte sind. Es erinnert auch an nicht-lokalisierbare Erinnerungsorte - wie die Vertreibungen. Leben, Werk und Vermächtnis des Literaturnobelpreisträgers und Zeitzeugen aus Danzig werden mehr und mehr selbst zu einem deutschen und europäischen Erinnerungsort. Danzig als interkultureller Erinnerungsort 195 4 Danzig in Janesch’s Roman „Ambra“ Der Blick wendet sich ab von dem Lebenswerk des 87-Jährigen und richtet sich auf eine junge Autorin, die sich ebenfalls nicht zuletzt aus autobiographischen Motiven mit Danzig beschäftigte, Sabrina Janesch, und ihren Roman „Ambra“. War die Stadt, als Janesch 2009 in Danzig Stadtschreiberin war, für sie ein Ort der Inspiration? In Grass’ „Butt“ hat eine Cousine des Erzählers diesem einen Bernstein mit eingeschlossener Fliege geschenkt - das Motiv wird von Sabrina Janesch aufgegriffen: Als ihr Vater stirbt, erbt die Heldin Kinga einen Bernsteinanhänger, in dem eine Spinne gefangen ist. Und er vermacht ihr eine Wohnung in einer fernen „Stadt am Meer“ (20 u.ö.). Ganz anders macht es die Ich-Erzählerin als Oskar in der „Blechtrommel“. Der Schelm nennt Danzig zunächst „Provinzhauptstadt an der Mottlau“ (3, 23), verrät ihren Namen dann aber einige Seiten später. In „Ambra“ deuten lediglich Versatzstücke auf Danzig hin: Türme, Glockengeläut, Kirchen wie riesige Zelte; „Patrizierhäuser“ (224); der „Neptunbrunnen“ (204); ein hölzerner Bau, der sich über „den Fluss“ erhob (59) - die Mottlau und das Krantor werden nicht erwähnt -; die „Uferpromenade“ (347) und die „Fußgängerzone“ (174f.), „Schmuckkästlein und ganzer Stolz der Restaurateure“ (177) - die Namen Lange Brücke und Langgasse fallen nicht. Statt Langer Markt steht „Rathausplatz“ (223) oder „Marktplatz“ (315). Immerhin fällt das Wort „Speicherinsel“, und sichtbar werden die Bastionen. Da der Name Danzig nicht genannt wird, verleiht dies der Autorin fiktionale Freiheit, etwa, wenn es dichterisch heißt: „die Stadt mit den goldenen Toren“ (20). Mit dem „Blick auf die dunklen Giebel, die hohen Fenster und die nebelumwobenen Türme der Stadt“ (9) zitiert der Roman Eichendorffs Gedicht „In Danzig“. Unüberhörbar sind Anspielungen auf Romane von Grass. Bekannte, besonders ausdrucksstarke Bilder aus der „Blechtrommel“ werden abgerufen: Es ist von einem Kartoffelfeuer die Rede (159) und von einem Aal, den jemand aus dem Wasser zieht (286). An Oskar Matzerath denkt man, wenn Danzig als Erinnerungsort thematisiert wird: „Jeder Schlag auf jede Trommel und jeder Schrei, jedes zerbrochene Glas […] findet Einlass ins Gedächtnis der Stadt“ (8). Schon die Erzählsituation, das Schwanken zwischen Ich- und Er-Erzählung, die an ein Märchen anklingenden Eingänge „Es war einmal“ (53, 89), „es trug sich zu“ (262) erinnern an Grass’ „Danziger Trilogie“. „Ambra“ schildert Kingas Annäherung an die polnische Stadt. „Als Kind war mir“, sagt die in Deutschland sozialisierte Protagonistin, „die Stadt wie ein unvorstellbar weit entfernter Ort vorgekommen“ (30). Die Ich-Erzählerin behält eine Art Hassliebe zu ihr. Eigentlich mag sie ihr „Maritimes“, „Weltgewandtes“ (363). Bei der Abreise aber kommen ihr die Kräne im Hafen „wie überdimensio- 196 Jens Stüben nale Galgen [vor], die […] jeden Besucher vor der Macht dieser Stadt warnten, vor der Macht, Menschen zu verschlingen, […] auszulöschen“ (363f.). Verschwanden nicht einst „die Michaliks von nebenan, die Piotrowskis […] oder die Malcherczyks“, weil sie es ablehnten, „Deutsche zu werden“ (266), womit der Roman an das Schicksal der Danziger Polen in der Zeit des Nationalsozialismus erinnert? So verschwindet am Ende auch der polnische Cousin der Erzählerin und bleibt unauffindbar. Sein Schicksal ist makaber und geheimnisvoll wie die Stadt. Es muss eine besondere Stadt sein mit einer schwierigen Geschichte und einer Aura der Melancholie. „Schicksalsschläge“ haben sie „heimgesucht, […] seien es Seuchen, Kriege oder die Verschiebung von Staatsgrenzen“ (129). Sie ist ein Archiv, umweht vom Staub der Vergangenheit: [D]ie Stadt schien zu reden, überzuquellen an Geschichten und dem Leid der Menschen […]. Jeder Steinhaufen in dieser Stadt schien seine Stimme zu erheben, kein Meter des alten Pflasters, der kein Blut gesehen hatte, und überall, überall tummelten sich die Toten, […] eine Symphonie aus Angst und Erinnerung“ (174). Diese vielfältigen „Stimmen […] und Geschichten“ zu hören, ist eine Gabe, die „diese Stadt“ der Protagonistin verleiht (73): Was wie ein Märchen klingt, symbolisiert die Vielschichtigkeit der Geschichte der Stadt, ihren Fluch - und ihren Genius loci. Denn auch ihr guter Geist wird erwähnt: Es umgebe sie eine „schützende Hülle aus Bernstein, die sie seit jeher vor der endgültigen Auslöschung bewahrt hatte“ (60). So wird auch von Sabrina Janesch Danzig als ambivalenter und plurikultureller Erinnerungsort dargestellt. Die Gegend ist zweisprachig; argwöhnisch blicken die aus denselben Wurzeln entsprossenen, einander entfremdeten Bevölkerungsgruppen aufeinander. Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg spielen hinein. Die Rede ist von Volkslisten, Deportationen von Polen, den Schicksalen jüdischer Bürger. Erzählt wird vom Vorabend des 1. September 1939 und „Kanonenschüsse[n]“ von „Schiffsgeschütze[n]“ (265). Betont wird „die Tatsache, dass […] das deutsche [sic] Reich hier seinen Krieg begann“ (359). Dann das Ende des alten Danzig: Flugzeuglärm, Sirenengeheul. Auf der Straße „roch es nach Verbranntem und Staub“ (307). Große Krater klafften. „Wohnhäuser“ waren „wie Kartenhäuser […] in sich zusammengefallen“ (307). Kurz nach dieser Episode der Sprung in eine Art „Vergegenkunft“. Ein Aktionskünstler, Litauer, will die Stadt zum Verschwinden bringen. Aber nicht mit Feuer und Bomben, sondern in der Art des Künstlers Christo durch Verhüllung von Häuserzeilen. Die Idee skizziert er so: „Wir schlagen eine Brücke in die Vergangenheit! Hinterfragen das Antlitz dieser Stadt! “ (309). Für die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit steht dagegen das Mahnmal für den Kampf Danzig als interkultureller Erinnerungsort 197 der Werftarbeiter gegen die Willkür der Staatsmacht und den Kommunismus. Das Denkmal wird von einem Danziger, der mitkämpfte, als Erinnerungsort hervorgehoben: „Von allen Orten der Stadt sei dies der wichtigste“ (180). Kinga Mischa, die junge Norddeutsche mit dem polnischen Namen, reist 1999 in die Heimat ihrer Familie, will ihre entfernten Verwandten kennenlernen. Sie gibt den Anhänger aus „gelbe[r] Ambra“ (22) nach Jahrzehnten an den in Danzig verbliebenen Familienteil zurück. An das umstrittene Objekt knüpft sich die Familienchronik, die von denen erzählt, die den Bernstein einst besaßen und über mehrere Generationen weitergaben. Als Kinder mussten Kingas Eltern ihre Heimat verlassen. Der Bernstein ist alles, was sie aus der Stadt mitnehmen konnten und die „einzige Verbindung“ (25) zu ihr. Die eingeschlossene Spinne wird zum Symbol des gespeicherten Gedächtnisses: „Sie hat sich alles gemerkt, alles, was jemals um sie herum geschehen ist“ (22). Der Bernstein als Symbol und Talisman der Stadt - wie auch seiner Trägerin - sorgt für die historische Tiefendimension und ermöglicht Erinnerung. „Wer einen Bernstein trägt, der sich durch Größe, Reinheit oder seine Inkluse auszeichnet“, sagt die Erzählerin, „der wähnt sich selber ausgezeichnet, der hält sich für ein Glied, das die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet“ (61). Zeitsprünge prägen denn auch den Roman. Anhand des Familienerbstücks geht der Blick drei, vier Generationen zurück. Kingas Urgroßvater Kazimierz Mysza war Kaschube (das Ethnonym wird anders als bei Grass nicht genannt), aus „einer Gegend, die sich schlecht entscheiden konnte, ob sie dem einen Volk angehörte oder eher dem anderen“ (54). Anders als er und sein erster Sohn entscheidet sich dessen Bruder, Marian, für das Polentum. Die Wohnung der Familie hat in den Generationen mehrmals den Besitzer und die Seiten - deutsch und polnisch - gewechselt: „Nicht ganz unser und nicht ganz euer“ (69). Damit wird sie zu einem Sinnbild für Danzig zwischen Deutschland und Polen. Die „zeiten- und nationenübergreifende Immobilie“, auf deren Besitz keiner verzichten wollte, wurde einst aufgeteilt. Auf ihren Fußboden wurde eine „Grenze“ mit Kreide gezogen (227). Später teilt sie eine „Mauer“ (302). Keiner der beiden Söhne - der Deutsche Konrad nicht und der Pole Marian nicht - war bereit gewesen, auf die elterliche Wohnung zu verzichten. Marians letzter Wunsch aber war es, Frieden zu machen zwischen den Zweigen der Familie. Der in Danzig verbliebene Pole vermacht seinem vertriebenen Neffen die Wohnung, an der beide hängen. Die Angst von Marians Sohn, die Wohnung an die Nichte, die plötzlich vor ihm steht, zu verlieren, kann man symbolisch zu der Angst vor dem Zurückkommen der Deutschen in Beziehung setzen. Am Ende aber stiftet Kinga Versöhnung. Ihr geht es nicht um die Inbesitznahme der ihr vom Vater vererbten Wohnung. Sie verzichtet auf das einstige Streitobjekt. Wie das Türschild, das über-, aufeinander die Namen „Mysza“ und „Mischa“ zeigt (67), ist die ganze Stadt ein deutsch-polnisches Palimpsest. 198 Jens Stüben Sabrina Janesch hat sich auch in der Figur eines Beobachters namens Tilmann Kröger porträtiert. Der ist Schriftsteller und lebt als Stadtschreiber vor Ort. Er hat seinem Verleger die Arbeit an einem „großen, epochalen Werk über die Stadt am Meer […] versprochen“ (155). Der Roman solle von einer „ungewöhnlichen Familiengeschichte“ handeln (155). Die Schwierigkeiten, die dieser Autor hat - er sieht nur öden, grauen Alltag, grau wie die Straßen der Stadt -: sind es die Probleme der Autorin selbst, die sie zu überwinden versucht, indem sie Danzig mystifiziert? Zumindest ist ihr der große Wurf nicht gelungen. Immerhin hat sie bei allen intertextuellen Referenzen auch eine eigene Symbolik geprägt. Und so wird an der Motivgeschichte Danzigs als eines Erinnerungsortes über Grass hinaus weitergeschrieben. 5 Literatur Bednarska-Kociołek, Joanna (2010): Die mythologisierte Stadt Danzig/ Gdańsk bei Günter Grass und Stefan Chwin. In: Hartmann, Regina (Hrsg.): Grenzen auf der Landkarte - Grenzen im Kopf? Kulturräume der östlichen Ostsee in der Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld. S. 55-70. Cepl-Kaufmann, Gertrude (2007): Günter Grass und Danzig. In: Stüben, Jens (Hrsg.): Ostpreußen - Westpreußen - Danzig. Eine historische Literaturlandschaft. München. (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; 30). S. 563-587. Hryniewicka, Monika (2009): Danzig/ Gdańsk und seine Geschichte als literarisches Thema in der Prosa von Günter Grass, Stefan Chwin und Paweł Huelle. Diss. Göttingen. Loew, Peter Oliver (2012): Danzig - Erinnerungsort Europas und Schauplatz großer Literatur. www.sabrinajanesch.de/ wp-content/ uploads/ 2009/ 12/ Loew_Danzig.pdf, (Stand: 10.06.2014). Ossowski, Mirosław (2012): Günther Grass’ Danzig als erinnerte und inszenierte Stadt. In: Enklaar, Jattie/ Ester, Hans/ Tax, Evelyne (Hrsg.): Städte und Orte. Expeditionen in die literarische Landschaft. Würzburg. (Duitse Kroniek; 59). S. 171-183. Quellen Grass, Günter (2007): Werke. Göttinger Ausgabe. 