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Themenfelder, Erkenntnisinteressen und Perspektiven in der Germanistik in Mitteleuropa

2018
978-3-8233-9078-7
Gunter Narr Verlag 
Csaba Földes

Der Aufsatzband präsentiert eine Bandbreite von Referaten, die auf dem IV. Kongress des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes (MGV) im April 2014 an der Universität Erfurt gehalten wurden. Sie zeigen zum einen das breite Spektrum an Gegenständen, Methoden und Diskussionspositionen der traditionsreichen mitteleuropäischen Germanistik, zum anderen dokumentieren sie aktuelle - vor allem "auslandsgermanistische" - Entwicklungstendenzen des Fachs im Kulturraum Mitteleuropa.

Beiträge zur Interkulturellen Germanistik Herausgegeben von Csaba Földes Band 10 Csaba Földes (Hrsg.) Themenfelder, Erkenntnisinteressen und Perspektiven in der Germanistik in Mitteleuropa Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 201 8 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck: Hergestellt in der Druckerei der Pannonischen Universität Veszprém im Umfang von 23,1 Druckbögen (B/ 5). Arbeitsnummer: 2017/ 87 Printed in Hungary ISSN: 2190-3425 ISBN: 978-3-8233-8078-8 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Kateřina Černá | Dominanz in der Kommunikation von Kindern an der deutsch-tschechischen Grenze. Untersuchung anhand von Gesprächsrepliken im Rahmen einer grenzübergreifenden Schulkooperation . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Natalja Chomutskaja | Deutsche Entlehnungen in Leo Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Ioana Hermine Fierbințeanu | Anmerkungen zum Sprechakt Grüßen im Deutschen und im Rumänischen - mit einem Ausblick auf das Rumäniendeutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Martin Hannes Graf | Eigennamen ohne unmittelbaren Appellativanschluss. Überlegungen zu außerappellativischen Bildungsregeln bestimmter Namentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Věra Höppnerová | Das konjunkturelle Auf und Ab im Spiegel der Verben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Svitlana Ivanenko | Parameter und Einheiten des fachbezogenen interkulturellen Sprachvergleichs (am Beispiel der interkulturellen Stilistik der deutschen und der ukrainischen Sprache) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Daniela Kaiser-Feistmantl | Namenwechsel und Namenübertragungen: Der Hofname und seine zentrale Rolle in der Namengebung . . . . . . . . . . . . . 79 VI Inhalt Andrada Părchișanu | Ähnlichkeiten von Multiethnolekten innerhalb germanischer Sprachen am Beispiel von Jugendsprach-Varietäten aus Deutschland, Schweden, Dänemark, Norwegen und den Niederlanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Daniela Pelka | Was Buchstaben zum Ausdruck bringen können: Zu Formen und Funktionen des Schriftbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Sadije Rexhepi | Interferenzfehler beim Übersetzen deutscher Texte ins Albanische - am Beispiel von Germanistikstudenten der Universität Prishtina . . . . . . . . . 131 Oleksandr Rudkivskyy | Phonologische Oberflächen- und Tiefenstruktur - ein Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Nassima Scharafutdinowa | Fachsprachenvermittlung im fachbezogenen Deutschunterricht an russischen technischen Universitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Wilhelm Schellenberg | …wie ein paar Jazzbesen, die in einem unglaublich langsamen Shuffle über die Haut der Trommel geführt werden. Über den Fachwortgebrauch im modernen Kriminalroman am Beispiel von ins Deutsche übersetzten Jo Nesbø-Texten . . . . . . . . . . . . . . 165 József Tóth | Konzeptuelle Ereignisschemata: Kontrastive (deutsch-ungarische) Analyse von Ereignisstrukturen . . . . . . . 183 Zuzana Tuhárska | Text-Welt - Gedanken-Welt (Oder: Vorstellung des Buches „Die Analyse der semantisch-kognitiven Ebene der Fachsprache. Untersucht am Beispiel von Texten aus der Biologie“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Erika Windberger-Heidenkummer | Namenkategorien in Titelzitaten und Titelzitate als Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Marina R. Zheltuchina | Rolle der Medien bei der Imagebildung des Staates im Massenbewusstsein: der interkulturelle Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Herausgeber und Beiträger(innen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Vorwort Der Mitteleuropäische Germanistenverband (MGV) hat vom 10.-12.04.2014 seinen vierten Kongress mit dem Titel „Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturellen Beziehungen in Mitteleuropa“ an der Universität Erfurt veranstaltet. Ausgerichtet wurde der Kongress vom Präsidenten des MGV, Prof. Dr. Dr. Csaba Földes, und seinem Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft. Die Veranstaltung stand unter der Schirmherrschaft von Frau Christine Lieberknecht, Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen. Eingeladen wurden, wie auch schon bei den letzten drei Kongressen in Dresden (2003), Olmütz (2007) und Wien (2010), Germanistinnen und Germanisten aus vielen Regionen Mitteleuropas, aber auch von außerhalb, die sich mit Sprache und Sinnproduktion des kulturell beschreibbaren mitteleuropäischen Raums beschäftigen. Nach dem Grundkonzept der Veranstalter sollte sich der Kongress - dem Selbstverständnis des MGV als interkultureller und grenzüberschreitender Verband entsprechend - nicht nur mit den „Zentren“ der deutschen Sprache und Kultur auseinandersetzen, sondern auch mit den „Peripherien“, welche die harten Sprach-Grenzen relativieren und Wechselbeziehungen zwischen diesen ermöglichen. Neben Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es doch mehrere „Zentren“ in Mitteleuropa, in denen Varietäten der Sprache Deutsch gesprochen werden und/ oder reiche kulturelle Traditionen bestehen. Diese Zentren - im wörtlichen Sinne als Mittelpunkte betrachtet - können somit auch Sprachinseln oder deutschsprachige Kulturbzw. Traditionsräume bezeichnen. Außerhalb der Zentren befindet sich die jeweilige Peripherie, welcher nur zu häufig eine Randstellung zugesprochen wird. Die sogenannten Peripherien sind aber wichtige Konnexe, da sie verschiedene Zentren verbinden und so auch Beziehungen zwischen den einzelnen Sprachen Mitteleuropas herstellen. Die deutsche Sprache, als Sprache im Zentrum Europas, hat sich in der diachronen als auch synchronen Sprachwissenschaft als Mittlerin zwischen den Kulturen erwiesen. Dabei ist vor allem die spezifische Dynamik von Bedeutung, die vom Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie ausgeht, wobei Strukturen und Normen von „Zentralität“ von den Peripherien (den „Rändern“) her relativiert bzw. unter Umständen reinterpretiert werden können. VIII Vorwort Nicht nur die Linguistik, sondern auch weitere Bereiche der Germanistik, wie die Literaturwissenschaft und die Fachdidaktik Deutsch bzw. Deutsch als Fremdsprache/ Zweitsprache, erweitern in letzter Zeit ihre Forschungsthemen zunehmend um eine interkulturelle Perspektive. Der Kongress hatte unter anderem das Ziel, zum einen eine Bestandsaufnahme der interkulturell orientierten Germanistik mit Bezug auf Mitteleuropa zu bieten, zum anderen aber auch neue einschlägige Forschungsansätze zur Sprache zu bringen und zu diskutieren. Folglich war der Bogen der Vorträge über die Linguistik hinaus viel weiter gespannt. ‚Deutsch‘ bedeutet bei weitem nicht nur ein sprachliches Phänomen, sondern konnotiert alle historischen, politischen, kulturellen und künstlerischen Zusammenhänge, die in einem politisch-geographischen Raum situiert sind (oder waren), der durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts das gewachsene, aber keineswegs immer spannungsfreie Verhältnis von Deutschen im Kontext der baltischen, slawischen, ungarischen und anderen Kulturen zerriss. So thematisierten die meisten Vorträge das sich als Kulturraum und als (Groß-)Region begreifbare Mitteleuropa im Hinblick auf seine (kultur-)historischen und sprachlichen Kommunikationsformen sowie Wandlungen, Wechselbzw. Transferbeziehungen, Identitätsprägungen, aber auch Konflikte und Kontroversen. Letztlich geht es darum, Mitteleuropa in gesamteuropäischen und globalen Zusammenhängen aus germanistischer Sicht zu (re-)perspektivieren. In diesem Sinne gab es Vorträge interkulturell und mitteleuropabezogen arbeitender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu folgenden großen disziplinären Themenkomplexen: - Sprache und Interkulturalität, - Literatur und Interkulturalität, - Lernen, Studieren, Lehren und Forschen im In- und Ausland, - Kulturwissenschaftliche Forschung. Insofern ist es eine genuine Aufgabe des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes, immer wieder die Frage zu stellen, in welcher Weise sich ‚das Deutsche‘ in (Ost-)Mitteleuropa präsentiert und welche Ausformungen es in Sprache und Literatur im Laufe der Jahrhunderte bis heute erfährt. Die Kongressakten werden nun in vier Bänden veröffentlicht. Band 7 der Reihe „Beiträge zur Interkulturellen Germanistik“ (BIG) umfasst einen Teil der thematisch eng an das Generalthema des Kongresses knüpfenden Beiträge, während der BIG-Band 8 thematisch speziell interkulturell-linguistisch ausgerichtete Beiträge präsentiert, welche eine zunehmend relevante Stoßrichtung in der Germanistik Mitteleuropas definieren. Im BIG-Band 9 erscheinen die literatur- und kulturwissenschaftlich orientierten Beiträge. Der vorliegende Band 10 vereint die Beiträge, die über das Rahmenthema des Kongresses hinausgehen und - Vorwort - IX - eine- Vielfalt- aktueller- Fragestellungen- der- mitteleuropäischen- Germanistik- be‐ handeln.-Aufgrund-der-internationalen-Zusammensetzung-des-Referenten‐-bzw.- Beiträger‐Teams- als- MGV‐Mitglieder- weisen- die- Texte- eine- Bandbreite- unter‐ schiedlicher-theoretischer-Reflexionstraditionen-sowie-methodologischer-Vorge‐ hensweisen-auf-und-zeigen-nicht-zuletzt-die---oftmals-produktive---Heterogeni‐ tät-der-einzelnen-Wissenschaftskulturen.-- Für- die- kompetente- und- vielseitige- Unterstützung- bei- der- Realisierung- des- Kongresses-und-beim-Zustandekommen-dieses-Bandes-danke-ich-meinem-Lehr‐ stuhlteam-herzlich,-insbesondere-Herrn-Dr.-des.-Ronny-Schulz-(Tagungssekreta‐ riat)-sowie-Frau-Lisa-Lober,-M.A.-und-Frau-Renáta-Péter‐Szabó,-M.A.-(Lektorie‐ rung-und-Redaktion).-Ebenfalls-danke-ich-dem-DAAD-für-einen-Druckkostenzu‐ schuss-zu-diesem-Band.- Die- bibliographischen- Daten- der- anderen- Kongressbände,- in- denen- die- zur- Publikation-vorgelegten-weiteren-Kongressvorträge-erschienen-sind,-lauten: - - - Földes,- Csaba- (Hrsg.): - Zentren-und- Peripherien- --Deutsch-und- seine- inter‐ kulturellen-Beziehungen-in-Mitteleuropa.-Tübingen: -Narr-Francke-Attempto- Verlag-2017-(Beiträge-zur-Interkulturellen-Germanistik; -7).- - Földes,-Csaba-(Hrsg.): -Interkulturelle-Linguistik-als-Forschungsorientierung- in- der- mitteleuropäischen- Germanistik.- Tübingen: - Narr- Francke- Attempto- Verlag-2017-(Beiträge-zur-Interkulturellen-Germanistik; -8).- - Földes,-Csaba/ Haberland,-Detlef-(Hrsg.): -Nahe-Ferne---ferne-Nähe.-Zentrum- und- Peripherie- in- deutschsprachiger- Literatur,- Kunst- und- Philosophie.- Tü‐ bingen: - Narr- Francke- Attempto- Verlag- 2017- (Beiträge- zur- Interkulturellen- Germanistik; -9).- - Mögen- sich- diese- Publikationen- als- eine- wertvolle- Bereicherung- für- die- Reihe- „Beiträge- zur- Interkulturellen- Germanistik“- erweisen- und- die- akademische- Zu‐ sammenarbeit- vor- allem- in- mitteleuropäischen- Wissenschaftskontexten,- aber- auch-darüber-hinaus-befruchten.- - - Erfurt,-im-Sommer-2017- - - - - - -------- - - - - - Der-Herausgeber- - Dominanz in der Kommunikation von Kindern an der deutsch-tschechischen Grenze. Untersuchung anhand von Gesprächsrepliken im Rahmen einer grenzübergreifenden Schulkooperation Kateřina Černá (Prag) Zusammenfassung Dank soziolinguistischer Methoden können Informationen über die soziale Wirklichkeit gewonnen werden. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Ermittlung der Sprecherpositionen (dominant vs. submissiv) in einer Gruppe von zehnjährigen deutschen und tschechischen Kindern. Die Kinder arbeiten im Rahmen einer grenzübergreifenden Schulkooperation zusammen; es wurde ihre authentische Kommunikation analysiert. Anhand des Konzeptes der interaktionellen Dominanz von Linell/ Gustavsson/ Juvonen (1988) und des Konzeptes des Machtgewinns von Madsen (2003a, 2003b) wurden IR- (initiative-response-) und WL-Analysen (won-lost-Analysen) ausgearbeitet und einzelne Gesprächsrepliken ausgewertet. Nach der statistischen Berechnung der in der Kommunikation erfolgreich durchgesetzten Ziele wurden die Positionen der Kinder in einem Mädchenzimmer und in zwei Jungenzimmern bestimmt. 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem soziolinguistischen Thema der dialogischen Asymmetrie (Linell 1990, 1998). Im dialogischen Diskurs wird die soziale Realität, d.h. die sozialen Beziehungen, reflektiert (Goffman 1983, Linell 1998). Anhand der Analyse authentischer Gespräche werden Positionen (dominant vs. submissiv) deutscher und tschechischer Viertklässler ermittelt. Diese Kinder arbeiten im Rahmen der grenzübergreifenden deutsch-tschechischen Schulkooperation zusammen. Es werden also Informationen über den Charakter der neu entstehenden deutsch-tschechischen Beziehungen gewonnen. Untersucht werden die potenzielle und die wirkliche Dominanz einzelner Kinder. Dominanzkonzepte stützen sich auf zahlreiche soziologische Machtkonzepte. Weber (1975: 28) beispielsweise definiert Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. Olson/ Cromwell (1975) unterscheiden die Machtgrundlagen, die Machtprozesse und die Machtresultate (siehe Kap. 2). Goffman (1972) erforscht die sogenannten „face-threatening acts“ während der Imagebildung in der Interaktion. Grundlage für die vorlie- 2 Kateřina Černá gende Untersuchung bilden zwei ausführliche Studien: die Erforschung der interaktionellen Dominanz laut Linell/ Gustavsson/ Juvonen (1988) und die Erforschung der Machtresultate nach Madsen (2003a, 2003b). Die genannten Autoren untersuchen den Gewinn von Dominanz bzw. Macht anhand der Analyse authentischer Dialoge. Während Madsen Gewinne und Verluste einzelner Sprecher in Konfliktsituationen statistisch auswertet, arbeiten Linell/ Gustavsson/ Juvonen eine detaillierte Skala von dominanten Zügen einer Gesprächsreplik aus. Diese zwei Konzepte inspirierten die Verfasserin zur Entwicklung der IR- und der WL-Analysen, die zur Ermittlung der Durchsetzung eigener Ziele in der Kommunikation dienen. Nach der Klassifizierung jeder Gesprächsreplik und nachfolgender statistischer Auswertung aller klassifizierten Repliken werden die Positionen einzelner Sprecher charakterisiert. Im Folgenden werden zuerst die zwei grundlegenden methodologischen Konzepte beschrieben, die als Ausgangspunkt fungieren. Anschließend werden die Grundzüge der angewendeten IR- und WL-Analysen und die Terminologie erläutert. Es folgt eine Vorstellung der untersuchten Datei. Im Einklang mit den verwendeten gesprächsanalytischen Methoden wurden der Untersuchung keine Hypothesen vorangestellt. Kapitel 5 zeigt die Ergebnisse der Analyse der Kommunikation in einem Zimmer, das heißt die Personenprofile und die Profile des Kommunikationsereignisses. In Kapitel 6 werden die wichtigsten Ergebnisse der IR- und WL-Analysen der Kommunikationsereignisse in allen drei Zimmern beschrieben. Ziel ist die Bestimmung der dominantesten Person in den jeweiligen Zimmern. 2 Methodisches Vorgehen Die vorliegende Analyse folgt den soziopragmatischen Methoden der Dialoganalyse. Sie beschäftigt sich mit der Dialogdynamik (Marková/ Foppa 1990, Linell 1990), mit den im Gespräch gebildeten Beziehungen. Während ein Sprecher eher seine Kommunikationspartner beeinflusst und an Dominanz gewinnt, nimmt ein anderer Sprecher eher eine submissive Position ein (Linell 1990). Gespräch wird also als Prozess verstanden, in dem soziale Beziehungen realisiert werden. Einzelne Sprecher treten mit eigenen Zielen ins Gespräch, welche sie in der Kommunikation durchsetzen (Černá 2009a). Je mehr Ziele eines Sprechers durchgesetzt werden, desto größer werden die Dominanz, die er gewinnt und auch die Macht, die er über andere Sprecher ausübt. Olson und Cromwell (1975) unterscheiden drei Machtdimensionen: die Machtgrundlagen, d.h. die Fähigkeiten, jemandes Denken, Entscheiden und Handeln zu beeinflussen, zu führen und zu kontrollieren, die Machtprozesse, d.h. die oben genannten Fähigkeiten im Gebrauch und die Machtresultate, d.h. Dominanz in der Kommunikation von Kindern 3 die endgültige Problemlösung (Erfolg oder Misserfolg beim Durchsetzen der eigenen Ziele). In der vorliegenden Untersuchung kommen zwei Machtdimensionen in Betracht: Macht als Fähigkeit (im sprachlichen Gebrauch) und Macht als Ergebnis des Zieldurchsetzungsprozesses. Unter M a c h t a l s F ä h i g k e i t im Gebrauch wird das Vorlegen eigener Ziele im Kommunikationsprozess zum Zwecke deren Verwirklichung verstanden. Der Sprecher äußert in seinem Gesprächsbeitrag - in einer Gesprächsreplik - eigene Absichten und veranlasst die Kommunikationspartner dazu, diese zu realisieren. Linell/ Gustavsson/ Juvonen (1988: 417) nennen eine solche Replik i n i t i i e r e n d e R e p l i k („initiative“) und beschreiben sie als die Replik, die eine neue Substanz einbringt, die nach vorne zur nächsten Replik gerichtet ist und die außerdem eine Entgegnung, nämlich die r e s p o n s i v e R e p l i k („response“), fordert. Die Autoren beschreiben zwölf initiierende und responsive Züge, von denen ausgehend sie 18 Replikkategorien unterscheiden. Diese analytische Ausführlichkeit bildet die Grundlage der in der vorliegenden Analyse verwendeten Klassifikation der initiierenden, responsiven und erweiterten responsiven Repliken (siehe Kap. 3). Linell/ Gustavsson/ Juvonen halten den Sprecher, der die meisten initiierenden Repliken produziert, für den dominantesten Sprecher. In diesem Beitrag gilt ein solcher Sprecher als nur potenziell dominant, das bedeutet, initiierende Repliken charakterisieren eine potenzielle Dominanz des Sprechers. Unter M a c h t a l s E r g e b n i s wird das Durchsetzen der Ziele verstanden. Madsens Konzept des Machtgewinns ist dabei von Bedeutung. Madsen (2003a, 2003b) zählt die Gewinne und Verluste einzelner Sprecher in Konfliktsituationen. Eine Konfliktsituation begreift sie als kommunikative Situation, „where opposing interests or values are explicitly expressed“ (Madsen 2003a: 782). In einer Konfliktsituation stehen die Aussagen und Aktionen der Kommunikationsteilnehmer in gegenseitiger Opposition (siehe auch Goffman 1982). Goffman (1972) entwickelte die Theorie der Imagearbeit, bei der der Sprecher in einer imagebedrohenden Situation eine Strategie entwickelt, um den Gesichtsverlust zu vermeiden (vgl. Madsen 2003a: 781). Das Machtergebnis ist als Ergebnis einer Konfliktsituation zu begreifen, in der ein Konfliktteilnehmer den eigenen Willen durchsetzt, während der andere seine Position verliert (Goffman 1982, Madsen 2003a, 2003b). Wenn sich die Situation in die von einem Sprecher/ dem Sieger bevorzugte Richtung geändert hat, markiert Madsen (2003a) die Konfliktsituation als „won“. Sie berechnet die „won“- und „lost“- Konflikte für jeden Informanten. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde Madsens Konzept für einzelne Gesprächsrepliken ausgearbeitet und es wurde ermittelt, ob das in der initiierenden Replik mündlich geäußerte Ziel/ die Absicht durchgesetzt, d.h. realisiert wurde. Anhand der Menge der durchge- 4 Kateřina Černá setzten Ziele wird die t a t s ä c h l i c h e D o m i n a n z des Sprechers bestimmt. 3 Das analytische Verfahren Abb. 1 Die Grundeinheit dieser Analyse ist eine Replik. Eine dialogische Replik ist als kohärente Rede eines Sprechers bis zum Beginn der Rede seines Gesprächspartners zu verstehen (Nekvapil 1999/ 2000). In jeder Replik wurde zuerst nach den von den Sprechern geäußerten Absichten gesucht: Die Sprecher schlagen ein Thema zur Diskussion vor („Was sagst du zu den Fußballergebnissen von gestern? “), sie fordern zu einer neuen Aktivität auf („Mach das Fenster auf! “) oder sie drücken eine neue Perspektive aus („Sie ist aber toll, nicht wahr? “). Die Replik, die so einen neuen Inhalt einführt und die nach vorne gerichtet ist, also den Kontext vorausbestimmt und eine Reaktion (responsive Replik) verlangt, wird im Einklang mit Linell/ Gustavsson/ Juvonen (1988) die i n i t i i e r e n d e R e p l i k genannt und mit dem Symbol „I“ markiert. Diese Replik ist kontextunabhängig, d.h. auch ohne Kontext verständlich. Man kann entscheiden, ob die I-Replik (d.h. die in dieser Replik geäußerte Absicht) von den Kommunikationspartnern akzeptiert wurde. Die darauffolgende Reaktion wird im Beitrag als r e s p o n s i v e R e p l i k bezeichnet und mit dem Symbol „R“ markiert. Einige Repliken weisen sowohl initiierende als auch responsive Züge auf; solche Dominanz in der Kommunikation von Kindern 5 Repliken werden als erweiterte r e s p o n s i v e R e p l i k e n bezeichnet und mit „ER“ markiert. Die beschriebene Analyse wird IR-Analyse genannt. Des Weiteren wird untersucht, ob das in der initiierenden Replik geäußerte Ziel auch durchgesetzt wurde, d.h. von anderen Gesprächspartnern akzeptiert und in Form einer Aktivität realisiert wurde. Falls die in der I-Replik ausgedrückte Absicht durchgesetzt (akzeptiert und realisiert) wurde, d.h. das vorgeschlagene Thema weiter besprochen/ die Perspektive eigenommen/ die erforderte Aktivität vollzogen wurde, gilt diese Replik als erfolgreich und wird mit dem Symbol „W“ bezeichnet (nach Madsens Terminologie „won“-Konflikt, Madsen 2003a: 782). Falls die Absicht nicht durchgesetzt, d.h. von den Kommunikationspartnern abgelehnt oder ignoriert wurde, wird die entsprechende I-Replik als erfolglos betrachtet und mit dem Symbol „L“ markiert (vgl. Madsens „lost“- Konflikt). Folglich wird - nach den W- und L-Repliken - diese Analyse W L - A n a l y s e genannt. Bei der IR-Analyse wird also die Aktivität, d.h. die Initiative der Sprecher, ermittelt, die die p o t e n z i e l l e D o m i n a n z anzeigt. Das Zusammenspiel der initiierenden und responsiven Repliken stellt den Prozess der Verhandlung der dominanten Position, den M a c h t p r o z e s s , dar. Bei der WL-Analyse werden die M a c h t r e s u l t a t e , d.h. die Ergebnisse der Zielverhandlung (die erfolgreich durchgesetzten Ziele) untersucht, die die t a t s ä c h l i c h e D o m i n a n z des Sprechers/ den „Machterwerb“ signalisieren. Anhand weiterer statistischer Auswertungen aller Repliken wurden die Positionen der Sprecher hinsichtlich ihrer Dominanz und Submissivität ermittelt. Diese Ergebnisse wurden in 57 grafischen Darstellungen (Personenprofile und Profile der Kommunikationsereignisse) und 22 Tabellen dargestellt. In diesem Beitrag wird ein Teil der Ergebnisse anhand der Beispielanalyse im Mädchenzimmer M, Z/ S, F 1 (Kap. 4) und anhand der zusammenfassenden Analyse für alle drei Zimmer (Kap. 5) dargestellt. 4 Daten Es wurden authentische Kommunikationssituationen von zehnjährigen deutschen und tschechischen Kindern (Viertklässlern) während deren gemeinsamer fünftägiger Exkursion untersucht. Die Exkursion wurde im Rahmen der Koope- 1 Nach der Bezeichnung des Kindes folgt die Bezeichnung des Zimmers, wobei die ersten beiden Sprecher immer die tschechischen Kinder sind: z.B. T (L, T/ D, M) signalisiert das Ergebnis für den tschechischen Sprecher T im Zimmer L, T/ D, M, in dem sich die tschechischen Sprecher L, T und die deutschen Sprecher D, M befinden). 6 Kateřina Černá ration einer deutschen und einer tschechischen Grenzschule organisiert. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit spontanen Gesprächen, die die Kinder in ihrer Freizeit führten. In drei Zimmern wurde jeweils die Abendkommunikation aufgenommen: in dem Mädchenzimmer M, Z/ S, F, in dem Jungenzimmer A, M/ Ma, D und dem Jungenzimmer L, T/ D, M. Die Kinder wussten von der Präsenz des Aufnahmegerätes, ignorierten es aber nach einiger Zeit. Die 440 aufgenommenen Minuten wurden mithilfe der in der Konversationsanalyse konventionell benutzten Transkriptionssymbole transkribiert (Schlobinski 1996). Es wurde nur die interethnische Kommunikation analysiert, d.h. Gespräche, die ausschließlich zwischen deutschen bzw. ausschließlich zwischen tschechischen Kindern stattfanden, wurden nicht berücksichtigt. Die analysierte Datei enthält 1.763 Repliken: 688 Repliken im Mädchenzimmer M, Z/ S, F (90 Minuten), 371 Repliken im Jungenzimmer A, M/ Ma, D (108 Min.) und 704 Repliken im Jungenzimmer L, T/ D, M (132 analysierte Minuten, von denen nur 86 statistisch ausgewertet wurden, da Sprecher L in der restlichen Zeit nicht anwesend war). Die Untersuchung bezieht sich in der Analyse der sozialen Beziehungen auf die „Mikroebene“, d.h. es wurden tatsächliche Kommunikationsereignisse analysiert. Es werden die Positionen (dominant vs. submissiv) von Kindern zweier ethnischer Gruppen untersucht. Bei den Kindern ist keine Hierarchie vorgegeben, wie es z.B. in Gesprächen zwischen Lehrer und Schulkind der Fall ist. 2 5 Beispielanalyse: Mädchenzimmer M, Z/ S, F Es folgen die Resultate der IR- und WL-Analyse im Mädchenzimmer M, Z/ S, F. Es werden sowohl die Einzelpersonen als auch das Kommunikationsereignis charakterisiert. Die Abendkommunikation der zwei tschechischen Mädchen M und Z und der beiden deutschen Mädchen S und F wurde drei Tage lang aufgenommen. Zum Zweck dieser Analyse wurden 90 Minuten, d.h. 688 Repliken, gemeinsamer interethnischer Kommunikation ausgewählt. 5.1 IR-Analyse Im Mädchenzimmer M, Z/ S, F wurden 688 Repliken einer IR-Analyse unterzogen. Diese wurden in 234 initiierende Repliken, 170 responsive Repliken und 284 erweiterte responsive Repliken differenziert, was eine eher symmetrische 2 Die Viertklässler sind aber bereits im Alter der Identitätsbestimmung, weswegen neben der hier vorgestellten Analyse auch die Identitätswahrnehmung der Kinder untersucht wurde (siehe Černá 2009b). Dominanz in der Kommunikation von Kindern 7 Kommunikation andeutet. Es werden die Äußerungen einzelner Mädchen im Personenprofil und Beziehungen zwischen den Äußerungen aller Sprecher im Profil des Kommunikationsereignisses charakterisiert. 5.1.1 IR-Analyse: Personenprofil Im Personenprofil werden die Äußerungen der Einzelpersonen untersucht (100 % sind immer alle Repliken eines Sprechers). Dadurch werden Informationen über das D o m i n a n z p o t e n z i a l j e d e r S p r e c h e r i n gewonnen: je mehr I-Repliken und je größer der IR-Index (Anteil I- und R-Repliken), desto dominanter die Sprecherin. Personenprofil 100 % % I % ER % R IR-Index M 153 Repliken 47 % 35 % 18 % 2,611 Z 180 Repliken 39 % 40 % 21 % 1,857 F 162 Repliken 26 % 45 % 29 % 0,897 S 193 Repliken 26 % 44 % 30 % 0,866 Ø Sprecher 172 Repliken 34 % 41 % 25 % 1,360 Tabelle 1 Das tschechische Mädchen M produzierte die meisten I-Repliken im Rahmen ihrer gesamten Äußerungen (47 % von 153 Repliken), sie weist auch den größten IR-Index (2,611) auf. Mädchen M strebt also die Position der Führerin des Zimmers an. Eine überdurchschnittliche Produktion von I-Repliken weist auch das tschechische Mädchen Z auf. Die deutschen Mädchen F und S produzieren mehr passive R-Repliken als aktive I-Repliken (IR-Index < 1). Das niedrigste Dominanzpotenzial (30 % R-Repliken, IR = 0,866) weist die Sprecherin S auf, was ihre Submissivität andeutet. Der durchschnittliche IR-Index der beiden tschechischen Mädchen (IR = 2,235) ist höher als der der deutschen Mädchen (IR = 0,882). Der durchschnittliche IR-Index des gesamten Zimmers (IR = 1,360) ist der niedrigste von allen drei untersuchten Zimmern. Die Mädchen Z, S und F produzierten symmetrischere Kommunikation als die Jungen in den anderen zwei Zimmern. 8 Kateřina Černá 5.1.2 IR-Analyse: Profil des Kommunikationsereignisses Nachfolgend wurden die Personenprofile einer Zimmergemeinschaft als eine Einheit/ ein Kommunikationsereignis angesehen, d.h. D o m i n a n z p o t e n z i a l e einzelner Sprecher i m R a h m e n d e r S p r e c h e r g e m e i n s c h a f t bestimmt. Es wurden also die Charakteristiken der Einzelpersonen in Bezug auf die Gesamtheit der in einem Zimmer produzierten Äußerungen verglichen, d.h. die Summe der I-, ER- und R-Repliken auf die Gesamtsumme der im Zimmer M, Z/ S, F produzierten Repliken (100 % = 688) bezogen. Es wurde festgestellt, dass sich die Positionen der Sprecherinnen hinsichtlich ihres Dominanzpotenzials veränderten. Profil des KE ∑ Replik I ER R IR-Index M 153 22,24 % 72 10,47 % 53 7,70 % 28 4,07 % 2,571 2,572 Z 180 26,16 % 70 10,17 % 72 10,47 % 38 5,52 % 1,842 1,842 S 193 28,05 % 50 7,27 % 86 12,50 % 57 8,28 % 0,877 0,878 F 162 23,55 % 42 6,10 % 73 10,61 % 47 6,83 % 0,894 0,893 Insgesamt 688 100 % 234 34,01 % 284 41,28 % 170 24,71 % 1,376 1,376 Tabelle 2 Das höchste Dominanzpotenzial in der Sprechergemeinschaft weist erneut das tschechische Mädchen M auf (72 I-Repliken, was 10,47 % der gesamten Äußerungen ausmacht; IR = 2,57). Auch in der Gesamtheit der Äußerungen produzieren die tschechischen Mädchen mehr initiierende Repliken als ihre deutschen Mitbewohnerinnen. Die Position der Sprecherin S hat sich ein wenig geändert, da sie die meisten Äußerungen produzierte (193 Repliken, was fast ein Drittel der Gesamtkommunikation ausmacht) und so im Rahmen des gesamten Kommunikationsereignisses einen höheren Anteil an I-Repliken (50 %) als die Sprecherin F realisierte, was auch ihre höhere potenzielle Dominanz manifestiert. Es zeigt sich, dass die potenzielle Dominanz des Sprechers in einer bestimmten Gruppe von seiner Produktionsmenge abhängig ist und man daher zur Bestimmung der Verhältnisse in einer Sprechergemeinschaft das Profil des Dominanz in der Kommunikation von Kindern 9 Kommunikationsereignisses heranziehen muss; das einzelne Personenprofil ist nicht ausreichend. 5.2 WL-Analyse Im Mädchenzimmer M, Z/ S, F wurden die 234 I-Repliken (was 34,01 % der gesamten Äußerungen ausmacht) einer WL-Analyse unterzogen. Dabei gab es 93 erfolgreiche (I, W) und 141 erfolglose (I, L) Repliken. Um die dominanteste Sprecherin im Zimmer bestimmen zu können, berechnen wir sowohl die I, W- Repliken als auch den WL-Index (Anteil der I, W- und der I, L-Repliken), wobei die Menge der I, W-Repliken im Profil des Kommunikationsereignisses die aussagekräftigsten Ergebnisse bringt. Die dominanteste Person ist die, die eigene Absichten am erfolgreichsten durchsetzt (d.h. ihre initiierenden Repliken werden akzeptiert und realisiert). Daraus ergeben sich auch kommunikative Aktionen, nämlich das Anbieten eines Zieles in der Kommunikation, dessen Akzeptieren von anderen Interaktanten und seine Realisation (siehe Černá 2009a). 5.2.1 WL-Analyse: Personenprofil Im Personenprofil wird die t a t s ä c h l i c h e S p r e c h e r d o m i n a n z a l s E i g e n s c h a f t einer Person bewertet, d.h. der Erfolg einer bestimmten Person beim Durchsetzen eigener Ziele (100 % ist die Gesamtheit der Äußerungen einer betreffenden Person). Ausschlaggebend ist dabei der WL-Index (Anteil der erfolgreichen und erfolglosen initiierenden Repliken: WL = I, W : I, L). Personenprofil 100 % % I % I, W % I, L IR-Index WL-Index S 193 Repliken 26 % 15 % 11 % 0,866 1,273 M 153 Repliken 47 % 18 % 29 % 2,611 0,600 Z 180 Repliken 39 % 13 % 26 % 1,857 0,522 F 162 Repliken 26 % 9 % 17 % 0,897 0,500 Ø Sprecher 172 Repliken 34 % 14 % 20 % 1,360 0,660 Tabelle 3 Die tschechische Sprecherin M, die das höchste Dominanzpotenzial aufwies, verschob sich auf die zweite Position. Wie ihr WL-Index zeigt (WL = 0,600), bleiben ihre I-Repliken öfter erfolglos, ihre Ziele werden also häufig nicht 10 Kateřina Černá durchgesetzt (die I, W-Repliken nehmen 18 % ihrer gesamten Äußerungen ein). Auf die dominanteste Position der Sprechergemeinschaft setzt sich die deutsche Sprecherin S, welche die niedrigste potenzielle Dominanz im Personenprofil der IR-Analyse aufwies. Sie produziert zwar wenige I-Repliken (26 %) und hat das niedrigste Dominanzpotenzial (IR = 0,866), ihre I-Repliken sind aber in großem Maße erfolgreich (WL = 1,237). Der Positionswechsel der Sprecherinnen M und S beweist die Notwendigkeit der WL-Analyse. Es zeigt sich, dass die Produktion der I-Repliken alleine nicht ausreichend für den Dominanzgewinn ist, sondern auch die Akzeptanz und Realisierung der in den I- Repliken vorgeschlagenen Ziele entscheidend ist. 5.2.2 WL-Analyse: Profil des Kommunikationsereignisses Zur Bestimmung der t a t s ä c h l i c h d o m i n a n t e s t e n S p r e c h e r i n e i n e r S p r e c h e r g e m e i n s c h a f t wird die Menge ihrer erfolgreich durchgesetzten Ziele im Rahmen der Sprechergemeinschaft benötigt, d.h. es wird die Anzahl der I, W-Repliken im Profil des ganzen Kommunikationsereignisses bestimmt. Profil KE ∑ Replik ∑ I W L IR Index WL Index S 193 28,05 % 50 7,27 % 28 4,07 % 22 3,20 % 0,877 0,878 1,273 1,272 M 153 22,24 % 72 10,47 % 27 3,92 % 45 6,54 % 2,571 2,572 0,600 0,599 Z 180 26,16 % 70 10,17 % 24 3,49 % 46 6,69 % 1,842 1,842 0,522 0,522 F 162 23,55 % 42 6,10 % 14 2,03 % 28 4,07 % 0,894 0,893 0,500 0,499 Insgesamt 688 100 % 234 34,01 % 93 13,52 % 141 20,35 % 1,376 1,376 0,660 0,664 Tabelle 4 Aus der absolut größten Menge der I, W-Repliken der deutschen Sprecherin S im Rahmen aller Äußerungen des Zimmers (28 I, W-Repliken, 4,07 % der gesamten Äußerungen) ergibt sich ihre dominanteste Position in der untersuchten Sprechergemeinschaft. Auch wenn die Sprecherin S das niedrigste Domi- Dominanz in der Kommunikation von Kindern 11 nanzpotenzial aufwies, d.h. die submissivste Position des Zimmers laut IR- Analyse anstrebte, nimmt sie laut WL-Analyse die dominanteste Position ein. Ihre Repliken sind im Gegensatz zu ihren Mitbewohnerinnen überwiegend erfolgreich (WL > 1) und ihre Redeaktivität ist die höchste (193 Repliken, was 28,05 % der Gesamtkommunikation ausmacht). Auch dieses Beispiel zeigt die Unentbehrlichkeit der WL-Analyse im Anschluss an die IR-Analyse. 5.3 Ergebnisse der Analyse im Mädchenzimmer M, Z/ S, F Die Analyse der Äußerungen im Mädchenzimmer M, Z/ S, F zeigt die potenzielle Dominanz der tschechischen Sprecherin M, aber die tatsächliche Dominanz der deutschen Sprecherin S. Auch wenn das Mädchen M die meisten initiierenden Repliken realisierte, wurde sie von S in der Produktionsmenge und im Anteil der erfolgreich durchgesetzten initiierenden Repliken überholt. Aus einzelnen Charakteristiken der Sprecherinnen lassen sich folgende Empfehlungen ablesen: Die tschechischen Sprecherinnen M und Z sollten lernen, ihre in den I-Repliken ausgedrückten Ziele erfolgreicher durchzusetzen; sie könnten auch ihre Redeproduktion erhöhen. Die submissivste Sprecherin F sollte alle Attribute von dominanten Personen verbessern: Mehrere Absichten zum Ausdruck bringen, diese auch besser durchsetzen und mehr Redebeiträge leisten. Es ergaben sich auch allgemeine Schlussfolgerungen. Die Dominanz einer Person hängt von ihrer Produktionsmenge und Produktionsqualität ab. Je mehr Anlässe (Themen, Aktivitäten, Perspektiven) der Sprecher ins Gespräch bringt und je erfolgreicher er diese Absichten durchsetzt (d.h. I, W-Repliken realisiert), desto dominanter wird die Position, die er in der Sprechergemeinschaft einnimmt. Das Profil der Einzelperson charakterisiert die Äußerungen eines Sprechers unabhängig von den anderen, das Profil des Kommunikationsereignisses zeigt die Position des Sprechers in einer bestimmten Sprechergemeinschaft. Die IR-Analyse ist nur zur Feststellung der potenziellen Dominanz ausreichend, zur Ermittlung der tatsächlichen Dominanz ist die darauffolgende WL-Analyse nötig. 6 Ergebnisse der IR- und WL-Analysen: Kommunikationsereignis in allen drei Zimmern Die oben aufgezeigten Analysen wurden auch in zwei Jungenzimmern durchgeführt. Die Gesamtergebnisse sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Diesmal beschäftigt sich der vorliegende Beitrag nur mit der Sprecherdominanz im Rahmen der Sprechergemeinschaft eines Zimmers, also mit den Profi- 12 Kateřina Černá len der Kommunikationsereignisse im Mädchenzimmer M, Z/ S, F, im Jungenzimmer A, M/ Ma, D und im Jungenzimmer L, T/ D, M. Deswegen beziehen sich die Prozentsätze auf alle Äußerungen des entsprechenden Zimmers (im Zimmer M, Z/ S, F sind 100 % die 688 Repliken, im Zimmer A, M/ Ma, D die 371 Repliken und im Zimmer L, T/ D, M die 704 Repliken). Die tschechischen Kinder sind in der Tabelle grau markiert, die deutschen Kinder weiß. Über die potenzielle Sprecherdominanz informiert der IR-Index, über die tatsächliche Dominanz die Menge der I, W-Repliken. Profil des KE ∑ Replik ∑ I ∑ I, W IR-Index WL-Index T (L, T/ D, M) 224 31,82 % 86 12,22 % 44 6,25 % 2,263 2,263 1,048 1,047 M (A, M/ Ma, D) 109 29,38 % 41 11,05 % 21 5,66 % 2.278 2,278 1,050 1,050 L (L, T/ D, M) 161 22,87 % 51 7,24 % 32 4,55 % 1,275 1,275 1,684 1,685 S (M, Z/ S, F) 193 28,05 % 50 7,27 % 28 4,07 % 0,877 0,878 1,273 1,272 M (M, Z/ S, F) 153 22,24 % 72 10,47 % 27 3,92 % 2,571 2,572 0,600 0,599 A (A, M/ Ma, D) 96 25,88 % 36 9,70 % 14 3,77 % 1,714 1,714 0,636 0,636 M (L, T/ D, M) 150 21,31 % 49 6,96 % 25 3,55 % 1,400 1,400 1,042 1,041 Z (M, Z/ S, F) 180 26,16 % 70 10,17 % 24 3,49 % 1,842 1,842 0,522 0,522 Ma (A, M/ Ma, D) 86 23,18 % 48 12,94 % 12 3,23 % 4,800 4,793 0,333 0,333 D (L, T/ D, M) 169 24,01 % 59 8,38 % 16 2,27 % 1,283 1,283 0,372 0,372 F (M, Z/ S, F) 162 23,55 % 42 6,10 % 14 2,03 % 0,894 0,893 0,500 0,499 D (A, M/ Ma, D) 80 21,56 % 43 11,59 % 6 1,62 % 3,308 3,311 0,162 0,162 Tabelle 5 Dominanz in der Kommunikation von Kindern 13 Das höchste Dominanzpotenzial im Mädchenzimmer M, Z/ S, F weist die tschechische Sprecherin M (IR = 2,57) auf, die damit die Position der Führerin des Zimmers anstrebt. Die Reihenfolge von der dominantesten zur submissivsten Person des Zimmers ist: M - Z - F - S. Der durchschnittliche IR-Index im Zimmer ist IR = 1,38, was eine eher symmetrische Kommunikation signalisiert. Die tschechischen Mädchen M und Z weisen einen überdurchschnittlich hohen IR- Index auf, sie produzieren auch mehr initiierende als responsive Repliken. Der IR-Index der deutschen Mädchen F und S ist niedriger als der durchschnittliche IR-Index des Zimmers, diese Sprecherinnen besetzen also die submissiven Positionen. Ihr IR-Index ist zugleich niedriger als 1, was die Passivität anzeigt. Die folgende WL-Analyse wies die Dominanz der deutschen Sprecherin S nach, die 28 erfolgreiche initiierende Repliken produzierte, was 4,07 % aller Äußerungen im Zimmer ausmacht. Die Reihenfolge der Sprecherinnen hinsichtlich ihrer tatsächlichen Dominanz ist S - M - Z - F. Die durchschnittliche Produktion der I, W-Repliken im Zimmer M, Z/ S, F macht 3,38 % aller Äußerungen aus, welches der niedrigste Wert von allen drei Zimmern ist. Die Sprecherinnen S, M, und Z weisen eine überdurchschnittliche Anzahl an I, W-Repliken auf, die Sprecherin F dagegen eine unterdurchschnittliche Anzahl. Die I, W-Repliken der tschechischen Mädchen M und Z nehmen 7,41 % der gesamten Äußerungen ein, die der deutschen Mädchen S und F 6,10 %. Nur die Sprecherin S produzierte mehr erfolgreiche als erfolglose I-Repliken (WL = 1,27). Im Jungenzimmer A, M/ Ma, D strebt die Position des Zimmerführers der Sprecher Ma mit seinem IR-Index 4,80 an. Die Reihenfolge der Personen hinsichtlich ihres Dominanzpotenzials ist absteigend Ma - D - M - A. Der durchschnittliche IR-Index 2,71 zeugt von einer asymmetrischen Produktion der aktiven initiierenden und passiven responsiven Repliken. Alle Sprecher sind eher aktiv, sie produzieren häufig I-Repliken (IR > 1). Die potenziell dominanten Personen des Zimmers sind die deutschen Sprecher Ma und D, die ein überdurchschnittliches Dominanzpotenzial (IR > 2,71) aufweisen. Ihre I-Repliken nehmen 24,5 % aller Äußerungen ein. Die tschechischen Sprecher mit ihrem unterdurchschnittlichen Dominanzpotenzial besetzen die submissiven Positionen. Die WL-Analyse signalisiert aber die Dominanz des tschechischen Sprechers M (21 I, W-Repliken, 5,66 % der gesamten Äußerungen). Die Reihenfolge der Sprecher hinsichtlich ihrer Dominanz ist absteigend M - A - Ma - D. Die durchschnittliche Produktion der I, W-Repliken des Zimmers machen 3,50 % aller Äußerungen aus. Die tschechischen Jungen M und A weisen eine überdurchschnittliche Anzahl an I, W-Repliken auf, ihre I, W-Repliken nehmen 9,43 % der gesamten Äußerungen ein, die deutschen Jungen Ma und D eine unterdurchschnittliche Anzahl, insgesamt 4,85 % der I, W-Repliken. Mehr erfolgreiche als erfolglose I-Repliken produziert nur der Sprecher M (WL = 1,05). 14 Kateřina Černá Die IR-Analyse des Kommunikationsereignisses im Jungenzimmer L, T/ D, M zeigt, dass der Sprecher T die führende Position des Zimmers anstrebt (sein IR = 2,26). Die Reihenfolge der Jungen hinsichtlich ihres Dominanzpotenzials ist T - M - D - L (absteigend). Der durchschnittliche IR-Index 1,54 spiegelt nur eine leichte Asymmetrie wider. Alle Sprecher sind eher aktiv, sie produzieren mehr initiierende als responsive Repliken (IR > 1). Ein überdurchschnittliches Dominanzpotenzial weißt nur der Sprecher T auf (sein IR = 2,263), alle anderen drei Sprecher scheinen eine eher submissive Position (unterdurchschnittlicher IR-Index) in dieser Sprechergemeinschaft einzunehmen. Die WL-Analyse bestätigte diesmal die in der IR-Analyse vorgezeichnete Dominanz des Jungen T. Seine 44 I, W-Repliken nehmen 6,25 % aller Äußerungen ein Die Reihenfolge der Sprecher bezüglich ihrer Dominanz ist absteigend T - L - M - D. Die durchschnittliche Produktion von erfolgreichen I- Repliken in diesem Zimmer beträgt 4,16 %, was der höchste Wert von allen Zimmern ist. Die tschechischen Sprecher produzieren eine überdurchschnittliche Menge an I, W-Repliken, insgesamt 10,80 % der gesamten Äußerungen, die deutschen Jungen M und D eine unterdurchschnittliche Menge, insgesamt 5,82 %. Mehr erfolgreiche als erfolglose Repliken produzieren diesmal drei Sprecher: T, L und M, wobei nur bei Sprecher L der Wert (WL = 1,68) bedeutsam ist. 7 Fazit Der Beitrag beschäftigte sich mit den Positionen von Sprechern in einer Sprechergemeinschaft, d.h. er zeigte auf, wie sich ihre Dominanz oder Submissivität in der Kommunikation manifestiert. Ziel der Analyse war die Bestimmung der dominantesten Person in drei deutsch-tschechischen Kinderzimmern. Anhand der IR-Analyse wurde die potenzielle Dominanz, d.h. die Produktion der initiierenden Repliken festgestellt. Als initiierende Replik gilt die Äußerung, in der der Sprecher ein Kommunikationsziel vorlegt (ein neues Thema, eine neue Perspektive oder eine Aktivität initiiert). Darauf folgte die WL-Analyse, die zur Ermittlung der tatsächlichen Dominanz, d.h. zur Feststellung der erfolgreich durchgesetzten Ziele, diente. Im Profil der Einzelpersonen wurde die Produktion der Repliken unterschiedlicher Art im Rahmen aller Äußerungen eines Sprechers beobachtet, im Profil des Kommunikationsereignisses wurden die gegenseitigen Beziehungen der Sprecher einer Sprechergemeinschaft (eines Zimmers) dargestellt. Nach der statistischen Auswertung wurde das dominanteste Kind in jedem Zimmer bestimmt. Im Mädchenzimmer M, Z/ S, F wurde die höchste potenzielle Dominanz (das höchste Dominanzpotenzial, d.h. der IR-Index) bei der tschechischen Dominanz in der Kommunikation von Kindern 15 Sprecherin M festgestellt. Als dominanteste Person stellte sich aber in der nachfolgenden WL-Analyse die deutsche Sprecherin S heraus - dank ihrer großen Redeproduktion und dank eines hohen Ausmaßes an erfolgreich durchgesetzten I-Repliken. Im Jungenzimmer A, M/ Ma, D zeigte die IR-Analyse das Streben des deutschen Sprechers Ma nach der führenden Position des Zimmers, in der WL-Analyse wurde aber der tschechische Sprecher M als die dominanteste Person des Zimmers festgestellt. Nur im Jungenzimmer L, T/ D, M bestätigte die WL-Analyse die Ergebnisse der IR-Analyse, nämlich die Dominanz des tschechischen Sprechers T. Die Untersuchung beweist die Notwendigkeit der beiden Analysen zur Bestimmung der Sprecherdominanz, da die Ergebnisse der IR-Analyse nicht immer mit den Ergebnissen der WL-Analyse übereinstimmten. Die Sprecherdominanz hängt von der Menge der erfolgreichen initiierenden Repliken ab, d.h. von den Repliken, in denen der Sprecher ein Ziel äußert und dieses Ziel von den anderen Sprechern akzeptiert und auch realisiert wird (siehe Černá 2009a). Dabei ist auch das Ausmaß der Redeproduktion von Bedeutung. Die IR- und WL-Analysen zeigen Charakteristiken einzelner Sprecher und auch einer bestimmten Sprechergemeinschaft auf. Aus den so gewonnenen Ergebnissen können nicht nur die Sprecherpositionen (dominant vs. submissiv) abgeleitet, sondern einzelnen Sprechern auch Empfehlungen gegeben werden. Es ergibt sich, welche kommunikativen Fähigkeiten zu verbessern sind, um die führende Position in einer Sprechergemeinschaft einzunehmen. 8 Literatur Černá, Kateřina (2009a): Interactional Power Processes. In: Weigand, Edda (Hrsg.): Dialogue Analysis XI. Volume 1/ 09. Proceedings of the 11th IADA conference on ‚Dialogue Analysis and Rhetoric‘, University of Münster, March 26  30., 2007. Münster. (iada.online.series; 1/ 09). S. 285-294. Černá, Kateřina (2009b): Czech-German relationships and identity in the cross-border region. In: Carl, Jenny/ Stevenson, Patrick (Hrsg.): Language, discourse and identity in central Europe. The German language in a multilingual space. Basingstoke. (Language and globalization). S. 96-121. Goffman, Erving (1972): On face work. An analysis of ritual elements in social interaction. In: Laver, John/ Hutcheson, Sandy (Hrsg.): Communication in face to face interaction. Selected readings. Harmondsworth. (Penguin modern linguistics readings). S. 319-346. 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Er gibt zunächst einen kurzen Überblick über Tolstois Leben und die inhaltlichen Grundzüge des Werkes. Danach widmet er sich theoretischen Aspekten über Entlehnungen und führt anschließend konkrete Beispiele aus „Krieg und Frieden“ an, die bestimmten thematischen Gruppen zugeordnet werden können. Anhand von Textbeispielen, welche aufzeigen, dass ganze Abschnitte auf Deutsch verfasst wurden, soll auch auf Aspekte der interkulturellen Kommunikation im Roman eingegangen werden. 1 Einleitung und Zielstellung Leo Nikolajewitsch Tolstoi wurde am 9. September 1828 im Landgut Jasnaja Poljana im Gebiet Tula geboren. Das Adelsgeschlecht, dem er entstammte, soll vor vielen Jahrhunderten aus Deutschland eingewandert sein. Früh verlor Tolstoi seine Eltern. Mit 15 Jahren studierte er orientalische Sprachen und Recht, dann diente er bei der russischen Armee im Kaukasus. Nach dieser Zeit beschäftigte er sich mit „Volkspädagogik“, später schrieb er seine großen Romane. Um das Jahr 1877 durchlebte er eine religiöse Krise, woraufhin er als einfacher Bauer lebte und arbeitete und seine neuen Anschauungen durch Mahnrufe, Bekenntnisse und Tendenzliteratur aller Art zum Ausdruck brachte. Er starb am 20. November 1910 (Leo Tolstoi: www.klassiker-der-weltliteratur.de/ tolstoi.htm; Stand: 24.05.2017). Sein Roman „Krieg und Frieden“ ist ein mächtiges und eigentümliches Werk, eine Art Nationalepos in Prosa. Er ist ein von ungeheuerlichem Detailreichtum geprägtes Gemälde jenes Russlands, das durch den Kampf gegen Napoleon zusammen mit Westeuropa aufgerüttelt wird. Es führt die sieben Jahre von 1805-1812 vor, es zieht Kaiserschloss und Bauernhütte in seinen Rahmen, es lässt die großen Akteure der Zeit auftreten - Napoleon, Alexander I., Kutusow - sowie die dunkle Masse der Statisten, es berührt alle Stände und Strömungen, alle gesellschaftlichen und politischen Gegensätze. Die handelnden Personen, die da zu spielen glauben, sind nur Schachfiguren in der Hand des Schicksals. Deshalb ist auch Napoleon mit all 18 Natalia Chomutskaja seinem Genie eigentlich der Lächerlichste - jeder strategische Meisterzug, jeder Sieg führt ihn dem Untergang näher, den ihm nicht etwa Kutusow, sondern das russische Klima, die russische Erde, das russische Volk, d.h. „Raum und Zeit“, bereiten werden. Kutusow dagegen, der russische Oberbefehlshaber, ist groß, insofern als er der „Macht des Unbewussten“ folgt, seinen eigenen Willen der Vorsehung unterordnet, dem Schicksal gleichsam nur seinen Lauf lässt. Am schönsten wird dieses Tolstoische Ideal, das dem germanischen Heldentypus so ganz entgegengesetzt ist, in dem schlichten, demütigen Soldaten Platon Karatajew ausgeprägt: Man fühlt die Liebe, Wärme, Sehnsucht, mit der diese das Volk der Tiefe repräsentierende Gestalt vom Dichter gezeichnet ist. Im Roman wird eine unüberschaubare Menge von Einzelbildern dargestellt: die Kinderszenen, die Episode des Artillerieoffiziers Tuschin, die Schilderung der Hof- und Gesellschaftskreise, der Schlachten von Austerlitz, Smolensk, Borodino, der Brand von Moskau, der schreckliche Rückzug der großen französischen Armee. Außerdem gibt es mannigfaltige Ortsperspektiven, die mit Russland, Deutschland und Österreich verbunden sind - Petersburg, Moskau, Smolensk, Wien, Austerlitz, Pommern, Olmütz, Ulm, Dresden, Erfurt. Warum ist dieser Roman von Tolstoi wieder aktuell? 2012 wurde das 200-jährige Jubiläum der Schlacht bei Borodino (1812) gefeiert. Das war die wichtigste Schlacht des russischen Volkes gegen das französische Heer unter der Leitung von Napoleon. Neben dem einheimischen Wortgut lassen sich im Russischen fremde lexikalische Einheiten aussondern. Diese Erscheinung ist gesetzmäßig und lässt sich historisch erklären. Obwohl deutsches und russisches Siedlungsgebiet nirgends unmittelbar aneinandergrenzen, gab es doch seit dem Mittelalter immer häufiger Kontakte zwischen den beiden Völkern. Diese Kontakte führten zur Bereicherung des russischen und des deutschen Sprachgutes. Die Entlehnungen aus der deutschen Sprache sind auch in den Werken der klassischen russischen Literatur zu finden. Im Romantext von Tolstois „Krieg und Frieden“ gibt es viele Germanismen, die zu verschiedenen thematischen Gruppen gehören und die damals sehr gebräuchlich waren. Die große Zahl der deutschen Entlehnungen im Text zeugt von der Popularität der deutschen Sprache in der damaligen russischen Gesellschaft. Einige Stellen im Roman sind sogar auf Deutsch geschrieben. Ziel des vorliegenden Beitrags ist das Aufzeigen der Rolle der deutschen Entlehnungen in der russischen Sprache sowie die Darstellung einiger Fragmente der interkulturellen Kommunikation anhand des Romantextes von Tolstoi. Das Objekt der Forschung ist das entlehnte Wortgut aus der deutschen Sprache. Deutsche Entlehnungen in Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ 19 2 Begriffsklärung: Entlehnung Bekanntlich ist die Entlehnung einer der wichtigsten Wege der Bereicherung von Sprachen. Bereits Boduėn (1963: 363) unterstreicht, dass es in der Welt kaum eine Sprache gibt, die in ihrem Wortbestand keine Entlehnungen enthält. In der Forschung wurden Entlehnungen von verschiedenen Standpunkten aus untersucht, weswegen es unterschiedliche Definitionen dieser sprachlichen Erscheinung gibt. Beispielsweise Paul (1960: 467) bestimmt die Entlehnung als Sachentlehnung, bei der aus einer Sprache fremde Sprachzeichen übernommen werden, deren Denotate in der entlehnenden Sprache neu oder unbekannt sind. Für Lewandowski (1984: 255) ist hingegen die Entlehnung kein Resultat, sondern ein Prozess: „Überführung oder Übernahme eines Zeichens aus einer Sprache in die andere; Bereicherung des Wortbestandes einer Sprache, eines Dialekts oder Idiolekts; Transfer lexikalischen Materials oder grammatischer Konstruktionen“. Homberger (2000: 130) definiert die Entlehnung als „Übernahme eines fremdsprachigen Ausdrucks in die Muttersprache“. Im Metzler- Lexikon Sprache findet man die folgende Definition der Entlehnung: „Übernahme eines Wortes, eines Morphems oder einer syntakt., manchmal auch graphemat. Struktur aus einer Spr. in die andere“ (Schmöe 2010: 178). Der russische Sprachforscher Krysin (2004: 29) bestimmt die Entlehnung als „Prozess der Umstellung verschiedener Elemente aus einer Sprache in eine andere“. Sehr nah an dieser Definition ist die Meinung von Dobrodomov (1998: 158f.): „Die Entlehnung ist die Umstellung der Wörter oder selten die Umstellung der syntaktischen und phraseologischen Wendungen aus einer Sprache in die andere“. Bußmann (2008: 164) schlägt folgende Definition vor: „Vorgang und Ergebnis der Übernahme eines sprachlichen Ausdrucks bzw. einer sprachlichen Struktur aus einer fremden Sprache in die Muttersprache, meist in solchen Fällen, in denen es in der eigenen Sprache keine Bezeichnung für neu entstandene Sachen bzw. Sachverhalte gibt“. Oľšanskij/ Guseva (2005: 124) betonen, dass „man unter Entlehnung den Entlehnungsvorgang, d.h. die Übernahme fremden Sprachgutes sowie das Ergebnis dieses Prozesses - das entlehnte fremde Sprachgut selbst versteht“. In diesem Beitrag wird nicht der Entlehnungsprozess, sondern das schon entlehnte (deutschsprachige) Wortgut untersucht. 3 Ursachen der Entlehnung Hinsichtlich der Ursachen der Entlehnung fremden Wortgutes verweist Schippan (2002: 261) auf die Tatsache, dass „infolge vielfältiger Beziehungen zwischen den Sprachträgern, direkter Berührungen und kultureller Verbindun- 20 Natalia Chomutskaja gen, internationaler Zusammenarbeit es auch zu sprachlichen Annäherungen, zu Sprachkontakten, zu wechselseitiger Beeinflussung der Sprachen und zu Entlehnungen im Wortschatz kommt“. Im Laufe der russischen Sprachgeschichte sind in großem Umfang Wörter aus anderen Sprachen aufgenommen worden, wobei vielfältige kulturhistorische Phänomene die Ursache waren. Das entlehnte Wortgut kommt aus den slawischen und türkischen Sprachen, aus dem Latein, aus dem Griechischen sowie aus den lebenden europäischen Sprachen: vor allem aus dem Deutschen, Französischen und Englischen, wobei einige Wörter auch aus anderen Sprachen entlehnt wurden. Für den Zweck dieser Forschung ist es wichtig, die Kontakte zwischen Deutschland und Russland zu berücksichtigen. Obwohl deutsches und russisches Siedlungsgebiet nirgends unmittelbar aneinandergrenzen, gab es doch seit dem Mittelalter immer häufiger Kontakte zwischen den beiden Völkern. Diplomaten, Geistliche und Kaufleute standen am Anfang dieser Entwicklung, doch bereits im 15. Jahrhundert versuchte Iwan III. (1462-1505) Fachleute für einen längeren Aufenthalt in Russland zu gewinnen. Mit der Hinwendung Russlands zu Europa durch Peter den Großen stieg der Bedarf an deutschen Fachleuten. Es kamen Offiziere, Wissenschaftler, Baumeister und Handwerker nach Russland. Die meisten von ihnen blieben nur für eine begrenzte Zeit, einige aber für immer. Sie bildeten die Anfänge der städtischen deutschen Bevölkerung. Von großer Bedeutung für die weitere Schicht der deutschen Übersiedler war das am 22. Juli 1763 von Katharina der Großen erlassene Einladungsmanifest, in dem ausländischen Kolonisten bei ihrer Umsiedlung nach Russland eine Reihe von Privilegien in Aussicht gestellt wurde. Dies waren Religionsfreiheit, Befreiung vom Militär- und Zivildienst, Steuerfreiheit für 30 Jahre Selbstverwaltung und staatliche Unterstützung bei der Umsiedlung. Das Manifest wurde an verschiedenen europäischen Höfen verbreitet. Das größte Echo fand es in den hessischen Territorien, in Nordbayern, in Nordbaden, in der Pfalz und in einigen Teilen der Rheinprovinz. Einen Teil der Einwanderer siedelte man in der Nähe von Sankt Petersburg an, die meisten wurden für die Kolonisation der Wolgasteppen in der Nähe der Stadt Saratow bestimmt. Laut Angaben der letzten Volkszählung leben in Russland 2010 ca. 400.000 Russlanddeutsche (Russlanddeutsche 2017: www.rusdeutsch.eu/ Russlanddeutsche; Stand: 10. 03.2017). Die Kontakte zwischen den beiden Völkern führten zur Bereicherung des russischen und des deutschen Wortschatzes: der Meister, der Stab, der Wachtmeister im Russischen; der Zobel, die Troika, der Ukas, der Rubel im Deutschen. Der vorliegende Beitrag untersucht anhand Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ deutsche Entlehnungen in der russischen Sprache vor, während und in den ersten Jahren nach dem Krieg Russlands gegen Napoleon. Deutsche Entlehnungen in Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ 21 4 Klassifikationen von Entlehnungen Wissenschaftler untersuchen Germanismen in der russischen Sprache von verschiedenen Standpunkten aus (Krysin 2004, Bogorodickij 1959, Rejcak 1963). Für Forschungsaspekte der Russistik ist es wichtig, folgende Faktoren des Entlehnungsprozesses zu berücksichtigen: 1. Wann und in Zusammenhang mit welchen Ereignissen wurde das Wort entlehnt? 2. Zu welcher thematischen Lexik gehört das Wort? 3. Auf welche Weise (mündlich oder schriftlich) wurde das Wort entlehnt? Für den vorliegenden Beitrag ist der zweite Punkt von Bedeutung. Es gibt sowohl in der Germanistik als auch in der Russistik verschiedene Klassifikationen des entlehnten Wortgutes. Der Beitrag folgt der traditionellen Klassifikation der deutschen Germanisten Hirt, Behaghel und Wrede (vgl. Oľšanskij/ Guseva 2005: 133), die seit Beginn des 20. Jahrhunderts allgemein verbreitet ist. Laut dieser wird das entlehnte Wortgut in zwei Gruppen eingeteilt: Lehnwörter und Fremdwörter. In der Russistik entspricht dieser Einteilung des entlehnten Wortgutes die Klassifikation von Šanskij (1992: 103ff.). Als Lehnwörter sind Entlehnungen anzusehen, die im Russischen völlig assimiliert sind. Sie haben sich in Lautgestalt und Betonung, in Flexion und Schreibung völlig angepasst, z.B. шпион (Spion), акт (Akt), фронт (Front), юнкер (Junker), орден (Orden). Fremdwörter dagegen haben ihren fremdsprachigen Charakter bewahrt, d.h. sie fallen durch spezifische Merkmale auf, z.B. Hofkriegsrat (гофкригсрат), Reithosen (рейтузы), Kanzler (канцлер), Tugendbund (тугендбунд), Minnesänger (миннезенгер). 1 5 Analyse: Deutsche Entlehnungen im Romantext „Krieg und Frieden“ In Werken der klassischen russischen Literatur findet man häufig deutsche Entlehnungen. So gibt es in Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ viele Germanismen, die zu verschiedenen thematischen Gruppen gehören. Um authentisches Zeit- und Ortskolorit zu schaffen, um besser die Atmosphäre jener Epo- 1 Die genannten Beispiele sind dem Romantext „Krieg und Frieden“ von Tolstoi entnommen. 22 Natalia Chomutskaja che zu zeigen, gebraucht Leo Tolstoi viele lexikalisch-stilistische Mittel. Eine wichtige Rolle spielen dabei Entlehnungen, darunter auch diejenigen aus der deutschen Sprache. Deren hohe Anzahl im Roman zeugt von der Popularität der deutschen Sprache in der damaligen russischen Gesellschaft. Auf den ersten Blick scheint es, dass der Roman fast nur französische Entlehnungen enthält. Dafür gibt es objektive Ursachen: Die französische Sprache war zu jener Zeit die meist verbreitete Fremdsprache in Russland; die russische Aristokratie war zweisprachig, d.h. die Adeligen sprachen Französisch genauso gut wie Russisch. Eine der Nebenpersonen im Roman, Fürst Golitzin, konnte mehr Französisch als Russisch. 2 Im Roman gibt es neben den französischen Entlehnungen jedoch auch viele aus der deutschen Sprache. Die durchgeführte Untersuchung hat im Romantext 122 deutsche Entlehnungen ermittelt, die zu verschiedenen thematischen Gruppen gehören: 1. Militärlexik - егерь (Jäger), фронт (Front), штаб (Stab), юнкер (Junker), лагерь (Lager), квартирмейстер (Quartiermeister), гауптвахта (Hauptwacht), гаубица (Haubitze), бруствер (Brustwehr), фейерверк (Feuerwerk), фейерверкер (поджигальщик) (Feuerwerker), фура (Fuhre) 2. Hoftitel - камергер (Kammerherr), фрейлина (Fräulein), канцлер (Kanzler), гофкригсрат (Hofkriegsrat), камер-юнкер (Kammerjunker) 3. Rangbezeichnung - герцог (Herzog), герцогиня (Herzogin), эрцгерцог (Erzherzog), эрцгерцогиня (Erzherzogin), граф (Graf), графиня (Gräfin) 4. Berufe, Tätigkeiten - форейтер (Vorreiter), берейтер (Bereiter), кучер (Kutscher), капельдинер (Kapelldiener), капельмейстер, (Kapellmeister), полицмейстер (Polizeimeister), бургомистр (Bürgermeister), фельдшер (Feldscher) 5. Baueinrichtungen - флигель (Flügel), карниз (Karniese - österreichisch) 6. Kleidung - обшлаг (Aufschlag), фартук (Vortuch), штиблеты (Stiefeletten) - (Halbstiefel), рейтузы (Reithosen) 7. Instrumente - стамеска (Stemmeisen), трензель (Trense), мундштук (Mundstück) 8. Tanz - вальс (Walzer), гросфатер (Großvater - ‚ein alter Tanz‘) 2 Die guten Kenntnisse der französischen Sprache dienten den russischen Offizieren später als Hilfsmittel im Kampf gegen Napoleon. Deutsche Entlehnungen in Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ 23 9. Einzelfälle - рейнвейн (Rheinwein), штиль (Stille), минута (Minute), маршрут (Marschroute), кунсткамера (Kunstkammer), ярмарка (Jahrmarkt), футляр (Futteral), фриштюк (Frühstück), тугендбунд (Tugendbund), миннезенгер (Minnesänger). Bei der Analyse der aus dem Roman gewählten Lexik lässt sich feststellen, dass der größte Teil zu den Archaismen gehört, obwohl auch einige Wörter noch heute gebräuchlich sind: Lager, Hauptwacht, Walzer, Stemmeisen, Jahrmarkt. Deutsche Entlehnungen wie Reithosen, Feuerwerk, Jäger, Fuhre haben im Laufe der Entwicklung der russischen Sprache andere Bedeutungen bekommen: ‚Kleidungsstück für Damen‘, ‚Festattribut‘, ‚Beruf ‘ , ‚Wagenladung‘. Bemerkenswert ist, dass einige Passagen im Roman auf Deutsch geschrieben wurden. Diese Stellen entsprechen einem Punkt der Klassifikation von Krysin (2004: 44), „den fremden Einflechtungen“. Sie zeugen davon, dass die russischen Offiziere auch sehr gut Deutsch konnten. Das belegen folgende Beispiele aus dem Romantext: a. Напротив, сделанные отступления от его теории, по его понятиям, были единственной причиной всей неудачи, и он с свойственной ему радостной иронией говорил: «Ich sagte ja, daß die ganze Geschichte zum Teufel gehen wird.» (Tolstoj 1974a: 53). b. […] Или атаку von diesem italienischen Herrn, sehr schön! (Tolstoj 1974a: 55). c.  