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Sprachliche Höflichkeit

2017
978-3-8233-9094-7
Gunter Narr Verlag 
Claus Ehrhardt
Eva Neuland

Sprachliche Höflichkeit ist ein breit diskutiertes Thema in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Oft wird ein Mangel an Höflichkeit oder gar deren Verfall beklagt. Neue Medien und die zunehmende Interkulturalität scheinen das Problem zu verschärfen. In der Sprachwissenschaft greifen zahlreiche Ansätze solche Fragen auf und versuchen eine wissenschaftliche Klärung und Einordnung in neuere theoretische und methodische Entwicklungen. Der Band dokumentiert ausgewählte Beiträge einer internationalen Fachkonferenz. Er präsentiert aktuelle Entwicklungen in der deutschen Sprache und neue Ansätze in der Höflichkeitsforschung, auch in kontrastiver Perspektive und in verschiedenen Anwendungsfeldern. Kulturhistorische Einschätzungen über Ursprung und Entwicklung von Höflichkeitskonventionen sowie Ausblicke auf künftige Herausforderungen runden den Band ab.

Sprachliche Höflichkeit ist ein breit diskutiertes Thema in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Oft wird ein Mangel an Höflichkeit oder gar deren Verfall beklagt. Neue Medien und die zunehmende Interkulturalität scheinen das Problem zu verschärfen. In der Sprachwissenschaft greifen zahlreiche Ansätze solche Fragen auf und versuchen eine wissenschaftliche Klärung und Einordnung in neuere theoretische und methodische Entwicklungen. Der Band dokumentiert ausgewählte Beiträge einer internationalen Fachkonferenz. Er präsentiert aktuelle Entwicklungen in der deutschen Sprache und neue Ansätze in der Höflichkeitsforschung, auch in kontrastiver Perspektive und in verschiedenen Anwendungsfeldern. Kulturhistorische Einschätzungen über Ursprung und Entwicklung von Höflichkeitskonventionen sowie Ausblicke auf künftige Herausforderungen runden den Band ab. ISBN 978-3-8233-8094-8 Ehrhardt / Neuland (Hrsg.) Sprachliche Höflichkeit Claus Ehrhardt / Eva Neuland (Hrsg.) Sprachliche Höflichkeit Historische, aktuelle und künftige Perspektiven Sprachliche Höflichkeit Claus Ehrhardt / Eva Neuland (Hrsg.) Sprachliche Höflichkeit Historische, aktuelle und künftige Perspektiven Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb. de abrufbar. © 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-8233-9094-7 5 Inhaltsverzeichnis Einleitung Claus Ehrhardt / Eva Neuland Sprachliche Höflichkeit. Historische, aktuelle und künftige Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Jürgen Roth Die Unhöflichkeit der Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kulturhistorische Dimensionen Dieter Cherubim Höflichkeitsdissonanzen. Zum Gebrauch unterschiedlicher Höflichkeitsformen in historischen Texten und Gesprächen . . . . . . . . 25 Heinz-Helmut Lüger Verbale Höflichkeit in der Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Aktuelle Tendenzen Gudrun Held Der face -Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework . Paradigmatische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Miriam A. Locher Interpersonale Pragmatik und (Un)Höflichkeitsforschung . . . . . . . . . . 77 Hans Jürgen Heringer Über Höflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Irma Hyvärinen Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6 Inhaltsverzeichnis Hitoshi Yamashita Höflichkeit und ihre Kehrseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Frank Liedtke Ist Höflichkeit angeboren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Claus Ehrhardt / Bernd Müller-Jacquier Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Kontrastive Analysen Silvia Bonacchi / Virginia Schulte Möglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke für die Entwicklung fremdsprachlicher Höflichkeitskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Peter Colliander Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Josefa Contreras-Fernández Intensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in Talkshows: kontrastive Analyse Deutsch / Spanisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Yadigar Eğit Entschuldigungen im Deutschen und Türkischen . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Nahla Tawfik Deutschland ist ein sauberes Land und das soll es auch bleiben! Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen . . . . . . . . 239 Tatiana Yudina Akademische Höflichkeit: eine historische Perspektive . . . . . . . . . . . 259 Oksana Khrystenko Interkulturelle Besonderheiten im Gebrauch nominaler Anredeformen (am Beispiel des Deutschen und Ukrainischen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Inhaltsverzeichnis 7 Svetlana Kraeva Kontrastive Aspekte der Dankesforschung (am Beispiel des multilingualen Mikroblogging-Dienstes Twitter) . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Angewandte Studien Eva Neuland / Benjamin Könning / Elisa Wessels Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive . . 287 Helga Kotthoff Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden. Zur Kommunikation von positiver Höflichkeit und Informalität in Eröffnungs- und Beendigungsphasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Andrea Taczman Loben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt. Ergebnisse eines Pilotprojekts zum Umgang mit sprachlicher Höflichkeit im DaF-Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Ulrike Simon Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Joachim Gerdes Sprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik . . . . . . . . . . . . . . . 369 Goranka Rocco Politische Korrektheit und sprachliche Höflichkeit als komplexitätsreduzierende Rituale der Wirtschaftskommunikation . 385 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 9 Einleitung Sprachliche Höflichkeit. Historische, aktuelle und künftige Perspektiven 11 Sprachliche Höflichkeit. Historische, aktuelle und künftige Perspektiven Vorwort Claus Ehrhardt / Eva Neuland Sprachliche Höflichkeit ist seit einiger Zeit wieder ein aktuelles Thema in der Öffentlichkeit geworden: Klagen über mangelnde Höflichkeit bis hin zu einem „Verfall“ von Sitten und Ausdrucksweisen finden sich mit sprachpflegerischem Tenor in der Presse und auf dem kulturkritischen Buchmarkt. Verantwortlich gemacht werden Politiker, Fernsehmoderatoren und vor allem Jugendliche, ihre Eltern und Lehrkräfte. Die wachsende Bedeutung neuer Medien und die zunehmenden Sprach- und Kulturkontakte in vielen Lebensbereichen sowie die erforderliche interkulturelle Kommunikation scheinen das Problem noch zu verschärfen und Klärungen zum „richtigen“ Umgang mit Höflichkeit zu verlangen. Das lebhafte öffentliche Interesse und die z. T. kontroversen Diskussionen (vgl. z. B. den Beitrag von Roth in diesem Band) lassen es wünschenswert erscheinen, das Thema „Höflichkeit“ auch aus wissenschaftlicher Sicht neu zu beleuchten und den öffentlichen Diskurs durch den Verweis auf aktuelle wissenschaftliche Beschreibungs- und Erklärungsmodelle der sprachlichen Höflichkeit, ihrer Ausdrucks- und Wirkungsformen im kulturellen Wandel zu bereichern. Darüber hinaus bietet die Aktualität und gesellschaftliche Relevanz des Themas auch die Chance, die wissenschaftliche Theoriebildung an die gesellschaftliche Realität anzunähern, die eigene Empirie zu vertiefen und Methoden der Beschreibung und Analyse zu erweitern bzw. zu verfeinern. Sprachliche Höflichkeit hat sich in diesem Sinne in den letzten Jahren als ein zentrales Thema in den Sprach- und Kulturwissenschaften, der linguistischen Pragmatik, der Soziolinguistik und der interkulturellen Kommunikationsforschung herauskristallisiert und etabliert. Sowohl in theoretischer und empirischer als auch anwendungsorientierter Perspektive bietet das Thema überdies zahlreiche interdisziplinäre Facetten. Einige dieser Themen sind in den vergangenen Jahren auf internationalen Konferenzen diskutiert, klassische Modelle der Gesichtsarbeit modifiziert und empirische Zugänge differenziert worden. Dies dokumentieren u. a. zwei von den Herausgebern dieses Sammelbandes vorgelegte Publikationen aus den 12 Claus Ehrhardt / Eva Neuland Jahren 2009 und 2011 1 . Der Präsentation des aktuellen Forschungsstandes, verbunden mit historischen und künftigen Perspektiven, widmete sich eine jüngste internationale Fachkonferenz, die die beiden Herausgeber im Herbst 2016 an der Bergischen Universität Wuppertal mit Unterstützung der DFG durchführen konnten. Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Ergebnisse. Experten aus 15 Nationen stellen ihre Forschungsergebnisse in Forschungstheorie und -praxis zur Diskussion und informieren über aktuelle Entwicklungstendenzen der Höflichkeit im Deutschen in ausgewählten Anwendungsfeldern des beruflichen wie privaten Alltags, interkulturellen Begegnungen und kritischen Kommunikationssituationen. Die Beiträge thematisieren kulturhistorische Dimensionen, erörtern aktuelle Tendenzen der Theoriebildung, Ergebnisse kontrastiver Analysen und stellen Erscheinungsweisen in neuen Medien, in Werbung und im Schulalltag vor. Sie vermitteln Erkenntnisfortschritte und Impulse für die künftige Forschung und Anregungen für Sprachbildung und Sprachunterricht, auch für Deutsch als Fremdsprache. Die Herausgeber bedanken sich bei allen Kollegen, die an der Tagung teilgenommen und an dieser Publikation mitgewirkt haben. Der DFG , dem DAAD , der Bergischen Universität Wuppertal und der Università di Urbino sei die finanzielle Unterstützung gedankt, die eine Beteiligung von zahlreichen Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland und den produktiven Austausch ermöglicht hat. Eva Neuland, Claus Ehrhardt Wuppertal, Urbino im Oktober 2017 1 Ehrhardt, Claus / Neuland, Eva (Hrsg.) (2009). Sprachliche Höflichkeit in interkultureller Kommunikation und im DaF-Unterricht. Frankfurt / M.: Peter Lang. Ehrhardt, Claus / Neuland, Eva / Yamashita, Hitoshi (Hrsg.) (2011). Sprachliche Höflichkeit zwischen Etikette und kommunikativer Kompetenz. Frankfurt / M.: Peter Lang. Die Unhöflichkeit der Verhältnisse 13 Die Unhöflichkeit der Verhältnisse Jürgen Roth Höflichkeit ist ein in unserem Alltag allgegenwärtiges Phänomen, das sich nicht nur in unserem nichtsprachlichen Verhalten äußert, sondern auch in unserer mündlichen und schriftlichen Kommunikation. In der Regel ist sprachliche Höflichkeit mit der jeweiligen Kommunikationssituation und Textfunktion vereinbar. Deutsche Sprache - Zeitschrift für Theorie Praxis Dokumentation 2 / 2003 Die Sprache verkommt, und das Leben verkommt auch, die feinen Unterschiede verschwinden, der grobe Keil wird getrieben, bald gibt es keine Höflichkeitsform, keinen Irrealis mehr, weder in der Grammatik noch im Umgang der Menschen untereinander. Ludwig Harig, Die Zeit, 11. Juli 1986 Angesichts der allbekannten nahezu allseitigen, beinahe epidemischen Verrohung und Verwüstung der alltäglichen Kommunikation in den sogenannten sozialen Medien und in den Kommentarspalten im Internet - sowie, möchte ich ergänzen, denn auch dies ist ex negativo eine elementare Frage sprachlicher Höflichkeit, in Anbetracht der Erosion des Sprachbewußtseins, des Stils, des Ausdrucks, der Flexionsformen und der Orthographie - „warnte“ der Bayerische Lehrerverband BLLV laut taz vom 8. September 2016 „vor der Auswirkung haßerfüllter Sprache auf Kinder“. In einem Manifest mit dem Titel „Haltung zählt“ ließ er verlauten: „Wir beobachten mit größter Sorge, wie sich die Stimmung in den sozialen Netzwerken und die alltäglichen Umgangsformen in unserer Gesellschaft verändern“, und man nehme eine „zunehmende Aggressivität gegenüber Andersdenkenden, Ausländern und Flüchtlingen wahr“. Auch der Kulturwissenschaftler Thomas Mießgang diagnostizierte in seinem 2013 erschienenen Buch Scheiß drauf - Die Kultur der Unhöflichkeit (Berlin) eine „Zunahme (einen Tsunami? ) an Grobheit, an Aggressivität, an schlechten oder gar keinen Manieren in den urbanen Räumen und den medialen Phantasmagorien, die die sozialen Milieus überformen“. „Die moderne Gesellschaft hat kein Konzept mehr für Würde, Wert oder Anerkennung“, heißt es an anderer