12 Bde. Göttingen. Bd. 3: Die Blechtrommel. Roman. ‒ Bd. 4: […] Hundejahre. Roman. ‒ Bd. 5: […] Aus dem Tagebuch einer Schnecke. ‒ Bd. 6: Der Butt. Roman. […] ‒ Bd. 7: […] Die Rättin. […] ‒ Bd. 9: Mein Jahrhundert. - Bd. 10: […] Beim Häuten der Zwiebel. - Bd. 11: Essays und Reden 1955-1979. - Bd. 12: Essays und Reden 1990-2007. Grass, Günter (2010): Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. Göttingen. Grass, Günter/ Zimmermann, Harro (2000): Vom Abenteuer der Aufklärung. Werkstattgespräche. Göttingen. Janesch, Sabrina (2012): Ambra. Roman. Berlin. Interaktionen zwischen Migranten und Mehrheitsgesellschaft und die Frage nach der Hybridisierung der Kultur anhand ausgewählter Werke der deutschsprachigen Migrantenliteratur Anna Warakomska (Warszawa/ Warschau) Zusammenfassung Im folgenden Beitrag werden Charakteristiken der Nachbarn in ausgewählten Werken der deutschsprachigen Migrantenliteratur untersucht und ferner wird nach Möglichkeiten und Grenzen einer kulturellen Hybridisierung gefragt. Der Analyse werden hauptsächlich ausgewählte Texte von zwei auf Deutsch schreibenden Satirikern türkischer Herkunft: Şinasi Dikmen und Osman Engin sowie zwei Autorinnen von Sachbüchern: Seyran Ateş und Necla Kelek unterzogen. In ihren Publikationen berühren sie das manchmal schwierige Zusammensein der Migranten und der Einheimischen und tun dies entweder in Form von satirischen Erzählungen oder Reportagen. Dem analytischen Teil geht eine kurze theoretische Erörterung der Begriffe: Migrantenliteratur und Hybridisierung voran. 1 Einleitung Die Migrantenliteratur deutscher Autoren türkischer Herkunft eignet sich anscheinend wie kaum eine andere, um die Problematik der Hegemonie und Marginalität in der Literatur zu skizzieren. Sie berührt nämlich Themen aus dem täglichen Leben vieler Migranten, die am eigenen Leibe die Unannehmlichkeiten der Immigration erfahren haben. Die anfänglichen Probleme in der Fremde: Mängel an Sprache, Geld, Ausbildung, Möglichkeiten, die späteren Herausforderungen bei den Kontakten mit Einheimischen sowie nicht selten Erfahrungen der Fremdenfeindlichkeit wurden zu wichtigsten Erlebnissen vieler Türken in Deutschland (vgl. Schierloh 1984: 11, Lachmann 2007: 22). Die letztgenannten Erfahrungen erfolgten insbesondere nach dem Familienzuzug in den 70er Jahren, als türkische Familien ihre neue Existenz in Deutschland zu gründen begannen (vgl. Şen/ Aydın 2002: 13f.), und vermehrten sich in den 1990er Jahren - ihre Esaklierung mündete in den Hausbränden in Mölln und Solingen (vgl. Lachmann 2007: 34-49), die bis dahin das traumatischste Kapitel der türkischen Migrationsgeschichte bilden. 200 Anna Warakomska Diese Problematik, aber auch viele andere Faktoren des Lebens im Einwanderungsland Deutschland (vgl. Riemann 1990: XV) beschäftigt die Autoren, deren Werke im Folgenden besprochen werden. Das Ziel des Beitrags ist es, am Beispiel ausgewählter Texte der Satiriker Şinasi Dikmen und Osman Engin sowie der Sachbuchautorinnen Seyran Ateş und Necla Kelek das zuweilen schwierige Zusammenleben der Migranten und der Einheimischen darzustellen sowie über die Möglichkeit einer etwaigen kulturellen Hybridisierung zu reflektieren. 2 Migrantenliteratur und Hybridisierung der Kultur Vor der Textanalyse soll kurz auf die Definitionen der im Titel des Beitrags gebrauchten Termini eingegangen werden. Vor allem geht es hier um die Begriffe ‚Migrantenliteratur‘ und ‚Hybridisierung der Kultur‘. Der erste Begriff bezieht sich auf die Literatur, die von den auf deutsch schreibenden Autoren geschaffen wird, die meistens aufgrund ihrer ausländischen Herkunft das Deutsche als ihre zweite Sprache gelernt haben und sie in ihrem schriftstellerischen Leisten gebrauchen. „Metzlers Literaturgeschichte“ expliziert eine derartige Literatur als „deutschsprachige Literatur von Autoren nichtdeutscher Herkunft“ und stellt sie im Kapitel „Literatur aus naher Fremde“ unter anderem folgenderweise dar: „Begriffe wie ‚Gastarbeiter- und Betroffenheitsliteratur‘ (H. Weinrich), ‚Literatur der Fremde‘ (S. Weigel), ‚Interkulturelle Literatur‘ (T. Wägenbaur) und ‚Migranten- oder Migrationsliteratur‘ (H. Rösch) belegen den Versuch, eine Geschichte literarischer Werke von Autorinnen und Autoren verschiedenster nationaler Herkunft zu benennen, die seit nunmehr fünf Jahrzehnten zur deutschsprachigen Literatur gehört, aber immer noch als ‚andere‘ und ‚erweiterte‘ deutsche Literatur bezeichnet wird. Jeder Begriff erwies sich bislang als problematisch und unzureichend. Der konkrete literarische Text erscheint oft schon durch die Herkunft der Autoren am Rande deutschsprachiger Literaturentwicklung“ (Opitz 2001: 694). Die in der Öffentlichkeit durch viele Publikation wohl bekannte und auch im akademischen Diskurs präsente Literatur der Migranten (vgl. Reeg 1988, Lützeler 1996, Chiellino 2000, Rösch 2004) wird in weiteren Passagen von „Metzlers Literaturgeschichte“ auch als eine „kulturübergreifende und vielsprachige Literaturbewegung“ bezeichnet. Und diese Benennung scheint am dienlichsten für die Reflexion über die gegenseitigen Einflüsse der Kulturen und demzufolge ihrer möglichen Hybridisierung zu sein. Sie inkludiert nämlich die potenzielle Korrespondenz und mögliche Mischung der Kulturen innerhalb der Literatur. Ferner wird jedoch in diesem Kapitel der Literaturgeschichte auch auf andere theoretische Probleme mit dem Begriff ‚Migrantenliteratur‘ verwiesen, d.h. Interaktionen zwischen Migranten und Mehrheitsgesellschaft 201 vor allem auf den Anspruch der Autoren einer solchen Literatur, als „vollwertige“ Schriftsteller betrachtet zu werden. In diesem Kontext betont z.B. Suleman Taufiq, der viele Gedichte auf Deutsch veröffentlicht hat, aber auch für Übersetzungen arabischer Literatur ins Deutsche und umgekehrt sowie Herausgebertätigkeit bekannt ist: „ich schlage vor, unsere Literatur mit Literatur zu bezeichnen“ (vgl. Opitz 2001: 694). Mit diesem Vorschlag spricht Taufiq ein, wie es scheint, sehr wichtiges Postulat deutscher Autoren mit „Migrationshintergrund“ aus - ihre Texte unbefangen als literarische wahrzunehmen, oder anders gesprochen - der Ausgrenzung ihrer Literatur bereits durch die Benennung als ‚Migrantenliteratur‘ vorzubeugen. Die Erfüllung dieses Postulats erscheint jedoch in vielen Fällen sehr schwierig, da diese Literatur oft thematisch im Bereich der Migrantenproblematik verbleibt und häufig sogar dokumentarische Züge aufweist, wie dies Michael Opitz und Carola Opitz-Wiemers am Beispiel der Werke von Giuseppe Fiorenza Dill’ Elba, Salvatore A. Sanna, Marisa Fenoglio, Lisa Mazzi-Spielberg, Aras Ören, Güney Dal, Yüksel Pazarkaya und anderen hervorheben (Opitz 2001: 694f.). Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die begriffliche Erörterung Franco Biondis und Rafik Schamis, die als Repräsentanten der zur Debatte stehenden Literatur sich für die Bezeichnung „Literatur der Betroffenheit“ einsetzten (Biondi/ Schami 1981: 124-136). Die Autoren unterscheiden zugleich u.a. folgende Ziele der so verstandenen Literatur: „Die erste Aufgabe der Gastarbeiterliteratur liegt gerade im Kampf gegen die aufgezwungene Trennung unter sich und zwischen ihnen und den deutschen Arbeitern“ (Biondi/ Schami 1981: 128). „Diese Literatur ermöglicht zugleich den kulturellen Austausch zwischen ›Inländern‹ und Gastarbeitern“ (Biondi/ Schami 1981: 133). Allerdings muss hier festgestellt werden, dass eine solche Explikation des Begriffes die darunter verstandene Literatur vor allem als „die Literatur der Arbeitswelt“ (Opitz 2001: 695) interpretieren will und die kulturellen oder ästhetischen Komponenten nur am Rande berührt. Die im Folgenden zu analysierenden Texte von Dikmen und Engin bilden vor diesem theoretischen Hintergrund eine Ausnahme: Zwar verbleiben beide Autoren in ihren Satiren im Bereich der Migrationsproblematik, aber ihre Erzähltechnik ist durch Komik und ironische Distanz charakterisiert, die in die dargestellte Welt viele unabsehbare Entwicklungen mit sich bringen. Diese spezifische Form trägt zur Bildung paradoxer Wahrnehmungen bei, in denen die gängigen Meinungen über kulturelle Eigenschaften hinterfragt werden. Der zweite Begriff ‚Hybridisierung‘ ist eine Entlehnung aus den Naturwissenschaften, wo er ursprünglich eine Mischform zweier getrennter Systeme bedeutete (vgl. Griem 2008: 297). In die Kulturwissenschaften wanderte diese Bezeichnung aus der Soziolinguistik und den Sozialwissenschaften. Franziska 202 Anna Warakomska Schößler interpretiert in einem Glossar das dem Begriff zugrundeliegende Adjektiv folgenderweise: Hybrid heißt eine Konstellation, in der sich zwei oder mehrere heterogene Elemente miteinander verbinden und eine neue Einheit bilden. So kann Hybridität die Verschiedenheiten innerhalb einer Kultur oder die Vermischung von Kulturen bezeichnen, ebenso die Entgrenzung und Mischung literarischer Gattungen sowie den Konstruktionscharakter von Geschlechtsidentitäten. Das Konzept der Hybridisierung geht zurück auf Michail Bachtins Theorie der Dialogizität. Hier meint der Begriff die Vermischung zweier Sprachstile, zweier `Stimmen` innerhalb einer sowohl grammatisch als auch stilistisch auf einen einzigen Sprecher rückführbaren Äußerung (Schößler 2006: 254). Problematisch bleibt offensichtlich die Frage nach Tauglichkeit des Konzeptes der kulturellen Hybridisierung bzw. nach deren Grenzen (Bucakli/ Reuter 2014). Özkan Bucakli und Julia Reuter verweisen in diesem Zusammenhang auf den Haupteinwand der Konzeptgegner, der in der Unterscheidung zwischen theoretischen oder fiktionalen Thematisierungen von hybriden Identitäten und Kulturen, „wie sie z.B. Rushdie und Naipaul“ vornehmen, einerseits und einer soziologischen Analyse der sozialen Gegebenheiten andererseits bestehe (Bucakli/ Reuter 2014: 6). Sie erinnern auch daran, dass dieses sinnreiche Konzept von Autoren entworfen wurde, die exzellente Positionen im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft, die sie angeblich beschreiben, annehmen, und sich darüber hinaus mit ihren Schriften an gebildete Eliten wenden, die über entsprechendes geistiges bzw. kulturelles Kapital im Bourdieuschen Sinne verfügen. Es erscheint daher interessant und vielversprechend, Migrantenliteratur in Deutschland unter dem Aspekt der kulturellen Hybridisierung zu untersuchen. Sie scheint nämlich, wie eingangs angedeutet, sehr nahe am realen Leben zu stehen und kann daher als ein gewisses Messinstrument begriffen werden. 