Вольцоген заменил его, продолжая излагать по-французски его мысли и изредка говоря Пфулю: «Nicht wahr, Exellenz? » Пфуль, как в бою разгоряченный человек бьёт по своим, сердито кричал и на Вольцогена: Nun ja, was soll denn da noch expliziert werden? “ (Tolstoj 1974a: 56). d. «Der alte Herr (так называли Кутузова в своём кругу немцы) macht sich ganz bequem»,  подумал Вольцоген […]. Вольцоген, заметив волнение des alten Herrn, с улыбкой сказал […]. (Tolstoj 1962: 281). e. Вот извольте видеть, и Кутузов, с насмешливою улыбкой на концах губ, прочёл по-немецки австрийскому генералу следующее место из письма эрцгерцога Фердинанда: «Wir haben vollkommen zusammengehaltene Kräfte, nahe an 70 000 Mann, um den Feind, wenn er den Lech passierte, angreifen und schlagen zu können. Wir können, da wir Meister von Ulm sind, den Vorteil, auch von beiden Ufern der Donau Meister zu bleiben, nicht verlieren; mithin auch jeden Augenblick, wenn der Feind den Lech nicht passierte, die Donau übersetzen, uns auf seine Kommunikations-Linie werfen, die Donau unterhalb repassieren um dem Feinde, wenn er sich ge- 24 Natalia Chomutskaja gen unsere treue Allierte mit ganzer Macht wenden wollte, seine Absicht alsbald vereiteln. Wie werden auf solche Weise dem Zeitpunkt, wo die Kaiserlich-Russische Armee ausgerüstet sein wird, mutig entgegenharren, und sodann leicht gemeinschaftlich die Möglichkeit finden, dem Feinde das Schicksal zuzubereiten, so er verdient.» (Tolstoj 1973: 152). f.  Генерал нахмурился, отвернулся и пошёл дальше.  Gott, wie naiv!  cказал он сердито, отойдя несколько шагов. (Tolstoj 1973: 156). g. Он весело улыбнулся и подмигнул: «Schön, gut Morgen! Schön, gut Morgen! »  повторял он, видимо находя удовольствие в приветствии молодого человека.  Schon fleißig! - сказал Ростов всё с той же радостною, братскою улыбкой, какая не сходила с его оживлённого лица.  Hoch Oestreicher! Hoch Russen! Kaiser Alexander hoch! - обратился он к немцу, повторяя слова, говоренные часто немцем-хозяином. Немец засмеялся, вышел совсем из двери коровника, сдёрнул колпак и, взмахнув им над головой, закричал:  Und die ganze Welt hoch! Ростов сам так же, как немец, взмахнул фуражкой над головой и, смеясь, закричал: «Und vivat die ganze Welt! » (Tolstoj 1973: 158f.). h. Из коридора направо; там, Euer Hochgeboren, найдёте дежурного флигель-адъютанта,  сказал ему чиновник. (Tolstoj 1973: 186). i. Der Krieg im Raum verlegt werden. Der Ansicht kann ich nicht genug Preis geben,  говорил один.  O ja, сказал другой голос,  da der Zweck ist nur den Feind zu schwächen, so kann man gewiß nicht den Verlust der Privatpersonen in Achtung nehmen.  O ja,  подтвердил первый голос.  Да, im Raum verlegen - повторил, злобно фыркая носом, князь Андрей, когда они проехали. - Im Raum-то у меня остался отец, и сын, и сестра в Лысых горах“ (Tolstoj 1974a: 214). j. «Die erste Colonne marschiert туда-то и туда-то, die zweite Colonne marschiert туда-то и туда-то“ (Tolstoj 1974b: 80). k. Ach, Erlaucht - сказал Франц, с трудом взваливая чемодан в бричку. - Wir ziehen noch weiter. Der Bösewicht ist schon wieder hinter uns her! (Tolstoj 1973: 198). In Bezug auf die interkulturelle Kommunikation ist zu erwähnen, dass viele Deutsche beim russischen Hof oder bei der russischen Armee dienten: Wenzigorode, Barclay de Tolly (der General mit deutscher Aussprache und russischer Seele), General Pfuhl, Adolf Berg, Stein sowie auch Tanzlehrer Jogel. Sie bringen Elemente der deutschen Kultur und der deutschen Sprache in das russische Deutsche Entlehnungen in Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ 25 Leben. Einige Szenen im Roman sind Stereotypen deutscher Charaktereigenschaften gewidmet: Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit. Scherzhaft bezeichnete der alte Fürst N. Bolkonskii die deutsche Armee als „Hofs-kriegs-wurstschnaps-rat“, aber das Wichtigste in seinem Leben war die Ordnung, wie man sie den Deutschen nachsagt. Der andere Held des Romans, der brave Offizier D. Davidov, nennt die Deutschen einfach „Wurstleute“, denn er hat öfter Kontakt zu Deutschen, da er bei der Armee in Deutschland und Österreich war. Im Nachwort sind die Überlegungen des Autors über die weitere Entwicklung der Weltgeschichte wichtig, bei denen er die Namen Bismarck und Luther erwähnt und sich an die Ereignisse in Austerlitz, Tilsit und Erfurt erinnert. All das zeugt davon, dass der russische Adel damals nicht nur zweisprachig, sondern zum Teil sogar dreisprachig war und die deutsche Sprache weiter verbreitet war als heute. 6 Fazit Aus der durchgeführten Analyse geht hervor: Die meisten deutschen Entlehnungen im Romantext sind völlig assimilierte Wörter (85 %), Fremdwörter kamen seltener vor (15 %). Bemerkenswert sind auch die deutschen Einflechtungen, da einige Passagen im Romantext auf Deutsch geschrieben wurden. Die Mehrzahl der Germanismen sind Sachentlehnungen. Was die Thematik betrifft, sind Militärwörter am meisten vertreten. Die Entlehnungen sind wohl darauf zurückzuführen, dass, historisch betrachtet, beispielsweise durch die Armee Kontakt zu Deutschen entstand und daher russische Offiziere oft die deutsche Sprache beherrschten, was sich in den Charakteren im Roman widerspiegelt. 7 Literatur Boduėn, Kurtene de, I. A. (1963): Izbrannye trudy po obščemu jazykoznaniju. T. 2. Moskva. Bogorodickij, V. A. (1959): Vvedenie v izučenie sovremennych romanskich i germanskich jazykov. Izd. 2-e. Izd. literatury na inostrannych jazykach. Moskva. Bußmann, Hadumod (2008): Lexikon der Sprachwissenschaft. 4., durchges. und bibliogr. erg. Aufl. Stuttgart. Dobrodomov, Igor G. (1998): Zaimstvovanija v russkom jazyke. Moskva. Homberger, Dietrich (2000): Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft. 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Der eine oder andere Kulturkreis kann auch über weitere Handlungen verfügen, die den Sprechakt Grüßen in der zwischenmenschlichen Kommunikation herbeiführen. Demzufolge wurde bei der empirischen Datenerhebung über den S p r e c h a k t G r ü ß e n nach möglichst vielen Situationen gefragt, welche einen solchen Gruß hervorrufen. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist der Sprechakt Grüßen im Deutschen, Rumänischen und Rumäniendeutschen. Es wurden empirische Daten erhoben, um herauszufinden, welche Handlungen und Anlässe den Sprechakt Grüßen nach sich ziehen. Für die Untersuchung sind auch die Konventionen, nach denen der Sprechakt Grüßen vollzogen wird, relevant, da diese zu erkennen helfen, wie man die entsprechenden Grußformeln in den unterschiedlichen Kulturen verwendet. 1 Einleitung Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Grußformeln im Deutschen, Rumänischen und Rumäniendeutschen. Es sei vorangestellt, dass das Deutsche und Rumänische mehr Grußformeln aufweisen als in dieser Untersuchung dargestellt; das Rumäniendeutsche hat Gemeinsamkeiten sowohl mit dem deutschen und österreichischen Deutsch als auch mit dem Rumänischen. Auch in den untersuchten Sprach(varietät)en gibt es feste Ausdrücke, die vorgeformt sind und immer wieder reproduziert werden können. Sie stellen den Untersuchungsgegenstand der Phraseologie dar. Diejenigen Phraseologismen, die in sich wiederholenden Kommunikationssituationen auftreten und in der Kommunikation bestimmte Aufgaben übernehmen, bilden die Gruppe der 1 Der vorliegende Text geht auf den gleichnamigen Vortrag der Verfasserin in der von Herrn Prof. Dr. Ioan Lăzărescu und Herrn Prof. Dr. Hermann Scheuringer geleiteten Sektion 3 unter dem Titel „Varietäten des Deutschen“ zurück. 28 Ioana Hermine Fierbințeanu pragmatischen Phraseologismen. Diese können einerseits situationsgebundene Routineformeln und andererseits situationsungebundene Gesprächsformeln sein. Das ausschlaggebende Kriterium der situationsgebundenen Routineformeln, des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit, ist ihre pragmatische Festigkeit und pragmatische Funktion. Die Untersuchung hat zum Ziel, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Sprechakt Grüßen im Deutschen, Rumänischen und Rumäniendeutschen darzustellen. Dabei stehen die Bedürfnisse der Fremdsprachenlerner und Übersetzer im Mittelpunkt. Die zentrale Frage lautet: Was entspricht den deutschen Routineformeln im Rumänischen und Rumäniendeutschen? Welche Informationen sollten Fremdsprachenlerner und Übersetzer über eine Grußformel haben, um die Kommunikation bzw. ihre Arbeit zu erleichtern? Für Übersetzer und Fremdsprachenlerner stellen Routineformeln eine große Herausforderung dar, weil sie nicht direkt aus der einen Kultur in die andere übertragen werden können. Sie müssen sich darüber bewusst sein, dass es sprach- und kulturbedingte Unterschiede gibt, die sie in Betracht ziehen müssen, um richtig sprachlich zu handeln oder eine funktionale Übersetzung bieten zu können. Diejenigen, die Deutsch als Fremdsprache lernen, müssen sich Routineformeln und ihren Einsatz aneignen, da ansonsten Missverständnisse und Kommunikationsstörungen auftreten können oder sogar Ablehnung seitens Mitglieder der anderen Sprachgemeinschaft aufkommen kann. Ziel dieses Beitrags ist zu klären, wie bedeutend es ist, Routineformeln im DaF-Unterricht in Rumänien zu berücksichtigen, da eine kulturkontrastive Sichtweise es den rumänischen DaF-Lernern ermöglicht, sprachlich adäquat zu handeln, wenn sie sich im eigenen oder im deutschsprachigen Kulturraum befinden. In Kapitel 2 wird kurz auf die Terminologie sowie auf den Status von Routineformeln in der Phraseologie eingegangen, während das dritte Kapitel den Sprechakt Grüßen darstellt. Das vierte Kapitel bietet einen Überblick einiger Grußformeln im Deutschen, im Rumänischen und im Rumäniendeutschen. Kapitel 5 enthält schließlich eine Zusammenfassung und bietet einen Ausblick. 2 Abgrenzung und Definition kommunikativer Routineformeln Zum Forschungsgegenstand der Phraseologie gehören auch die sprachlichen Fertigteile bzw. die Routineformeln. Phraseologismen sind fest geprägte Mehrworteinheiten, die strukturell-semantisch in wortvs. satzwertige Einheiten sowie in bildhaft-idiomatische oder solche Einheiten, die aufgrund der wörtlichen Bedeutung ihrer Komponenten aufgeschlüsselt werden können, subklassifiziert werden. Im Falle der Wortgruppenidiome wie z.B. der Verbidiome wie im gleichen Boot sitzen (‚gemeinsam in derselben schwierigen Lage sein‘; Du- Der Sprechakt Grüßen im Deutschen und im Rumänischen 29 den 2002: s.v. Boot) wird vom Kerngebiet der Phraseologie bzw. von Phraseologie im engeren Sinn gesprochen, während nichtidiomatische Verbindungen und Einheiten mit Satzstruktur, wie beispielsweise Da haben wir den Salat! (‚jetzt ist das eingetreten, was schon immer zu befürchten war‘; Kempcke 2000: s.v. Salat) oder nicht-bildhafte, z.B. Das musste einmal gesagt werden (‚sagt jmd., wenn er od. jmd. eine längst fällige kritische Äußerung getan hat‘; Duden 2011: s.v. sagen) zur Peripherie der Phraseologie bzw. zur Phraseologie im weiteren Sinn gezählt werden (Fleischer 1997: 23; Lüger 1999: 3). Als eigenständige Disziplin neben der Phraseologie wird die Sprichwortkunde (Parömiologie) betrachtet. Die Situationsgebundenheit von Äußerungen spielt neben strukturellen und semantisch-metaphorischen Gesichtspunkten sowie pragmatischen Kriterien eine zentrale Rolle: Für wiederkehrende Kommunikationssituationen gibt es fest konventionalisierte Routineformeln wie z.B. Gruß- und Dankesformeln oder metakommunikative Kommentarformeln. Burger und Jaksche (1973) nannten sie pragmatische Idiome, während Pilz (1978) sie als phraseologische Formeln bezeichnete; Burger/ Buhofer/ Sialm (1982) benutzen den Terminus pragmatische Phraseologismen. Coulmas (1981) unterscheidet als verbale Stereotypen außer Redewendungen, Sprichwörtern und Gemeinplätzen auch Routineformeln, ein Terminus, den auch Burger (1998: 52ff.) und Lüger (1999: 125ff.) einsetzen. Kempcke (zit. nach Kürschner 1994: 446) entschied sich für den Terminus kommunikative Wendungen, den er auch in seinem Wörterbuch verwendet hat. Bei Fleischer (1997: 125ff.) findet sich wiederum der Terminus kommunikative Formeln. Lüger (1999: 125ff.) grenzt Routineformeln von anderen satzwertigen Phraseologismen ab, indem er sich auf die Situationsgebundenheit stützt. Er unterscheidet Routineformeln sowohl von Sprichwörtern als auch von Gemeinplätzen, geflügelten Worten und Slogans, die alle auch als potenziell eigenständige Texte zu verstehen sind. Die Strukturtypologie von Fleischer (1997: 125ff.) 2 sieht die Explizitheit der Satzstruktur als Hauptkriterium an. Es wird zwischen Routineformeln mit expliziter und impliziter Satzstruktur sowie bildhaften und nicht-bildhaften Ausdrücken differenziert (Lüger 1999: 129ff.): 1) Explizite Satzstruktur: a) Hauptsatz:  Da liegt der Hund begraben! ‚Das ist der Kern der Sache! ‘ (Duden 2002: s.v. Hund) [+ bildhaft] 2 Die kommunikative Funktion wird bei Fleischer (1997) entweder als Bedeutungsparaphrase in einfachen Anführungszeichen oder aber als Erklärung der kommunikativ-situationellen Funktion in einfachen Anführungszeichen und eckigen Klammern wiedergegeben. 30 Ioana Hermine Fierbințeanu  Sei kein Frosch! ‚Aufforderung zum Mitmachen‘ (Duden 2002: s.v. Frosch) [+ bildhaft]  Wir sprechen uns noch! ‚Drohung, die Angelegenheit ist zwischen uns noch nicht erledigt‘ (Duden 2002: s.v. sprechen) [- bildhaft] b) Verselbstständigte Teilsätze:  Nicht, dass ich wüsste ‚meiner Meinung nach nicht‘ (Duden 2011: s.v. wissen) [- bildhaft]  Wenn ich fragen darf … in höflicher Rede, besonders einer ‚Frage, Aufforderung‘ (Duden 2011: s.v. fragen) [- bildhaft] 2) Implizite Satzstruktur:  Schwamm drüber! ‚Wir wollen nicht mehr davon reden, das Geschehene soll vergessen sein‘ (Duden 2002: s.v. Schwamm) [+ bildhaft]  Hand aufs Herz! ‚Aufforderung zur ehrlichen Meinungsäußerung‘ (vgl. Duden 2002: s.v. Hand) [+ bildhaft]  Bis dann! ‚Abschiedsformel mit Hinweis auf das nächste Wiedersehen‘ (Duden 2011: s.v. dann) [- bildhaft] Alle Beispiele weisen eine Mehrwortstruktur auf. Aus kommunikativer Sicht stellt sich die Frage, ob aufgrund der pragmatischen Funktion der Situationsgebundenheit auch einige Einwortausdrücke als Untergruppe von Routineformeln mit impliziter Satzstruktur betrachtet werden können. Die sogenannten Gesprächspartikeln (Duden 1998: 380ff.), zum Beispiel Antworten auf Entscheidungsfragen (ja, nein, doch), (auch Ein-Wort-)Grüße und Wünsche (Servus! , Tschüs(s), Wiedersehen! , Prost! , Gesundheit! ), Gliederungs- und Rückmeldungssignale (Genau! , Bitte? , oder? ) sowie Interjektionen und Kraftwörter (Igitt! , Ach! , Donnerwetter! , Verflucht! ) sollten genauso wie die polylexematischen Routineformeln behandelt werden. Einwortartige und mehrwortartige Routineformeln treten als textgliedernde oder kommunikationssteuernde bzw. beziehungsregulierende Signale, nicht als Benennungseinheiten auf (Lüger 1999: 134). Diese Eigenschaft ist in einer kontrastiven Analyse sinnvoll, weil das, was in einer Sprache als Mehrwortverbindung realisiert wird, in einer anderen Sprache ein Einwortäquivalent haben kann. Für eine kulturkontrastive kommunikativ-situationelle Unterscheidung kann die Wortanzahl des Ausdrucks allein nicht ausschlaggebend sein, selbst wenn sich Fleischer (1997: 130) nur auf die Mehrworteinheiten beschränkt. Er unterscheidet folgende zentrale Funktionsgruppen: Der Sprechakt Grüßen im Deutschen und im Rumänischen 31 1) Höflichkeitsformeln (Kontaktformeln)  Grußformeln, Konversationsformeln und Dankesformeln 2) Schelt- und Fluchformeln 3) Kommentarformeln  Formeln des Erstaunens, der Zustimmung oder der Bestätigung 4) Stimulierungsformeln  Drohung, Warnung. Aus der Perspektive des heutigen kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterrichts und der kontrastiven Analyse spielt das Kriterium der situationalen Gebundenheit die wichtigste Rolle. Die Kernfrage lautet dabei: Was wird „in einer analogen Situation bzw. in Bezug auf den gleichen Sachverhalt“ (Coseriu 1970: 12) bzw. zum Erzielen des gleichen Kommunikationseffekts gesagt? Für die kommunikativen Stereotypen betrachtet auch Coulmas (1981: 141) nur eine situationsgebundene Gliederung als sinnvoll, obwohl eingeräumt werden muss, dass es sich um verschiedene Kulturen handelt, sodass Gleichheit der Situation als auch Gleichheit des Kommunikationseffekts nur approximative Werte sein können, die auf einem größeren oder geringeren Grad von Invarianz beruhen. 3 Der Sprechakt Grüßen Für den Sprechakt Grüßen wurden empirische Daten gesammelt - sowohl über die Handlungen, die den Sprechakt in der Interaktion herbeiführen als auch über die sprachlichen Reaktionen auf diesen Sprechakt. Außer diesen Daten sollten bei der Umfrage 3 auch Daten über die Konventionen erhoben werden, die im deutschen, rumänischen und rumäniendeutschen Kulturkreis beim Grüßen zu beachten sind. Damit sind Daten gemeint, die über die Art und Weise Aufschluss geben, auf welche dieser Sprechakt im Deutschen, Rumäni- 3 Die Untersuchung ist eine empirische Studie, die für das Deutsche in den alten Bundesländern von Hussein Ali Mahdi 2010 in Deutschland und von der Verfasserin in den neuen Bundesländern 2014 und für das Rumänische im Banat, in Oltenien, in Siebenbürgen und in der Walachei 2014 durchgeführt wurde. Die Zielgruppe von Hussein Mahdi Ali (etwa 200 Probanden) stellt deutsche Muttersprachler beider Geschlechter und unterschiedlichen Alters dar, während meine Zielgruppe etwa 50 Probanden aus den neuen Bundesländern und 200 rumänische Muttersprachler beider Geschlechter und unterschiedlichen Alters umfasst. Die beste Methode zur Erhebung empirischer Daten für die Analyse der Grüße war die mündliche Befragung, da die Flexibilität bei der persönlichen Befragung am stärksten ausgeprägt ist. Rückfragen zu stellen erlaubt eine persönliche Interaktion zwischen Befragten und Interviewer oder Interviewerin und trägt zur Sicherstellung der Vollständigkeit der Antworten durch den Fragenden bei. 32 Ioana Hermine Fierbințeanu schen und Rumäniendeutschen vollzogen wird. Der Sprechakt Grüßen stellt in den drei Kulturen und in allen Kulturen überhaupt eine Universalie dar. Alle Ausführungen, die nun folgen, beruhen auf den Ergebnissen der Umfrage und der subjektiven Wahrnehmung der Verfasserin. Es wird keine Allgemeingültigkeit beansprucht. Dieser Beitrag geht von einigen Grundkonventionen, wie etwa in den Benimmbüchern festgehalten, aus. Im Allgemeinen wird der Sprechakt Grüßen im deutschen, im rumänischen und im rumäniendeutschen Kulturkontext vor allem beim Betreten einer öffentlichen Einrichtung bzw. eines Geschäfts realisiert. In Deutschland und in Rumänien grüßt man also beim Betreten öffentlicher Gebäude wie Banken, Behörden, Krankenhäuser u.a.; an diesen Orten grüßt man nur diejenigen, mit denen man ins Gespräch kommt. In anderen Einrichtungen wie in einem größeren Supermarkt wird beim Betreten des Geschäfts in der Regel nicht gegrüßt, dafür wird nach dem Einkaufen ein bestimmtes Ritual relativ strikt eingehalten: Der Kassierer grüßt den Kunden, wenn dieser an der Reihe ist. In kleinen Läden wird dagegen gewöhnlich beim Eintreten gegrüßt. Als eine weitere Handlung, die im deutschen, im rumänischen und im rumäniendeutschen Kulturkontext den Sprechakt Grüßen nach sich zieht, wird die Begegnung mit Bekannten auf der Straße, einer Party, einer Veranstaltung usw. betrachtet, sei es eine zufällige oder eine vereinbarte Begegnung. Als weitere Handlung folgt das gegenseitige Begrüßen der involvierten Personen. Bei der Vorstellung wird üblicherweise im deutschen, rumänischen und rumäniendeutschen Kulturkreis gegrüßt, nachdem zwei Personen einander vorgestellt wurden. Bei einer Selbstvorstellung grüßt vor der Vorstellung derjenige Kommunikationspartner, der sich vorstellen möchte. Durch die Umfrage konnte festgestellt werden, dass in der Regel als sprachliche Reaktion auf den Sprechakt Grüßen ein Gegengruß folgt. Der Gegengruß hängt sowohl von der Tageszeit als auch von der betreffenden Person ab. Die Unterlassung des Grußes oder des Gegengrußes wird in allen drei Kulturkreisen als sehr unhöflich aufgefasst und als eine Beleidigung empfunden (Mahdi 2010). Manchmal wird das Grußverhalten von einem Händedruck, einer Umarmung oder einem Wangenkuss begleitet. Begegnet man einem Bekannten, den man lange Zeit nicht gesehen hat oder ist man von weither angereist, wird der Gruß normalerweise von einer Umarmung bzw. einem Wangenkuss der betreffenden Person begleitet. In Deutschland „wird mit dem Händedruck dann begrüßt, wenn beispielsweise Bekannte oder Verwandte zu Besuch kommen. Ebenso reicht man die Hand, wenn man einer Person vorgestellt wird. Des Weiteren wird beispielsweise auf der Straße und in öffentlichen Gebäuden oder in Fahrzeugen wie z.B. in Bussen auch per Handschlag gegrüßt, wenn man miteinander sprechen möchte. In privaten Räumen oder in geschlossenen Veran- Der Sprechakt Grüßen im Deutschen und im Rumänischen 33 staltungen beruflicher Art ist es noch sehr viel komplizierter. Die Regel ist: Je vornehmer man tun will, umso eher wird jeder per Handschlag begrüßt. Wenn man sich in seiner Arbeitseinheit zu einer Besprechung trifft, begrüßt man sich meist nicht per Handschlag“ (Mahdi 2010: 156). In Rumänien werden, ob im rumänischen oder im rumäniendeutschen 4 Diskurs, die Personen gegrüßt, die man bereits kennt oder mit denen man für kurze Zeit zu tun hat, sowie die Gesprächspartner, mit denen eine Interaktion vorgesehen ist. Der Unterschied zum deutschen Kulturkreis besteht darin, dass man mit einem Händedruck lediglich einen Vorgesetzten oder einen Mitarbeiter begrüßt, nur Männer begrüßen einander sowohl privat als auch in der Arbeit mit einem Händedruck. Frauen in Rumänien umarmen und küssen einander, wenn sie eine freundschaftliche Beziehung haben oder einander lange nicht gesehen haben, sie reichen sich aber nie die Hand. 4 Grußformeln im Deutschen, im Rumänischen und im Rumäniendeutschen 4.1 Guten Morgen! bzw. Bună dimineața! Die Grußformeln Guten Morgen! bzw. Bună dimineața! werden in der Regel als Morgengruß in der entsprechenden Interaktion eingesetzt. Die beiden Formeln werden in der Begegnung von zwei oder mehreren Bekannten gebraucht. Die Verwendung der Grußformeln Guten Morgen! und Bună dimineața! beschränken sich aber nicht nur auf die Begegnung von Bekannten, die Formeln sind auch einsetzbar, wenn man beispielsweise in Banken oder Ämtern die Angestellten anspricht, um ein Gespräch zu beginnen. In Gesprächen mit Unbekannten, die man beispielsweise auf der Straße oder im Stadtverkehr anspricht, um eine Wegbeschreibung zu verlangen, wird das Gespräch mit der Formel Entschuldigung! bzw. Mă scuzați! begonnen. In der Familie nach dem Aufstehen wird die Formel Guten Morgen! bzw. Bună dimineața! als Morgengruß unter den Familienmitgliedern verwendet. Die Formeln können in den drei Sprachen auch als Weckgruß gebraucht werden. Die Grußformeln Guten Morgen! und Bună dimineața! werden in förmlichen Situationen bzw. in der Interaktion mit denjenigen Personen eingesetzt, denen 4 „[…] das in einigen Gebieten Rumäniens in der überregionalen Kommunikation verwendete Deutsch, allgemein unter der Bezeichnung Rumäniendeutsch bekannt, [kann] als eine eigenständige Varietät der deutschen Sprache betrachtet werden […] und […] trotz ihrer fehlenden Amtssprachlichkeit im Sinne von Ammon (1995) [ist] der Anspruch auf Standardsprachlichkeit berechtigt […]“ (Lăzărescu 2013: 369). 34 Ioana Hermine Fierbințeanu gegenüber man das Sie verwendet. In informellen Situationen bzw. in der Kommunikation mit vertrauten Personen wie Freunden, Verwandten oder Familienmitgliedern findet die Grußformel Guten Morgen! auch Verwendung. Die beiden Formeln werden von allen Befragten in der Kommunikation eingesetzt. Die Formeln sind ihrem Ursprung nach auf den Wunsch Ich wünsche Ihnen/ dir einen guten Morgen! / Îți/ Vă urez o zi bună! zurückzuführen. In dieser vollständigen Form treten die Formeln nicht mehr auf: Die Gesprächsteilnehmer denken in beiden Sprachen nicht mehr an die wörtliche Bedeutung dieses Satzes, der mehrere Varianten aufweist: Einen wunderschönen guten Morgen! bzw. Wunderschönen guten Morgen! und Einen schönen guten Morgen bzw. Schönen guten Morgen! bzw. O dimineață minunată/ O dimineață frumoasă! . Die Formeln werden in den drei Sprach(varietät)en als Morgengruß von ca. 3.00 Uhr morgens bis ca. 11.00 Uhr vormittags gebraucht. In Deutschland wird die Formel Guten Morgen! außerhalb der genannten Zeitspanne ironisch eingesetzt, wenn der Angesprochene sehr lange geschlafen hat und beispielsweise erst um zwei Uhr nachmittags aufsteht (Mahdi 2010). Die Grußformeln Guten Morgen! und Bună dimineața! können sowohl initiativ als auch reaktiv benutzt werden, die Reaktion ist meist Guten Morgen! bzw. Bună dimineața! . In beiden Sprachen gibt es auch die Kurzformen: 'n Morgen! bzw. Neața! . 5 4.2 Guten Tag! bzw. Bună ziua! Hervorgerufen wird die Grußformel Guten Tag! 6 bzw. Bună ziua! in der Regel durch die Begegnung zweier oder mehrerer Personen in der Interaktion. Die Grußformeln Guten Tag! bzw. Bună ziua! kommen in der Regel in einer formellen Situation bzw. in der Interaktion mit Personen vor, die man anspricht, gegenüber bekannten und unbekannten Personen. Die beiden Formeln kann man im Zeitraum von ca. 11.00 Uhr morgens bis zum Einbruch der Dunkelheit einsetzen, jedoch hängt der jeweilige Gebrauch vom Tageslicht und dem persönlichen Empfinden ab. Die Formeln stammen von den Wünschen: Ich wünsche Ihnen/ dir einen guten Tag! bzw. Vă/ Îți urez o zi bună! und haben die inhaltliche Bedeutung verloren, weswegen sie nur floskelhaft eingesetzt werden. Wunderschönen guten Tag! bzw. Schönen guten Tag! und O zi bună! / O zi frumoasă! / O zi minunată! / O zi faină 7 ! sind die rumäni- 5 Neața ist die rumänische Kurzform von dimineața, dt. ‚Morgen ʽ . 6 Alternativen sind: Moin/ Guten Tag/ Grüß Gott (König 2007: 242). 7 Ein Regionalismus, der aus dem Deutschen fein stammt. Der Sprechakt Grüßen im Deutschen und im Rumänischen 35 schen und deutschen Varianten, die in weniger formalen Situationen verwendet werden (Mahdi 2010). Die Grußformel Guten Tag! wird normalerweise von allen Altersstufen benutzt. Jugendliche verwenden die Grußformeln Guten Tag! bzw. Bună ziua! dabei allerdings eher selten, d.h., dass sie die Formeln nur gegenüber Erwachsenen einsetzen. Als Gruß werden die Formeln von älteren Generationen bevorzugt. Im Rumänischen ist auffallend, dass sich die Formel Bună ziua! (‚Guten Tag! ‘) nicht nur darauf beschränkt, in der Interaktion den Gruß zum Ausdruck zu bringen. Sie findet auch als sehr höfliche Abschiedsformel Verwendung, wohingegen im Deutschen die Formel zwar ebenfalls beim Abschied benutzt wird, dabei allerdings das Gegenteil von dem, was die Formel Guten Tag! wörtlich ausdrückt, gemeint ist. Die Grußformeln können sowohl in einer initiativen als auch in einer reaktiven Position im Gespräch vorkommen. Die übliche und geläufige Reaktion auf die Grußformel Guten Tag! bzw. Bună ziua! ist Guten Tag! bzw. Bună ziua! . In manchen Situationen kann auch die verkürzte Form Tag! bzw. Bună! 8 als sprachliche Reaktion auf die Grußformel Guten Tag! bzw. Bună ziua! auftreten. Als Antwort auf die Grußformel Guten Tag! kann nach Ergebnissen der durchgeführten Umfrage vor allem auch die Formel Hallo! von einer höhergestellten Person eingesetzt werden. In einigen (vornehmlich den südlichen) Regionen Deutschlands sind Guten Tag! , Guten Morgen! und Guten Abend! nicht gebräuchlich, da in der Gegend meist statt Guten Tag! die Grußformel Grüß Gott! verwendet wird. 4.3 Hallo! Hi! Hey! In der zwischenmenschlichen Kommunikation können im Deutschen und im Rumäniendeutschen bei der Begegnung zweier oder mehrerer Bekannter die Formeln Hallo! , Hi! oder Hey! ausgetauscht werden. Das pragmatische Äquivalent zu Hallo! ist im Rumänischen Bună! . 9 Diese Formeln können gelegentlich als Gruß auch gegenüber unbekannten Personen benutzt werden. Von den drei Formeln ist Hallo! die Formel, die auch in förmlichen Situationen eingesetzt werden kann. Es ist eine Formel, die von der älteren Generation normalerweise nicht verwendet wird. Die pragmatische Funktion der Formeln Hallo! und Hey! ist erweitert worden, da sie außer als Gruß in der Kommunikation auch als Ruf eingesetzt werden können, um die Aufmerksamkeit einer anderen Person auf sich zu lenken. 8 Bună bedeutet im Rumänischen ‚gut(en) ʽ . 9 Die Kurzform von Bună ziua! (Guten Tag! ). 36 Ioana Hermine Fierbințeanu Die Formel Hallo! stammt vom Englischen hallo ab (Duden 2011: s.v. hallo) und ist laut den Probanden aus den alten Bundesländern erst nach dem zweiten Weltkrieg in Westdeutschland aufgekommen, vor allem in den amerikanisch besetzten Gebieten. Dort sagten die US-Alliierten das amerikanische Hello! oder Hallo! , das dann von den Deutschen langsam übernommen wurde. Vor dieser Zeit war Hallo eher ein Signal-, teils auch Hilfe- oder Erkundungsruf (Hallo, wo bist du? etc.). Als Grußformel ist Hallo! unter Einfluss der US-Medien und der von dort kommenden Kultur und Musik ab Ende der 1960er Jahre, vor allem dann in den 1970ern, stark aufgekommen und hat sich durchgesetzt, während der Gruß in den neuen Bundesländern erst nach 1989 verwendet wurde und in Rumänien von den Rumäniendeutschen erst nach der Wende 1990 durch den Kontakt zum deutschsprachigen Raum eingesetzt wurde. Eine Variante von Hallo! ist die Formel Hallöchen! , die laut Aussagen der Probanden im Gespräch als freundlicher empfunden wird und dem Begrüßen der Freunde und Familienmitglieder dient. Alle diese Formeln können nach den Grußformeln Guten Morgen! bzw. Morgen! in der Interaktion verwendet werden. Sie werden gewöhnlich von ca. 10.00 Uhr morgens als Gruß für den Rest des Tages benutzt und treten sowohl in reaktiver als auch in initiativer Position in der Interaktion auf (Mahdi 2010). 4.4 Servus! Die Grußformel Servus! wird in der Interaktion durch dieselben Anlässe hervorgerufen wie die Formeln Hallo! , Hi! und Hey! Es ist ein freundlicher Gruß, der in Deutschland und in Rumänien im Vergleich zu Hallo! nur regional auftritt. Servus! wird in allen untersuchten Sprach(varietät)en verwendet. Laut den empirischen Daten kommt diese Formel in informellen Situationen in der Interaktion mit vertrauten Personen wie Freunden, Verwandten oder Familienmitgliedern vor. In Rumänien wird die Formel in Siebenbürgen und im Banat sowohl im Rumäniendeutschen als auch im Rumänischen gebraucht. Ältere Sprecher verwenden diese Formel gegenüber jüngeren Sprechern, auch wenn sie selbst mit Guten Tag! oder Bună ziua! begrüßt werden. Im Laufe der Zeit hat die Formel Servus! die wörtliche Bedeutung Ich bin Ihr/ dein Diener verloren. Sie wird heutzutage im Gespräch nur floskelhaft gebraucht und beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Altersklasse (Mahdi 2010). Die Formel kann auch als Morgengruß eingesetzt werden und wird sowohl in einer initiativen als auch in einer reaktiven Position im Gespräch verwendet. Im Deutschen, im Rumänischen und im Rumäniendeutschen kann auf die Formel Servus! mit Hallo! , Hi! , Hey! , Grüß Dich! , in Bayern mit Habe die Ehre! und in Rumänien mit Bună ziua! geantwortet werden. Der Sprechakt Grüßen im Deutschen und im Rumänischen 37 4.5 Grüß Gott! Grüß Gott! ist eine Formel, die man nur in bestimmten deutschsprachigen Regionen gebraucht, nämlich in Süddeutschland, Österreich und in Teilen von Rumänien, d.h. in Siebenbürgen und im Banat (in rumäniendeutschen Diskursen). Man verwendet diese Formel in denselben Situationen, in denen man sonst die Grußformel Guten Tag! einsetzen könnte, sie ist folglich nur nicht tageszeitbezogen. Laut den empirischen Daten ist die Formel Grüß Gott! nicht altersbedingt. Sie wird gegenüber den Sprechern verwendet, die man siezt und in der Regel von allen Generationen benutzt. Jugendliche verwenden die Grußformel Grüß Gott! nur in der Interaktion mit Erwachsenen. Ursprünglich ist die Grußformel Grüß Gott! wahrscheinlich auf Grüß Sie Gott! zurückzuführen. Die wörtliche Bedeutung der Formel ist verloren gegangen, da ihr Gebrauch nicht zu bedeuten hat, dass der Sprecher religiös ist. Die Formel wird sowohl von religiösen als auch von nicht religiösen Gesprächspartnern verwendet. Die sprachliche Reaktion auf Grüß Gott! ist in der Regel auch die Formel Grüß Gott! , sodass die Formel in einer initiativen und in einer reaktiven Position Einsatz findet (Mahdi 2010). 4.6 Küss die Hand! bzw. Sărut mâna! Die Formel Küss die Hand! bzw. Sărut mâna! wird gegenüber jüngeren oder älteren Frauen in Österreich und in Rumänien (hier sowohl im Rumäniendeutschen als auch im Rumänischen) verwendet. Es ist ein Gruß, der im österreichischen Deutsch und im Rumäniendeutschen eine aussterbende Begrüßungsform darstellt und im Rumänischen je nach Region mehr oder weniger verwendet wird. Während die Formel Küss die Hand! im österreichischen Deutsch und im Rumäniendeutschen kaum noch verwendet wird (nur selten gegenüber älteren Verwandten als Zeichen des Respekts und der Anerkennung), wird der Gruß im Rumänischen vergleichsweise oft verwendet. Es gibt auch die Kurzform Sărumâna und als Varianten Sărut-mâinile 10 (ältere Männer verwenden den Gruß gegenüber Frauen) und ironisch gebraucht man die Form Sărut-mânușițele 11 . Die Verwendung ist von der Tageszeit unabhängig. 10 Die wörtliche Bedeutung weist den Plural des Nomens Hand auf: Küss die Hände! . 11 Die wörtliche Bedeutung weist die Verkleinerungsform im Plural des Nomens Hand, nämlich Händchen: Küss die Händchen! . 38 Ioana Hermine Fierbințeanu Sărut mâna! ist die Abkürzung von “Vă sărut mâna! ” 12 , während Küss die Hand! als Formel auf Ich küss die Hand, Madame! oder Ich küss die Hand, gnädige Frau! zurückzuführen ist. Der Gruß ist mit einem Handkuss kombinierbar, der jedoch heute weder im deutschsprachigen noch im rumänischen Raum zu finden ist. Im Rumänischen wird der Gruß gegenüber orthodoxen Priestern, Eltern und Großeltern eingesetzt. Die Reaktion ist sehr unterschiedlich. Frauen beantworten den Gruß durch Bună ziua! (Guten Tag! ) oder die entsprechenden Kurzformen, Eltern und Großeltern reagieren darauf mit Să crești mare! (Sollst groß wachsen! )/ Să trăiești! (Sollst lange leben! ) Doamne-ajută! 13 ist eine Grußform, die heute sehr oft statt Küss die Hand! von den rumänischen Sprechern gegenüber orthodoxen Priestern eingesetzt wird. Der Gruß Sărut mâna! wird im rumänischen Raum sehr unterschiedlich verwendet. Die Formel wird in der Walachei und Oltenien sehr oft gebraucht, während sie im Banat und in Siebenbürgen recht selten vorkommt. Die Formel kann in der Interaktion eingesetzt werden, wenn man das Gespräch mit Unbekannten einleiten möchte oder wenn zwei oder mehrere Bekannte einander begegnen. Sie wird sowohl an weibliche Personen gerichtet, die man siezt als auch an Kommunikationsteilnehmerinnen, die man duzt. Im Banat wurde der Gruß Küss die Hand! von Jungen zunehmend mit dem Heranwachsen gebraucht, als sie beweisen wollten, dass sie älteren Bekannten den gebührenden Respekt erweisen konnten. Allerdings werden heutzutage Küss die Hand! oder Sărut mâna! immer weniger verwendet. 4.7 Guten Abend! bzw. Bună seara! Die Formel Guten Abend! oder Bună seara! kann in der Interaktion dann eingesetzt werden, wenn man das Gespräch mit Unbekannten einleiten möchte oder wenn zwei oder mehrere Bekannte einander begegnen. Die Formel Guten Abend! bzw. Bună seara! wird an Personen gerichtet, die man siezt oder zu denen man keine vertraute Beziehung hat. Guten Abend! oder Bună seara! kann in einer verkürzten Form auftreten, nämlich 'n Abend! oder seara! . Die Kurzformen werden nur in informellen Situationen bzw. in der Interaktion mit vertrauten Personen gebraucht. Sowohl die beiden Formeln als auch die entsprechenden Abkürzungen werden in der Regel am Abend als Gruß eingesetzt. Der Übergang von der Grußformel Guten Tag! bzw. Bună ziua! zu der Grußformel Guten Abend! , 'n Abend! 12 Ich küsse Ihnen die Hand! 13 Der Herr stehe uns bei! Der Sprechakt Grüßen im Deutschen und im Rumänischen 39 oder Bună ziua! bzw. Bună! hängt vom Tageslicht und dem persönlichen Empfinden ab. Den beiden Formeln liegt ein Wunsch zugrunde, nämlich Ich wünsche Ichnen/ dir einen guten Abend! bzw. Îți/ Vă doresc o seară bună! . Verwendet werden die Grußformeln und ihre Kurzformen sowohl von jüngeren als auch von älteren Kommunikationspartnern, während Jugendliche meist die Kurzformen gebrauchen. Auf Guten Abend! kann mit Guten Abend! bzw. auf Bună seara! mit Bună seara! und auf die deutschen und rumänischen Kurzformen mit den entsprechenden Kurzformen reagiert werden. Die beiden Formeln können sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen in einer initiativen oder in einer reaktiven Position auftreten. 5 Zusammenfassung und Ausblick Aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass Grußformeln zu den Routineformeln gehören. Sie sind feste Wortverbindungen, die vorgeformt sind und daher immer wieder reproduziert werden können. Das Ziel dieser Arbeit war die Beschreibung von Grußformeln in den Sprach(varietät)en Deutsch, Rumänisch und Rumäniendeutsch. Daraus können Schlüsse für ihre Anwendung im DaF-Unterricht in Rumänien gezogen werden. Zum Zwecke der Beschreibung wurde eine Umfrage durchgeführt, welche die Grundlage für diesen Beitrag bildet. Aus den Implikationen für die DaF-Vermittlung geht hervor, dass Grußformeln im Unterricht in Betracht gezogen werden sollten, da eine kulturkontrastive Analyse den rumänischen DaF-Lernern das Verstehen und den Gebrauch ermöglicht - sowohl im eigenen als auch im deutschsprachigen Kulturraum. Es gehört auf ein anderes Blatt, inwieweit die zeitlichen Ressourcen es erlauben, auf die Routineformeln systematisch im Unterricht in Rumänien einzugehen. Sowohl für den Lerner als auch für den Lehrenden können Lehrwerke, die die wichtigsten Routineformeln zusammenfassend mittels Listen darstellen, eine große Hilfe leisten. Wenn jedoch nur vage Situationsbeschreibungen geboten werden und keine genaueren Angaben (nämlich wer eine Grußformel wann und unter welchen zwischenmenschlichen Bedingungen zu wem sagt und was er damit bezweckt) gemacht werden, ist eine genauere pragmatische Gebrauchsanweisung notwendig. Außerdem soll durch den Ausbau interkultureller Ansätze ein besseres Selbstverstehen durch Fremdverstehen gewährleistet werden, da das Verstehen der Fremdsprache auch das Verstehen der fremden Kultur bedeutet. 40 Ioana Hermine Fierbințeanu 6 Literatur Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin u.a. Burger, Harald (1973): Idiomatik des Deutschen. Unter Mitarbeit von Harald Jaksche. Tübingen. (Germanistische Arbeitshefte; 16). Burger, Harald (1998): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin. (Grundlagen der Germanistik; 36). 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Überlegungen zu außerappellativischen Bildungsregeln bestimmter Namentypen Martin Hannes Graf (Zürich) Zusammenfassung 1 Folgende Ausführungen beschreiben Namenformen, die unter Anwendung geläufiger Erkenntnisse der historischen Grammatik (vornehmlich der Wortbildungslehre) kaum erklärbar sind. Es wird erwogen, dass für bestimmte Erscheinungen der außersprachlichen Welt bestimmte Benennungsmuster zur Anwendung gelangen können resp. konnten, die unmittelbar onymisch wirk(t)en und sich daher einer Beschreibung auf der Grundlage einer historisch-philologischen Analyse entziehen. Sie sind am besten als Prädikationen zu beschreiben, die (im Sondereggerschen Sinne) „bedeutsame“ Aussagen über Designate machen, jedoch nicht im strengen Sinne appellativisch sind. Als eigene Wortklasse stehen sie an der Schnittstelle von Proprialität und Appellativik oder, um es mit Windberger-Heidenkummer (2001: 320) auszudrücken, „an der proprialen Peripherie“. Die Beispiele stammen vorwiegend aus der deutschen Schweiz, können jedoch weitgehend stellvertretend für den ganzen deutschen Sprachraum stehen. 1 Einleitendes Im Zusammenhang mit der klassischen, insbesondere historisch-etymologischen Beurteilung von Eigennamen werden gerne Stefan Sondereggers zwölf „Grundgesetze zum Wesen der Namen und der Namengebung“ aus dessen großem HSK-Artikel „Namengeschichte als Bestandteil der deutschen Sprachgeschichte“ zitiert. Es handelt sich dabei um axiomatisch anmutende Kernaussagen zum Wesen von Eigennamen, die Sonderegger im Anschluss an die theoretische onomastische Literatur der 40er bis 90er Jahre entwirft. An den Beginn stellt Sonderegger (2004: 3406f.) sein Gesetz Nr. 1, das „Gesetz der appellativischen Herkunft“, welches lautet: Jeder Name bzw. jedes Namenelement ist ein ursprüngliches Sachwort (Appellativ) bzw. ein auch appellativisches Wortbildungselement oder eine Zusammen- 1 Der vorliegende Text geht auf den gleichnamigen Vortrag des Verfassers in der von Herrn Prof. Dr. Peter Ernst und Herrn Dr. Gerhard Rampl geleiteten Sektion 2 unter dem Titel „Onomastik“ zurück. 44 Martin Hannes Graf setzung von Sachwörtern bzw. eine Ableitung davon, mit Ausnahme von (zwar teilweise auch appellativischen) Lallnamen und von (oft in Anlehnung an Appellative gebildeten) Phantasienamen. Deshalb ist grundsätzlich auch jeder Name deutbar, wenn es sprachgeschichtlich-sprachvergleichend bzw. etymologisch gelingt, das hinter dem Namen stehende ursprüngliche Appellativ zu eruieren. Dies kann nur von der diachronischen Sprachforschung her geschehen. Damit bleibt die Namenforschung als Namenerklärung in die Sprachgeschichtsforschung eingebettet. Jede Isolierung zur reinen Namenforschung vermindert ihren wissenschaftlichen Aussagewert. Dieses etwas an Pauls (1920 [1995]: 20) junggrammatische Dogmatik 2 gemahnende Gesetz ist dem positivistisch operierenden Namenforscher grundsätzlich sympathisch und nützlich, vermittelt es doch die Zuversicht, dass Namen immer analysierbar sind, wenn die Herangehensweise eine „sprachgeschichtlichsprachvergleichend[e] bzw. etymologisch[e]“ ist. Zwar weiß Sonderegger, dass einem Eigennamen nicht bloß die etymologisch ermittelte Bedeutung innewohnt (obschon diese im synchronen Namengebrauch keine Rolle spielt), sondern dass ein Name auch ein gewisses „Mehr“ an Information transportiert, die „Namenbedeutsamkeit“, wie sie in Sondereggers (2004: 3408) Gesetz Nr. 5 genannt wird. Dennoch besteht ein Namenbewusstsein, für das emotive, in der Frühzeit des Deutschen sogar magische, später christlich-religiöse und überhaupt im weiteren Sinn assoziative Gesichtspunkte von der Faszination des Namens her ausschlaggebend sind. Denn jeder selbst so unscheinbare Name verfügt über eine Bedeutsamkeit, die nicht mit der Namenbedeutung gleichzusetzen ist. Namenbedeutsamkeit kann als die Summe der mit einem Namen verbundenen positiven, neutralen oder negativen Assoziationen, Vorstellungen und Gefühle definiert werden. Diese Namenbedeutsamkeit ist insbesondere für die Effekte von Marken- und Produktnamen ausschlaggebend, arbeiten diese doch vorzugsweise mit der Kraft des assoziativen Zusammenwirkens von Designat und Name. Darum soll es hier aber nicht gehen, sondern um die Frage, ob die Verknüpfung von Designat und Designans immer zwingend über ein tatsächlich existierendes Appellativ verlaufen muss oder ob nicht Namengebung auch gelegentlich andere Wege gehen kann als appellativische Bezeichnungsprozesse es tun. Die Frage wurde von Rudolf Šramek (2004: 10) im Grunde bereits programmatisch beantwortet: „Namenbildung ist eigentlich Materialisierung der in einer Sprache potenziell vorhandenen Benennungsmöglichkeiten und nicht bereits real existierender Lexeme“. 2 „Es ist eingewendet, dass es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe, als die geschichtliche. Ich muss das in Abrede stellen“ (Paul 1995 [1920]: 20). Eigennamen ohne unmittelbaren Appellativanschluss 45 In anderem Zusammenhang nennt Šramek (2007: 77) die Appellativik die Fundierungsbasis der Eigennamen, ohne dass diese aber mit jener deckungsgleich zu sein braucht. Wenngleich die empirische Basis für derlei Feststellungen eher dürftig ist, sind diese doch sprachtheoretisch gut begründet. Für die Erarbeitung philologischer Namenlexika sind sie jedoch von grundsätzlich problematischer Natur: Im Wissen darum, dass Namen an sich desemantisiert sind und funktional bzw. im Hinblick auf das Sprachsystem anders zu bewerten sind als Gattungsnamen, gehen die meisten Namenforscher dennoch den methodisch in der Regel wenig reflektierten Weg, dass man etwa einem Örtlichkeitsnamen unterstellt, er sei einst gar kein Örtlichkeitsname gewesen, sondern sei als ein Element der Sachwelt mit einem Wort aus der Sphäre der Appellative deckungsgleich gewesen. Bei Eigennamen, die ganz offensichtlich als „bifunktionale Referenzmittel“ (Windberger-Heidenkummer 2001: 319) fungieren, also sowohl individualisieren als auch gleichzeitig (noch) deskriptiv klassifizieren, gelingt eine solche Analysetechnik natürlich einwandfrei. Namenlexika des einfachen und traditionellen Typs sind unter dieser Perspektive jedoch streng genommen eigentlich keine Namenlexika, sondern Wörterbücher. Und Onomastik ist unter diesem Gesichtspunkt eher als rekonstruktive Lexikographie zu verstehen. Denn sie erklärt nicht Namen und das Wesen von Namen, sondern Appellative, indem sie die den Eigennamen zugrundeliegenden Wörter in Wörterbüchern zusammensucht und anschließend den Namen eine Bedeutung zuordnet. Das philosophisch und linguistisch anspruchsvolle Problem des Wesens von Bedeutung wird hierbei in der Regel nicht thematisiert. Dabei gibt es durchaus überzeugende Studien (vgl. etwa Windberger-Heidenkummer 2001: 311f. mit dem „Stufenmodell“), die jenes Verhältnis von Proprialität und Appellativik theoretisch und empirisch vermittelnd als Bedingungsgefüge von onymischer und appellativischer Sprachsphäre begreifen. Ziel des vorliegenden Beitrags ist die Beschreibung von Namenformen, deren Erklärung sich anhand der Erkenntnisse der historischen Grammatik, besonders der Wortbildungslehre, schwierig gestaltet. Als Beispiele werden Familien- und Flurnamen sowie Ortsnamen herangezogen. Namenbedeutsamkeit, wie sie hier verstanden werden soll, ist daher weniger dem Irrational-Konnotativen verpflichtet als dem Prädikationalen, insofern dieses das Denotative exakt erfasst, ohne der Appellativgrammatik verpflichtet zu sein. 2 Die Problemfälle Das traditionell philologisch-etymologische Verfahren der Namendeutung ist in zahlreichen Fällen durchaus praktikabel, da es insbesondere einen Rezipientenkreis anspricht, dem die Namenbedeutung am Herzen liegt und der über die 46 Martin Hannes Graf Kenntnis dieser Bedeutung eine Art Zeitreise in die Welt vor der Onymisierung bzw. der Desemantisierung eines Appellativs zurück unternehmen möchte. Von einer namentheoretischen Warte aus gibt es dagegen jedoch mindestens zwei Einwände (die unter sich natürlich zusammenhängen): 1. Zschieschang hat im Rahmen einer Studie über die Benennung peripherer Flächen in den preußischen Provinzen überzeugend herausgearbeitet, dass einer Reihe von Namentypen kein eigentlich fixes Denotat zugrunde liegt, sondern dass mit ein und derselben sprachlichen Einheit unterschiedliche Designate verknüpft werden können. Es scheint, dass es Namenwörter gibt, die unabhängig von ihrer lexikalischen Bedeutung funktionalen Charakter annehmen bzw. dem funktionalen Charakter ihrer Designate nur bedingt lexikalisch Rechnung tragen (Zschieschang 2011: 338): Über die Bedeutungsangaben der den Namen zu Grunde liegenden appellativischen Lexik hinaus wäre danach zu fragen, ob dieser Lexik eine spezifisch propriale Bedeutung innerhalb des mikrotoponymischen Nominationssystems innewohnt, inwiefern diese von der appellativischen Wortbedeutung abweicht, und ob solche Abweichungen möglicherweise einen Geltungsbereich aufweisen, der einzelne Gemarkungen oder bestimmte Regionen überschreitet. Es würde sich hierbei um einen speziellen Fall des „proprialen Inhalts“ handeln, indem Elemente des appellativischen Wortschatzes typischerweise als Benennungen von Objekten bestimmten Charakters auf den Fluren fungierten und darin von der appellativischen Wortbedeutung abwichen. 2. Beim Erarbeiten von Namenlexika bzw. bei deren Lektüre begegnen immer wieder Namen und Namentypen, für die im Korpus der lexikographisch zu ermittelnden Appellative keine unmittelbaren, historischen oder rezenten Korrelate aufzufinden sind − jedenfalls bei Örtlichkeits- und Familiennamen, um die es im Folgenden im Wesentlichen gehen soll. Die Sachlage sei nicht so eng gefasst, dass keinerlei namenbedeutsamen Elemente auszumachen wären und eine etwaige Appellativik überhaupt nicht erkennbar wäre. Im Gegenteil − appellativisch-klassifizierende Anklänge sind problemlos zu orten, nur sind sie in der jeweiligen Anwendung oder Ausführung lexikographisch bzw. historisch nicht dingfest zu machen, oder sie verhalten sich in der Wortbildung in einer Weise, wie sie für die Appellativik nicht nachzuweisen ist. Die Beispiele im Folgenden mögen dies illustrieren. Eigennamen ohne unmittelbaren Appellativanschluss 47 2.1 Familien- und Flurnamen: Satznamen Für Satznamen konnte bisher nur deskriptiv konstatiert werden, dass es sich um sogenannte Zusammenrückungen, exozentrische Komposita bzw. implizite Ableitungen handle (Schützeichel 1983: 140ff.). Gemeint sind Flurnamen wie Schauinsland, Luegisland, Findenschatz, Schützsichel oder Familiennamen wie Nievergelt, Kliebenschädel, Springenzaun, Kiesewetter, Brennwald, Hablützel, Haudenschild, Hauenstein, Knellwolf, Schaffrat, Schlaginhaufen, Thürkauf. Auch Pflanzennamen (Vergissmeinnicht, Rührmichnichtan usw.), deren sprachlicher Status bereits terminologisch in die Peripherie der Appellativik weist, treten vielfach in dieser Kompositionsgestalt auf. Sie müssen hier jedoch ausgeblendet bleiben. Auf der pragmatisch-explikativen Ebene gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, wie solche Bildungen zu verstehen sein könnten: (i) Die eine geht von einer elliptischen Form der ersten Person Singular Indikativ Präsens Aktiv aus, also etwa ‚[ich] schau ins Land‘, ‚[ich] find den Schatz‘, ‚[ich] schaff Rat‘, ‚[ich] schlag in ʼ n Haufen‘. (ii) Die zweite geht von Imperativformen aus, etwa ‚Schau ins Land! ‘, ‚Find den Schatz! ‘, ‚Schaff Rat! ‘, ‚Schlag in ʼ n Haufen! ‘. Die Bildungen sind zu trennen in solche mit substantivischem (oder allgemeiner: nominalem; vgl. Hablützel) und solche mit verbalem Zweitglied (Nievergelt etc.), wobei nach Henzen (1965: 84) die Fälle mit substantivischem Grundwort den ursprünglicheren Kompositionstyp repräsentieren sollen und die imperativische Lesart auch in den indogermanischen Vergleichsfällen die jüngere (und umdeutende) sein soll. Wie auch immer sie diachron beurteilt werden müssen: Sie erfordern in jedem Fall ein mit Aufwand zu rekonstruierendes pragmatisches Biotop, das es erlaubt, die Namen in eine gewohnte Typologie einzupassen. Auf der historisch-vergleichenden Ebene macht man für das Phänomen Entlehnungsbeziehungen verantwortlich und argumentiert, es handle sich um einen Namenbildungstyp, der aus einer romanischen Sprache entlehnt worden sei (vgl. Schützeichel 1983: 144 und passim). Keinath (1951: 163) schreibt, die Satznamen seien „Modeformen des Mittelalters gewesen und geben einem unerschrockenen, rauflustigen Sinne Ausdruck. Sie wandeln im 13. Jahrhundert und später die ritterliche Einstellung zum Leben ins Ungeschlachte und Prahlerische ab“. Mag dies für die Familiennamen einigermaßen wahrscheinlich sein, so liegt dies für die Toponyme weniger nahe − es sei denn, es handle sich überall um deanthroponymische Bildungen. Dabei lassen sich Satznamen (auch unter den Familiennamen) am einfachsten als genuin onymische Benennungsmittel des ausgehenden Hochmittelalters und des Spätmittelalters erklären, insofern sie ohne Rücksicht auf appellativische Wortbildungsregeln einen Benennungstyp reflektieren, der den Verbalstamm zum zentralen Nominationsmotor macht, wie er auch in den folgenden Namentypen zutage treten könnte. 48 Martin Hannes Graf 2.2 Familiennamen: Nomina agentis ohne Suffix Morphologisch ähnlich auffällig sind Familiennamen, die typologisch bzw. funktional als Nomina agentis einzustufen wären, die jedoch ohne Suffix auskommen und im Appellativwortschatz kaum nachzuweisen sind. Auch hier handelt es sich − deskriptiv − um sogenannte implizite Ableitungen. Fälle wie Fassbind, Bind, Schwarb, Knill, Schiess, Güüss 3 , Zünd (Beispiele aus der Schweiz) und sicherlich einige weitere können historisch problemlos schwache Maskulina repräsentieren, also ursprüngliche -ja-Stämme, deren Auslaut apokopiert wurde (vgl. etwa den Familiennamen Beck) oder die jünger analog gebildet wurden − allein: dafür lässt sich meist keinerlei historische Evidenz auf der Ebene der Appellativik in Anschlag bringen. Naheliegender scheint es darum, dass die Namen im onymischen System der Wortbildung, das morphologisch freier zu sein scheint, analog gebildet wurden - und zwar ebenfalls als reine Wortstämme, die zwischen Imperativen und Nomina agentis oszillieren. Erhellend ist diesbezüglich das Nebeneinander der schweizerdeutschen Bildungen Schütz und Schiess. Erstere repräsentiert den ‚Schützen‘ in der Sphäre der Appellative (und auch der Eigennamen), letztere denselben in der Sphäre der Eigennamen (und nur der Eigennamen). Schiess wurde jedoch sekundär appellativiert und hat in dieser neuen Verwendung zwei deutlich interjektorische Bedeutungen (Schweizerisches Idiotikon 1920, Bd. VIII: 1354). 2.3 Ortsnamen: Namen für Geländeerhebungen Besonders auffällig ist die Häufigkeit von Namen ohne direkten Appellativbezug bei Geländeerhebungen. Allgemein bekannt sind die Burgnamen des Hochmittelalters und der jüngeren Zeitstufen (Freudenfels, Hertenstein, Falkenstein, Helfenberg usw.), die als (oft dreisilbige) Komposita erscheinen, in denen ein morphologisch nicht ganz klares Bestimmungswort ein Grundwort wie Fels, Berg, Stein u.ä. regiert. Als Prunk-, Droh- oder Ziernamen entziehen sie sich einer Deutung nach Sondereggers Gesetz Nr. 1, entwickeln aber im Hinblick auf Gesetz Nr. 5 eine beachtliche Namenbedeutsamkeit, die sich wohl gerade aus der morphologischen Mehrdeutigkeit speist. Boxler (1976: 255) schreibt, die „unorganischen -en-Bildungen“ seien „nicht anders zu erklären, als daß die Namenschöpfer unter dem Druck der zahlreichen organischen -en-Formen analoge Namen 3 Im Schweizerischen Idiotikon (1885, Bd. II: 468) zwar mit der Bedeutung ‚Giesser‘ versehen, jedoch explizit als als „Übern[ame]“ charakterisiert. Der zugehörige Beleg von 1653, Hans Müller, der Güss genannt, lässt den proprialen Status von Güss klar hervortreten. Eigennamen ohne unmittelbaren Appellativanschluss 49 schufen, ohne sich um die morphologische Richtigkeit dieser Schöpfungen zu kümmern. Wichtig war es einzig, daß der Name verständlich blieb und der Absicht des Ritters entsprach“. Damit ist sicherlich das Richtige getroffen, wie es auch bereits Gröger (1910: 222) allgemein für zusammengesetzte Eigennamen festgestellt hatte, nämlich dass „bereits die ältesten Eigennamen eine geringere Widerstandsfähigkeit gegen äußere Einflüsse, wie Analogie und Assimilation, und demgemäss eine grössere Mannigfaltigkeit von Formen als die Appellativcomposita“ aufweisen würden. Partizipia Präsentis im Dat. Sg., wie sie noch Schröder (1944: 237f.) für solche Fälle postuliert hatte, sind kaum je zu belegen. Interessant sind ferner Namen, die formal den Satznamen ähneln, etwa Schauinsland, Luginsland, sodann auf verba videndi beruhende Simplizia, die wiederum aus dem bloßen Wortstamm bestehen, vgl. die Typen Kapf (Chapf), Lueg („Namen von aussichtsreichen Orten“, Schweizerisches Idiotikon 1895, Bd. III: 1221), Gugg, Schau, die in der Regel Örtlichkeiten benennen, von denen man einen besonders ausgeprägten Ausblick hat oder hatte. Da es sich bei den Simplizia durchgehend um Maskulina handelt, ist eine Deutung als apokopierte feminine -i-Abstrakta wenig überzeugend. 4 Ferner sind unter die Namen von Geländeerhebungen auch Bergnamen zu fassen, die ebenso Typencharakter haben (also unabhängig voneinander mehrfach vorkommen), aber einer klaren appellativischen Grundlage entbehren, vgl. etwa Blasenberg, Schauenberg, Schellenberg oder auch Spiegelberg/ Spielberg. An den Typen Schauenberg und Blasenberg ist bemerkenswert, dass sie kompositionstechnisch Rätsel aufgeben: Man würde im Bestimmungswort allenfalls den reinen Verbalstamm oder ein (flektiertes) Partizip Präsens Aktiv vermuten (vgl. Schröder 1944), aber kaum eine Verbalform, die oberflächlich mit dem Infinitiv identisch ist. Auch hier ist wohl, wie Boxler (1976: 255) und Gröger (1910: 222) vermuten, eine rein onymische (Analogie-)Prägung zu vermuten, denn auch in der historischen Überlieferung sind kaum Hinweise auf bekannte Kompositionsmuster oder in der Appellativik zu belegende Vorbilder zu erkennen. Vielmehr scheint, dass bestimmte Benennungstypen für topographische Gegebenheiten unmittelbar onymisch möglich waren und in der Sprachgemeinschaft als Typen abrufbar gewesen sein mussten. Über die Spiel- und Spiegelberge wurde viel geschrieben, 5 man hat sie auf uralte militärische Warten zurückführen wollen (Sonderegger 2013: 1809), teilweise mit römischem Hintergrund, doch bleiben die Belege dafür bisher einen Beweis schuldig, und der Typus harrt weiter seiner Entschlüsselung. Als Beispiel für einen besonders anschaulichen Problemfall dieser Namengruppe mag der Name Sturzenegg dienen; er bildet zwar keinen eigentlichen Typus, 4 Dies macht auch der Ratlosigkeit signalisierende Eintrag Schau bei Buck (1931: 234) deutlich: „1371 ager am Schouwen. Wohl etwas anderes“. 5 Vergleiche etwa Boxler (1976: 177f.), Bach (1981: § 274, 446.2, 565, 713). 50 Martin Hannes Graf zeigt jedoch deutlich, mit welchen Problemen man bei der Analyse von toponymischen Geländebenennungen konfrontiert ist. Der Name ist in der entsprechenden Publikation (Sonderegger 2013: 1913) sicherlich richtig gedeutet als ‚beim abfallenden Geländeabsatz‘, doch lässt sich dies morphologisch kaum wahrscheinlich machen, denn: (i) ist Sturz kein schwaches Maskulinum, (ii) gibt es kein Verb sturzen, (iii) gäbe es ein Verb sturzen, würde es kaum als Infinitiv im Bestimmungswort stehen. 6 (iv) Alternativ zieht man auch einen schwach flektierenden maskulinen Personennamen Sturzo in Betracht (Sonderegger 1958: 105), doch lässt sich ein solcher nicht belegen. Analoges wäre zum Typus Schauenberg zu sagen. 2.4 Ortsnamen: Suffixlose Baumnamen-Kollektiva Als ein letzter Typ seien die suffixlosen Baumnamen-Kollektiva genannt, wie sie etwa in den Typen Eich, Asp, Lärch, Buech, Birch, Binz, Esch (teilweise) und Tann in der deutschen Schweiz sehr häufig, im weiteren deutschen Sprachraum (Eich, Esch, Binz, Buch) aber immerhin gelegentlich auftreten. Mit Ausnahme von Tann, das natürlich seinerseits die Grundlage für den Singulativ Tanne bildet und nicht von einem allenfalls sekundär dazu gebildeten Kollektiv Tann getrennt werden kann (Kluge 2002: 905), zeichnen sich alle anderen Bildungen durch Einsilbigkeit und Suffixlosigkeit aus. Durch Umsetzung des Pflanzennamens ins Neutrum und Suspension des Suffixes, so scheint es, bilden die Namen synchron ein sogenanntes Standortkollektiv. Diachron sollen die Namen allerdings mit einem kollektivierenden Suffix -ahi (als neu funktionalisiertes Suffixkonglomerat, ausgehend von Kollektivbildungen auf -jazu Adjektiven auf -aha-) gebildet sein, das zunächst zu -i reduziert, später ganz entfallen sein soll. Bisher konnte jedoch noch keine lückenlose Belegreihe für eine Entwicklung -ach(i) > -i > -Ø nachgewiesen werden (Graf 2008: 110), auch wenn Kürzungen -[…]ach > -[…]i für die Namenforschung nichts Ungewöhnliches sind. Zwar gibt es den Typus Aspi und er ist vielleicht tatsächlich aus *Aspahi entstanden, er wäre dann aber sicherlich vom Typus Asp zu trennen. Die auffällige Produktivität der Wortbildungsregel ‚Kollektivierung durch Suffixsuspension und Umsetzung ins Neutrum‘ könnte durch Analogiewirkung der -i-Kollektiva oder auch des neutralen Simplex Holz entstanden sein, welch letzteres als Grundwort zahlloser ‚Gehölz‘-Komposita bezeugt ist und in phantomhaften Ellipsen eine Genus- Übertragung ausgelöst haben könnte. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass die Wortbildungsregel direkt an der Schnittstelle von Name und Appellativ zum 6 Ein Präsens-Partizip kommt auch nicht in Frage; sämtliche Belege ab 1275 weisen die -en-Fuge auf. Eigennamen ohne unmittelbaren Appellativanschluss 51 Einsatz gekommen ist, insofern auch für Gehölze eine lediglich appellativnahe Benennung möglich gewesen sein konnte. 3 Fazit Was in den jüngeren Arbeiten von Nübling (etwa 2005) zur grammatischen Eigennamenmarkierung vornehmlich für die synchrone Ebene postuliert wird, lässt sich anhand anderer Markierungsmuster bereits in historischer Zeit nachweisen. Im Unterschied zu der Sichtweise, dass onymisierende Divergenz oder Dissoziierung Ausdruck eines historischen Prozesses hin zu grammatisch beschreibbarer „Namenhaftigkeit“ seien, sei hier die These formuliert, dass manche Onymitätsmarker als genuin außerappellativische Bildungsregeln zu verstehen sind. Die Tendenz zur Deflexion, die sich im synchronen Namengebrauch einstellt, könnte also in gewissen Fällen bereits in der historischen Namengebung zum Ausdruck gekommen sein, insofern sich eine Art Inflektiv als Namengebungsregel etabliert haben könnte, und zwar bei Verben ebenso wie bei Nomina. Im Hinblick auf manche Familiennamen heißt dies: Für Satznamen müsste man keine pragmatischen Kontexte mehr rekonstruieren, um die Namenbildung semantisch analysierbar zu machen, für Nomina agentis ohne Suffix analog keine phonologischen Prozesse oder Stammbildungswechsel. Merkmale, die für eine unmittelbare Namengebung sprächen, wären damit die Verwendung des reinen Wortstamms, alternativ auch Einsilbigkeit bzw. Silbenreduktion sowie offene Auslautsilben. Toponyme, die in der reinen Verbalstammform auftreten, wären möglicherweise ganz analog zu beurteilen: Schau, Gugg, Chapf u.ä. wären nicht als reduzierte bzw. apokopierte Abstrakta o.ä. zu beurteilen, sondern als gezielt onymisierende Verbalstammbildungen, die durch dieses einfache Merkmal ihre Wortklasse anzeigten. Suffixsuspension und Genuswechsel bei den Standortkollektiva wären nicht als appellativische Wortbildungstechniken zu beschreiben, sondern als genuin onymische. Beide Fälle dokumentierten somit sehr einfache Wortbildungsregeln. Schwieriger ist es, für die Geländenamen vom Typ vom Schauenberg, Blasenberg usw. ähnliche onymische Wortbildungsregeln zu formulieren. Die Tatsache, dass aber vor allem Geländenamen, mithin Namen von Anhöhen, von solchen Bildungen betroffen sind, macht es wahrscheinlich, dass gerade hier die geomorphologische Auffälligkeit die onymische Prägung veranlasste - und die besteht in einer Pseudo(determinativ)komposition mit analogischer -en-Fuge, die eine zusammengerückte Nominalgruppe simuliert. 52 Martin Hannes Graf 4 Literatur Bach, Adolf (1981): Deutsche Namenkunde. Bd. 2: Die deutschen Ortsnamen in geschichtlicher, soziologischer und psychologischer Betrachtung. Ortnamenforschung im Dienste anderer Wissenschaften. 2., unveränd. Aufl. Heidelberg. Boxler, Heinrich (1976): Die Burgnamengebung in der Nordostschweiz und in Graubünden. Frauenfeld. (Studia Linguistica Alemannica; 6). Buck, M. Richard (1931): Oberdeutsches Flurnamenbuch. Ein alphabetisch geordneter Handweiser für Freunde deutscher Sprach- und Kulturgeschichte. 