3 Das Leben zwischen zwei Kulturen Zu Beginn unserer Analyse seien einige Beispiele aus den Sachbüchern von Necla Kelek und Seyran Ateş herbeizitiert, die die Lage der in zwei Kulturen lebenden Menschen bündig charakterisieren. Beide Autorinnen wuchsen zunächst in der Türkei und dann in Deutschland auf, beide behaupten auch, sich die Kulturen dieser Nationen angeeignet zu haben. In der „zweiten Heimat“ genossen sie ihre Hochschulausbildung, Kelek ist promovierte Soziologin, Ateş ist Anwältin. Ihre Meinung zum Leben an dieser kulturellen Schwelle ist: Interaktionen zwischen Migranten und Mehrheitsgesellschaft 203 Nicht immer begegnet man mir in Deutschland als ganz normaler Mensch, der ich nun mal bin. Nein, ich laufe mit einem Stempel auf der Stirn durch dieses Land. Auf diesem Stempel steht: Mensch mit Migrationshintergrund. Trotzdem ziehe ich es vor, in Deutschland zu leben, betrachte ich Deutschland als meine Heimat. Eine andere konnte ich in 43 Jahren […] nicht finden (Ateş 2013b: 24). Ateş begründet auch ihren Entschluss, die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und die türkische abgegeben zu haben, folgendermaßen: Nationales Denken ist mir vollkommen fremd. Entschieden habe ich mich aber für ein politisches System, für eine Zivilgesellschaft, für ein Rechtssystem, für Gewaltenteilung, für einen hohen Standart [sic] an Demokratie und Gleichberechtigung, für einen, wenn auch hinkend - säkularen, auf jeden Fall aber aufgeklärten Umgang mit Religion, vor allem jedoch auch für die Freiheit und den Schutz, der mir in diesem Land gewährt wird (Ateş 2013b: 22). Es muss festgehalten werden, dass trotz der institutionellen Vorteile, von denen hier die Rede ist, die Autorin sich expressis verbis auch für die türkische Tradition bekennt (Ateş 2013b: 22). Ähnlich sieht die Sache auch Necla Kelek, die seit 40 Jahren in Deutschland, jetzt als deutsche Staatsbürgerin, in zwei Kulturen lebt und sich auch befugt fühlt, auf beide mit Distanz zu schauen und die Differenzen zu beschreiben (Kelek 2011: 155). Eine verwandte Lage der doppelten kulturellen Verankerung schildert Osman Engin in seiner kurzen Skizze „Der Deutschling“. Der Protagonist dieses Werkes fährt nach 17-jährigen Bemühungen um Integration in die Türkei und wird dort mit ganz neuen Problemen konfrontiert. Er und seine Familie fühlen sich hier auf einmal fremd, werden sogar als „Deutschlinge“ apostrophiert. Die gewöhnlichen Unzulänglichkeiten des Lebens, wie etwa Stromausfall, hohe Preise, insbesondere für vermögende Ausländer, Versorgungsengpässe wie auch die Vorstellung als Heimkehrer wieder in der ersten Heimat leben zu müssen, erweisen sich am Ende der Erzählung als Alptraum. So kann der Held zu seiner Frau entspannt sagen: „Ich habe mir gerade vorgestellt, wie schrecklich es wohl wäre, wenn wir jetzt in die Türkei zurückkehren würden. Allein bei dem Gedanken ist mir ganz anders geworden. Jetzt weiß ich es genau: Wir gehören nach Deutschland“ (Engin 1994a: 54). Bevor sich manche Türken in Deutschland so gut wie die oben genannten Persönlichkeiten und Protagonisten fühlen konnten, erlebten sie viele Missgeschicke, die partiell auf kulturelle Differenzen, zum Teil jedoch auf das Benehmen ihrer Nachbarn zurückzuführen sind. Einige gute Exempel dieser Missgeschicke schildert Şinasi Dikmen in seinen Satirenbänden, die folglich der Analyse unterzogen werden. 204 Anna Warakomska 4 Hegemoniale Ansprüche und marginale Bedürfnisse der Nachbarn in ausgewählten Werken der Migrantenliteratur Einen guten Ansatz dafür liefert die Erzählung „Hast Du das Foto gesehen“ von Şinasi Dikmen. In ihr geht es um eine Fotografie eines türkischen Kindes, das im Schaufenster eines von Deutschen geführten Fotogeschäfts ausgestellt wird, was unter der türkischen Bevölkerung der Stadt für eine große Beachtung sowie viele Turbulenzen sorgt. Man wundert sich vor allem über eine derartige Ehrenerweisung, die Menschen drängen sich um das Atelier. Einer der Helden meint, zum ersten Mal das Foto eines Türken in einem deutschen Geschäft gesehen zu haben. Er fragt einen alles aufschreibenden Dolmetscher rhetorisch: „Warum, zum Teufel wollen die Deutschen uns nicht sehen […] warum tun die Deutschen so, als lebten wir nicht in Deutschland? “ (Dikmen 1983: 59). Diese Frage bleibt unbeantwortet, suggeriert jedoch eine totale Missachtung der Gastarbeiter seitens der deutschen Nachbarn - so als ob sie gar nicht existierten. Ähnliche Beispiele mehren sich in dieser Skizze und betonen eine große Asymmetrie der gesellschaftlichen Ordnung (vgl. Dikmen 1983: 64). Marginalität und Hegemonie in der gesellschaftlichen Interaktion werden auch an anderen Beispielen erörtert. Ali lebt in einem Wohnheim seiner Firma mit drei anderen Gastarbeitern in einem Zimmer, aber er ist weit davon entfernt, sich zu beklagen: „Er sei zufrieden, mit allen Deutschen sei er zufrieden“ (Dikmen 1983: 62). Er besteht nur darauf, in Deutschland bleiben zu dürfen, um sich später für das hier verdiente Geld ein Haus in der Türkei zu bauen. Beachtenswert ist es, dass das Haus nach deutscher Art gebaut werden soll, weil Ali Deutschland sehr liebe; die deutsche Architektur soll eine Form des Andenkens darstellen, genauso wie die Haushaltsgeräte deutscher Herkunft, die er plant, in die Türkei mitzunehmen. Auch er denkt über die Gründe der sonderbaren Fotoausstellung nach und besinnt sich auf ein früher geführtes Gespräch mit einem Lichtbildner in der Altstadt, der ihm u.a. Folgendes sagt: „Arbeiten könnt ihr in Deutschland, aber leben nicht? “ (Dikmen 1983: 63). Diese Aussage gehört zu den Exempeln gesellschaftlicher Segregation und erinnert an koloniale Zeiten, in denen ein Teil der Bevölkerung schuftete und ein anderer befahl. Die Arbeit wird allerdings sehr gut beaufsichtigt - während Ahmet seinem Kollegen Ali seine Geschichte erzählt, werden beide von ihrem Meister folgenderweise gerügt: „Sprechen könnt ihr in Anatolien, ihr Schäfer, in Deutschland arbeiten“ (Dikmen 1983: 63). Die herabwürdigende Benennung scheint hier dem Gebieter als ein Intervall zu dienen. An diesen Bruchstücken der Beschreibung und Kommentare lässt sich entziffern, wie die dargestellten gesellschaftlichen Konstellationen aussehen. Die gutmütigen und friedlichen Türken werden in Deutschland als Arbeitskraft und nicht wie fühlende und lebende Menschen betrachtet. Ihre Bedürfnisse Interaktionen zwischen Migranten und Mehrheitsgesellschaft 205 sind sehr bescheiden: Sie möchten ihr Geld verdienen, sehnen sich nach Nähe und Wärme der eigenen Familien, wünschen sich vielleicht von den deutschen Nachbarn, etwas seriöser behandelt zu werden. Diese dagegen wollen die scharfen Grenzen der gesellschaftlichen Hierarchie aufrechterhalten, die für die Türken nur einen Platz vorsieht, nämlich den als Arbeitskraft. Und die Türken selbst widersprechen kaum einer solchen Darstellungsweise - sie übernehmen zum Teil die fremden Narrative über eigene Bestimmung oder gar Wesensart, um der Ruhe und des Friedens willen. Das Hauptziel ist hier noch das ökonomische Überleben und die weitere Existenz in Deutschland. Um dies zu erlangen, sind die Protagonisten fähig, viel zu ertragen, was die Erzählung akribisch zu schildern vermag. In ihren Anfangspasssagen wird zum Beispiel an eine freundliche Empfehlung erinnert, die Ahmet von Hüseyin, einem seiner Landsleute, bekommt, der zwei Jahre vor ihm nach Deutschland kam und deshalb die vorgefundenen Gewohnheiten anscheinend besser kennt. Diese Empfehlung, an die sich Ahmet im Nachhinein hält und die ihm viele Turbulenzen erspart, lautet: „Ahmet, willst Du in Deutschland mit den Deutschen ohne Reibereien leben, mußt Du immer ja sagen. Vergiß nicht, nur ja sagen“ (Dikmen 1983: 44). Sollte dieser Rat seriös betrachtet werden, bräuchten die ausländischen Gasterbeiter keine guten Sprachkenntnisse, um sich durch das Leben in der Fremde durchzuschlagen. Für Ausführung der Befehle und eine unbegrenzte Zustimmung zu Allem, was die deutschen Nachbarn wünschen, würden schon die einfachsten Partikeln ausreichen. Eine solche Vorstellung mag zwar demotivierend wirken, aber mit diesem Beispiel kann man die gesellschaftliche Rangordnung zumindest auf der Ebene des literarischen Textes gut charakterisieren. Jedenfalls zeigt dieses Beispiel vortrefflich die hegemonialen Ansprüche der befehlenden Seite der Gesellschaft und weist auf die marginalen Bedürfnisse der Ausführenden hin. Eine ideell und auch förmlich sehr verwandte Konstellation präsentiert Osman Engin in seiner Skizze „Der Sauna-Prophet“. Hier werden allerdings die gegebenen Empfehlungen tückisch ausgenutzt - sie dienen nämlich einem in Deutschland ansässigen Ausländer, Nedim, der in einer Sauna arbeitet, dazu, seinen Bekannten zu hintergehen. Er berät nämlich den leichtgläubigen Osman, den Ich-Erzähler, wie er sich gegenüber den Deutschen zu benehmen hat, um Osmans entsprechendes Verhalten zu bewirken. Zur Erprobung dieses Verhaltens wird ein Komplize geschickt, so dass die ganze Lage für Osman als Hellseherei aussieht. Die Art der Empfehlung ist jedoch die gleiche wie in Dikmens früheren Geschichte: „Osman“, sagte er mir, „widerspreche niemals einem Deutschen! Glaube mir, das wäre das Falscheste, was Du in so einer brenzligen Situation tun könntest. Selbst wenn ein Deutscher dich mit Ali anredet und nicht mit Osman, dann nimm es 206 Anna Warakomska als Gottgegeben hin. Abgesehen davon klingt Osman auch nicht viel besser als Ali“ (Engin 1994f: 150). Nedim kann von seiner Tücke profitieren, weil ihn der geizige Freund Osman schließlich in ein teures Restaurant einlädt. Der Rat des Sauna-Propheten hat sich für ihn bewahrheitet, obwohl die Leser wissen, dass das Gespräch mit einem Deutschen, in dem Osmans Unterwürfigkeit erprobt wurde, ein fingiertes war. Der Autor spielt hier offensichtlich mit der gängigen Meinung, dass die Deutschen von ihren türkischen Nachbarn Fügsamkeit verlangen und entpuppt dieses Denkmuster als ein Stereotyp. Die Vorstellung der hegemonialen Ansprüche der deutschen Nachbarn wird durch diese satirische und zum Teil selbstironische Gestaltung hinterfragt. Beachtenswert scheint hier die Tatsache zu sein, dass zwischen den beiden Erzählungen von Dikmen und Engin nicht zehn Jahre liegen. Diese Zeitspanne kann vielleicht als ein Indiz für eine Änderung der Einstellung der Betroffenen zu eigenem Schicksal betrachtet werden. Die ursprünglichen „Wahrheiten“ über die gesellschaftlichen Rollen der Gasterbeiter und der Einheimischen geraten durch diese satirische Verzerrung ins Wanken und eine ähnliche Arbeitsmethode kann auch bei anderen Repräsentanten der Gattung beobachten (vgl. Specht 2011: 79). Das Verlangen nach Befreiung von Rollenbzw. Aufgabenzuschreibungen sowie von aufgeworfenen Etiketten artikuliert heute auch Seyran Ateş, indem sie sich gegen die Bezeichnung Ausländerin oder Mensch mit Migrationshintergrund ausspricht, weil diese Einschätzungen - da sie heimatliche Gefühle für Deutschland habe - sie einfach empören (Ateş 2013a: 47). Sie ist jetzt deutsche Staatsbürgerin und daher scheint diese Forderung für sie viel einfacher zu sein als für viele ihrer Landsleute noch in den 1990er Jahren. Damals schien der Wunsch nach Einbürgerung und somit nach Mitspracherecht für viele als unerfüllbar. Diesen Wunsch, oder nennen wir es Anspruch, thematisieren auch die Satiriker Dikmen und Engin. Der Erstgenannte tut das in der Satire „Wir werden das Knoblauchkind schon schaukeln“, in der es um eine Tagung der Türkenkenner zur Besprechung lebenswichtiger Probleme dieser Ethnie in Deutschland geht. Zu Beginn der Erzählung wird die These, die Deutschen kümmern sich nicht um die Probleme der Gastarbeiter, mit folgender Feststellung verwiesen: Wer behauptet, dass die Deutschen sich um die Probleme der Gastarbeiter nicht kümmern, der soll mich mal. Der ist entweder ein geborener Oppositioneller, oder noch schlimmer, ein Unruhestifter (Dikmen 1995b: 57). Interaktionen zwischen Migranten und Mehrheitsgesellschaft 207 Diese kühne Behauptung ist allerdings etwas differenzierter wahrzunehmen, wenn man sich in weiteren Kapiteln den Katalog der Rechte der Gastarbeiter anschaut. Hierzu gehören z.B. ein unbekümmerter Spaziergang an der Donau, das Bezahlen von Steuern oder freie Einkäufe. Die angebliche Gleichstellung aller Bürger in Deutschland wird durch das launige Fazit betont, alle Menschen können hier Probleme mit den Ämtern, Polizei usw. haben (Dikmen 1995b: 57). Der Rest der Geschichte stellt jedoch exemplarisch die Erwartungen der Türkenkenner, die als Repräsentanten der Einheimischen hier fungieren, dar. Es werden abermals Wünsche nach Unterordnung, Gehorsam, Aneignung der heimischen Kultur und Religion u.a. artikuliert. Ähnlich schildert die Lage Osman Engin in vielen seiner Werke, etwa in der Skizze „Der oberintegrierte Türke“, in der es sich um einen kurzen Monolog des Titelhelden handelt, der über Probleme der Ausländer mit dem Wahlrecht in Deutschland räsoniert. Zunächst berät er seinen Freund Ibo, der einen grillenhaften Wunsch äußert, einmal in Deutschland wählen zu dürfen, sich öffentlich zu engagieren. Aber wenn das nicht hilft, schlägt er Ibo vor, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, sei es auch unter Verlust der eigenen Identität (Engin 1994b: 76). Leider misslingt auch dieses Vorhaben, weil der Freund an vermeintlich einfachen Fragen des Eignungstestes scheitert, etwa: „Welche Schuhgroße hatte die Ehefrau von Karl dem Großen? “, oder „Wie hieß die Lieblingskatze der Schwiegermutter von Friedrich dem Großen? “ (Engin 1994b: 76). Die Freunde entwerfen weiter dubiöse Pläne, die auch missraten, aber die Handlung kräftig aufheitern. Der Autor verkehrt mit Ironie und skurrilen Ideen den Wunsch des Protagonisten nach Recht und Gerechtigkeit in sein Gegenteil. Um wählen zu dürfen, versuchen sie nämlich an den Ausweis einer alten Frau zu gelangen, die sich jedoch als eine robuste alte Dame und Bodybuilderin erweist. Am Ende des Geschehens denkt der Ich-Erzähler über Ibos „krankhaftes Verlangen“ nach und kommt zu dem Fazit, dass er als richtig integrierter Ausländer die Sache viel gelassener betrachtet. Er stellt auch, ähnlich wie in Dikmens Erzählung, den Katalog der einem Gastarbeiter frei zu Verfügung stehender Dinge zusammen, der satirisch die Lage solcher Menschen zuspitzt: Bei Allah, was soll ich mit dem Ausländerwahlrecht? Ich kann doch sowieso frei wählen: zwischen Fernsehen und Video, zwischen schwarzen und roten Socken, zwischen Marlboro und Camel, zwischen Kohl und Birne, zwischen Mittwochs- und Samstagslotto, zwischen Ausländer oder Deutschling zu sein, zwischen langer und kurzer Unterhose. Was verlangt der Mensch mehr vom Leben? ! (Engin 1994b: 77). 208 Anna Warakomska Die erwähnten Alternativen zeigen, dass die Freiräume der Entscheidungen der Migranten ziemlich eng sind. Sie können als ein kurzes Resümee ihrer marginalen Bedürfnisse fungieren. Diese Bedürfnisse scheinen hier in bestimmter Hinsicht marginal bleiben zu müssen, weil sie eben von dem mangelnden Wahlrecht unerbittlich oktroyiert werden. Die satirische Darstellungsweise erheitert zwar die erzählte Geschichte - erneut wird hier das Stereotyp, diesmal des gewalttätigen Ausländers, gezielt abgemüht - das Fazit des Ganzen, auch wenn einigermaßen lustig und unterhaltend, mündet aber in Resignation. Abschließend seien noch einige Beispiele hegemonialer Ansprüche und marginaler Bedürfnisse der Nachbarn angeführt, die zugleich das Thema Kulturmischung oder Hybridisierung erörtern. Zur Explizierung dieses Themas eignet sich Engins Erzählung „Ausländer-Mitbenutzungszentrale“, in der die Familie des Protagonisten, eines Migranten, in der Interaktion mit vielen einheimischen deutschen Familien präsentiert wird. Zunächst tritt da eine gewisse Oma Fischkopf auf, die die Tochter des Protagonisten mit selbst gemachten türkischen Frikadellen füttern will. Das Mädchen lehnt die Einladung ab und nach einem kurzen Gedankenaustausch, der amüsante Assoziationen bei der Lektüre verursacht, kommentiert sein Vater die Lage folgenderweise: „Das Problem ist, sie mochte noch nie Frikadellen. Ihre Grundnahrungsmittel sind Pommes mit Ketschup, Chips und Schokolade“ (Engin 1992: 11). Diese flüchtige Bemerkung spielt für die weitere Handlung keine große Rolle, sagt aber etwas Bedeutendes über die heranwachsende Generation der Migranten aus. Die Kinder des Protagonisten sprechen gut Deutsch, haben typisch globalisierte Ess- und Modegewohnheiten und lehnen sich strikt gegen herablassendes Benehmen seitens ihrer deutschen Nachbarn auf. Die kleine Hatice folgt noch dem Aufruf ihrer Eltern: „[S]ei tapfer, zeig der Oma, dass du sie lieb hast. Wo soll die arme Frau denn sonst Ausländer zum Füttern herholen“ (Engin 1992: 12) und schluckt entsetzt zwei Frikadellen herunter. Ihr Bruder aber beschließt, da er als „der Patriotischste“ in der Familie gilt, in seine Heimat zurückzukehren. Allerdings erweist sich die besagte Heimat als die deutsche Stadt Hamburg, wo Recep tatsächlich zur Welt kam und nach der er sich richtig sehnt. Hatice weigert sich aber in folgenden Passagen, die alte Kleidung von einem gewissen Herrn Sievers anzunehmen, und die flehenden Bitten ihres Vaters um mehr Verständnis erwidert sie mit den Worten: „Warum muss ich eigentlich immer unter diesem Schwachsinn leiden? Zieh doch selber seine alten Klamotten an“ (Engin 1992: 14). Ihr Vater will die ganze Situation retten und versichert, dass die Sachen gut für einen speziellen Anlass aufgehoben sind, was den Nachbarn sehr erfreut: „diese Sorte von Ausländern, die Dankbaren“ hat er besonders gern; im Unterschied zu Undankbaren, die als „Bande“ bezeichnet werden, die nicht mal als Ausländer taugen und abgewiesen werden sollten (Engin Interaktionen zwischen Migranten und Mehrheitsgesellschaft 209 1992: 12). Seine bitteren Worte stellen die beste Widerspiegelung der im Text zwischen Deutschen und Migranten geschilderten Gefühle dar. Die Ersteren erwarten, dass die Ausländer allezeit dankbar sind und nicht im Entferntesten auf die Idee kommen, ihre gesellschaftliche Position ändern zu wollen. Die Migranten ihrerseits müssen sich in die vorgeschriebenen Verhaltensmuster einfügen, um überhaupt akzeptiert zu werden, so wie dies z.B. die Familie des Protagonisten angeblich tut. Engin übertreibt hier, wie oft in seinen Werken (vgl. Engin 1991a: 106-110, 1991b: 121-125, Engin 1994e: 147-149) und führt die Geschichte ad absurdum, indem er das Ausländersein zur Wesenheit der dargestellten Familie macht. Die Deutschen dagegen lässt er eine Firma gründen: die im Titel angemerkte „Ausländer-Mitbenutzungszentrale“, die die Adresse des sich einfügenden Türken an andere Deutsche vermitteln soll. Bald entwerfen sie Pläne eines Preiskatalogs fürs Füttern, Kleiden, Ausführen usw. und vergessen dabei voll, dass sie über Menschen sprechen. Die hegemonialen Ansprüche der Einheimischen kommen hier also zum Vorschein paradoxerweise auch bei eigentlich so positiven Eigenschaften wie der Nächstenliebe und nachbarschaftlichen Hilfe. Weniger tröstend erscheint daher die satirische Aufteilung der Deutschen, die der Protagonist zum Beginn der Erzählung erarbeitet: die eine Hälfte wolle die Migranten mit Messern, Pistolen und Molotowcocktails umbringen, die andere mit ihrer übersteigerten Liebe (Engin 1992: 12). Für die Analyse erscheint jedoch der zweite Befund von Belang, nämlich eine neue, viel bewusstere Einstellung der jungen Migrantengeneration den vorgefundenen sozialen Konstellationen gegenüber. Hatice und ihr Bruder wollen, anders als ihr Vater, nicht mehr die Rolle der naiven Ausländer - einer Gruppe mit verminderter Teilhabe an Konsum - spielen, die in der gesellschaftlichen Praxis tief verankert ist und in der Migrantenliteratur oft ihren Ausdruck findet (vgl. Dominik 1999: 14). Sie übernehmen von der deutschen bzw. der globalisierten Kultur die Essgewohnheiten und den jugendlichen Kleidungsstil, aber darüber hinaus ändern sie auch ihre Haltung den Erwachsenen gegenüber: Anstatt der Großeltern-Generation Achtung zu schenken, was sich in der türkischen Kultur durchs Zuhören, Händeküssen und Stillsein in Anwesenheit der alten Menschen manifestiert (Dikmen 1995c: 22-34, 80-97), benehmen sie sich jetzt ganz frech. In Engins Darstellung scheinen sie die althergebrachten kulturellen Muster verlernt zu haben, eignen sich eher das antiautoritäre Benehmen ihrer deutschen Schulkameraden an, daher kann hier von Hybridisierung gesprochen werden. Neue Gewohnheiten, die offenbar von den deutschen Nachbarn übernommen werden, charakterisieren auch andere Helden der Satiren von Engin und Dikmen. Erwähnenswert sei hier etwa die peinliche Wissbegierde des Protagonisten in Dikmens Kurzgeschichte „Kein Geburtstag, keine Integration“, der unbedingt sein genaues Geburtsdatum erkunden will, und, türkische Sitten 210 Anna Warakomska nicht beachtend, ständig Fragen stellt, um schneller an Ergebnis zu kommen. Seine Mutter mahnt ihn deshalb bedächtig: „Nicht so stürmisch Şinasi, haben die Alemannen dich so kaputtgemacht, daß du nicht mal an deine Lieblingsspeise denken kannst? Ich habe gehört, daß die Alemannen nur an die Arbeit denken, ist das wahr? “ (Dikmen 1995a: 23). In einer anderen Geschichte desselben Autors wundert sich der Titelheld, „der andere Türke“, dass seine Gattin Veränderungen an seiner Person nie rechtzeitig erkennt und er sie von fremden Menschen erfahren muss. Er verbietet der Familie türkisch zu sprechen, und als er diese Sprache doch zu Hause hört, erschlägt er beinahe seine Frau. Ihre heulende Bemerkung: „Du hast dich verändert, du bist ganz anders geworden“ (Dikmen 1995e: 119) wirkt sehr überzeugend, beinhaltet jedoch auch in Bezug auf die stereotype Gewaltbereitschaft des Mannes eine sehr spöttische Komponente. Am Ende des Textes prahlt ferner der Protagonist, sich der türkischen Sitten entwöhnt zu haben: Er