2. verbesserte Aufl. Bayreuth. Graf, Martin Hannes (2008): Lexikographie und Onomastik. 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Zschieschang, Christian (2011): Der letzte Rest. Zur Benennung peripherer Flächen auf dörflichen Gemarkungen. In: Meineke, Eckhard/ Tiefenbach, Heinrich (Hrsg.): Mikrotoponyme. Jenaer Symposion, 1. und 2. Oktober 2009. Heidelberg. (Jenaer germanistische Forschungen; 32). S. 325 ‒ 349. Wörterbücher Kluge, Friedrich (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 24., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin/ New York. Schweizerisches Idiotikon (1881  2012): Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. (Bisher) 16 Bde. Frauenfeld. Das konjunkturelle Auf und Ab im Spiegel der Verben Věra Höppnerová (Prag) Zusammenfassung Verben der Größenveränderung sind ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaftssprache. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Fragen zu ihrer Verwendung. Er untersucht Verben, die dem Wirtschaftsteil der „Wiener Zeitung“ und der „Prager Zeitung“ entnommen wurden hinsichtlich ihrer Kookkurrenz. Für die Analyse wurden sowohl verschiedene Wörterbücher zu Rate gezogen als auch Muttersprachler befragt. Außerdem werden im Beitrag Beziehungen innerhalb unterschiedlicher Verbgruppen herausgestellt sowie ein Fokus auf bildhafte Verben gelegt. Zuletzt wird auf die Vorkommenshäufigkeit der Verben in den Zeitungsartikeln eingegangen. Dadurch soll sichergestellt werden, einen umfangreichen Blick auf mögliche Regelhaftigkeiten und Verwendungszusammenhänge zu erhalten. 1 Begriffsabgrenzung Der Gegenstand dieses Beitrags sind Verben der Größenveränderung, die einen festen und markanten Bestandteil der Wirtschaftssprache darstellen. Beispielsweise in Berichten über die Kursentwicklung an der Börse oder in Konjunkturberichten, die die Entwicklung des BIP, der Investitionstätigkeit, der Inlandsnachfrage, des Außenhandels, des Konsums der privaten Haushalte, der Inflation und der Arbeitslosigkeit widerspiegeln, fallen diese Verben direkt ins Auge. Die Wirtschaft ist ständig in Bewegung und das Wachstum einer Kennziffer (Preise) hat oft den Rückgang einer anderen Kennziffer (Nachfrage) zur Folge. Daher ihr paralleles Auftreten. Zuerst muss der Begriff „Verben der Größenveränderung“ erläutert werden. Darunter sind Verben zu verstehen, die das Steigen und Sinken ( ↑  ), aber auch das Vergrößern ( ← → ) und Vermindern ( → ← ), d.h. eine Volumenveränderung, bezeichnen. Es handelt sich um Veränderungen im Hinblick auf Menge, Zahl, Größe, Ausmaß, Intensität usw. Es haben bereits mehrere Lehrbuchautoren bemerkt, dass diese Verben im Wirtschaftsdeutsch eine wichtige Rolle spielen und auch eine Fehlerquelle sind, weswegen ihnen entsprechende Übungen gewidmet wurden. 56 Věra Höppnerová Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf 400 Belege, die dem Wirtschaftsteil der „Wiener Zeitung“ und der „Prager Zeitung“ aus dem Jahr 2013 entnommen wurden. 2 Untersuchte Probleme Die untersuchten Verben werfen eine Reihe von Problemen auf:  Mit welchen Lexemen kommen sie häufig vor?  Existieren innerhalb dieser Verbgruppe gewisse Wortgruppierungen oder Beziehungen oder besteht zwischen den Verben gar kein Zusammenhang?  Im Fachsprachenunterricht gilt es, häufig verwendete Verben mit Kookkurrenz zu vermitteln. Welche von den festgestellten Verben kommen am häufigsten vor?  Und schließlich: Welche tschechischen Äquivalente haben diese Verben? 2.1 Kookkurrenz Die Kookkurrenz der untersuchten Verben mit anderen Lexemen wurde auf zweifache Weise festgestellt. Erstens wurden die verschiedenen Verbindungsmöglichkeiten, d.h. das Miteinandervorkommen mit anderen Lexemen, der einzelnen Verben erfasst und in vier Wörterbüchern nachgeschlagen, um ihren Bedeutungsumfang und weitere Verbindungsmöglichkeiten festzustellen. Zweitens wurden sieben Muttersprachler befragt, die die mögliche Kookkurrenz angeben oder ausschließen sollten. Dies sollte darüber Aufschluss geben, ob Muttersprachlern alle Verbindungsmöglichkeiten bekannt sind und wie fest und sicher deren Sprachbewusstsein in diesem Punkt ist. 2.1.1 Nachschlagen in Wörterbüchern Die Untersuchung der Kookkurrenz und der Bedeutung der einzelnen Verben führte zu einigen Ergebnissen, die hier kurz dargestellt werden sollen. Auffallend ist zunächst das Auftreten bestimmter Verben mit gleicher Bedeutung bei einigen Schlüsselwörtern der Wirtschaftssprache: Das konjunkturelle Auf und Ab im Spiegel der Verben 57 die Ausgaben, die Arbeitslosigkeit, die Beschäftigung,  erhöhen sich, das BIP, die Produktion, die Förderung, die Leistung, steigen, wachsen die Spareinlagen, der Umsatz die Arbeitslosigkeit, die Produktion,  nehmen ab, sinken, der Umsatz, die Zahl der Arbeitssuchenden gehen zurück die Kosten, die Löhne, die Preise,  werden herabgedas Grundkapital setzt, gesenkt die Aktien  ziehen an, erhöhen sich, erholen sich, steigen Allerdings hat dieses gemeinsame Auftreten mit Substantiven auch gewisse Einschränkungen. So kommen Verben, die Steigen oder Sinken, d.h. Bewegung nach oben oder nach unten ausdrücken, häufig mit anderen Substantiven als Verben, die eine Ausdehnung oder Volumenvergrößerung ausdrücken, vor: Aktien, Absatz, Verbrauch,  steigen, steigen an, Kurse, Exporte, Zinsen, Preise, erhöhen sich, sinken Löhne, Gebühren Ausstellungsfläche, Sortiment,  werden vergrößert, Geschäft, Produktionskapazität erweitert, verkleinert Allerdings können einige Verben, die eigentlich eine räumliche Ausdehnung ausdrücken, durchaus mit Substantiven vorkommen, für die sonst Anstieg oder Rückgang charakteristisch sind: Förderung/ Gewinne ausbauen, Beschäftigung/ Fördermenge ausweiten, Umsatz/ Handel vergrößern, Kosten/ das BIP verringern.  Für Veränderungen um eine bestimmte Größe verwendet man die Verben: anheben um ... auf / bis zu ...  Preise, Gehälter, steigen um ... auf / von ... auf das Rentenalter (meist in Verbindung mit einer Quantitätsangabe) 58 Věra Höppnerová zunehmen (abnehmen)  kommt mit Abstrakta (das Interesse für Kurorte, die Informationsqualität, Strukturprobleme der Wirtschaft) oder mit messbaren Größen (Arbeitslosigkeit, Exporte, Produktion, Umsatz) vor aufstocken  kommt bei einer begrenzten Zahl von Termini vor, die eine zweckgebundene Geldmenge bezeichnen: Fonds, Preisangebot, Investitionen, Grundkapital verbilligen (verteuern)  erscheint meist im Zusammenhang mit Termini, die sich auf finanziellen Aufwand beziehen (Preise, Produktion, Dienstleistungen, Kosten, Lebenshaltung) steigern  bezieht sich auf ökonomische Größen, die die Leistungsfähigkeit einer Firma oder eines Landes bezeugen oder eine Anstrengung erfordern: die Leistung, die Produktivität, der Gewinn, der Marktanteil, die Einnahmen, die Wettbewerbsfähigkeit 1 kürzen  bedeutet vor allem ‚reduzieren‘, was für die betreffenden Personen oft unangenehm ist: Gehälter, Löhne, Renten, Sozialausgaben, Weihnachtsgeld, Zahlungen, Großhandelsspanne, Arbeitsstellen Spezifisch für die Börse sind die Verben beflügeln, sich erholen, fallen, nachgeben, zulegen. Sie kookkurrieren mit: Aktien, Börsenkursen, Wertpapieren, dem Index, der Währung. 2.1.2 Befragung von Muttersprachlern Der zweite Schritt, um die Kookkurrenz der Verben der Größenveränderung festzustellen, war die Befragung von Muttersprachlern. Ihnen wurden Listen mit 21 Verben für Anstieg/ Wachstum und 23 Verben für Rückgang vorgelegt, bei denen sie die mögliche oder ausgeschlossene Kookkurrenz mit 21 ökonomischen Begriffen angeben sollten. Bei den Begriffen handelte es sich um Termini, die im Wirtschaftsdeutsch besonders häufig vorkommen und ständig in Bewegung sind (Aktien, Inflation, Löhne, Preise, Produktion, Steuern, Währungskurse, Zinsen u.a.). 1 Diese Regel hilft, Fehler zu erklären, die Studenten häufig machen, z.B.: Wir gehören zu den Ländern, deren BIP *steigert. Oder: Ich habe meinen Chef gebeten, mein Gehalt zu *steigern. Das BIP kann selbst keine Leistung erbringen, sondern kann nur steigen. Der Chef kann das Gehalt ebenfalls nicht steigern, weil dazu keine Anstrengung nötig ist, sondern er kann es erhöhen. Das konjunkturelle Auf und Ab im Spiegel der Verben 59 Alle sieben Befragten hatten engen Bezug zum Wirtschaftsdeutsch - es waren Hochschullehrer, die Wirtschaftsdeutsch unterrichten, oder Mitarbeiter der Wirtschaftspresse. Die Befragung zeigte vor allem große Uneinheitlichkeit in der Einschätzung der Kookkurrenz der Verben, aber auch eine gewisse Unsicherheit, die offen zugegeben wurde. Bei einigen Befragten fehlten mehrere Angaben. Insgesamt stimmten die Aussagen der Befragten nur in 215 von 924 Fällen überein, was ca. 23 % entspricht. Auffallend ist ebenfalls, dass bezüglich der Ablehnung der Kookkurrenz mehr Einigkeit herrschte als hinsichtlich der Bestätigung, da hier ein Verhältnis von 76: 24 vorlag. Bei der Suche nach eventuellen Regeln für die Kookkurrenz ist es daher zuverlässiger, sich auf die in den analysierten Texten vorgefundenen Kollokationen zu stützen. 2.2 Beziehungen innerhalb der Verbgruppe Die untersuchten Verben haben einen unterschiedlichen Bedeutungsumfang, wobei sich ihre Bedeutungskomponenten überlappen (Duden 2011: s.v. zunehmen, wachsen): 1. a) ‚sich vergrößern, sich erhöhen, sich verstärken, sich vermehren, wachsen, steigen‘ b) ‚von etwas mehr erhalten‘ 1. ‚als lebendiger Organismus an Größe, Länge, Umfang zunehmen, größer, länger werden‘ 2. ‚sein Körpergewicht vermehren, schwerer, dicker werden u.a.‘ (Duden 2011: s.v. zunehmen) 2. ‚an Größe, Ausmaß, Zahl, Menge o.ä. zunehmen, sich ausbreiten, sich ausdehnen, sich vermehren‘ (Duden 2011: s.v. wachsen) Bei den Verben lassen sich einige Gruppierungen beobachten. Erstens sind es A n t o n y m e (steigen - sinken/ fallen, zunehmen - abnehmen, vergrößern - verkleinern, verteuern - verbilligen, heraufsetzen - herabsetzen, erhöhen - senken). zunehmen wachsen 60 Věra Höppnerová Zweitens kann der Vorgang stilistisch neutral, aber auch b i l d h a f t bezeichnet werden (die Wirtschaftsleistung nimmt ab - schrumpft, die Preise sanken stark - die Preise purzelten, der Konzern schränkte seine Produktion erheblich ein - der Konzern drosselte seine Produktion). Schwierigkeiten bereitet insbesondere das starke Verb sinken und das von ihm abgeleitete Kausativ und schwache Verb senken. 2.3 Bildhafte Verben und ihre tschechischen Äquivalente Unter den Verben der Größenveränderung nehmen einfache bildhafte Verben ebenfalls einen wichtigen Platz ein. Sie stehen zu den nicht bildhaften im Verhältnis 26: 25. Warum werden in sachlichen Zeitungsartikeln so viele Verben mit gleicher oder ähnlicher Bedeutung verwendet und warum ist die Vorliebe gerade für bildhafte Verben so groß? Dazu ein Blick auf drei Zeitungsartikel aus dem Wirtschaftsteil der Wiener Zeitung. Im ersten Artikel wird über die Preisentwicklung berichtet, die mit folgenden Verben wiedergegeben wird: die Preise fallen/ sinken/ geben nach/ werden gedrückt/ gedämpft. Im zweiten wird die Abnahme der Arbeitsstellen mit Verben geschildert wie: die Arbeitsstellen fallen weg/ gehen verloren/ werden abgebaut/ gestrichen/ gekürzt. Im dritten Artikel, einem Bericht über die Entwicklung an der Börse, geht es um den Verfall der einzelnen Indices: der Frankfurter DAX büßte rund 10 % ein/ der Nikkei 225 verlor fast 30 %/ der Hang Seng fiel um 11 %/ der Nasdaq-Index rasselte um mehr als 35 % in den Keller. Man berichtet jedoch auch über erfreuliche Ereignisse, z.B. Reallohnerhöhungen trotz Flaute: die Mindestlöhne stiegen um 3 Prozent/ die Mindestgehälter wurden um 1,8 Prozent erhöht/ die Gehälter der Politiker wurden um 0,8 Prozent angehoben. Alle oben zitierten Verben werden in der gleichen Bedeutung verwendet, aber durch den Gebrauch verschiedener Lexeme erhält die sachliche Berichterstattung mehr Abwechslung, der faktographische Text wirkt nicht so monoton. Dies ist auch einer der Gründe für die Entstehung immer neuer bildhafter Verben, die Autoren unermüdlich kreieren. Dabei entfalten sie mehr Schöpferkraft bei der Suche nach bildhaften Verben, die Rückgang, Sinken oder Abnehmen bezeichnen, als bei den Verben des Anstiegs oder Wachstums. Die erste Gruppe ist nahezu doppelt so groß (15) wie die zweite (8). Von den bildhaften, intransitiven Verben des A n s t i e g s o d e r W a c h s t u m s sind vor allem anziehen, sich erholen, klettern und zulegen zu nennen. Während ursprünglich nur die Zügel angezogen, d.h. straffer gespannt wurden, können heute Exporte, die Konjunktur, der Konsum, Preise, die Aktien anziehen, d.h. steigen. Anziehen wird auch transitiv verwendet: Billige Preise ziehen die Nachfrage an (= erhöhen = tschech. zvyšovat / se). Das Verb sich erholen ist auf Das konjunkturelle Auf und Ab im Spiegel der Verben 61 die Börsensprache beschränkt. Mit Wiedererlangung von Kraft hat es aber wenig zu tun. Wenn sich Aktien, Börsenkurse, Wertpapiere oder Preise erholen, steigen sie einfach (= tschech. zotaví se). Relativ jung ist die Verwendung von klettern im Wirtschaftsdeutsch. Wenn Indices, Löhne, Mieten, Preise, Renditen oder Währungen klettern, dann steigen sie an (klettern = tschech. šplhat, vylézt). Zu den häufigsten Verben gehört in der Untersuchung das Verb zulegen. Die ursprüngliche Bedeutung war ‚(bes. beim Laufen, Fahren, Arbeiten) sein Tempo steigern‘ (Duden 2011: s.v. zulegen). In der Wirtschaftssprache legen Importe, Indices, Löhne, Preise, Umsätze, Währungen zu, d.h. erhöhen sich (zulegen = tschech. stoupnout, zvýšit se). Von den transitiven Verben, die eine V e r g r ö ß e r u n g ausdrücken, verdienen zwei Verben aus der Baubranche Aufmerksamkeit: aufstocken und ausbauen. Aufstocken bedeutet allerdings nicht nur ‚(um ein od. mehrere Stockwerke) erhöhen‘, sondern allgemein ‚erhöhen‘ (Duden 2011: s.v. aufstocken). Aufgestockt werden Etats, Fonds, Investitionen, Kredite, Zahlungen. Wenn eine Gesellschaft aufstockt, erhöht sie ihr Kapital (aufstocken = tschech. navýšit). Ausbauen konnte man ursprünglich eine Straße, einen Hafen oder das Eisenbahnnetz, also Konkreta. In der Wirtschaftssprache werden auch Abstrakta ausgebaut: Porsche will seine Marktstellung ausbauen, die Frankfurter Börse ihre Gewinne, ein Handelskonzern sein Biosortiment, Tschechien den Fremdenverkehr (ausbauen = ‚etwas erweitern, vergrößern‘ (Duden 2011: s.v. ausbauen = tschech. rozšířit, zvýšit). Die Verben der S e n k u n g und des R ü c k g a n g s bieten ein noch abwechslungsreicheres Bild. Die intransitiven Verben kommen häufig in der Börsensprache vor. Nicht nur der Putz bröckelt ab, sondern auch die Aktien, Börsenkurse, Notierungen, Preise (abbröckeln = ‚leicht zurückgehen‘ (Duden 2011: s.v. abbröckeln). Die Kurse bröckeln ab = tschech. kurzy se drolí). Absacken - ursprünglich in der Verbindung der Boden sackt ab (= tschech. půda se sesouvá) oder das Schiff sackt ab (= tschech. loď se potápí) - bedeutet in den gefundenen Belegen ein starkes Absinken: Die Exporte sackten um 25 % ab, Tokios Börse sackte deutlich ab, der Preis für ... ist auf das niedrigste Niveau seit 22 Jahren abgesackt (absacken = tschech. poklesnout, propadnout se). (Ab)stürzen - ‚aus großer Höhe in die Tiefe stürzen‘ (Duden 2011: s.v. abstürzen) bezieht sich heute nicht nur auf das Flugzeug: In Tschechien ist der Eierkonsum seit 1990 bereits um 30 Prozent abgestürzt (= tschech. propadl se). Das Absinken ist dabei besonders steil und schnell: Die Preise fielen nicht, sie stürzten. Einbrechen bedeutete zuerst ‚[durch]brechen‘, ‚einstürzen‘ (Duden 2011: s.v. einbrechen). Die Eisdecke oder das Dach brachen ein (= tschech. ledová kůra se probořila, střecha se zřítila). Im Wirtschaftsdeutsch können z.B. das Bruttoinlandsprodukt, die Nachfrage, die Produktion oder die Aktienmärkte einbrechen (einbrechen = ‚einen Rückgang ver- 62 Věra Höppnerová zeichnen‘ (Duden 2011: s.v. einbrechen) = tschech. propadnout se). Weniger drastisch als (ab)stürzen ist das Verb fallen. Nicht nur die Temperatur, das Hochwasser oder das Barometer fallen, sondern in der Börsensprache fallen die Aktien, Indices, Kurse, Preise, Umsätze, Exporte, Währungen, sogar auch die Beschäftigung (fallen = tschech. padat, klesat). Nachgeben - ursprünglich ‚einem Druck nicht standhalten‘ - erscheint vor allem in der Börsensprache in der Bedeutung ‚sinken‘ (Duden 2011: s.v. nachgeben): die Aktien, Indices, Kurse, Preise, Umsätze, Währungen geben nach (nachgeben = tschech. poklesnout, klesnout). Einen besonders starken, tiefen Fall drückt das Verb purzeln (‚[sich überschlagend] (hin)fallen‘; Duden 2011: s.v. purzeln) aus. Im Wirtschaftsdeutsch purzeln die Preise, Tarife, Kurse: Die Kurse purzeln ins Bodenlose (purzeln = tschech. padat, silně klesat). Bei schmelzen denkt man an den Schnee, der sich bei Wärme auflöst und schwindet. Aber auch das Vermögen, das Eigentum, sogar die Buttererzeugung kann in der Wirtschaftssprache schmelzen. Die tschechische Entsprechung ist nicht bildhaft (= tschech. ztenčit se, poklesnout). Dass ein Apfel schrumpfen kann, ist jedem bekannt. Aber nicht die Bedeutung ‚sich zusammenziehen‘, sondern ‚weniger werden, abnehmen‘ (Duden 2011: s.v. schrumpfen) wurde von der Wirtschaftssprache aufgegriffen. Die Absatzanteile, die Belegschaft, der Gewinn, die Exporte, das Kapital, die Produktion, die Vorräte oder die Wirtschaftsleistung schrumpfen. Auch in diesem Fall gibt es keine bildhafte tschechische Entsprechung (= tschech. klesnout, snížit se, ztenčit se). Die letzte zu behandelnde Gruppe sind transitive Verben, die eine Senkung, Verringerung oder Abschwächung ausdrücken. Dazu gehören abbauen, dämpfen, drosseln, drücken, kürzen und zurückschrauben. Während ursprünglich Gerüste und Baracken abgebaut wurden, werden in der Wirtschaft Arbeitszeit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsplätze, Gehälter, Löhne, Preise, Steuern, Schulden abgebaut (d.h. gesenkt oder verringert). Der Abbau kann zur völligen Beseitigung führen (Zollhindernisse, Steuervergünstigungen abbauen). Im Tschechischen wird das gleiche Bild verwendet (= tschech. odbourat (cla, výhrady) oder snižovat). Dämpfen kann man Licht, Freude oder Begeisterung, aber in der Wirtschaftssprache - was in den Wörterbüchern noch nicht enthalten ist - auch Inflation, Kosten und Exporterwartungen. Dämpfen bedeutet dann ‚senken‘ (Inflation, Kosten) oder ‚abschwächen‘ (Exporterwartungen) (Duden 2011: s.v. dämpfen). (Die entsprechenden tschechischen Äquivalente sind snížit oder utlumit.) Drosseln - ursprünglich ‚jm die Kehle zudrücken; würgen‘ (Duden 2011: s.v. drosseln) - wird trotz des oder vielleicht gerade wegen des drastischen Bildes, das hervorgerufen wird, in der Wirtschaftssprache gern verwendet. Man kann dabei den Fremdenverkehr, den Handel drosseln (= tschech. omezit obchod, cestovní ruch), aber auch die Investitionen (= tschech. snížit investice). Am häufigsten kommt die Kollokation die Produktion drosseln (= tschech. utlumit výrobu) vor. Das konjunkturelle Auf und Ab im Spiegel der Verben 63 Drücken kann man nicht nur eine Person oder eine Hupe, sondern auch die Inflation, Zinsen und Preise. Metaphorisch wird dabei die Anstrengung spürbar, die diese Senkung gekostet hat (ebenso im Tschechischen: Preise drücken = tschech. stlačit ceny, Zinsen drücken = tschech. srazit úroky). Kürzen (z.B. Haare, einen Rock) bezieht sich im Wirtschaftsdeutsch meist auf unangenehme Verminderungen von Zahlungen: Ausgaben, Löhne, Gehälter, Renten, Weihnachtsgeld werden gekürzt (kürzen = tschech. zkrátit, snížit). Das Bild der anstrengenden Reduzierung begegnet uns bei dem Verb zurückschrauben: der Energieverbrauch, die Personalkosten wurden zurückgeschraubt, d.h. gesenkt (zurückschrauben = tschech. snížit, omezit). Neben den einfachen bildhaften Verben für Größenveränderung, auf die sich dieser Beitrag konzentriert, gibt es auch mehrgliedrige bildhafte Verben. Bezeichnenderweise kommen die meisten wiederum in der Börsensprache vor, in der eine besondere Vorliebe für bildhafte Ausdrucksweise zu beobachten ist und die Kursentwicklung gern dramatisiert wird. Dabei wird der Vorgang z.B. als ein großer, plötzlicher Anstieg charakterisiert (Die Aktien taten noch am selben Tag an der Prager Börse einen Sprung nach oben.), als eine schnelle, steile Aufwärtsbewegung (Nach der Rücktrittsmeldung schoss an der New Yorker Börse der Euro im Wert gegenüber dem Dollar nach oben.) oder als jähe Erreichung einer Rekordhöhe (Der Goldpreis schoss folgerichtig auf ein Jahreshoch.). Die steile Abwärtsentwicklung der Aktienkurse wird folgendermaßen charakterisiert: Die Aktien gingen/ rasselten in den Keller. Oder auch: Nach den Terroranschlägen gerieten die Börsen in Europa und Asien am Dienstag in freien Fall, der Absturz ging im Fernen Osten dramatisch weiter. 2.4 Vorkommenshäufigkeit Um sich ein Bild über die Vorkommenshäufigkeit der einzelnen Verben zu machen, wurde ein repräsentatives Muster von 25 Artikeln aus der Fachpresse untersucht. Folgende einfache Verben kommen hier am häufigsten vor: 64 Věra Höppnerová steigen 41x wachsen 22x sinken 19x zulegen 16x zurückgehen 14x (sich) erhöhen 12x fallen 8x ansteigen 8x schrumpfen 7x zunehmen 6x dämpfen 6x 3x abnehmen, ausbauen, einbüßen, klettern, stagnieren, reduzieren, steigern; 2x drücken, kürzen, nachgeben, senken, verbilligen, ausweiten; 1x abbauen, aufstocken, aufwerten, absacken, anziehen, sich erholen, rutschen, sacken, schwanken, verdoppeln, verringern, zurückschrauben, sich verzwanzigfachen, zurückfallen. 3 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Verben, die eine Größenveränderung bezeichnen, sind ein bedeutender Bestandteil der Wirtschaftssprache. Im Zuge einer Befragung wurde festgestellt, dass die Frage nach ihrer Kookkurrenz auch Muttersprachlern Schwierigkeiten bereitet. Trotzdem lassen sich gewisse Regeln für ihre Verwendung in der Verbindung mit Substantiven formulieren, wie z.B. bei zunehmen, steigern, kürzen, aufstocken, anheben, die man im Zuge der Konsultation von Wörterbüchern oder der Analyse von ökonomischen Fachtexten nachvollziehen kann. Die Analyse ergab, dass steigen das mit Abstand am häufigsten verwendete Verb in den untersuchten Zeitungsartikeln ist. Will man die Erkenntnisse nun für den Unterricht von Deutsch als Fremdsprache verwenden, ergeben sich einige methodische Schlussfolgerungen für Lehrende. Es kommt beispielsweise weniger darauf an, bei jedem Verb alle in Frage kommenden Kookkurrenzen zu vermitteln, sondern vielmehr darauf, den Lernern die markantesten und typischsten Kollokationen beizubringen: die Produktivität steigern, die Produktion drosseln, die Arbeitsplätze abbauen, die Kosten senken u.a. Außerdem ist den Verben, bei denen eine besonders hohe Vorkommenshäufigkeit festgestellt wurde, im Unterricht verstärkt Aufmerksamkeit zu widmen. Das konjunkturelle Auf und Ab im Spiegel der Verben 65 4 Literatur Wörterbücher Duden (2011): Deutsches Universalwörterbuch 7., überarb. und erw. Aufl. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim u.a. Quellen Wiener Zeitung: folgende Hefte aus dem Jahr 2013: 20.08., 22.08., 24.08., 30.08., 11.09., 13.09., 25.09., 26.09., 27.09. Prager Zeitung: folgende Hefte aus dem Jahr 2013: 11.04., 25.09., 23.10., 31.10., 20.11. Parameter und Einheiten des fachbezogenen interkulturellen Sprachvergleichs (am Beispiel der interkulturellen Stilistik der deutschen und der ukrainischen Sprache) Svitlana Ivanenko (Kiew) Zusammenfassung Die interkulturelle Sicht der komparatistischen Sprachforschungen erfordert ein neues Herangehen an vergleichende Studien. Wenn Wierlacher von den Kulturthemen Geburt und Tod, Liebe und Hass, Jugend und Alter ausgeht (vgl. Hofmann 2006), so erweitert Mecklenburg die kulturanthropologischen Universalien Lebenszyklus, Leiblichkeit, Sexualität, Gefühlsausdruck, soziale Beziehungen, Religiosität durch s e m i o t i s c h e , l i n g u i s t i s c h e , k o g n i t i v e , ä s t h e t i s c h e und p o e t i s c h e U n i v e r s a l i e n (vgl. Hofmann 2006). Der Beitrag untersucht die Interkulturalität in der Stilistik sowohl auf der makrostilistischen Ebene (Funktionalstile, Textsorten, textstilistische bzw. individualstilistische Unterschiede literarischer Texte) als auch auf der mikrostilistischen Ebene (das stilistische Potenzial einzelner Sprachkategorien, Stilmittel, Wertungsintensität) unter Beachtung von Kulturemen bzw. Linguokulturemen, wobei Äquivalenz-, Inklusions-, Überlappungs- und Nichtentsprechungsverhältnisse festgestellt werden können. 1 Komparatistische Studien und ihre Vergleichseinheiten Interkulturelle Linguistik von heute fußt auf komparatistischen Studien von früher, die seit mehr als 200 Jahren bekannt sind. Es gab aber bereits in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts Forschungen, die sich mit dem Sprachvergleich beschäftigten. Zu nennen sind vor allem Werke von Beatus Rhenanus, Theodor Bibliander und Konrad Gesner (Gardt 1999: 268), in denen der Sprachvergleich stark wortzentriert war. Ende des 19. Jahrhunderts hat Peter Simon Pallas 280 Wörter in jeweils 200 Sprachen und Dialekten aufgelistet. Diese außerordentliche Leistung fand aber bereits damals Kritik, weil man vom Sprachvergleich „eine genaue phonetische und semantische Beschreibung der zu vergleichenden Wörter, […] eine systematische Beschreibung der flexionsmorphologischen und syntaktischen Spezifika von Sprachen [und] […] die Angabe des Verwendungsbereichs von Sprachen“ (Gardt 1999: 269) erwartete. In den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten hat die Wissenschaft in ihren vergleichenden Studien ver- 68 Svitlana Ivanenko sucht, dieser Aufforderung gerecht zu werden, wobei Phoneme, Grapheme, Morpheme, Wortgruppen, Sätze, Sememe, Lexeme und Stilmittel verschiedener Sprachebenen und verschiedener Sprachen (zweier bis mehrerer) sowie Textsorten verglichen wurden. Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, zu zeigen, wie interkulturelle Beziehungen des Deutschen und des Ukrainischen dargestellt werden können. Vor allem ist es wichtig, herauszuarbeiten, nach welchen Kriterien der Vergleich möglich ist und welche Spracheinheiten verglichen werden können. 2 Der interkulturelle Ansatz komparatistischer Studien Ende des 20. Jahrhunderts hat Alois Wierlacher vorgeschlagen, Sprachen interkulturell zu vergleichen, indem von Kulturthemen wie Geburt und Tod, Liebe und Hass, Jugend und Alter ausgegangen werden sollte. „Es ist aber nicht leicht, den universellen Kern dieser Sachverhalte von der Differenz ihrer Auslegung in verschiedenen Kulturen zu unterscheiden. Man kann diese zwei Konstanten als zwei Pole im gleichen Spannungsfeld betrachten, weil man bei der Beschreibung bzw. Darstellung von Universalien zwangsläufig zur Konstellation der Differenzen dieser Universalien in verschiedenen Kulturen bzw. Sprachen kommt“ (Ivanenko 2011: 5f.). Eine Ergänzung zu den kulturantropologischen Universalien von Wierlacher liefert Mecklenburg: „Lebenszyklus, Leiblichkeit, Sexualität, Gefühlsausdruck, soziale Beziehungen, Religiosität usw.“ (Mecklenburg 1990, zit. nach Hofmann 2006: 53), er verweist aber darauf, dass auch „semiotische, linguistische, kognitive, ästhetische, poetische […] Universalien“ (Mecklenburg 1987, zit. nach Hofmann 2006: 53) zu untersuchen sind. Der Prozess der interkulturellen Betrachtung von Sprachpaaren bzw. mehreren Sprachen geht in zyklischer Progression weiter. Ähnlich wie Ende des 19. Jahrhunderts wird z.B. von Traoré (2009: 25) vorgeschlagen, drei Ebenen - die Formebene, die Bedeutungsebene und die Funktionsebene - bei vergleichenden Studien zu betrachten, von denen man sich erhofft, dass auf diesen Ebenen bei der Vermittlung des Kulturspezifikums der jeweiligen Sprachen interkulturell relevante Merkmale umfassend festgehalten werden können. Wenn es bisher um den interkulturellen Vergleich von Sprachen und ihren Elementen als System (Langue) mit kulturellem Hintergrund ging, so versucht Czachur den diskursanalytischen Vergleich zu skizzieren. In Bezug auf Vergleichsmöglichkeiten beruft er sich auf Böke/ Jung/ Niehr/ Wengeler (2000) und unterstützt Fachbezogener interkultureller Sprachvergleich 69 […] folgende Vergleichskonstellationen von Diskursen […]: - thematisch gleiche oder ähnliche Diskurse, die in zwei Diskursgemeinschaften gleichzeitig geführt werden, - thematisch gleiche oder ähnliche Diskurse, die in zwei Diskursgemeinschaften zu unterschiedlichen Zeiten geführt werden, - thematisch verschiedene Diskurse, die in zwei Diskursgemeinschaften zur gleichen Zeit geführt werden (zit. nach Czachur 2011: 19). Dies würde etwa der „Objektebene“ der Erforschung von Interkulturalität nach Lewandowska/ Antos (2011: 138ff.) entsprechen, wobei diese Autoren noch „die Meta-Ebene“ (Lewandowska/ Antos 2011: 141) und „die In-Beziehung-Setzung von methodischen Reflexionen zwischen Objekt- und Meta-Ebene“ (Lewandowska/ Antos 2011: 142) vorschlagen. Sie empfehlen auch das interkulturell relevante Methodencluster, das aus dem vergleichenden Korpusansatz, dem kulturspezifischen Vergleichsansatz, dem Äquivalenzansatz, dem interkulturell-universellen Ansatz und dem kultur-distinktiven Vergleichsansatz (Lewandowska/ Antos 2011: 144ff.) besteht. Selmy (2011) betrachtet größtenteils die Meta-Ebene der Interkulturalität, indem dieser Begriff auf die interkulturell orientierte Linguistik ausgeweitet wird. Er sieht die Aufgabe der interkulturellen Linguistik darin, „[…] den Kontakt und den Austausch linguistischen Wissens zwischen den verschiedenen Kulturen zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu machen“ (Selmy 2011: 266), wobei als Forschungsbereiche „der interkulturelle Linguistikkontakt und der interkulturelle Linguistiktransfer“ (Selmy 2011: 266) angesehen werden. Letzterer wird als „Transfer von Linguistikbereichen“, „Transfer von theoretischen Ansätzen“ und „Transfer von linguistischen Erkenntnissen“ (Selmy 2011: 267ff.) verstanden. Die Erforschung der Interkulturalität hinsichtlich der „In-Beziehung-Setzung von methodischen Reflexionen zwischen Objekt- und Meta-Ebene“ (Lewandowska/ Antos 2011: 142) liegt der „Interkulturellen Stilistik der deutschen und ukrainischen Sprache“ (Ivanenko 2011) zugrunde, weil dabei einerseits nach Prinzipien, Aufgaben und Einheiten eines solchen Vergleichs gesucht und andererseits das stilistische Potenzial der verglichenen Sprachen aus Sicht der Interkulturalität reflektiert wurde. Dazu kommen noch fachspezifische Überlegungen, weil diese Art der Stilistik genauso wie andere Unterrichtsfächer die Einheit von Forschung und Lehre im Humboldtschen Sinne vermitteln soll. 70 Svitlana Ivanenko 3 Aufgaben, Prinzipien und Einheiten der interkulturellen Stilistik der deutschen und der ukrainischen Sprache Im Rahmen eines universitären Kurses wird die interkulturelle Stilistik der deutschen und der ukrainischen Sprache „[…] als Teildisziplin der Sprachwissenschaft“ definiert, „die das Gemeinsame und das Spezifische in Stilsystemen beider Sprachen unter besonderer Beachtung der Kultursemiotik untersucht“ (Ivanenko 2011: 13). „Eine zentrale Annahme ist dabei, dass die Form der Kultur und die Form ihrer Zeichen und Kodes in einer Wechselbeziehung stehen. Dies beinhaltet zum einen, dass kulturelle Kodes in Abstimmung mit den Bedürfnissen einer Gesellschaft entstanden sind und zum anderen, dass Angehörige einer Kultur Realität nur in den begrifflichen Formen ihrer Kultur erfassen“. 1 Als eine kulturspezifische Einheit wird das K u l t u r e m 2 angesehen, das seit dem Ende des 20. Jahrhunderts oft als L i n g u o k u l t u r e m bezeichnet wird, welches auch zum Grundbegriff der kulturologischen (interkulturellen) Linguistik geworden ist. Dubenko (2005: 176) spricht in dieser Hinsicht vom kulturologischen Bestandteil des Stils. Wichtig ist dabei, die Interkulturalität auch als interaktives Handeln zu verstehen. „Interkulturalität als Prinzip meint das kulturbewusste Mitdenken des Anderen und Fremden [...]. Interkulturalität ist darüber hinaus forschungsleitendes Prinzip des Wechselspiels kulturdifferenter Wahrnehmungen und zudem als Konstitutionsprozess und Ausdruck einer kulturellen Überschneidungssituation zu sehen“ (Casper-Hehne 2007: 119). Eine solche Betrachtungsweise erlaubt es, Stilsysteme und Textstile beider Sprachen durch kulturelle Inhalte auf einem höheren Niveau zu betrachten, was nach Sowinski (1999: 51) den Nutzen für den komparatistischen Sprachenvergleich, die Universalienforschung sowie die Übersetzungswissenschaft ausmacht. Die interkulturelle Stilistik der ukrainischen und der deutschen Sprache verfügt über einen eigenen Gegenstand, „der im Vergleich der Stile bzw. Stilsysteme beider Sprachen in Korrelation mit Kulturemen besteht, wobei unter dem Begriff ,Stil‘ alle für Stilistik relevanten Stilarten inbegriffen werden“ (Ivanenko 2011: 14). 1 Kultursemiotik. webcache.googleusercontent.com/ search? q=cache: JOXTJUSZnP4J: mooddeutsch. com/ moodle/ pluginfile.php/ 40/ mod_forum/ attachment/ 395/ Zeichen% 2520und%2520Kultursemiotik%25202015-2016.doc+&cd=1&hl=de&ct=clnk&gl=de (Stand: 14.05.2017). 2 Der Terminus stammt ursprünglich von Fernando Poyatos, bekannt wurde er allerdings erst durch seine Rezeption von Oksaar (1988). Da Oksaar ihn mit den sprachlich verkörperten Behavioremen verband, definiert Vorobjov (1997) diesen Terminus als Linguokulturem, eine Einheit, die die Form des sprachlichen Zeichens und seine Bedeutung mit seinem kulturellen Inhalt verbindet. Fachbezogener interkultureller Sprachvergleich 71 Durch die Bestimmung der Aufgaben, die innerhalb der interkulturellen Stilistik zu lösen sind, gelangt man zum Teil an die inhaltliche Strukturierung dieser sprachwissenschaftlichen Disziplin. Unter diesen Aufgaben sind die folgenden am wichtigsten: 1. Bestimmung der möglichen Aspekte der vergleichenden Beschreibung von Stilelementen, die kulturspezifische Besonderheiten beider Sprachen verkörpern; 2. Begründung der Vergleichsbasis in Bezug auf das Kulturspezifikum des stilistischen Potenzials beider Sprachen; 3. Entwicklung von Verfahren zum interkulturellen Vergleich der Stilsysteme; 4. Festhalten der kulturbedingten Unterschiede in Stilsystemen beider Sprachen; a) Feststellung der Unterschiede in sprachlich-kulturell geprägter Form der Funktionalstile im Deutschen und im Ukrainischen; b) Vergleich der Auswahlprinzipien in deutschen und ukrainischen Texten, die auf der Ähnlichkeit bzw. den Unterschieden in Struktur, Kompatibilität und Funktion beruhen (in Bezug auf Phonetik/ Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexik, Phraseologie und Ton); 5. Bereitstellung der möglichen Varianten zur Wiedergabe entsprechender kulturspezifischer Stilelemente im Dienste der Übersetzung; 6. Feststellung stilistisch relevanter Sprachmittel aus dem gemeinsamen europäischen Kulturerbe der Antike und des Ausmaßes ihrer Produktivität in zeitgenössischen Texten sowie in den Texten anderer Zeitperioden; 7. Vergleich von Individualstilen von deutschen und ukrainischen Autoren in Gesamtheit ihrer Elemente unter dem Gesichtspunkt der Interkulturalität. Die erste Aufgabenstellung findet ihre Antwort in den Bestandteilen der Stilistik: Mikrostilistik/ Stilistik der Sprache (Langue) und Makrostilistik/ Stilistik der Rede (Parole: Funktionalstilistik und Textstilistik). Die Wissenschaft liefert zurzeit aber noch keine einheitliche Meinung zur Reihenfolge des Vergleichs von verschiedenen Aspekten der Stilsysteme. Brandes (1988) und Schweizer (1991) plädieren vom Standpunkt der Kommunikationstheorie aus dafür, die interkulturelle Betrachtungsweise mit dem Vergleich der Funktionalsysteme zu beginnen, also vom Allgemeinen zum Speziellen. Es scheint aber, dass aus der Sicht der Lehre der Weg vom Einfachen zum Komplizierten gegangen werden soll, um die 72 Svitlana Ivanenko Studierenden auf die Komplexität der Sachverhalte dieses Unterrichtsfaches vorzubereiten. Also muss man mit den Elementen der Mikrostilistik beginnen und sich schrittweise von der mikrostilistischen zur makrostilistischen Untersuchung beider Sprachen bewegen. 3.1 Mikrostilistik und ihre Vergleichseinheiten hinsichtlich der Interkulturalität Mikrostilististische Untersuchungen werden auf Grundlage der Unterscheidung von Sprachebenen (phonetisch-phonologische, morphosyntaktische, semantisch-lexikalische und stilistische) geführt und die Ergebnisse demnach wiedergegeben. Das stilistische Potenzial der Phonetik/ Phonologie wird auf Grundlage der absoluten stilistischen Bedeutung der phonetischen Elemente aus interkultureller Sicht herausgearbeitet. Eine ähnliche Vorgehensweise wird auch bei der Untersuchung des stilistischen Potenzials der grammatischen und lexikalischen Elemente angeboten. Passend dazu ist die Meinung von Tymčenko (2006: 11): Sie plädiert im Rahmen der vergleichenden Stilistik der deutschen und ukrainischen Sprache für Bestandteile wie „kontrastive stilistische Lexikologie, kontrastive Phraseostilistik, kontrastive stilistische Morphologie, kontrastive stilistische Syntax und kontrastive stilistische Phonologie“. Bei diesem Herangehen an mikrostilistische Untersuchungen kommt die Interkulturalität des stilistischen Potenzials beider Sprachen im Festhalten der Unterschiede, aber auch der Gemeinsamkeiten innerhalb der stilistischen Ressource der jeweiligen Sprachebene zum Ausdruck. 3.1.1 Kulturspezifische Lautsymbolik im Deutschen und Ukrainischen Sowinski (1999: 135) betont, dass es nach wie vor strittig ist, ob in den einzelnen Sprachen den einzelnen Lauten, die durch die Buchstaben repräsentiert werden, eine feste Wirkungsqualität oder Lautsymbolik zukommt. Langjährige phonologische Forschungen an der Universität Tscherniwzi haben entsprechend den präzise ausgearbeiteten Parametern aber nachgewiesen, dass z.B. die Skala mit der binären Opposition [unangenehm  angenehm] hinsichtlich der Rezeption von Vokalen und Konsonanten in beiden Kulturen bestimmte Unterschiede zeigt. Ergebnisse der Informantenumfragen, die von Ertel (1969, zitiert nach Levytsky 1998: 19), Levytsky (1998: 19) und Kuschneryk (1987, zitiert nach Levytsky 1998: 19) durchgeführt wurden, haben gezeigt, dass die Sonoren sowohl im Ukrainischen als auch im Deutschen als angenehm empfunden werden. Die Konsonanten / m/ und / n/ nehmen den höchsten Rangwert auf der genannten - Fachbezogener-interkultureller-Sprachvergleich- 73 - Skala-ein.-Bemerkenswert-ist,-dass-der-Konsonant-/ s/ -im-Deutschen-sowohl-nach- den- Untersuchungen- von- Kuschneryk- als- auch- den- von- Ertel- eher- als- unange‐ nehm-empfunden-wird-und-im-Ukrainischen-nach-den-Daten-von-Levickij-eher- als-angenehm.-Dasselbe-bezieht-sich-auf-den-Konsonanten-/ p/ .- - Bei-den-Vokalen-kann-man-Ähnliches-feststellen.-Der-Vokal-/ a/ -wird-sowohl- im-Deutschen-als-auch-im-Ukrainischen-als-angenehm-empfunden.-Umgekehrt- ist-es-um-die-Vokale-/ u/ -und-/ i/ -bestellt.-Der-Vokal-/ u/ -nimmt-im-Ukrainischen- den- ersten- Rang- hinsichtlich- des- Merkmals- [unangenehm]- ein,- im- Deutschen- wird-er-eher-als-angenehm-betrachtet.-Der-Vokal-/ i/ -steht-nach-Levytsky-(1973a,- 1973b)-bezüglich-des-Merkmals-[angenehm]-auf-dem-höchsten-Rang,-ist-im-Deut‐ schen-nach-Kuschneryk-(1987,-zitiert-nach-Levytsky-1998: -19)-eher-[unangenehm]- --es-nimmt-dort-den-2.-Rang-ein---und-bei-Ertel-ist-es-mit-dem-4.-Rang-neutral.- - Sowinski-(1999: -135)-hebt-aber-hervor,-dass-„[…]-den-Lauten-und-Klängen-im- jeweiligen- Sinnkontext- des- Textinhalts- eine- textbegleitende- konnotative- Wir‐ kung-zukommt,-die-über-das-rein-Prosodische-der-Sprachmelodie-und-des-Rhyth‐ mus-hinausgeht“.-Es-ist-aber-für-die-interkulturelle-Kommunikation-wichtig,-zu- wissen,-welcher-Klang-von-der-Zielgruppe-als-angenehm-und-welcher-als-unan‐ genehm-empfunden-wird,-um-z.B.-bei-Werbung-die-optimale-Wirkung-zu-erzie‐ len.- 3.1.2- M o r p h o s y n t a k t i s c h e - S p r a c h k a t e g o r i e -als-Vergleichseinheit- der-Interkulturalität- Eine- weitere- Vergleichseinheit- der- Mikrostilistik- machen- morphosyntaktische- Sprachkategorien-aus.-Es-geht-dabei-um-die-Feststellung-des-interkulturellen-Ge‐ halts- im- stilistischen- Potenzial- solcher- Kategorien- einerseits- und- das- Ausmaß- dieses-Potenzials-in-beiden-Sprachen-andererseits.-Als-Beispiel-kann-die-Katego‐ rie- der- Unpersönlichkeit- im- wissenschaftlichen- Stil- dienen.- Der- intensive- Ge‐ brauch-von-Passivkonstruktionen-im-Deutschen-mit-dem-Ziel,-die-Ich‐Form-zu- vermeiden,-ist-sprachkulturell-bedingt,-weil-wissenschaftliche-Ergebnisse-oft-das- Resultat- aktiver- Arbeit- eines- wissenschaftlichen- Teams- bzw.- mehrerer- Teams- sind.-Im-Ukrainischen-dagegen-werden-Passivkonstruktionen-in-dieser-Funktion- nicht-intensiv-gebraucht-(Koval-1970: -102ff.).-Eine-Begründung-dazu-findet-man- in- der- Rezeption- der- binären- Opposition- [aktiv-passiv].- Im- Ukrainischen- ten‐ diert-man-dazu,-bei-der-Darstellung-der-Unpersönlichkeit-die-Aktivität-als-wis‐ senschaftliches- Handeln- nicht- auszuschließen.- Daraus- ergibt- sich- eine- weitere- Frage- und- zwar- die,- welche- Sprachelemente- Träger- des- jeweiligen- stilistischen- Potenzials-in-beiden-Sprachen-sind.-Im-Ukrainischen-sind-dies-Verbformen-auf-‐ no,-‐to,-die-das-aktive-Handeln-nicht-negieren,-aber-die-Unpersönlichkeit-in-wis‐ senschaftlichen-Texten-produktiv-vermitteln.- 74 Svitlana Ivanenko 3.1.3 S t i l m i t t e l als Einheit des interkuturellen Sprachvergleichs Im Rahmen eines mikrostilistischen Vergleichs spielen auch Stilistika (Tropen und Stilfiguren) eine wichtige Rolle. In Bezug auf das stilistische Potenzial einzelner linguistischer Teildisziplinen verwendet man den Terminus S t i l m i t t e l . Es ist wichtig festzustellen, dass der terminologische Apparat beider Stilistikwissenschaften entsprechende Termini aufweist, die es ermöglichen, sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in der Deutung einzelner Termini darzustellen sowie die Interkulturalität in Bezug auf Stilmittel zu objektivieren. Der nächste Punkt, der für die Feststellung des stilistischen Potenzials eines Stilistikums im Kontext bzw. in der Sprachressource wichtig ist, bezieht sich auf den Grad der Wertungsintensität, den das jeweilige Element entsprechend der absoluten stilistischen Bedeutung hat. Für diesen Zweck wurde eine fünfstufige Differenzierung entworfen, eine fünfwertige Skala, die man bei der Bestimmung der Wertungsintensität des jeweiligen Stilmittels anwenden kann (Ivanenko 2005: 49). Intensitätsniveau Ausdrucksmittel Das höchste  alle drei Komponenten der stilistischen Bedeutung sind in der sprachlichen Einheit vorhanden  die höchste Schwankungsamplitude nach der normativen Komponente der stilistischen Bedeutung  Verstöße gegen die Norm nach der funktionalen Komponente der stilistischen Bedeutung (das Prinzip der größten Distanz zwischen den einzelnen Tätigkeitsbereichen des Menschen) Das höhere  alle drei Komponenten der stilistischen Bedeutung sind in der sprachlichen Einheit vorhanden Das hohe  zwei Komponenten der stilistischen Bedeutung sind in der sprachlichen Einheit vorhanden: entweder normative und expressive oder funktionale und expressive Das mittlere  eine Komponente der stilistischen Bedeutung ist vorhanden, und zwar die expressive auf Grund: emotionaler Lexik; wertender Lexeme; Fachbezogener interkultureller Sprachvergleich 75 rhetorischer Figuren; Tropen; phraseologischer Wendungen; Mittel der Distanzierung Das neutrale  neutrale Lexik Tabelle 1 3.2 Makrostilistik und Interkulturalität „Makrostilistische Untersuchungen beziehen sich auf den Vergleich der Funktionalstile [im Rahmen der Funktionalstilistik - Anm. d. Verf.] im Deutschen und im Ukrainischen und textstilistische Unterschiede in beiden Sprachen sowie auf die individualstilistischen Unterschiede der literarischen Texte“ (Ivanenko 2011: 15). Die letzteren gehören auch zum Aufgabenkreis der literaturwissenschaftlichen Stilistik, die sich mit Fragen des Individualstils des Autors beschäftigt. Die Bestimmung der Interkulturalität in Bezug auf den Individualstil des Autors hat ihre Besonderheiten, weil die Literaturen der Welt von jeher im Kontakt sind. Literarische Richtungen erstrecken sich oft weit über die Grenzen der Länder und Nationen, sie werden manchmal auch in den unterschiedlichsten Kulturen nachgewiesen. Andererseits besteht seit der fortschreitenden Globalisierung eine vielfältige Migrantenliteratur. Viele Schriftsteller sind heute in zwei oder mehreren Kulturen beheimatet. Man kann sogar drei Phasen der Kulturassimilation von Autoren nachweisen, die ihren Individualstil prägen: Erstens die Dominanz der Ausgangskultur, zweitens die Gleichstellung beider Kulturen bei der Rezeption der Welt und drittens die Dominanz der Kultur einer anderen Nation (Wahlheimatdominanz). Während sich über die ersten zwei Etappen hinweg Autoren oft selbst in ihren literarischen Texten reflektieren, so fällt die Analyse der Werke aus der dritten Etappe der Interkulturalität eines solchen Autors viel schwerer. Man kann z.B. in den Werken von Rafik Schami, die zur dritten Etappe gehören, in denen in Bezug auf die Kulturassimilation die Wahlheimatdominanz vorherrscht, nur durch den Rhythmus und den Ton seine Zugehörigkeit zur arabischen Ursprungskultur nachweisen (Iwanenko 2003: 254). Somit lässt sich die Interkulturalität des Individualstils als das individualisierende Flair des Autors definieren, das durch die persönliche Eigenart und insbesondere durch die Zugehörigkeit zu zwei oder mehreren Kulturen bestimmt wird und in der Sprechbzw. Schreibart zustande kommt, die ihren Ausdruck in einem homogenen Bild einer in eine bestimmte Richtung abgewandelten Ursprungskultur des Autors findet. 76 Svitlana Ivanenko Beim Vergleich der Stilelemente ist es ebenso wichtig, die Art der Verhältnisse zwischen den Elementen der zu vergleichenden Sprachen festzustellen, ungeachtet dessen, in welchem Bereich der linguistischen Forschung verglichen wird. Diesbezüglich geht man von Ä q u i v a l e n z - , I n k l u s i o n s - , Ü b e r l a p p u n g s - und N i c h t e n t s p r e c h u n g s v e r h ä l t n i s s e n aus, letztere werden auch als Nullentsprechung bezeichnet. Jede Art der genannten Verhältnisse gibt eine Vorstellung über den Grad der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede im jeweiligen Stilsystem beider Sprachen. 4 Schlussbemerkungen Die durchgeführte Analyse der Stilsysteme beider Sprachen lässt erkennen, dass das dominante Äquivalenzverhältnis zwischen den beiden Sprachen hinsichtlich der phonostilistischen Gegebenheiten durch das Vorhandensein solcher universellen Parameter wie K l a n g , L a u t s y m b o l i k , O n o m a t o p o e t i k a , R e i m , M e t r u m u n d R h y t h m u s , I n t o n a t i o n u n d T o n begründet ist, aber im Einzelnen sowohl durch das Nullentsprechungsverhältnis, z.B. bei der Alternation (es gibt sie nur im Ukrainischen) oder dem Inklusionsverhältnis bei der Alliteration sowie durch das Überlappungsverhältnis in Bezug auf die Intonation präzisiert wird. Beide Sprachen verfügen über ein beachtliches stilistisches Potenzial in der Grammatik, wobei zu unterstreichen ist, dass es meistens um die universellen Eigenschaften und Elemente geht. Die Unterschiede beziehen sich auf die Eigentümlichkeiten der Wortfolge im deutschen Satz und deren Stilwert sowie auf das Vorhandensein einer verbalen bzw. nominalen Klammer und ihrer Verwertung bei der Ausklammerung. Man muss auch hervorheben, dass die theoretische Erfassung der grammatischen Möglichkeiten des Ukrainischen in Bezug auf ihr stilistisches und kulturologisches Potenzial noch nicht so weit erforscht ist wie im Deutschen. Es fehlen z.B. Bezeichnungen für verschiedene Arten der Parzellierung, die es im Deutschen gibt. Die stilistische Syntax der ukrainischen Sprache, insbesondere die stilistische Leistung der Wortfolge, wartet noch auf eine gründlichere Untersuchung. Beim Vergleich der lexikalischen Systeme beider Sprachen geht es im Großen und Ganzen um eine Mischung zwischen dem Inklusions- und Überlappungsverhältnis des stilistischen Potenzials. Das gesamte System der Funktionalstile wird durch das Inklusionsverhältnis zwischen beiden Sprachen charakterisiert, wobei die Hauptfunktion, die Stilzüge und die Grundlage der funktionalstilistischen Ausprägung der Sprache zusammenfallen, manche Textsorten fehlen oder etwas unterschiedliche Typen bzw. Strukturen aufweisen. Dies ist dadurch begründet, dass durch den Verlust der - Fachbezogener-interkultureller-Sprachvergleich- 77 - Eigenstaatlichkeit- 1654- die- offizielle- Verkehrssprache- in- der- Ukraine- Russisch- war; -Ukrainisch-gebrauchte-man-im-Alltagsverkehr,-in-der-Literatur,-zum-Teil-in- der-Publizistik,-Wissenschaft-und-Religion.-Im-19.-Jahrhundert-wurde-Ukrainisch- durch-das-zaristische-Russland-für-jeglichen-Gebrauch-verboten.-Die-sprachlich‐ stilistische-Ressource-des-Ukrainischen-von-heute-verhindert-es-aber-nicht,-Texte- aus-dem-Ukrainischen-ins-Deutsche-zu-übersetzen.-Dasselbe-vermitteln-auch-die- Übersetzungen- vom- Deutschen- ins- Ukrainische.- Die- Unterschiede- liegen- im- kommunikativ‐pragmatischen-Bereich,-der-die-Übertragung-aus-einer-Kultur-in- die- andere- regelt.- Abschließend- muss- man- feststellen,- dass- noch- viel- Arbeit- in- Bezug-auf-die-Forschung-in-der-interkulturellen-Textstilistik-zu-leisten-ist.- 5- Literatur- Böke,-Karin/ Jung,-Matthias/ Niehr,-Thomas/ Wengeler,-Martin-(2000): -Vergleichende-Dis‐ kurslinguistik.- Überlegungen- zur- Analyse- national- heterogener- Textkorpora.- In: - Niehr,-Thomas/ Böke,-Karin-(Hrsg.): -Einwanderungsdiskurse.-Vergleichende-diskurs‐ linguistische-Studien.-Symposium-mit-dem-Thema-„Einwanderungsdiskurse-im-Inter‐ nationalen-Vergleich“-in-Hilden-vom-18.‐20.2.1998.-Wiesbaden.-S.-11  36.- Brandes,-Margarita-P.-(1988): -Stiľ-i-perevod.-Na-materiale-nemeckogo-jazyka.-Moskva.-- Casper‐Hehne,- Hiltraud- (2007): - Interkulturelle- Germanistik/ Deutsch- als- Fremdsprache- am-Beispiel-Deutschland-und-China.-Konzepte---Entwicklung---Perspektiven.-In: -Eß‐ ler,-Ruth/ Krumm,-Hans‐Jürgen-(Hrsg.): -Bausteine-für-Babylon: -Sprache,-Kultur,-Un‐ terricht.-Festschrift-zum-60.-Geburtstag-von-Hans-Barkowski.-München.-S.-114  124.- Czachur,- Waldemar- (2011): - Was- kann- eine- kontrastive- bzw.- kultur‐kontrastive- Dis‐ kursanalyse- leisten? 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q=cache: JOXTJUSZnP4J: mood- - deutsch.com/ moodle/ pluginfile.php/ 40/ mod_forum/ attachment/ 395/ Zeichen%2520u nd%2520Kultursemiotik%25202015‐2016.doc+&cd=1&hl=de&ct=clnk&gl=de- (Stand: - 14.05.2017).- Namenwechsel und Namenübertragungen: Der Hofname und seine zentrale Rolle in der Namengebung Daniela Kaiser-Feistmantl (Innsbruck) Zusammenfassung 1 Der Beitrag ist im Rahmen des Projekts „HOFa - Onymische Beziehungen zwischen Hof-, Orts- und Familiennamen im Tiroler Wipptal“ entstanden, welches Hofnamen und deren Wandel- und Übertragungscharakteristika in einem geschlossenen Namenraum erforscht und analysiert. Als Beispiel für die vorliegende Analyse dient die Gemeinde Ellbögen. Es werden anhand von Fallbeispielen Hofnamen und deren Benennungsmotive sowie eventuelle Namenwechsel und deren Gründe untersucht. Es wird herausgestellt, ob Hofnamen eher den Anthroponymen oder den Toponymen zuzuordnen sind sowie der Frage nachgegangen, wie es sich mit den Benennungen der Mikrotoponyme, d.h. Objekten, die zum Hof gehören oder sich in unmittelbarer Umgebung befinden, verhält. 1 Einleitung „HOFa - Onymische Beziehungen zwischen Hof-, Orts- und Familiennamen im Tiroler Wipptal“ 2 ist ein vom Tiroler Wissenschaftsfonds (TWF) gefördertes und von der Autorin im Zeitraum von 2013 bis 2014 an der Universität Innsbruck durchgeführtes Projekt. Das zentrale Ziel dieses Projektes besteht darin, die onymischen Beziehungen zwischen Hofnamen, Ortsnamen und Familiennamen in einem geschlossenen Namenraum zu untersuchen. Das Untersuchungsgebiet (im Folgenden UG genannt) liegt in Österreich im Bundesland Tirol und umfasst das östliche Wipptal mit den zehn Gemeinden Patsch, Ellbö- 1 Der vorliegende Text geht auf den gleichnamigen Vortrag der Verfasserin in der von Herrn Prof. Dr. Peter Ernst und Herrn Dr. Gerhard Rampl geleiteten Sektion 2 unter dem Titel „Onomastik“ zurück. 2 Näheres dazu siehe www.onomastik.at/ content/ hofa (Stand: 26.04.2017). Im Projekt HOFa kann auf sämtliche, bereits erhobene Daten, Ergebnisse sowie die Infrastruktur (insbesondere die Geographische Namendatenbank und das Web-GIS) des von 2009 bis 2013 laufenden FWF-Projektes „WippDigital - GIS-gestützte Flurnamenforschung im Wipptal“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien, in Kooperation mit der Universität Innsbruck aufgebaut werden (Näheres dazu siehe www.onomastik.at/ content/ wippdigital; Stand: 26.04.2017). 80 Daniela Kaiser-Feistmantl gen, Pfons, Matrei am Brenner, Steinach am Brenner, Mühlbachl, Navis, Schmirn, Vals und Gries am Brenner, Gesamtfläche 354,18 m². Abb. 1: Einbettung des UG Wipptal in Europa Das Wipptal erstreckt sich von Innsbruck bis Sterzing und übertritt am Brennerpass, dem niedrigsten Übergang der Alpen (1370 m), die Staatsgrenze Österreich - Italien. Entwässert wird das Tal von der Sill, die bei Innsbruck in den Inn mündet. Topographisch bzw. geomorphologisch stellt sich das Wipptal als Tal mit mehreren, östlich und westlich abzweigenden Seitentälern dar, es hat Anteil an den Stubaier Alpen im Westen und den Tuxer Alpen im Osten. Im UG finden sich alle typischen, alpinen Landnutzungsformen wie Wälder, Almen, Weiden, Mähder etc. In der Wipptaler Namenlandschaft begegnet man den drei wichtigsten Sprachschichten Nordtirols: der vorrömischen ostalpenindogermanischer (breonischer) Ausprägung, der romanischen zentralladinischer Ausprägung sowie der deutschen bairischer Ausprägung. Das Tal kann aus diesen Gründen als repräsentativ für die Tiroler Namenlandschaft angesehen werden. Namenwechsel und Namenübertragungen 81 Abb. 2: Untersuchungsgebiet „Östliches Wipptal“ mit den einzelnen Gemeinden Um Fluren, Siedlungen, Gewässer, Almen usw. neu zu benennen, greift ein Sprecherkollektiv vielfach auf bereits existierendes Namenmaterial zurück. Harnisch/ Nübling (2004: 1904) sprechen in diesem Fall von der „Integration proprialen Materials“. Dabei wird meist die (theoretische) Grenze von Namenklassen überschritten: Toponyme können Anthroponyme enthalten, oder aber vice versa können Anthroponyme aus Toponymen entstanden sein. Auch Sprachgrenzen werden dabei überschritten. Die geographische Lage des Untersuchungsgebietes spielt dabei eine zentrale Rolle: Tirol befindet und befand 82 Daniela Kaiser-Feistmantl sich schon immer an der Peripherie des deutschen Sprachraumes und war über Jahrhunderte geprägt von Sprachkontakt und verschiedensprachigen Regionen. Als zentrale Schnittstelle dieser vielfältigen Namenübertragungen und -wechsel kann der Hofname identifiziert werden. Der Hofname als Namentyp selbst scheint sich keiner der beiden großen Namenklassen Toponym und Anthroponym zuschreiben zu lassen: Er trägt sowohl anthroponymische als auch toponymische Züge. Die hier vorgestellte Studie beschränkt sich auf die Gemeinde Ellbögen im UG. 3 Ellbögen hat eine flächenmäßige Ausdehnung von 34,47 km² und eine Einwohnerzahl von 1.062 (Statistik Austria, www.statistik.at/ web_de/ klassifikationen/ regionale_gliederungen/ gemeinden/ index.html; Stand: 27.04. 2017). In Ellbögen gibt es insgesamt 109 bewirtschaftete Bauernhöfe. Nur drei Höfe davon sind in jüngerer Zeit entstanden, d.h. der Rest ist spätestens seit dem Maria-Theresianischen Kataster (Kat. 27/ 4) von 1775 belegt. Insgesamt neun Höfe, die in diesem Kataster noch gelistet sind, werden heute nicht mehr als Höfe geführt und deshalb in der Analyse nicht berücksichtigt. Zwölf der heute noch genutzten 109 Höfe sind historisch belegt bis Ende des 13./ Anfang des 14. Jahrhunderts. 4 Folgende zentrale Forschungsfragen werden verfolgt:  Welche etymologischen und entstehungsgeschichtlichen Abhängigkeiten bestehen zwischen den beiden großen Namenklassen Toponym und Anthroponym?  In welcher Quantität treten Entwicklungen wie Namenübertragungen und Namenwechsel im Typ Hofname auf?  Welche Motive spielen dabei eine Rolle? 2 Methodik Das Projekt HOFa baut in Hinblick auf Material, Infrastruktur, Methodik und Ergebnisse auf dem Projekt „WippDigital - GIS-gestützte Flurnamenforschung im Wipptal“ auf. Im Folgenden wird deswegen die methodische Beschreibung zusammengefasst dargestellt und sowohl die Arbeitsschritte als auch die bereits erworbenen Daten werden nur kurz umrissen. 5 3 Eine weitere Detailstudie für die Gemeinde Navis liegt bereits vor (siehe Feistmantl 2013). 4 Im Inntaler Steuerverzeichnis von 1312 bzw. im Meinhardinischen Urbar von 1288. 5 Für detaillierte Informationen siehe Feistmantl (2014). Namenwechsel und Namenübertragungen 83 2.1 Archivrecherche Die historische Belegsammlung wurde bereits im Projekt „WippDigital“ umfangreich angelegt und reicht zeitlich vom 11. Jahrhundert bis zur Neuzeit. Exzerpiert wurden systematisch nach Gemeinden relevante Urkunden, Urbare, Kataster, Verfachbücher und Grundbuchanlegeprotokolle. 6 Die Belegerfassung erfolgte mit Kontext, sodass auch Daten der Grundstücksbesitzer wie Hofnamen sowie Familienbzw. Vulgonamen vorliegen. Des Weiteren wurden im Zuge der Archivrecherche auch historische Kartenwerke 7 gesichtet. Besonders hervorzuheben ist für die hier vorgestellte Untersuchung die sogenannte Dritte Landesaufnahme aus den Jahren 1870-1880, in welcher Höfe (Hofgebäude) mit Namen verzeichnet sind. 2.2 Synchrone Namenerhebung und Interviews Die Namensammlung vor Ort fand in Zusammenarbeit mit dem onomastischen Projekt „Flurnamendokumentation im Bundesland Tirol“ 8 statt. Bereits in diesem Arbeitsschritt konnten die rezenten Namen georeferenziert werden, d.h. sie wurden im Raum mittels GPS-Daten verankert. Dafür wurde eine eige- 6 Ein Urbar ist ein Verzeichnis über Besitzrechte einer Grundherrschaft (weltlich oder geistig) und der daraus zu erbringenden Leistungen. Das Kataster (Liegenschaftskataster, Grundsteuerkataster) ist die flächendeckende Beschreibung sämtlicher Fluren (Parzellen) eines Landes. In historischen Katastern wird die sich daraus ergebende Zinspflicht der Grunduntertanen festgelegt. In dem beschreibenden Teil und in Karten werden die geometrische Lage auch anhand der angrenzenden Fluren, die baulichen Anlagen, die Art der Nutzung und Größe beschrieben. Ein Verfachbuch ist ein Gerichtshandelsbuch, das handschriftliche Protokolle über Kaufverträge für Häuser, (Bauern-)Güter und Grundstücke in einer Gemeinde oder einem Landgericht enthält. Mittels Grundbuchanlegeprotokollen wurden die Grundstückparzellen aus dem Maria-Theresianischen Kataster in die heutigen Grundbücher überführt. 7 Diese historischen Kartenwerke werden vom Tiroler Landesarchiv bzw. dem Tiroler Informations- und Raumordnungssystem tiris bereits georeferenziert online zur Verfügung gestellt unter www.tirisdienste.at/ scripts/ esrimap.dll? Name=anich&Cmd =Start (Stand: 24.04.2017). 8 Es handelt sich dabei um ein langfristig angelegtes, tirolweites Vorhaben, alle derzeit gebrauchten Flurnamen des Bundeslandes flächendeckend zu erheben, verifizieren und für zukünftige Forschungsvorhaben zu sichern. Für weitere Informationen siehe onomastik.at/ content/ flurnamendokumentation-im-bundesland-tirol (Stand: 26.04.2017) bzw. Chapman (2012). 84 Daniela Kaiser-Feistmantl ne Web-GIS-Anwendung 9 konfiguriert. Die synchrone Namenerhebung ging Hand in Hand mit den Interviews vor Ort. Dabei wurden einheimische Gewährspersonen befragt und für alle Namenobjekte eine kurze Lagebeschreibung mit Informationen wie Seehöhe, Bodenbeschaffenheit, landwirtschaftliche Nutzung etc. formuliert. Audiodateien, in denen die bodenständige Aussprache dieser Namen aufgezeichnet ist sowie deren Transkripte liegen vor. 2.3 Datenaufbereitung, -interpretation und -darstellung Die so gewonnenen Daten werden allesamt in einer Access-Datenbank gesammelt, organisiert und miteinander verknüpft. In der geographischen Namendatenbank werden dann die Etymologien sowie die kulturhistorischen Artikel zu den einzelnen Namen erstellt. In diesem Arbeitsschritt findet eine Klassifizierung der Namen nach Namentyp, Sprachschicht sowie Namengrammatik statt, wodurch vielfältige Abfragen einerseits in der Datenbank und andererseits in der Web-GIS-Anwendung 10 gemacht werden können. Alle Daten, die zu den einzelnen Namen erhoben und gesammelt wurden, werden in der Web-GIS- Anwendung dargestellt: Name, Namentyp, Lagebeschreibung, historische Belege, bodenständige Aussprache als Transkript und Audiodatei, Etymologie/ kulturhistorische Auswertung etc. 3 Der Hofname als Namentyp Aus der Literatur und bisherigen Forschungen zu Höfen und Hofnamen geht deutlich hervor, dass das Wesen dieser Namenklasse nur schwer präzise greifbar und einzuordnen ist. Es wird dieser Namentypus grundsätzlich zwar meist zu den Toponymen (Bauer 1985: 51, Sonderegger 1985: 208ff., Weber 2004: 250ff.), genauer Oikonymen, gezählt, allerdings fallweise auch unter den Anthroponymen (Schwarz 1949: 106ff., Bach 1953: 85ff., Wenzel 2009: 230), als Familienname oder Vulgoname, subsumiert. Viele kleinräumige Forschungen zeigen, dass Hofnamen an der Grenze zwischen Toponym und Anthroponym anzusiedeln sind. Harvalík (2004: 416) hält fest: „Die Verwendung von Hofnamen als Zu- oder Familiennamen und umgekehrt (= Transonymisierung) wird trotz der Festlegung von Hofnamen als ‘Benennungen für individuelle Bauernhöfe’ 9 Siehe flurnamen.uibk.ac.at/ WippDigital/ webgis2/ (Stand: 26.04.2017). Zum Nutzen Geographischer Informationssysteme (GIS) in der Onomastik vgl. Rampl (2008). 10 Die Nutzer der Web-GIS-Anwendung können eigenständig Abfragen und thematische Karten generieren. Namenwechsel und Namenübertragungen 85 gelegentlich berücksichtigt [...]“. Und weiter: „Hofnamen können somit eine zweifache Identifikationsfunktion erfüllen: einerseits als Namen für die Gebäude, andererseits als Namen für die jeweils zugehörigen Familien“. 