schenkt nämlich niemandem mehr etwas. Die Aneignung des fremden Habitus veranlasst hier eine tragikomische Konstellation. Er versucht, nach westlichen Mustern zu leben, verliert die ihm vertrauten Eigenschaften, wird jedoch weiterhin von den Einheimischen als Fremder betrachtet; Dieses Mal freilich als doppelt fremd, weil er sich in der Vorstellung der deutschen Nachbarn auch wie kein Türke mehr benehme. Daher wird er mit dieser neuen Erscheinung als „der andere Türke“ genannt. Die Anpassungsversuche an die endogenen Konventionen nehmen manchmal groteske Züge an. Ein anderer Protagonist aus Dikmens Satire „Wir tun so, als ob wir Deutsche wären“, ein gewisser Dr. Ihsan, geht zum Beispiel in seinen Integrationsbemühungen so weit, dass er beabsichtigt, nach türkischen Liedtexten zu jodeln (Dikmen 1986: 50). In Engins „Ei Spik Deutsch“ wird wiederum von Ausländern berichtet, die sich Haare blond färben und Schnurrbärte abrasieren, oder türkische Namen in vertraut klingende ändern, wie z.B. Hasan Öztürk in Gottlieb Echtdeutsch. Der Protagonist dieser Kurzgeschichte erzählt von dieser Mode Folgendes: „Mit diesen blonden Haaren und schnurrbartlos, aber dafür mit der ganzen Familie und dem vollen Ford-Transit bin ich in die Türkei gefahren, um meine jährliche Urlaubspflicht abzuleisten“ (Engin 1994c: 43). Die unternommenen Maßnamen haben hier zwar ein bestimmtes Ziel - der Ausländerfeindlichkeit vorzubeugen ‒, aber das genannte Beispiel zeigt in komischer Übertreibung die Folgen einer oberflächigen Vermischung der Gewohnheiten und, wenn man den Begriff entsprechend weit auslegt, auch der Kulturen. Viel „seriöser“ geht eine andere Figur an die Integration heran: Sie lernt die deutsche Nationalhymne perfekt, kennt alle Titel von Goethe und Schiller auswendig samt Biographien von Lassalle, Feuerbach, Hegel und Karl May. Leider helfen selbst diese Kenntnisse nicht, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlan- Interaktionen zwischen Migranten und Mehrheitsgesellschaft 211 gen (Engin 1994d: 62), die hegemonialen Ansprüche der deutschen Behörden seien halt zu groß. Ein etwas anderes Exempel der Anpassung an deutsche Gepflogenheiten findet man in Dikmens Geschichte „Freundschaft“, in der der Ich-Erzähler von seinen Nächsten u.a. berichtet, sie essen schon seit langem Schweinefleisch, „aber nur in der Familie, das wußten die anderen Türken nicht, und wir würden das ihnen gegenüber auch nie zugeben“ (Dikmen 1995d: 107). Verwandte Erfahrungen schildert ferner Necla Kelek in den Erinnerungen an ihre Jugendzeit in Deutschland (Kelek 2011: 163). Sie erzählt davon, dass sie Bratwürste als etwas in der muslimischen Kultur streng Verbotenes, Sündhaftes probierte, um sich auf eine bestimmte Weise von den Zwängen eigener Kultur zu befreien. Diese Erörterung erinnert an das Handeln von Dikmens Helden, die sich die Essgewohnheiten ihrer deutschen Nachbarn längst aneigneten, aber aus traditionellen Gründen, dies nicht enthüllen wollen. In eine umgekehrte Richtung führt Dikmens Erzählung „Der Kebabstammtisch“ die Leser, in der der Protagonist scherzhaft vom Staat fordert, im Grundgesetz folgende Änderung vorzunehmen: „der Staat ist verpflichtet, jedem Deutschen täglich eine Portion Kebab zu besorgen“ (Dikmen 1995f: 151). Die Argumentation dieses „hegemonialen“ Postulates, diesmal seitens der Migranten, bildet einen Versuch, die deutsch-türkische Koexistenz auf friedlichem Weg zu gestalten und zugleich eine witzige Abrundung der Hybridisierungsvorstellungen: Der Kebab ist nicht nur ein Kulturgut, eine Folklore, eine Gaumenfreude, sondern auch eine Verständigungsmöglichkeit, eine Brücke sozusagen. Ich kenne keinen Deutschen, der nach einer Portion Kebab seine Feindlichkeit dem Türken gegenüber aufrechterhalten hat (Dikmen 1995f: 151). 5 Zusammenfassung Wie ersichtlich wurde, ist die Migrantenliteratur in Deutschland theoretisch schwer zu fassen, da sie einerseits in bestimmten Themenkreisen ihr Interesse fokussiert, andrerseits jedoch gern eine Etikettierung meiden würde. Aus ihr kann der Leser viel über die Probleme der Migranten erfahren sowie die Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens Revue passieren lassen. Die türkischstämmigen Autoren Şinasi Dikmen und Osman Engin, die in Deutschland schreiben und sich einer satirischen Sprache bedienen, thematisieren in ihren Kurzgeschichten sehr viele Fragen des Zusammentreffens der Kulturen. Eine ähnliche Arbeit leisten in ihren Sachbüchern Necla Kelek und Seyran Ateş, obwohl sie eher die muslimische Tradition hinterfragen und sich kritisch mit den 212 Anna Warakomska ihrer Meinung nach unzeitgemäßen Geboten des Patriarchats auseinandersetzen. Die Autorinnen plädieren für Demokratie, Liberalismus und Gleichberechtigung und aus ihren doppelten kulturellen Erfahrungen, die sie als Bereicherung empfinden, schöpfen sie Kraft, um sich mit der türkisch-deutschen Problematik auseinanderzusetzen. Den hybriden Formen des Zusammenlebens setzen sie aber feste Grenzen, indem sie sich auf der Seite der Aufklärung und der abendländischen Menschenrechte positionieren. Kelek macht dies, indem sie z.B. die patriarchalischen Gesinnungen ihrer Landsleute in der Türkei, aber auch in Deutschland scharf kritisiert (Kelek 2006, 2012: 169ff.) sowie Zweifel am vorschnellen Beitritt der Türkei zur EU äußert, den sie als Zwangsheirat zu bezeichnen bereit ist (Kelek 2009: 321). Ateş polemisiert mit der Idee einer multikulturellen Gesellschaft und sieht die Grenzen der Toleranz auch für differente Kulturen zumindest für den deutschen Raum in der Verfassung der Bundesrepublik umrissen (Ateş 2010: 14). Sie verteidigt also die demokratischen Lösungen der westlichen politischen Systeme und tut dies aus Sorge, aber zugleich, wie sie selbst behauptet, aus Verantwortung für hier lebende Gesellschaften (Ateş 2010: 14). In den analysierten Satiren von Dikmen und Engin findet man keine so fest gesetzten Linien der Abgrenzung. Die Autoren schildern die täglichen Bemühungen der Migranten, mit sich selbst und ihren Problemen im Gastarbeiter- und dann Einwanderungsland klar zu kommen. Häufig werden in diesen Kurzgeschichten die gesellschaftlichen Konstellationen thematisiert: Auf der einen Seite stehen meistens die akkuraten Deutschen mit ihren hegemonialen Ansprüchen, wie etwa dem Wunsch nach Unterordnung, Anpassung und Gehorsam seitens der Migranten, auf der anderen Menschen, die keine Forderungen an die deutsche Gesellschaft stellen, Befehlen folgen und sich lediglich nach Zuwendung und friedlichem Zusammensein sehnen. Allerdings zeigen beide Autoren sowohl Einheimische wie Migranten in satirischer Übertreibung und zwingen auf diese Weise zum Nachdenken über klischeehafte Vorstellungen beider Seiten übereinander. So wird z.B. das Stereotyp über Deutsche, dass sie eben von ihren türkischen Nachbarn immer Fügsamkeit verlangen, gegen einen allzu geizigen Türken ausgespielt, umgekehrt aber auch das angebliche Streben nach Integration seitens der deutschen Bevölkerung oft einfach ausgelacht und als ein Schein entpuppt. Die Frage einer kulturellen Hybridisierung lässt sich in den analysierten Satiren vor allem an Beispielen der Mimikry erörtern. Auch hier spielen sonderbare Vorstellungen und fantasievolle Sprache eine wichtige Rolle. So werden die Leser zum Beispiel mit Protagonisten konfrontiert, die sich Schnurrbärte blond färben, oder die türkischen Nachnamen in deutsche umtauschen, etwa Hasan Öztürk in Gottlieb Echtdeutsch. Die Wahl der Namen und äußerlichen Eigenschaften stimuliert zum Lachen, zwingt aber zugleich zur Reflexion, da Interaktionen zwischen Migranten und Mehrheitsgesellschaft 213 die Figuren, die solche Änderungen erfahren, im Kern die gleichen bleiben. Die Vermischung der Gewohnheiten oder Eigenarten erfolgt im Bereich des Aussehens und kulinarischer Präferenzen, die manchmal einen tiefer greifenden Charakter signalisieren - manche Protagonisten bekennen sich zum Schweinefleischessen, obwohl sie Muslime sind. In „Brautbeschauer“ von Dikmen, wo eigentlich der Umtausch der Kulturen und keine Hybridisierung geschildert wird (die deutsche Familie konvertiert zum Islam), ist Frau Pehlivan, die Mutter der Braut, am interessantesten - sie bleibt bei ihrem Glauben, will aber unter dem Einfluss von Frau Grünberger nach deutschem Muster leben: abends alleine ausgehen, mitentscheiden usw. (Dikmen 1995c: 92). Eine reale Chance auf neue Lebensformen haben vielleicht nur die Repräsentanten der jungen Generation. Sie akzeptieren die vorgefundenen gesellschaftlichen Rollen nicht mehr, haben andere Vorstellungen vom Leben und ihrem Platz in der Gesellschaft. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass dem gesuchten gesellschaftlichen Konsens in den dargestellten Welten viel im Wege steht: die Türken ahmen die Deutschen nach, werden von ihnen aber weiter abgelehnt. Die ironischen Pointen der Satiriker, die für bestehende Probleme sensibilisieren, kann man daher als Abhilfe für die Überwindung der Dissonanzen verstehen. 6 Literatur Ateş, Seyran (2010): Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können. Berlin. Ateş, Seyran (2011): Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift. Berlin. Ateş, Seyran (2013a): Heimat und Wurzeln. In: Wahlheimat. Berlin. S. 29-62. Ateş, Seyran (2013b): Warum ich die türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben habe. In: Wahlheimat. Berlin. S. 7-28. Bucakli, Özkan/ Reuter, Julia (2014): Grenzen der Hybridisierung. In: www.gradnet.de/ papers/ pomo02.papers/ hybridgrenzen.pdf (Stand: 31.03.2014). Chiellino, Carmine (Hrsg.) (2000): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Stuttgart/ Weimar. Dominik, Katja u.a. (Hrsg.) (1999): Angeworben, eingewandert, abgeschoben. Ein anderer Blick auf die Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland. Münster. Griem, Julika (2008): Hybridität. 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Das beiderseitige Interesse ist jedoch in Polen und Deutschland nicht gleich stark, wovon die Tatsache zeugt, dass deutsche Spuren in der zeitgenössischen Kunst in Polen eine besondere Aufmerksamkeit erwecken, und polnische in der deutschen Kunst eine Randerscheinung bleiben. Im Gegensatz zu polnischen Künstlern, die sich immer noch mit der Geschichte auseinandersetzen, fokussieren sich die Deutschen stärker auf die Gegenwart. Deutsche wie polnische Gegenwartskunst folgt weder einer Mode noch einer Form. Sie ist offen, mehrdeutig und problematisiert die schwierigsten Themen unserer gemeinsamen Geschichte. Ihr Sinn soll jedoch nicht nur an geschichtliche Ereignisse begrenzt werden. Der Bedeutungsgehalt deutscher und polnischer Kunst beschränkt sich nicht auf das Lokale, denn die Künstler sprechen über sich selbst, um dadurch über andere zu sprechen. Der Mensch leidet an einer fatalen Spätzündung: Er begreift alles erst in der nächsten Generation (Stanisław Jerzy Lec). 