4 Fallbeispiele 4.1 Vorbemerkungen zum Objekt „Hof“ in Tirol Die Nordtiroler Höfelandschaft ist keineswegs homogen. Einen ersten, grundsätzlichen Unterschied im Hinblick auf die Vererbung eines Hofes gibt es zwischen dem Tiroler Oberland (im Westen Tirols) und dem Tiroler Unterland (im Osten). Diese Divergenz zieht unter anderem auch Konsequenzen im Bereich der Namengebung sowie der innerdörflichen Kommunikation (der Referierung auf den Hof und somit der Repräsentation im mentalen Lexikon des Sprechers) mit sich. Das Gemeindegebiet von Ellbögen liegt im Tiroler Unterland, weshalb an dieser Stelle näher auf die Situation des Hofes im Tiroler Unterland eingegangen wird. Ein Hof wird in diesem Teil Tirols als ganzes Erbe ungeteilt an den erstgeborenen Sohn bzw. mitunter auch eine Tochter weitergegeben. Es findet, im Gegensatz zum Tiroler Oberland, keine Realteilung des Hofes und Hofbesitzes statt: Der Hof mit allen zugehörigen Grundflächen und Nutzungsrechten wird in seiner Gesamtheit weitervererbt. Dadurch bleibt das Namenobjekt konstant über einen längeren Zeitraum bestehen. Verkauf oder Tausch von Höfen ist - zumindest im UG Wipptal - häufig und gut belegt, also rekonstruierbar. Höfe sind im mentalen Namenlexikon der - mitunter recht kleinen - Sprechergemeinschaft „Dorf“ stark verankert und sie fungieren als wichtige örtliche und familiäre Orientierungspunkte. Hofnamen referieren in diesem Teil Tirols nicht nur auf das Hofgebäude selbst, sondern - in Form von Vulgonamen oder informellen Zweitnamen - auf den Hofeigentümer und dessen Familie. 11 Zeichenerklärung: → zeigt einen Namenwechsel an < entstanden aus > wird zu † Name nicht mehr in Gebrauch zeigt eine Beeinflussung des Namenwechsels an HN Hofname 11 Als Beispiel: Der Besitzer des Josler (Hof) in Ellbögen heißt mit amtlichem Namen Johann Haller, wird aber im Dorf Josls Hans genannt, womit eindeutig auf seinen Hof als Besitz und Wohnstätte referiert wird. 86 Daniela Kaiser-Feistmantl SN Siedlungsname AN Almname FlN Flurname FN Familienname 4.2 Namenwechsel 4.2.1 Der Hof Spör Belegauswahl: 1305: It(em) in Valgurn duo cam(er)lant [Urbar 0101001] - 1357: It(em) Valguren vo(n) zwain Cham(er)lanten [Urbar 1357] - 1374: Valgurn [Urbar A010401] - 1646: Hanns Gött zinst von der Feilgurrn [Urbarium St. Peter] - 1775: Kassian Spörr besitzt das sogenannte Spörren Gut [Kat. 27/ 4] Aus den Belegen geht hervor, dass der heutige Hof Spörr einem Namenwechsel unterlag. Dieser onymische Wechsel war anthroponymisch motiviert durch den Familiennamen Spörr des neuen Besitzers 1775. Der ursprüngliche, 1305 erstmals erwähnte Name war Valgurn. Dieser Name hielt sich mehr als 400 Jahre und ist durch die Jahrhunderte gut belegt. Die erste Namengebung des Hofes war toponymisch motiviert durch einen nahe liegenden Flurnamen, der heute als Figur noch in Gebrauch ist. Diesem liegt ein romanisches Etymon zugrunde: *val corn in der Bedeutung ‚hornförmiges, gekrümmtes Tal‘. 12 Diese Deutung wird sachlich durch die Realprobe gestützt. Im Erstbeleg und den beiden nachfolgenden Belegstellen ist dieses Etymon noch deutlich zu erkennen. 1646 wird das Bauerngut Feilgurrn genannt, was darauf hindeutet, dass der Name bzw. die Bedeutung des Namens nicht mehr verstanden wurde. In der Neuzeit wurde der Name dann deutsch remotiviert und mit neuer Bedeutung gefüllt: Figur. Die Betonung liegt noch heute wie in romanischer Zeit auf der letzten Silbe. Es lässt sich aus dem onymischen Wandel folgende formelhafte Abbildung erstellen: HN (< FlN, Motiv: Lage, toponymisch) → HN (< FN, Motiv: Besitzer, anthroponymisch) 12 Die metaphorische Übertragung der Form von Haushaltsgegenständen auf Toponyme ist in Tirol häufig, besonders in der romanischen Namenschicht, zu beobachten: Genein in Schmirn < rom. *cunīna ‚kleine Bodensenke‘ zu rom. *cūna ‚wiegenartige Einsenkung, Bodenmulde‘ < lat. cūna ‚Wiege, Nest‘ (Anreiter/ Chapman/ Rampl 2009: 20f.). Namenwechsel und Namenübertragungen 87 4.2.2 Der Hof Furter Belegauswahl: 1646: Michael Rynner, vom Guet auf der Norr [Urbarium St. Peter] - 1775: Andree Rinner besitzt das sogenannte Norren Gut [Kat. 27/ 4] - 1865: Rinner Josef, Bauer beim Norer [Kat. 29/ 30] Im ursprünglichen Hofnamen Norr(en) ist der mda. Ausdruck [n ɔ a ʀ ] bzw. [n ɔɐ ] oder [no ʁ ] zu finden, dessen toponymische Bedeutung ‚Kuppe, Kopf, Rundhöcker in der Wald- und Weidezone‘ ist (Schatz 1993b: 455, Finsterwalder 1990: 805ff.). Der Hof wurde also nach seiner Lage an oder auf einer bestimmten, geomorphologisch hervorstechenden Flur benannt und ist somit toponymisch motiviert. Dies zeigt auch die Belegstelle von 1646, in der es heißt: vom Guet auf der Nor. Der Name wurde bis ins ausgehende 19. Jahrhundert gebraucht. Den neuen Hofnamen brachte der Besitzer nach Besitzwechsel Anfang des 20. Jahrhunderts aus einer anderen Gemeinde mit. Aus Aufzeichnungen geht hervor, dass in der Nachbargemeinde Gries am Brenner der Hof Furter abbrannte, daraufhin kaufte sich dessen Besitzer in Ellbögen ein neues Bauerngut. Der Hofname wanderte quasi mit seinem Besitzer mit und wurde auf den neuen Hof übertragen, weshalb dieser Namenwechsel als anthroponymisch motiviert anzusehen ist. Das Motiv der Namengebung für den ursprünglichen Hof Furt in Gries am Brenner war toponymisch und referierte auf dessen Lage an einer Furt im Sinne von ‚seichte Bachstelle, Durchfahrt durch einen Zaun‘ (Schatz 1993a: 196f.). Der Umstand, dass der Name trotz nicht vorhandener, real-geographischer Gegebenheiten auf den neuen Hof übertragen wurde 13 , spricht für eine stärkere Bindung des Hofnamens an den Hofbesitzer als an das Objekt Hof selbst. Die formelhafte Abbildung, die sich aus diesem onymischen Wechsel ergibt, ist folgende: HN (< FlN, Motiv: Lage, toponymisch) → HN (< HN, Motiv: Besitzer, anthroponymisch) 13 Es ist anzunehmen, dass Furt bzw. dessen Semantik vom Sprecher(kollektiv) noch verstanden wurde, handelt es sich doch um einen Namen mit Etymon aus der bairischen Sprachschicht, welches auch appellativisch heute noch da ist. 88 Daniela Kaiser-Feistmantl 4.2.3 Der Hof Kofler Belegauswahl: 1312: Christian an der Leunen [Inntaler Steuerverzeichnis] - 1430 14 : Jacob Holzer, der Lener - 1539: Christof Unterlener [Zehentvergleichsbrief 1539] - 1646: Peter Sauttner, zinst vom Gut auf der untern Leen [Urbarium St. Peter] - 1655: Jacob Schwa ӱ khofer besizt ain Lechen auf der Vnntern Lenn [Kat. 27/ 15] - 1775: Martin Hölzl besitzt das Gut, die untere Lechen genannt [Kat. 27/ 4] - 1865: Meyer Mathias, Bauer zu Unterlener [Kat. 29/ 30] Der Erstbeleg von 1312 nennt einen steuerpflichtigen Einwohner in Ellbögen an der Leunen. Strukturell handelt es sich dabei um einen Zusatz zum Rufnamen zur eindeutigen Identifizierung der Person in Form einer Lokalangabe. Etymologisch stellt sich Leunen als verschriftete, historische Form von mda. [len] Len in der Bedeutung ‚steile Bergwiese‘ oder ‚Lawinenstrich, Bergrutsch, Erdrutsch‘ < mhd. lêne ‚Lawine‘ < ahd. lewina ‚Sturzbach‘, das aus dem rom. lavina entlehnt wurde, dar. In Tirol existieren parallel die zwei lautlichen Ausformungen Lan und Len, die letztlich beide auf rom. lavina zurückgehen und dieselbe Bedeutung ‚Lawine, Erdrutsch‘ haben. Die Verteilung dieser beiden Formen Lan und Len in Tirol ist partiell-komplementär: Lenals Onym und Appellativ ist bodenständig in Westtirol bis einschließlich Stubaital, Lanwird im gesamten Tiroler Unterland verwendet. Die Übergangszone fällt genau in das UG: Das westlich angrenzende Stubaital hat noch vorrangig Len-, während östlich des Wipptals ausschließlich Lanvorkommt (Finsterwalder 1974). Das Wipptal hingegen hat beide Formen, wobei festzuhalten ist, dass Lanheute dominant ist. Speziell in der Gemeinde Ellbögen zeigt sich dieses duale Bild: Es gibt sowohl die Namen Lener (Familienname, Siedlungsname, Hofname) und Larchlener (Flurname), als auch Mösllaner, Steinlaner, Lablaner und Gamslaner. Die Lan-Formen sind historisch nicht belegt und demnach jüngere onymische Schöpfungen. Der Beleg von 1430 ist wohl als Personenname, genauer Beiname, zu interpretieren. Ebenso plausibel ist jedoch die Annahme, dass es sich dabei bereits um den Hofnamen handelt; die Belegstelle gibt darüber keinen genauen Aufschluss. Klar ersichtlich ist jedoch, dass Familienname und Vulgobzw. Hofname nicht übereinstimmen. Anfang des 16. Jahrhunderts ist die Teilung des Gutes belegt, was zur Folge hat, dass es von nun an den Unteren Lener und den Oberen Lener bis zur heutigen Zeit gibt. Dies schlägt sich auch im Beleg von 1539 wieder: Christof Unterlener als Besitzer des Unteren Lener (Hof), der Hof- 14 Es handelt sich um eine schriftliche Bestätigung bzgl. der Holz- und Weiderechte der Bauern von Tarzens (Siedlung in Ellbögen), ausgestellt im Jahre 1430 vom Richter der Probstey Amras (Baumann 1998: 39). Namenwechsel und Namenübertragungen 89 name dient hier als Familienname 15 . In der Folge wechselt der Hof mehrmals durch Verkauf oder Tausch den Besitzer, 1646 z.B. ist ein Peter Sauttner genannt, der vom Gut auf der untern Leen zinst, 1655 besitzt Jacob Schwa ӱ khofer [...] ain Lechen auf der Vnntern Lenn, 1775 trägt der Lenerbauer den Familiennamen Meyer. Interessant ist im Beleg von 1775, dass die untere Lechen mit femininem Geschlecht genannt ist, wohl aufgrund des vorhergehenden Beleges ein Lechen auf der Vnntern Lenn. Es zeigt sich eine Umformung von Leen zu Lechen, das die mda. Form von Lehen < mhd. lêhen ‚Lehen, geliehenes Gut‘ < ahd. lêhan ‚Leihe, Anleihe, Lehen‘ ist. Diese Umdeutung ist einmalig, bereits der nächste Beleg 1865 lautet wieder Unterlener, was auch der heutigen, bodenständigen Hofnamenform entspricht. Trotz neuer Besitzer mit unterschiedlichen Familiennamen hält sich der Hofname Unterer Lener bis 1922. Ungefähr ab diesem Zeitpunkt wird der Hof nach dem neuen Besitzer Franz Kofler Kofler genannt. Es lässt sich also auch für dieses Fallbeispiel festhalten: Der Wechsel im Hofnamen ist anthroponymisch motiviert. Die formelhafte Abbildung ist demnach: HN (< FlN, Motiv: Lage, toponymisch) → HN (< FN, Motiv: Besitzer, anthroponymisch) Jahrhunderte früher entstehen ausgehend vom (noch ungeteilten) Hof Lener viele neue Namen durch (partielle) Namenübertragung. Mehrere Objekte, die in einem nahen Verhältnis (Besitz, Nutzung, räumliche Nähe) zum Hof stehen, werden mit dem bestehendem Hofnamen attribuiert: Lenerbergl, Lenerwald, Lenermühle; auch der im Wipptal und in angrenzenden Gebieten häufige Familienname Lener hat hier seinen Ursprung. 4.2.4 Gesamtbild Die Auswertung nach diesem Schema ergibt für alle 109 Ellbögner Höfe folgendes Gesamtbild: 15 Dieser hielt sich nicht bis in die heutige Zeit. 90 Daniela Kaiser-Feistmantl Abb. 3: Grafik historische Entwicklung der Hofnamen in Ellbögen Von insgesamt 109 Höfen wechselten von der Erstnennung ausgehend 53 zumindest einmal 16 den Namen, 56 Hofnamen hielten sich konstant. Es wurde demnach jeder zweite Hofname im Laufe seiner Geschichte verändert - trotz gegebener Objektkonstanz. 36 % 43 % 11 % 10 % toponymisch anthroponymisch Gebäudebezeichnung unsicher Abb. 4: Benennungsmotive der erstbelegten Hofnamenformen Die Analyse aller erstbelegten Hofnamen nach Benennungsmotiven zeigt ein ausgewogenes Bild. 36% der Höfe wurden erstmals nach Lage, Bodenbeschaffenheit etc., also toponymisch motiviert, benannt. Weitere Exempel neben den Fallbeispielen sind der Wegschaiderhof nach seiner Lage an einer Weggabelung, der Trujelerhof an einer Truje (‚Viehweg; Saumpfad, Fußweg, Steig; Hohl- 16 Es konnten bis zu drei Namensänderungen für ein Hofobjekt nachvollzogen werden. Die Mehrheit der Höfe mit wechselndem Namen jedoch unterlag nur einer derartigen onymischen Entwicklung. Namenwechsel und Namenübertragungen 91 weg; Holzschleife‘ 17 ) oder der Angerer entweder nach der Lage an einem Anger oder durch Besitz eines Angers 18 . Anthroponymisch motivierte Erstbenennungen finden sich u.a. in den Hofnamen Fleischer, ein Berufsname für einen Metzger, Schmied, ebenso nach dem Berufsnamen des Besitzers, oder Anderles Gütl, nach der Kurzform Anderl des Rufnamens Andreas. In die Kategorie Gebäudebezeichnung fallen Namen wie Stadler 19 , Mühleler 20 oder Badstübler, ein Hofname, der aus der ursprünglichen Nutzung des Gebäudes als Badstube der Bergknappen hervorging. 14 % 71 % 7 % 8 % toponymisch anthroponymisch Gebäudebezeichnungen unsicher Abb. 5: Benennungsmotive aller rezenten Hofnamenformen Die Aufschlüsselung nach Benennungsmotiven aller rezenten Hofnamen, also nach fallweisen onymischen Wechseln, ergibt ein von Anthroponymen dominiertes Bild. Nur noch 14 % der toponymisch motivierten Hofnamen blieben von ursprünglich 36 % übrig. Das heißt, die neu entstandenen Namen sind im Wesentlichen deanthroponymisch. Dabei spielen neben Familiennamen der Besitzer auch Rufnamen, meist in Kurzform wie etwa Nazen < Naz < Ignaz oder 17 Der Name bzw. das noch in Teilen Tirols bodenständige Appellativ lässt sich auf ein altes Wortpaar *tragiu/ *trogiu in derselben Bedeutung zurückverfolgen. *tragiu/ *trogiu ist genuin keltisch, was der Vergleich mit altir. traig ‚Fuß‘ und kymr. traëd ‚Füße‘ nahelegt. In den Tiroler Sprachraum kam das Wort mit den Alpenromanen, die es wiederum in ihren Wortschatz für die Almwirtschaft eingliederten und lautlich an die eigene Sprache anpassten. 18 Damit wird in der (alpinen) Landwirtschaft ‚ein abgeschlossenes Stück Land; meistens, doch nicht immer, Grasplatz‘ bzw. ‚Grasland, Ackerland‘ bezeichnet. 19 Zu Stadel ‚kleiner Heuschober, Scheune für Aufbewahrung von Korn, Heu etc.‘. 20 Zum Diminutiv Mühlele zu Mühle. 92 Daniela Kaiser-Feistmantl Krusten < Krust < Christian eine bedeutende Rolle 21 . Ebenso unter die Anthroponyme fallen Berufs(über)namen wie Poster ‚Angestellter bei der Post‘, Jager ‚Jäger‘ oder Wegmacher ‚Bediensteter beim Straßenbau‘. Noch deutlicher wird die Entwicklung in Richtung anthroponymischer Benennungsmotive, wenn man beide Blöcke „Hofnamen mit Namenwechsel“ und „Hofnamen ohne Namenwechsel“ einander gegenüberstellt. Während 50 % der seit Erstbeleg konstanten Hofnamen anthroponymische Benennungsmotive haben, weisen immerhin 90 % der Hofnamen mit mindestens einem Namenwechsel dieses Motiv auf. Toponymische Motive werden also zugunsten anthroponymischer Motive aufgegeben: 23 % stehen verbliebenen 4 % gegenüber. 23 % 50 % 13 % 14 % toponymisch anthroponymisch Gebäudebezeichnungen unsicher Abb. 6: Benennungsmotive der rezenten Hofnamen OHNE Namenwechsel 21 Die -en-Flexion tritt im UG häufig auf und meist an Kurzformen von Rufnamen. Ob es sich dabei um die alte Genitivflexion oder eine Dativform (‚bei dem Nazen‘) handelt, bedarf weiterer, gezielter Untersuchungen. Namenwechsel und Namenübertragungen 93 4 % 90 % 6 % toponymisch anthroponymisch unsicher Abb. 7: Benennungsmotive der rezenten Hofnamen MIT Namenwechsel 4.3 Partielle Namenübertragungen 22 4.3.1 Der Hof Jen Königswarter Hof (HN) → Penzen (HN) → Jen (HN) ↓ ↓ Penzen (SN) Penzenboden (AN) Jenwiese (FlN) > Die Böden (AN) Penzenbodenmöser (FlN) Der Hofname änderte sich im Laufe seiner Geschichte insgesamt zweimal, hatte also drei verschiedene Namen. Der erste Hofname wurde auf keine angrenzenden oder zugehörigen Fluren übertragen. Als Hof Penzen war er dann namengebend für die zum Hof gehörige Alm (†Penzenboden) und die Flurstücke Penzenbodenmöser in unmittelbarer Umgebung zur Alm. Heute wird der Hof Jen genannt. Der vorherige Name Penzen wird weiterverwendet als Siedlungsname und wurde somit auf mehrere Häuser und Höfe ausgedehnt. Es erfolgte eine Erweiterung des Namenobjektes. Zum Hofnamen Jen entstand in jüngerer Zeit das Mikrotoponym Jenwiese. Ebenso in die Zeit der Namenbildung Jenwiese fällt die Umbenennung der Alm Penzenboden in Die Böden. Grund dafür war, dass das Almgebiet ab dieser Zeit nicht mehr ausschließlich vom Hof Jen, vorher Penzen, genutzt wurde, sondern von mehreren, verschiedenen Höfen. Es 22 Die Übertragung der Parzellennummern aus den Katastern von 1655 und 1775 über die Grundbuchanlageprotokolle 1865 in die heutige Zeit ermöglicht eine genaue Nachverfolgung der einzelnen Grundstücke. 94 Daniela Kaiser-Feistmantl erfolgte somit ein systemischer Ausgleich im mikrotoponmyischen Netz (nach Windberger-Heidenkummer 2011: 289ff.) aufgrund realer Gegebenheiten. 4.3.2 Der Hof Schmiedler Köckl (HN) → Schmiedler (HN) ↓ Schmiedlermahd ( ← Rästen) (FlN) Schmiedlerspitze (< Gspize) (FlN) Aus den Belegen lässt sich folgende Entwicklung nachzeichnen: Das heutige Schmiedlermahd wurde - zu der Zeit, als die Flur zum Hof Köckl gehörte - Rästen genannt, die Flur Schmiedlerspitze hieß Gspize. Der Hofnamenwechsel (Köckl → Schmiedler) bedingt einen Flurnamenwechsel: Für den ersten Fall (Rästen → Schmiedlermahd) kann eine totale Umbenennung definiert werden, bei letzterem (Gspize → Schmiedlerspitze) handelt es sich um eine Spezifikation des ursprünglichen Namens durch Attribuierung des neuen Hofnamens. 4.3.3 Der Hof Nazen, auch Außertaler Sennhof (HN) → Sonnental (HN) → Nazen/ Außertaler (HN) ↓ ↓ ↓ †Sennhöfl (FlN) Sonnental (SN) Nazenmoos (FlN) †Sennentalacker (FlN) Bereits die erste, älteste Hofnamenform Sennhof diente der Benennung der hofeigenen Fluren: Sennhöfl entstand durch Diminuierung des Hofnamens, der Name Sennentalacker wohl über eine nicht belegte Zwischenstufe *Sennental < Sennhof. Interessant ist beim Hofnamenwechsel Sennhof → Sonnental, dass der Flurname Sennentalacker bzw. *Sennental Motiv dafür gewesen sein muss. Es handelt sich hierbei streng genommen um keine Umbenennung, sondern um eine Namenumformung, wohl mit aufwertendem Charakter. Jedenfalls hielt sich der Name Sonnental bis heute für die gesamte Siedlung und markiert wiederum eine Ausdehnung des Namenobjektes. Der zweite und letzte Namenwechsel ist Sonnental → Nazen bzw. Außertaler. Wird heute auf den Hof referiert, so kann das mit zwei verschiedenen Namen erfolgen. Die Form Nazen geht auf einen Besitzer namens Ignaz, Kurzform Naz, zurück und war ausschlaggebend für die Benennung der hofeigenen Flur Nazenmoos in unmittelbarer Umgebung. Für die Erklärung der Zweitform Außertaler muss ein Blick Namenwechsel und Namenübertragungen 95 auf die onymische Umgebung geworfen werden: Oberhalb der Siedlung Sonnental und dem Hof Nazen bzw. Außertaler liegt der Hof Kapferer, dessen vorheriger Name Innertaler war. Die Hofnamenform Außertaler ist somit auf dieser Ebene ein systemischer Ausgleich und gehört zu einem Namenpaar Außertaler - †Innertaler. Dies reflektiert die geographische Lage der beiden Höfe, der †Innertaler, heute Kapferer, liegt weiter taleinwärts in einem Seitental von Ellbögen. Die Fallbeispiele zeigen eindeutig, dass ein Hofnamenwechsel Auswirkungen auf das mikrotoponymische Netz der Höfe hat: In den meisten Fällen findet ein systemischer Ausgleich, eine Anpassung der Mikrotoponyme an den Hofnamen, statt, oder aber es werden Fluren, die neu in Besitz des Hofes kamen, mit dem aktuellen Hofnamen neu benannt bzw. wird dieser partiell auf diese Fluren übertragen. Auch ein Wandel des jeweiligen Namenobjektes ist fallweise zu beobachten: Wird ein Name behalten, jedoch nicht das Objekt, so wird dieser auf ein neues, geographisch passendes Objekt übertragen; in den Beispielen werden alte Hofnamenformen heute noch für Siedlungen verwendet. 5 Schlussfolgerungen Die Untersuchung der Hofnamen in der Beispielgemeinde Ellbögen im Wipptal ergab folgende Ergebnisse: 1. Der Hofname trägt Merkmale beider Namenklassen: Anthroponym und Toponym. Er kann sowohl als Bezeichnung einer Einzelsiedlung (Hof) fungieren, als auch als kleinräumig geltender Vulgoname (Hofbesitzer, Familien). 2. Die Namenwechsel der Höfe weisen einen eindeutigen Trend hin zu anthroponymischen Benennungsmotiven auf. Die Aufschlüsselung der Namenwechsel zeigt, dass - zumindest im UG - die Kategorie Hofname mehr dem Menschen als dem eigentlichen Namenobjekt Hofgebäude zugewandt ist. 3. Ändert sich der Name des Hofes, werden zumeist die hofeigenen Besitzungen - das höfische mikrotoponymische Orientierungsnetz - in verschiedener Weise angepasst. Es findet somit ein systemischer Ausgleich statt. 96 - Daniela-Kaiser‐Feistmantl- - 6- Literatur- Anreiter,- Peter/ Chapman,- Christian/ Rampl,- Gerhard- (2009): - Die- Gemeindenamen- Ti‐ rols.- Herkunft- und- Bedeutung.- Innsbruck.- (Veröffentlichungen- des- Tiroler- Landes‐ archivs; -17).-- Bach,- Adolf- (1953): - Die- deutschen- Personennamen: - Die- deutschen- Personennamen- in- geschichtlicher,-geographischer,-soziologischer-und-psychologischer-Betrachtung.-2.,- stark-erw.-Aufl.-Heidelberg.-(Deutsche-Namenkunde; -1.2).- Bauer,- Gerhard- (1985): - Namenkunde- des- Deutschen.- Bern.- (Germanistische- Lehrbuch‐ sammlung; -21).-- Baumann,-Arnold-(1998): -Höfe-und-Gütln-im-Wandel-der-Zeit.-Ellbögen.- Chapman,- Christian- (2012): - Flurnamendokumentation- im- Bundesland- Tirol.- In: - Anrei‐ ter,- Peter/ Hajnal,- Ivo/ Kienpointner,- Manfred- (Hrsg.): - In- simplicitate- complexitas.- Festgabe- für- Barbara- Stefan- zum- 70.- Geburtstag.- Wien.- (Studia- interdisciplinaria- Aenipontana; 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Name=anich&- Cmd=Start-(Stand: -26.04.2017).- HOFa.-Onymische-Beziehungen-zwischen-Hof‐,-Orts‐-und-Familiennamen-im-Wipptal.- www.onomastik.at/ content/ hofa-(Stand: -26.04.2017).- Statistik- Austria.- Die- Informationsmanager.- Gemeinden.- www.statistik.at/ web_de/ - klassifikationen/ regionale_gliederungen/ gemeinden/ index.html-(Stand: -26.04.2017).-- WippDigital.- GIS‐gestützte- Flurnamenforschung- in- Wipptal.- www.onomastik.at/ - content/ wippdigital-(Stand: -26.04.2017).-- 98 - Daniela-Kaiser‐Feistmantl- - WippDigital.- WebGIS- Anwendung.- flurnamen.uibk.ac.at/ WippDigital/ webgis2/ - (Stand: - 26.04.2017).- Ähnlichkeiten von Multiethnolekten innerhalb germanischer Sprachen am Beispiel von Jugendsprach-Varietäten aus Deutschland, Schweden, Dänemark, Norwegen und den Niederlanden Andrada Părchișanu (Bukarest) Zusammenfassung 1 Dieser Beitrag befasst sich mit einer Darstellung verschiedener Multiethnolekte im heutigen Europa. „Rynkebysvenska“ (Rinkeby-Schwedisch) in Stockholm, „Kebabnorsk“ in Oslo, ein dänischer Multiethnolekt, „Straattaal“ (Straßensprache) in den Niederlanden und Kiezdeutsch in Deutschland. Es werden jeweils Besonderheiten in den Bereichen Phonologie, Morphologie, Lexikologie und Syntax hervorgehoben und mit den Standardformen verglichen. Es wird versucht, Ähnlichkeiten zwischen den untersuchten Multiethnolekten aufzuzeigen. 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag befasst sich mit verschiedenen Multiethnolekten. Exemplarisch wurden Ethnolekte aus Schweden, Norwegen, Dänemark, den Niederlanden und Deutschland gewählt, da sie alle von germanischen Sprachen abstammen und daher einen hohen Grad an Vergleichbarkeit aufweisen. Zunächst sollen die Begriffe „Ethnolekt“ und „Multiethnolekt“ definiert werden, anschließend erfolgt eine Darstellung über die Multiethnolekte bzw. Jugendsprach-Varietäten in den einzelnen Ländern. Ziel des Beitrags ist, die Ähnlichkeiten der Multiethnolekte, die aus verschiedenen Sprachkonstellationen stammen, aufzuzeigen. Dabei liegt der Fokus auf den Bereichen Phonologie, Morphologie, Lexikologie und Syntax. Die Besonderheiten werden jeweils den Standardformen gegenübergestellt. 1 Der vorliegende Text geht auf den gleichnamigen Vortrag der Verfasserin in der von Herrn Prof. Dr. Ioan Lăzărescu und Herrn Prof. Dr. Hermann Scheuringer geleiteten Sektion 3 unter dem Titel „Varietäten des Deutschen“ zurück. 100 Andrada Părchișanu 2 Begriffsklärung: E t h n o l e k t und M u l t i e t h n o l e k t Der Begriff E t h n o l e k t ist griechischer Herkunft. Ethnos heißt ,Volk‘ und legein bedeutet ,reden‘ (Wolff/ Pögl/ Wittstock 1979: 28, 43). Ein Ethnolekt ist eine bestimmte Varietät, die von einer ethnischen Gruppe verwendet wird. Wenn mehrere ethnische Gruppen die gleiche Varietät verwenden, spricht man vom M u l t i e t h n o l e k t . Wichtig für einen Ethnolekt ist also das Merkmal der Ethnizität seiner Sprecher im Gegensatz zur Arealität beim Dialekt oder zur sozialen Schichtung beim Soziolekt (Androutsopoulos 2007: 117). Zur Entstehung der Ethnolekte hat als wichtigster Faktor die Migration beigetragen. Ein hoher Anteil an Migranten findet sich meist in europäischen Großstädten, in denen man verschiedene Kulturen und Religionen vorfindet, weswegen dort oft mehrere Sprachen gesprochen werden und es viele mehrsprachige Familien gibt. Je nach Sprachsituation wird eine bestimmte Sprache verwendet und Code-switching findet ebenfalls statt. Für Hinrichs (2013: 40) sind „Sprachkontakte und Mehrsprachigkeiten heute in der Alltagspraxis europäischer Länder, und ganz besonders in Deutschland, selbstverständlich und normal“. Er nennt die neue Mehrsprachigkeit „ein Kind der Migration“ (Hinrichs 2013: 40). Wenn es um Ethnolekte im deutschen Sprachraum geht, bezieht man sich meist auf das Gastarbeiterdeutsch, die Sprache der ersten Generation der Arbeitsmigranten und auf aktuellere Varietäten wie Kiezdeutsch, Kanak Sprak, Türkendeutsch oder Ghettoslang. Da diese Arbeit auf Multiethnolekte fokussiert, wird im Folgenden nur Kiezdeutsch berücksichtigt. In anderen europäischen Ländern sind z.B. folgende sprachliche Erscheinungen zu finden: „Rynkebysvenska“ („Rinkeby-Schwedisch“) in Stockholm, „Kebabnorsk“ („Kebab-Sprache“) in Oslo, „Straattal“ („Straßensprache“) in den Niederlanden und „Byvankerpråk“ („Straßensprache“) in Norwegen (Keim 2012: 121f.). 3 Rinkeby-Schwedisch in Stockholm Die erste systematische Analyse eines Multiethnolekts wurde von der Sprachwissenschaftlerin Kotsinas (1992, 1998) durchgeführt, die „Rinkebysvenska“ untersucht. Dieser Multiethnolekt wird vor allem von den Jugendlichen in Rinkeby, einem Viertel Stockholms mit hohem Migrantenanteil, gesprochen (Wiese 2012: 148), ist aber auch in anderen Großstädten Schwedens vorzufinden. Je nach Ort, an dem diese Varietät gesprochen wird, wird sie anders bezeichnet: Gårdstenska in Gårstena in Göteburg, Rosengård-Schwedisch in Rosengård in Malmö, oder Fladden in Nora Fälladen in Lund. Es wurde festgestellt, dass heutzutage nicht nur Jugendliche mit Migrationshintergrund Rinke- Ähnlichkeiten von Multiethnolekten 101 by-Schwedisch sprechen, sondern es aus Gründen der Anpassung gelegentlich auch von Schweden ohne Migrationshintergrund, die in den gleichen Vierteln leben, verwendet wird. Die Charakteristika dieser Sprachform äußern sich in verschiedenen Bereichen. Als phonetisch-phonologische Merkmale kann man beim Rinkeby- Schwedischen folgendes feststellen: Diphthonge tauchen nicht oft auf, es gibt eine Tendenz, kurze Vokale zu verlängern und umgekehrt lange Vokale kurz auszusprechen. Außerdem gibt es oft Schwierigkeiten mit der Satzmelodie. Man betont an unerwarteter Stelle und die Wortgrenzen werden etwas stärker markiert, das heißt die Pausen zwischen Wörtern sind deutlicher. Bei der Aussprache gewisser Konsonanten erscheinen Unterschiede, z.B. wird die Buchstabenverbindung sj anders ausgesprochen: Die Artikulationsstelle liegt weiter hinten als im Standardschwedischen (Kotsinas, zit. nach Åhmark 2008: 13). Was den Wortschatz betrifft, weist das Rinkeby-Schwedisch viele Wörter aus dem Arabischen oder dem Türkischen, aber auch aus anderen Sprachen auf. Wörter wie keff (‚schlecht‘) und guzz (‚Mädchen‘) sind rinkeby-schwedisch und wurden in die dreizehnte Auflage der Wörterliste der Schwedischen Akademie aufgenommen (www.schwedenstube.de/ rinkebyschwedisch/ , Stand: 22.03.2017). Andere Sprachphänomene sind die Verwendung einer Nominalphrase wie z.B. göra skilsmässa (‚Scheidung machen‘) anstatt einer Verbkonstruktion skilja sig (‚sich scheiden lassen‘). Verben wie gå (‚gehen‘) und göra (‚machen‘) ersetzen andere Verben, d.h. es erfolgt eine Übergeneralisierung (Kotsinas, zit. nach Åhmark 2008: 13). Weitere lexikalische Eigenschaften sind die Verwendung der Präpositionen på (‚auf‘) und i (,in‘) anstelle anderer, weniger oft verwendeter Präpositionen und die Verwendung gewisser Wörter außerhalb ihrer Bedeutung, z.B. uttala anstatt tala (,aussprechen‘ anstatt ,sprechen‘) (Kotsinas, zit. nach Åhmark 2008: 13). Im Bereich der Syntax weist Rinkeby-Schwedisch als wichtige Eigenschaft das Weglassen der Inversion nach einem Adverb im Vorfeld auf. Statt I morgon ska jag till Stockholm (‚Morgen fahre ich nach Stockholm‘) heißt es auf Rinkeby-Schwedisch I morgon jag ska till Stockholm (*,Morgen ich fahre nach Stockholm.‘). Typisch ist auch das Fehlen der Personalpronomina wie det (‚es‘) oder dom (‚sie‘) im Satz (Kotsinas, zit. nach Åhmark 2008: 12). 102 Andrada Părchișanu 4 Kebabnorsk in Oslo Ähnlich wie in Schweden ist in Oslo (Norwegen) im Zuge der Migration ein Multiethnolekt entstanden. Heute hat rund jeder dritte Schüler in Oslo einen nicht-norwegischen Hintergrund. Mehrsprachigkeit ist also ein normales Phänomen für Kinder, die in multiethnischen Vierteln wohnen. Kebabnorsk (‚Kebabnorwegisch‘) ist die Bezeichnung für einen Multiethnolekt, der Mitte der 1990er Jahre in den östlichen Stadtvierteln Oslos entstand. Der Name kommt vom Döner Kebab, einem Stereotyp für die Einwandererkultur. Es gibt aber auch Forscher, die diese Bezeichnung vermeiden und dafür n o r w e g i s c h e r M u l t i e t h n o l e k t (Svendsen/ Røyneland 2008: 80) verwenden. Typisch für diesen Multiethnolekt sind, wie im Falle des Rinkeby- Schwedischen, fehlende Inversionen nach Adverbien im Vorfeld, die Tendenz, nur einen der Tonakzente zu verwenden und Wortentlehnungen. Diese Jugendsprach-Varietät übernimmt Wörter aus verschiedenen Sprachen: aus dem Arabischen, Türkischen, Persischen und Punjabi. Am auffälligsten sind die lexikalischen Merkmale. Wörter wie wallah (‚bei Gott‘) aus dem Arabischen sowie baja (‚Freund‘) und toert (,gut‘) aus dem Urdu und Punjabi werden von den Jugendlichen verwendet. Viele Unterschiede zum Standardnorwegischen gibt es auch auf dem Gebiet der Prosodie: Der Sprechstil ist schneller, härter und aggressiver (Svendsen/ Røyneland: 2008: 71). Typisch für den norwegischen Ethnolekt ist auch das Fehlen der richtigen Satzstellung: Das Prädikat sollte auf der zweiten Position sein, aber es wird inkorrekt erst nach das Subjekt gestellt (auf dritter Position). Als Beispiel: i Norge de spiser med venstre. (*,In Norwegen man isst mit der linken Hand.‘) 5 Dänischer Multiethnolekt in Kopenhagen Dieser in Kopenhagen gesprochene Multiethnolekt ist eine dänische Sprachvarietät, die besonders von Jugendlichen mit Migrationshintergrund verwendet wird. Eine erste Darstellung dieser Sprachform wurde von Quist (2008) vorgenommen. Sie betont, dass nicht alle Jugendlichen mit Migrationshintergrund diese Varietät sprechen, obwohl eine Verbindung zwischen Ethnizität und Multiethnolekt besteht. Bezüglich der Aussprache weist der Multiethnolekt aus Dänemark Merkmale auf wie die Verkürzung der langen Vokale, die Neutralisierung der Differenz zwischen betonten und unbetonten Silben, das heißt es geht nicht mehr eindeutig hervor, welche Silben betont oder nicht betont werden. Ähnlichkeiten von Multiethnolekten 103 Wichtiges morphologisches Merkmal ist die Verwendung des Genus Utrum dort, wo das Standarddänische das Neutrum verwendet. 2 Dies geschieht sowohl im Fall der unbestimmten Artikel (en job vs. et job im Standarddänischen; dt. ‚ein Job‘) als auch im Fall der Demonstrativpronomina (den der projekt vs. det der projekt im Standarddänischen; dieses Projekt). Was die Syntax betrifft, ähneln die Besonderheiten des dänischen Multiethnolektes den anderen schon erwähnten Multiethnolekten, z.B. die Inversion SV an Stellen, wo das Standarddänische normalerweise VS verwendet (z.B. Normalt man går på ungdomsskolen.; *Normalerweise man geht zur Ergänzungsschule.). Im Bereich des Wortschatzes wurden Wörter aus verschiedenen Sprachen entlehnt: ew (aus dem Kurdischen; dt. ‚hallo‘), kiz (aus dem Türkischen; dt. ‚Mädchen‘), jalla (aus dem Arabischen; dt. ,los, gehen wir‘), para (aus dem Türkischen; dt. ,Geld‘), wallah (aus dem Arabischen; dt. ,ich schwöre bei Gott‘) (Quist: 2008: 47). 6 Niederländischer Multiethnolekt: Straattaal Für den Multiethnolekt in den Niederlanden verwendet man oft die Bezeichnung straattaal, was ‚Sprache der Straße‘ bedeutet. Der Name geht auf die Jugendlichen zurück, die in Gruppen auf der Straße zu finden sind. Diese niederländische Jugendsprach-Varietät ist aufgrund verschiedener verwendeter Sprachen komplex und übernimmt Einflüsse besonders aus dem Papiamento, dem Türkischen und dem Arabischen. Zu den phonologischen Merkmalen gehören, dass das / s/ wie [ ʃ ] ausgesprochen wird, das / g/ viel schärfer und lauter als in der niederländischen Standardsprache ist und man meistens das rollende / r/ verwendet. Außerdem ist das / z/ wie im Arabischen sehr stimmhaft. Morphologisch sind folgende Charakteristika vorzufinden: Verwendung falscher Endungen bei Adjektiven sowie falscher Artikel und Demonstrativpronomina. Am meisten werden het-Wörter (Neutrum) in de-Wörter (Maskulinum und Femininum) geändert. Für das Lexikon sind Entlehnungen aus verschiedenen Sprachen typisch: woela (aus dem Arabischen, dt. ‚ich schwöre‘), kill (aus dem Surinamischen, dt. ‚Kerl‘), takkies (aus dem Surinamischen, dt. ‚Worte‘). 2 Im Utrum sind die Genera Maskulinum und Femininum inbegriffen. 104 Andrada Părchișanu 7 Kiezdeutsch Kiezdeutsch hat sich in den urbanen Wohngebieten Deutschlands entwickelt und wird vor allem von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gesprochen, aber auch von denjenigen deutscher Herkunft (www.kiezdeutsch.de/ wersprichtkiezdeutsch.html; Stand: 23.03.2017). Im lexikalischen Bereich weist Kiezdeutsch zahlreiche Wörter und Ausdrücke aus den Migrantensprachen auf, wie zum Beispiel yallah (dt. ‚Los! ‘aus dem Arabischen), wallah (dt. ‚Echt! ‘ aus dem Arabischen), hadi (dt. ‚Los! Komm! ‘, typische Abschiedsformel aus dem Türkischen) (Freywald/ Mayr/ Özçelik/ Wiese 2011: 2, Wittenberg/ Paul 2008: 99). Auf dem Gebiet der Phonetik hat Kiezdeutsch als Besonderheiten unter anderem die Koronalisierung des stimmlosen palatalen Frikativ [ç] zu [∫] (ich > isch) und die Reduktion des [ts] zu [s] (swei, ersählen) (Freywald/ Mayr/ Özçelik/ Wiese 2011: 3). Als grammatische Merkmale erwähnenswert sind für Kiezdeutsch einerseits die Reduktion, d.h. die Verwendung von bloßen Nominalphrasen als Direktional- und Lokalangaben wie z.B. Fährst du Bamberg? und andererseits die Ausweitung, die sich auf neue Funktionsverbgefüge bezieht, wie: Ich mach dich Messer. (‚Ich greife dich mit dem Messer an.‘) (Wittenberg/ Paul 2008: 99). Man hat festgestellt, dass die Wortstellung im Kiezdeutschen freier als im Standarddeutschen ist. So kommt das Verb auch in der Reihenfolge Adverbiale Bestimmung - Subjekt - Verb - Objekt in Aussagesätzen vor. Beispielsweise werden Sätze mit folgender Wortstellung Jetzt ich bin 18. werden oft verwendet. Andere Merkmale des Kiezdeutschen sind der Wegfall der Flexionsendungen (auf kein Fall), des Artikels, der Pronomina und des Verbs sein (Was denn los hier? ). Man stellt also auch eine Lockerung grammatischer Restriktionen fest. Kiezdeutsch erweist sich durch neue grammatische Muster innovativ: der Partikel so, die neu entstandenen Funktionsverbgefüge und neue Wortbildungen wie lassma und musstu (Lassma Weltmeisterschaft machen.) und (Musstu doppelstunde fahren.) (Urban 2007: 53). Der Partikel so spielt eine neue Rolle im Gespräch, indem er als Artikel oder Fokusmarker dient und keine semantische Bedeutung hat, z.B.: Die hübschesten Frauen kommen von den Schweden. Also, ich mein so blond so (Wiese 2012: 101). - Ähnlichkeiten-von-Multiethnolekten- 105 - 8- Schlussbemerkung- Die- vorgelegte- Beschreibung- verschiedener-Multiethnolekte- aus- dem- germani‐ schen- Sprachraum- zeigt- auf,- dass- diese- Varietäten- sich- besonders- in- Phonolo‐ gie,- Morphologie,- Lexikologie- und- Syntax- ähnlich- entwickelt- haben.- Zwei- Er‐ kenntnisse- hinsichtlich- der- Gemeinsamkeiten- sind- dabei- besonders- hervorzu‐ heben: -erstens-der-Beitrag-der-Sprachen-aus-den-Herkunftsländern-der-Migran‐ ten-zur-Entstehung-der-Multiethnolekte-und-zweitens-die-Tendenz-zur-Verein‐ fachung- der- schon- erwähnten- Sprachen- durch- morpho‐syntaktische- Reduktio‐ nen.- - Es- zeichnet- sich- aktuell- die- Tendenz- ab,- dass- immer- mehr- andere- soziale- Gruppen,- insbesondere- Jugendliche,- die- allerdings- keine- Kenntnisse- über- die- Sprachen- von- Migranten- haben,- die- beschriebenen- Multiethnolekte- ebenfalls- übernehmen.- Dies- begünstigt- eine- Verbreitung- dieses- sprachlichen- Phäno‐ mens.- 9- Literatur- Åhmark,- Beatrice- Lauper- (2008): - Multiethnische- Jugendsprache- und- ihre-Übersetzung.- Zur- deutschen- Übersetzung- von- Jonas- Hassen- Khemiris- Ett- öga- rött.- Magister‐ aufsatz.- Stockholm- Universität.- www.diva‐portal.org/ smash/ get/ diva2: 199003/ - FULLTEXT01.pdf-(Stand: -22.03.2017).-- Androutsopoulos,- Jannis- (2007): - Ethnolekte- in-der-Mediengesellschaft.- Stilisierung-und- Sprachideologie- in- Performance,- Fiktion- und- Metasprachdiskurs.- In: - Fandrych,- Christian/ Salverda,- Reinier- (Hrsg.): - Standard,- Variation- und- Sprachwandel- in- ger‐ manischen-Sprachen.-Tübingen.-(Studien-zur-deutschen-Sprache; -41).-S.-113  156.- Freywald,- Ulrike/ Mayr,- Katharina/ Özçelik,- Tiner/ Wiese,-Heike- (2011): - Kiezdeutsch- as- a- multiethnolect.- In: - Kern,- Friederike/ Selting,- Margret- (Hrsg.): - Ethnic- styles- of- speaking-in-European-metropolitan-areas.-Amsterdam-u.a.-(Studies-in-language-vari‐ ation; -8).-S.-45  74.- Hinrichs,-Uwe-(2013): -Multi‐Kulti‐Deutsch.-Wie-Migration-die-deutsche- Sprache-verän‐ dert.-München.-(Beck ʼ sche-Reihe; -6106).-- Keim,- Inken- (2012): - Mehrsprachige- Lebenswelten.- Sprechen- und- Schreiben- der- tür‐ kischstämmigen-Kinder-und-Jugendlichen.-Tübingen.-- Kotsinas,-Ulla‐Britt-(1992): -Immigrant-adolenscents’s-Swedish-in-multicultural-areas.-In: - Palmgren,- Cecilia- (Hrsg.): - Ethnicity- in- youth- culture.- Report- from- a- symposium- in- Stockholm,-Sweden-June-3  6.-1991.-Stockholm.-S.-43  62.- Kotsinas,-Ulla‐Britt-(1998): -Language-contact-in-Rinkeby,- an-immigrant- suburb.-In: -An‐ droutsopoulos,-Jannis-K./ Scholz,-Arno-(Hrsg.): -Jugendsprache---Langue-des-jeunes--- Youth- language.- Linguistische- und- soziolinguistische- Perspektiven.- Frankfurt- a.M.- (VarioLingua; -7).-S.-125  148.- 106 Andrada Părchișanu Paul, Kerstin/ Wittenberg, Eva (2008): „Aşkım, Baby, Schatz...“ Anglizismen in einer multiethnischen Jugendsprache. In: Pfalzgraf, Falco (Hrsg.): Englischer Sprachkontakt in den Varietäten des Deutschen/ Englisch in Contact with Varieties of German. Wien u.a. (Österreichisches Deutsch - Sprache der Gegenwart; 12). S. 95  122. Quist, Pia (2008): Sociolinguistic approaches to multiethnolect: Language variety and stylistic practice. In: International Journal of Bilingualism 12. S. 43  61. Svendsen, Bente Ailin/ Røyneland, Unn (2008): Multiethnolectal facts and functions in Oslo, Norway. In: International Journal of Bilingualism 12. S. 63  83. Urban, Ines (2007): „Lassma“ Meisterschaft machen - eine grammatische Untersuchung zum Kiezdeutsch. Magisterarbeit. Humboldt-Universität zu Berlin. Wiese, Heike (2012): Kiezdeutsch. Ein deutscher Dialekt entsteht. München. Wolff, Friedrich/ Pögl, Alois/ Wittstock, Otto (Hrsg.) (1979): Latein und Griechisch im deutschen Wortschatz. Lehn- und Fremdwörter altsprachlicher Herkunft. Berlin. Internetquellen Kiezdeutsch. Wer spricht Kiezdeutsch? www.kiezdeutsch.de/ wersprichtkiezdeutsch.html (Stand: 23.03.2017). Kohlhepp, Björn: Rinkebyschwedisch  Rinkebysvenska. www.schwedenstube.de/ rinkebyschwedisch/ (Stand: 22.03.2017). Was Buchstaben zum Ausdruck bringen können: Zu Formen und Funktionen des Schriftbildes Daniela Pelka (Oppeln/ Opole) Zusammenfassung Die Verschriftlichung gesprochener Sprache führte dazu, dass es zu einer grundlegenden Änderung ihres Gebrauchs und ihrer Wirkung kam, da die einzelnen Zeichen auf den Rezipienten wie Bilder wirken. Das betrifft nicht nur die ältesten Schriftsysteme der Ägypter, Sumerer oder Chinesen, sondern auch die neuzeitlichen Alphabete. Vor allem durch den Einsatz moderner Technologien ist es in den letzten Jahrzehnten viel leichter geworden, Buchstaben zu verändern und praktisch jeder Computerbenutzer ist heute imstande, Modifikationen an der visuellen Seite des Textes vorzunehmen. Die Zeichen der heutigen Alphabetschriften geben durch ihre visuelle Form nicht nur bestimmte Laute wieder und die einzelnen verschriftlichten Wörter übermitteln nicht nur bestimmte lexikalische Bedeutungen, die im Wörterbuch nachgeschlagen werden können: Der typographischen Gestaltung der Schriftzeichen - ihren verschiedenen Formen und Gestalten, den unterschiedlichen Schriftarten, Schriftschnitten, -größen und -farben - können mehrere, sich zum Teil überlappende Funktionen zugesprochen werden, die den Schwerpunkt des vorliegenden Artikels bilden. 1 Einführung Infolge der Verschriftlichung gesprochener Sprache kam es zu einer grundlegenden Änderung in ihrem Gebrauch und ihrer Wirkung, da nun nicht mehr der Gehörsinn, sondern der Sehsinn angesprochen wurde. Geschriebene Texte werden in erster Linie mit den Augen wahrgenommen, 1 wodurch sie auf den Rezipienten wie Bilder wirken. Daher spricht man auch vom S c h r i f t b i l d . Zu den ältesten schriftlichen Zeugnissen der Menschheit gehören Höhlenmalereien der Jäger und Sammler der Steinzeit (z.B. in Lascaux in Frankreich, 12.000 v. Chr.), in denen mithilfe von Piktogrammen und bildhaften Darstellungen wichtige Ereignisse wie z.B. Jagdszenen festgehalten wurden. Auch die ersten Schriftsysteme, die sich erst einige Jahrtausende später entwickelt haben - die ägyptischen Hieroglyphen (seit 3.000 v. Chr.), die sumerische Keilschrift in Mesopotamien (in etwa zeitgleich) und das Chinesische 2 (seit 2.000 v. Chr. 1 Auch das haptische und das olfaktorische Moment können hier eine Rolle spielen. 2 Es ist die älteste Schrift, die heute noch in Gebrauch ist; ihr ursprünglicher Bildcharakter ist noch in einzelnen Zeichen zu erkennen. 108 Daniela Pelka belegt) - waren in ihren ältesten Ausprägungen reine Bilderschriften, d.h. jedes Zeichen symbolisierte einen bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt. Mit der Zeit entwickelten sich daraus Wortsilbensysteme, in denen einzelne in einer Sprache vorkommende Silben eigene Zeichen hatten. Die Zeichen der Bilderschriften verloren langsam ihre Erkennbarkeit - sie wurden durch häufigen, schnellen Gebrauch zu Symbolen vereinfacht. Als Abkömmlinge der ägyptischen Schrift werden die westsemitischen Konsonantenschriften angesehen, 3 von denen die bekannteste die phönizische ist, da man sie bereits als Buchstabenschrift bezeichnen kann, in der jedes Schriftzeichen einen Laut symbolisiert. Auch wenn darin noch keine Zeichen für Vokale vorhanden waren, 4 gilt die Schrift der Phönizier als Vorbote des alphabetischen Zeitalters. 5 Den Schrifttypus der Phönizier übernahmen die Griechen, die ihn um Zeichen der Selbstlaute ergänzten und so als reine Alphabetschrift ausformten. Von dieser Zeit an ist die weitere Entwicklung der Schrift eher aus formalen Gründen interessant. Es würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen, wollte man an dieser Stelle auf die verschiedenen Ausprägungen der auf der griechischen beruhenden lateinischen Schrift von der Capitalis Monumentalis (ca. 1. Jh.) über die karolingische Minuskel (ca. 8. Jh.), die entsprechend die Grundlage für die heutigen Majuskeln und Minuskeln bilden, und der sich ab dem 13./ 14. Jh. parallel dazu entwickelnden sog. gebrochenen Schriften eingehen. Daher sei an dieser Stelle nur auf den enormen Reichtum der heutigen Druckschriften hingewiesen, der dazu führte, dass sie zu Schriftsippen, bestehend aus Schriftgruppen (Klassen I bis XI), die wiederum aus Schriftfamilien mit mehreren Familienmitgliedern (Schriftschnitten/ Fonts) bestehen, zusammengefasst und sogar in einer DIN-Norm (DIN 16518 aus dem Jahr 1964) erfasst wurden (vgl. z.B. Santhoff 1997: 7ff., Radtke/ Pisani/ Wolters 2009: 126, 143ff., Warkentin 1992: 343). Den Blick auf die verschiedenen Schriftsysteme gerichtet, unterschied Ferdinand de Saussure das ideographische und das phonetische (alphabetische bzw. syllabische) Schriftsystem: Das ideographische beruht nach ihm auf Bildzeichen, die Bedeutungen repräsentieren, also eine semantische Grundlage haben, und das phonetische auf Schriftzeichen, die Einheiten der Rede repräsentieren, also eine phonetische Grundlage haben. Man muss aber dem französischen Philosophen Jacques Derrida zustimmen, der dagegenhält, dass eine sol- 3 Als Tochtersystem des Chinesischen entwickelte sich die japanische Silbenschrift, aus der mesopotamischen Keilschrift ging die hethitische Keilschrift hervor. 4 Auch bei den modernen arabischen und hebräischen Schriften werden nur Konsonanten geschrieben. 5 Bei einem Alphabet basiert die Schrift auf einer Laut-Buchstaben-Relation; ist das nicht der Fall, spricht man lediglich von Schreibsystemen (z.B. hat das Chinesische kein Alphabet). Formen und Funktionen des Schriftbildes 109 che strikte Trennung nicht möglich sei (nach Baines/ Haslam 2002: 19f.). Auch wenn Sprache mithilfe eines Alphabets verschriftlicht wird, verlangt sie nach einer bildlichen Gestaltung. Diese findet ihren Ausdruck in der räumlichen Verteilung des Geschriebenen auf der zur Verfügung stehenden Fläche 6 oder dessen Verbindung mit nicht-graphischen Zeichen, aber auch in der Gestalt der Buchstaben selbst - in verschiedenen Schriftarten und Schriftschnitten, in den darin eingesetzten Farben und Größen. In der Anwendung von Majuskeln und Minuskeln, der Kursiven oder Halbfetten, in Schnörkeln und Strichen usw. kommen wiederum auch ideographische Prinzipien zum Ausdruck. Dabei ruft die charakteristische Form der Zeichen beim Rezipienten Assoziationen und Emotionen hervor und übermittelt Inhalte, die über die Bedeutung der von ihnen gebildeten Wörter hinausgehen (Samara 2010: 5). Die sichtbar gewordene Sprache wird auf diese Weise zu einem wichtigen Untersuchungsgebiet der Semiotik. Ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, werden im Folgenden einige ausgewählte Aspekte der schriftlichen Gestaltung von Sprache beleuchtet, wie sie dem Menschen in der ihn umgebenden Welt begegnen, sei es in Druckerzeugnissen, Firmenlogos, Straßenschildern o.ä., wobei gleichzeitig der Frage nachgegangen wird, wie durch die visuelle Erscheinungsform der Schrift dem reinen Inhalt des Verschriftlichten, wie es im Wörterbuch nachgeschlagen werden kann, zusätzliche Informationen hinzugefügt werden können. Oder mit anderen Worten: Ziel ist die Darstellung des Einflusses des Bildhaften in der Schrift auf die Rezeption des Geschriebenen und die Beantwortung der Frage, welche Funktionen es im gegebenen Fall erfüllen kann. 2 Formen und Funktionen des Schriftbildes Schon in alten handschriftlichen Texten begegnet man dem Einsatz von verschiedenen, den Rezipienten visuell ansprechenden Schriftgrößen, -farben und -arten, mithilfe derer bestimmte Inhalte markiert und bestimmte Informationen übermittelt werden. Dazu zwei Beispiele: 1. Schaut man sich eine Seite des „Prunner Codex“ 7 - einer der schönsten Handschriften des Nibelungenliedes - 6 Waren ursprünglich Stein oder Holz, später Papyrus oder Pergament die häufigsten Schriftträger, so ist es heutzutage in erster Linie Papier und immer häufiger der Computerbildschirm. Nicht zuletzt durch die Popularisierung der Schreibfähigkeit findet man heute kaum Gegenstände, die nicht beschriftet werden könnten: Schrift kommt auf allen möglichen Grundlagen vor - auf Metall, Plastik oder Stoff, ja sogar auf der Wand des Nachbarhauses und der eigenen Haut. 7 1567 auf Burg Prunn gefunden befindet sich die Handschrift heute in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. 110 Daniela Pelka an, so fällt deutlich auf, dass hier mit verschiedenen Buchstabengrößen gearbeitet wird, wobei den farbigen und reich verzierten Initialen neben der schmückenden auch die Gliederungsfunktion zugesprochen werden kann (siehe Abb. 1). 2. In der „Chronik der Bischöfe von Würzburg 742  1495“, welche Lorenz Fries im Jahre 1544 vollendete, wurde von ihm das ursprünglich Lateinische übersetzt und schwarz geschrieben, wohingegen das schon ursprünglich Deutsche in roter Schrift erscheint; die Farbe erhält hier somit deutliche textuelle Funktion und liefert Informationen zur Ausgangsgestalt des Textes (Wolf 2000: 291) (siehe Abb. 2). Ein interessantes Zeugnis der Verwendung verschiedener Schriftarten in Druckform ist die Lutherbibel von 1545, die bei Hans Luft in Wittenberg erschien und von Georg Rörer (Rorarius) betreut wurde. Darin werden die ersten ein bis drei Buchstaben eines neuen Satzes entweder mit Fraktur- oder mit Antiqua-Großbuchstaben gesetzt und auch die Bedeutung einiger Wörter im laufenden Text wird in ähnlicher Weise markiert: Kommen dabei Sätze, die Positives aussagen, oder Wörter wie Gnade, Trost, Gott, Engel vor, dann werden Fraktur-Versalien verwendet, sind es dagegen Sätze mit negativen Aussagen oder Wörter wie Zorn, Strafe, Tod oder Teufel, kommen Antiqua-Versalien zum Einsatz. Mit der jeweiligen Schriftart wird also „Gut“ und „Böse“ voneinander getrennt (siehe Abb. 3). 8 Abb.1 Abb. 2 8 Kapr (1993: 42ff.) stellt sogar die Vermutung auf, dass es in der Weltliteratur kein weiteres Beispiel dafür gibt, in dem „Gut“ und „Böse“ durch unterschiedliche Schriftarten markiert worden wären. Formen und Funktionen des Schriftbildes 111 Abb. 3 Auch heute begegnet man in der Schrift verschiedenen Formen und Gestalten, unterschiedlichen Schriftarten, -schnitten, -größen und -farben. Da es durch den Einsatz von Computern viel leichter geworden ist, Buchstaben zu verändern und praktisch jeder Modifikationen an der visuellen Seite eines Textes vornehmen kann, 9 wird davon auch gern und oft Gebrauch gemacht, wobei dem Einfallsreichtum bei der Gestaltung der Zeichen kaum Grenzen gesetzt sind (Spitzmüller 2012: 211f.). 10 2.1 Symbolische Bedeutung der Schriftzeichen Dass die Wahl des Schriftbildes aber nicht immer beliebig ist, wird schon im Falle bestimmter einzelner, kontextlos stehender, sowohl großer als auch kleiner Buchstaben deutlich. Sieht man z.B. die Buchstaben „A“, „M“, „P“ und „f“ in der typischen Times-New-Roman-Gestalt, verbindet man damit nur einzelne Laute, werden sie aber in einer bestimmten Form realisiert, können sie s y m b o l i s c h e B e d e u t u n g annehmen, mit der auch deutlich erkennbare Inhalte zum Ausdruck gebracht werden. In einer bestimmten Form steht dann das „A“ für die Apotheke, das „M“ für McDonald’s, das „P“ für Parkplatz und 9 Dies wird von fachlich ausgebildeten Typographen nicht immer begrüßt, da es in der Folge oft dazu führt, dass Laien misslungene Drucksachen herstellen (Willberg 2000: 186f.). 10 Voraussetzung ist natürlich, dass die distinktiven Merkmale der Schriftzeichen erhalten bleiben. In allen Schnitten der heutigen Druckschriften unterscheiden sie sich von ihren Archetypen lediglich in sechs Aspekten: Größe (Majuskeln, Minuskeln), Strichstärke, Kontrast, Breite, Neigung und Stil (Samara 2010: 6). 112 Daniela Pelka das „f“ für Facebook (siehe Abb. 4-7). Voraussetzung für ein solches Verständnis der Zeichen ist allerdings, dass ihre Form konventionalisiert und in der angesprochenen Rezipientengruppe - international oder nur landesregional bzw. gruppenspezifisch - eindeutig erkennbar ist: A M P f Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 2.2 Identitätsstiftende Funktion der Schrift Ähnlich sieht es im Falle einzelner Wörter/ Wendungen aus, die durch die permanente Verwendung einer bestimmten Schriftform als Emblem einer Marke fungieren (Opiłowski 2010: 170). Auch bei ihnen ist es nicht beliebig, in welcher Gestalt sie erscheinen. Die darin eingesetzte Form der Schriftgestaltung trägt zur Wiedererkennung des Produktes bei und jede Veränderung an dem etablierten Schriftzug würde gleich den Verdacht aufkommen lassen, man habe es hier mit einer Fälschung, mit einer Imitation zu tun. Als Beispiele seien die als Erkennungsmerkmale fungierenden Logos von „Nivea“, „Milka“ und „Pons“ angeführt, in denen die Schrift i d e n t i t ä t s s t i f t e n d e und zugleich m a r k e t i n g o r i e n t i e r t e F u n k t i o n erfüllt (siehe Abb. 8-11). 11 Über die einzelnen Wörter der Firmen-Logos hinaus wird diese Aufgabe von den Schriftzeichen zuweilen auch in längeren Texten erfüllt: Die von Kurt Weidemann 1990 für den Daimler-Benz-Konzern entworfene und seitdem konsequent eingesetzte Schrift „Corporate A“ kommt neben dem Mercedes-Benz- 11 Eine wichtige Rolle spielt hier auch die Farbe, die entweder im Hintergrund oder in der Schrift selber auftritt (z.B. kann „Nivea“ auch in dunkelblauer Schrift ausgeführt werden und „Milka“ in Lila); zum Zusammenspiel von Schrift und Farbe u.a. im Rahmen des Corporate Design vgl. Pelka (2013b). Formen und Funktionen des Schriftbildes 113 Logo in sämtlichen Publikationen des Unternehmens zum Einsatz, sodass sie als Zeichen der Corporate Typography empfunden wird (siehe Abb. 11-12). 12 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Indem die visuelle Gestalt der Schrift bei den Rezipienten bestimmte Assoziationen hervorruft, wird dem denotativen Inhalt des Verschriftlichten auch konnotative Bedeutung hinzugefügt. Je nach Text, Sender und Empfänger, kommunikativem Zweck usw. können dem Schriftbild so unterschiedliche Informationen entnommen werden. Dies soll im Folgenden anhand einiger Beispiele näher erläutert werden. 2.3 Kulturelle Assoziationen Die Form der Buchstaben kann mit einem bestimmten K u l t u r k r e i s assoziiert werden, für den die jeweilige Schrift kennzeichnend ist (Samara 2010: 6). 12 Sie ist Teil des Schriftsystems Corporate ASE, welches aus drei Schriftfamilien Antiqua (Corporate A), Sans (Corporate S) und Egyptienne (Corporate E) besteht, und ist für die Verwendung in einem international agierenden Unternehmen prädestiniert, da hier ein so großer Figurenvorrat der Schrift vorhanden ist, dass es damit möglich ist, die Publikationen des Konzerns in 120 wichtigen Sprachen in einer die Zusammengehörigkeit betonende, einheitliche visuelle Gestalt zu setzen; vgl. Weidemann (2011). 114 Daniela Pelka Wie Unzialschriften mit Irland assoziiert werden, 13 so werden z.B. die gebrochenen Schriften heute oft mit dem deutschen Sprachraum in Verbindung gebracht (siehe Abb. 13-14), auch wenn in Wirklichkeit nur einige davon von Deutschen geschaffen und allein für deutsche Texte verwendet wurden und die anderen auch mit Frankreich, England, Italien oder Spanien verbunden werden können. 14 Der Grund dafür mag darin liegen, dass sich im Gegensatz zu den anderen Ländern, die bereits in der Zeit der Renaissance zur lateinischen Antiqua übergegangen sind, die gebrochenen Schriften in Deutschland bis ins letzte Jahrhundert gehalten haben. 15 Eine ähnliche Wirkung auf den Betrachter, d.h. Assoziationen mit bestimmten Kulturen, beobachtet man auch bei den nur leicht modifizierten Schriftzügen in den Namen ausländischer Restaurants, die auf das Heimatland hinweisen und den Gast annehmen lassen, dass er im Menü auch Gerichte der jeweiligen Region finden wird - in der „Sushi Bar“ also etwas Asiatisches/ Japanisches und in der Gaststätte namens „Olympia“ etwas Griechisches (siehe Abb. 15-16). In dieser Form der Pseudo-Kalligraphie werden „sowohl ikonische Beziehungen zwischen verschiedenen Schrifttypen und Schriftarten hergestellt als auch kulturelle Stereotype über ‚fremde‘ Schriftarten visualisiert“ (Spitzmüller 2007: 412). Eine suggestive Mischung unterschiedlicher Schriftarten, die auf den jeweiligen Kulturkreis hinweist, ist auch im Comic „Asterix als Legionär“ zu sehen, wo zwar alle Figuren unterschiedlicher Nationen/ Volksstämme Deutsch sprechen, jedoch das Gesprochene in gebrochener Schrift, in Antiqua, in griechisch und ideographisch stilisierter Schrift wiedergegeben wird, die entsprechend Assoziationen mit dem Gotischen, Lateinischen, Griechischen und Ägyptischen wachrufen sollen (Krieger 2003: 198) (siehe Abb. 17). 13 Sie kommen häufig in Beschriftungen von Irish Pubs vor (Spitzmüller 2007: 408). 14 Die ersten Ausprägungen der gebrochenen Schriften - die gotische Schrift und die Textura - entstanden mit der gotischen Architektur in Paris und wurden erst viel später auch in England, Deutschland und Spanien geschrieben; die Rotunda entstand in Bologna und kam vor allem in Italien und Spanien zum Einsatz. Als deutsche Schriften anzusehen sind damit nur die aus der regionalen fränkischen Bastarda hervorgegangene Schwabacher sowie die Fraktur (Kapr 1993: 71f.). 15 So wurden z.B. auch die Anzeigen der zweisprachigen „Lodzer Zeitung“ in polnischer Sprache in Antiqua und in deutscher Sprache in Fraktur veröffentlicht (Weigt 2002: 354). Formen und Funktionen des Schriftbildes 115 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 2.4 Geschichtliche Assoziationen Da die Verwendung der jeweiligen Schriftart immer mit einer konkreten G e s c h i c h t s p e r i o d e verbunden ist, kann die eine oder andere davon auch Assoziationen mit einem bestimmten historischen Zeitabschnitt hervorrufen. So kann die Schrift in manchen Fällen Aufschluss über die tatsächliche E r s c h e i n u n g s z e i t eines Druckerzeugnisses (nicht immer die Entstehungszeit des Textes) geben und in anderen durch H i s t o r i s i e r u n g d e s G e s c h r i e b e n e n die Verbindung mit einer bestimmten Epoche herstellen. Konnte der Umschlag des Büchleins von Ernst Schenke „Was allen Kindern 116 Daniela Pelka hilft und nützt und sie vor böser Krankheit schützt“ aus dem Jahre 1936 mit Sütterlinschrift ausgestaltet werden (siehe Abb. 18), weil sie die Empfänger dazumal ohne Mühe lesen konnten, wäre dies den heutigen Lesern kaum mehr zuzutrauen. Somit deutet die Schrift auf die Erscheinungszeit des Druckerzeugnisses hin. Auch die gebrochenen Schriften werden heute allgemein als schwer leserlich empfunden, 16 sodass man in den Neuauflagen älterer Texte oft dazu übergeht, sie in einer besser an die aktuellen Wahrnehmungsgewohnheiten der Leser angepasste Schrift zu setzen. Die Fraktur bzw. die Antiqua in verschiedenen Ausgaben der Goethe-Werke können somit als Indiz gelten, welche davon älter und welche neuer ist (siehe Abb. 19-20). 17 Manche Schriften werden aber nur dazu eingesetzt, eine vergangene Epoche zu imitieren: Bewirkt die serifenlose Grotesk im Titelzug des Buches „Jan Tschichold. Plakate der Avantgarde“ Assoziationen mit der Moderne, so schafft die Unzialschrift auf dem Cover der CD „Miroque“ Verbindung mit dem Mittelalter (siehe Abb. 21-22): Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 16 Das subjektive Empfinden der guten bzw. schlechten Lesbarkeit ändert sich im Laufe der Zeit und hängt u.a. von der Gewöhnung an das jeweilige Schriftbild ab (Samara 2010: 5). Dass die gebrochenen Schriften heutzutage als schwer leserlich empfunden werden, geht auf den vermehrten Kontakt der Leser mit der Antiqua zurück (Baines/ Haslam 2002: 105; Kapr 1993: 73). Unter anderem im Hinblick auf die zu erhaltenden Leserzahlen hat man sich Mitte des 20. Jh. entschieden, auch die Bibel, die Jahrhunderte lang in Fraktur gedruckt wurde, in Antiqua herauszugeben (Kapr 1993: 92). 17 Allerdings werden zuweilen auch in modernen Sammlungen die alten Texte auch im Druckbild in der ursprünglichen Form wiedergegeben, wie z.B. bei Schöne, der als Herausgeber eines Bandes mit „Texten und Zeugnissen“ des Barock die Texte historisierend in Fraktur gesetzt hat, da er davon ausgegangen ist, dass es in der Poesie nichts nur Äußerliches gibt (Wolf 2000: 293). Formen und Funktionen des Schriftbildes 117 Abb. 21 Abb. 22 2.5 Ausdruck von Stimmungen Schrift ist auch imstande, bestimmte S t i m m u n g e n zu übermitteln, einem Text Leichtigkeit bzw. Ernsthaftigkeit zu verleihen. Wird durch den Einsatz bunter Buchstaben im Schriftzug der Würzburger „Kinderklinik am Mönchberg“ der Eindruck des Fröhlichen und Verspielten vermittelt, mit dem den Kindern die Angst vor dem Krankenhaus genommen werden soll (siehe Abb. 23), würde man ähnliche Buchstaben bei dem Namen eines Bestattungsinstitutes als wenig angebracht empfinden, da sie zu wenig Pietät zum Ausdruck bringen (siehe Abb. 24). 18 Im Falle von Druckerzeugnissen kann Schrift in dem Zusammenhang auch als T e x t s o r t e n i n d i k a t o r dienen, der auf den Inhalt des Verschriftlichten hinweist (Ernst 2005: 57): 19 Die verschnörkelten Buchstaben bei einem Band mit Liebesgedichten weisen auf dessen Leichtigkeit, auf das Poetische, Romantische und Malerische hin, die schlichten Schriftformen auf dem Umschlag einer wissenschaftlichen Abhandlung auf ihre Ernsthaftigkeit, auf das Sachliche, Nüchterne und Unsentimentale (siehe Abb. 25-26). 18 Bei der Wahl der Schrift muss nämlich immer beachtet werden, dass die Empfindungen ihrer Anmutungsqualitäten - also der Assoziationen, die sie wachrufen - weitgehend kollektiv ausgeprägt sind. Zur Messung der Anmutungsqualität von Druckschriften mithilfe des Semantischen Differentials vgl. Langen/ Maurischat/ Weber (1992). 19 Weitere Hinweise hierzu liefern z.B. das Papier, sein Format, die Makrotypographie usw. 118 Daniela Pelka Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 2.6 Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit Anhand der Schriftzeichen ist man auch imstande, das Verschriftlichte einer Menschengruppe zuzuordnen, die sie zur Markierung ihres s o z i a l e n S t i l s einsetzt. Ähnlich wie die Beherrschung einer bestimmten Norm oder Sprachvarietät auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe hinweist - man denke hier z.B. an die Hochsprache mit ihren orthographischen Regeln oder an den Dialekt und die Jugendsprache mit deren spezifischem Vokabular -, so können auch Schriftzeichen als I d e n t i t ä t s m e r k m a l e i n e r G r u p p e empfunden werden und darüber hinaus auf die W e r t e v o r s t e l l u n g e n ihrer Angehörigen deuten. Betrachtet man z.B. die Musikszene der Spätmoderne, können psychedelische Schriften mit den Hippies der 60er Jahre in Verbindung gebracht werden, die an Erpresserbriefe anknüpfenden ausgeschnittenen Schreibmaschinenschriften mit dem Punkrock der 70er Jahre und die Computerschriften mit dem Techno der 90er Jahre (siehe Abb. 27-29). Die Form der Zeichen ruft zugleich Assoziationen mit dem Drogenkonsum, der Gegengesetzlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer digitalisierten Gesellschaft hervor (Spitzmüller 2012: 235ff.). Werden die gebrochenen Schriften einerseits mit Rocker- und Heavy-Metal-Gruppen verbunden, bei denen sie als Index der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften wie Härte, Kompromisslosigkeit, Entschlossenheit gelten, und auch mit Skinhead-Gruppen, die sie für Schlagworte auf ihrer Kleidung, für Tätowierungen und Parolen bevorzugen, sodass sie allgemein Formen und Funktionen des Schriftbildes 119 Gewalttätigkeit symbolisieren (Spitzmüller 2007: 409) (siehe Abb. 30-31), so werden sie andererseits als Ausdruck von Heimat- und Traditionsgebundenheit empfunden - sie stehen für das Rustikale und Einheimische und drücken „historisierend Kraft, Volkstümlichkeit und Derbheit“ 20 aus, wie z.B. in Zeitungsköpfen oder Alkoholnamen, auf Bierdeckeln oder Kneipenschildern (Willberg 1993: 101ff.) (siehe Abb. 32  33): Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32 Abb. 33 20 So Willberg/ Forssman (1997: 126) in Bezug auf die Alte Schwabacher. 120 Daniela Pelka Konnte Schrift in den obigen Beispielen auch ohne sprachlichen Kontext bestimmte Inhalte zum Ausdruck bringen, so ist das in den folgenden Fällen anders. Die Zusatzinformation, die das Schriftbild hier liefert, ergibt sich dabei nämlich aus dem Kontrast zwischen den Schriftzeichen der markierten Wörter/ Wendungen und denjenigen des sie umgebenden restlichen Textes. Somit könnte hier von einer sprachkontextuellen Bedeutung der Schrift gesprochen werden. 2.7 Gliederungsfunktion Buchstaben, Wörter und Wendungen, die sich in der Form ihrer Buchstaben vom Grundtext unterscheiden, können dazu eingesetzt werden, die E i n z e l t e i l e u n d d i e i n n e r e S t r u k t u r des Verschriftlichten herauszustellen. Gut zu sehen ist diese Funktion der Schrift z.B. in Zeitungen, wo anders als der Fließtext gesetzte Überschriften - früher wurden in dieser Funktion Initialen eingesetzt - als „Trennzeichen“ fungieren, die die einzelnen Artikel voneinander abschirmen, womit sie zugleich Aufschluss über deren Länge geben. Auch innerhalb der Artikel selbst können verschiedene Schriftausprägungen zur Visualisierung der Textstruktur und der verschiedenen Textebenen genutzt werden: Anhand der Schrift der Artikel im „Schlesischen Wochenblatt“ ist man imstande festzustellen, was der Titel und was die Zusatzzeile ist, was zum Vorspann gehört und was zum Haupttext (siehe Abb. 34). Auch beim Durchblättern eines umfangreicheren Druckerzeugnisses, wie z.B. eines Buches, weisen die anders als der Haupttext gesetzten Überschriften darauf hin, dass der Text in mehrere kleinere Einheiten gegliedert werden kann und liefern zugleich Informationen über die Länge der jeweiligen Abschnitte. 21 Werden mehrere Schriftarten nebeneinander eingesetzt, wird dadurch nicht nur deutlich, dass der Text aus Teilen besteht, sondern zudem, dass die einzelnen Teile in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen - Schrift dient hier also zur Kennzeichnung verschiedener H i e r a r c h i e e b e n e n eines Textes (Willberg/ Forssman 1997: 164), wie z.B. in dem Buch „Sprachkontaktforschung“ von Riehl, wo die Überschriften der Hauptkapitel in größeren Buchstaben gesetzt sind als diejenigen der Unterkapitel (siehe Abb. 35): 21 Antos spricht an dieser Stelle von der epistemischen Funktion der Typographie (Antos 2001: 60). Formen und Funktionen des Schriftbildes 121 Abb. 34 Abb. 35 2.8 Markierung von Bedeutsamkeit Mit dem Hinweis auf die verschiedenen Hierarchieebenen in der Struktur eines Textes wird zugleich ein weiteres Inhaltsmerkmal der Schrift angesprochen: Anhand der Buchstaben kann nämlich auf die W i c h t i g k e i t d e r m a r k i e r t e n I n f o r m a t i o n geschlossen werden. Große Schriftgrößen, Versalsatz, Fettsatz oder Farbschrift (v.a. tiefe, gesättigte Farbtöne) sind dabei in erster Linie dazu geeignet, Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden. Die in ihrer Umgebung auftretenden Informationen, die im Kontrast dazu in kleineren Schriftgrößen, in Minuskeln oder einer Mischung verschiedener Größen, in normaler Dicke, Schwarzschrift oder blassen Farben gesetzt werden, erscheinen dann als zweitrangig und weniger relevant. So ist auf Kinoplakaten, wie z.B. bei der Ankündigung von „Yentl“, meist der Filmtitel das Auffälligste, gefolgt von den Hauptdarstellern und an dritter Stelle weiteren Informationen (siehe Abb. 36). Auch innerhalb des laufenden Textes kann mithilfe sog. aktiver Auszeichnungen 22 dem so markierten Wort/ Abschnitt zusätzliche Bedeutung verliehen werden. So wird die Fettschrift, die durch eine erhöhte Strichstärke einen verstärkten Grauwert erzeugt und im Kontrast zum Mengentext auffällt, 22 Willberg/ Forssman unterscheiden zwei Arten der Auszeichnung - die aktiven und die integrierten. Aktive Auszeichnungen sind solche, die der Leser auf den ersten Blick sieht und integrierte solche, die er erst bemerkt, wenn er an die entsprechende Stelle im Text kommt. Zur integrierten Auszeichnung, die sich in den Grauwert der Umgebung fügt, dienen u.a. die Kursive und Kapitälchen, zur aktiven, die einen höheren Grauwert als die Umgebung aufweist, die halbfette und fette Schrift, Versalien, Unterstreichungen, Unterlegungen und verschiedene weitere Kombinationen (Willberg/ Forssman 1997: 122  127). 122 Daniela Pelka synästhetisch mit den Begriffen „schwergewichtig“ oder „laut“ verbunden und kann - auf Erfahrungen gestützt - assoziativ um das Attribut „wichtig“ und „bedeutsam“ erweitert werden. Ikonisch wird auf diese Weise auf die Wichtigkeit der markierten Stelle verwiesen, was in vielen Schulbüchern beobachtet werden kann, wobei zugleich auch die Merkbarkeit des Markierten gesteigert werden soll (siehe Abb. 37). Abb. 36 Abb. 37 2.9 Ausdruck von Zusammengehörigkeit Betrachtet man verschiedene Buchumschläge, so ist man oft nicht imstande, hinter dem Einsatz der einen oder anderen Schriftart oder -größe einen bestimmten Grund, ein bestimmtes Motiv ihrer Verwendung auszumachen. In manchen Fällen aber dient sie dazu, Informationen einer bestimmten Art auszudrücken, z.B. die Zugehörigkeit des Buches zu einer S e r i e o d e r R e i h e , wie z.B. bei den Alf-Büchern (siehe Abb. 38-39). Vor allem in wissenschaftlichen Texten, zum Teil aber auch in Zeitungen und Zeitschriften werden verschiedene Schriftschnitte eingesetzt, um die Andersartigkeit bestimmter Wörter im Verhältnis zum restlichen Text zu markieren und zugleich die G l e i c h a r t i g k e i t d e r I n f o r m a t i o n e n e i n e s T y p s herauszustellen. So wird z.B. in Artikeln der „5. Germanistischen Werkstatt“ gemäß den Richtlinien zur Manuskriptgestaltung die Kursive eingesetzt, um Objektsprachliches und Titel zu markieren, und Kapitälchen, um Nachnamen der zitierten, besprochenen, paraphrasierten usw. Autoren kenntlich zu machen (siehe Abb. 40). 23 In dem Artikel „Kariera jest jak kamieniołom“ dient der Versalsatz zur 23 Im Gegensatz zu den aktiven Auszeichnungen deuten diese sog. integrierten Auszeichnungen zwar Andersartigkeit an, jedoch ohne besondere Wichtigkeit anzuzeigen (Ernst 2005: 64f.). Formen und Funktionen des Schriftbildes 123 Markierung der Namen der Autoren bzw. Interviewpartner, die Fettschrift zur Kennzeichnung der Interviewfragen und die Kursive zur Markierung des Fortsetzungshinweises (siehe Abb. 41). Allesamt begünstigen sie das schnelle diagonale Lesen und erleichtern deutlich das Überfliegen und Zurechtfinden innerhalb des Artikels (Pelka 2013a: 175ff.). Eine wichtige Rolle spielt dies auch bei Nachschlagewerken, wie z.B. dem „Duden Universalwörterbuch“, wo die verschiedenen Schriftschnitte eine optische Abwechslung bewirken und so die Ü b e r s c h a u b a r k e i t des Textes fördern (siehe Abb. 42). Es werden dabei bestimmte Informationen übermittelt, ohne dass eine Ikonitätsbeziehung zwischen dem Schriftzug und dem Bezeichneten vorliegen würde (Pfeiffer-Rupp 1984: 105): Abb. 38 Abb. 39 Abb. 40 Abb. 41 Abb. 42 2.10 Verschriftlichung akustischer Merkmale Der geschriebenen Sprache geht in jedem Fall die gesprochene Sprache voraus. Das Bildhafte der Schrift bringt manchmal das A k u s t i s c h e d e r S t i m - 124 Daniela Pelka m e zum Ausdruck, z.B. die Undeutlichkeit der Aussprache, die Tonhöhe und Tonstärke, den Intonations- und Geräuschverlauf. Mithilfe von entsprechend gestalteten Zeichen - meist in zunehmender oder abnehmender Größe, fetter, wellenartiger oder gezackter Gestalt -, die durch synästhetische Gedankenverknüpfungen ikonischen Charakter annehmen, kann z.B. eine vor Kälte oder Angst zitternde, eine hohe oder eine laute bzw. leise Stimme usw. visualisiert und plastisch untermauert werden. Häufig ist solch ein Ineinandergreifen des verbalen und visuellen Codes in Comics zu beobachten, wo die Schrift nicht nur das Kommunikat, sondern darüber hinaus diverse psychische und emotionelle Zustände oder Einstellungen sowie Reaktionen (Angst, Lachen, Weinen, Singen) zum Ausdruck bringt. 24 Als Beispiel mögen hier drei Panels aus dem Comic „Asterix und Maestria“ und „Asterix und der Kupferkessel“ dienen (siehe Abb. 43-44): Abb. 43 Abb. 44 Eine interessante Verwendung schriftlicher Zeichen beobachtet man in „Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Carroll, wo sich Alice mit einer Mücke unterhält, deren „extremely small voice“ (Carroll 1998: 147) im Text mit einer winzi- 24 Die verschiedenen Schrifttypen und -größen visualisieren die Stimmeigenschaften der Comic-Figuren und werden als Ausdruck der Mündlichkeit geschriebener Sprache gesehen (Rykalová 2011: 135), kommen oft aber auch in der „begleitende[n] Geräuschkulisse der Handlungen“ vor (Krieger 2003: 28, 197, 211ff., Krieger 2004: 52). Formen und Funktionen des Schriftbildes 125 gen Drucktype dargestellt wird (siehe Abb. 45). Die Replik der Mücke steht hier in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu der geringen Lautstärke, mit der sie sich artikuliert, wodurch die Grapheme zu Ikonen der Laute werden, die sie wiedergeben (Nöth 1980: 85; Nöth 2002: 31): “It sounds like a horse,” Alice thought to herself. And an extremely small voice, close to her ear, said “You might make a joke on that - something about ‘horse’ and ‘hoarse’, you know.” (Carroll 1872: 51). Abb. 45 2.11 Poetische Funktion Mit einer sonderbaren Verwendung der Sprachzeichen hat man es auch in Ernst Jandls titellosem Gedicht zu tun, das im Inhaltsverzeichnis der Sammlung seiner „Poetischen Werke“ als „lauter“ bezeichnet wird (Jandl 1997: 36). Die bildhafte Seite der Wörter wird hier - wie oft in der visuellen Poesie - mit dem Ziel der Ü b e r r a s c h u n g d e s L e s e r s eingesetzt: Die steigende Buchstabengröße der ersten fünf Wörter „lauter“ impliziert, dass man es hier mit der zunehmenden Lautstärke zu tun hat, was dazu führt, dass sie als Komparative von „laut“ aufgefasst werden. Die weiteren drei Wörter, die von der Größe her allesamt dem ersten Wort gleichen und daher als ein Syntagma gelesen werden, machen allerdings deutlich, dass das Wort auch als Fokuspartikel aufgefasst werden kann, indem es hier mit dem Antonym zu „laut“ („leise“) verbunden wird, das seinerseits Attribut des Substantivs „Leute“ ist (siehe Abb. 46). 25 25 Wolf (2000: 295) schreibt dazu, in dem Gedicht „scheint zunächst die fünffache Nennung d e s K o m p a r a t i v s [Hervorhebung von mir - D.P.] von laut durch die zunehmende Buchstabengröße die Steigerung der Lautstärke abzubilden“. Es 126 Daniela Pelka Abb. 46 3 Schlussbetrachtung Mit der Umsetzung von gesprochener, flüchtiger Sprache auf einen materiellen, beständigen Träger ist es zur Umwandlung von momentanen akustischen Signalen in dauerhafte optische Zeichen gekommen. Als Schriftzeichen werden sie allerdings auch wieder in gesprochene Sprache umgewandelt und bringen konkrete Inhalte zum Ausdruck. Wie die obigen Ausführungen zeigen, geben die Zeichen der heutigen Alphabetschriften durch ihre visuelle Form nicht nur bestimmte Laute wieder und die einzelnen verschriftlichten Wörter übermitteln nicht nur bestimmte lexikalische Bedeutungen, die im Wörterbuch nachgeschlagen werden können. Je nachdem, wie sie ausgeführt werden, können ihnen vom Rezipienten nämlich bestimmte zusätzliche Informationen entnommen werden. Der typographischen Gestaltung der Schriftzeichen können mehrere Funktionen zugesprochen werden können und ihre Rezeption wird selten nur durch eine davon bestimmt. Meist kommt es dabei zu Überlappungen, sodass sie sich oft nicht strikt voneinander trennen lassen. Verschiedene Formen der Schrift dienen als Eyecatcher, die die Wichtigkeit des Verschriftlichten herausstreichen, sie wirken textstrukturierend und unterscheidend, scheint aber eher umgekehrt zu sein: Erst die zunehmende Buchstabengröße verursacht, dass die so verschriftlichten Wörter „lauter“ mit der Steigerung der Lautstärke in Verbindung gebracht und somit als Formen des Komparativs aufgefasst werden. Formen und Funktionen des Schriftbildes 127 werden eingesetzt, um eine Botschaft - z.B. die Mündlichkeitsmerkmale in der geschriebenen Sprache - zu verstärken und bieten dem Leser Interpretationshilfen, indem sie z.B. auf die Textsorte oder den Entstehungszusammenhang des Textes hinweisen. Das Wesentliche dabei ist aber, dass auch die heutigen Erscheinungsformen der Schrift Inhalte transportieren können, die über die lexikalische Bedeutung des Verschriftlichten hinausgehen und sie dabei oft das bildikonische Potenzial der Schrift nutzen, wie es die frühen Piktographien der alten Bilderschriften auch schon getan haben. 4 Literatur Antos, Gerd (2001): Sprachdesign als Stil. Lifting oder: Sie werden die Welt mit anderen Augen sehen. In: Jakobs, Eva-Maria/ Rothkegel, Annely (Hrsg.): Perspektiven auf Stil. Tübingen. (Reihe Germanistische Linguistik; 226). S. 55  76. Baines, Phil/ Haslam, Andrew (2002): Lust auf Schrift. Basiswissen Typografie. Mainz. Ernst, Albert (2005): Wechselwirkung. Textinhalt und typografische Gestaltung. Würzburg. Kapr, Albert (1993): Fraktur. Form und Geschichte der gebrochenen Schriften. Mainz. Krieger, Jolanta (2003): Paraverbale Ausdrücke als Gestaltungsmittel der Textsorte Comic am Beispiel der Reihe Asterix. Lublin. 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Białystok. www. prawo.uwb.edu.pl/ prawo_new/ nauka.php? p=834 (Stand: 08.03.2017). Abb. 27: Hippie. www.sweetwaterband.com/ curpic.html (Stand: 08.03.2017). Abb. 28: Die Ärzte: Planet Punk. covers1.img-themusic-world.info/ 000/ 8/ 8569.jpg (Stand: 08.03.2017). Abb. 29: Top 100 Techno. www.israbox.com/ uploads/ posts/ 2008-05/ 1209811077_vatechno-top-100-vol.11-400.jpg (Stand: 12.04.2013). Abb. 30: Heavy Metal Nation. hitparade.ch/ compilation/ Heavy-Metal-Nation-VIII-True- As-Steel-Anniversary-Edition-177609 (Stand: 08.03.2017). Abb. 31: Gloryz Boys. www.spirit-of-rock.com/ album-groupe-Glory_Boys-nom_album- Skinhead_Resistance-l-en.html (Stand: 08.03.2017). Abb. 32: Bierdeckel: Oktoberfest. Ein Prosit. www.baviere-quebec.org/ imperia/ md/ quebec/ weiteres/ fittosize_500_500_fe25cc5f2ecea59e3020b32875e5a954_oktoberfest1. jpeg (Stand: 08.03.2017). Abb. 33: Spirituosen-, Wein- und Obstweinschenke. www.flickr.com/ photos/ anna wegener/ 5634813004/ (Stand: 08.03.2017). Abb. 34: Schlesisches Wochenblatt. Heft aus dem Jahr 1995: 10  16.02. S. 1. Abb. 35: Riehl, Claudia Maria (2004): Sprachkontaktforschung. Eine Einführung. Tübingen. S. 99. Abb. 36: Yentl. i.ebayimg.com/ t/ Yentl-Barbara-Streisand-kl-Kino-plakat-Poster-DIN-A-3- Film-Schule-Russland-/ 00/ s/ OTE4WDY0MA==/ $T2eC16NHJGkE9no8gF7vBQYuR17rv g~~60_35.JPG (Stand: 08.03.2017). Abb. 37: Ernst, Peter (2005): Deutsche Sprachgeschichte. Eine Einführung in die diachrone Sprachwissenschaft des Deutschen. Wien. S. 196. Abb. 38: Büttner, Rainer: ALF. Hallo, da bin ich. www.bookcrossing.com/ journal/ 10315311 (Stand: 08.03.2017). Abb. 39: Büttner, Rainer: ALF. Ich will alles! www.booklooker.de/ B%C3%BCcher/ B%C3%BCttner+Alf-Ich-will-alles/ id/ A01TW4zC01ZZM (Stand: 08.03.2017). Abb. 40: Biskup, Rafał (2013): Oberschlesien als Imagination und Realität bei Hans Lipinsky-Gottersdorf. In: Jelitto-Piechulik, Gabriela/ Księżyk, Felicja (Hrsg.): Germanistische Werkstatt 5/ 2013. 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Interferenzfehler beim Übersetzen deutscher Texte ins Albanische - am Beispiel von Germanistikstudenten der Universität Prishtina Sadije Rexhepi (Prishtina) Zusammenfassung Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die Übersetzung von unterschiedlichen Texten aus der deutschen in die albanische Sprache durch albanischsprachige Germanistikstudenten der Universität Prishtina zu analysieren. Es wird untersucht, ob beim Übersetzen deutscher Texte ins Albanische Interferenzfehler hinsichtlich der Satzstruktur und dem Gebrauch von Tempora auftreten. Außerdem werden in dieser Arbeit die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede des Gebrauchs der deutschen und der albanischen Tempusformen dargestellt. Die Ergebnisse der Untersuchung werden anhand einer statistischen Auswertung präsentiert. 1 Einleitung Die meisten Germanistikstudenten der Universität Prishtina sind in Deutschland geboren. Sie haben den Kindergarten in Deutschland besucht und auch die Schule in Deutschland angefangen. Für sie war die albanische Sprache lediglich eine Familiensprache. In der Spracherwerbsforschung wird von verschiedenen Bilingualismus-Typologien ausgegangen. Abhängig von unterschiedlichen Formen sprachlichen Inputs durch Eltern und Umgebung, unterscheidet Suzanne Romaine (1995: 181ff.) sechs Typen bilingualer Spracherziehung. 1 Unsere Studenten gehören zur Gruppe (3): eine Sprache eine Umgebung, d.h. die Eltern haben dieselbe Muttersprache und sprechen beide mit dem Kind nicht die Um- 1 „Following Harding and Riley (1986: 47  8), I have classified the main types of early childhood bilingualism which have been studied into five categories, depending on factors such as the native language of the parents, the language of the community at large and the parents ʼ strategy in speaking to the child. […] Types of Bilingual Acquisition in Childhood. Type 1: ʽ One Person - One Language ʼ […]. Type 2: ʽ Non-dominant Home Language ʼ / ʽ One Language - One Environment ʼ […]. Type 3: ʽ Non-dominant Home Language without Community Support ʼ […]. Type 4: ʽ Double Non-dominant Home Language without Community Support ʼ […]. Type 5: ʽ Non-native Parents ʼ […]. Type 6: ʽ Mixed languages ʼ […]“ (Romaine 1995: 182ff.). 132 Sadije Rexhepi gebungssprache. Das Kind hört die Umgebungssprache nur außerhalb der Familie (Romaine 1995: 181ff.). Deutsch war für sie eine Schriftsprache, die Mehrheitssprache und auch die Dominanzsprache. 2 Nachdem die Kinder ins Kosovo zurückgekehrt waren und die albanische Schule begonnen hatten, hat sich die Dominanzsprache geändert. Dies ist jederzeit möglich. In ihrer Rolle als Germanistikstudenten sprechen sie untereinander deutsch und fühlen sich in der deutschen Sprache wohl. Spracherleben ist nicht neutral, es ist mit emotionalen Erfahrungen verbunden, d.h. damit, ob man sich in einer Sprache bzw. in Sprachen wohlfühlt oder nicht (Busch 2013: 19). Da die Studenten sich beim Deutschsprechen wohlfühlen, soll dieser Beitrag untersuchen, ob bei ihnen Interferenzfehler beim Übersetzen aus dem Deutschen ins Albanische auftreten. Der Begriff Interferenz wird dann verwendet, wenn eine angenommene strukturelle Übertragung zu Fehlern führt, weil sich Erstsprache und Zweitsprache in dieser Struktur unterscheiden (Steinbach 2007: 112). Außerdem werden in dieser Arbeit die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede des Gebrauchs der deutschen und der albanischen Tempusformen untersucht. Die Ergebnisse werden anhand einer statistischen Auswertung dargestellt. 2 Die Tempusformen im Deutschen und im Albanischen Im Deutschen werden bekanntlich sechs grammatische Tempora unterschieden: Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II. Im Albanischen werden generell zehn Tempora unterschieden: Präsens, Imperfekt, Aorist, Perfekt, Plusquamperfekt, Aorist II, Futur I (Präsens Volitiv), Futur II (Imperfekt Volitiv), Perfekt Volitiv und Plusquamperfekt Volitiv. 2.1 Das Präsens des Deutschen und des Albanischen Im Albanischen und im Deutschen taucht das Präsens in folgenden Bedeutungsvarianten auf: aktuelles Präsens, Präsens zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens, Präsens zur Bezeichnung eines vergangenen Geschehens (historisches Präsens) sowie generelles oder atemporales Präsens (Helbig/ Buscha 1993: 146f.). 2 „Als dominante Sprache sollte die Sprache definiert werden, die lexikalisch und grammatisch weiter entwickelt ist, und mit Sprachpräferenz die Sprache, die bevorzugt verwendet wird“ (Steinbach 2007: 120). Interferenzfehler beim Übersetzen 133 2.2 Präteritum des Deutschen vs. Imperfekt und Aorist des Albanischen Das Imperfekt im Albanischen tritt in verschiedenen Funktionen auf: in imperfektiver, durativer und iterativer Funktion. Gelegentlich dient das Imperfekt dem Ausdruck von Vorzeitigkeit und Vergangenheit. Es hat „die obligatorischen semantischen Merkmale ‚vergangen‘ (temporal) und ‚imperfektisch‘ (aspektual)“ (Buchholz/ Fiedler 1987: 125). Das deutsche Präteritum drückt das Gleiche aus wie das albanische Imperfekt, wenn eine Handlung, die in der Vergangenheit liegt, als unvollendet dargestellt wird; beide Tempora werden somit imperfektiv, durativ oder iterativ verwendet. Das deutsche Präteritum wird aber zudem wie der albanische Aorist verwendet, dann nämlich, wenn eine Handlung vor der Sprechzeit abgeschlossen wird. Der betreffenden Handlung kommt somit perfektive Funktion zu. Zu den Hauptmerkmalen des albanischen Aorists zählen „die obligatorischen Merkmale ‚vergangen‘ (temporal) und ‚aoristisch‘ (aspektual)“ (Buchholz/ Fiedler 1987: 127). Der Aorist stellt eine Handlung als ein abgeschlossenes Ereignis dar. Auch das Präteritum des Deutschen bezeichnet eine Handlung, die zum Sprechzeitpunkt vergangen und abgeschlossen ist. 3 2.3 Das Perfekt im Deutschen und im Albanischen In beiden Sprachen kommt das Perfekt in folgenden Bedeutungsvarianten vor: „Perfekt zur Bezeichnung eines vergangenen Geschehens, eines vergangenen Geschehens mit resultativem Charakter und eines zukünftigen Geschehens“ (Helbig/ Buscha 1993: 152). Die Handlung ist zwar bereits abgeschlossen, jedoch ist sie selbst oder sind ihre Folgen während des Redemoments noch relevant (Buchholz/ Fiedler 1987: 130). Thieroff ist der Meinung, dass beim Perfekt Tempus und Aspekt nicht deutlich getrennt werden können. Er bemerkt, dass sowohl für das Präteritum als auch für das Perfekt gilt, dass Abgeschlossenheit zum Sprechzeitpunkt nur bei punktuellen und telischen Verben zwingend gegeben ist (Thieroff 1992: 188). 3 Thieroff (1992: 116) jedoch meint, dass die Tatsache, ob das Präteritum die Abgeschlossenheit einer Handlung zeigt oder nicht, von bestimmten semantischen Merkmalen des Verbs selbst abhängt. 134 Sadije Rexhepi 2.4 Das Plusquamperfekt im Deutschen und im Albanischen Das Plusquamperfekt hat in beiden Sprachen die gleiche Bedeutung. „Das Plusquamperfekt stellt ein Geschehen als vorzeitig (abgeschlossen) dar mit Bezug auf eine bestimmte Zeit oder ein bestimmtes Geschehen in der Vergangenheit“ (Duden 2005: 518). 2.5 Der Aorist II Der Aorist II bezeichnet einen Sachverhalt, der schon vor einem anderen (auch in der Vergangenheit existierenden) Sachverhalt eingetreten ist. Bei der Übersetzung aus dem Deutschen ins Albanische tritt der Aorist II sehr selten auf. Dem Aorist II kommen dieselben Merkmale wie dem Plusquamperfekt zu, nämlich: Doppelzeitigkeit und Vergangenheit. Er wird im Albanischen seltener als das Plusquamperfekt benutzt, an seine Stelle treten Plusquamperfekt und Aorist (Buchholz/ Fiedler 1987: 132). 2.6 Das Futur I des Deutschen und des Albanischen (= Präsens Volitiv) Im Deutschen und im Albanischen kommt das Futur I in nachstehenden Bedeutungsvarianten vor: „Futur I zur Bezeichnung eines vermuteten Geschehens in der Gegenwart, Futur I zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens“ (Helbig/ Buscha 1993: 154f.). Das Futur I kann auch eine polemische Interrogativität bezeichnen. 2.7 Imperfekt Volitiv (= Imperfekt Futur = Präsens Konditional) Meist ist das Merkmal Erwartung mit dem Merkmal Vergangenheit verbunden. Häufig kommt es vor, dass eine in der Vergangenheit zukünftige Handlung ausgedrückt wird, auch wenn diese nicht realisiert wurde: „E tmerruar mendonte çastin kur do të mbetej vetëm me të. ʻ Entsetzt dachte sie an den Moment, da sie mit ihm allein sein würde. ʼ “ (Buchholz/ Fiedler 1987: 144, Hervorhebungen im Original). Diese Zeitform stimmt meist mit dem Konjunktiv II Präsens des Deutschen überein. Interferenzfehler beim Übersetzen 135 2.8 Perfekt Volitiv Die Form signalisiert eine Handlung, deren zukünftiger Vollzug vor einer anderen bevorstehenden Handlung vom Standpunkt der Gegenwart (im Redemoment) erwartet wird: „Shumë gjak do të jetë derdhur. […] ʻ […] Viel Blut wird vergossen sein. ʼ “ (Buchholz/ Fiedler 1987: 146, Hervorhebungen im Original). Diese Zeitform stimmt mit dem Futur II des Deutschen überein. Im Albanischen und im Deutschen wird diese Futurform in folgenden Bedeutungsvarianten verwendet: zur Bezeichnung eines vermuteten Geschehens in der Vergangenheit, zur Bezeichnung eines vermuteten Geschehens in der Vergangenheit mit resultativem Charakter sowie zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens (Helbig/ Buscha 1993: 156ff.). 2.9 Plusquamperfekt Volitiv Das Plusquamperfekt Volitiv ist durch die drei nachstehenden obligatorischen Merkmale sehr stark markiert: Erwartung, Doppelzeitigkeit und (relative) Vergangenheit. „Die überwiegend temporale Verwendung zum Ausdruck von Doppelzeitigkeit (Nachzeitigkeit zur Vergangenheit) kommt in der indirekten Rede vor: Ai tha se gjer (të nesërmen) do ta kishte mbaruar këtë punë. ʻ Er sagte, dass er die Arbeit bis (zum nächsten Tag) fertig haben würde. ʼ “ (Buchholz/ Fied-ler 1987: 147, Hervorhebungen im Original). Diese Zeitform stimmt meist mit dem Konjunktiv II Vergangenheit des Deutschen überein. 3 Analyse Nach dieser kurzen Darstellung und dem Vergleich der Tempusfunktionen im Deutschen und im Albanischen sollen im Folgenden die Verwendung der Tempora durch die Studenten beim Übersetzen von Texten aus dem Deutschen ins Albanische untersucht werden. Für die Durchführung der Analyse wurden drei Texte ausgewählt, ein narrativer Text (der erste Absatz der Novelle „Brief einer Unbekannten“), ein Zeitungstext (Katzenberger: www.sueddeutsche.de/ kultur/ oscar-verleihung-moralsticht-witz-1.1902528; Stand: 03.03.2014) und ein argumentativer Text (einen Absatz von Friedrich Schillers „Über die ästhetische Erziehung der Menschen, in einer Reihe von Briefen“). 136 Sadije Rexhepi 3.1 Die Übersetzung des narrativen Textes Im narrativen Text 4 bedient sich die deutsche Sprache hauptsächlich des Präteritums, womit beschrieben oder erzählt wird. Der Erzähler erzeugt mithilfe des Präteritums Distanz zur Geschichte, auch für den Leser. Das Plusquamperfekt nimmt eine Stufung des Geschehenen vor, es ist im Vergleich zum Präteritum (als Erzähltempus) eine Vergangenheitsstufe weiter zurück. Hierbei entsteht erneut eine Distanz zwischen dem Absender und dem Geschehen, verglichen zum Präteritum nochmals eine Stufe weiter zurück. Diese Funktion hat auch das Plusquamperfekt der albanischen Sprache im Verhältnis zum Imperfekt und Aorist. In narrativen Texten des Albanischen werden zumeist das Imperfekt und der Aorist verwendet. Wenn im Imperfekt erzählt oder beschrieben wird, entsteht zwischen Erzähler und Geschehen eine Distanz und der Erzähler muss nicht während des Geschehens präsent sein. Dies ist auffällig, da meistens in der dritten Person erzählt wird. Wenn hingegen im Aorist erzählt wird, ist dies nicht der Fall. Das gilt auch für den Aorist II. Sie geben der Erzählung ein Relief und gliedern sie in Vorder- und Hintergrund. Der Aorist ist in der Erzählung das Tempus des Vordergrunds, das Imperfekt das Tempus des Hintergrunds. Man kann somit sagen, dass anhand der Tempusperspektive die Vergangenheitsformen in zwei Gruppen eingeteilt werden können: in Tempusformen, die eine Distanz zwischen Erzähler sowie evtl. Leser und dem Geschehen erzeugen, wie das Imperfekt und das Plusquamperfekt, und in Tempusformen, die keine Distanz zwischen ihnen erzeugen, wie der Aorist, das Perfekt und der Aorist II. Im narrativen Text dominieren in beiden Sprachen vorwiegend die Vergangenheitsformen. Im Albanischen merkt man den ständigen Übergang vom Imperfekt zum Aorist. Im Folgenden werden tabellarisch die Ergebnisse der Übersetzung der Tempora im ersten Absatz der Novelle „Brief einer Unbekannten“ dargestellt: 4 Stefan Zweig: Brief einer Unbekannten. Interferenzfehler beim Übersetzen 137 Übersetzung vom Deutschen ins Albanische Studenten des zweiten Studienjahres (Anzahl der Verben) Studenten des dritten Studienjahres (Anzahl der Verben) Präteritum - Aorist 123 99 Präteritum - Imperfekt 43 30 Präteritum - Präsens 10 13 Präteritum - Plusquamperfekt 6 1 Plusq. - Plusquamperfekt 8 4 Plusquamperfekt - Imperfekt 2 2 Konjunktiv I Gegenwart - Imperfekt 7 7 Konjunktiv I Gegenwart - Präsens 2 3 Tabelle 1: Ergebnis der Übersetzung der Zeitformen von Verben eines narrativen Texts aus dem Deutschen ins Albanische Das deutsche Präteritum wurde vorwiegend mit Aorist übersetzt, aber auch mit dem Imperfekt. Außerdem wurde es mit dem Präsens übersetzt, was nicht üblich ist, weswegen man hier von einem historischen Präsens sprechen könnte. Allerdings wird die Narration hauptsächlich im Präteritum durchgeführt und die entsprechenden Formen des Präteritums im Albanischen sollten der Aorist und das Imperfekt sein. Bei der Übersetzung der Novelle aus dem Deutschen ins Albanische von dem Übersetzer Robert Schwarz ist das Präteritum meist mit Aorist und sehr selten mit Imperfekt übersetzt, nicht aber mit Präsens und Plusquamperfekt. Folglich kann nicht behauptet werden, dass es sich um eine deutsche Interferenz handelt. Es ist anzumerken, dass die Studenten sich wahrscheinlich nicht über das breite Repertoire der Tempusfunktionen bewusst waren und es deshalb zu unterschiedlichen (Ver-)Mischungen der Zeitformen kam. In der Novelle kommt auch Partizip II mit attributiver Funktion vor, was öfter mit dem Plusquamperfekt als mit der entsprechenden Zeitform des Albanischen übersetzt wurde. Auch ein substantiviertes Verb wurde meist mit dem Plusquamperfekt übersetzt. Für die Studenten war diese Art der Verbalisierung einfacher, als die entsprechende Form des Albanischen zu finden. 138 Sadije Rexhepi Die deutsche Interferenz ist bei der Großschreibung der Substantive erkennbar. Im Albanischen werden nur Eigennamen großgeschrieben, doch bei der Übersetzung der Novelle und des erwähnten Zeitungstextes wurden in einigen Fällen auch andere Substantive großgeschrieben, z.B.: 1. Ethik sticht Humor. (Katzenberger: www.sueddeutsche.de/ kultur/ oscar-verleihung-moral-sticht-witz-1.1902528; Stand: 03.03.2014) 1.a. Etika thumbon Humorin. 2. Als der bekannte Romanschriftsteller R. frühmorgens von dreitägigem erfrischendem Ausflug ins Gebirge wieder nach Wien zurückkehrte und am Bahnhof eine Zeitung kaufte, [...] (Zweig 1970: 125). 2.a. Kur Romansieri i njohur R. herët në mëngjes u kthye nga një Pushim treditor nga Bjeshkët përsëri në Vjenë dhe në Stacion të Trenave bleu një Gazetë, [...]. In diesem Text ist eine morphologische Dominanz des Deutschen sichtbar. Viele regelmäßige Verben im Präteritum sind mit Imperfekt übersetzt worden, da auch im Albanischen (wie im Deutschen) die 3. Person Singular die gleiche Endung -te hat (kauf-te - blin-te). Bei anderen Personen würde das eher nicht passieren, allerdings wird das Geschehen hier vor allem in der dritten Person Singular erzählt. Bei den Studenten, die lange in Deutschland gelebt haben, ist der Einfluss des Deutschen stärker als bei denen, die nie in Deutschland gelebt haben. Das kann man auch bei der Analyse der Satzstruktur feststellen. Als syntaktische Interferenz bezeichnet man das Einsetzen von Satzmustern der einen Sprache in die andere Sprache. Wenn die Sprachen Unterschiede in der Satzstruktur haben, führt diese Interferenz zu grammatisch inkorrekten Sätzen. Die syntaktische Interferenz kann vor allem bei Nebensätzen auftreten, bei denen im Deutschen das finite Verb am Satzende vorkommt, denn im Albanischen nimmt das finite Verb meistens die zweite Position ein, z.B.: 3. Als der bekannte Romanschriftsteller R. frühmorgens von dreitägigem erfrischendem Ausflug ins Gebirge wieder nach Wien zurückkehrte und am Bahnhof eine Zeitung kaufte, […].“ (Zweig 1970: 125) 3.a. Kur shkrimtari i njohur R. herët në mëngjes pas tri ditësh udhëtimi në male të freskëta kthehet prap në Vjenë dhe në stacion një gazetë blinte, ... (Übersetzung von einem Studenten) 3.b. Romancieri i famshëm kthehej një ditë që pa gdhirë në Vjenë pas një udhëtimi të gjatë që kishtë bërë nëpër male. Bleu një gazetë në stacion; ... (Übersetzung von einem Übersetzer, Zweig 2004) Interferenzfehler beim Übersetzen 139 Interferenz aus dem Deutschen erkennt man auch bei der Verwendung der attributiven Adjektive. Die Stellung des Adjektivs ist im Albanischen in der Regel hinter dem Substantiv, aber bei der Übersetzung gibt es Fälle, bei denen das attributive Adjektiv wie im Deutschen vor dem Substantiv steht. 4. Als der bekannte Romanschriftsteller R. […]. 4.a. Kur i njohuri autor R. […]. 3.2 Die Übersetzung des argumentativen Textes Im argumentativen Text spielen die Vergangenheitstempora keine große Rolle, in ihm kommt hauptsächlich das Präsens vor. Die Tempusformen des argumentativen Textes „Über die ästhetische Erziehung der Menschen, in einer Reihe von Briefen“ wurden wie folgt übersetzt: Übersetzung vom Deutschen ins Albanische Studenten des zweiten Studienjahres (Anzahl der Verben) Studenten des dritten Studienjahres (Anzahl der Verben) Präsens - Präsens 127 141 Präsens - Imperfekt 6 2 Konjunktiv II Gegenwart - Präsens Konditional 8 8 Konjunktiv II Gegenwart - Präsens 6 1 Konjunktiv II Gegenwart - Imperfekt 4 2 Konjunktiv II Gegenwart - Plusquamperfekt 4 4 Präteritum - Imperfekt 7 4 Präteritum - Präsens Konjunktiv - 2 Tabelle 2: Ergebnis der Übersetzung der Zeitformen von Verben eines argumentativen Texts aus dem Deutschen ins Albanische 140 Sadije Rexhepi In diesem Text gibt es einige Infinitivformen mit zu. Diese Formen wurden vorwiegend mit dem Konjunktiv Präsens (41) 5 und dem Infinitiv (sogenanntes Partizip - për të punuar) (9) übersetzt. Die meisten Funktionen des deutschen Infinitivs hat in der albanischen Sprache der Konjunktiv übernommen. Die Funktionen des Infinitivs kann auch das sogenannte Partizip, Partikelkombination për të + Partizip, z. B. për të punuar (= zum Arbeiten), erfüllen. 3.3 Die Übersetzung des Nachrichtentextes Es wurde auch die Übersetzung eines kurzen Nachrichtentextes der Süddeutschen Zeitung untersucht. Was die Verwendung der Zeitformen in albanischen und deutschen Zeitungsberichten betrifft, besteht der größte Unterschied darin, dass im Deutschen das Präteritum und das Präsens zur Entfaltung des Themas angewendet werden, dagegen im Albanischen das Perfekt und das Präsens. Dennoch haben die Studenten die Tempusformen des Deutschen mit vielen verschiedenen Vergangenheitsformen des Albanischen übersetzt und nur eine geringe Anzahl mit Perfekt. Bei der Übersetzung des Zeitungstextes Katzenberger (2014) „Ethik sticht Humor“ (Katzenberger: www.sueddeutsche.de/ kultur/ oscar-verleihung-moralsticht-witz-1.1902528; Stand: 03.03.2014) von den Studenten des zweiten und dritten Studienjahres haben wir folgende Ergebnisse: Übersetzung vom Deutschen ins Albanische Studenten des zweiten Studienjahres (Anzahl der Verben) Studenten des dritten Studienjahres (Anzahl der Verben) Präteritum - Aorist 62 68 Präteritum - Imperfekt 41 45 Präteritum - Plusquamperfekt 5 8 Präteritum - Perfekt 11 6 Präteritum - Präsens - 3 Plusquamperfekt - Plusquamperfekt 7 9 5 Anzahl der Verbformen. Interferenzfehler beim Übersetzen 141 Plusquamperfekt - Imperfekt 3 3 Plusquamperfekt - Perfekt 3 4 Plusquamperfekt - Aorist 2 1 Tabelle 3: Ergebnis der Übersetzung der Zeitformen von Verben eines Nachrichtentexts aus dem Deutschen ins Albanische In diesem Text ist der deutsche Einfluss auf die Struktur der zusammengesetzten Tempusformen nicht zu erkennen. Im Deutschen können zwischen Hilfsverb und Partizip II des Vollverbs auch andere Wortarten eingefügt werden (Klammerbildung). Die finite Verbform des Hauptsatzes steht auf der zweiten Position und die infinite Verbform auf der Endposition. Im Albanischen wird der Verbalkomplex nicht getrennt, er steht auf der zweiten Position, z.B.: 5. Mulholland Man war platt, denn so gut wie alle anderen Oscar-Experten hatte er mit dem Siegerfilm „L.A. Crash“ wohl nicht in den kühnsten Träumen gerechnet, vielmehr galt [...] (Katzenberger: www.sueddeutsche.de/ kultur/ oscar-verleihung-moral-sticht-witz-1. 1902528; Stand: 03.03.2014). 5.a. Mulholland Man mbeti pa fjalë, sepse ai bashkë me ekspertë të tjerë të çmimeve Oskar, as që e kishin ëndërruar fitoren e filmit ... Die Interferenz der deutschen Sprache zeigt sich vorwiegend in den Satzstrukturen, wie bei der Verwendung der Modalverben mit einem Vollverb. Im Deutschen kommt das Modalverb in der zweiten Position und das Vollverb am Ende des Satzes vor. Im Albanischen darf der Verbalkomplex gewöhnlich nicht getrennt werden, aber bei der Übersetzung der Studenten tritt eine deutsche Satzstruktur mit Modalverb auf, z.B.: 6. Von drei favorisierten Filmen konnten nur „12 Years a Slave“ und „Gravity“ die Erwartung bestätigen. (Katzenberger: www.sueddeutsche.de/ kultur/ oscar-verleihung-moral-sticht-witz-1.1902528; Stand: 03.03. 2014). 6.a. Nga tre filmat favorizues munden vetëm „12 Years a Slave“ dhe „Gravity“ t’i konfirmojnë pritjet. 142 Sadije Rexhepi 4 Schlussfolgerungen Da das Albanische eine höhere Anzahl an Vergangenheitstempora besitzt als das Deutsche, haben die Studenten, deren Übersetzungen für die Analyse verwendet wurden, bei der Übersetzung deutscher Verbformen verschiedene Tempusformen im Albanischen verwendet, die nicht standardsprachlich und manchmal auch inkorrekt sind. Bei der Übersetzung ist ein morphologischer Einfluss der deutschen Sprache bemerkbar. Viele regelmäßige Verben im Präteritum wurden mit dem Imperfekt übersetzt, weil auch im Albanischen die 3. Person Singular die gleiche Endung -te (z.B. kauf-te, blin-te) hat und das Geschehen im narrativem Text vor allem in der dritten Person Singular erzählt wird. Die Interferenz der deutschen Sprache ist auch in der albanischen Satzstruktur, z. B. bei der Verwendung von Modalverben mit einem Vollverb, feststellbar. Im Hauptsatz des Deutschen steht das Modalverb in der zweiten Position und das Vollverb am Ende des Satzes, im Albanischen aber kann der Verbalkomplex nicht getrennt werden. Interferenz besteht des Weiteren bei albanischen Translaten in Form von Nebensätzen, in denen das finite Verb im albanischen Satz am Satzende verwendet wird. Außerdem wurden in einigen Fällen Substantive wie im Deutschen großgeschrieben oder attributive Adjektive vorangestellt. Diese Verwendung ist im Albanischen zwar erlaubt, jedoch nicht üblich. 5 Literatur Buchholz, Oda/ Fiedler, Wilfried (1987): Albanische Grammatik. Leipzig. Busch, Brigitta (2013): Mehrsprachigkeit. Wien. (UTB; 3774). Duden (2005): Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion. Mannheim u.a. (Duden; 4). Harding, Edith/ Riley, Philip (1986): The bilingual family. A handbook for parents. Cambridge. Helbig, Gerhard/ Buscha, Joachim (1993): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 15., durchges. Aufl. Leipzig u.a. Romaine, Suzanne (1995): Bilingualism. 2. Aufl. Oxford. Steinbach, Markus (2007): Schnittstellen der germanistischen Linguistik. Stuttgart. Thieroff, Rolf (1992): Das finite Verb im Deutschen. Tempus - Modus - Distanz. Tübingen. (Studien zur deutschen Grammatik; 40). Quellen Katzenberger, Paul: Ethik sticht Humor. www.sueddeutsche.de/ kultur/ oscar-verleihungmoral-sticht-witz-1.1902528 (Stand: 03.03.2014). Interferenzfehler beim Übersetzen 143 Schiller, Friedrich (2009): Über die ästhetische Erziehung der Menschen in einer Reihe von Briefen. Dritter Brief. Frankfurt a.M. Zweig, Stefan (1970): Brief einer Unbekannten. In: Zweig, Stefan: Meisternovellen. Stuttgart. und die albanische Übersetzung dieses Werkes: Zweig, Stefan (2004): Letra e një të panjohure. Novelë. Phonologische Oberflächen- und Tiefenstruktur - ein Forschungsüberblick Oleksandr Rudkivskyy (Kiew) Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag werden grundlegende phonologische Theorien zusammengefasst: der Strukturalismus, die lineare Phonologie, die lineare generative Phonologie sowie die Theorie der autosegmentalen (nichtlinearen) Lautdarstellung. Außerdem werden die Leitsätze von Vertretern der Prager phonologischen Schule berücksichtigt; dabei werden die Aufgaben der generativen Phonologie definiert. Des Weiteren werden die Oberflächen- und Tiefenstrukturen optimal zur linearen Beschreibung des Phonemsystems beleuchtet unter der Annahme, dass die phonologische Oberflächenstruktur aus den aktuellen phonetischen Sequenzen besteht. Es wird festgestellt, dass die Tiefenstruktur die phonologische Repräsentation der Lexikon-Formative, d.h. der Wörter, ausmacht und dass die distinktiven Merkmale die Bestandteile der Tiefenstruktur sind. Der Beitrag geht ferner auf die Sprachspezifik der Gesetze der Harmonie ein und überdenkt die taxonomische Phonologie von Trubeckoj, van Dijk und Hocket unter dem Aspekt von Chomskys, Halles und Harms ʼ generativer Phonologie. 1 Einleitung In der Phonologie der vergangenen Jahrzehnte haben sich einige wichtige theoretische Ansätze entwickelt, die sich jedoch nicht etabliert haben bzw. auf Kritik von anderen Sprech- und Sprachwissenschaftlern, unter anderen von Zubrickaja (2002: 168ff.), gestoßen sind. Einer davon ist in der Arbeit von Veith (1972) ausführlich beschrieben. Es handelt sich um die generative Phonologie, die Stellung der distinktiven Merkmale von Phonemen im sprachlichen Gesamtmodell. Ein wichtiger Terminus ist dabei der der „Oberfläche“, welcher sich auf die Ausdrucksform und die Tiefe - auf den Inhalt oder die Bedeutung der Sprachelemente auf verschiedenen Sprachebenen - bezieht. Ergänzend ist hinzuzufügen, dass diese Theorie nicht neu ist, sie entstammt Chomsky (1991), der sich mit der generativen Syntax befasst hat. Der vorliegende Beitrag enthält eine Zusammenfassung grundlegender phonologischer Theorien. In Kapitel 2 wird zunächst der Strukturalismus vorgestellt, Kapitel 3 bietet einen Überblick über die lineare generative Phonologie und Kapitel 4 präsentiert die Theorie der autosegmentalen, nichtlinearen Laut- 146 Oleksandr Rudkivskyy darstellung. Ziel ist, einen Überblick zu verschaffen und dabei diverse Richtungen und Aspekte miteinzubeziehen. 2 Strukturalismus Nach den Vorstellungen von de Saussure (2001) stellt die Sprache ein Zeichenbzw. Symbolsystem dar, das zwei wichtige Charakteristiken aufweist: die Form und die Bedeutung. Der Laut ist ein Symbol mit einer bestimmten Form, die für jeden Laut unterschiedlich ist, und drückt eine Signifikanz (die Funktion der Bedeutungsunterscheidung) aus, d.h. die Fähigkeit, auf die Unterschiedlichkeit in der Wortbedeutung hinzuweisen, z.B. die Stimmhaftigkeit und die Stimmlosigkeit der Konsonanten. Die Strukturalisten (vgl. Jakobson/ Halle 1971) waren zusammen mit den Vertretern der Prager phonologischen Schule (vgl. Trubeckoj 1960) der Meinung, dass Laute, wenn sie eine bedeutungsunterscheidende Funktion erfüllen, in der strukturellen Theorie als Phoneme bezeichnet werden. Diese können einige Aussprachevarianten (Allophone) haben, die in einer durch phonotaktische Gesetze verursachten komplementären Distribution zueinander stehen. Beispielsweise das harte [ ɬ ] im englischen Wort deal und das teilweise weiche [ l j ] in sleep sind die Allophone des englischen liquiden Konsonantenphonems / l/ . Ihre Erscheinung ist positionell bedingt - die erste Variante wird im Englischen vor dem Vokal der vorderen Reihe [і], die zweite nach den Vokalen der hinteren Reihe [u, a, o] gebraucht. Jakobson (1971) schlug folgende Herangehensweise vor: Nicht die Phoneme selbst, sondern ihre Merkmale erfüllen bedeutungsunterscheidende Funktion. Unter anderem die Unterscheidung nach der Stimmlosigkeit/ Stimmhaftigkeit ist nicht nur den slawischen Sprachen eigen, sondern auch den germanischen. Eine wichtige Schlussfolgerung der Strukturalisten der Prager Schule gründete sich im Leitsatz darüber, dass das Phonem ein Bündel bedeutungsunterscheidender Merkmale ist. Phoneme können nicht nur nach der Stimmlosigkeit/ Stimmhaftigkeit wie die Verschlusslaute [t] - [d], sondern auch nach der Artikulationsweise [d] - [s] gegenübergestellt werden. Jakobson (1971) formulierte als erster die Hypothese darüber, dass eine streng beschränkte Anzahl von universalen differenzierenden Merkmalen existiert, die als bedeutungsunterscheidend in verschiedenen Sprachen der Welt auftreten. Die Ergänzung einer solchen Liste von Merkmalen gehöre zu den wichtigsten Aufgaben eines gegenwärtigen Phonologen. Der zweite bedeutende Leitsatz des Strukturalismus betraf die Binarität der differenzierenden Merkmale. Jedes Merkmal kann nur zwei Bedeutungen haben: plus und minus. Beispielsweise wird das Phonem / d/ mit Vorhandensein der Stimmhaftigkeit [+stimmhaft], der Verschlusslaut [t] mit [-stimmhaft] um- Phonologische Oberflächen- und Tiefenstruktur 147 schrieben. Dabei ist jegliche Abstufung eines entsprechenden Merkmals ausgeschlossen. 3 Lineare generative Phonologie Chomsky/ Halle (1991) fassten in ihrem Buch „The Sound Pattern of English“ die Grundgesetze der allgemeinen Theorie der generativen Grammatik in Worte. Die lautliche Seite dieser Theorie wurde in den USA im Rahmen der generativen Phonologie entwickelt, deren wichtigste These darauf fußt, dass ein Großteil der Sprachkenntnisse aus Kenntnissen der universalen Grammatik besteht. In diesem Zusammenhang ist Sprachenlernen ein Bestandteil der kognitiven Wissenschaften. Die wichtigste Aufgabe der generativen Phonologie ist die Suche nach und die Aussonderung der universalen Prinzipien, die den Aufbau von Lautsystemen der Sprachen der Welt und die Modellierung des Lautsystems des menschlichen Artikulationsapparats schlechthin bestimmen. Die lautliche Struktur einer jeden Sprache kann als Erzeugnis der Oberflächendarstellung des Wortes (S-Structure) aus einer abstrakten Tiefendarstellung (D-Structure) mithilfe von konsequenten phonologischen Regeln beschrieben werden (Veith 1972: 81ff.). Die verschiedenen Aussprachevarianten eines Wortes werden als seine Oberflächenstrukturen bezeichnet; sie können mit der Tiefenstruktur identisch sein, sich aber auch davon unterscheiden, z.B. dt. Tag - [ta: k]. Solche Änderungen sind durch phonologische Regeln hervorgerufen (in diesem Fall z.B. durch die Auslautverhärtung verursacht). Die generative Phonologie erbte vom Strukturalismus den Leitsatz, dass die einzelnen Phoneme aus differenzierenden Merkmalen bestehen, die universal für alle Sprachen sind und den Großteil der universalen Grammatik darstellen. Die Beschreibung des phonologischen Systems einer Sprache läuft darauf hinaus, dass eine Liste von konkreten Sprachregeln zusammengestellt wird, mit deren Hilfe die Oberflächenstrukturen aus den Tiefenvorstellungen hervorgehen. Beim Beherrschen der Regeln (z.B. Auslautverhärtung) kann vorhergesehen werden, welche Variante eines Wortes im Sprachkontext vorkommen wird. Muttersprachler kennen eine Regel anstatt einer unendlichen Variantenliste für jedes Wort. Hinzu kommt, dass es ähnliche Regeln in verschiedenen Sprachen der Welt gibt. Jedoch verlangt die Theorie der generativen Grammatik, dass die phonologischen Regeln in einer Reihenfolge wirken und der Muttersprachler muss sich nicht nur die Regeln, sondern auch die Reihenfolge ihres Gebrauchs merken. Die Regeln schaffen oder vernichten die Bedingungen, die für ihre Wirkung nötig sind. Im Polnischen beispielsweise erleidet der Vokal / о/ im Auslaut vor einem stimmhaften Konsonanten eine Modifikation nach der Zun- 148 Oleksandr Rudkivskyy genhebung bis zum [u], z.B. Rzeszów - [' ʒ ε ʃ uf]. Wenn aber der stimmhafte Konsonant zuerst entstimmlicht wird, so findet keine Modifikation nach der Zungenhebung statt, z.B. rog - [rok]. Ein Nachteil der generativen Phonologie liegt darin, dass sie nicht imstande ist vorherzusehen, welche lautlichen Gesetzmäßigkeiten in natürlichen Sprachen unmöglich sind und welche Gesetzmäßigkeiten für fast alle Sprachen typisch sind. Die Formulierung der phonologischen Regeln hängt davon ab, welche Phoneme modifiziert werden, denn eben die Phonemstruktur und ihre bedeutungsunterscheidenden Merkmale bilden für die Regeln die Grundlage des Formalismus. 4 Theorie der autosegmentalen (nichtlinearen) Lautdarstellung In der nichtlinearen Phonologie werden die lautlichen Gesetzmäßigkeiten durch die innere Struktur von einzelnen Phonemen und ihren Verbindungen bestimmt. Die Modellierung der phonologischen Struktur der Wörter verdrängte vollständig die Konzeption der phonologischen Regeln. Aus der linearen Phonologie wurde nur die These darüber vererbt, dass das Phonem und seine Allophone ein Bündel von bedeutungsunterscheidenden Merkmalen bilden. Um die taxonomische Phonologie von Trubeckoj (1960), van Dijk (1989) und Hocket (1955) im Aspekt von Chomskys/ Halles (1991) und Harms ʼ (1968) generativer Phonologie umzudenken, muss man verstehen, dass das Ergebnis der phonologischen Analyse nicht nur das Phoneminventar und die nicht amplikativen Tabellen der Phonemdistribution sind, die mit Berücksichtigung jeglicher Redundanz dargestellt sind. In den wissenschaftlichen Abhandlungen von Vorgängern der Generativisten wurde an der Entwicklung des Regelsystems des Beschreibungsmodells vom inneren Mechanismus einer beliebigen Sprache gearbeitet. Beispiele dazu sind die Untersuchungen von Chomsky/ Halle (1991) im Englischen und die von Wurzel (1970) in der deutschen Sprache. In diesen Arbeiten wurde der Versuch unternommen, die Generierungsregeln für das basierende Beschreibungssystem festzulegen und somit war der Weg für die Feststellung der intersystemaren phonologischen Verhältnisse im Rahmen der modifizierten generativen Phonologie bestimmt. In der intersystemaren generativen Phonologie hat man dagegen zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur unterschieden, wobei die phonologische Oberflächenstruktur aus den aktuellen phonetischen Sequenzen besteht. Die Tiefenstruktur macht die phonologische Repräsentation der Lexikon-Formative, d.h. der Wörter, aus. Die distinktiven Merkmale sind nach Jakobson (1971) Bestandteile der Tiefenstruktur (siehe Abb. 1). Phonologische Oberflächen- und Tiefenstruktur 149 Abb. 1: Tiefen- und Oberflächenstruktur der Ausdrucks- und Inhaltsseite (Veith 1972: 83) Wie oben ersichtlich, bilden die Inhaltskomplexe die Oberflächenstruktur des Inhalts und die Ausdruckskomplexe die Oberflächenstruktur des Ausdrucks. Die Distinktivitätskomplexe der Inhaltskomplexe machen die Tiefenstruktur des Inhalts aus und die Distinktivitätsmerkmale der Ausdruckskomplexe erläutern die Tiefenstruktur des Ausdrucks. Im infrasystemaren Gesamtmodell lassen sich solche sprachlichen Beschreibungsebenen der Inhalts- und Ausdrucksseite darstellen: 150 Oleksandr Rudkivskyy ⁞ (7) inziseologische (6) sentenzeologische (5) klauseologische (4) phraseologische (3) lexikologische (2) morphologische (1) phonologische (Veith 1972: 87). Die Einheiten jeder Beschreibungsebene sind mit den Einheiten anderer Beschreibungsebenen terminologisch abgestimmt. Bei der syntagmatischen Betrachtung auf der tiefsten Beschreibungsebene zerfallen die Phonitotagmiten in Phonite. Auf der oberen Beschreibungsebene sind Morphitotagmiten platziert, die sich in Morphiten, Lexikotagmiten in Lexiten, Phrasitotagmiten in Phrasiten, Klausitotagmiten in Klausiten, Sentenzitotagmiten in Sentenziten einteilen lassen. In ihrer Gesamtheit bilden sie die Inzisiten (Veith 1972: 87). In Abbildung 2 wurde ein Versuch unternommen, die Oberflächenstruktur der Ausdrucksseite des Satzes „Verschiedene Prozesse sind in der ukrainischen Hauptstadt Kiew verlaufen“ darzustellen. Dabei hat man sich auf die klauseologische, die lexikologische und die morphologische Beschreibungsebene beschränkt. Die Symbolbezeichnungen, z.B., μτ 16 und μτ 17 , verweisen auf die Bildung durch die Tagmiten einer höheren Ebene und umgekehrt die Zerlegung solcher Einheiten in die Tagmiten einer nächsten, tieferen Beschreibungsebene. So bilden die Morphitotagmiten μτ 15 und μτ 16 die Komponenten des Lexiten „Kiew“. Dieser Lexit gehört mit den Lexiten „Haupt-“ und „-stadt“ zum Lexikotagmiten λτ 7 „Hauptstadt Kiew“, der zusammen mit den Lexikotagmiten λτ 4 , λτ 5 , λτ 6 die Bestandteile des Phrasiten „in der ukrainischen Hauptstadt Kiew“ bildet. Phonologische Oberflächen- und Tiefenstruktur 151 Abb. 2: Syntagmatisches Modell der Oberflächenstruktur 5 Fazit Der Beitrag lieferte einen Überblick über grundlegende phonologische Theorien. Abschließend lässt sich feststellen, dass die Oberflächen- und Tiefenstrukturen zur linearen Beschreibung des Phonemsystems gut geeignet sind. Außerdem sollte auf das Konzept der phonologischen Regeln und Vorstellungen verzichtet werden und die Zuwendung zur Bildung der endgültigen Formen gefunden werden. Es ist anzufügen, dass die Gesetze der Harmonie jeweils sprachspezifisch sind. 152 - Oleksandr-Rudkivskyy- 6-- Literatur- Chomsky,-Noam/ Halle,-Morris-(1991): -The-sound-pattern-of-English.-London-u.a.- Harms,-Robert-T.-(1968): -Introduction-to-phonological-theory.-New-Jersey.- Hockett,-Charles-F.-(1955): -A-manual-phonology.-Memoir-11.-Baltimore.- Jakobson,- Roman/ Halle,- Morris- (1971): - Fundamentals- of- language.- Second,- revised- edi‐ tion,-second-printing.-New-York-u.a.-- Saussure,-Ferdinand-de-(2001): -Grundfragen-der-allgemeinen-Sprachwissenschaft.-Hrsg.- von- Charles- Bally- und- Albert- Sechehaye- unter- Mitwirkung- von- Albert- Riedlinger.- Übersetzt-von-Herman-Lommel.-3.-Aufl.-Mit-einem-Nachwort-von-Peter-Ernst.-Berlin- u.a.-(De‐Gruyter‐Studienbuch).- Trubeckoj,-N.-S.-(2000): -Osnovy-fonologii.-Moskva.-- van- Dijk,- Teun- A.- (Hrsg.)- (1989): - Dimensions- of- discourse.- London- u.a.- (Handbook- of- discourse-analysis; -2).-- Veith,- Werner- H.- (1972): - Intersystemare- Phonologie.- Exemplarisch- an- diastratisch‐dia‐ topischen-Differenzierungen-im-Deutschen.-Berlin-u.a.- Wurzel,- Wolfgang- Ullrich- (1970): - Studien- zur- deutschen- Lautstruktur.- Berlin.- (Studia- grammatica; -8).-- Zubrickaja,- E.- (2002): - Fonologija.- In: - Kibrika,- A.- A./ Kobozejov,- I.- M./ Sekerinoj,- I.- A.- (Hrsg.): -Sovremennaja-amerikanskaja-lingvistika.-Fundamentaľnye-napravlenija.-Izd.- vtoroe,-ispravl.-i-dopoln.-Moskva.-S.-168  206.- Fachsprachenvermittlung im fachbezogenen Deutschunterricht an russischen technischen Universitäten Nassima Scharafutdinowa (Uljanowsk) Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag behandelt didaktisch-methodische und linguistische Aspekte des fachbezogenen Fremdsprachenunterrichts für Ingenieur-Studenten und gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Stand des fachorientierten studienbegleitenden DaF- Unterrichts an russischen technischen Hochschulen anhand des Beispiels der TU Uljanowsk. Dort stehen bei der Gestaltung des berufsbezogenen DaF-Unterrichts und der Vermittlung von Fachsprache Aspekte wie Auswahl der Texte, Fachtextarbeit, Arbeit am Fachwortschatz, Arten der Fachlexik, Haupttendenzen in der Entwicklung des Fachwortschatzes, Vermittlung einer fachkommunikativen Übersetzungskompetenz sowie klassische und neue Medien im fachbezogenen Deutschunterricht im Vordergrund. Etwas ausführlicher werden in diesem Beitrag Arten der Fachlexik und Tendenzen in der Entwicklung des Fachwortschatzes betrachtet, da die Arbeit am Wortschatz grundlegend für den fachbezogenen Deutschunterricht ist. Als Beispiel dient die Fachsprache des Flugzeugbaus. 1 Einleitung Die Sprache, die in wissenschaftlich-technischen Zusammenhängen verwendet werden soll, unterscheidet sich von der literarisch orientierten Sprachform (Steinmüller 1998: 45). Dies erfordert eine spezifische Organisation des Fremdsprachenunterrichts, in dem fachsprachliche Lexik und für wissenschaftlichtechnische Texte typische grammatische Strukturen vermittelt und fachbezogene Konzepte für den Fremdsprachenunterricht entwickelt werden sollen (Scharafutdinowa 2004: 197). Ziel dieses Beitrags ist es, einen Einblick in den gegenwärtigen Stand des fachbezogenen Fremdsprachenunterrichts an russischen technischen Hochschulen zu geben und seine wichtigsten Bestandteile herauszufiltern bzw. zu beschreiben. Am Beispiel des Fremdsprachenunterrichts an der Fakultät für Luftfahrt der Staatlichen Technischen Universität Uljanowsk wird behandelt, 154 Nassima Scharafutdinowa wie die deutsche Fachsprache des Flugzeugbaus den Ingenieur-Studenten 1 vermittelt wird. Die Staatliche Technische Universität Uljanowsk ist eine der größten technischen Hochschulen Russlands und eines der führenden wissenschaftlichen Zentren im Wolgagebiet. An sieben Fakultäten studieren dort heute mehr als 14.000 Studenten. Bei der Anzahl der Fremdsprachenstudenten an der TU Uljanowsk steht Deutsch nach Englisch an zweiter Stelle. 30 % der Studenten lernen Deutsch als erste Fremdsprache, viele als Folgesprache nach Englisch. An den russischen Hochschulen und Universitäten studiert man in Studiengruppen von etwa 25 Personen. Studierende einer Fachgruppe besuchen vom ersten bis zum letzten Studienjahr gemeinsam Pflichtvorlesungen, Seminare und praktische Übungen. Für den obligatorischen universitären Fremdsprachenunterricht werden die Studenten in zwei Gruppen unterteilt (z.B. Gruppe für Deutsch bzw. Englisch). Die fachlich spezialisierte Lerngruppe (bestehend aus höchstens 15 Teilnehmern) ermöglicht es, den Fremdsprachenunterricht überwiegend fachbezogen und am künftigen Beruf orientiert zu gestalten. 2 Auswahl der Texte für den fachbezogenen Deutschunterricht Für den fachbezogenen Deutschunterricht sind Fachtexte aus folgenden Quellen praxisrelevant und von großem Nutzen: Fachzeitschriften, Werbeprospekte, in Deutschland herausgegebene und für deutsche Studierende bestimmte Hoch- oder Fachschullehrbücher mit Überblickscharakter sowie Interviews und Berichte erfahrener Ingenieure und sonstiger Fachleute. Hoffmann (1985: 246) empfiehlt ein Verhältnis von 60 % zu 40 % zwischen Lehrbüchern und Zeitschriften. Die Lehrbuchtexte sollen „dem Lerner unbekannte, jedoch zugängliche Probleme enthalten, […] die vielmehr Spannung erzeugen, Interesse wecken, zum genauen Lesen der Texte motivieren und eine Kommunikation herausfordern, in deren Verlauf die Lösung der Probleme reift“ (Steußloff 1993: 242). Es ist auch zu bemerken, dass Satzkonstruktionen in Lehrbuchtexten einfacher sind als in Zeitschriftenartikeln und anderen schriftlichen Textsorten. Daher ist es sinnvoll, beim Fachsprachenlernen mit Lehrbuchtexten zu beginnen. Heute sind sich Sprachwissenschaftler darüber einig, dass innerhalb des Fachwortschatzes zwischen Fachterminologie und nichtterminologischem fachlichen Wortschatz zu unterscheiden ist. In Fachzeitschriften wird ein großes Inventar an Fachwortschatz benutzt, nicht nur Termini, sondern beispiels- 1 Im Folgenden wird die männliche Form aufgrund der besseren Lesbarkeit stellvertretend für beide Geschlechter verwendet. Fachsprachenvermittlung im Deutschunterricht 155 weise auch Professionalismen, Nomenklaturbenennungen, Pragmonyme und Terminoide (Šarafutdinova 2006: 180ff.). Deswegen lernt man im Deutschunterricht nicht nur den Gebrauch der Termini, sondern auch den der Professionalismen und anderer Arten der Fachlexik. 3 Arten der Fachlexik Den Kern und Hauptteil der fachsprachlichen Lexik bildet die Terminologie, die das System der Termini eines bestimmten Fachgebietes oder Fachwissens darstellt. Termini sind standardisierte offizielle Fachwörter, die Fachbegriffe benennen. Es ist wichtig, Termini von anderen Arten der Fachlexik abzugrenzen, insbesondere von den Professionalismen und Nomenklaturbenennungen. Unter einem Professionalismus verstehen wir „eine halboffizielle, nichtstandardisierte Benennung eines Fachbegriffes, die in der Berufssprache unter den Fachleuten eines Fachbereichs verwendet wird, z.B. Ultraleichter anstelle des Terminus Ultraleichtflugzeug, Einmot anstelle des Terminus einmotoriger Flugzeug, Zweisitzer anstelle des Terminus zweisitziges Flugzeug, Zweistrahler anstelle des Terminus Zweistrahlflugzeug usw.“ (Scharafutdinova 2001: 116, Hervorhebungen im Original). Nomenklaturbenennungen sind durch den Verlust des Verhältnisses „Wort - Begriff“ gekennzeichnet. Im Unterschied zu den Termini, die allgemeine wissenschaftliche Fachbegriffe bezeichnen, benennen die Nomenklaturelemente einzelne oder in Serie hergestellte Objekte eines wissenschaftlichen/ technischen Fachbereichs. In der Fachsprache der Technik sieht die Nomenklaturbezeichnung wie ein Symbolwort aus, z.B.: Tu-204, Fokker 50, Boeing 737-900, Junkers Ju 52. Im Unterschied zu russischen technischen Texten wird in deutschen Texten vor der Nomenklatur der Name der Herstellerfirma oder des Konstrukteurbüros angeführt, z.B.: Beriev Be-200, Bombardier BRJ-X, Junkers JU 52, Mikojan Gurevič Mig-21 MF. 2 Als Pragmonyme werden Eigennnamen bezeichnet, die Herstellerfirmen ihren Erzeugnissen zu kommerziellen Werbezwecken geben. Pragmonyme sind durch Expressivität und Bildhaftigkeit gekennzeichnet. Sie haben die Aufgabe, die Vorteile und Vorzüge des technischen Erzeugnisses wiederzugeben. In der Fachkommunikation werden sie von Fachleuten verwendet, um technische Erzeugnisse ähnlicher Machart präzise zu bestimmen, z.B. Osprey, der Name ei- 2 Die in diesem Beitrag genannten Beispiele für im DaF-Unterricht verwendete Termini und fremdsprachliche Fachtexte wurden den folgenden Zeitschriften und Monographien entnommen: Adam (1998), Götsch (2000), Flieger-Revue (2000-2012), Fliegermagazin (2000-2012), Flug-Revue (2000-2012). 156 Nassima Scharafutdinowa nes amerikanischen Kampfflugzeuges, das senkrecht starten und landen kann (engl. osprey für ,Fischadler‘, ein Wasservogel, der senkrecht abfliegen und landen kann). Terminoide haben keine feste Form und eindeutige Definition, z.B.: Lufttaxi. Die meisten der Terminoide stellen Beschreibungen dar. Im fachbezogenen Deutschunterricht sollte berücksichtigt werden, dass diese fünf Arten fachspezifischer Lexik nicht in gleichem Maße in den von uns genannten Textsorten vorkommen. In Fachzeitschriftenartikeln, wissenschaftlichen Vorträgen und Werbeprospekten sind alle Arten des Fachwortschatzes anzutreffen. In Lehrbüchern und offiziellen Dokumenten wie Verträgen oder technischen Anleitungen fehlen Professionalismen und Terminoide, Pragmonyme werden seltener verwendet als in anderen Fachtextsorten. 