1 Einleitende Worte Die Beziehungen zwischen Deutschland und anderen europäischen Ländern sind über Jahrhunderte durch zahlreiche Beispiele wechselseitigen kulturellen Austausches gekennzeichnet. Dieser Austausch hat dauerhafte Spuren in der historischen Landschaft europäischer Völker hinterlassen. „Spuren, die […] tief und beständig, aber vergessen und zugeschüttet sind. Es gibt so viele Beispiele für Gemeinsamkeiten, dass ein längeres Studium nötig wäre, um das Wissen nachzuholen, was verloren ging und begraben wurde“ (Bartoszewski 2011: 9). 218 Dominika Wyrzykiewicz Die Beziehungen zwischen den Nachbarn Polen und Deutschland, die sich trotz der geographischen Nähe und kulturellen Verwandtschaft weiterhin fremd sind, sind ein Phänomen, das seine Widerspiegelung in der zeitgenössischen Kunst findet. Werke der polnischen und der deutschen Künstler sind nicht frei von Vorurteilen und Stereotypen. Im Gegensatz zu polnischen Künstlern, die immer noch die Geschichte verarbeiten und Narben heilen, setzten deutsche in ihrem Schaffen stärker in der Gegenwart an. Vor diesem Hintergrund bestätigt der vorliegende Beitrag die These, dass das beiderseitige Interesse von Polen und Deutschen nicht gleich stark ist und die Faszination für die westliche Kultur immer noch dominiert. Daraus ergibt sich die zentrale Feststellung, dass deutsche Spuren in der zeitgenössischen polnischen Kunst eine besondere Brisanz zeigen. In Anbetracht dieser Tatsache scheint eine Untersuchung der Motive und Themen, welche die gegenseitigen Kunstbeziehungen beeinflussen, gerechtfertigt. 2 Begriffserklärung 2.1 Kunst In der Gegenwartskunst bestimmt die Dekonstruktion die für die Kunst grundlegenden Begriffe wie ‚Künstler‘, ‚Kunstwerk‘ oder ‚Kunst‘. Diese Re-Definierung verläuft auf der Grundlage der Beobachtungen von aktuellen künstlerischen Tatsachen. Alles, was heutzutage als ‚Kunst‘ bezeichnet werden kann, schöpft aus der Moderne, meint der polnische Kunstkritiker Łukasz Guzek (2007). „Ist die Moderne unsere Antike? “ fragt im gleichen Sinne Mark Lewis in seinem Essay im Katalog der „Documenta“ in Kassel von 2007. Die Faszination an der Moderne mag damit verbunden sein, dass niemand genau weiß, ob sie ein abgeschlossenes Kapitel darstellt oder nicht. Sie schien zwar nach den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts kompromittiert zu sein, hat aber dennoch die Vorstellungen vieler Menschen von modernen Formen und Visionen tief durchdrungen. [E]s scheint, als stünden wir zugleich außerhalb und innerhalb der Moderne. Als seien wir einerseits von ihrer tödlichen Gewalt angewidert und andererseits von ihrem zutiefst unbescheidenen Anspruch auf Universalisierbarkeit angezogen. Gibt es, allen Widerständen zum Trotz, doch so etwas wie einen gemeinsamen Horizont für die Menschheit - ein Leben, das weder durch Differenz noch durch Identität bestimmt ist? Damit beschreibt Roger M. Buergel (2005) den Zustand der Gegenwartskunst. Deutsch-polnische Motive in der Gegenwartskunst 219 Zeitgenössische Künstler, ganz gleich aus welchem Land sie kommen mögen, versuchen für ihre Kunstwerke eine entsprechende Existenzform im Rahmen unserer Epoche zu finden. Sie schaffen Werke, die keinen Anspruch auf ewige Beständigkeit haben, was die Gegenwartskunst von früheren Epochen unterscheidet. Die benutzten Materialien veranschaulichen und übermitteln die Botschaft der Vergänglichkeit dieser Welt sowie über sinnlose Bemühungen sie aufzuhalten. Sowohl deutsche als auch polnische Gegenwartskunst kann in diesem Sinne als Exemplifikation des Gedankens von Zygmunt Bauman dienen, dass Kunst ein wichtiger Bestandteil unser Existenz, Erfahrung, unseres Weltverständnisses ist und ihre Beständigkeit auf den Emotionen und Gefühlen beruht, die ein Kunstwerk bei den Zuschauern weckt (Bojarska 2013: 39). 2.2 Multi-, Inter- und Transkultur Um die deutsch-polnischen zeitgenössischen kulturellen Beziehungen zu verstehen, ist es zuerst angebracht, die Differenzen zwischen beiden Völkern zu begreifen sowie die Begriffe ‚Multi-‘, ‚Inter-‘ und ‚Transkultur‘ zu definieren. Um eine andere Kultur als Bereicherung für die eigene zu verstehen, sollen Multi-, Inter- und Transkultur, die in dem vorliegenden Beitrag in Anlehnung an Wolfgang Welsch (1995: 39-44) erfolgt, begrifflich unterschieden werden. Welsch betrachtet Kulturen als getrennte Inseln, was mit einer Hierarchisierung der Kulturen verbunden ist. Ein gemeinsamer kultureller Austausch wird aber erst dann möglich, wenn man davon ausgeht, dass Kulturen gleichrangig sind. Im Kontext der deutsch-polnischen Kulturbeziehungen ist es daher angebracht, statt von Multikulturalität, die als das Nebeneinander verschiedener Kulturen innerhalb eines sozialen Systems verstanden wird (Lüsebrink 2008: 16), von Interkulturalität zu sprechen. Der Begriff ‚Interkulturalität‘ „betrifft […] schwerpunktmäßig Resultate und Konsequenzen interkultureller Kommunikationsvorgänge“ (Lüsebrink 2008: 14), alle Phänomene, die aus dem Kontakt zwischen unterschiedlichen Kulturen in Bezug auf Sprache, Kultur und Kunst (Literatur, Theater, bildende Kunst) entstehen. Obwohl auch diese Definition von voneinander abgegrenzten Kulturen ausgeht, betont sie die Rolle des kulturellen Austausches, der zur Veränderung der eigenen Kultur führen kann (Molzbichler 2005: 160f.). Die Grenzen zwischen Multi- und Interkulturalität sind insofern nicht klar, als dass man zwar wertvolle Aspekte der anderen Kulturen sieht, doch der eigenen einen ersten Platz zuweist. Zum besseren Verständnis des analysierten Themas ist es wohl nötig, das Konzept der Transkulturalität zu berücksichtigen, das zur Bezeichnung pluraler kultureller Identitäten, die durch die Vernetzung vieler Kulturen entstanden 220 Dominika Wyrzykiewicz sind, dient. Nach Welsch sind die Kulturen im Transkultur-Konzept vernetzt und durchgemischt: Sie haben eine neuartige Form angenommen, die durch die klassischen Kulturgrenzen wie selbstverständlich hindurchgeht. Das Konzept der Transkulturalität bezeichnet diese veränderte Verfassung der Kulturen und versucht daraus die notwendigen konzeptuellen und normativen Konsequenzen zu ziehen. […] Es befürwortet nicht Separierung, sondern Verstehen und Interaktion. Gewiss enthält dieses Konzept Zumutungen gegenüber liebgewonnenen Gewohnheiten - wie die heutige Wirklichkeit überhaupt. Im Vergleich zu anderen Konzepten skizziert es aber den am ehesten gangbaren Weg (Welsch 1995: 42, 44). Multi-, Trans- und Interkulturalität sind miteinander eng verknüpft. Der Kulturtransfer z.B. von Filmen, Kunstwerken, Theaterstücken in anderen Kulturen ist häufig mit einer interkulturellen kulturspezifischen Adaptation verbunden und betrifft „die Übertragung von Ideen, kulturellen Artefakten, Praktiken und Institutionen aus einem spezifischen System gesellschaftlicher Handlungs-, Verhaltens- und Deutungsmuster in ein anderes“ (Lüsebrink 2008: 18). Mit dem Kulturtransfer ist auch die Frage der Interpretation von Kunstwerken verschiedener Kulturen untrennbar verbunden. Im Bereich der Kunst steht sowohl den Künstlern als auch den Rezipienten vieles zur Verfügung, u.a. Bilder und Worte, aus denen sie unterschiedliche Werke schaffen und auf je eigene Art und Weise interpretieren können. Jedes Kunstwerk gibt ein Spektrum von Interpretationsmöglichkeiten, was in der Praxis bedeutet, dass es jeder für sich selbst entdecken und ablesen kann. Diese persönliche Interpretation ist jedoch kulturbedingt. Es ist an dieser Stelle sinnvoll, Franz Boas - den Begründer der amerikanischen Kulturanthropologie - zu berücksichtigen, der in seinen Werken den Begriff ‚Kulturbrille‘ als Bezeichnung für die Art und Weise, wie jeder von uns die Welt erkennt und interpretiert (Boas 1940), benutzt. Als Exemplifizierung der Idee des o.g. Kulturtransfers können die kulturellen Kontakte zwischen Polen und Deutschland dienen, die im Folgenden skizzenhaft dargestellt werden. 3 Die deutschen Spuren in der polnischen Gegenwartskunst Die Erinnerung an die tragischen Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs zeigt eine nicht nachlassende Aktualität innerhalb der heutigen Konjunktur des historischen Gedächtnisses in Ostmitteleuropa. Die Prozesse des Erinnerns, die nach Marszałek (2010: 9) häufig eine besondere Form widersprüchlicher Anamnesis annahmen, wurden durch die tiefgreifende Revision der Geschichte nach Deutsch-polnische Motive in der Gegenwartskunst 221 der demokratischen Wende 1990 ausgelöst und führten zu einer gesellschaftlich-kulturellen Auseinandersetzung mit dem Erbe des 20. Jahrhunderts. Die öffentlichen Debatten über die bisher tabuisierte und politisch instrumentalisierte Vergangenheit wurden „von den Erfordernissen einer sich seit den 1990er Jahren formierenden gesamteuropäischen Gedächtniskultur überlagert“ (Marszałek 2010: 10). 3.1 Erinnern und Vergessen Das Vergessen ist ein Spiegelbild des Gedächtnisses, sowohl des Individuums als auch der Massen (Grabowska 2007: 360). Es ist unmöglich und unerwünscht, sich an alles zu erinnern, wovon schon die griechische Philosophie des 2. Jahrhunderts unter dem Begriff ‚amnestos‘ spricht (Meier 1996: 938). ‚Amnestos‘ bezog sich auf einzelne Personen sowie auf die gesamte Gesellschaft und bedeutete das Vergessen aller Ungerechtigkeiten, Hass und Gewalttaten. Auch Nietzsche betrachtete das Vergessen als eine kreative Kraft und betonte, dass das Leben ohne Vergessen eine totale Katastrophe wäre, denn „Erinnerung ist nur möglich auf der Grundlage des Vergessens“ (Fauser 2011: 119). In der europäischen Kultur galt diese Idee bis zum 19. Jahrhundert (Burger 2001: 139). Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Konzeption der Erinnerung, die den Menschen helfen soll, sich neu zu definieren und zu begreifen, wer sie eigentlich sind. Gary Smith und Emrich M. Hinderk weisen in ihrem Werk „Vom Nutzen des Vergessens“ nach, dass Erinnern und Vergessen komplementäre Funktionen des Gedächtnisses sind (Smith/ Emrich 1996). Die Geschichte, die dank des Gedächtnisses existiert, sollte nach Bauman (Bojarska 2013: 25) nicht als ein Friedhof für vergangene Geschehnisse betrachtet werden, sondern als etwas, das immer noch lebt. Die Aufgabe der Kunst ist es, ähnlich wie der Philosophie, ihre Zeit „in Netz zu fangen“ (Bojarska 2013: 21). Über die Gedächtnisleistung des Kunstwerks hat in diesem Sinne auch Aby M. Warburg (1866‒1929) im Gegensatz zu Maurice Halbwachs (1877‒1945), der die These von lebendigem Gedächtnis und toter Geschichte entwickelte, geschrieben (Fauser 2011: 116-120). Die Idee Baumans gibt den Geist der heutigen deutschen und polnischen Kunst wieder, die zu einem bedeutenden Element unserer Lebenserfahrung, unseres Weltverständnis und unserer Betrachtungsweise wird. Diese Kunst ist auf den Rezipienten fokussiert und weckt seine Emotionen und Erlebnisse, die erst dadurch zu einem wirklichen Kunstwerk werden. Das Werk ist, vor allem wegen der Materialien, aus denen es geschaffen wurde, kurzlebig, aber die Erlebnisse des Zuschauers sind beständig (Bojarska 2013: 22). 222 Dominika Wyrzykiewicz Die Aufgabe zeitgenössischer Künstler aus Polen und Deutschland ist es, die Vergangenheit so darzustellen, dass sie die Emotionen der zeitgenössischen Rezipienten weckt. Obwohl die Künstler scheinbar permanent Themen berühren, die stark in der Geschichte der beiden Völker aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs verankert sind, sprechen sie dadurch über die gegenwärtige Zeit. Bauman greift in diesem Kontext auf die Gedanken von Martin Heidegger über Dasein und Sein in „Sein und Zeit“ zurück, in der sich der Philosoph auf die Suche „nach dem Sinn von Sein“ begibt (Heidegger 1993: 5). Jeder Mensch steckt täglich in verschiedenen Formen des Daseins, die ihm den Zugang zum Sein erschweren. Um es zu sehen und das Wesen der Welt zu erkennen, muss der Mensch eine Lücke in der Mauer des Daseins machen, was, obwohl es nicht einfach ist, zu einer ständigen Aufgabe deutscher und polnischer Künstler gehört (Bojarska 2013: 20). 3.2 Gute Nachbarschaft? In Deutschland ist das Wissen über den polnischen Nachbarn gering. Doch ist Polen „kein exotisches Land, das es in Deutschland erst zu entdecken gilt“, sagte die in Warschau geborene und in Berlin lebende Joanna Warsza, die mit Artur Żmijewski die Berlin-Biennale 2012 kuratiert hat (Peters 2012); trotzdem hat es viel Zeit gekostet, bis die Werke polnischer Künstler im Westen überhaupt bemerkt wurden. Heutzutage sind in vielen deutschen Städten zahlreiche Ausstellungen junger polnischer Künstler wie Katarzyna Kozyra, Sławomir Elsner, Piotr Uklański oder Paweł Książek zu sehen. Sie vereinen Schöpfer visueller Kunst aus Polen und Deutschland und fördern das gegenseitige Verstehen und Kennenlernen. Die Künstler beider Länder greifen dabei immer mutiger die fest verankerten gegenseitigen Stereotype an, die über Jahre hinweg aufgebaut wurden und endlich zerfallen müssen. Zu ihnen gehören auf polnischer Seite das Stereotyp der Nation, die mehr als alle andere gelitten hat, des katholischen Polen, der polnischen Mutter; und auf deutscher Seite das eines Deutschlands als Land der Ordnung und Pünktlichkeit, um nur die wichtigsten zu nennen. Die gemeinsamen deutsch-polnischen Ausstellungen und künstlerischen Initiativen, wie z.B. die Ausstellung „Tür an Tür. Polen-Deutschland 1000 Jahre Kunst und Geschichte“, die 2010 in Gropius-Bau präsentiert wurde sowie die in Kreuzberg-Bethanien gezeigten „Polish“ (2010) und „Gute Nachbarschaft? “ (2011) stellen das Wechselgefälle der deutsch-polnischen Beziehungen dar und bringen den Zuschauern die jungen Künstler aus den beiden Ländern näher. Wir sind uns fremd geblieben. Deshalb haben wir diese anhaltende Sehnsucht nach Normalität. Was wissen wir von unseren Nachbarn? Gibt es Konflikte? Wie Deutsch-polnische Motive in der Gegenwartskunst 223 versöhnt sich ein jeder von uns mit seiner Herkunft? Was interessiert Polen und Deutsche am jeweiligen Gegenüber? haben die Organisatoren in der Einladung zur Ausstellung „Polish“ in Kreuzberg-Bethanien geschrieben (www.bethanien.de/ exhibitions/ polish/ , Stand: 01. 07.2014). Im Kontext dieser Konfrontation könnten weitere Fragen gestellt werden: Wie ist der Einfluss der geographischen, politischen, finanziellen, genealogischen und historischen Umstände auf den Prozess des Schaffens? Wie sind die Motivationen und Inspirationen der Künstler? Welche Rollen spielen historische und kulturelle Andersartigkeit? Lassen sich diese Unterschiede auch in der Auffassung der Künstler gegenüber ihren Kunstwerken feststellen? Die deutsch-polnischen Nachbarschaftsbeziehungen, beruhen - auch im Kontext der Kunst - darauf, was Jarosław Lubiak nach Lacan als beiderseitige „Verkenntnis“ bezeichnet (2011). Dieser Begriff bedeutet, dass „das Subjekt seine Position gegenüber dem Anderen nicht erkennt“ (2011: 12) und scheint für die analysierte Problematik in Anbetracht der Tatsache des Mangels faktischen Kennenlernens sehr treffend zu sein. Die „Verkenntnis“ hat jedoch in den beiden Ländern andere Quellen. In der polnischen Kunst sind die Vorurteile gegenüber den Deutschen für die Auto-Stereotype und Selbstkreation notwendig. In der deutschen geht es in geringerem Maße um Vorstellungen, höchstens um Desinteresse. Polnische Künstler verschiedener Generationen schaffen Werke mit deutschen Motiven aus eigener Initiative, deutsche Künstler meistens nur dann, wenn sie zur Teilnahme an einer Ausstellung eingeladen werden (Lubiak 2011: 13). Zu den Aspekten, die in der deutsch-polnischen Kunst ausdifferenziert werden können, gehören u.a.: 3.2.1 Zweiter Weltkrieg und Holocaust Das Thema des Zweiten Weltkriegs ist in der polnischen Kunst noch nicht ganz verarbeitet und ist als Ursprung von vielen Vorurteilen angesehen. Jüngste Künstler wie Leszek Knaflewski - „Good mit uns“ (2004), die Gruppe Twożywo - „Polnische Schweine“ (2006) oder Marcin Berdyszak „Militärfrüchte“ (2003), Jerzy Kosałka - „Wir verzeihen nicht“ (2008) versuchen den damit verbundenen Druck mit Witz abzubauen, andere wie Rafał Jakubowicz - „Arbeitsdisziplin“ (2002), Leszek Lewandowski - „Mein Großvater war in der Wehrmacht“ (2007), Robert Maciejuk - „ohne Titel“ (2000) kommentieren die Realität mit Hilfe von Anknüpfungen an den Zweiten Weltkrieg. Im Kontrast zu den genannten Kunstwerken, die ein sehr ernstes Thema mit einer Dosis Humor verarbeiten versuchen, steht der deutsche Künstler Tobias Hauser mit seinem Werk „Ein deutsches Haus“ (2008), das ein fiktives Krematorium zeigt. 224 Dominika Wyrzykiewicz Der Holocaust als ‚Trauma der europäischen Zivilisation‘ (vgl. Kertész 2003: 216) definiert heutzutage den Erinnerungsrahmen auf der ganzen Welt, besonders jedoch in Osteuropa. In seinem Buch „Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust“ hat Zygmunt Bauman festgestellt: Der Holocaust war kein Bild an der Wand, sondern ein Fenster, durch das Dinge sichtbar wurden, die normalerweise unentdeckt bleiben. Und was zum Vorschein kam, geht nicht nur die Urheber, die Opfer und die Zeugen des Verbrechens etwas an, sondern ist von größter Bedeutung für alle, die heute leben und auch in Zukunft leben wollen (Bauman 2002: 8). In keinem anderen osteuropäischen Land war und ist der Holocaust so intensiv im öffentlichen Diskurs verhandelt wie in Polen, das im „Epizentrum des Verbrechens“ lag (Grynberg 2002: 142). Als Beleg für diese Feststellung können u.a. die Werke von Mirosław Bałka, Zbigniew Libera oder Artur Żmijewski gelten. Die drei Künstler thematisieren in ihren Werken den Holocaust, wobei sie zu den modernen Ausdrucksmitteln greifen, wie Video-Aufnahmen, Reportage, Performance und vieles mehr. Sie sehen die gegenwärtige Welt und verbinden die aktuellen Ereignisse und Emotionen mit der Vergangenheit. In ihren Werken durchdringen sich das Bild und das Wort. Die Vergangenheit gehört zu den Lieblingsthemen von Mirosław Bałka. Seine Arbeitsweise, während der er auf einer Wand die ihn interessierenden, beunruhigenden, ihm wichtige Sätze, Zeitungsabschnitte, Bilder, Photographien aufhängt und überraschende Konnotationen, Bindeglieder findet, ist in gewissem Sinne dem Projekt „Der Bilderatlas Mnemosyne“ (1924-1929) Warburgs ähnlich. Dieser heftete Fotografien von Kunstwerken verschiedener Herkunft und Art auf Tafeln, weil er ihre Nachbarschaft oder Gegensätzlichkeit erproben wollte. Diese Collage erläutert seine Theorie des Bildes und des sozialen Gedächtnisses der Kunst (Fauser 2011: 120). Bałka setzt in seinen Werken einen starken Focus auf die kollektive Erfahrung der gebrochenen deutsch-polnischen Geschichte und die Verbrechen an der Menschheit im 20. Jahrhundert. Seine Videoprojektionen „BlueGasEyes“ (2004) und „Carrousel“ (2004), für die der Zyklus „Winterreise“ von Schubert inspirierend war, geben den Filmen einen konkreten Ort. Durch seine nicht dokumentarischen Videoarbeiten komponierte Bałka „ein Requiem auf die Unorte des Holocausts in Polen aus einer niemals unschuldigen Perspektive der Nachgeborenen“ (Sonna 2012). Auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten inszenieren polnische Künstler Geschichte neu. Nicht selten schaffen sie damit Kunstwerke, die stereotypes Denken, Ideale und Heiligkeiten angreifen und bei den Zuschauern heftige Reaktionen hervorrufen, wie z.B. im Falle des Videoprojekts von Artur Żmijewski „Hasch mich“ (1999), das eine Gruppe nackter Männer und Frauen Deutsch-polnische Motive in der Gegenwartskunst 225 unterschiedlichen Alters zeigt, die zum Teil in einer Gaskammer des Konzentrationslagers Auschwitz und zum Teil in einem neutralen Wohngebäude Fangen spielen, oder in dem Film „80064“ (2004), in dem er die verblasste Lagernummertätowierung des Auschwitzüberlebenden Józef Tarnawa auffrischen ließ. Die kontroversen Arbeiten Żmijewskis können als provokative Kommentare zum heutigen Umgang mit dem historischen Gedächtnis fungieren. Er inszeniert in seinen Projekten die Geschichte neu, und der Zuschauer fühlt sich „wie in einer psychotherapeutischen Behandlung, bei der man zu den traumatischen Ereignissen zurückkehrt, die zur Entstehung eines Komplexes geführt haben. Diese Ereignisse werden szenisch rekonstruiert, fast wie im Theater“ (Lipska 2012). 3.2.2 Fernes - nahes Land - gegenseitige Unkenntnis Obwohl Deutschland und Polen nahe Nachbarn sind, wissen sie wenig voneinander. Der direkte Kontakt mit den exotischen Einheimischen beider Länder kann zu einem echten Erlebnis werden. Dies dient vor allem vielen deutschen Künstlern als ein Thema mit Ewigkeitscharakter: Anke Beims - „Die polnischen Schwiegereltern“ (2010), Constantin Hartenstein - „Smingus Dyngus“ (2006), Jan Poppenhagen - „M wie Moabit“ (2003-2008) oder Józef Rybakowski - „Die gewöhnlichen Deutschen“ (1987-2006) präsentieren diese gegenseitige, faszinierende, obwohl manchmal groteske Exotik. Zu der Gruppe von Künstlern, die in ihren Werken die gegenseitige Unkenntnis darstellen, können die Gruppen Łódź Kaliska - „Der Mord an Hindenburg“ (1995) oder Wunderteam - „Die Deutschstunde“ (2005) gezählt werden. Andrzej Wasilewski - „Ping-pong“ (2010), Tom Schön und Kamil Kuskowski - „Polen-Deutschland“ (2010) thematisieren das Problem der deutsch-polnischen Beziehungen, die so sensibel und voller Stereotypen sind, dass sie mit einem Minenfeld oder unendlichem Ping- Pong-Spiel verglichen werden können (Lubiak 2011: 10-17). 