4 Fachtextarbeit im Deutschunterricht Die Fachtextarbeit beginnt mit berufsbezogenen Texten, die wenige Termini und fachspezifische lexikalische Einheiten enthalten. Mit jeder Unterrichtsstunde und mit jedem Text wächst die Frequenz fachspezifischen Wortschatzes. Dabei sollten lange Texte gekürzt, jedoch sprachlich nicht vereinfacht werden. Informationsreiche und wissenschaftlich interessante Texte sind nicht nur für das Lesen und Übersetzen, sondern auch für die Entwicklung der Sprechfertigkeiten zu wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Themen ausgezeichnet geeignet. Die Kursteilnehmer äußern sich meist gern zu fachlichen Themen und versuchen in der Fremdsprache ihre Meinung argumentativ zu untermauern. Texte mit Beschreibungen neuer oder unkonventioneller Modelle und Technologien, die das Interesse der Studierenden wecken, sowie aktuelle Texte, die echte Problemstellungen enthalten, sind für den Sprachunterricht besonders gut geeignet. Bei der Vermittlung der gesprochenen Fachsprache werden überwiegend von deutschen Professoren gehaltene und auf Video aufgezeichnete Vorlesungen eingesetzt, die in Deutschland oder Russland stattfanden. Sie werden im Unterricht verwendet, um bei den Studenten die Fertigkeiten Hörverstehen, Sprechen und Dolmetschen im Bereich der Fachsprache zu entwickeln sowie um die Lernenden mit der realen mündlichen Fachkommunikation vertraut zu machen. Fachsprachenvermittlung im Deutschunterricht 157 5 Arbeit am Fachwortschatz Wenn auch die Fachsprache nicht auf den Fachwortschatz reduziert werden darf, steht doch fest, dass die Arbeit am Wortschatz im Fachsprachenunterricht im Vordergrund steht. Der zu übende Fachwortschatz muss durchschaubar gemacht werden. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung der Kompetenz, sich unbekannte Wörter bzw. Begriffe rational zu erschließen. Zu diesem Zweck illustriert man Begriffe und Wörter durch Beispiele, Bilder, Tabellen und metaphorische Visualisierung. Anders gesagt, fachsprachliche Lexik wird zunächst durch ein „Durchschaubarmachen“ vermittelt. In modernen Fremdsprachenlehrwerken für Technikwissenschaften wird großer Wert auf den systematischen Erwerb des Fachwortschatzes gelegt. Die Aufgaben und Übungen zum Wortschatz sollen die Lernenden dazu anregen, den Wortschatzerwerb auf Grundlage einer systematischen Analyse selbständig zu organisieren (Kuznecova/ Löschmann 2008: 55). Systematisierung dient dazu, den komplexen Fachwortschatz besser zu durchdringen und ihn sich effizient einzuprägen. Es ist dabei von großem Nutzen, ein Glossar wichtiger Fachbegriffe zum Thema zusammenzustellen. Es gibt verschiedene Übungstypen für die Wortschatzarbeit mit fremdsprachlichen Fachtexten. Einige Beispiele:  Schreiben Sie Ihnen unbekannte oder unverständliche Wörter aus dem Text heraus und versuchen Sie, sie im Partnergespräch zu klären, auch unter Zuhilfenahme eines Wörterbuchs oder Fachlexikons.  Schreiben Sie fünf (zehn, …) zentrale Begriffe oder Formulierungen aus dem Text heraus und begründen Sie Ihre Auswahl.  Sammeln Sie Stichwörter und Formulierungen aus dem Text zu folgenden Fragestellungen:  Wo und von welchen Partnern wurde der Tragflügel der Antonov An- 124 entwickelt und gebaut?  Aus welchem Material besteht der Tragflügel der Antonov An-124?  Wie funktioniert der Tragflügel?  Welche Wortteile passen zusammen?  Was bedeuten die zusammengesetzten Substantive, die Sie im Text gefunden haben?  Zerlegen Sie die Komposita, die Sie im Text gefunden haben, in ihre Bestandteile und bilden Sie neue Komposita, auch unter Verwendung neuen Wortmaterials.  Welche Beobachtungen können Sie dabei machen? 158 Nassima Scharafutdinowa  Was lernen Sie dabei über die Zusammensetzung von Wörtern im Deutschen?  Erkennen Sie bei Substantiven eine Regelmäßigkeit des Artikelgebrauchs?  Wie heißt das Gegenteil zu den folgenden Wörtern aus dem Text?  Finden Sie Wörter mit ähnlicher Bedeutung zu folgenden Wörtern aus dem Text. Während der Fachtextarbeit ist nicht nur die fachspezifische, sondern auch die allgemeinwissenschaftliche und allgemeintechnische Lexik zu behandeln, denn sie bilden in den Fachtexten etwa 80 % des lexikalischen Gesamtbestandes. Es ist sehr wichtig, die Studierenden mit Wortbildungsmodellen und Haupttendenzen in der Entwicklung des Fachwortschatzes (Scharafutdinowa 2001: 115ff.) vertraut zu machen, damit sie neue Fachwörter im Text gleich erkennen und ihre Bedeutung schneller erschließen können. 6 Haupttendenzen in der Entwicklung des Fachwortschatzes Kenntnisse über die Haupttendenzen in der Entwicklung des Fachwortschatzes erleichtern das Erkennen neuer Fachwörter im Text und das Erschließen ihrer Bedeutung. Aus diesem Grund widmet man diesem Bereich im berufsbezogenen Deutschunterricht besondere Aufmerksamkeit. Als Haupttendenzen in der Entwicklung des Fachwortschatzes sind zu nennen: Tendenz zur Kürzung, Tendenz zur Motivation, Entlehnungen aus der englischen Sprache (Scharafutdinowa 2001: 115ff.). 6.1 Tendenz zur Kürzung Da in gegenwärtigen Fachtexten oft Kurztermini vorkommen, ist es wichtig, im fachbezogenen Deutschunterricht zu behandeln, durch welche Verfahren deutsche Termini gekürzt werden können. Diese Kenntnisse erleichtern den Studierenden, Abkürzungen als übliche Termini zu identifizieren bzw. diese richtig zu erkennen. Den Studierenden sollten verschiedene Modelle der Kürzung von Fachwörtern bzw. der Kurzwortbildung aufgezeigt werden:  Eliminierung sowohl der Grundkomponente als auch des Endteils des determinierenden Erstgliedes und Hinzufügung des Suffixes -er, z.B.: Segler ← Segelflugzeug, Jäger ← Jagdflugzeug, Bomber ← Bombenflugzeug, Schlepper ← Schleppflugzeug; Fachsprachenvermittlung im Deutschunterricht 159  Eliminierung der determinierenden Komponente des Terminus, z.B.: Kanal ← Windkanal;  Eliminierung der Grundkomponente, z.B.: Strahlturbine ← Strahlturbinentriebwerk, Turbofan ← Turbofan-Triebwerk, Turboprop ← Turboproptriebwerk;  Eliminierung der Grundkomponente und des Endteils der determinierenden Komponente, z.B.: Einmot (f) ← einmotoriges Flugzeug, Zweimot (f) ← Zweimotorenflugzeug, zweimotoriges Flugzeug;  Eliminierung eines Mittelements des Terminus, z.B.: Infrarot- Suchkopf ← Infrarotzielsuchkopf, Radarsuchkopf ← Radarzielsuchkopf;  Eliminierung des Endteils eines einfachen Terminus, auf solche Weise entstehen sogenannte Kopfwörter, z.B.: Akku (m) ← Akkumulator, Prop (m) ← Propeller, Heli (m) ← Helikopter, Vario (m) ← Variometer;  Buchstaben- und Silben-Kurzwortbildung, z.B.: VPS ← Vakuum- Plasma-Spritzen, DFS ← Deutsche Flugsicherung, Jabo ← Jagdbomber, Fusta ← Funkstation. Zur Übung des Materials sind folgende Aufgaben gut geeignet:  Nennen Sie Kurztermini im gelesenen Text.  Von welchen Termini stammen die Abkürzungen?  Wie heißen folgende Kurztermini offiziell? Akku, Aufklärer, Schlepper, Turbofan, Turbopumpe, Ultraleicht, Zweisitzer, Turbinenrad, Heli, Zweimot, Fluglageregler. 6.2 Tendenz zur Motivation Motivierte Termini haben einen kommunikativen Vorteil, weil sie wegen ihrer Durchschaubarkeit gedächtnisstützend sind. Ihre Durchschaubarkeit erreicht man durch semantische (metaphorische Übertragung, metonymische Übertragung, Einengung der Bedeutung des gemeinsprachlichen Wortes), morphematische und graphische Motivationsverfahren (Scharafutdinowa 2001: 119ff.). Folgende Beispiele illustrieren den Studierenden diese Verfahren:  metaphorische Übertragung, z.B.: Flugboot, Sternmotor, Möwenflügel, Antennenarm;  metonymische Übertragung, z.B.: Vereisung, Auslegung (Benennung der Tätigkeit - Benennung des Tätigkeitsergebnisses); 160 Nassima Scharafutdinowa  Einengung der Bedeutung des gemeinsprachlichen Wortes, z.B.: Brett → Instrumentenbrett;  morphematisches Verfahren (dabei spielen Suffixe, Präfixe und Affixoide eine wichtige Rolle), z.B.: Vorflügel - ,der Maschinenteil, der vor der Tragfläche angeordnet ist‘;  definitorisches Verfahren, bei dem die Wortbildungsstruktur des Terminus den Begriffsinhalt motiviert und seiner Definition ähnlich ist, z.B.: Kriegsflugzeug: ,für den militärischen Front bestimmtes Flugzeug‘.  graphisches Verfahren, z.B.: V-Form, M-Flügel, T-Leitwerk, T-Profil. Es gibt auch polymotivierte Termini, die als Ergebnis mehrerer Motivierungsverfahren zu betrachten sind. Die erworbenen Kenntnisse über Motivationsverfahren der Termini sollen im Unterricht geübt werden, z.B. anhand folgender Aufgaben:  Versuchen Sie folgende Termini zu erläutern: Unterflügeltank, Rippe, Flugboot, Fahrwerksbein, V-Leitwerk, S-Profil, D-Stecker, Pilotensitz, Rumpftür, Kabinenboden, Ölreiniger, Nachtflug.  Welche Fachwörter im Text sind motiviert? Schreiben Sie sie heraus.  Welche von den herausgeschriebenen Termini verstehen Sie anhand der Wortbildungsstruktur?  Durch welche Verfahren sind die meisten Fachwörter in diesem Text motiviert? 6.3 Englische Entlehnungen Da in gegenwärtigen Fachtexten immer mehr Anglizismen verwendet werden, sollte das Einwirken des Englischen auf die deutsche Fachsprache im Unterricht betrachtet werden. Anglizismen erschweren den Studierenden das Lesen und Verstehen der Fachtexte, insbesondere wenn sie nicht gelernt haben, englische Entlehnungen zu erkennen. Im fachbezogenen Deutschunterricht werden häufig vorkommende Anglizismen übersetzt, geübt und ihre deutschen Äquivalente genannt. In schwierigen Fällen wird den Studierenden empfohlen, englisch-deutsche oder englisch-russische Fachwörterbücher zu benutzen. Große Aufmerksamkeit wird der Fachwortbildung anhand von Anglizismen geschenkt, weil in der deutschen Fachsprache viele hybride Termini funktionieren, in denen deutsche Fachwörter oder Wortkomponenten mit englischen Wörtern bzw. Komponenten kombiniert werden, vgl. z.B. Cockpitausstattung statt Kabinenausstattung. Der Anteil der hybriden Termini, in denen eine der Fachsprachenvermittlung im Deutschunterricht 161 Komponenten ein Anglizismus ist, wächst ständig; z.B. die Ultraleicht - Ultralight der Composite-Tiefdecker. Im Deutschunterricht wird den Studierenden anhand von Fachtexten erklärt, dass entlehnte englische Substantive in der deutschen Sprache großgeschrieben, dekliniert und mit entsprechendem Artikel erweitert werden, z.B.: des Sonic Cruisers. 7 Zur Vermittlung einer fachkommunikativen Übersetzungskompetenz Zum Inhalt fachbezogenen Deutschunterrichts gehören unter anderem Übungen im technischen Übersetzen. Die Übersetzungsfertigkeiten der Kursteilnehmer werden ab dem zweiten Semester konsequent gefördert. Zur fachlichen Übersetzung ist sowohl Sprachwissen als auch Fachwissen notwendig. Im Fachübersetzungsunterricht wird die fachkommunikative Übersetzungskompetenz vermittelt, die aus der fachkundlichen Kompetenz, der fachsprachlichen Kompetenz und der Übersetzungskompetenz aufgebaut wird. Darüber hinaus lassen sich unter die im Fachübersetzungsunterricht zu vermittelnde fachkommunikative Übersetzungskompetenz noch folgende Momente subsumieren: Rezeption und Analyse des Originals; Formulierung eines Übersetzungsauftrages; Anfertigung eines schriftlichen oder mündlichen Translats (Šemetov 2006: 195ff.). Bei der Vermittlung der Übersetzungskompetenz ist es sehr nützlich, möglichst Fachleute der Ausgangs- und Zielkultur in den Übersetzungsprozess einzubinden. Beim technischen Übersetzen sind die Terminologie des Faches sowie die Bezeichnungs- und Textsortenkonventionen in Ausgangs- und Zielkulturen zu beachten (Horn-Helf 2009: 76f.). Darüber hinaus sind im technischen Übersetzen für technische Texte charakteristische grammatische Konstruktionen zu gebrauchen. Deswegen werden im Deutschunterricht alle grammatischen Schwierigkeiten zielführend gelernt und geübt, z.B. Passiv, erweitertes Attribut, Modalverben und Infinitivkonstruktionen. Die Übersetzungen der Studierenden werden analysiert und es wird an Fehlern gearbeitet. 8 Medien im fachbezogenen Deutschunterricht 8.1 Klassische Medien Im fachbezogenen Deutschunterricht werden sowohl traditionelle als auch modernere Formen der Unterrichtsgestaltung verwendet. Der Einsatz von klassischen Medien wie Tafel, Plakate, Arbeitsblätter oder Folien in der Ausbildung 162 Nassima Scharafutdinowa ist aus lernpsychologischen Gründen notwendig. Medien bieten die Chance, Lehr- und Lernprozesse qualitativ zu verbessern und effektiver zu gestalten, wenn sie gekonnt didaktisch und abwechslungsreich eingesetzt werden und allgemeinen Gestaltungsregeln folgen. Lehrende sollten daher über die Kompetenz verfügen, verschiedene Medien in Abhängigkeit vom Lerngegenstand sinnvoll einzusetzen und zur kompetenten Durchführung ihrer Lehrveranstaltungen einen gelungenen Medienmix auswählen. 8.2 Neue Medien Mit der Entwicklung der modernen Informationstechnologien entstehen neue Möglichkeiten beim Fremdsprachenerwerb. Die Möglichkeiten, die das Internet bietet, sind für die Lehre spannend und stellen ein Plus zu Lehrbüchern und Lehrveranstaltungen dar. Das Internet kann für das Erlernen einer Fremd- und Fachsprache sehr effektiv sein. Dafür gibt es mehrere Gründe. Das Internet ermöglicht, schnell und hochwertig neue Informationen über die neuesten Fortschritte in jedem Bereich der Wissenschaft und Technik zu bekommen. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Texten aus Büchern, die relativ schnell an Aktualität verlieren können, sind elektronische Texte meist neu und aktuell, wenn sie von den Autoren ständig erneuert werden. Deswegen sind in Internettexten auf fundierten wissenschaftlichen Portalen oft neuere Fakten und Informationen zu finden, die den heutigen Stand der Wissenschaft und Technik präsentieren. Im Internet können authentische Texte und die nötige Literatur zu bestimmten Lehrveranstaltungen oder zu bestimmten Themen aus verschiedenen Quellen (Zeitschriften, Zeitungen, Monographien, Lehrbücher) schnell verlinkt werden (Šarafutdinova 2013: 203). Das Internet eröffnet zudem Zugang zu den neuesten elektronischen Lehrbüchern und Nachschlagewerken, die oft in der Druckausgabe fehlen. Elektronische Lehrbücher enthalten die neuesten Texte, die mit lexikalischen, grammatischen und phonetischen Aufgaben und deren Lösungen ausgestattet sind. Es ist positiv, dass die Lösungen meist erst nach der Bearbeitung der Aufgaben angezeigt werden. Das Internet ist auch sehr nützlich für die Aktivierung der Sprechfertigkeiten sowie für die Entwicklung des Hörverstehens und der Schreibfertigkeiten. Das Hörverstehen wird vom Computer anhand verschiedener Aufgaben geprüft und objektiv bewertet und benotet. Neue Formen der Kommunikation per Internet ermöglichen die Teilnahme der Studierenden an der interkulturellen Kommunikation. Die Ausbildung an der TU Uljanowsk basiert auf einer breiten Anwendung neuer Informationstechnologien. Die Universität verfügt über ein Multimedia- Selbstlernzentrum, das allen Studierenden zahlreiche Möglichkeiten bietet, ih- Fachsprachenvermittlung im Deutschunterricht 163 re Sprachkenntnisse selbstständig zu erweitern. Es gibt Medien (Lehrbücher mit Begleitmaterialien, Filme, Zeitschriften und Zeitungen, Sprachlernsoftware, Hörbücher) in Deutsch und Englisch. E-Lehren bzw. E-Lernen hat weitere Vorteile, z.B. Motivationssteigerung, Lernerleichterung, Attraktivität, schnelles Studium, Kommunikation zwischen den vernetzten Kursteilnehmern und potenziellen Arbeitgebern, elektronisches Aufgabenerteilen und elektronische Aufgabenkontrolle. Jedoch kann das Internet den Lehrer beim Sprachenlernen nicht ersetzen. Nicht alle methodischen und didaktischen Strategien können ins globale Internet übertragen werden. 9 Schlusswort Die Berücksichtigung sowohl didaktisch-methodischer als auch linguistischterminologischer Aspekte im fachbezogenen Fremdsprachenunterricht an technischen Universitäten soll dazu beitragen, Ingenieure mit guten Deutschkenntnissen auszubilden. Ingenieure mit guten Fremdsprachenkenntnissen und guter Fachübersetzungskompetenz sind in allen Bereichen gefragt und haben bessere Berufsmöglichkeiten, denn Betriebe und Firmen brauchen heute vielseitig gebildete Fachleute, die mehrere Funktionen übernehmen können. Daher ist es wichtig, anhand einer gezielten Textauswahl den Studenten frühzeitig die verschiedenen Arten der Fachlexik aufzuzeigen und anhand der Fachtextarbeit dieses Wissen zu festigen. Die Haupttendenzen in der Entwicklung des Fachwortschatzes bestehen aus der Tendenz zur Kürzung, der Tendenz zur Motivation und englischen Entlehnungen (vgl. Kap. 6). Dies soll den Lernenden mit professioneller Arbeit am Fachwortschatz nahegebracht werden. Außerdem ist ein wichtiges Ziel, die Studenten zur eigenen Herleitung - beispielsweise von Abkürzungen - zu befähigen. Weiterhin soll die Übersetzungskompetenz gefördert werden und der gesamte Unterricht sollte anhand einer kompetenten Medienauswahl abwechslungsreich und motivierend gestaltet werden. Am Beispiel der Fachsprache des Flugzeugbaus, mit der sich die Ingenieur- Studenten der TU Uljanowsk beschäftigen, wurden im Sinne eines Praxisberichts die wichtigsten Bestandteile der Vermittlung von Fachsprache im fachbezogenen Deutschunterricht an russischen technischen Universitäten gezeigt. Die sprachbezogenen Aspekte der Fachsprachenvermittlung im DaF-Unterricht können auch auf andere Studienfächer übertragen werden und bieten so eine Orientierung für Lehrkräfte und Studierende. 164 Nassima Scharafutdinowa 10 Literatur Hoffmann, Lothar (1985): Kommunikationsmittel Fachsprache. Eine Einführung. 2., völlig neu bearb. Aufl. Tübingen. (Forum für Fachsprachen-Forschung; 1). Horn-Helf, Brigitte (2009): EN 15038 auf dem Prüfstand. Am Beispiel von vier praxisrelevanten Fachtextsorten. In: Bäcker, Iris (Hrsg.): Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 2009. Bonn u.a. S. 75 ‒ 100. Kuznecova, Nadežda G./ Löschmann, Martin (2008): Deutsch für Architekten. Arbeit am Fachwortschatz. In: Bäcker, Iris (Hrsg.): Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 2008. Bonn u.a. S. 47 ‒ 55. Šarafutdinova, Nasima S. (2006): Spezifika von Textsorten und ihre Berücksichtigung im fachorientierten studienbegleitenden Deutschunterricht. In: Bäcker, Iris (Hrsg.): Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 2006. Bonn u.a. S. 179 ‒ 191. Šarafutdinova, Nasima S. (2013): Weiterbildung der Germanisten im Fachübersetzen. In: Hegemann, Jens (Hrsg.): Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 2012/ 2013. Bonn u.a. S. 195 ‒ 205. Scharafutdinowa, Nassima (2001): Entwicklungstendenzen in der Lexik der deutschen Fachsprache des Flugzeugbaus. In: Zielsprache Deutsch 32. S. 115 ‒ 125. Scharafutdinowa, Nassima (2004): Rahmenbedingungen des Deutschunterrichts an russischen technischen Hochschulen: Fachsprache des Flugzeugbaus. In: Hess, Hans Werner (Hrsg.): Didaktische Reflexionen. „Berliner Didaktik“ und Deutsch als Fremdsprache heute. Tübingen. (Arbeiten zur Angewandten Linguistik; 3). S. 193 ‒ 207. Šemetov, Vladimir B. (2006): Das Fachübersetzen als didaktisches Problem. In: Bäcker, Iris (Hrsg.): Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland 2006. Bonn u.a. S. 193 ‒ 224. Steinmüller, Ulrich (1998): Sprachausbildung und Technologietransfer. Zur Bedeutung von Fremdsprachen für die Qualifikation von Ingenieuren und die internationale wissenschaftliche Kooperation. In: TU International 40/ 41. S. 44 ‒ 46. Steußloff, Renate (1993): Zur Motivierung ausländischer Studierender ingenieurwissenschaftlicher Fächer im DaF-Unterricht „Fachsprache der Mathematik“. In: Steinmüller, Ulrich (Hrsg.): Deutsch international und interkulturell. Aspekte der Sprachvermittlung Deutsch als Zweit-, Fremd- und Fachsprache. Frankfurt a.M. (Werkstattberichte/ Interkulturelle Forschungs- und Arbeitsstelle, Fachbereich Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften, Technische Universität Berlin; 5). S. 235 ‒ 244. Quellen Adam, Peter (1998): Fertigungsverfahren von Turboflugzeugtriebwerken. Basel/ Boston/ Berlin. Fliegermagazin (2000 ‒ 2012): Hamburg. Flieger-Revue (2000 ‒ 2012): Magazin für Luft und Raumfahrt. Berlin. Flug-Revue (2000 ‒ 2012): Das Luft- und Raumfahrt-Magazin. Stuttgart. Götsch, Ernst (2000): Luftfahrzeugtechnik. Stuttgart. …wie ein paar Jazzbesen, die in einem unglaublich langsamen Shuffle über die Haut der Trommel geführt werden. Über den Fachwortgebrauch im modernen Kriminalroman am Beispiel von ins Deutsche übersetzten Jo Nesbø-Texten 1 Wilhelm Schellenberg (Erfurt) Zusammenfassung Mit Blick auf Schnittstellen von wissenschaftlichem, populärwissenschaftlichem und narrativ-literarischem Sprachstil wird speziell der Frage nachgegangen, wie ein Kriminalroman-Autor/ Übersetzer 2 Fachwörter unterschiedlicher Bereiche in seinen Texten literarisch verarbeitet - gegenstandsbezogen im Rahmen von Kriminologie, zur Kolorit-Zeichnung (z.B. von Arbeitsfeldern bestimmter Figuren), als Element der Text- und Handlungsprogression, als Element seines Personalstils. Diese angewandt-linguistische Analyse einer spezifischen außerfachlich-peripheren Fachwortverwendung in Texten von Jo Nesbø kann zugleich als Anregung für die Arbeit am außerfachlichen Fachwortgebrauch im mutter- und fremdsprachlichen Deutschunterricht verstanden werden, die durch Einbeziehung der im Textmaterial zahlreich enthaltenen Informationen zu verschiedensten Kulturen noch bereichert werden kann. 1 Einstieg: Fachwortgebrauch im Erzähltext Die beiden Kernbegriffe des Kongresstitels legen es nahe, sich auch auf „klassische“ linguistische Dichotomien wie „Zentrum/ Peripherie des Sprachsystems“ (Prager Schule) 3 und „innere/ äußere Bezirke der Sprachwissenschaft“ (Saussure 1 Nesbø-Kriminalromane wurden bereits in mehr als 40 Sprachen übersetzt (Thörner: www.reihenfolge.info/ jo-nesbo; Stand: 03.05.2017), ins Deutsche seit zwölf Jahren von Günther Frauenlob. 2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit stehen im Folgenden „Autor, Leser“ usw. auch für „Autorinnen, Leserinnen“ usw. 3 Damit wird das Charakteristikum natürlicher Sprachen erklärt, dass ihre (Sub-)Systeme außer stabil verankerten auch lose eingebundene, nach Klassenzugehörigkeit, Begrifflichkeit unscharf/ vage bestimmbare Elemente enthalten. Letztere, mit geringer Frequenz und im Gebrauch schwankend, bilden oft Ausgangspunkte für sprachliche Veränderungen (z.B. Neuerungen). Insofern findet das Zentrum-Peripherie- 166 Wilhelm Schellenberg 1967) 4 zu besinnen und sie auf die hier fixierte Beobachtung des Fachwort-Gebrauchs im literarischen Text zu beziehen. So gesehen bildet der Fachwortschatz - im Verbund mit weiteren Zeichenklassen wie Abkürzungen, Namen, Lettern (Hahn 1983: 83) - das Zentrum, „das eigenständigste, hervorstechendste Merkmal der Fachsprachen“ (Fleischer/ Helbig/ Lerchner 2001: 461) und wird (quasi innerbezirklich) von der Fachsprachenforschung untersucht - nach Systemhaftigkeit (Zeichenspezifik, -relationen, -klassen mit Termini im Zentrum usw.), aber auch im Hinblick auf die Fachwort-Rolle für den Text: Denn Fachwörter sind relevante Konstituenten von Fachtexten, die ihrerseits wiederum die eigentlichen „Instrumente und Resultate der Fachkommunikation“ ausmachen (Hoffmann 1988: 119). In diesen Untersuchungsrahmen gehören auch Sachtextsorten mit Informations-, Lehr- und Anleitungsfunktion (Printtexte des Wissenschaftsjournalismus, TV-Magazine, Lehr-/ Benutzerhandbücher, Beipackzettel usw.). Die Fachwort-Verarbeitung im belletristischen Text zu untersuchen liegt hingegen vor allem im textlinguistischen bzw. linguostilistischen Interesse und so an der Peripherie Saussurescher Prägung. Diese Zuschreibung indiziert, dass die vorliegende Studie nicht unmittelbar auf Theoriegewinn zum Problemkreis Fachlexik/ -text zielt, sondern den Facettenreichtum belletristisch nuancierten Fachwortgebrauchs exemplarisch demonstrieren und anhand solider theoretischer Grundlagen interpretieren will, die in den nächsten Abschnitten zunächst allgemein skizziert (Fachwortwesen, Explikation im Text, literarischer Stil, Genre Kriminalroman u.a.) und weiter unten anhand von Beispielen aus Nesbø-Texten so erörtert werden sollen, dass sie auch für den muttersprachlichen und fremdsprachlichen Deutschunterricht Gewinn bringen können. Prinzip auch „bei der Lösung von Problemen der Sprachkultur und des Sprachunterrichts seine Anwendung, so vor allem bei der Kodifizierung der Norm“ (Daneš 1982: 142, 149). Von hier aus sind etwa Termini als zentrale Elemente von Fachsprachsystemen zu fassen. 4 Saussure unterscheidet beide Sprachwissenschaftsbezirke nach Inhalt und Methoden: Das System macht den Kernbereich sprachwissenschaftlicher Arbeit aus, in ihren äußeren Bezirken untersucht Sprachwissenschaft Bezüge von Sprache und Sprachträgergeschichte, Kultur, Literatur usw., die äußere Sprachwissenschaft „kann eine Unmenge von Einzelheiten zusammentragen“ und die „Tatsachen auf mehr oder weniger systematische Weise“ ordnen, während man im Innenbezirk „nicht irgendeine beliebige Disposition anwenden“, sondern nur so vorgehen kann, wie es das System, „seine eigene Ordnung zulässt“ (Saussure 1967: 27). In diesem Sinne sind Erörterungen zum Fachwort-Einsatz im Kriminalroman im sprachwissenschaftlichen Außenbezirk platziert, freilich auf der Grundlage fachsprachlicher Analysen im engeren Sinne. Fachwortgebrauch im modernen Kriminalroman 167 2 Zum Fachwort-Nutzen für die Gestaltung literarischer Erzähltexte In der Fachsprachenliteratur werden allgemeine Eigenschaften der Fachlexik 5 beschrieben, nach denen es möglich ist, das Fachwort auch zur Erzeugung spezifischer stilistischer Effekte 6 in belletristischen Texten zu verwenden: (1) Den Ausgangspunkt für alle weiterführenden Erläuterungen zum Gebrauch von Fachsprache(n)/ -wort bildet die Bestimmung von Fach als einem in gewisser Weise spezialisierten Gegenstands- und Tätigkeitsbereich, in dem eine speziell ausgebildete Personengruppe zweckgebunden und interaktiv handelt (Roelcke 2010: 14f.). Daran knüpft der Autor literarischer Texte (mehr oder weniger bewusst) an, wenn er den Leser über den Fachwort-Einsatz in eine bestimmte, erzählinhaltlich und -technisch inszenierte Fach-Atmosphäre hineinführt, indem er Gegenstandsspezifika markiert, Protagonisten als Experten/ Laien interaktiv agieren lässt und besondere, fachbezogene Handlungsumstände skizziert. (2) So wie die Terminologie den Fachwortschatz-Grundstock ausmacht 7 , sind es für den Schriftsteller in erster Linie Termini 8 , um in Erzähltexten einen fachbezogenen Zugang zum Leser zu finden, wobei er überwiegend auf sein Sach- und Kommunikationswissen zurückgreift, nicht selten aber auch - jeweils thematisch gebunden - in (Fach-)Lexika usw. recherchiert. 9 Bei Terminus-Verwendung im Erzähltext ist zu bedenken, 5 Zur umfänglichen Literatur vgl. z.B. Roelcke (2010) und genauer: Hoffmann/ Kalverkämper/ Wiegand (1998). 6 „Stil/ stilistisch“ meint hier die Art und Weise, Mitzuteilendes zweckgebunden zu gestalten, also im Sinn einer pragmatisch-relationalen Stilistik, die ihre Analysen produzenten-, text- und rezipientenbezogen durchführt (Näheres u.a. bei Pohl/ Schellenberg 2015). Entsprechend betrachtet dieser Beitrag, wie Schriftsteller ihre Fachwort- Verwendung in narrativen Texten motivieren, wie die Fachlexik den Stil dieser Texte mitkonstituiert und welche Leserwirkungen dadurch erreicht werden. 7 Gängige Überblickswie Einzeldarstellungen verweisen auf die unterschiedlich hohen Terminus-Anteile auf vertikalen Fachsprachenebenen (von der Wissenschaftsbis zur Werkstattsprache) sowie auf die Gliederung in weitere Fachwortgruppen - z.B. nach Termini/ Halbtermini/ Fachjargonismen. 8 Für den Terminus gilt, dass er theoretisch begründet, innerhalb seines Terminologie- Systems fixiert, definiert und damit nach Inhalt und Umfang sachlich und (ein-)eindeutig bestimmt ist. Das schließt aber eine gewisse Gebrauchsflexibilität nicht aus (bei Paradigmenwechseln, bei seinem Gebrauch in mehreren Bereichen u. a.). 9 Dass eine breite Palette von Sprach- und Kommunikationsreflexionen zum Umgang des Schriftstellers mit seinem Werkzeug gehört, ist vielfach dargestellt worden, nicht zuletzt auch von Autoren selbst in Sachtexten (Briefen, Vorträgen, Interviews, Artikeln) wie auch in ihren Erzähltexten - vgl. auch Schellenberg (2015). Der Fachwort- Umgang in ihren Texten wird besonders überdacht, wenn das darin Erzählte in fernen 168 - Wilhelm-Schellenberg-  dass-Termini-im-Unterschied-zu-anderen-lexikalischen-Einheiten-in-ih‐ ren- Bedeutungen- (Inhalt/ Umfang)- so- genau- festgelegt- sind,- dass- sie- auch-kontextfrei-verstanden-werden-(aber-bei-Gebrauch-außerhalb-ih‐ res-angestammten-Bereichs---etwa-in-Erzähltexten---weitgreifende-Er‐ läuterungen-für-das-Verständnis-benötigen); --  dass-Termini-bei- aller- Festsetzungsstabilität- aber-innerhalb-der- Fach‐ verwendung- schwanken- können,- z.B.- wenn- gleiche- Benennungen- in- unterschiedlichen-Fachgebieten-als-Termini-dienen-(Valenz-in-Chemie- und-Linguistik); -  dass-naturwissenschaftlich‐technische-Termini-(oft-durch-ihre-fremd‐ sprachlichen-Anteile)-schneller-als-solche-(an‐)erkannt-und-auf-kürze‐ ren- Formulierungswegen- verstanden- werden,- während- human‐/ geis‐ teswissenschaftliche-Termini-umfänglichere-Erläuterungen-benötigen- (auch,- weil- sie- muttersprachlich- benannt- sind- und- vertraut- erschei‐ nen); --  dass-die-„klassische“-Definition-(Definiendum-=-Definiens-[genus-pro‐ ximum-+-differentia-specifica])-zwar-zugrunde-liegen-kann,-aber-erzäh‐ lerisch-aufbereitet-werden-muss,-so-wie-es-Patrick-Süskind,-freilich-in‐ dividualstilistisch- geprägt,- mit- „Klaustrophobie“‐Erklärungen- in- der- „Geschichte- vom- Herrn- Sommer“- auf- anschaulich‐unterhaltende- Weise-gelingt. 10 - -------------------------------------------------------- Welten-oder-speziellen-Arbeitsfeldern-angesiedelt-ist-und-Kolorit-zeichnen-soll.-Man‐ cher-Autor-wehrt-aber-die-Fachwort‐Verarbeitung-im-narrativen-Text-mit-der-Begrün‐ dung- ab,- Erklärungen- beeinträchtigten- den- Erzählfluss,- und- bevorzugt- stattdessen- Textergänzungen-(in-Fußnoten,-lexikonartigen-Anhängen).--- 10 -- Bei-Süskind-heißt-es: -„Dieser-Herr-Sommer-hat-Klaustrophobie“,-sagte-meine-Mutter,- als-wir-alle-beim-Abendessen-saßen-und-über-das-Unwetter-und-den-Vorfall-mit-Herrn- Sommer- sprachen.- „Eine- schwere- Klaustrophobie- hat- dieser- Mann,- und- das- ist- eine- Krankheit,- bei- der-man- nicht-mehr- ruhig- in- seinem- Zimmer- sitzen- kann.“- -- „Klaus‐ trophobie- bedeutet- strenggenommen“,- sagte-mein- Vater.- -- „…daß-man- nicht- in- sei‐ nem-Zimmer-sitzen-kann“,-sagte-meine-Mutter.-„Das-hat-mir-der-Doktor-Luchterhand- in- aller- Ausführlichkeit- erklärt.“- -- „Das-Wort- ‚Klaustrophobie‘- ist- lateinisch‐griechi‐ schen-Ursprungs“,-sagte-mein-Vater,-„was-dem-Herrn-Doktor-Luchterhand-sicherlich- bekannt- sein- dürfte.- Es-besteht- aus-den-zwei-Teilen- ‚claustrum‘-und- ‚phobia‘,-wobei- ‚claustrum‘-soviel-wie-‚geschlossen‘-oder-‚abgeschlossen‘-bedeutet---wie-es-ja-auch-in- dem-Wort- ‚Klause‘-vorkommt,-oder-bei-der-Stadt- ‚Klausen‘,-italienisch- ‚Chiusa‘,-oder- im-französischen-‚Vaucluse‘---wer-von-euch-kann-mir-noch-ein-Wort-nennen,-in-dem- der- Begriff- ‚claustrum‘- verborgen- steckt? “- (Süskind- 1991: - 25).- -- Vergleiche- dazu- den- Eintrag- in- dem- Pschyrembel- Klinisches- Wörterbuch- (2004: - s.v.- Klaustrophobie): - „( ↑ ; Phob‐*)-f-[...]-Angst*-vor-d.-Aufenthalt-in-geschlossenen-Räumen-[...]-bes.-in-Räu‐ men- ohne- Fluchtmöglichkeit- [...]- od.- in- dicht- gedrängten- Menschenansammlungen- […]“.- Fachwortgebrauch im modernen Kriminalroman 169 (3) Die zum angemessenen Terminus-Gebrauch in nicht-/ populär-wissenschaftlichen Sachtexten 11 üblichen definitionsähnlichen Verfahren (Worterklärungen durch etymologische Angaben, Übersetzungen, explikative Paraphrasen) genügen für Fachwort-Interpretationen im literarischen Erzähltext nicht - entsprechend dem Charakter der Sprachhandlung und ihrer Anwendung in der poetischen Kommunikation 12 : Erzählen verlangt ein subjektiv bestimmtes, erlebnisbetontes, anschauliches Darstellen von Geschehen in spannungsgeladener Anordnung und der literarische (Erzähl-)Text ist Rezeptionsangebot, fiktional geprägt; mit ästhetischer Funktion und Wirkung. Also werden Fachwörter dem Erzählfluss gemäß eingearbeitet - in Episoden und anschaulichen Beschreibungen verpackt, in erzählrelevanten Protagonisten-Dialogen geklärt, in Erzähler- Reflexionen erörtert usw. (vgl. den Süskind-Auszug - Fußnote 10). (4) Für die Verwendung von Fachwörtern in literarischen Erzähltexten ist auch zu berücksichtigen, dass Fachlexik heute immer öfter über ihren angestammten Funktionsbereich hinaus wirkt - und zwar nicht nur dadurch bedingt, dass bestimmte Wissenschaften, Berufsfelder usw. immer mehr ins öffentliche Bewusstsein rücken, sondern dass auch immer mehr Freizeitbereiche fachsprachlich gebunden sind (z.B. Medientechnik, Motorsport u.a.). Der heutige Belletristik-Leser verfügt also deutlich über fachsprachliche Kompetenzen, auch wenn diese nicht unmittelbar zu seinem Arbeitsgebiet gehören. Teilzusammenfassend ist festzustellen: An dieser Stelle konnten und sollten nur einige Sprachprobleme beim Transfer von Fachwörtern in poetische Text knapp 11 Populärwissenschaftliches Darstellen geschieht als Transferieren von wissenschaftlichen Resultaten unter spezifischen kommunikativen, Situations-, Sprachhandlungs- und Formulierungsbedingungen vom Experten-Autor zum Laienrezipienten (beide stehen so in kommunikativer Asymmetrie zueinander). Um diese Distanz zu relativieren, hat der Sach(buch)autor/ Wissenschaftsjournalist usw. verschiedene Möglichkeiten: z.B. zweckdienliche Informationsauswahl, spezielle Verfahren zur Informationsentfaltung und kognitiven Aktivierung des Rezipienten (Gliedern, Vergleichen, Vereinzeln, Verbildlichen) etc. (Genaueres s. Schellenberg 2000: 31). 12 Üblicherweise gilt, dass Poetizität/ Literarizität und damit auch der literarische Text von anderen nicht schlechthin strukturell zu unterscheiden sind, sondern allgemeiner kommunikativ-pragmatisch zu fassen sind. Mit Spillner (2009a: 22) etwa sind dann „literarische Texte als solche Texte zu verstehen, die von ihren Urhebern/ Produzenten/ Autoren als literarisch intendiert wurden und von Rezipienten/ Lesern/ Hörern als solche akzeptiert werden. Dies ist zwar keine hinreichende Definition, wohl aber ein heuristischer Einstieg in die Analyse literarischer Texte“. Von dieser heuristischen Plattform aus können dann die Detailuntersuchungen erfolgen - über Textsorten-/ Genre-Zuordnungen, Erfassung konkreter Umsetzungswege allgemeingültiger Textualitätskriterien, Betrachtungen von Textelementen usw. Wie dies geschehen kann, wird von Fix/ Poethe/ Yos demonstriert (2003: 134ff.). 170 Wilhelm Schellenberg angesprochen werden; es ist sicher linguistisch lohnenswert, darauf theoretisch vertiefter einzugehen. 3 Zur stilistischen Fachwort-Verwertung im Kriminalroman Wie textlinguistisch vielfach erläutert, gehört zum Alltagswissen des Sprachnutzers u.a. Textwissen. Darin fest verankert sind auch prototypische Einsichten in (sachgerichtete wie literarische) Textmuster/ -sorten, auf Erfahrungen beruhend, die durch langzeitlichen Umgang mit zahlreichen Textexemplaren und das Erkennen wiederkehrender inhaltlich-thematischer, kompositorischer, sprachelementarer Charakteristika gewonnen worden sind. 13 Entsprechend gelten für das Genre Kriminalroman prototypische Merkmale, von deren Betrachtung aus Hinweise zum Fachwortgebrauch in dieser Textsorte ermittelt werden können. Diese Merkmale können aus der verdichtet-pointiert gehaltenen Definition von Wörtche im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (2000: 342) abgeleitet werden: „Der Kriminalroman handelt in sowohl typologisierten als auch ‚freien‘ Erzählmustern von Verbrechen und deren Aufklärung“. Solche genauer zu betrachtenden Merkmale sind u.a.: (a) die Spezifik des Erzählgegenstandes als Relation von „Verbrechen - Aufdeckung“: „Verbrechen“ und „Ermittlung“ sind im fiktiven Rahmen literarischen Erzählens und seiner Gestaltungsmuster fixiert, beide Begriffe entsprechen also nach Inhalt und Umfang und Sprachgebung nicht völlig ihrem außerliterarischfachlichen Gebrauch 14 ; (b) der Rahmen der Ereignisdarstellungen „Verbrechen“ und der reaktiven „Aufklärung“: Je nach Dimensionalität der Gegenstandskomponente „Verbrechen“ (als unerhört-rätselhaftem Einzel-Ereignis oder als Fall von Rechtsverletzung in einem gesellschaftlich relevanten Kontext) und den nötigen Aufklärungsaktionen (z.B. im Sinn von Strategien zur Rätsellösung oder behördlichen Ermittlungen) sind unterschiedliche Erzählstrategien möglich: z.B. solche, die auch ein weites Gesellschaftspanorama ablichten oder eher das soziale Täter-Umfeld markieren, 13 Erläuterungen zu diesen Zusammenhängen zwischen Texten - auch mit Blick auf die Termini Intertextualität und Textualisierungskriterium - sowie Quellenangaben dazu s. u.a. bei Fix/ Poethe/ Yos (2003: 143f.; 216). 14 So heißt es im § 12 Strafgesetzbuch: „(1) Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind“ (Strafgesetzbuch: www.gesetze-im-internet.de/ stgb/ __12.html; Stand: 04.05.2017). - Vergleiche zum Ermittlungsbegriff Glitza (2002). Siehe auch Kriminalroman als Genre: Definitionen. www.fernuni-hagen.de/ KSW/ bakwmfs/ pdf/ 3540_Hahn_L3.pdf (Stand: 04.05.2017). Fachwortgebrauch im modernen Kriminalroman 171 die die Täter- und Ermittler-Profile psychologisch detaillierter wiedergeben, die Tat- und Aufklärungssituationen sehr genau beschreiben usw. (auch je nachdem, welche Textsorten-Variante vorliegt: Detektiv-/ Spionage-Geschichte, Thriller, Regionalkrimi usw.); 15 (c) die Spezifik der Strukturmuster, entwickelt aus der Relation „Verbrechen/ Aufklärung“:  so die Täter-/ Tat-Ebene (mit dem Leser als Beobachter der Tatvorbereitungen und -abläufe oder der Rekonstruktionen/ Geständnisse im Rahmen der Aufklärung o.ä.);  so die Aufklärungskonditionen (mit Beschreibungen von Tatorten, Rekonstruktionen des Tatherganges, pathologischen Untersuchungen der Opfer, Indizien, Zeugeninterviews usw.); (d) die Spezifik narrativer Strategien zur Erfüllung von Leser-Erwartungen zu Textsorten: Die bekanntlich nach dem Bottom-up-/ Top-down-Prinzip, also im Verbund von Textdaten-Aufnahme und Leserwissen, funktionierende Textrezeption beschert dem Leser nach wiederholtem Konsumieren gleichartiger Texte sein Textsortenwissen, von dem aus er Erwartungen an für ihn neue Texte knüpft, die als Exemplare bestimmter Sorten/ Genres angeboten werden. Entsprechend erwartet der Kriminalroman-Leser einen unterhaltend-spannenden Text, der über ein Verbrechen und dessen Aufklärung so erzählt, dass er Täter-Motive mit-/ nachvollziehen und Tatorte einsehen kann, Einblicke in die fachliche Arbeit der Ermittler erhält, mit ihnen rätselt, kombiniert, vorausschaut, die Aufdeckung vorantreibt, auch irrt - oder (gewissermaßen überlegen) Ermittler-Irrtümer erkennt, weil ihm der Autor schon mehr Informationen gegeben hat als er den Roman-Akteuren zugestehen wollte usw. Innerhalb dieses Gestaltungs- und Erwartungsrahmens für Kriminalromane können Fachwörter dann u. a. stilistisch verwendet werden,  um das Milieu zu skizzieren, in dem Täter und Opfer leben (z.B. wenn es um innerbetriebliche Konkurrenzen als Tatauslöser, um Betriebsspionage usw. geht);  um Arbeitsorte (Schulen, Institute, Banken, Krankenhäuser) zu skizzieren, die für die Erzählhandlung relevant sind;  um Figuren im Hinblick auf innere Zustände oder Verhaltensweisen zu charakterisieren (z.B. Hobby-Marotten von Ermittlern); 15 Dies wird nicht selten von Autoren reflektiert, so auch von Nesbø, der erklärt, nur „nebenbei ein Porträt der norwegischen Gesellschaft“ zu entwerfen, seinen Ermittler- Haupthelden sehr genau gezeichnet zu haben - angelehnt an „Stereotypen des Hardboileds“, als Einzelgänger, Alkoholiker, mit düsterem Weltbild usw. (Henning 2010: www.zeit.de/ kultur/ literatur/ 2010-12/ portraet-jo-nesbo/ seite-2; Stand: 04.05.2017). 172 Wilhelm Schellenberg  um die Seriosität und Solidität der an der Aufklärung beteiligen Berufsgruppen überzeugend darzustellen: Waffensysteme der Polizei, technisches Instrumentarium zur Spurensicherung an Tatorten, professioneller Umgang mit Bildinformationen aus Überwachungskameras, Wiedererkennung/ Entschlüsselung verlorenerer/ geheimer PC-Codes, psychologisches Vorgehen bei der Erstellung von Täterprofilen und Opferbetreuung, medizinische Behandlung Verletzter, pathologische/ gerichtsmedizinische Analyseverfahren, juristische Argumentations-/ Urteils-/ Auslegungstechniken (von Gesetzestexten) usw. 4 Bemerkungen zum Fachwortgebrauch in Jo Nesbøs Kriminalromanen Der folgende Abschnitt illustriert anhand einiger Beispiele aus Nesbø-Texten, wie Fachwörter aus ihren angestammten Bereichen angemessen in Kriminalromane überführt werden können. 4.1 Stichpunkte: Über den Autor und seine Texte Die Einbeziehung von Kenntnissen über Charakter und Befinden eines Autors rundet stilistische Analysen seiner Texte ab (Spillner 2009b: 1746). Mit Blick auf Nesbø heißt das: Angaben zu seiner Biographie sind für Analysen seiner Texte insofern von Belang, als ihm der kurzschrittig-wechselhafte Ausbildungs-, Studien- und Arbeitsverlauf seiner Jugendzeit vielfältige Einblicke in soziale Milieus ermöglichte, die später in seinen lebenspraktischen und gesellschaftskritischen Schreibstil einfließen konnten. 16 Aus Autorenaussagen, Klappentext-Angaben 16 Stichpunkte zu Nesbøs frühen Jahren: Jg. 1960; literaturinteressiertes Elternhaus, aber Nesbø interessiert sich früh für Profifußball (dann in der 1. Norwegischen Liga bis zum Kreuzbandriss); Disziplinbewusstsein durch Militärdienst im Norden; Schulabschluss mit Bestnoten; Studium an der Handelshochschule Bergen; Musik wird ihm sehr wichtig (Gitarrist in Rock-Band, Durchbruch mit der Band „Di Derre“: erobert Charts; Konzerte, Tourneen); parallel Aktienhändler; wegen Doppelstress: Auszeit in Australien; beim Rückflug entsteht die Idee, Kriminalstories zu schreiben, Hauptheld: Ermittler Harry Hole (Schafft 2013: www.krimi-couch.de/ krimis/ jo-nesboe.html; Stand: 04.05.2017). Fachwortgebrauch im modernen Kriminalroman 173 und individuellen Leser-Beobachtungen lässt sich zu Nesbøs Textgestaltungsweise der folgende Gesamteindruck skizzieren: 17 Als sein zentrales Gestaltungsproblem kennzeichnet der Autor das Aufdecken psychischer Hintergründe ungewöhnlicher Täter: „Mich interessiert, weshalb Menschen tun, was sie tun. Ihre Abgründe, ihre Dämonen, ihr Wahnsinn“ (Henning 2010: www.zeit.de/ kultur/ literatur/ 2010-12/ portraet-jo-nesbo/ seite-2; Stand: 04.05.2017). Entsprechend bilden Psychologie bzw. Psychologen/ Mediziner und ihre Fachsprachen wichtige thematische, figurenbezogene und sprachstilistische Gestaltungselemente seiner Texte. Nesbøs Figuren agieren (hauptsächlich) in konkret-historischen Situationen der Gegenwartsgesellschaft: in Norwegen (in Alltag, Wirtschaft, Gesundheits-/ Sozialwesen, Polizeiapparat, Unterwelt), aber auch in zeitgeschichtlich relevanten Ereignissen in Europa (Balkankrieg), Südafrika (Goldabbau), Australien (Ureinwohner). Gerade auch durch den Kontrast von anschaulicher und informativer Darstellung realer Lebensumstände und Detailbeschreibungen absurder Handlungsweisen seiner Täter gelingt dem Autor ein hoher Spannungseffekt. In Bezug auf sein Schreiben ist ein „bewährtes Schema“ erkennbar: „erst ein fünfseitiges, dann ein zwanzigseitiges Manuskript, darauf achtzig bis hundert Seiten mit ersten Dialogen. Später einen ersten Entwurf, dann einen zweiten. Nur wenigen Leuten gibt er diesen dann zum Gegenlesen“; danach ist für ihn „selbst das Thema erledigt“ (Schafft 2013: www.krimicouch.de/ krimis/ jo-nesboe.html; Stand: 04.05.2017). 4.2 Beispiele für den Fachwortgebrauch in Jo Nesbøs Texten Um den umfänglichen Fachwortgebrauch 18 in Nesbøs kriminalistischen Erzähltexten zu erfassen und zu beschreiben, wird hier nach fünf Analyseschritten vorgegangen: 17 Da es hier speziell um den Fachwortgebrauch in einzelnen Texten geht, genügt wohl dieser knappe Vermerk; für vertiefende literatur-/ sprachwissenschaftliche Analysen zu Nesbø-Texten sind natürlich mehr Daten nötig. 18 Insgesamt wurden in dieser Studie folgende, aus unterschiedlichen Bereichen stammende Fachwörter aus Nesbø-Texten analysiert (von denen hier im Einzelnen nur auf einige eingegangen werden kann): Chemie: Carnadrioxid (D); Kommunikation: Codes, mathematische und zwischenmenschliche (C)/ Presse (D)/ Pyramide, umgekehrte (E); Kunst/ Kultur: Kono-Papier (D)/ Eingeborenenmasken (D); Mathematik: Goldener Schnitt (C); Medizin: ANTI-SCL-70 (D)/ Auris Alatae (B)/ Dysomie (C)/ Elektroschlinge (D)/ Fahr‘sches Syndrom, Gyrus fusiforme (B)/ Raynaud’sches Syndrom, Sklerodermie (D)/ Schlafkrankheit (D)/ Vena amoris (C); Musik: Shuffle (B); Mythologie: Alben/ Nachtalben, Drudenfuß, die Fünf in Ritualen, Pentagramm/ Sternenzeichen als religiöses Symbol (C); Philosophie: Freitod (B); Psychologie: Krankheit, psychische (A)/ 174 Wilhelm Schellenberg 1. Schritt: intuitive Erfassung des Erzähltextlexems als Fachwort (durch Betrachtung der Wortgestalt, z. B Fremdwortanteile, und als Textwort in der Passage des Kriminalromans), 2. Schritt: Feststellen, inwieweit das betreffende Lexem in Fachtexte gehört (z.B. in Studien-, Lehrbücher, Fachlexika), 3. Schritt: lexikalische/ textuelle Betrachtung zur Definition des Fachwortes; 4. Schritt: Textvergleich mit der ausgewählten Passage aus dem narrativen Text, 5. Schritt: Abschlusskommentar (Gemeinsamkeiten/ Unterschiede zwischen angestammtem Gebrauch des Fachwortes und seiner Verwendung im konkreten Erzählkontext). Im folgenden Abschnitt wird dieses Vorgehen an einem Beispiel angedeutet, danach werden weitere Beispiele kurz erwähnt. 4.3 Einzelanalyse zu Schneide-(Elektro-)schlinge 1. Schritt: Gegeben ist der folgende (verkürzte) Textauszug (D: 115ff.): „[…] Die Rechtsmedizinerin hatte keine Ahnung. Sie meinte nur, die kleinen Arterien waren so verschlossen wie sonst nur bei Amputationen, um die Blutungen zu stoppen. Bevor der Knochen durchgesägt wird. Und als sie das mit der Säge sagte, musste ich an etwas denken. Ich bin ja auf dem Bauernhof aufgewachsen […].“ „Wenn eine Kuh kalben soll, das Kalb aber schon tot ist, ist der Kadaver manchmal zu groß, um von der Kuh ohne fremde Hilfe herausgepresst zu werden. Und wenn er dann noch falsch liegt, kann man ihn nicht ohne Risiko für die Kuh rauskriegen. Dann muss der Tierarzt mit der Säge kommen.“ […] „Ich rede hier von einer Säge mit einem sehr dünnen, biegsamen Sägeblatt, das man in die Kuh schiebt und dann mit einer Schlinge um das Kalb legt. Und dann zieht man hin und her und sägt den Kadaver durch.“ […] „Bis er in zwei Teile zerlegt ist und man ihn rausholen kann. In der Regel ist das Problem dann gelöst. In der Regel. Denn natürlich kommt es auch mal vor, dass man mit dem Sägeblatt die Kuh verletzt, so dass sie mentale Phasen des Selbstmörders (C)/ Schizophrenie, Persönlichkeitsspaltung (A); Technik (der Polizei): Kugeltypen (A)/ Speedcuffing (D); Zoologie: Bachstelze (A)/ Hausschwämme, Schimmelpilze (D)/ Seehundverhalten (D). - Die Majuskeln verweisen auf das Quellenverzeichnis am Ende des Beitrages. Fachwortgebrauch im modernen Kriminalroman 175 verblutet. Vor ein paar Jahren haben die Bauern in Frankreich eine praktische Erfindung gemacht, mit der dieses Problem gelöst wurde: eine glühende Schneideschlinge. Sie besteht aus einem einfachen Plastikgriff, an dessen Enden ein dünner, superstarker Metalldraht befestigt ist. Man legt die Schlinge um das, was man abschneiden will. Dann schaltet man den Strom ein. In nur fünfzehn Sekunden glüht der Draht weiß, und wenn man dann auf einen Knopf am Handgriff drückt, beginnt sich die Schlinge zusammenzuziehen und durch den Kadaver zu schneiden. Man muss das Werkzeug nicht hin und her bewegen wie eine Säge, was das Risiko minimiert, die Kuh zu verletzen. Und sollte sie trotzdem mit dem Draht in Berührung kommen […].“ „Du willst uns doch wohl nicht wirklich so ein Werkzeug verkaufen? “ fragte […]. „Aufgrund der hohen Temperatur ist der Metalldraht vollkommen steril“, fuhr Holm fort. „Er überträgt weder Bakterien noch vergiftetes Blut vom Kadaver. Und durch die Hitze werden die kleinen Adern verschweißt, so dass es kaum zu Blutungen kommt.“ „Okay“, sagte Harry. „Bist du sicher, dass er so ein Gerät benutzt hat? “ „Nein“, erwiderte Holm. „Ich könnte das testen, […] Schneideschlingen […] in Norwegen […] nicht zugelassen worden.“ Intuitionsvermerke: Während der Leser bereits um „das seltsame Werkzeug“, nämlich „eine dünne Metallschlinge an einem Handgriff“ (D: 84), und dessen grausame Wirkungsweise bei einer Mordtat weiß, erarbeiten sich die Ermittler Wissen über das Gerät. Gerichtsmedizinische bzw. veterinärmedizinische Verweise sind Indikatoren dafür, dass der Leser Schneideschlinge im gegebenen Kontext als medizinisches Fachwort wahrnimmt. 2. Schritt: Elektroschlinge ist Fachwort: Elektroschlinge (Galvanokauter): In der Medizin wird mit Galvanokaustik eine Operationsmethode bezeichnet, die mittels galvanischem Strom erzeugte Glühhitze zu chirurgischen Zwecken einsetzt. Der Mediziner Mitteldorpf (1824 - 1868) entwickelte diese Methode und führte sie in die Praxis ein. Ein dünner Platindraht wird zwischen zwei Pole einer galvanischen Kette geschaltet. Sobald der Stromkreis geschlossen wird, beginnt der Draht zu glühen. Verschiedene Vorrichtungen der Medizin werden mit diesem Prinzip in Anwendung gebracht: kugel- oder messerförmige Instrumente, mittels deren man statt des Glüheisens chirurgisch trennen und schneiden kann. Zum „Schneiden“ wird ein Stück Platindraht angewendet, der Galvanokauter. Zum „Brennen“ wickelt man den Platindraht um einen kleinen Porzellankegel. galvanokaustische Schneidschlinge nach Bruns. Die von dem Chirurgen Victor von Bruns (1812-1883) entwickelte galvanokaustische Schneideklinge war vorzugsweise im Gebrauch und ersetzte das langsame Abschnüren durch straff umgelegte Fäden. Der Platindraht von 0,3-1 mm Stärke wird in Form einer Schlinge um den zu trennenden Körperteil herumgeführt und zusammengezogen. Die Blutung 176 Wilhelm Schellenberg durch das „Verschweißen“ des Schnittes ist sehr gering, was bei Abtragungen von sehr blut- und gefäßreichen Teilen von besonderem Wert ist […] (Academic dictionaries and encyklopedias: de.academic.ru/ dic.nsf/ dewiki/ 493014; Stand: 04.05.2017). 3. Schritt: Stichpunkte zum Lexikontext: Nach der Eingangsdefinition zur Methode folgen sachlich-knappe Angaben zum Aufbau, zur Arbeitsweise und zur Entwicklung des Verfahrens bzw. Gerätes (mit Bezügen zu Nachbartermini, genauen Material- und Zahlenangaben usw.). 4. Schritt: Angaben zur Erzähltext-Passage: Das Gerät wird im Gespräch vorgestellt; sein Zweck und Aufbau, seine Arbeitsweise und deren Ergebnisse werden über Erschließungs- und Vergleichsverfahren dargestellt (von vorgefundenen Resultaten zum Gerät; beobachtete Analogverwendung bei Tierärzten auf dem Bauernhof). Wie die Textprogression angelegt ist (teilthematische Zuordnungen, semantische Vernetzung der Textelemente) deutet die Skizze im Anhang an (die weiter interpretiert werden kann). 5. Schritt: Abschlusskommentar: Aus dem Vergleich von Erzähl- und Fachtextgestaltung leiten sich vor allem zwei Ergebnisse ab: a) Die Gegenstands- und Funktionsbeschreibung der Schneideschlinge in Nesbøs Erzähltext ist sachgerecht; b) die Angaben zur Erfindung des Gerätes (= Bauern in Frankreich erfinden die Eisenschlinge) sind fiktiv, fügen sich nahtlos in den Erzählverlauf und offenbaren sich erst nach medizingeschichtlicher Recherche als vom Autor erfunden. 19 4.4 Weitere Fachwort-Beispiele aus Nesbø-Erzähltexten (1) Termini technici zur Polizei-Ausrüstung (Kolorit-Zeichnung und Veranschaulichung): 19 Diese Analyse kann Grundlage für verschiedene Gespräche, Tests und Übungen bilden, z.B. Vergleichen von Definitionsstrategien in Wörterbüchern und Merkmalsbeschreibungen im literarischen Text/ Sachdarstellung im Fachtext vs. Emotionalisierung/ Metaphorisierung im Erzähltext; Ermittlung der Kerninformationen aus fachbezogenen Erzähltextpassagen; Wortschatz-Übungen (Bedeutungsanalysen Säge/ Schlinge, Wortbildung von Geräte-Bezeichnungen, Fremdbildungen Galvanotechnik - galvanisieren - Galvanotechnik - galvanische Kette); Umformungsübungen von fachbezogenen Erzähltextpassagen in Sachdarstellungen usw. (Eine Unterrichtsnutzung solcher Möglichkeiten setzt natürlich eine entsprechende Aufbereitung der hier nur angedeuteten Möglichkeiten voraus.) Fachwortgebrauch im modernen Kriminalroman 177 Harry […] nahm die Peerless-Handschellen von der Tischplatte seines neuen Schreibtisches und übte sich im Speedcuffing am Tischbein […]. Angewöhnt hatte Harry sich diese Unsitte auf einem FBI-Kurs in Chicago […]. Es ging dabei darum, die geöffneten Handschellen so um das Handgelenk des Häftlings zu schlagen, dass der gefederte Riegel herumschwang und auf der anderen Seite des Handgelenks arretierte. Mit Präzision und dem richtigen Schwung konnte man sich so an einen Häftling ketten, bevor dieser überhaupt reagieren konnte. (D: 19). (2) Kennzeichnung von Täterprofilen (Psychologie-Prof. Aune erklärt Hole Schizophrenie vs. Persönlichkeitsspaltung, mentale Phasen von Selbstmördern usw.): „Erzähl mir lieber etwas über Persönlichkeitsspaltung“, sagte Harry. „Oder Schizophrenie.“ „In fünf Minuten? “ Aune stöhnte. […] „Schizophrenie bezeichnet eine ganze Gruppe äußerst unterschiedlicher psychischer Erkrankungen und hat nichts, aber auch gar nichts mit Persönlichkeitsspaltung zu tun. Schizo kommt zwar aus dem Griechischen und heißt gespalten, doch was Eugen Bleuler damit meinte, ist, dass die psychologischen Funktionen im Hirn eines Schizophrenen gespalten sind […]“ - „[…] Persönlichkeitsspaltung […] nennt man auf Amerikanisch MPD. Eine multiple Persönlichkeit ist so definiert, dass sich zwei oder mehrere Persönlichkeiten in einem Individuum befinden, die sich in ihrer Dominanz abwechseln […]“ (A: 389). (3) Psychisch kranke Täter-Figuren reflektieren ihr Ego und ihre Motive: so erklärt ein Serienmörder (= Arzt) Harry Hole seine Krankheit detailliert (D: 166): „Fahr ʼ sche Syndrom? “ „Eine seltene Erbkrankheit, die ein bisschen an Alzheimer erinnert. Man verliert gewisse Fähigkeiten, vor allem kognitiver Art, und wird steif in den Gelenken.“ (4) Durch seinen Fachwortgebrauch wird Ermittler Hole sprachlich porträtiert, um z.B. sein Hobby Musik, seine umfängliche Allgemeinbildung, seine Lektüre usw. darzustellen: - Musik: […] war das Schleifen von August Schultz ʼ Schuhsohlen auf dem Parkett [der Bankfiliale], das einzige, hörbare Geräusch - wie ein paar Jazzbesen, die in einem unglaublich langsamen Shuffle über die Haut der Trommel geführt wurden (B: 14). - „Die Machotypen im Film haben tiefe, raue Stimmen. […]“ „Rau stimmt. Aber tief? [...]“ (A: 341). 178 Wilhelm Schellenberg - Vergleichende Naturreflexion (Hole-Chef-Treff): [...] sie schwiegen… Ein Vogel tippelte vor ihnen her, wippte mit dem Schwanz, hackte mit dem Schnabel ins Gras und sah sich aufmerksam um. „Eine Bachstelze“, sagte Harry. „Motacilla Alba. Ein vorsichtiges Kerlchen.“ „Was? “ „Laut ‚Handbuch der Vogelkunde‘.“ - [Harry erklärt, dass er an einem inzwischen allgemein als abgeschlossen geltenden Fall doch weiter arbeiten will]….Harry lächelte, dann nickte er in Richtung der Bachstelze. „Ich habe in diesem Vogelbuch gelesen, dass niemand weiß, warum die Bachstelze wippt, wenn sie still steht. Das ist ein Rätsel. Man weiß bloß, dass sie es nicht lassen kann […]“ (A: 157ff.). (5) Beschreibungen spezifischer Artefakte zur Täterfindung (z.B. Beschreibung des seltenen Kono-Papiers aus Mitsumata D: 178) oder Zeichnung interkulturellen/ landeskundlichen Kolorits als Hintergrundinformation bei einem konkreten Fall (z.B. Kpelienmaske, D: 129); mit dieser Koloritzeichnung wird eine Ladenbesitzerin in Norwegen als Afrika-Kennerin gekennzeichnet: „[…] Von der Elfenbeinküste. Senufo.“ [...] „Was ist eine Richtermaske? “ [...] „In Afrika sind diese Masken keine bloßen Symbole. Eine Person, die im Stamme der Lo eine solche Maske trägt, bekommt automatisch das Recht zu urteilen und zu strafen. Niemand stellt die Autorität des Mannes in Frage, der die Maske trägt. Die Maske als solche verleiht Macht.“ (D: 130). (6) Textprogression (Spannungserhöhung durch Nebenhandlungen; dabei spezielle Berufsfelder); konkret: Die professionelle Arbeit eines in Holes Wohnung unangemeldet arbeitenden Kammerjägers wird im Detail erläutert und durch seine Fachkommentare ergänzt: „Schimmel breitet sich aus, Hausschwämme breiten sich aus.“ [...] „Aspergillus“, verkündete der Mann. […] „Da gibt es an die drei-, vierhundert verschiedene Arten, aber die sind nicht so leicht zu unterscheiden. Außerdem wachsen die auf diesen harten Unterlagen so dünn, dass man sie gar nicht sieht. Aber dieser Geruch ist ganz eindeutig.“ (D: 16f.). (7) Umgedeutete Fachwörter als Ironie-/ Humor-Effekte in nur scheinbar ungezwungenen Gesprächssituationen: „Ich kann gerne notieren, dass Sie mir die Antwort verweigern, Støp.“ […]. „Ein altbekannter Schachzug, Hole. Den wir Presseleute selbst jeden Tag anwenden. Daher kommt wohl auch unser Name. Presse! Aber bitte beachten Sie, dass […]“ (D: 241). Fachwortgebrauch im modernen Kriminalroman 179 5 Fazit (1) Wenn Studien zum Fachwortgebrauch in (kriminalistischen) Erzähltexten auf den ersten Blick auch nicht unmittelbar in den thematischen Zentrum-Peripherie-Rahmen der Tagung zu passen scheinen, sind bei näherem Hinsehen doch zwei Ansätze dafür erkennbar: Stilistische Fachwort-Untersuchung ist im systemlinguistischen Sinn peripher; und die Texte zeigen, wie das Fachwort im interkulturellen Umfeld literarisch verarbeitet werden kann. (2) Da Fachwörter heute immer öfter auch außerhalb ihres angestammten Funktionsbereiches verwendet werden, ist es für den Deutschunterricht nicht nur legitim, sondern unerlässlich, sich mit diesen Verwendungen zu befassen, auch in literarischen Texten. (3) Dazu Texte aus der Gegenwarts-Kriminalliteratur heranzuziehen, scheint in mehrfacher Hinsicht erfolgversprechend: Die (anschauliche) Darstellung sehr unterschiedlicher Berufstätigkeiten (wiederholt aus Polizei, Justiz, Medizin sowie variiert aus weiteren) gibt landeskundliche Einblicke; Fachinhalte werden anschaulich-verständlich dargeboten; die spannenden Texte regen zur Weiterbeschäftigung mit ihnen an. (4) Die hier vorgeschlagenen Analyseschritte (eingeschlossen die Skizze zu semantischen Beziehungen von Fachlexemen im Text) können als Grundlagen für DaF-Übungen (von der Wortschatzarbeit bis hin zu Textvergleichen) reichen. (5) Nicht zuletzt ermöglicht die anwendungsorientiert-literarische Beschäftigung mit dem Fachwort wichtige Einblicke in Systemzusammenhänge lexikalischer Einheiten. 6 Literatur Daneš, František (1982): Zur Theorie des sprachlichen Zeichensystems. In: Scharnhorst, Jürgen/ Ising, Erika (Hrsg.): Grundlagen der Sprachkultur. Beiträge der Prager Linguistik zur Sprachtheorie und Sprachpflege. Berlin. (Sprache und Gesellschaft; 8.2). S. 132-173. Fix, Ulla/ Poethe, Hannelore/ Yos, Gabriele (2003): Textlinguistik und Stilistik für Einsteiger. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. 3. durchges. Aufl. Frankfurt a.M. (Leipziger Skripten: Einführungs- und Übungsbücher; 1). Fleischer, Wolfgang/ Helbig, Gerhard/ Lerchner, Gotthard (Hrsg.) (2001): Kleine Enzyklopädie deutsche Sprache. Frankfurt a.M. u.a. Glitza, Klaus-Henning (2002): Observation. Praxisleitfaden für private und behördliche Ermittlungen. Stuttgart u.a. Hahn, Walther von (1983): Fachkommunikation. 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Die einzelnen Arbeitsschritte einer vergleichenden Analysemethode, mit der sprach- und kulturspezifische Bedeutungssysteme im Deutschen und Ungarischen verglichen werden, geben Antworten auf die Frage, welche Ereignisschemata und Teilnehmerrollen vorliegen und wie sich die Teilereignisse beschreiben lassen. 1 1 Analysemethode 1.1 Konzeptuelle Ereignisschemata und Teilnehmerrollen im Sprachvergleich Welche Ereignisschemata bzw. Teilnehmerrollen liegen vor? Infrage kommen dafür unter anderem das Essivschema, das Vorgangsschema, das Handlungsschema, das Erfahrungsschema, das Besitzschema, das Bewegungsschema, das Übertragungsschema bzw. Agens, Empfänger, Essiv, Experiens etc. (Tóth 2006, 2009, 2010a, 2010b, 2011). 1.2 Teilereignisse im Sprachvergleich Mit wie vielen Teilereignissen hat man es zu tun? Welche zeitliche Struktur haben die Teilereignisse (durativ, punktuell etc.) und um welche Typen von Ereignissen im weitesten Sinn handelt es sich (Prozess, Zustand, Vorgang, Bewegung 1 Der vorliegende Aufsatz ist Teil meiner Habilitationsschrift „Ereignisse als komplexe Ganze in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt: ereignisstrukturbasierte grammatisch-semantische Analysen im deutsch-ungarischen Sprachvergleich“, die am Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft der Universität Erfurt entstanden ist und im Juli 2016 angenommen wurde. 184 József Tóth etc.)? Welcher Art sind die Relationen zwischen den Teilereignissen (kausal, temporal etc.)? Sind die thematischen Argumente in alle Teilereignisse involviert? Sind die einzelnen Teilereignisse durch die verbale Proposition impliziert (i) oder präsupponiert (p)? 2 Korpus Diese zwei Arbeitsschritte finden sich im Folgenden nacheinander wieder, indem die oben formulierten Fragen systematisch für unterschiedliche Verben beantwortet werden. Die Textbeispiele sind Günter Kunerts Kurzgeschichte „Zentralbahnhof“ (1972) sowie ihrer ungarischen Übersetzung von Mária Ember, „Központi pályaudvar“ (1969), entnommen. Kunerts Text wird Satz für Satz durchgearbeitet. Die Wahl ist auf diese Erzählung gefallen, da der Text aus einer Reihe von aufeinanderfolgenden, nachvollziehbaren Teilereignissen besteht. 3 Komplexe Darstellung der Analyseergebnisse: Konzeptuelle Ereignisschemata, Teilereignisse und Teilnehmerrollen im Sprachvergleich In diesem Kapitel werden zunächst Einzelanalysen deutscher und ungarischer Verben durchgeführt und anschließend ein Zwischenfazit gezogen, aus dem die Analyseergebnisse hervorgehen. 