3.2.3 Austausch Bei diesem Thema geht es einerseits um den unmöglichen Austausch und die schwierige oder unmögliche Kommunikation, die mit der obengenannten Unkenntnis verbunden sind sowie um den effektiven Güteraustausch. Künstler wie Piotr Jarodzki - „Polentransport“ (1997), Dietmar Schmale „Restitution kultureller Austausch“ (2010), Clemens Wilhelm - „Sie sucht ihn“ (2010) stellen sich in Anlehnung an Joseph Beuys, der 1981 Polen Werke geschenkt hat, die Frage: Was haben wir uns gegenseitig anzubieten? Die Schlussfolgerung ist für 226 Dominika Wyrzykiewicz Polen wenig positiv, denn das einzige, was sie den Deutschen anzubieten haben, sind billige Arbeitskräfte oder heiratswillige Frauen, die mit einem deutschen Mann an ihrer Seite nach einer besseren Zukunft streben. Die junge Künstlerin Katarzyna Kozyra beschäftigt sich in „Summertale“ (2008) mit einer modernen Adaptation der Märchen der Brüder Grimm sowie auch mit „Freak Orlando“ (1981) von Ulrike Ottinger. Ihr Märchen betrifft die Veränderlichkeit sozialer und sexueller Rollen, in dem es niemandem gegeben ist, für immer eine Frau oder ein Mann zu bleiben. 3.2.4 Verarbeitung Deutsche und polnische Künstler wie Monika Kowalska, Grzegorz Kowalski und Zbigniew Sejwa - „Erinnerungen aus der Stadt L.“ (2004), Laura Pawela - „ohne Titel. Friedrich“ (2008) konfrontieren sich mit den traumatischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts, um symbolisch verlorene Erinnerungen wiederherzustellen oder sogar wiedergutzumachen und dadurch vielleicht die Zukunft zu ändern. Als eine besondere Art der Verarbeitung der Vergangenheit kann die interaktive Visualisierung Aleksandra Polisiewiczs aus Warschau nach der Verwirklichung der nationalsozialistischen und stalinistischen Umbaupläne in „Wartopia“ (2006) sowie Zbigniew Liberas „Rennradfahrer“ (2002) aus der Serie „Positive“ gesehen werden. Libera transponiert das Foto, auf dem die Soldaten der Wehrmacht 1939 einen Schlagbaum an der polnischen Grenze demontierten, in ein Foto von Radfahrern, die ein schrankenähnliches Hindernis entfernen. Auf diese Weise versucht er sich dem Bedeutungsverlust der historischen Ereignisse zu widersetzen, der mit ihrer Vervielfältigung verbunden ist (Lubiak 2011: 100). Polnische Künstlerinnen und Künstler sind seit längerer Zeit im Kontext deutscher Ausstellungen präsent. Ihre Kunst dient als Inspiration für europäische Künstler. Artur Żmijewski, Zbigniew Libera, Marta Deskur, Paweł Althamer, Joanna Rajkowska, Mirosław Bałka und Wilhelm Sasnal schaffen Werke aktueller Themen zu den Orten, an denen sie leben. Der Bedeutungsgehalt ihrer Kunst lässt sich jedoch nicht auf das Lokale beschränken, denn sie sprechen über sich selbst, um dadurch über andere zu sprechen. 4 Abschließende Bemerkungen Władysław Bartoszewski schrieb im Geleitwort zu dem Ausstellungskatalog „Tür an Tür. Polen-Deutschland 1000 Jahre Kunst und Geschichte“: Deutsch-polnische Motive in der Gegenwartskunst 227 Die Erinnerung an die gemeinsame kulturelle Tradition und die Erinnerung an die Opfer der tragischen Geschichte verleihen unserer heutigen Partnerschaft einen besonderen Sinn. Sie tragen eine besondere Verpflichtung, die Gemeinschaft und die gute Nachbarschaft im Rahmen des vereinten Europas zu stärken (2011: 10). Die Kunst ermöglicht es, gemeinsame Sprachen und Themen zu finden, die nicht mehr national oder isoliert wirken. Die zeitgenössischen jungen Künstler aus Polen und Deutschland operieren geschickt mit der nicht-epigonalen internationalen Sprache der Kunst. Im Fokus ihrer Kunst, die als Instrument der Gesellschaftsanalyse dient, liegt der Umgang mit nationalen Mythen, Vergangenheit und Gegenwart. Die Methoden und Mittel, die sie dazu verwenden, sind meistens „kurzlebig“, aber die Denkanstöße und Emotionen der Zuschauer lebenslang. Deutsche und polnische Gegenwartskunst folgt weder einer Mode noch einer Form. Sie ist offen, mehrdeutig und stellt sich den schwierigsten Themen unserer gemeinsamen Geschichte. Ihr Sinn sollte jedoch nicht nur auf historische Ereignisse begrenzt werden. Das Ziel der vorliegenden Analyse war es, mit einer exemplarischen Darstellung sowohl polnischer als auch deutscher Künstler einen Beitrag für ein umfassendes Verständnis der deutsch-polnischen Kunstbeziehungen zu leisten. Zitate aus einer Kultur lassen sich nicht Wort für Wort übersetzen, doch der Umgang mit deutsch-polnischen Spuren in der Gegenwartskunst bietet einen guten Anlass, um gegenseitiges Interesse zu wecken und eine gemeinsame Zukunft zu bauen. Eine zivilisierte Gesellschaft charakterisiert sich, wie es Jean François Lyotard in „The other’s rights“ (1993: 141) formuliert hat, durch die Dialogfähigkeit sowie die Bereitschaft zu hören und zu lernen, wie man anderen gegenüber offen sein soll. Diese Rolle kann heute am besten die Kunst spielen. 5 Literatur Bartoszewski, Władysław (2011): Vorwort. In: Omilanowska, Małgorzata (Hrsg.): Tür an Tür. Polen - Deutschland 1000 Jahre Kunst und Geschichte. Köln. S. 10-14. Bauman Zygmunt (2002): Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg. Boas, Franz (1940): Race, Language and Culture. New York. Bojarska, Katarzyna (Hrsg.) (2013): Bauman/ Bałka. Narodowe Centrum Kultury. Warszawa. Bonke, Marlen u.a. 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Herausgeber und Beiträger(innen) Dr. Delia Eşian | Alexandru-Ioan-Cuza-Universität Jassy, Philologische Fakultät, Lehrstuhl für Germanistik, B-dul Carol I, Nr. 11, RO-700506 Iaşi/ Rumänien; E-Mail: delia_esian@yahoo.com Prof. Dr. Dr. Csaba Földes | Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft, Nordhäuser Str. 63, D-99089 Erfurt/ Deutschland; E-Mail: csaba.foeldes@uni-erfurt.de Dr. Marcin Gołaszewski | Adam-Mickiewicz-Universität, Institut für Deutsche Philologie, al. Niepodległości 4, PL-61-874 Poznań/ Polen; E-Mail: marcingolaszewski@wp.pl Dr. Anna Górajek | Universität Warschau, Institut für Germanistik, ul. Dobra 55, PL-00-312 Warszawa/ Polen; E-Mail: a.gorajek@uw.edu.pl Apl. Prof. Dr. Detlef Haberland | Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Johann-Justus-Weg 147a, D-6127 Oldenburg/ Deutschland; E-Mail: detlef.haberland@bkge.uni-oldenburg.de Dr. Michael Haase | Loránd-Eötvös-Universität Budapest, Germanistisches Institut, Rákóczi út 5, H-1088 Budapest/ Ungarn; E-Mail: haase.mi@gmx.de Dr. Gudrun-Liane Ittu | Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften Hermannstadt, B-dul Victoriei 40, RO-550024 Sibiu/ Rumänien; E-Mail: gudrunittu@yahoo.de Dr. Małgorzata Jokiel | Universität Opole, Institut für Germanistik, Pl. Staszica 1, PL-45-052 Opole/ Polen; E-Mail: mjokiel@uni.opole.pl Dr. Achim Küpper | Freie Universität Berlin, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, D-14195 Berlin/ Deutschland; E-Mail: achimkuepper@gmail.com 232 Herausgeber und Beiträger(innen) Simone Elisabeth Lang, M.A. | Universität Bremen, FB 10: Sprach- und Literaturwissenschaften, Postfach 330 440, D-28334 Bremen/ Deutschland; E-Mail: si_la@uni-bremen.de Dr. Magdalena Latkowska | Universität Warschau, Institut für Fach- und Interkulturelle Kommunikation, ul. Szturmowa 4, PL-02-678 Warszawa/ Polen; E-Mail: m.latkowska@uw.edu.pl Dr. Mehmet Öztürk | Firat-Universität, Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften, Abteilung für westliche Sprachen und Literaturen, TR-23119 Elazig/ Türkei; E-Mail: mehmetozturk@firat.edu.tr Ewa Psuty, M.A. | Universität Lodz, Institut für Germanistik, ul. Pomorska 171/ 173, PL-90-236 Łódź/ Polen; E-Mail: ewapsuty@gmail.com O. Prof. em. Mag. Dr. Sigurd Paul Scheichl | Universität Innsbruck, Institut für Germanistik, Christoph-Probst-Platz, A-6020 Innsbruck/ Österreich; E-Mail: Sigurd.P.Scheichl@uibk.ac.at Doz. Dr. Lejla Sirbubalo | Džemal-Bijedić-Universität Mostar, Geisteswissenschaftliche Fakultät, Univerzitetski Kampus, BA-88104 Mostar/ Bosnien-Herzegowina; E-Mail: lejlasirbubalo@gmail.com Apl. Prof. Dr. Jochen Strobel | Philipps-Universität Marburg, Institut für Neuere deutsche Literatur, Wilhelm-Röpke-Str. 6A, D-35032 Marburg/ Deutschland; E-Mail: jochen.strobel@uni-marburg.de Dr. Jens Stüben | Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Johann-Justus-Weg 147a, D-26127 Oldenburg/ Deutschland; E-Mail: jens.stueben@bkge.uni-oldenburg.de Dr. habil. Anna Warakomska | Universität Warszawa, Institut für Germanistik, Dobra 55, PL-00-312 Warszawa/ Polen; E-Mail: a.warakomska@uw.edu.pl Dr. Dominika Wyrzykiewicz | Universität Warszawa, Institut für Germanistik, ul. Dobra 55, PL-00-312 Warszawa/ Polen; E-Mail: dwyrzykiewicz@uw.edu.pl B EITRÄGE ZUR I NTERKULTURELLEN G ERMANISTIK (BIG) Hrsg. von Csaba Földes ISSN 2190-3425 Bd. 1: Földes, Csaba (Hrsg.): Deutsch in soziolinguistischer Sicht. Sprachverwendung in Interkulturalitätskontexten. 2010 (BIG-Sammelbände); VIII + 158 S.; ISBN 978-3-8233-6571-6. Bd. 2: Németh, Attila: Dialekt, Sprachmischung und Spracheinstellungen. Am Beispiel deutscher Dialekte in Ungarn. 2010 (BIG-Monographien); VI + 246 S.; ISBN 978-3-8233-6572-3. Bd. 3: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik im Aufbruch. Das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode. 2011 (BIG-Sammelbände); VIII + 359 S.; ISBN 978-3-8233-6682-9. Bd. 4: Fáy, Tamás: Sekundäre Formen des Foreigner Talk im Deutschen aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht. 2012 (BIG-Monographien); VIII + 176 S.; ISBN 978-3-8233-6714-7. Bd. 5: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturalität unter dem Blickwinkel von Semantik und Pragmatik. 2014 (BIG-Sammelbände); IX + 279 S.; ISBN 978-3-8233-6905-9. Bd. 6: Burka, Bianka: Manifestationen der Mehrsprachigkeit und Ausdrucksformen des ‚Fremden‘ in deutschsprachigen literarischen Texten. Exemplifiziert am Beispiel von Terézia Moras Werken. 2016 (BIG-Monographien); XI + 230 S.; ISBN 978-3-8233-8013-9. Bd. 7: Földes, Csaba (Hrsg.): Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturellen Beziehungen in Mitteleuropa. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 305 S.; ISBN: 978-3-8233-8075-7. Bd. 8: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik als Forschungsorientierung in der mitteleuropäischen Germanistik. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 285 S.; ISBN: 978-3-8233-8076-4. Bd. 9: Földes, Csaba/ Haberland, Detlef (Hrsg.): Nahe Ferne - ferne Nähe. Zentrum und Peripherie in deutschsprachiger Literatur, Kunst und Philosophie. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 232 S.; ISBN: 978-3-8233-8077-1. Bd. 10: Földes, Csaba (Hrsg.): Themenfelder, Erkenntnisinteressen und Perspektiven in der Germanistik in Mitteleuropa. 2017 (BIG-Sammelbände); ISBN: 978-3-8233-8078-8. 9 Die 17 Beiträge dieses Bandes umkreisen die zentralen Begrifflichkeiten des IV. Kongresses des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes (MGV) im April 2014 in Erfurt mit einer Vielfalt literatur- und kulturwissenschaftlicher An sätze und Fragestellungen: Ob es das Verhältnis des Men schen zur Natur ist, ob Migranten und Einheimische, ob Vergangenheit und Gegenwart - die Frage, wie zentrale oder randständige Probleme verhandelt werden, ist allen Aufsätzen gemein. Dabei repräsentiert der Band aktuelle - Entwicklungstendenzen in der mitteleuropäischen Litera turgermanistik.