3.1 Kontrastive Einzelanalysen Im Folgenden wird zunächst für eine Reihe deutscher und ungarischer Beispielsätze bestimmt, welchem Ereignisschema sie jeweils zugeordnet werden können. Danach werden Teilereignisse und Teilnehmerrollen nach ihrer Quantität und Qualität bestimmt und die beiden Sprachen in dieser Hinsicht miteinander verglichen. Die Prädikate werden in den folgenden Analysen jeweils kursiv hervorgehoben. Nach dem jeweiligen deutschen bzw. ungarischen Satz steht an erster Stelle der Schematyp, der auch aus einer Kombination mehrerer Schemata bestehen kann, dann folgt die Beschreibung der Ereignisstruktur. Es werden Zahl und zeitliche Struktur der Teilereignisse, Relationen zwischen den Argumenten und den Teilereignissen sowie semantische Rollen festgelegt. Konzeptuelle Ereignisschemata 185 Es gibt so viele Vorschläge zu einer Typologie semantischer Rollen, dass es notwendig erscheint, an dieser Stelle auf das Inventar semantischer Rollen hinzuweisen. Die Grundlage der Verwendungsweise in diesem Beitrag ist das Konzept der semantischen Rollen von Sommerfeldt/ Schreiber/ Starke (1996: 45ff.), da die semantischen Felder zur Darstellung dienen (Agens, Patiens, Resultat, Adressat, Instrument, Lokativ). Ihr Inventar wurde mit weiteren Teilnehmerrollen wie z.B. Essiv, Erfahrungszentrum, Ziel etc. (Pörings/ Schmitz 2003: 95) ergänzt. (1a) 2 An einem sonnigen Morgen stößt ein Jemand innerhalb seiner Wohnung auf ein amtliches Schreiben: es liegt auf dem Frühstückstisch neben der Tasse. Vorgangsschema + Essivschema stößt → Teilereignisse, punktuell, Vorgang, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert liegt → Teilereignisse, durativ, Zustand, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert (1b) Egy napfényes reggelen Valaki a lakásában hivatalos írásra bukkan: a reggelizőasztalon hever, a csésze mellett. Vorgangsschema + Essivschema bukkan → Teilereignisse, punktuell, Vorgang, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert hever → Teilereignisse, durativ, Zustand, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert (2a) Wie es dahin kam, ist ungewiß. Vorgangsschema + Essivschema kam → Teilereignisse, durativ, Vorgang, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert ist ungewiß → 1 Teilereignis, Zustand, Essiv, Patiens (2b) Nem lehet tudni, hogyan került oda. Essivschema + Vorgangsschema lehet tudni → 1 Teilereignis, Zustand, Essiv, Patiens került oda → Teilereignisse, durativ, Vorgang, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert 2 Die folgenden Beispiele sind Kunert (1969) und Kunert (1972) entnommen mit Hervorhebungen des Verfassers. 186 József Tóth (3a) Kaum geöffnet, überfällt es den Lesenden mit einer Aufforderung: Vorgangsschema überfällt → 1 Teilereignis, durativ, Vorgang, Patiens (3b) Kinyitja, és máris a következő felszólítással támadnak rá a sorok: Handlungsschema + Vorgangsschema kinyitja → 2 Teilereignisse, Handlung, Agens, Patiens, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert támadnak → 1 Teilereignis, durativ, Vorgang, Patiens (4a) Sie haben sich, befiehlt der amtliche Druck auf dem grauen, lappigen Papier, am 5. November des laufenden Jahres morgens acht Uhr in der Herrentoilette des Zentralbahnhofes zwecks Ihrer Hinrichtung einzufinden. Handlungsschema + Handlungsschema haben sich einzufinden → 2 Teilereignisse (welche Teilereignisse? ) Agens, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert befiehlt → 1 Teilereignis, Agens, Patiens (4b) Jelenjék meg, parancsolja a hivatalos nyomtatvány a tépett szélű szürke papíron, folyó év november 5-én, reggel 8 órakor a központi pályaudvar férfimosdójában, kivégzése céljából. Handlungsschema + Handlungsschema jelenjék meg → 2 Teilereignisse, Agens, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert parancsolja → 1 Teilereignis, Agens, Patiens (5a) Für Sie ist Kabine 18 vorgesehen. Essivschema ist vorgesehen → 1 Teilereignis, Zustand, Patiens (5b) Az Ön számára kijelölt fülke száma: 18. Essivschema 18 → kein verbales Prädikat (6a) Bei Nichtbefolgung dieser Aufforderung kann auf dem Wege der verwaltungsdienstlichen Verordnung eine Bestrafung angeordnet werden. Konzeptuelle Ereignisschemata 187 Handlungsschema kann angeordnet werden → 1 Teilereignis, Agens, Patiens (6b) Ha eme felszólításnak nem tesz eleget, közigazgatási úton bírságolás rendelhető el. Handlungsschema + Handlungsschema tesz eleget → 1 Teilereignis, Agens, rendelhető el → 1 Teilereignis, Agens, Patiens (7a) Es empfiehlt sich leichte Bekleidung, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren. Essivschema + Handlungsschema empfiehlt sich → 1 Teilereignis, Patiens zu garantieren → 1 Teilereignis, Agens, Patiens (7b) A súrlódásmentes lebonyolítás érdekében könnyű ruházat ajánlatos. Essivschema ajánlatos → 1 Teilereignis, Patiens (8a) Wenig später taucht der solchermaßen Betroffene verzagt bei seinen Freunden auf. Bewegungsschema taucht auf → 2 Teilereignisse, punktuell, Bewegung, Agens, Ort, Argument in alle Teilereignisse involviert, impliziert (8b) Az ily módon Érintett hamarosan csüggedten beállít barátaihoz. Bewegungsschema beállít → 2 Teilereignisse, punktuell, Bewegung, Agens, Ort, Argument in alle Teilereignisse involviert, impliziert (9a) Getränke und Imbiß lehnt er ab, fordert hingegen dringlich Rat, erntet aber nur ernstes und bedeutungsvolles Kopfschütteln. Handlungsschema + Handlungsschema + Erfahrungsschema lehnt ab → 1 Teilereignis, Handlung, Agens, Objekt fordert → 1 Teilereignis, Handlung, Agens, Objekt erntet → 1 Teilereignis, Erfahrung, Experiens, Objekt 188 József Tóth (9b) Az inniés ennivalót elhárítja, viszont annál követelődzőbben kér tanácsot, de csak komoly és jelentőségteljes fejcsóválásban van része. Handlungsschema + Handlungsschema + Erfahrungsschema elhárítja → 1 Teilereignis, Handlung, Agens kér → 1 Teilereignis, Handlung, Agens van része → 1 Teilereignis, Erfahrung, Experiens (10a) Ein entscheidender Hinweis, ein Hilfsangebot bleibt aus. Vorgangsschema bleibt aus → 1 Teilereignis, Vorgang, Patiens (10b) A döntő értesülések közlése, a segítség felajánlása elmarad. Vorgangsschema elmarad → 1 Teilereignis, Vorgang, Patiens (11a) Heimlich atmet man wohl auf, wenn hinter dem nur noch begrenzt Lebendigen die Tür wieder zufällt, und man fragt sich, ob es nicht schon zuviel gewesen ist, sie ihm überhaupt zu öffnen. Handlungsschema + Vorgangsschema + Handlungsschema + Essivschema + Handlungsschema atmet auf → 1 Teilereignis, Handlung, Agens zufällt → 2 Teilereignisse, Vorgang, Agens, Patiens, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert fragt sich → 1 Teilereignis, Handlung, Agens gewesen ist → 1 Teilereignis, Patiens zu öffnen → 2 Teilereignisse, Handlung, Agens, Patiens, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert (11b) Barátai titokban bizonyára még fel is lélegeznek, amikor a Már Csak Meghatározott Ideig Élő mögött becsukódik az ajtó, és azon töprengenek, vajon nem kockáztattake már azzal is túl sokat, hogy egyáltalában ajtót nyitottak neki. Handlungsschema + Vorgangsschema + Handlungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema fel is lélegeznek → 1 Teilereignis, Handlung, Agens becsukódik → 2 Teilereignisse, Vorgang, Agens, Patiens, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert töprengenek → 1 Teilereignis, Handlung, Agens kockáztattak-e → 1 Teilereignis, Agens, Patiens Konzeptuelle Ereignisschemata 189 nyitottak → 2 Teilereignisse, Handlung, Agens, Patiens, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert (12a) Lohnte es denn, wer weiß was alles auf sich zu laden für einen Menschen, von dem in Zukunft so wenig zu erwarten ist? Essivschema + Erfahrungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema lohnte es → 1 Teilereignis, Essiv weiß → 1 Teilereignis, Patiens, Experiens zu laden → 1 Teilereignis, Patiens zu erwarten ist → 1 Teilereignis, Patiens (12b) Érdemes-e, ki tudja, miféle veszélyeket vállalni valakiért, akitől a jövőben már aligha várhatunk bármit is? Essivschema + Erfahrungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema érdemes-e → 1 Teilereignis, Essiv tudja → 1 Teilereignis, Patiens, Experiens vállalni → 1 Teilereignis, Patiens várhatunk → 1 Teilereignis, Patiens (13a) Der nun selber begibt sich zu einem Rechtsanwalt, wo ihm vorgeschlagen wird, eine Eingabe zu machen, den Termin (5. Nov.) aber auf jeden Fall einzuhalten, um Repressalien auszuweichen. Bewegungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema begibt sich → Bewegung, 1 Teilereignis, Agens, Ziel vorgeschlagen wird → 1 Teilereignis, Patiens zu machen → 1 Teilereignis, Patiens einzuhalten → 1 Teilereignis, Patiens auszuweichen → 1 Teilereignis, Patiens (13b) Az Illető felkeres egy ügyvédet, aki azt javasolja neki, hogy írjon egy beadványt, ám a megadott időpontot (vagyis november 5-ét) a még súlyosabb következmények elkerülése érdekében mindenképpen tartsa be. Handlungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema felkeres → Bewegung, 1 Teilereignis, Agens, Ziel javasolja → 1 Teilereignis, Patiens írjon → 1 Teilereignis, Patiens tartsa be → 1 Teilereignis, Patiens 190 József Tóth (14a) Herrentoilette und Zentralbahnhof hören sich doch ganz erträglich und vernünftig an. Erfahrungsschema hören sich an → 1 Teilereignis, Experiens (14b) Férfimosdó és központi pályaudvar, az egészen elviselhetően és értelmesen hangzik. Erfahrungsschema hangzik → 1 Teilereignis, Experiens (15a) Nichts werde so heiß gegessen wie gekocht. Handlungsschema + Handlungsschema werde gegessen, gekocht → 1 Teilereignis, Patiens (15b) Nem eszik olyan forrón a kását, mint ahogyan főzik. Handlungsschema + Handlungsschema eszik, főzik → 1 Teilereignis, Patiens (16a) In Wirklichkeit sei „Einrichtung“ gemeint. Essivschema sei gemeint → 1 Teilereignis, Essiv (16b) Valójában „kiképzés” akart lenni. Essivschema akart lenni → 1 Teilereignis, Essiv (17a) Durchaus denkbar findet es der Rechtsanwalt, daß man von seinem frisch gebackenen Klienten verlange, er solle sich einrichten. Erfahrungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema findet → 1 Teilereignis, Experiens, Patiens verlange → 1 Teilereignis, Agens, Patiens solle sich einrichten → 1 Teilereignis, Agens (17b) Az ügyvéd szerint igenis elképzelhető, hogy új sütetű kliensét ki akarják képezni. Handlungsschema Konzeptuelle Ereignisschemata 191 ki akarják képezni → 1 Teilereignis, Agens (18a) Abwarten. Handlungsschema abwarten → 1 Teilereignis, Handlung (18b) Várjuk csak ki a végét. Handlungsschema várjuk csak ki → 1 Teilereignis (19a) Man muß Vertrauen haben! Besitzschema muß haben → 1 Teilereignis, Besitzer, Patiens (19b) A bizalom rendkívül fontos! Essivschema fontos → 1 Teilereignis, Patiens, Essiv (20a) Vertrauen ist das wichtigste. Essivschema ist das wichtigste → 1 Teilereignis, Patiens, Essiv (20b) A bizalom a fő! Essivschema fő → 1 Teilereignis, Patiens, Essiv (21a) Daheim wälzt sich der zur Herrentoilette Beorderte schlaflos über seine durchfeuchteten Laken. Handlungsschema wälzt sich → 1 Teilereignis, Agens (21b) Otthon a Férfimosdóba Rendelt Egyén álmatlanul hánykolódik nyirkos lepedőjén. Handlungsschema hánykolódik → 1 Teilereignis, Agens 192 József Tóth (22a) Erfüllt von brennendem Neid lauscht er dem unbeschwerten Summen einer Fliege. Erfahrungsschema lauscht → 1 Teilereignis, Experiens, Patiens (22b) Majd szétveti az irigység, úgy hallgatja egy légy gondtalan zümmögését. Vorgangsschema + Erfahrungsschema szétveti → 1 Teilereignis, Patiens hallgatja → 1 Teilereignis, Experiens, Patiens (23a) Die lebt! Handlungsschema lebt → 1 Teilereignis, Agens, durativ (23b) Ez él! Handlungsschema él → 1 Teilereignis, Agens, durativ (24a) Die hat keine Sorgen! Besitzschema hat → 1 Teilereignis, Besitzer, Patiens (24b) Ennek semmi gondja! Besitzschema semmi [nincs] → 1 Teilereignis, Besitzer, Patiens (25a) Was weiß die schon vom Zentralbahnhof? ! Erfahrungsschema weiß → 1. Teilereignis, Experiens, Patiens (25b) Mit tud ez a központi pályaudvarról? ! Erfahrungsschema tud → 1. Teilereignis, Experiens, Patiens Konzeptuelle Ereignisschemata 193 (26a) Man weiß ja selber nichts darüber … Erfahrungsschema weiß → 1. Teilereignis, Experiens, Patiens (26b) Hiszen ő maga sem tud róla semmit … Erfahrungsschema tud → 1. Teilereignis, Experiens, Patiens (27a) Mitten in der Nacht läutet er an der Tür des Nachbarn. Handlungsschema läutet → 2 Teilereignisse, Handlung, Agens, Patiens, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert (27b) Az éjszaka kellős közepén becsönget a szomszédja ajtaján. Handlungsschema becsönget → 2 Teilereignisse, Handlung, Agens, Patiens, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert (28a) Durch das Guckloch glotzt ihn ein Auge an, kurzfristig, ausdruckslos, bis der Klingelnde kapituliert und den Finger vom Klingelknopf löst. Handlungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema glotzt an → 1 Teilereignis, Agens, Patiens, Handlung kapituliert → 1 Teilereignis, Agens, Handlung löst → 1 Teilereignis, Agens, Patiens, Handlung, punktuell (28b) A kukucskálón át egy szempár mered rá rövid ideig, kifejezéstelenül, míg végre a Csengető feladja a harcot, és leveszi ujját a csengőről. Handlungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema mered rá → 1 Teilereignis, Agens, Patiens, Handlung feladja → 1 Teilereignis, Agens, Handlung leveszi → 1 Teilereignis, Agens, Patiens, Handlung, punktuell (29a) Pünktlich um acht Uhr morgens betritt er am 5. Nov. den Zentralbahnhof, fröstelnd in einem kurzärmeligen Sporthemd und einer Leinenhose, das Leichteste, was er an derartiger Bekleidung besitzt. Bewegungsschema + Besitzschema 194 József Tóth betritt → 1 Teilereignis, Agens, Ziel, Bewegung besitzt → 1 Teilereignis, Besitzer, Patiens (29b) November 5-én pontosan reggel 8-kor belép a központi pályaudvarra, didereg rövid ujjú sportingében és vászonnadrágjában; ez a legkönnyebb öltözete. Bewegungsschema + Vorgangsschema belép → 1 Teilereignis, Agens, Ziel, Bewegung didereg → 1 Teilereignis, Vorgang, Agens öltözete → substantivisches Prädikat (30a) Hier und da gähnt ein beschäftigungsloser Gepäckträger. Handlungsschema gähnt → 1 Teilereignis, Handlung, Agens (30b) Itt-ott egy-egy unatkozó hordár ásítozik. Handlungsschema ásítozik → 1 Teilereignis, Handlung, Agens (31a) Der Boden wird gefegt und immerzu mit einer Flüssigkeit besprengt. Handlungsschema + Handlungsschema wird gefegt → 1 Teilereignis, Handlung, durativ, Patiens wird besprengt → 1 Teilereignis, Handlung, durativ, Patiens (31b) A padlót söprik éppen, és valamiféle folyadékkal locsolják. Handlungsschema + Handlungsschema söprik → 1 Teilereignis, Handlung, durativ, Patiens locsolják → 1 Teilereignis, Handlung, durativ, Patiens (32a) Durch die spiegelnde Leere der Herrentoilette hallt sein einsamer Schritt: Kabine 18 entdeckt er sofort. Erfahrungsschema + Erfahrungsschema hallt → 1 Teilereignis, Experiens entdeckt → 1 Teilereignis, Experiens, Patiens (32b) Magányos léptei visszhangot vernek a férfimosdó tükrökkel szegélyezett ürességében; a 18-as fülkét nyomban felfedezi. Konzeptuelle Ereignisschemata 195 Erfahrungsschema + Handlungsschema visszahngot vernek → 1 Teilereignis, Experiens, Patiens felfedezi → 1 Teilereignis, Experiens, Patiens (33a) Er schiebt eine Münze ins Schließwerk der Tür, die aufschwingt, und tritt ein. Handlungsschema + Vorgangsschema + Bewegungsschema schiebt → 2 Teilereignisse, Agens, Patiens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert aufschwingt → 1 Teilereignis, Vorgang, Patiens tritt ein → 1 Teilereignis, Bewegung, Agens, Ziel (33b) Bedob egy érmét a zárszerkezetbe, az ajtó hirtelen kinyílik és ő belép. Handlungsschema + Vorgangsschema + Bewegungsschema bedob → 2 Teilereignisse, Agens, Patiens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert kinyílik → 1 Teilereignis, Vorgang, Patiens belép → 1 Teilereignis, Bewegung, Agens, Ziel (34a) Wild zuckt in ihm die Gewißheit auf, daß gar nichts passieren wird. Vorgangsschema + Vorgangsschema zuckt auf → 1 Teilereignis, Patiens, Vorgang passieren wird → 1 Teilereignis, Patiens, Vorgang (34b) Heves bizonyosság villan fel benne: semmi sem fog történni! Vorgangsschema + Vorgangsschema villan fel → 1 Teilereignis, Patiens, Vorgang fog történni → 1 Teilereignis, Patiens, Vorgang (35a) Man will ihn nur einrichten, weiter nichts! Handlungsschema will einrichten → 2 Teilereignisse, Agens, Patiens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert (35b) Csak ki akarják képezni, semmi más! Handlungsschema ki akarják képezni → 2 Teilereignisse, Agens, Patiens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert 196 József Tóth (36a) Gleich wird es vorüber sein, und er kann wieder nach Hause gehen. Vorgangsschema + Bewegungsschema wird vorüber sein → 1 Teilereignis, Patiens, Vorgang kann gehen → 1 Teilereignis, Agens, Ziel (36b) Hamarosan túl lesz rajta, és mehet haza megint! Vorgangsschema + Bewegungsschema túl lesz → 1 Teilereignis, Patiens, Vorgang mehet → 1 Teilereignis, Agens, Ziel (37a) Eine euphorische Stimmung steigt ihm in die Kehle, lächelnd riegelt er das Schloß zu und setzt sich. Vorgangsschema + Handlungsschema + Handlungsschema steigt → 1 Teilereignis, Patiens, Vorgang riegelt zu → 2 Teilereignisse, Agens, Patiens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert setzt sich → 2 Teilereignisse, Agens, Handlung, Argumente in alle Teilereignisse involviert, impliziert (37b) Az öröm hulláma elszorítja torkát, mosolyogva tolja be a reteszt és leül. Vorgangsschema + Handlungsschema + Handlungsschema elszorítja → 1 Teilereignis, Agens, Patiens, Vorgang tolja be → 2 Teilereignisse, Agens, Patiens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert leül → 2 Teilereignisse, Agens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert (38a) Eine Viertelstunde später kommen zwei Toilettenmänner herein, öffnen mit einem Nachschlüssel Kabine 18 und ziehen den leichtbekleideten Leichnam heraus, um ihn dann in die rotziegeligen Tiefen des Zentralbahnhofes zu schaffen, von dem jeder wußte, daß ihn weder ein Zug jemals erreicht noch verlassen hatte, obwohl oft über seinem Dach der Rauch angeblicher Lokomotiven hing. Bewegungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema + Erfahrungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema + Vorgangsschema kommen herein → 2 Teilereignisse, Agens, Ziel, Bewegung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert Konzeptuelle Ereignisschemata 197 öffnen → 2 Teilereignisse, Agens, Patiens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert ziehen heraus → 2 Teilereignisse, Agens, Patiens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert zu schaffen → 1 Teilereignis, Patiens, Handlung wußte → 1 Teilereignis, Experiens erreicht/ verlassen hatte → 1 Teilereignis, Agens, Patiens, Handlung hing → 1 Teilereignis, Patiens, Vorgang (38b) Negyedóra múltán két vécésember jön be, álkulccsal kinyitják a 18-as fülkét, és kihúzzák a könnyű öltözetű hullát, hogy eltüntessék a vörös téglás központi pályaudvar mélyében, amelyről mindenki tudta, hogy még soha egyetlen vonat sem érte vagy hagyta el, habár a tető fölött gyakran gomolygott állítólagos mozdonyok füstje. Bewegungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema + Erfahrungsschema + Handlungsschema + Handlungsschema + Vorgangsschema jön be → 2 Teilereignisse, Agens, Ziel, Bewegung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert kinyitják → 2 Teilereignisse, Agens, Patiens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert kihúzzák → 2 Teilereignisse, Agens, Patiens, Handlung, Argumente nicht in alle Teilereignisse involviert, impliziert eltüntessék → 1 Teilereignis, Patiens, Handlung tudta → 1 Teilereignis, Experiens érte/ hagyta el → 1 Teilereignis, Agens, Patiens, Handlung gomolygott → 1 Teilereignis, Patiens, Vorgang 3.2 Überlegungen Unterschiede sind in den sprachlichen Ausdrucksformen zu beobachten. In einigen ungarischen Sätzen (siehe Satz 5b, 6b, 7b, 12b, 13b, 20b) wird das dem deutschen Pendant entsprechende Konzept nicht durch ein einfaches Prädikat (bestehend aus einem Verb), sondern durch ein zusammengesetztes (nominal-verbales) Prädikat, durch ein zusammengesetztes Prädikat mit einem Nullhilfsverb oder mit einer Nominalphrase versprachlicht. In einigen deutschen Sätzen (z.B. 6a) erscheint eine Nominalphrase, wofür im ungarischen Satz ein zusammengesetztes Prädikat verwendet wird. In anderen deutschen Sätzen (z.B. 17a) hat man es mit mehreren Schemata (ausgedrückt mit einem verbalen Prädikat) zu tun, 198 József Tóth was in den ungarischen Sätzen (z.B. 17b) dagegen nur mit einem Schema (ausgedrückt mit einem verbalen Prädikat) realisiert wird. Satz (19a) und (19b) sind Fälle der eher seltenen Art, in denen unterschiedliche Schemata vorliegen. In anderen deutschen Sätzen (z.B. 22a) entsprechen einem Schema (ausgedrückt mit einem verbalen Prädikat) im ungarischen Satz zwei Schemata (ausgedrückt mit verbalen Prädikaten). In weiteren deutschen Sätzen (z.B. 29a) erscheinen die Schemata (ausgedrückt mit verbalen Prädikaten) teilweise an anderen Stellen als im ungarischen Satz (29b). Was die Qualität und die Quantität der Teilereignisse anbelangt, bestehen Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen nur in dem einen Fall, in dem die deutsche Partizipialkonstruktion (3a) im Ungarischen mit einem Prädikat (3b) ausgedrückt wird. Dem verbalen Prädikat in (5a) entspricht im Ungarischen (5b) kein verbales Prädikat, sondern ein Numerale. In (6a) liegt im ersten Satzteil eine Nominalphrase vor, im Ungarischen (6b) dagegen ein verbales Prädikat. In (6a) erscheint im ersten Satzteil eine Nominalphrase, im Ungarischen (6b) dagegen ein verbales Prädikat. Das deutsche verbale Prädikat (7a) wird mit einem adjektivischen Prädikat ins Ungarische (7b) übersetzt. Unterschiedlich ist die Argumentenstruktur des Deutschen in (11a) (ob es nicht schon zuviel gewesen ist) und des Ungarischen in (11b) (vajon nem kockáztattak-e már azzal is túl sokat). Im Ungarischen taucht ein Handlungsverb mit einem Agens auf, im Deutschen dagegen das Verb sein. In (12a) entspricht dem deutschen verbalen Prädikat im Ungarischen (12b) ein adjektivisches Prädikat. In (17a) sind drei Prädikate enthalten, von denen in (17b) aber nur das dritte Prädikat als verbal erscheint. Das zweite Prädikat erscheint im ungarischen Satz (17b) gar nicht und das erste ist ein adjektivisches Prädikat (17b). (19a) und (19b) unterscheiden sich auch auf der konzeptuellen Ebene, (19a) kann einem Besitzschema, (19b) dagegen einem Essivschema zugeordnet werden, wobei im Ungarischen (19b) ein adjektivisches Prädikat vorliegt. Auch in (20b) taucht im Ungarischen im Gegensatz zum Deutschen (20a) ein substantivisches Prädikat auf. In (22a) liegt eine Partizipialphrase vor, in (22b) dagegen ein verbales Prädikat. Dem Beispiel (24a) entspricht im Ungarischen ein nominal-verbales Prädikat (24b). In (29a) entspricht das erste verbale Prädikat dem des Ungarischen (29b). Für das zweite ungarische Prädikat (29b) steht im Deutschen eine Partizipialkonstruktion (2a), für das zweite deutsche verbale Prädikat (29a) steht im Ungarischen ein substantivisches Prädikat (29b). Konzeptuelle Ereignisschemata 199 4 Fazit In den angeführten Ereignissen sind mehrere begriffliche Einheiten, wie zum Beispiel Teilnehmer in unterschiedlichen semantischen Teilnehmerrollen (Agens, Besitzer, Empfänger, Erfahrungszentrum, Essiv, Objekt, Patiens, Ziel etc.), involviert (Löbner 2003). Eindeutig lässt sich feststellen, dass jeder deutsche und jeder ungarische Satz von der konzeptuellen Seite her gesehen ein Ereignis ausdrückt und es zwischen den deutschen bzw. ungarischen Sätzen bezüglich der Zuordnung zum jeweiligen Ereignisschema keine Unterschiede gibt. Auf diese Weise wird die Hypothese, dass beide Sprachen auf semantischer Ebene von den gleichen konzeptuellen Mustern gesteuert werden, bestätigt. 3 Literatur Löbner, Sebastian (2003): Semantik. Eine Einführung. Berlin u.a. (De-Gruyter-Studienbuch). Pörings, Ralf/ Schmitz, Ulrich (Hrsg.) (2003): Sprache und Sprachwissenschaft. Eine kognitiv orientierte Einführung. 2., überarb. und aktualisierte Aufl. Tübingen. (Narr-Studienbücher). Sommerfeldt, Karl-Ernst/ Schreiber, Herbert/ Starke, Günter (1996): Grammatisch-semantische Felder. Einführung und Übungen. 4. Aufl. Berlin u.a. Tóth, József (2006): Repräsentation der Wortbedeutung. In: Vliegen, Maurice (Hrsg.): Variation in Sprachtheorie und Spracherwerb. Akten des 39. Linguistischen Kolloquiums in Amsterdam 2004. Frankfurt a.M. u.a. (Linguistik International; 16). S. 363-374. Tóth, József (2009): Ereignisstruktursemantik. Welchen Verben liegen Ereigniskomplexe zugrunde? In: Henn-Memmesheimer, Beate/ Franz, Joachim (Hrsg.): Die Ordnung des Standard und die Differenzierung der Diskurse. Akten des Linguistischen Kolloquiums in Mannheim 2006. Teil 2. Frankfurt a.M. u.a. (Linguistik International; 24). S. 745  753. Tóth, József (2010a): Ereignis als komplexes Ganzes in unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt (deutsch-ungarischer Vergleich). In: Cate, Abraham P. ten / Rapp, Reinhard/ Strässler Jürg/ Vliegen, Maurice/ Weber, Heinrich (Hrsg.): Grammatik - Praxis - Geschichte. Festschrift für Wilfried Kürschner. Tübingen. S. 181-190. Tóth, József (2010b): Interkulturelle Semantik. Ereignisstrukturbasierte Analyse im Sprachvergleich (Deutsch-Ungarisch). In: Pohl, Inge (Hrsg.): Semantische Unbestimmtheit im Lexikon. Frankfurt a.M. u.a. (Sprache, System und Tätigkeit; 61). S. 347  358. Tóth, József (2011): Abbildung konzeptueller Ereignisschemata durch die sprachliche Struktur. Ein deutsch-ungarischer Vergleich. In: Kürschner, Wilfried/ Rapp, Reinhard/ Strässler, Jürg/ Vliegen, Maurice/ Weber, Heinrich (Hrsg.): Neue linguistische Perspektiven. Festschrift für Abraham P. ten Cate. Frankfurt a.M. u.a. (Studien zur Sprache und Literatur; 4). S. 205  215. 200 József Tóth Quellen Kunert, Günter (1969): Kicsi zöld emberkék. Übersetzt von Mária Ember (1969). Budapest. Kunert, Günter (1972): Tagträume in Berlin und andernorts. Kleine Prosa, Erzählungen, Aufsätze. München. Text-Welt - Gedanken-Welt (Oder: Vorstellung des Buches „Die Analyse der semantisch-kognitiven Ebene der Fachsprache. Untersucht am Beispiel von Texten aus der Biologie“) Zuzana Tuhárska (Banská Bystrica) Zusammenfassung Was alles verbirgt ein Text hinter sich? Was alles kann der Textverfasser in einen Text hineinlegen? Was alles fließt in die Text-Form ein? Diese Fragen determinierten die Entstehung des Bandes „Die Analyse der semantisch-kognitiven Ebene der Fachsprache. Untersucht am Beispiel von Texten aus der Biologie“ (Tuhárska 2011), in der die Text-Form als Output kognitiver Prozesse eines Textproduzenten betrachtet wird. Der Text in seiner formalen Gestaltung erschließt uns die Text-Welt im weiteren Sinne des Wortes, indem die Formen der Versprachlichung ein Eingangstor in die unsichtbare Welt der Gedanken darstellen. Mittels korpusgestützter Textanalyse, unter Berücksichtigung theoretischer Ansätze der kognitiven Linguistik und der Pragmasyntax, wird versucht, einige Aspekte dieser Welt zu analysieren. 1 Einleitung und Problemstellung In der (vor allem) textlinguistischen Fachliteratur gibt es relativ viele Text-Definitionen. Bei diesem Begriff ergänzt auch seine Etymologie den gesamten Rahmen und kann die Bedeutung des Text-Begriffes sehr gut veranschaulichen. Wenn man die Bedeutung des lateinischen Wortes textere berücksichtigt und zugleich an das Wort Textilie (‚Stoff als Material für Kleider‘) denkt und man sich die sich daraus ergebende Bedeutung ‚Zusammengewobenes, Zusammenverflochtenes‘ vor Augen führt, erkennt man bestimmte Parallelen. Auf der einen Seite ist es die Grundbedeutung, die durch eine materielle Verbindung von Fäden im wahrsten Sinne des Wortes charakterisiert ist und auf der anderen Seite ist es die nicht-materielle, inhaltliche Verbindung, die sich aus der Verflechtung der Gedanken-Welt ergibt und in die Text-Form umgewandelt wird. Aus dieser Perspektive heraus wird der Text im vorliegenden Beitrag betrachtet, d.h. Text als Resultat, als Output der (nicht-materiellen, nicht-erfassbaren) Gedanken- Welt. Mit anderen Worten: Der Text kann als ein Tor, als ein Zugangsweg in 202 Zuzana Tuhárska diese nicht direkt wahrnehmbare, nicht direkt erfassbare Welt der Gedanken angesehen werden. Deshalb lautet die zentrale Frage: Was alles verrät uns ein Text (als Resultat der Gedankenprozesse, die ihm vorangehen) über den Textproduzenten? Eine mögliche Antwort auf diese Frage bietet das Buch „Die Analyse der semantisch-kognitiven Ebene der Fachsprache. Untersucht am Beispiel von Texten aus der Biologie“ (Tuhárska 2011). Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, alle Aspekte dieser Problematik vorzustellen. Aus diesem Grund liegt der Schwerpunkt vor allem auf dem methodischen Aspekt und es wird versucht, anhand von empirischen Untersuchungen die oben angeführte zentrale Frage zu beantworten. Das heißt, es wird auf die Frage fokussiert, wie man eine Korpusanalyse durchführen kann, um festzustellen, was ein Text alles über den Textproduzenten verrät, an welche theoretischen Ausgangspunkte man sich dabei anlehnen und zu Ergebnissen welcher Art man kommen kann. Im Mittelpunkt der Betrachtung liegt also eine konkrete Methode der Korpusanalyse, welche als mögliche Vorgabe für die Analyse anderer Texte dienen kann. Wenn man auf die zentrale Frage zurückkommt, ist es als Grundlage wichtig, sich die Ausgangssituation vor Augen zu führen, die sich mittels Abbildung 1 veranschaulichen lässt: Text - zentral positioniert; auf der einen Seite der Textverfasser; auf der anderen der Textrezipient. Die Betrachter-Perspektive weist auf eine analytische Zugangsweise zum Text hin. Verfasser Schüler/ Student Betrachter Abb. 1 Bezüglich der Perspektive „Verfasser - Text“ ergeben sich folgende Fragen: Was alles legt (im eigentlichen Sinne des Wortes) der Verfasser in den Text hinein? Wie versprachlicht er seine Gedankengänge? Welche auf die Gedankengänge bezogenen Erkenntnisse vermittelt der Text? TextText TextText TextText TextText TextText Text-Welt - Gedanken-Welt 203 2 Theoretische Grundlagen Die oben genannte zentrale Frage ist vor dem theoretischen Hintergrund der Pragmasyntax zu beantworten. Die Definition des Begriffes Pragmasyntax nach Schulze (2003: www.lrz-muenchen.de/ ~LK/ VortragSchulze210503.htm; Stand: 15.12.2008) zitiert nach Tuhárska 2009: 179, Hervorhebungen der Verf.) lautet: In der Tradition einer Cognitive Typologie, so wie sie sich z.B. im funktionalen Modell einer ʻ Grammatik von Szenen und Szenarien ʼ artikuliert, wird unter Pragmasyntax derjenige B e r e i c h s p r a c h l i c h e n W i s s e n s verstanden, der (unter anderem) Umgang und Art der ʻ s p r a c h l i c h e n L i n e a r i s i e r u n g ʼ v o n G e s t a l t e r f a h r u n g e n steuert. Diese Definition spiegelt die Verbindung der Sprache (als Form der Versprachlichung; der linearisierten Form) mit der nicht-materiellen Wissensebene wider. Es ist gerade diese Verbindung, welche die zwei Welten - Gedanken-Welt und Text-Welt - in ihrer Komplexität darstellt. Dabei kann man als grundlegend pragmasyntaktisch orientierte Ansätze, die bei der Korpusanalyse zum Tragen kommen, (1) den Ansatz A t t e n t i o n - I n f o r m a t i o n - F l o w und (2) den Ansatz G r a m m a t i k v o n S z e n e n u n d S z e n a r i e n (zu beiden Ansätzen vgl. Schulze 1998) betrachten. (1) Der Ansatz Attention-Information-Flow beruht auf dem Gedanken, dass Objekte, Tatsachen etc., welche die Aufmerksamkeit des Textproduzenten wecken (Attention), d.h. welche dieser für interessant hält, ihr Abbild im Text finden, d.h., sie fließen bei der Textproduktion in den Versprachlichungsprozess ein. Der Rezipient wird über diese im Text informiert (Information). Der Textproduzent versprachlicht nicht alles, sondern er bildet im Text „nur“ einen ausgewählten Ausschnitt bzw. ausgewählte Punkte ab, d.h. das, was er erwähnenswert findet. (2) Das Konzept Grammatik von Szenen und Szenarien besagt, dass die sprachlichen Äußerungen prinzipiell eine Szene darstellen, d.h. in einer Äußerung kann man die Aktanten (Personen), die in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen, identifizieren, wobei sie in einem bestimmten Milieu (Kulissen) positioniert sind. Beide vorgestellten Ansätze weisen Schnittpunkte mit der Theorie der f r a m e s u n d s c r i p t s auf. Für eine empirisch ausgerichtete Zugangsweise ist die Frage von Bedeutung, wie man die oben genannten Prinzipien im Text verifizieren kann. Oder anders gefragt: Wie lassen sich diese in empirisch verwertbare Kategorien umwandeln? Zu diesem Zweck wurde das Tableau mit sog. relationalen Primitiven (Schulze 1998) gewählt. Es handelt sich um Kategorien, welche morphologische, syntaktische und pragmatische Dimension versprachlichter Einheiten vereinen. Die 204 Zuzana Tuhárska Gesamteinteilung geht auf die Zweiteilung in sog. Relatoren ( → ) und Referenten ( R : ) zurück. Relatoren, die sprachlich gesehen prototypisch verbaler Natur sind, bringen Beziehungen (Relationen) zwischen einzelnen Referenten (Objekten, auf die der Textproduzent referiert), die prototypisch nominalen Charakter haben, zum Ausdruck. Als Grundkategorien bei Referenten können sog. s u b j e c t i v e , a g e n t i v e und o b j e c t i v e angesehen werden. Diese lassen sich übersichtlich in tabellarischer Form folgenderweise darstellen (vgl. Tabelle 1): Syntaktische Dimension Semantische Dimension Pragmatische Dimension subjective  das Subjekt des intransitiven Verbs in der deutschen Satzkonstruktion  Einstelligkeit  primär: Affinität zum Agens Handelnden  sekundär: Affinität zum Patiens  pragmatisch sekundär motiviert agentive  das Subjekt des transitiven Verbs in der deutschen Satzkonstruktion  Zweistelligkeit  Agens  pragmatisch sekundär motiviert objective  das Objekt des transitiven Verbs in der deutschen Satzkonstruktion  Zweistelligkeit  Patiens  pragmatisch primär motiviert Tabelle 1 Bei der Korpusanalyse hat es sich aber als notwendig erwiesen, auch Übergangswerte zu diesen Grundkategorien hinzuzufügen, um sprachliche Einheiten präziser kategorisieren zu können und somit die „Sprachrealität“ besser abzubilden. Dadurch erweitert sich die Kategorisierungsbasis um i n d i r e c t e a g e n t i v e und i n d i r e c t e o b j e c t i v e , die sich wie folgt charakterisieren lassen: Text-Welt - Gedanken-Welt 205 Heavy Light Actants Actants agentive indirect indirect objective agentive objective Abb. 2 Die Spanne zwischen agentive und objective lässt sich auch vor dem auf die Agentivität bezogenen Hintergrund behandeln, wobei agentive den höchsten und objective den niedrigsten Grad an Agentivität verkörpern. Die Kategorie indirect agentive verfügt über eine niedrigere Agentivität als Grundkategorie agentive. Indirect agentive entspricht im traditionellen Sinne des Wortes dem Instrumental, dem Mittel der Durchführung, d.h. einer Entität, die indirekt tätig ist aber gleichzeitig etwas bewirkt. Die Kategorie indirect objective kennzeichnet sich durch einen höheren Grad an Agentivität als es bei objective der Fall ist und kann in der traditionellen linguistischen Terminologie dem Dativobjekt angeglichen werden. Erweiterungen der in der Tabelle 1 angeführten Grundkategorien stellen auch folgende Typen der relationalen Primitiven dar: Lokale Angaben, die mit präpositionalen Phrasen verbunden sind, bilden eine weitere Kategorie der relationalen Primitiven, welche als l o c a t i v e bezeichnet werden. Außerdem können sowohl Referenten als auch Relatoren näher spezifiziert werden, und zwar durch sog. adnominale und adverbiale Angaben, welche in der gängigen linguistischen Tradition Adjektiven und Adverbien entsprechen. Das Subjekt einer Passivkonstruktion wird als gespaltete Form (s p l i t ) von agentive und objective (A ˃ O) betrachtet. 3 Korpuswahl Das Korpus, in welchem die oben erwähnten theoretischen Ausgangspunkte angewandt werden, bildet ein Lehrbuch der Biologie, „Begegnungen mit der Natur 5“. Dieses ist für den Unterricht an allgemeinbildenden höheren Schulen in Österreich konzipiert worden, d.h. die Zielgruppe sind circa 15-jährige Schüler und Schülerinnen an Gymnasien bzw. Realschulen. Bei der Textsorte handelt es sich um einen für die Vermittlung des Lehrstoffes bestimmten Text, der als ein didaktisch angelegter fachsprachlicher Text eingestuft werden kann. Das Korpus umfasst 37.740 Textwörter und entspricht den von Paprotté (2009) an ein Korpus gestellte Kriterien, die sich auf Textumfang, Authentizität und elektronische 206 Zuzana Tuhárska Verfügbarkeit beziehen. Für die Determinierung der Grundeigenschaften eines Textes vor dem Hintergrund der Informationsvermittlung mit Fokussierung der Textproduzenten-Perspektive sind didaktisch angelegte fachsprachliche Texte besonders gut geeignet, weil der Textproduzent im Einklang mit dem Wesen dieser Textsorte (Vermittlung von Wissen) einen besonderen Wert auf die Art und Weise der Versprachlichung einer Fachinformation legt. Dadurch geraten alle drei - für die Korpusanalyse sowie für Forschungszwecke wichtigen - Perspektiven (d.h. Fachlichkeit des Textes, Didaktisierungsbestrebungen sowie der Text in Bezug auf seine kognitive Ebene) in den Vordergrund. Das Ziel der Korpusanalyse bildet einerseits die Beantwortung der schon erwähnten Fragen: Was hat der Autor in den Text hineingelegt? Welche Spuren des Autors trägt der Text (in seiner materiellen Form)? Die Antworten auf diese Fragen ergeben die Summe der typischen Texteigenschaften, die in Bezug auf die Natur der analysierten Grundeinheiten (relationale Primitiven) über syntaktische, semantische sowie pragmatische Werte neue Informationen vermitteln. Die Ergebnisse der Korpusanalyse sind zugleich auf andere Exemplare der gleichen Textsorte zu übertragen, da das Korpus dem Anspruch der Repräsentativität entspricht. Andererseits bildet diese Vorgangsweise eine mögliche „Anleitung“ für die Analyse anderer Textsorten und kann somit als Basis für die vergleichende Analyse mehrerer Textsorten dienen. 4 Methodische Vorgehensweise Die oben erwähnten theoretischen Ausgangspunkte können anhand einer Korpusanalyse dargestellt werden, in der die Textoberfläche in relationale Primitiven „zerlegt“ wird, welche die in diesen erhaltenen Informationen (d.h. semantische, syntaktische, pragmatische Aspekte) vermitteln. Eine solche Analyse spiegelt wiederum die Ereignisvorstellung (EV) wider, die den kognitiven Bereich mit dem sprachlichen in Verbindung bringt. Als nächstes wird gezeigt, wie eine solche Analyse in der Praxis realisiert wird. Oder anders formuliert: Wie finden Ereignisvorstellungen (mentale Bilder) in der sprachlichen Form (der Textform) ihren Ausdruck. Den theoretischen Ausgangspunkten nach sind hinter einzelnen sprachlichen Äußerungen EV zu finden, wie die Beispiele a und b veranschaulichen. a. Die Frau sieht einen Mann. b. Der Mann läuft. Text-Welt - Gedanken-Welt 207 In Beispiel a sind die Entitäten „Frau“ und „Mann“ durch die Beziehung des Sehens miteinander verbunden. Sie fallen unter die Kategorie R e f e r e n t e n , weil sie auf visuell identifizierbare Gestalten referieren. Das Lexem sieht lässt sich nicht direkt wahrnehmen, d.h. als eine Gestalt (auf dem mentalen Bild) identifizieren. Es verbindet die zwei Referenten (Gestalten), definiert die Beziehung (Relation) zwischen ihnen und wird kategorial gesehen als Relator eingestuft. Bezogen auf die theoretische Annahme der relationalen Primitiven bildet das Schema R e f e r e n t - R e l a t o r - R e f e r e n t eine Möglichkeit, eine mentale Vorstellung sprachlich zu erfassen, wobei die zwei Referenten unterschiedliche Werte haben: agentive (Frau) und objective (Mann) (zu ihrem Charakter vgl. Tabelle 1). Das Beispiel b repräsentiert eine andere Art der syntaktischen Konstruktion. Der oben skizzierten Analyse zufolge lässt sich diese in einen Referenten (Mann) und einen Relator (läuft) unterteilen. Der Referent entspricht der Kategorie subjective (vgl. Tabelle 1) und der Relator determiniert seinen Wert durch die Einbettung des Referenten in seine Umgebung, die sprachlich näher spezifiziert sein kann, aber nicht muss, vgl. c: c. Der Mann läuft im Park. Im Fall der sprachlichen Realisierung der lokalen Angabe bzw. im Fall, dass der Sprecher sich entscheidet, auch die Umgebung des Referenten (Kulissen) zu versprachlichen (d.h. in den Information-Flow miteinzubeziehen), ist der Referent (in Form einer Präpositionalphrase) als sog. locative versprachlicht. Daraus ergeben sich - syntaktisch gesehen - zwei grundlegende Schemata zur sprachlichen Darstellung von EV (vgl. d und e): d. Referent/ Agentive - Relator - Referent/ Objective Die Frau sieht einen Mann. R : A → R : O e. Referent/ Subjective - Relator (- Referent/ Locative) Der Mann läuft (im Park). R : S → ( R : LOC) Eine solche, sprachlich gesehen einfache Abbildung der EV lässt sich aber im Sinne von Attention-Information-Flow präzisieren, indem dem Textrezipienten auch weitere Details aus dem mentalen Bild des Textproduzenten sprachlich vermittelt werden. Dies wird üblicherweise durch sog. adnominale oder adverbiale 208 Zuzana Tuhárska Angaben realisiert, die den informativen Wert zum Referenten oder Relator anreichern. In der traditionellen linguistischen Terminologie entsprechen diesen Attribute und Adverbien (vgl. folgende Beispiele f bis i). f. Die schöne Frau sieht einen jungen Mann. g. Der junge Mann läuft im Park. h. Der junge Mann läuft schnell im Park. i. Der junge Mann läuft zur Vergnügung im Park. Die Phrasen die schöne Frau und einen jungen Mann im Beispiel f stellen informativ angereicherte Varianten von den oben erwähnten Referenten in ihrer Grundform dar: die Frau und einen Mann. Daraus ergibt sich die folgende schematische Darstellung (vgl. j und k): j. Die schöne Frau sieht einen jungen Mann. ADN- R : A → ADN- R : O k. Der junge Mann läuft im Park. ADN- R : S → R : LOC Parallel dazu kann man sich die nähere Bestimmung von Relatoren in Form von adverbialen Anreicherungen vorstellen (vgl. Beispiel l). l. Der junge Mann läuft schnell im Park. ADN- R : S → ADV- R : LOC Adverbiale Anreicherungen können auch referenziellen Charakter haben (vgl. Beispiel m). m. Der junge Mann läuft zur Vergnügung im Park. ADN- R : S → R : ADN- R : LOC Wie den angeführten Beispielen zu entnehmen ist, entspricht die Abbildung einer EV bzw. die Abbildung einer mentalen Szene in der Sprache der Phrasenebene. Eine schematische Darstellung von der Abbildung einer EV auf der sprachlichen Ebene lässt sich also wie folgt anführen: Text-Welt - Gedanken-Welt 209 EV EV: Ereignisvorstellungen NP: Nominalphrase VP: Verbalphrase NP VP (NP) Abb. 3 5 Empirische Herangehensweise Eine komplexe Korpusanalyse bietet eine Reihe an Daten, die im Einklang mit theoretischen Annahmen als Interpretationsquelle dienen können und mittels deren Interpretation die Grundeigenschaften des analysierten Korpus bzw. der analysieren Textsorte erfasst werden können. Im Folgenden wird eine Auflistung der analysierten Einheiten mit ihren Charakteristiken (vgl. Tabelle 2) und den Informationen zu ihren Aussagewerten skizziert (vgl. Tabelle 3). Kriterium kurze Charakteristik 1. (a) Referenten und (b) Relatoren (a) Versprachlichung visuell identifizierbarer Objekte einer EV; (b) Versprachlichung von Beziehungen zwischen Objekten einer EV 2. Relationale Primitiven Referenten und Relatoren in ihrer Gliederung in Untergruppen (vgl. Tabelle 1 und Abbildung 2) 3. (a) adnominale und adverbiale Angaben und (b) Quantoren (a) sprachliche Mittel der näheren Charakteristik von Referenten und Relatoren; (b) quantitative (zählbare sowie unzählbare) Angaben zu Referenten 4. Modalität (Modalverben), Negation, Modus, Interrogation) sprachliche Mittel, welche die Art der EV zum Ausdruck bringen 5. Passivkonstruktionen grammatische Kategorie (als Gegenstück zum Aktiv) 6. Inkorporierte Verbformen Verbalphrasen in standardisierter Form, die durch ein Verb zum Ausdruck gebracht werden können (in der traditionellen Grammatik üblicherweise als Funktionsverbgefüge bezeichnet) 210 Zuzana Tuhárska Kriterium kurze Charakteristik 7. Kopula verbindende sprachliche Konstruktionen, sie entsprechen prototypisch dem Schema X ist Y 8. Komparation und Explikation vergleichende und erklärende sprachliche Konstruktionen 9. Analytische Verbformen mehrteilige Verbformen (als Gegenstück zur Kategorie synthetisch) 10. Tempusformen Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur 1 und Futur 2 11. Deiktische Formen sprachliche Verweisformeln im w.S. (kotextuell und kontextuell) 12. Null-Angaben syntaktisch gesehen elliptische Textstellen, die sich inferrieren lassen 13. Pragmatische Marker sprachliche Mittel, die die Einstellung des Textproduzenten zum Geäußerten zum Ausdruck bringen 14. Tabellen, Schemata, Symbole nicht-fließender Text und andere, nicht auf Linearität basierende Textstrukturen Tabelle 2 Kriterium Aussagewert 1. Referenten und Relatoren (im Verhältnis) Dynamik des Textes 2. Relationale Primitiven „Grundaufbau“ von EV (mentalen Bildern) 3. (a) adnominale und adverbiale Angaben und (b) Quantoren detaillierte Charakteristik von EV 4. Modalität (Modalverben, Negation, Modus, Interrogation) Emotionalität → Objektivität; faktisch vs. imaginär 5. Passivkonstruktionen Emotionalität → Objektivität 6. inkorporierte Verbformen Stilebene, Kompliziertheitsgrad der Informationsvermittlung 7. Kopula Kompliziertheitsgrad der Informationsvermittlung (Erklärungsfunktion) Text-Welt - Gedanken-Welt 211 Kriterium Aussagewert 8. Komparation und Explikation Kompliziertheitsgrad der Informationsvermittlung (Erklärungsfunktion) 9. analytische Verbformen Kompliziertheitsgrad der Informationsvermittlung (strukturell betrachtet) 10. Tempusformen Art der Informationsvermittlung (assertiv, real) 11. deiktische Formen Art der Informationsvermittlung (Verweispotential, Nähe vs. Distanz) 12. Null-Angaben Art der Informationsvermittlung (implizit → Eindeutigkeit) 13. pragmatische Marker Emotionalität → Objektivität 14. Tabellen, Schemata, Symbole Anschaulichkeit Tabelle 3 Die Auswahl der zu analysierenden Aspekte wurde im Einklang mit den Forschungszielen ausgeführt, d.h. vor dem Hintergrund kognitiver, didaktischer und fachsprachlicher Aspekte. Dies ermöglicht eine Annäherung an die Forschungsfrage: Wie sind die Spezifika eines didaktisch angelegten fachsprachlichen Textes charakterisiert und wie wirken sich diese im Prozess der Informationsvermittlung aus? In Tabelle 4 werden einzelne Merkmale, die in der Korpusanalyse betrachtet wurden, ausgewertet. Es wird hier eine mögliche Verbindung des jeweiligen Merkmals mit dem kognitiven, didaktischen und fachsprachlichen Aspekt angeführt. Merkmal Merkmalshäufigkeit Charakteristik/ Auswirkungen 1. gegenseitiges Verhältnis von referenziellen und relationalen Angaben 1 : 1,83 bis 1: 3,78 in Abhängigkeit von dem betrachteten Aspekt - starke Vertretung der nominalen Einheiten im Korpus Nominalstil - für die Verarbeitung der Information: erschwerend 2.a) subjective ( R : S) von Referenten am stärksten vertreten - 14,61 % aller Referenten nicht ausgerichtete Relation, für die kognitive Verarbeitung am wenigsten aufwendig 212 Zuzana Tuhárska Merkmal Merkmalshäufigkeit Charakteristik/ Auswirkungen 2.b) agentive ( R : A) 9,07 % aller Referenten ausgerichtete Relation, für die kognitive Verarbeitung aufwendiger als R : S- Konstruktionen 2.c) objective ( R : O) fast im gleichen Maße wie R : A vertreten - 9,44 % aller Referenten die zweite Konstituente der ausgerichteten Relation; Schlüsse korrelieren mit R : A-Entität 2.d) objective auf subjective ( R : O>S) stark vertreten - 7,09 % aller Referenten Passivkonstruktionen wirken sich auf die Verarbeitung der Konstruktionen erschwerend aus 2.e) agentive - verdeckt ( R : A*) schwach vertreten - 0,62 % aller Referenten (Urheber des Geschehens in Passivkonstruktionen) zusätzliche, nicht notwendige Konstituente, die den Informationswert des Textes erhöht, zugleich aber eine Belastung für die Informationsaufnahme bedeutet 2.f) indirect objective ( R : IO) schwach vertreten - 0,98 % aller Referenten von Grundrollen abgeleitete Entitäten, die zusätzliche Informationen darstellen und so die Informativität des Textes erhöhen; durch die erhöhte Anzahl der Referenten steigt zugleich auch der Aufwand der Informationsverarbeitung 2.g) indirect agentive ( R : IA) 3,61 % aller Referenten 2.h) locative ( R : LOC) ziemlich stark vertreten - 21,93 % aller Referenten sie geben im primären (lokalen) und sekundären (abgeleiteten) Sinne zusätzliche Charakteristiken an, wodurch sie die Informationen im Korpus präzisieren, zugleich aber den Aufwand der Textverarbeitung erhöhen 2.i) referenzielle Einheiten mit Textstrukturierungsfunktion ziemlich stark vertreten - 14,53 % aller Referenten (z.B. Überschriften) sie prägen die Strukturierung, die formale Gliederung des Korpus, wodurch sie zur Übersichtlichkeit und zur leichteren Nachvollziehbarkeit beitragen 3.a) adnominale Angaben (referenziell u. nicht referenziell) sehr stark vertreten - 45,17 % aller referenziellen Angaben sie erhöhen im wesentlichen Maße die Informativität, zugleich aber auch den Verarbeitungsaufwand des Korpus Text-Welt - Gedanken-Welt 213 Merkmal Merkmalshäufigkeit Charakteristik/ Auswirkungen 3.b) adnominale referenzielle Einheiten ( R : ADN) ziemlich stark vertreten - 16,85 % aller Referenten sie qualifizieren die Referenten im Text näher, wodurch sie die Informativität wesentlich erhöhen und den fachsprachlichen Charakter des Korpus prägen, zugleich aber auch die Textverarbeitung anspruchsvoller machen 3.c) adverbiale Angaben (referenziell u. nicht referenziell) sehr stark (in Bezug auf Relationen) vertreten - 55,97 % aller Relationen gleiche Schlüsse wie bei den adnominalen Angaben - aber in Bezug auf Relationen 3.d) adverbiale referenzielle Einheiten ( R : ADV) eher schwach vertreten - 1,28 % aller Relationen sie qualifizieren die Relationen im Text näher, was seine Informativität erhöht, sie sind nicht so ausgeprägt wie die adnominalen Entitäten 3.e) Quantoren eher schwach vertreten - 5,36 % aller Referenten sie präzisieren die Angaben im Korpus, wodurch sie seinen Fachtextcharakter prägen und zugleich den Verarbeitungsaufwand erhöhen 4. Modalität ziemlich starke Markierung des Korpus durch das Merkmal der Modalität - 17,68 % aller relationalen Entitäten hinsichtlich der Modalität markiert Abbildung der Realität unter dem Aspekt der Modifizierung von dargestellten Tatsachen erfordert einen höheren kognitiven Aufwand, dieser lässt sich gruppenspezifisch behandeln, im Allgemeinen wirkt dies für die Informationsverarbeitung erschwerend 5. Passivkonstruktionen stark vertreten - 22,68 % aller relationalen Angaben auf die Informationsverarbeitung wirken sie erschwerend; sie determinieren Fachtexte (im Zusammenhang mit den Objektivisierungstendenzen) 214 Zuzana Tuhárska Merkmal Merkmalshäufigkeit Charakteristik/ Auswirkungen 6. inkorporierte Verbformen schwaches Vorkommen im Korpus - 2,29 % aller relationalen Entitäten strukturell und semantisch komplexe und komplizierte Einheiten; ihr geringes Auftreten im Korpus wirkt sich auf die Wahrnehmung der vermittelten Information positiv, erleichternd aus; die Verdunkelung der Information wird gesenkt, was für Vermittlung von Fachinformation notwendig ist 7. Kopulaverben eher stark vertreten - 11,59 % aller relationalen Angaben auf die Vermittlung der Information wirken sie erleichternd; sie vermögen nur relativ einfache inhaltliche Zusammenhänge zu vermitteln 8. Komparation und Explikation sehr stark vertreten - insgesamt 79,74 % aller Satzkonstruktionen für die Informationsvermittlung erleichternd; didaktische Tendenzen im Korpus 9. analytische Verbformen sehr stark vertreten - 45,45 % aller Relationen sie deuten auf ein sprachspezifisches Merkmal der deutschen Sprache hin (analytisch); sie wirken auf die Informationsvermittlung strukturell erschwerend, semantisch erleichternd 10. Tempusformen eindeutige Überlegenheit des Präsens - 92,62 % typisch für die Vermittlung der Fachinformation - es werden reale, aktuelle Fakten angeboten; für die Wahrnehmung der Information ist das Präsens erleichternd 11. deiktische Formen stark vertreten - 82,29 % aller Sätze und 16,44 % aller Referenten ein starkes Verweispotenzial im Korpus; für die Informationsverarbeitung erschwerend - gruppenspezifische Beurteilung 12. Null-Angaben {0} eher schwach vertreten - 3,26 % aller tokens geringere Anzahl der Null-Angaben erleichtert die Verarbeitung des Textinhaltes 13. pragmatische Marker eher stark vertreten - 14,60 % aller Sätze sie bieten die Information unter einer bestimmten Perspektive an, was zur Subjektivisierung leitet; nicht fachsprachlich typisch Text-Welt - Gedanken-Welt 215 Merkmal Merkmalshäufigkeit Charakteristik/ Auswirkungen 14. Tabellen, Schemata, Symbole 43 Tabellen; 69 Schemata; 259 Symbole diese korrelieren mit dem Anschaulichkeitsgrad nicht-linearer Elemente - einerseits kognitiv erleichternd (Anschaulichkeit), andererseits erschwerend (Aufwand im Prozess der Interpretation einer nicht-linearen Struktur); didaktisch und fachsprachlich erhöhen sie den Anschaulichkeitsgrad; Faktor der Sprachökonomie Tabelle 4 6 Fazit In Tabelle 4 werden zusammenfassend die Eigenschaften der Textsorte f a c h s p r a c h l i c h a n g e l e g t e r d i d a k t i s c h e r T e x t in Bezug auf den Prozess der Informationsvermittlung dargestellt. Der Fokus liegt dabei auf der Perspektive des Textproduzenten und auf der kognitiven, didaktischen und fachsprachlichen Ebene des Textes. Die vorgestellte Analyse kann als Ausgangspunkt für weitere Korpusanalysen dienen, die sich zwar auf andere Textsorten beziehen, aber methodisch äquivalent sind. Ergebnisse solcher Korpusanalysen würden dann textsortentypische Merkmale ausgewählter Textsorten auf der gleichen einheitlichen Basis erfassen. Aus den konkreten, in Tabelle 4 angeführten Angaben lässt sich ein sog. Waage-Prinzip ableiten, das auf die gegenseitige Wirkung der - auf der einen Seite zur Fachlichkeit, auf der anderen Seite zur Didaktisierung des Lehrtextes führenden - Versprachlichungsstrategien und der kognitiven Faktoren im Prozess der Textproduktion hindeutet. Schematisch lässt sich dieses wie folgt darstellen: Abb. 4 216 Zuzana Tuhárska Dieses Prinzip besagt Folgendes: Die Präzision der Informationsdarstellung, die typischerweise mit strukturell aufwändigen sprachlichen Strukturen in Verbindung steht und die Fachlichkeit von Texten bedingt, wird in manchen Fällen auf Kosten der Verständlichkeit verwirklicht. Die Didaktisierungsbestrebungen bewirken zwar eine bessere Verständlichkeit des Textes, sie können jedoch auch zu einer ungenügenden Präzision des Textes führen. 7 Literatur Paprotté, Wolf (2009): Korpuslinguistik. In: Müller, Horst M. (Hrsg.): Arbeitsbuch Linguistik. Eine Einführung in die Sprachwissenschaft. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage Paderborn. (UTB; 2169). S. 364 ‒ 381. Schulze, Wolfgang (1998): Person, Klasse, Kongruenz: Fragmente einer Kategorialtypologie des einfachen Satzes in den ostkaukasischen Sprachen. Bd. 1: Die Grundlagen. (2. Teil). München/ Newcastle. (LINCOM Studies in Caucasian Linguistics; 04). Tuhárska, Zuzana (2009): Fachsprachliches Verstehen und die Position der didaktischen Texte aus dem Bereich Biologie im Unterricht. In: Ďurčo, Peter/ Kozmová, Ružena/ Drinková, Daniela (Hrsg.): Deutsche Sprache in der Slowakei. Festschrift für Prof. Dr. Ilpo Tapani Piirainen zum 65. Geburtstag. Internationale Fachtagung Piesťany, den 13.-15. Juni 2007. Trnava/ Bratislava. S. 175 ‒ 181. Tuhárska, Zuzana (2011): Die Analyse der semantisch-kognitiven Ebene der Fachsprache. Untersucht am Beispiel von Texten aus der Biologie. Hamburg. (Philologia; 157). Internetquellen Schulze, Wolfgang (2003): www.lrz-muenchen.de/ ~LK/ VortragSchulze210503.htm (Stand: 15.12.2008). Namenkategorien in Titelzitaten und Titelzitate als Namen Erika Windberger-Heidenkummer (Graz) Zusammenfassung 1 Untersuchungsgegenstand dieses Beitrags sind Titelzitate, die Bibliotheken und ihren Nutzern weltweit als geregelte und optimierte Bestandsdaten dienen und im Wissenschaftsbetrieb als Quellenbelege (Literaturangaben) unverzichtbar sind. Titelzitate stellen effiziente und straff geregelte Sequenzen unterschiedlicher Namentypen dar, durch die geistige Produkte (veröffentlichte Texte) umfassend und ausreichend gekennzeichnet werden. Die Hypothese, dass es sich dabei sowohl um komplexe Namen als auch um deskriptive Texte handelt, scheint sich im Zuge der Ausführungen zu erhärten. Nach entsprechender Begriffsklärung und Klassifikation wird der Blick sowohl auf die Abfolge und die Merkmale der einzelnen onymischen Konstituenten - das sind die onymischen Hauptkategorien Anthroponym (Autor, Herausgeber), Ergonym (geistiges Produkt und Produzent/ Verlag) und Toponym (Lokalisierung) - als auch auf das Ganze gerichtet. Abschließend werden einige Feststellungen zur Art dieser integrierenden, komplexen, aber von der Namenforschung noch kaum beachteten „Produktinformation“ getroffen. 1 Einleitung Jeder, der im Wissenschaftsbetrieb arbeitet, verbringt geraume Zeit mit Literaturrecherche und Verarbeitung wissenschaftlicher Produktinformationen. Man liest und erfasst dabei primär Titelzitate, um sie bei Bedarf nach den jeweils geforderten Richtlinien in das eigene Produkt einzubinden. Die Feststellung, dass wesentliche Namenkategorien in Titelzitaten enthalten sind, ist banal. Ob Titelzitate aber sowohl als Texte als auch als komplexe Namen zu interpretieren sind, ist hingegen eine interessante wissenschaftliche Fragestellung. Diese lässt sich in eine entsprechende Hypothese umwandeln: Titelzitate sind Namen und Texte. Untersuchungsgegenstand ist die weltweit geregelte Benennung bestimmter geistiger Produkte in der Form der bibliothekarischen Titelaufnahme bzw. - aus der Sicht der Rezipienten - des Titelzitats. 1 Der vorliegende Text geht auf den gleichnamigen Vortrag der Verfasserin in der von Herrn Prof. Dr. Peter Ernst und Herrn Dr. Gerhard Rampl geleiteten Sektion 2 unter dem Titel „Onomastik“ zurück. 218 Erika Windberger-Heidenkummer Wenn man von Zitaten spricht, geht es um zwei Grundkategorien des Zitierens und ihren wechselseitigen Bezug: um Titelzitate und Textzitate 2 . Sucht man nach Literatur, so sind es die Titelaufnahmen als optimierte Bestandsdaten von Bibliothekssystemen, mit denen man - abgesehen vom physischen Objekt Buch - ständig konfrontiert wird. Unter Titelzitat wird im Folgenden das verstanden, was Germanisten traditionell aus der bibliothekarischen Titelaufnahme in eine „Titelangabe“ (Bangen 1975: 42) übernommen haben. Der Terminus „Titelzitat“ ist aussagekräftiger als etwa „bibliographische[r] Verweis“ (Rothstein 2011: 129) oder schlicht Literaturangabe. Oft wird die festgelegte Reihenfolge bestimmter Titelzitatteile nur als Zitat von Literatur, d.h. Printmedien und Internetressourcen, bezeichnet. Dazu einige Beispiele mit Nennung des Verlags: (1) Anreiter, Peter (2002): Pharmakonyme. Benennungsmotive und Strukturtypologie von Arzneimittelnamen. Wien: Edition Praesens. (2) Brendler, Andrea/ Brendler, Silvio (Hrsg.) (2007): Europäische Personennamensysteme. Ein Handbuch von Abasisch bis Zentralladinisch. Anlässlich der 65. Geburtstage von Rosa Kohlheim und Volker Kohlheim. Hamburg: Baar. (Lehr- und Handbücher zur Onomastik; 2). (3) Földes, Csaba (1995): Namenspiele, Spiele mit Namen. In: Eichler, Ernst et al. (Hrsg.): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Teilband 1. Berlin/ New York: De Gruyter. (HSK; 11.1), S. 586-593. Der hohe Sättigungsgrad an Zeichen, die man gemeinhin als Eigennamen definiert, ist unübersehbar. An der Bildung dieser umfangreichen Kennzeichnungen geistiger Produkte sind Autoren, Herausgeber, Verlage und schließlich Bibliotheken beteiligt, die als prominente Abnehmer mit Verteilerfunktion Titelaufnahmen machen. Der Markt lässt sich aber nicht auf Bibliotheken beschränken, sondern umfasst auch den Buchhandel und das Internet. Umso erstaunlicher ist 2 Zitate, v.a. wörtlich wiedergegebene Äußerungen, sind bereits als Namen oder zumindest Namenäquivalente diskutiert worden, allerdings ohne besondere Wahrnehmung von Seiten der Onomastik. Pafel (2007: 213) argumentiert, dass Anführungen (Textzitate) wie Nomina Propria syntaktisch Prädikate sind und beide auf ihre eigene Gestalt Bezug nehmen, und zwar unter der theoretischen Annahme, bei Eigennamen handle es sich um rigide definite Beschreibungen der Form „das salienteste x, das N heißt“ (Karnowski/ Pafel 2005: 64). Heinemann/ Heinemann (2002: 164) zeigen schließlich, dass Zitate als Subkategorien publizistischer Textsorten klassifiziert werden können. Namenkategorien in Titelzitaten und Titelzitate als Namen 219 es, dass bisher alle in solchen Gebilden enthaltenen Namenarten diskutiert wurden, das Ganze jedoch, das Titelzitat, innerhalb der Onomastik offensichtlich (noch) keinen Stellenwert hat. Und das gerade heute, wo Syntax und Textlinguistik fruchtbare Forschungsfelder sind. Bezugnehmend auf die Hypothese ergeben sich vier Fragestellungen: 1. Welche Kriterien sprechen für eine Verbindung von Eigenname, (Werk-)Titel, Titelaufnahme und Titelzitat? 2. Welche Eigennamenkategorien sind in Titelaufnahmen bzw. Titelzitaten enthalten? 3. Ist eine Titelaufnahme bzw. ein Titelzitat ein Text (aus Namen) und wie lässt sich dieser beschreiben? 4. Ist dieser Text als komplexer Name definierbar und wenn ja, welcher Kategorie entspricht er? Im Folgenden werden einige operationale Begriffsklärungen vorgenommen, die für die Frage nach einem bestehenden Konnex wichtig sind. 2 Eigenname, Titel, Titelaufnahme und Titelzitat 2.1 Eigenname Der Terminus „Eigenname“ wird in weiterer Folge gemäß der dreigliedrigen Definition von Langendonck (2007: 25) verstanden: A proper name is a noun that denotes a unique entity at the level of established linguistic convention to make it psychosocially salient within a given basic-level category [pragmatic]. The meaning of the name, if any, does not determine (or no longer determines) its denotation [semantic]. Formally, this pragmatic-semantic characterization of proper names is mirrored by their ability to appear in such close appositional constructions as the poet Burns, Fido the dog, the river Thames, or the City of London [syntactic] (Hervorhebungen im Original). Der pragmatische Teil der Definition zielt auf die Monoreferenz (onymische Monovalenz) ab und betont die kontraklassifikatorische Funktion des Namens. Anders ausgedrückt heißt das: Mit Namen werden Elemente bestimmter Klassen unter dem Gesichtspunkt ihrer Individualität bezeichnet (Sandig 1995: 540f.). Der semantische Teil impliziert eine Bruchzone zwischen der präproprialen Basis eines Namens, d.h. den bedeutungstragenden oder -indizierenden Wörtern, aus denen der Eigenname entstanden ist, und dem konventionell etablierten Namen. Im Sinne Šrámeks (2004) werden mit dem proprialen Benennungsakt neue 220 Erika Windberger-Heidenkummer Verhältnisse geschaffen. Ist die präpropriale Basis eines Namens ein Phantasiewort oder ein Neologismus − ähnlich wie bei vielen Nicknames, aber auch bei Produktnamen −, so ergibt sich schon bei der Namengenese keine lexikalischsemantische Sprachbedeutung. Insofern passt die Ergänzung „if any“, und deshalb sollte man nicht darauf verzichten, die vorpropriale Basis einzubeziehen oder mitzudenken. Ein Beispiel für den dritten und syntaktischen Teil dieser Definition, für die enge appositionale Konstruktion, wäre z.B. der zweite Band „Eigennamen [aus der HSK-Reihe]“. Wenn man dabei Eigennamen orthographiekonform in Anführungszeichen setzt, wie das „Amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung“ (ARW 2006: § 94 (1), 97) empfiehlt, so ist das nach Kalverkämper (1995: 441) ein Transpositionssignal: Achtung Eigenname! Die Definition Langendoncks zeigt aber auch den Verzicht auf die Klärung der Beschaffenheit einer onymischen Bedeutung als Gegenstück zur appellativischen (und linguistisch anerkannten). Aus diesem Grund sei auch die semiotische und kognitive Definition Hansacks (2000: 211, Hervorhebungen im Original) dazugestellt: „Der Name indiziert (adressiert) die Informationsmenge, die im menschlichen Gehirn den Wissensstand über das benannte Objekt darstellt (und die z.B. durch die Rezeption (des Bildes) dieses Gegenstands oder auf beliebige andere Weise erzeugt worden sein kann)“. Ob man nun die offene Informationsmenge als onymische Bedeutung akzeptieren kann und muss, bleibt so lange unbewiesen und theoretisch angreifbar, bis die Gehirnforschung entsprechende beweiskräftige Resultate erzielt hat, wie sich Konzepte auf einen sprachlichen Impuls hin aufbauen. 2.2 Titel: Werktitel, Kunstwerkname und Biblionym Das Wort Titel ist entlehnt aus lat. titulus ‚Aufschrift, Inschrift, Ehrenname, Ehre, Vorwand‘, spätlat. auch ‚Rechts-, Buchtitel‘, und erscheint im Ahd. im 8. Jh. unter Beeinflussung des afrz. title m. (frz. titre) als Femininum titula ‚Strich, Tüpfelchen, Überschrift‘, im 9. Jh. als Maskulinum titul ‚Inschrift, Strich, Schriftzug‘. Im Mhd. bedeutet der tit(t)el bereits ‚Überschrift, Name eines Buches, einer Dichtung‘ (Pfeifer 2005: 1434). Die semantischen Konzepte des polysemen Lexems Titel sind im „Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache“ (DWDS: www.dwds.de/ wb/ Titel, Stand: 26.04.2017, Hervorhebungen der Verf.) nach ihrer soziopragmatischen Relevanz gereiht, wobei (2) von Interesse ist: 1) ehrenvoller, den Rang, Stand, die Würde seines Trägers kennzeichnender, erworbener oder verliehener Zusatz zum Namen, der dem Namen vorangestellt wird Namenkategorien in Titelzitaten und Titelzitate als Namen 221 2) Überschrift, Name besonders eines literarischen oder musikalischen Kunstwerks 3) Jura urkundlich fixierter Rechtsanspruch 4) fachsprachlich a. Jura Abschnitt eines Gesetzes der Abgeordnete bezog sich in seiner Rede auf den sechsten Titel dieses Vertrages, Gesetzes b. Wirtschaft bezifferte Gruppe von Beträgen einen Titel des Etats streichen Die Fokussierung auf Kunstwerke bei der zweitgenannten Bedeutung ist mitunter ungünstig, um nicht zu sagen viel zu einengend, betrifft der Titel doch alle Veröffentlichungen. „Titel“ ist in der Onomastik ein bekannter Begriff, allerdings im Sinne von „Werktitel, Bildtitel, Musiktitel“. Die Namenforschung fokussiert damit Kunstwerknamen oder Artionyme (zu lat. ars, artis ‚Kunst‘). Der Terminus „Kunstwerkname“ wird von Brendler (2004: 528) und auch von Nübling/ Fahlbusch/ Heuser (2012: 296) verwendet; beide klassifizieren Kunstwerknamen als Subkategorie der Objektnamen oder Ergonyme. Der von Walther (2004: 101) gebrauchte Begriff „Titelname“ wird von Nübling/ Fahlbusch/ Heuser (2012: 297) als tautologisch abgelehnt. Walther (2004: 19) legt allerdings auch eine völlig andere Klassifikation von Produkt- und Produzentennamen vor. Innerhalb dieser werden Bücher- und Zeitschriftennamen zusammenfassend als Titelnamen klassifiziert und so von den ebenso darunterfallenden Kunstwerknamen getrennt. Ähnlich nennt Bauer (1985: 55) die Begriffe „Büchertitel“ sowie „Zeitungs- und Zeitschriftennamen“, ohne näher darauf einzugehen. Kamianets (2000: 49) unterscheidet in seiner Klassifikation zwischen materiellen und nicht-materiellen Objekten geistiger Tätigkeit, die als Denotate von Eigennamen in Frage kommen. Zu den nichtmateriellen gehören u.a. die Subklassen Artionyme als Eigennamen von Werken der bildenden Kunst und Biblionyme (zu gr. biblion ‚Buch‘) als Eigennamen schriftlicher Werke (Kamianets 2000: 51). Ungeachtet der Diskussion um das Materielle erweist sich der vorgeschlagene Terminus „Biblionym“ für die hier verfolgten Zwecke als brauchbarer. Der Eigennamenstatus bezieht sich auf das (geistige) Original(-werk) (Brendler 2004: 529), „ein einziges intellektuell vorhandenes Modell eines einzigen vorhandenen [juristischen] Anbieters“ (Lötscher 2008: 43) oder, wie Nübling/ Fahlbusch/ Heuser (2012: 297, Hervorhebungen im Original) deutlich formulieren, auf „das abstrakte Opus, welches häufig von der Reproduktion […] lebt“. 3 Während Brendler und insbesondere Lötscher den Produktnamenstatus betonen, ordnen Nübling/ Fahlbusch/ Heuser (2012: 297) Kunstwerknamen nicht den Wa- 3 Daran knüpft sich auch die Zuordnung zu Abstraktnamen (Brendler 2004: 529). 222 Erika Windberger-Heidenkummer rennamen zu, da sie sich in vielerlei Hinsicht von Konsumgütern unterscheiden würden. Das ist einerseits intuitiv gut nachvollziehbar, andererseits handelt man sich damit Probleme ein. Debus (2012: 203) schließt sich in seiner Einführung Brendler (2004: 529) an und sieht in den Kunstwerknamen von Kunstgattungen wie Literatur, bildender Kunst und Musik eine Subkategorie der Produkt- oder Warennamen. Dieser Definitionslinie wird auch hier gefolgt. Rechtlich und wirtschaftlich sieht es eindeutiger aus: Mit § 5 des deutschen Markengesetzes sind kennzeichnungskräftige Titel mit Erscheinen des Werks in Deutschland geschützt - ähnlich in der Schweiz und in Österreich -, der hinreichend individualisierte Titel genießt dort urheberrechtlichen Schutz. Dazu die Kurzerklärung von Meckel (2009: wirtschaftslexikon.gabler.de/ Archiv/ 5741/ werktitel-v7.html, Stand: 26.04.2017) aus dem „Gabler Wirtschaftslexikon“: [Ein Werktitel ist eine] geschäftliche Bezeichnung (§ 5 MarkenG) einer Druckschrift, eines Film-, Ton-, Bühnen- oder sonstigen Werks. Liegen die Voraussetzungen einer persönlichen geistigen Schöpfung vor, genießt der Werktitel den Schutz des Urheberrechts. I.d.R. dient der Werktitel aber nur der namensmäßigen Unterscheidung der Druckschrift etc. von anderen Druckschriften und sonstigen Werken, so dass er den Schutz der geschäftlichen Bezeichnung (§ 5 MarkenG) genießt. Der Terminus lautet aus wirtschaftlicher Perspektive „Werktitel“. Nach dem Gesetz handelt es sich dabei um die „Namen oder besonderen Bezeichnungen von Druckschriften, Filmwerken, Tonwerken, Bühnenwerken oder sonstigen vergleichbaren Werken“ (Rechtsgrundlagen. Beitrag der Universität Saarbrücken: idi.de/ titelschutz/ infodesk-3.htm; Stand: 26.04.2017). Betrachtet man z.B. das Buchsegment Wissenschaft (Fachwissenschaft), so ist dieser Terminus durchaus passend, für den Untersuchungsgegenstand Titelzitat ebenso. Die Referenzobjekte sind als Druckschriften oder Texterzeugnisse zu bezeichnen, deren ökonomischer Faktor nicht ausgeklammert werden darf. Dass es einen Buchmarkt mit Marktsegmenten und einen Wissenschaftsbetrieb gibt, ist eine Tatsache. Titel nur unter dem vagen semantischen Konzept von Kunst zu reihen, ist angesichts der Sachlage nicht günstig. Unbestritten bestehen, folgt man Lötscher (2008), sozioökonomische Voraussetzungen für geistige Produkte. Werktitel wird in den folgenden Ausführungen auf die alltagssprachlich so bezeichneten Textformate Buch 4 und Beitrag beschränkt. 4 Laut UNESCO-Definition (UNESCO. Recommendation concerning the international standardization of statistics relating to book production and periodicals. portal.unesco. org/ en/ ev.php-URL_ID=13068&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html; Stand: 28.04.2017) sind Bücher nichtperiodische Publikationen mit einem Umfang von 49 Seiten oder mehr: „A book is a non-periodical printed publication of at least 49 pages, Namenkategorien in Titelzitaten und Titelzitate als Namen 223 2.3 Titelaufnahme und Titelzitat Unter Titelaufnahme versteht man die Art und Weise, wie Titel in Bibliothekskataloge und Bibliographien aufgenommen werden. Bibliothekarisch umfasst eine Titelaufnahme alle notwendigen Segmente von der Verfasserangabe bis zum Erscheinungsvermerk (Fuchs 1973: 22ff.). 5 Eine Standardisierung aufgrund des weltweiten Datenzugriffs wird angestrebt, ist derzeit aber nicht gegeben. Bis in die 80er-Jahre waren die sog. „Preußischen Instruktionen“ (PI) maßgeblich, heute sind es die „Regeln für die alphabetische Katalogisierung“ (RAK). Zettelkataloge wurden durch den „Online Public Access Catalogue“ (OPAC) ersetzt, er macht den digital erfassten Bibliotheksbestand weltweit online recherchierbar. Im angloamerikanischen Raum gelten die „Anglo-American Cataloguing Rules“ (AACR). Titelaufnahmen sind wie Anthroponyme und Toponyme mit funktional teiläquivalenten Ordnungssystemen verknüpft. In der Geschichte namenstheoretischer Überlegungen werden Eigennamen mit Etiketten verglichen. Im 1925 erschienen Beitrag „Zur Definition des Begriffes ‚Eigenname‘“ hat Funke eine interessante metaphorische Verbindung zwischen Eigennamen und Büchersignaturen anklingen lassen: In diesem Sinne, könnte man sagen, sind die N o m i n a p r o p r i a E t i k e t t e n o d e r O r d n u n g s z e i c h e n , d i e g e d a n k l i c h d e n I n d i v i d u e n z u m U n t e r s c h i e d v o n a n d e r e n a n h a f t e n w i e d i e B ü c h e r s i g n a t u r e n i n e i n e r B i b l i o t h e k . Darin liegt der Unterschied zwischen sprachlichen Ausdrücken wie ‛ Peter’ und ‛ unser Sohn’, die beide das gleiche Individuum und seine Individualvorstellung in völlig gleicher Weise bedeuten können […] (Funke 1975: 77, Hervorhebungen im Original). Dem gesperrt gedruckten Textteil hat der Verfasser eine hohe Bedeutung in seiner Argumentation beigemessen, denn es ging Funke (1925: 79) um das namenkonstitutive „so und so Genanntsein […]“. Die angesprochene Verbindung von Eigenname und Signatur deutet aber auch die gemeinsame Identifizierungs-, exclusive of the cover pages, published in the country and made available to the public“. 5 Genauer betrachtet ist sie eine eindeutige, mehrfach gestützte Produktinformation mit allen Komponenten für ein Titelzitat, so wie sie für die wissenschaftliche Weiterverarbeitung nach fachsprachlichen, universitären oder verlagsinternen Vorgaben benötigt wird. Die Regelungen der bibliothekarisch umfassenden Produktbenennung und -beschreibung in Datenbankformaten stehen für Rezipienten bzw. Konsumenten nicht im Vordergrund. Eine Titelaufnahme ist als Index zu verstehen und kann zum Element weiterer (fach-)sprachlicher Handlungen werden. 224 Erika Windberger-Heidenkummer Differenzierungs- und Lokalisierungsfunktion an: Signaturen sind in dieser Hinsicht bibliotheksinterne individualisierende Äquivalente, die meist alphanumerisch aufgebaut sind. Die dreizehnstellige Internationale Standardbuchnummer (ISBN) sowie die Internationale Standardseriennummer (ISSN) sind jedenfalls teilfunktionale Äquivalente. Die bis 2006 zehnstellige, seit 2007 aber bereits dreizehnstellige ISBN korreliert teilweise mit dem, was eine Titelaufnahme leistet. ISBN dienen der eindeutigen sprachenübergreifenden Kennzeichnung von Büchern und anderen selbstständigen Veröffentlichungen mit redaktionellem Anteil, etwa Multimedia-Produkten und Software. Fortlaufende Sammelwerke wie Zeitschriften erhalten ISSN. Jedenfalls ergeben sich durch sie (identifizierungs-)funktionale Gleichungen mit anderen semiotischen Systemen. Bei den zitierten „Europäischen Personennamensystemen“ von Brendler/ Brendler sind das die ISBN 978- 3-935536-65-3 und die ISSN 1610-7012, ferner die bibliotheksinterne Signatur, das ist z.B. in der Grazer Fachbibliothek Germanistik GG 855.1 E 89. Zu diesen (alpha-)numerischen Kodierungen existieren auch jeweils Strichcodes. Ein expliziter Hinweis auf eine Verbindung von Eigenname und Titelzitat fehlt bisher in gängigen Einführungen zur Onomastik (Bauer: 1985, Debus: 2012, Koß: 2002, Nübling/ Fahlbusch/ Heuser: 2012), aber auch in prominenten Kompendien wie dem HSK-Band „Namenforschung“ (Eichler/ Hilty/ Löffler/ Steger/ Zgusta 1995f.). Die Diskussion erfolgt nur über Kunstwerknamen oder seltener Werktitel (Zifonun 2009) 6 . Die einzelnen Untersuchungen befassen sich mit typologischen, historischen und formal-grammatischen Aspekten. 2.4 Zum Eigennamenstatus in der Titelforschung Der Blick in Arbeiten der Literaturwissenschaft, der Fachsprachenforschung, der Textlinguistik und der Translationswissenschaften ist oft recht ernüchternd. Die Autoren argumentieren zum Teil mit Annahmen, die aus der Sicht der Onomastik eher peripher und manchmal wenig überzeugend sind. In den 70er- und 80er- Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich immerhin ein Forschungsbereich Titrologie etabliert. Genette (1992: 58-102) hat z.B. alle Arten Beiwerk zum Text, so auch Titel, als Paratexte bezeichnet. Typologisch differenziert er zwischen thematischen (dieses Buch spricht von…) und rhematischen Titeln (dieses Buch ist…), gemeinsam 6 Zifonun behandelt die Generierung von Flexionsformen des Werktitels, die Flexion eines zum Werktitel gehörenden Definitartikels außerhalb der Zitatdomäne und schließlich den Verbnumerus bei pluralischen Werktiteln. Namenkategorien in Titelzitaten und Titelzitate als Namen 225 ist ihnen die deskriptive Funktion (Genette 1992: 89). Rothe (1986: 13) resümiert in seinem umfangreichen Werk zum literarischen Titel: Der Titel ist ein kurzer Text, der einen anderen, meist längeren Text bezeichnet. Das Bezeichnen hat er mit jedem Namen gemein, und so kann man ihn denn auch, wie oft geschehen (z.B. Hoek 1981: 206, vgl. Wulff 1979: 159ff.) als Namen des Textes betrachten. Vor allem in literaturwissenschaftlichen Betrachtungen geht es um dieses „kann“. Weinrich (2000: 9) umgeht eine klare Festlegung auf den Eigennamencharakter von Titeln. Eine Einengung auf die prinzipielle Nennfunktion greife zu kurz, da ein sprechender Titel den Leser zur Hypothesenbildung anrege, ein Personenname ohne Vorinformation allerdings nicht. Hellwig (1982: 159) wie Wulff (1979) begründen ihre skeptisch-ablehnende Position trotz festgestellter Individuierungsfunktion mit Zusammenhängen zwischen Titel und (Ko-)Text, d.h. mit dem Informationscharakter des Titels in Bezug auf den Text. Weinrich (2000: 15, Hervorhebungen im Original) unterscheidet zwischen „Titelfunktion ante textum und post textum“, wobei Kürze, Strukturiertheit und Schlüsselbegriffe dem Vergessen vorbeugen. „Daß Titel keine Eigennamen sind, ist deshalb wichtig, weil dadurch der These prinzipieller Willkürlichkeit des Titels der Boden entzogen wird“, heißt es bei Hellwig (1982: 159). Den Zusammenhang zwischen Titel und Text hält Hellwig für motiviert, denjenigen zwischen Namen und Namenträger hingegen für willkürlich. Gerigk (2000: 22) zweifelt besonders am Eigennamenstatus des literarischen Titels, wenn er schreibt: „Ein ‘wirklicher’ Eigenname […] wird aus einem Reservoir von Eigennamen gewonnen, der literarische Titel hingegen aus dem Reservoir der Dichtung, die er benennt.“ Daran schließt sich eine weitere Bemerkung (Gerigk 2000: 23): „Mit seinem Titel meldet sich der literarische Text in unserer empirischen Wirklichkeit und verweist auf seine innerfiktionale, nicht-empirische dichterische Wirklichkeit.“ Ein Name wie Hamlet gehört damit zum Text und wiederum auch nicht. Linguistischer liest sich Weinrichs Beitrag, der hinsichtlich der Funktionen von (literarischen) Titeln sowohl Bühlers (1999 [1934]) Mitteilungs-, Ausdrucks- und Appellfunktion aufgreift als auch Jakobsons (1979) bzw. Rothes (1986) poetische, phatische und metasprachliche Funktion geltend macht. Er ergänzt diese schließlich um eine weitere Funktion, die memorielle (Weinrich 2000: 12). Literarische Titel werden in den erwähnten fachwissenschaftlichen Diskursen facettenreich beschrieben. Gemeinsamkeiten mit Namen werden zwar festgestellt, aber die Bedenken sind, wie hier nur knapp skizziert, vielfältig und tangieren die Fiktionalität respektive die Weltenproblematik. 226 Erika Windberger-Heidenkummer Aus onomastischer Perspektive lässt sich der Zweifel am Eigennamenstatus begründen: Nur semantisch opake und nicht-objektbeschreibende Zeichen werden offensichtlich als „echte“ Eigennamen betrachtet. Handelt es sich nun aber eindeutig um opake Zeichen, wie z.B. Vornamen, so gerät man mit der Fiktionalität ins Dilemma. Die Probleme mit transparenten, objektbeschreibenden Eigennamen hängen zum Teil damit zusammen, dass die in den Biblionymen eingearbeiteten Lexeme ihre gewöhnliche (präpropriale) Konzeptualisierungsfunktion noch immer haben und trotzdem als Individuierungen (Eigennamen bzw. Eigennamenphrasen) in Bezug auf das abstrakte Opus oder Modell fungieren. Bei ausschließlicher Betrachtung von Vor- und Zunamen tappt man am ehesten in diese Falle und übersieht, dass sie in Bezug auf den jeweils ersten Namensträger auch motiviert waren. Für Raible (1972: 209) sind die Titel hingegen ganz klar die Eigennamen von Texten und können „alle erdenklichen sprachlichen Formen haben“. Ohne den Terminus „Eigenname“ zu berühren, spricht Dietz (1995) beim Titelzitat von einer bibliographischen Angabe. Dem entspricht die Konzipierung des Untersuchungsgegenstands bei Dietz (1995) in seinem Werk „Titel wissenschaftlicher Texte“. Er untersucht Titel, ohne sie als Eigennamen zu sehen, syntaktisch, semantisch und pragmatisch, und zwar nicht als Text-Überschrift, sondern als Text-Stellvertreter: Diese Betrachtungsweise entspricht derjenigen eines wissenschaftlichen Autors, der seinen Text so betitelt, daß ein Fachkollege bei der Literaturrecherche angemessen über ihn informiert wird. Sie entspricht weiterhin der Rezeptionssituation eines literatursuchenden Wissenschaftlers, der (noch) nicht den Text selbst, sondern nur den Titel und die bibliographischen Angaben vor Augen hat (Dietz 1995: 2). Erwähnt sei hier auch die Tatsache, dass die dominante sprachliche Funktion wissenschaftlicher Werk- und Beitragstitel das Informieren ist (Weinrich 2000: 11). Diese Titel, über die die Onomastik offenbar nicht hinausgeht, sind aber immer nur Teil eines weit umfassenderen Titelzitats. Auch bei diesem überwiegt die Informationsfunktion, was schließlich dem semantischen Verblassen des Eigennamens entgegenwirkt. 7 Ein solches Verblassen bewirkt nämlich die Intransparenz der pränominalen Bedeutung, die Irrelevanz semantischer Konzepte bzw. die mangelnde Motivierbarkeit des Eigennamens. 7 Ich danke in diesem Zusammenhang Inga Siegfried, die nach dem Vortrag auf diesen Aspekt hingewiesen hat. Namenkategorien in Titelzitaten und Titelzitate als Namen 227 3 Das Titelzitat und seine Konstituenten 3.1 Zur Abfolge der Zitatteile Ein Titelzitat und auch seine Suche beginnt gewöhnlich mit dem Item Autor 8 oder Herausgeber, alternativ dazu mit dem Titel. Alles Weitere existiert zwar auch bei entsprechender Kenntnis eines Titelzitat-Aufbaus, ist aber peripher. Fokussiert wird das geistige Produkt, weshalb der Werk- oder Sachtitel der semantische Nukleus ist. In der üblichen Abfolge werden die Urheber, deren Nennung in Form eines Gesamtnamens (Bach 1978: 61, Wimmer 1973: 68, Koß 2002: 84, Seibicke 2008: 9ff.) erfolgen kann, vor das Produkt gesetzt. Das entspricht der prototypischen Gradation von [belebt] vor [unbelebt]. Beide Namen erfüllen das Kriterium einer Individualbenennung. An dritter Position nach der Relevanz und im Fließtext mit beiden kombinierbar ist eine numerische Konstituente, das Erscheinungsjahr. Die Jahreszahl hat die Funktion, nicht so sehr den zeitlichen Abschluss im Entstehungsprozess zu markieren, sondern seinen Eintritt als öffentlich nutzbares, benanntes Modell zu signalisieren. Die Auflage umfasst eine quantitative und gegebenenfalls auch qualitative Größe. Die quantitative ist ein Faktor der marktwirtschaftlichen Präsenz und Akzeptanz des Produkts Buch, die qualitative (z.B. erw., aktual., durchges.) gibt Auskunft über Überarbeitungs- und Veränderungsprozesse am geistigen Produkt. Wenn Überarbeitungen nicht vom Autor selbst vorgenommen werden, dann erfordert das die Nennung derjenigen Personen, die in das geistige Produkt eingegriffen haben. So gesehen werden durch quantitative und qualitative Angaben die aktuellen Modellstadien benannt. 3.2 Die Hauptkonstituenten: Personenname(n), Objektname(n), Ortsname(n) Die einzelnen Konstituenten eines Titelzitats, z.B. einer Monographie, lassen sich schematisiert wie folgt darstellen und beschreiben: 8 Bibliothekarisch wird von Verfassern gesprochen, das sind Personen, die allein oder gemeinschaftlich ein Werk oder Teile eines Werks erarbeitet haben (Payer 2002: 11); Mitarbeiter haben keinen Verfasserstatus. 228 Erika Windberger-Heidenkummer Abb. 1: Konstituenten des Titelzitats Die Gliederung in der tabellarischen Übersicht erfolgt nach obligatorischen Hauptkonstituenten in alphabetischer Kodierung, die allesamt per definitionem onymisch sind, und Nebenkonstituenten, die produktspezifische und produktdifferenzierende Beschreibungen darstellen. Formal sind sie komplexe Präpositionalphrasen wie unter Mitarbeit von XY oder mit einem Vorwort von XY, deren Alphabetische Hauptkonstituenten EN-Klasse Alphabetische Nebenkonstituenten Numerische Konstituenten Zuname(n) Personenname/ Anthroponym Vornamen(n) Personenname/ Anthroponym Titel, Werktitel (-name) (RAK: Sachtitel) Objektname/ Ergonym: produktspezifisches Biblionym Vor- und Zuname von Mitarbeitern und/ oder Übersetzern, Originalsprache; Widmung mit Anlass (Festschrift): Vor- und Zuname des/ der Geehrten Auflagenzahl (RAK: Ausgabebezeichnung); Seitenumfang bzw. numerische Binnenlokalisierung (bei unselbstständigen Publikationen) Verlagsort(e) Ortsname/ Toponym/ Oikonym ± toponymischer Spezifikator, v.a. Hydronym Verlag Objektname/ Ergonym: Unternehmensname Reihentitel Objektname/ Ergonym: kategoriellhyperonymisches Biblionym Reihenherausgeber Namenkategorien in Titelzitaten und Titelzitate als Namen 229 onymische Komponenten Präpositionalattribute sind. Sie sind dem Werk- oder Sachtitel hierarchisch ebenso untergeordnet wie gegebenenfalls das dazu zu ergänzende elliptische aus dem Italienischen/ Französischen/ Englischen/ Russischen übersetzt von XY oder Festschrift für XY. Kollokationsvermerke nach RAK- Titelaufnahmen, das sind Umfangsangabe, Illustrationsangabe und Begleitmaterial (Payer 2002: 18), können beiseitegelassen werden. Numerische Bestandteile - wie z.B. in 2., überarb. Aufl. - sind durch alphabetische ersetzbar und als adjektivische Attribute zu werten. Alle wesentlichen Eigennamenkategorien, nämlich Anthroponyme, Toponyme und Ergonyme, sind vertreten. Gerade wissenschaftliche Werktitel sind als Lexeme und Phrasen nicht notwendigerweise onymisch dekodierbar, denn sie interagieren mit sprachlichen Zeichen, die Klassen und Funktionen konzeptualisieren. Zu Eigennamen werden sie, weil sie monoreferenziell angelegt sind. 4 Das Titelzitat als Text Jeder Rezipient eines Titelzitats, wie dem in der Einleitung unter (1) bereits zitierten, wird aus der geregelten linearen Abfolge der Konstituenten (aus der vorliegenden Oberflächenstruktur) auch kohäsivere und kohärentere Texte ohne Textlöcher erstellen können: (4) Peter Anreiter ist Verfasser des 2002 bei „Edition Praesens“ in Wien erschienenen Werks „Pharmakonyme“ mit dem Untertitel „Benennungsmotive und Strukturtypologie von Arzneimittelnamen“. (5) Das von Peter Anreiter verfasste Werk „Pharmakonyme“ mit dem Untertitel „Benennungsmotive und Strukturtypologie von Arzneimittelnamen“ ist 2002 bei „Edition Praesens“ in Wien erschienen. Satz (2) prädiziert etwas über Peter Anreiter, Satz (3) über das Werk. Jedenfalls ist das Resultat ein vollständiger, grammatisch korrekter und kohäsiver Satz. Er setzt Weltwissen über den Produktions- und Publikationsvorgang von Gedrucktem voraus oder, anders ausgedrückt, er beschreibt implizit den Weg vom geistigen Modell über den materiellen Prototyp Verlagsmanuskript zum Serienprodukt Buch. Titelzitate tun das auch, aber anders, sie informieren und benennen das Modell. Das Vernetzungsmuster von Titelzitaten ist die Koordinierung von Komponenten (Linke/ Nussbaumer/ Portmann 2004: 269) zu einer umfassenden, identifizierenden Produktbeschreibung. Wollte man das Thema dieses kurzen Textes festlegen, wäre das die Literatur- oder Quellenangabe. Aussagen wie (2) und (3) 230 Erika Windberger-Heidenkummer entsprechen eher der Mündlichkeit, (1) der Schriftlichkeit. Akzeptiert man die geringe Kohäsion eines Titelzitats 9 - und das kann man, wenn man die Interpunktion einbezieht - ebenso wie die hohe Eigennamenlastigkeit als konstitutiv, so ist es ein Text. Titelzitate haben eine bedingt variable Binnenstruktur: Die Zitatteile werden durch Grenz- und Gliederungssignale markiert. Haben wir es beim Titelzitat mit einem Text und einer Textsorte zu tun? Sowohl nach der Textdefinition linguistischer Einführungen wie jener von Linke/ Nussbaumer/ Portmann (2004) als auch nach der häufig zitierten Definition von Textsorte von Brinker (2010), muss das positiv beantwortet werden. Die genannten Definitionen lauten:  Ein Text ist eine komplex strukturierte, thematisch wie konzeptuell zusammenhängende sprachliche Einheit, mit der ein Sprecher eine sprachliche Handlung mit erkennbarem kommunikativem Sinn vollzieht (Linke/ Nussbaumer/ Portmann 2004: 275).  Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben (Brinker 2010: 125, Hervorhebung im Original). In Bezug auf den Begriff Textmuster sind alle von Heinemann/ Heinemann (2002: 138) genannten und diskutierten Begriffsbestimmungen anwendbar. Alle klassischen Textualitätskriterien bzw. -merkmale, wie sie Beaugrande/ Dressler (1981) formuliert haben, nämlich Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und Intertextualität, sind vorhanden. Eigennamen oder Individualbezeichnungen, die in Titelzitaten überwiegen, wurden bereits hinsichtlich dieser Kriterien als textsensitive und textkonstituierende lexikalische Einheiten (Krüger 2004: 128) untersucht. Im Titelzitat machen sie den Text aus. 5 Ein vorläufiges Resümee: Titelzitate als komplexe Namen Nach der bisherigen Diskussion lässt sich zur namenkategorialen Zuweisung von Titelzitaten als Antwort auf die eingangs formulierte Hypothese Folgendes prä- 9 Das kann man insbesondere, wenn man Interpunktionszeichen als Kohäsionsmittel (Fritz 2009: 1062ff.) sieht und das Titelzitat als Proposition (Sachverhaltsdarstellung) auffasst (Blidschun 2012: 28f.). Namenkategorien in Titelzitaten und Titelzitate als Namen 231 zisieren: Unter dem Gesichtspunkt der Objektreferenz auf ein konkretes Serienprodukt bzw. auf das abstrakte Opus oder Modell (um die onymische Qualität sicherzustellen) muss beim Werktitel/ Sachtitel von einem Objektnamen die Rede sein. Wird dieser Werktitel als Kern konventionell von weiteren onymischen Konstituenten umrahmt und zu einem minimalen, aber hochgradig funktionalen Text ausgebaut, erweitert sich das Ganze zu einem Titelzitat. Dies ist die umfassendste Benennung des Modells und damit kategorial ein Produktname. Es scheint, dass man damit ein situativ und kommunikativ anpassbares Namenformular vor sich hat, ähnlich wie bei Unternehmensnamen. Es kann von einer perfekten Adressierung gesprochen werden: Sie buchstabiert das Modell aus, das für die Vervielfältigung in Hunderter- und Tausenderauflagen bereit ist. Die Produktinformation enthält, durch Gliederungssignale getrennt, die (weitgehend) vollständige Benennung des Urhebers oder des Herausgebers, das ebenso namentlich gekennzeichnete geistige Produkt, den namentlich gekennzeichneten Produzenten (das Unternehmen Verlag) sowie Informationen zum Alter und zu etwaigen inhaltlichen Eingriffen. Zur Hereinnahme von Urheber oder Produzent bzw. Rechtsinhaber sei auf Lötscher (2008: 41) hingewiesen: Es gehört zum Wesen von Produktnamen, dass sie Verweise auf den Inhaber oder Anbieter des Modells respektive der Marke enthalten. Im Titelzitat haben wir beides. Auch der Verkaufswert kann durch die Auflagenhöhe indirekt angezeigt werden. Mit der Angabe des Verlagsortes wird das Modell auch lokalisiert. Es scheint nachvollziehbar, ein Titelzitat als peniblen referenzfixierten Term eines Produkts aufzufassen, d.h. es zu den Ökonymen (Platen: 1997) oder genauer Produktnamen zu stellen. Das Bisherige hat ergeben, dass Werktitel urheberrechtlich geschützte Eigennamen sind, die zu Titelzitaten ausgebaut werden können. Damit lässt sich folgende Definition rechtfertigen: T i t e l z i t a t e s t e l l e n e i n e k o n v e n t i o n e l l g e r e g e l t e , s t a n d a r d i s i e r t e , k u l t u r e l l o d e r s o z i o p r a g m a t i s c h g e f o r m t e P r o d u k t i n f o r m a t i o n a u f T e x t e b e n e d a r . Als Modelle sind sie meist sprechende Produktnamen. Titelzitate sind Bestandteil des literarischen, (fach-)wissenschaftlichen wie ökonomischen Diskurses und haben für Rezipienten und Konsumenten Orientierungsfunktion. Die einzelnen Konstituenten sind überwiegend Individualbezeichnungen. Werktitel wie Titelzitate sind formal und semantisch-funktional in Diachronie und Synchronie beschreibbar. Als Text (zu einem Text) sind Titelzitate überwiegend aus isolierbaren Eigennamen-Konstituenten aufgebaut und vereinigen sich zu einem funktional eigennamenwertigen Komplex mit zwei Funktionen: den vervielfältigten materiellen Prototyp, den Text, effizient zu beschreiben und ihn als individuelles geistiges Produkt zu benennen. Dabei werden alle proprialen Funktionen ausgespielt: Individualisierung, Identifizierung, Differenzierung und Lokalisierung. 232 Erika Windberger-Heidenkummer Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, warum Eigennamen nicht auch mehr als Einzellexeme, Mehrwortlexeme oder Phrasen sein können, nämlich Texte mit wenigen additiven appellativischen oder numerischen Bestandteilen. Ob sich mit einer solchen Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand Titelzitat die Verhältnisse umkehren und Appellative, z.B. Funktionsbezeichnungen wie Herausgeber, in dieser Textsorte zu untergeordneten kontextsensitiven Sprachmitteln werden, bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten. Die sich als Ergebnis dieses Beitrags abzeichnende These, dass sich die komplexeste Form des Eigennamens der Textdefinition nähert, lautet kurzgefasst: T i t e l z i t a t e s i n d E i g e n n a m e n u n d T e x t e . 6 Literatur Bach, Adolf (1978): Die deutschen Personennamen. 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Rolle der Medien bei der Imagebildung des Staates im Massenbewusstsein: der interkulturelle Kontext Marina R. Zheltuchina (Wolgograd) Zusammenfassung In diesem Beitrag wird die Rolle der Massenmedien bei der Imagebildung des Staates im Massenbewusstsein innerhalb eines interkulturellen Kontextes beschrieben. Diese Rolle ist im 21. Jahrhundert sehr bedeutend, was sich in der regionalen und in der weltweiten Politik widerspiegelt. Die Massenmedien nehmen Einfluss auf die Vorstellungen des Adressaten von der Situation in der Welt sowie auf seine Einschätzung von Ereignissen; sie schaffen die Images von Staaten und seinen Führern. Die Massenmedien ziehen die Aufmerksamkeit des Adressaten auf sich, wecken sein Interesse für den Staat oder lösen ihn vom aktuellen politischen Kontext los, bilden oder zerstören sein Image. Die Massenmedien bilden das Image des Staates für die Bevölkerung dieses Staates (das innere Image) und das Image des Staates, das sich außerhalb seiner territorialen Grenzen entwickelt (das äußere Image). 1 Einleitung Das Forschungsthema der Medienrollenbestimmung bei der Imagebildung des Staates im deutschen und im russischen Massenbewusstsein erweitert sich zunehmend um eine interkulturelle Perspektive in der Richtung „Zentren und Peripherien“, „Deutschland und Russland“, „Westen und Osten“, „Mitteleuropa und Osteuropa“ usw. (Földes 2007). Diese Reihe kann im interkulturellen Kontext auch durch Konzepte wie „Weltstadt und Provinz“ im Verständnis von Spengler (2003: 44f.) ergänzt werden. Weltstadt und Provinz - mit diesen Grundbegriffen jeder Zivilisation tritt ein ganz neues Formproblem der Geschichte hervor, das wir Heutigen gerade durchleben, ohne es in seiner ganzen Tragweite auch nur entfernt begriffen zu haben. Statt einer Welt eine Stadt, ein Punkt, in dem sich das ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt; statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade, ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum 238 Marina R. Zheltuchina (und dessen höchste Form, den Landadel), also ein ungeheurer Schritt zum Anorganischen, zum Ende - was bedeutet das? Frankreich und England haben einen solchen Prozess vollzogen und Deutschland ist im Begriff, ihn zu tun. Auf Syrakus, Athen, Alexandria folgt Rom. Auf Madrid, Paris, London folgen Berlin und New York. Provinz zu werden ist das Schicksal ganzer Länder, die nicht im Strahlenkreis einer dieser Städte liegen wie damals Kreta und Makedonien, heute der skandinavische Norden (Hervorhebungen im Original). Weiter verweist er auf die psychologischen, sozialen, kulturellen und anderen Besonderheiten des Vergleiches der Weltstadt und der Provinz: Zur Weltstadt gehört nicht ein Volk, sondern eine Masse. Ihr Unverständnis für alles Überlieferte, in dem man die Kultur bekämpft (den Adel, die Kirche, die Privilegien, die Dynastie, in der Kunst die Konventionen, in der Wissenschaft die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit), ihre der bäuerlichen Klugheit überlegene scharfe und kühle Intelligenz, ihr Naturalismus in einem ganz neuen Sinne, der über Sokrates und Rousseau weit zurück in bezug auf alles Sexuelle und Soziale an urmenschliche Instinkte und Zustände anknüpft, das panem et circenses, das heute wieder in der Verkleidung von Lohnkampf und Sportplatz erscheint - alles das bezeichnet der endgültig abgeschlossenen Kultur, der Provinz gegenüber eine ganz neue, späte und zukunftslose, aber unvermeidliche Form menschlicher Existenz (Spengler 2003: 46, Hervorhebungen im Original). Die betrachteten Begriffskorrelationen tragen sprachlich-kulturell zur Bildung des Images eines Menschen von einer Stadt oder einem Staat in der modernen globalisierten Welt bei. Der vorliegende Beitrag ist der Feststellung und Beschreibung der Rolle der Massenmedien bei der Imagebildung des Staates, im Speziellen Deutschlands und Russlands, im deutschen und russischen Massenbewusstsein gewidmet. Die staatlichen Organe sowie die Zensur beeinflussen die Qualität der an die Medien übergebenen Information und die adäquate Darstellung der Ereignisse. Der Staat und verschiedene Interessengruppen wirken durch die Massenmedien auf das Massenbewusstsein ein und manipulieren somit die Meinungsbildung der Menschen. Es ist anzumerken, dass das Handeln der großen Massenmediengesellschaften entsprechend der Regierungslinie durch das Vorhandensein verschiedener Informationsquellen beim Staat und durch den massenmedialen Einfluss bekannter Persönlichkeiten bedingt ist (Želtuhina 2003: 38ff.). Die Hauptkomponente des „weichen“ Einflusses eines beliebigen Staates auf den Adressaten durch die Massenmedien besteht in der Bildung des Images eines Landes und eines Volkes. Das Image gibt nicht nur die Attraktivität, die In- Rolle der Medien und Imagebildung des Staates 239 vestitionen, den Tourismus und die gemeinsamen Projekte vor, sondern gewährleistet auch die Reputation und das Vertrauen zu den innen- und außenpolitischen Handlungen. 2 Begriffsklärung: Bild, Image und Image des Staates 2.1 Bild Im Duden (2011: s.v. Bild) findet man folgende Bedeutung von Bild: 1. a. mit künstlerischen Mitteln auf einer Fläche Dargestelltes, Wiedergegebenes; Gemälde, Zeichnung o. Ä. b. Fotografie; gedruckt wiedergegebene bildliche Darstellung c. auf dem Fernsehschirm Erscheinendes d. Abbild, Spiegelbild e. jemanden, sich, etwas ins Bild setzen 2. Anblick, Ansicht 3. Vorstellung, Eindruck 4. (Theater) Abschnitt eines Bühnenstücks, der durch gleichbleibende Dekoration gekennzeichnet ist 5. bildlicher Ausdruck; anschaulicher Vergleich; Metapher 6. (Mathematik) einem Element durch Abbildung zugeordnetes [anderes] Element In russischen Bedeutungswörterbüchern definiert man Bild als - Gestalt/ Aussehen, - Art, - Ähnlichkeit, - lebendige, anschauliche Vorstellung über jemanden oder etwas, - die verallgemeinerte künstlerische Reflexion der Wirklichkeit, die in die Form der konkreten, individuellen Erscheinung eingekleidet ist, - Typ, - Charakter, der im Kunstwerk verwirklicht ist (Fedorkina/ Romaškina 1996: 694ff.). In der allgemeinen Psychologie werden unter „Bild“ im weiteren Sinne des Wortes das subjektive Weltbild oder Weltbildfragmente, einschließlich des Subjekts, anderer Menschen, der Raumumgebung und der zeitlichen Reihenfolge von Ereignissen, verstanden (Zičenko/ Meščerjakova 1996). So versteht man „Image“ als eine Bildabart und ein Ergebnis der sozialen Erkenntnis. 240 Marina R. Zheltuchina Die Definitionen zusammenfassend kann man folgendes Bildverständnis ableiten: „Bild“ gilt in diesem Beitrag als  Ergebnis der psychischen Reflexion (der Vorstellung) einer objektiven Erscheinung;  eine genaue Kopie des Dargestellten im Reflexionsprozess, da eine Transformation der Ausgangsinformation möglich, jedoch nicht obligatorisch ist. 2.2 Image Zum ersten Mal wurde der Begriff „Image“ von Lippmann (1922) genannt. Er steht in Bezug zum Begriff „Stereotyp“, besteht aus gedanklichen Repräsentationen im Kopf, gilt als Produkt subjektiver und sozialer Wahrnehmungen und beeinflusst das Menschenhandeln auf Grundlage von kategorisierten Komplexbildern. Anhand Lippmanns Stereotypenkonzepts versteht Boulding (1956, 1958) Image als einen allgemeinen Modus subjektiver Repräsentanz der objektiven Realität und beschreibt es als Leitbild mit verschiedenen Arten (räumlich, zeitlich, persönlich, gefühlsbetont). In der Fachliteratur gibt es bereits viele Ansätze zum Konzept des „Images“. Im Folgenden ein kurzer Überblick: In seinem Werk „Zum gegenwärtigen Stand der Image-Forschung“ schildert Kleining (1959) Image nicht als Stereotyp, sondern als eine dynamische, mit Reiz verbundene Person- oder Gruppenvorstellungenganzheit. Sein Imagemodell gründet sich auf drei Komponenten: kognitiv, affektiv und konativ. Bergler (1966) sieht das Image im Stereotypsystem als ein Produkt einer vereinfachten subjektiven Weltanschauung und als ein Wahrnehmungsphänomen. Von der psychologischen Seite betrachtet Lilli (1982) drei Grundfunktionen des Images: Wissens-, Erwartungs- und Konsistenzfunktion. Bentele/ Seidenglanz (2004) basieren ihre Ausführungen auf einem mehrdimensionalen, von den Imageträgern geprägten Imagekonstrukt. Beide Autoren konstatieren die Verbindung von Image und Vertrauen (Bentele/ Seidenglanz 2005: 346, zit. nach Spatzier 2011: 27). Im Duden (2011: s.v. Image) findet man folgende Bedeutung von Image: ‚Vorstellung, Bild, das ein Einzelner oder eine Gruppe von einer anderen Einzelperson, Gruppe oder Sache hat; [idealisiertes] Bild von jemandem, etwas in der öffentlichen Meinung‘. Synonyme zum Wort Image sind Ansehen, Bild, Leumund, Ruf; (bildungssprachlich) Nimbus, Prestige, Profil, Renommee, Reputation; (Wirtschaft) Corporate Identity. In diesem Beitrag wird unter dem Begriff „Image“ ein Bild verstanden, dessen Prototyp nicht eine beliebige Erscheinung, sondern ein Subjekt (der Mensch, die Rolle der Medien und Imagebildung des Staates 241 Organisation, das Kollektiv, die Gruppe, die Vereinigung, ein beliebiger Gegenstand, wenn ihm im Laufe der Schaffung und der Wahrnehmung seines Bildes persönliche, menschliche Qualitäten zugeschrieben werden) ist. Die oben genannten Definitionen von „Image“ helfen auch beim Verständnis des Images des Staates und der Staatsimagebildung im Mediendiskurs, was im Beitrag dargestellt wird. 2.3 Image des Staates Der Prozess der Imagebildung kann aktiv und zielgerichtet (in der Kunst) sein, er kann Analyseprozesse (die Abbildung des Typischen im Objekt) und Syntheseprozesse (den Besitz der Charakteristiken der individuellen Erscheinung) enthalten. Man kann über das Image des Staates, der Region, der Stadt, der Partei, der Zeitung, der Zeitschrift, des Festivals usw. sprechen. Je nach Subjekt-Prototyp kann man die Imageart als individuelles oder kollektives Subjekt identifizieren, in das die Parteien, die politischen Organisationen, der Staat inbegriffen sind (Perelygina 2002: 97). In Werken, die der Bestimmung des gegenständlichen Inhalts des Begriffes „Image des Staates“ gewidmet sind, begegnet man einer Menge verschiedener Deutungen. Im Folgenden werden einige verbreitete Deutungen als Beispiele herangezogen. Nach Bestimmung der Weltweiten Organisation für den Tourismus ist das Image des Landes eine Gesamtheit der emotionalen und rationalen Vorstellungen, die aus Merkmalen des Landes, eigenen Erfahrungen und Stereotypen resultieren. Dies führt dazu, dass bei der Nennung des Namens eines Landes bestimmte Assoziationen in Bezug darauf hervorgerufen werden. Laut Definition der Weltorganisation für Tourismus ist das Image des Landes die Gesamtheit der emotionalen und rationalen Vorstellungen, die aus dem Vergleich aller Merkmale des Landes, der eigenen Erfahrung des Menschen und den Gerüchten, die die Formung eines bestimmten Bildes beeinflussen, als Assoziationen in Bezug auf das Land hervorgerufen werden (Taranova 2009: pravo33.wordpress.com/ 2010/ 02/ 16/ ю-в-тарановатуристический-имидж-стра/ ; Stand: 25.05.2017). Nach Meinung der führenden Marketingforscher Kotler/ Asplund/ Rejn/ Chajder (2005: 206) ist das Image des Landes eine Summe aller emotionalen und ästhetischen Qualitäten, wie z.B. der Erfahrung, der Überzeugung, der Ideen, der Erinnerungen und der Eindrücke, die ein Individuum hat. Andererseits charakterisieren die russischen Forscher Rožkov/ Kismereškin (2006: 17) das Image des Staates als „eine Konstruktion, die aufgrund der persönlichen Menschenerfahrung oder unter der Einwirkung der Informationsquellen, einschließlich der Massenmedien gebildet ist“. Es ist wichtig, zu betonen, dass „Image“ gerade das durch die Medien erzeugte Bild und nicht die genaue Widerspiegelung der Realität ist. Der niederländische 242 Marina R. Zheltuchina Sprachwissenschaftler van Dijk bemerkt, dass man die öffentliche Meinung kontrollieren kann, indem man den Mediendiskurs, z.B. die Themen und Nachrichtentitel, überwacht. Man kann dadurch die Einstellung der Menschen zu bestimmten Fragestellungen beeinflussen, im Bewusstsein der Gesellschaft bestimmte Bilder aufbauen, Ideen vorschlagen, Ideologievorstellungen einführen und somit in Bezug auf die Sozialisierung der Gruppe und das Normen- und Wertesystem geltend machen. Van Dijk stellt fest, dass man durch die Kontrolle des Mediendiskurses, der Themen und der Schlagzeilen auch die öffentliche Meinung, die Einstellung der Menschen zu diesem oder jenem Thema, kontrollieren kann. Man kann auch bestimmte Bilder und Ideen im Bewusstsein der Gesellschaft aufbauen, um die Ideologie, die als Hauptmechanismus der Sozialisierung der Gruppe sowie als System ihrer Normen und Werte dient, in die Gesellschaft einzuführen. Zum Beispiel hat die anti-arabische Ideologie zweifellos die Meinungen über den Krieg im Persischen Golf nur gefestigt (Van Dijk: www.discourses.org/ OldArticles/ Power%20and%20the%20news%20media.pdf; Stand: 25.05.2017). Die weltweite öffentliche Meinung als ein wichtiger Faktor der internationalen Beziehungen ist für die wachsende Rolle des Mediendiskurses in der Außenpolitik verantwortlich. Die Spitzenposition nehmen in diesem Bereich die USA ein, denen es auf globaler Ebene gelungen ist, einen Mechanismus zu schaffen, der die Informationsunterstützung ihrer Interessen in allen Regionen der Welt gewährleistet. Die Regierung des Landes finanziert die Propaganda freigebig, was nicht nur zulässt, dass das nötige informative Image des Landes durch das Netz der speziell dazu geschaffenen Medienstrukturen gebildet wird, sondern auch, dass die informative Politik in vielen souveränen Staaten dafür aktiv korrigiert wird. Dabei unterwerfen sich die amerikanische Diplomatie und die Medientätigkeit der Staatsdepartamentstruktur der USA dem „Zentrum des schnellen Reagierens“, dessen Aufgabe die Imagekorrektur von Amerika ist, falls das Image der USA in ausländischen Massenmedien vom Gesichtspunkt Washingtons aus betrachtet falsch dargestellt wird. Analytiker stellen fest, dass sich wegen des Übergangs zur Informationsgesellschaft die Strategie der Militärkampagnen ändert. Die Massenmedien dienen der Bildung der Wirklichkeit im vorher bestimmten Ton schon seit langem (es kann militärisch, geschäftlich, politisch, international festgelegt sein). Im 21. Jahrhundert hat sich die Rolle der Massenmedien dank der ungestümen Entwicklung der Informationstechnologien aus der Hilfsrolle in die zentrale Rolle verwandelt. So lässt der Mediendiskurs heute zu, die internationale Politik zu manipulieren. Es haben sich die Prognosen des deutschen Philosophen und Kulturwissenschaftlers Spengler erfüllt, die noch am Anfang des vorigen Jahrhunderts in seiner Arbeit „Der Untergang des Abendlandes“ formuliert wurden. Er sagte voraus, dass in naher Zukunft drei oder vier Zeitungen weltweit als Rolle der Medien und Imagebildung des Staates 243 Richtschnur für die Gedanken von provinziellen Zeitungen dienen werden, die auf den Willen des Volkes einwirken. Es ist eine kleine Anzahl überlegener Köpfe, deren Namen in diesem Augenblick vielleicht nicht die bekanntesten sind, die alles entscheidet, während die große Masse der Politiker zweiten Ranges, Rhetoren und Tribunen, Abgeordnete und Journalisten, eine Auswahl nach Provinzhorizonten, nach unten die Illusion einer Selbstbestimmung des Volkes aufrecht erhält (Spengler 2003: 48). Und obwohl Spengler die Entwicklung der elektronischen Massenmedien nicht voraussah, hat er vorausgeahnt, inwiefern die Rolle der Masseninformationen im Gesellschaftsleben stark wachsen wird. In diesem Beitrag zu den rhetorischen Mitteln der Imagebildung des Staates im modernen Mediendiskurs werden die Begriffe „Bild“ und „Image“ als Synonyme betrachtet. 3 Das innere und das äußere Image Der Einfluss einiger Medienkonzerne und Zeitungen ist größer als der Einfluss der einzelnen Staaten. Sie ziehen die Aufmerksamkeit heran und erwecken das Interesse für das Land oder lösen es aus dem aktuellen politischen Kontext los, bilden oder zerstören sein Image. So spielt das Image des Staates sowohl unter den eigenen Bürgern als auch auf internationaler Ebene eine wesentliche Rolle in der Bildung und der Entwicklung der modernen Zivilgesellschaft sowie in der Vervollkommnung verschiedener sozialer Institute. Es ist ein kompliziertes Mehrebenen- und Mehrelementenphänomen. Jedoch ist es nötig, das Image des Staates für die Bevölkerung (das innere Image) und das Image des Staates, das sich außerhalb seiner territorialen Grenzen entwickelt (das äußere Image), zu unterscheiden. Entsprechend korrelieren die beiden Teilbereiche (das innere und das äußere Image) des gesamten Begriffes „Image des Staates“ mit den Hauptrichtungen seines Funktionierens:  das innere Image mit der inneren Politik (die staatlichen sozialen Programme, die Wirtschaft, die Kultur usw.),  das äußere Image mit der Außenpolitik (die Teilnahme des Staates an verschiedenen lokalen und internationalen Organisationen, die Unterzeichnung von Konventionen und Abkommen, internationale Zusammenarbeit usw.). 244 Marina R. Zheltuchina Die angegebenen Teile bestehen aus einer Menge Komponenten, die ihre Reflexion in den Massenmedien und der Massenkommunikation finden. Die Mehrheit der deutschen und russischen Massenmedien strebt derzeit danach, beim Adressaten ein positives Image der modernen deutschen und russischen Wirklichkeit zu schaffen, das aus dem inneren ins äußere Image übergeht. 3.1 Russland Beispiel 1: Im Artikel „Новый курс современной России: разворот к нормальной жизни“ 1 (‚Der neue Kurs vom modernen Russland: die Umkehr zum normalen Leben‘, Übers. von d. Verf.) wird positiv über den neuen politischen Kurs von Putin gesprochen. Каждая следующая акция протеста собирала все меньше и меньше участников. Фото: Михаил ФРОЛОВ Владимир Путин взялся не только за коррупцию, которая так болезненно воспринимается обществом, но и пошел на изменение собственной кадровой политики. Как отмечали политологи, принадлежность человека к «команде» 1 Комсомольская правда. Zeitung vom 26.12.2012, online unter www.kp.ru/ daily/ 26008/ 2932544/ (Stand: 12.06.2017). Rolle der Medien und Imagebildung des Staates 245 больше не дает карт-бланш, а для назначения на высокий пост и, главное, удержание его теперь необходимы высокий профессионализм, безупречная репутация и готовность достигать реальных результатов (Novyj kurs sovremennoj Rossii: razvorot k normaľnoj žizni: www.kp.ru/ daily/ 26008/ 2932544/ ; Stand: 12.06.2017). Eine solche Strategie kann die Billigung seitens der Gesellschaft herbeirufen; die verwendeten Stilmittel (Metaphern, Entlehnungen, Ironie, Epitheta u.a.) „взялся за коррупцию, принадлежность человека к «команде» больше не дает карт-бланш, высокий профессионализм, безупречная репутация, реальных результатов и др.“ betonen die Entschlossenheit, die Grundsätzlichkeit und die Ehrlichkeit des russischen Präsidenten. Die grundlegenden Veränderungen liefern die ersten Ergebnisse, die von der russischen Gesellschaft positiv bewertet werden: […] эти действия не остались незамеченными обществом. Граждане по достоинству оценили предпринимаемые властью усилия (Novyj kurs sovremennoj Rossii: razvorot k normaľnoj žizni: www.kp.ru/ daily/ 26008/ 2932544/ ; Stand: 25.05.2017). Somit stellt der Autor fest, dass die russischen Bürger eine positive Einstellung gegenüber der Politik des Staates vorweisen. Weiter geht der Autor des Zeitungsartikels zur Reaktion der Opposition über: Итак, власть, и прежде всего президент Владимир Путин, сумела найти адекватный и очень достойный ответ на требования «рассерженных горожан. ... Сумей оппозиция вовремя среагировать на изменения, мы могли бы стать свидетелями диалога ее с властью и продолжения политических реформ уже совместными усилиями. ... Однако оказалось, что к диалогу оппозиция не готова, так как готовилась к противостоянию и ничего, кроме криков «Долой! », предъявить не может (Novyj kurs sovremennoj Rossii: razvorot k normaľnoj žizni: www.kp.ru/ daily/ 26008/ 2932544/ ; Stand: 25.05.2017). Die Anspielungen des Autors auf die Auseinandersetzungen zwischen Machtinhabern und Opposition und die Nutzung der grammatikalischen Bedingungs-, Ursache- und Folgenkonstruktionen, der Epitheta, der positiven Bewertungslexeme, der Ausrufesätze und anderer Stilmittel betonen die Zahlungsunfähigkeit der Opposition und festigen die Positionen der derzeitigen Machtinhaber und des Präsidenten des Landes. Spricht man über das Image eines Landes, so kann man es folgenderweise charakterisieren:  allgemeine Imagemarker,  spezifische Imagemarker als politisches Phänomen. 246 Marina R. Zheltuchina Das Image des Staates wird auf drei Stufen des öffentlichen Bewusstseins aufgebaut:  gegenständlich,  stereotypisch,  mythenbildend. Für den Fall des äußeren Images spielt der stereotypische Aspekt eine wichtige Rolle. Der Stereotyp ist im Unterschied zum Image weitverbreitet, vereinfacht und hat nur die Konnotation „positiv“ oder „negativ“. In diesem Fall kann es sein, dass das Image nicht mehr der Wirklichkeit entspricht, aber trotzdem weiterhin im öffentlichen Bewusstsein existiert. Es wurde festgestellt, dass Menschen sich bei der Meinungsbildung nicht mehr leichtfertig auf subjektive Einschätzungen verlassen und die übrig gebliebenen Stereotype sich unter dem Einfluss der Kontrolle und der Korrektur des betroffenen Staates nach und nach ändern (Elkov 2011). Bei der Schaffung des gewünschten Bildes wird der Staat mit verschiedenen Problemen konfrontiert. Beispiel 2: […] когда говорят о проблемах имиджа, многие подразумевают, что Россия их, мол, «заслужила» («Pussy riot», Магнитский, Ходорковский, Политковская…). Однако в странах самых влиятельных СМИ отношение к России хуже, чем, скажем, к некоторым откровенным диктатурам. И даже хуже чем к СССР. Не встречал анализов, в какую сторону менялось мнение людей после посещения той или иной страны, но в отношении России по моим наблюдениям у большинства изменялось четко в положительную сторону. Это важный момент: медиа-образ России хуже, чем положение дел на самом деле. Сейчас налицо контраст с реальностью. И мы видим свою задачу не в приукрашивании и не в «потемкинских деревнях», а в доведении всей полноты информации. Сейчас реальность на нашей стороне. Именно поэтому мы оптимистичны. Не потому что у нас нет коррупции, преступности и пьянства. Но потому, что в России есть не только они. А зарубежный читатель и слушатель часто получает именно этот образ: или плохо, или ничего. Аудитория знает про «Pussy riot» (в отношении которых вынесен приговор, который, как выяснилось, мог бы быть вынесен по законам многих стран Европы), но не знает, к примеру, про Пояс Богородицы и 3 миллиона россиян, которые порой сутками стояли к нему и были оскорблены плясками в главном храме страны […] (Zitiert nach: blog.rs.gov.ru/ node/ 47; Stand: 29.12.2013). Rolle der Medien und Imagebildung des Staates 247 In diesem Medientextfragment ist die Diskrepanz zwischen dem inneren und äußeren Image Russlands zu sehen, die sprachlich, politisch, kulturell und interkulturell bedingt ist. Der Autor schützt das positive Image von Russland, hofft optimistisch auf die Meinungs-, Vorstellungs- und Darstellungsänderungen im Massenbewusstsein von Vertretern anderer Sprachkulturen. 3.2 Deutschland Ähnliche Diskrepanz zwischen dem inneren und äußeren Image Deutschlands zeigen sich im Medientextfragment des Artikels „Ewiges deutsches Schwanken zwischen Ost und West“ von Schmid (www.welt.de/ debatte/ kommentare/ article 126547490/ Ewiges-deutsches-Schwanken-zwischen-Ost-und-West.html; Stand: 11.06.2017): Beispiel 3: Die Hälfte der Deutschen möchte zwischen Russen und der Nato vermitteln und zeigt ein gerüttelt Maß an Antiwestlichkeit. Doch wer mit Putin verhandeln will, muss im westlichen Bündnis verankert sein. Es gab einmal eine Zeit, in der Deutschland nicht an Kompromiss, Ausgleich und Vermittlung interessiert war. Sie endete im Zweiten Weltkrieg schrecklich. So gesehen müsste es alle Welt mit Freude erfüllen, dass die Mehrheit der Deutschen keineswegs mehr hart wie Kruppstahl sein will. Die Deutschen möchten vielmehr, dass Deutschland, wo immer Konflikte sich auftun, den großen Vermittler spielt. Doch was so erfreulich klingt, ist es in Wahrheit ganz und gar nicht. Wenn heute fast die Hälfte der Bürger dieses Landes Deutschland eine Vermittlerrolle zwischen dem westlichen Bündnis und Russland zuschreiben möchte, dann ist damit etwas anderes gemeint: der halbe Ausstieg aus dem westlichen Bündnis - da etwa auch Polen und die baltischen Staaten dazugehören, sollte man es besser das freiheitlich-demokratische Bündnis nennen. […] Vielleicht haben sich viele in diesem Bündnis nur so lange wohlgefühlt, wie es ihnen genützt hat, solange dieses Bündnis garantierte, dass die sowjetische Einflusszone am Eisernen Vorhang endete und keine Gefahr bestand, dass zwischen Hamburg und München, zwischen Köln und Helmstedt die Planwirtschaft eingeführt und die Pressefreiheit abgeschafft würde. Trübe deutsche Tradition Wer heute zwischen dem freiheitlich-demokratischen Bündnis und Russland vermitteln will, gibt damit dem Verhalten Putins eine Legitimität, die es nicht besitzt. 248 Marina R. Zheltuchina Mit einem, der das Völkerrecht bricht, darf man sich nicht um des lieben Friedens willen auf halbem Wege treffen. Natürlich muss man Putin verstehen. Aber nicht im Sinne von gutheißen. Sondern im Sinne von dechiffrieren. Man muss nach den historischen Linien suchen, in denen er sich bewegt. Dann wird man leider erkennen, dass er einem alten russischen Muster folgt. So geschichtserfahren und so nachtragend muss man schon sein. Nur aus der festen Verortung im freiheitlich-demokratischen Bündnis heraus sind Gespräche mit ihm und seiner Equipe sinnvoll. Das Schwanken zwischen West und Ost, zwischen Zivilisation und Kultur, zwischen Ratio und Seelentiefe hat eine lange und trübe Tradition. Es hat nichts mit Aufgeklärtheit zu tun, nach Putins Gewaltstreich der Tür zuzustreben, die zum Ausgang aus unserem Bündnis führt (Schmid 2014: www.welt.de/ debatte/ kommentare/ article126547490/ Ewiges-deutsches-Schwanken-zwischen-Ost-und- West.html; Stand: 11.06.2017). In dem dargelegten Artikel folgt der Autor der trüben, wie er selbst geschrieben hat, deutschen Tradition auch mithilfe von Stilmitteln, die das wankelmütige positive und negative innere und äußere Image Deutschlands akzentuieren:  schwebende Formulierungen: Die Hälfte der Deutschen, die Mehrheit der Deutschen, fast die Hälfte der Bürger, viele;  Epitheta: trübe, geschichtserfahren, nachtragend, sinnvoll, aus der festen Verortung;  Metaphern und Komparationen, Phraseologismen: die sowjetische Einflusszone, am Eisernen Vorhang, hart wie Kruppstahl, muss im westlichen Bündnis verankert sein, den großen Vermittler spielt, eine Vermittlerrolle, um des lieben Friedens willen, sich auf halbem Wege treffen, Gespräche mit ihm und seiner Equipe, nach Putins Gewaltstreich der Tür zuzustreben, die zum Ausgang aus unserem Bündnis führt;  kontextuelle Synonyme: Kompromiss, Ausgleich, Vermittlung; im westlichen Bündnis, die Nato, das freiheitlich-demokratische Bündnis. Der Artikel präsentiert übersichtlich die Dichotomien „gut - böse“, „stark - schwach“, „pro - contra“, „für Putin - gegen Putin“, „West - Ost“, „Demokratie - Totalitarismus“ u.a. (z.B. ist es in Wahrheit ganz und gar nicht; die Pressefreiheit - die Planwirtschaft, einem alten russischen Muster folgen; gutheißen - dechiffrieren; zwischen Hamburg und München, zwischen Köln und Helmstedt; Das Schwanken zwischen West und Ost, zwischen Zivilisation und Kultur, zwischen Ratio und Seelentiefe), auch die Dreiteilungen „Gegenwart - Vergangenheit - Zukunft“, „Russland - Deutschland - die Nato“ (z.B. Die Hälfte der Deutschen möchte zwischen Russen und der Nato vermitteln […]). Rolle der Medien und Imagebildung des Staates 249 4 Fazit Im Beitrag wurde herausgearbeitet, dass die Rolle der Medien bei der Imagebildung des Staates im Massenbewusstsein im interkulturellen Gegenwartskontext von Bedeutung ist, was sich in der regionalen und in der Weltpolitik widerspiegelt. Die Massenmedien bestimmen die Vorstellungen vom Adressaten über die Situation in der Welt, seine Haltung zu den Ereignissen, seine Bewertung dessen, was geschieht, und bilden Images von Staaten und seinen Führern. Die für den Beitrag gewählten interkulturellen Beispiele demonstrieren, dass die Massenmedien die Aufmerksamkeit und das Interesse des Adressaten für das Land steigern oder den Staat im aktuellen politischen Kontext ignorieren, sein Image bilden oder sein Image zerstören. Die Medien nehmen Einfluss auf die Imagebildung des Staates für seine Bevölkerung (das innere Image) und das Image des Staates, das außerhalb der territorialen Grenzen geschaffen wird (das äußere Image). Dies wird von den Regierungen mancher Länder traditionell genutzt, um ihre Position in der Weltpolitik zu stärken. 5 Literatur Bentele, Günter/ Seidenglanz, René (2004): Das Image der Image-Macher. Eine repräsentative Studie zum Image der PR-Branche in der Bevölkerung und eine Journalistenbefragung. 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Edgar Quinet 5-7, Sector 1, RO-010017 Bukarest/ Rumänien; E-Mail: hermine.fierbinteanu@lls.unibuc.ro Prof. Dr. Dr. Csaba Földes | Universität Erfurt, Philosophische Fakultät, Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft, Nordhäuser Str. 63, D-99089 Erfurt/ Deutschland; E-Mail: csaba.foeldes@uni-erfurt.de Dr. Martin Hannes Graf | Schweizerdeutsches Wörterbuch, Auf der Mauer 5, CH-8001 Zürich; E-Mail: martin.h.graf@idiotikon.ch Prof. Dr. Věra Höppnerová |U Zeleného ptáka 1158, CZ-14800 Praha 4; E-Mail: hopp@vse.cz Prof. Dr. Svitlana Ivanenko | Nationale Pädagogische Mykhajlo-Drahomanov- Universität Kiew, Fakultät für Naturwissenschaftliche Bildung und Ökologie, Lehrstuhl für Fremdsprachen, Pirogova 9, UA-01030 Kiew, Ukraine; E-Mail: swetlaiw@ukr.net Mag. Daniela Kaiser-Feistmantl | Universität Innsbruck, Institut für Sprachen und Literaturen, Bereich Sprachwissenschaft, Innrain 52, A-6020 Innsbruck/ Österreich; E-Mail: daniela.feistmantl@gmail.com 252 Herausgeber und Beiträger(innen) Andrada Părchișanu | Universität Bukarest, Fremdsprachenfakultät, Department für Germanische Sprachen, Str. Edgar Quinet 5-7, Sector 1, RO-010017 Bukarest/ Rumänien; E-Mail: andrada.onu@gmail.com Dr. habil. Daniela Pelka | Universität Oppeln/ Opole, Institut für Germanistik, Pl. Staszica 1, PL-45-052 Opole/ Polen; E-Mail: Daniela.Pelka@uni.opole.pl Dr. Sadije Rexhepi | Universität Prishtina, Philologische Fakultät, Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur, George Bush Str. o.N., XZ-10000 Prishtina/ Kosovo; E-Mail: sadije.rexhepi@uni-pr.edu Dr. Oleksandr Rudkivskyy | Nationale Linguistische Universität Kiew, Lehrstuhl für Germanische und Finno-Ugrische Philologie, wul. Welyka Wassylkiwska 73, UA-03150 Kiew/ Ukraine; E-Mail: waltorna@ukr.net Dr. Nassima Scharafutdinowa | Staatliche Technische Universität Uljanowsk, Lehrstuhl für Fremdsprachen, Severny Venets 32, RU-432027 Uljanowsk/ Russland; E-Mail: nassima@mail.ru Prof. Dr. Wilhelm Schellenberg | Universität Erfurt, Germanistische Sprachwissenschaft, Nordhäuser Str. 63, D-99089 Erfurt/ Deutschland; E-Mail: wilhelm-schellenberg@t-online.de Dr. habil. József Tóth | Pannonische Universität Veszprém, Institut für Germanistik und Translationswissenschaft, Egyetem u. 3, H-8200 Veszprém/ Ungarn; E-Mail: jozsef.toth@btk.uni-pannon.hu Dr. Zuzana Tuhárska | Matej-Bel-Universität Banská Bystrica, Philosophische Fakultät, Institut für Germanistik, Tajovského 40, SK-974 01 Banská Bystrica/ Slowakei; E-Mail: Zuzana.Tuharska@umb.sk Dr. Erika Windberger-Heidenkummer | Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Germanistik, Mozartgasse 8/ 2, A-8010 Graz/ Österreich; E-Mail: erika.windberger@uni-graz.at Prof. Dr. Marina R. Zheltuchina | Wolgograder Staatliche Sozialwissenschaftlich-Pädagogische Universität, Lehrstuhl für Englische Philologie, Pr. 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