Stelle. „Die Arbeitswelt […] hat sich seit den prosperierenden Nachkriegsjahrzehnten mit ihren deutlichen Verbesserungen der Bedingungen für Arbeitnehmer in der Krisenepoche in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem ein 14 Jürgen Roth permanenter Psychokrieg ausgefochten wird“, die soziale Interaktion gleiche einem „Eliminationsspiel“, dem selbstredend alles Spielerische fehlt, und auf den „sozialen Plattformen“ seien derart viele „innovative Formen der niederträchtigen Beleidigung und der perfiden Bloßstellung von Mitmenschen“ zu besichtigen, daß man „ein Horrorpanorama der präoder, wenn man so will, postzivilisatorischen Niedertracht“ gewahre. Der, zum dritten, Soziologe Colin Crouch, Autor des Standardwerks Post- Democracy, beschreibt in Le Monde diplomatique vom August 2015, wie im Zuge der neoliberalen Kolonisation öffentlicher Dienstleistungssektoren und ihrer Verwandlung in angeblich so weise wie effiziente Märkte der Begriff und das Konzept des Bürgers entsorgt und durch den allgegenwärtigen „Kunden“ ersetzt wurde - eine lexikalische Verschiebung, in der sich - verschleiert - nicht allein der Verlust oder die intendierte Zerstörung von Dezenz und Rücksichtnahme ausdrückt. „Was bedeutet es, wenn im Bahnhof heute statt ‚Passengers for Manchester please change at Birmingham‘ die Durchsage ‚Customers for Manchester …‘ erklingt? “ fragt Crouch und fährt fort: „Eine durchaus zweifelhafte Formulierung, da man annehmen könnte, daß die ‚customers for Manchester‘ die Stadt nicht bereisen, sondern kaufen wollen. Soll die Umbenennung dazu führen, daß das Bahnpersonal die vormaligen Fahrgäste respektvoller behandelt? Das allerdings ließe sich auch erreichen, indem man den Mitarbeitern im Zuge ihrer Ausbildung beibringt, daß Fahrgäste keine Objekte, sondern Bürger sind“ - die eben nun, als Kunden, nicht mehr als Gäste, denen man zuvorkommend begegnet, nach Belieben und aufdringlich angeduzt und gegängelt, entrechtet, überwacht, gegeneinander ausgespielt und ausgenommen werden können. Das Wort „Kunde“, der einer Legende zufolge König sei, also ist eine klassische Antiphrase. „Erst ihre Verwandlung in Kunden“, so Crouch, „macht sie [die vormaligen Bürger] tatsächlich zu Ausbeutungsobjekten.“ Soweit ich es einzuschätzen vermag, ist der Terminus „face-threatening acts“ oder „ FTA s“ von Brown und Levinson (1987) in der linguistischen Höflichkeitsforschung in gewisser Weise kanonisch geworden. Umgekehrt „bezeichnet Höflichkeit ein Verhalten, bei dem das Gesicht des Gegenübers gewahrt wird. Dieser Respekt vor dem anderen befriedigt zwei grundlegende Bedürfnisse: zum einen das Verlangen nach Ungestörtheit und Handlungsfreiheit, zum anderen das nach Anerkennung“ (Bild der Wissenschaft 1 / 2013). Zu kurz kommen bei der formalpragmatischen Herangehensweise und zumal in Browns und Levinsons harmonistischer Perspektive allerdings zahlreiche kontext- und milieubedingte Aspekte von Unmanierlichkeit, Ausgrenzung, Diskriminierung und, vice versa, Achtsamkeit, Freundlichkeit, Zuwendung. Die Unhöflichkeit der Verhältnisse 15 Beispielsweise werden unter Jugendlichen deviante, ironisch entstellte Höflichkeits- und Unhöflichkeitsvorstellungen gepflegt. „Eine Bitte“, legt Susanne Donner in Bild der Wissenschaft dar, „verstehen die Jugendlichen als Herausforderung, den Wunsch dem Bittsteller so lange wie möglich auszuschlagen. Er wird ignoriert, oder die Jugendlichen erfinden fiktive Gegenargumente. Je unterhaltsamer diese sind, sprich: je mehr es zu lachen gibt, um so besser. […] Nach Brown und Levinson ist jede ausgeschlagene Bitte eine massive Gesichtsverletzung. Doch: ‚Die Jugendlichen empfinden das Gefrotzel untereinander nicht als unhöflich‘, weiß [Martin] Hartung [vom Mannheimer Institut für Gesprächsforschung]. ‚Es ist ihre Form der alltäglichen Kommunikation.‘ Und sie wissen sehr wohl, daß sie nur in der Clique so miteinander umspringen können.“ Oder ein anderes Beispiel. Regional und dialektal begrenzt finden sich rüdeste Schmähungen, die das Gegenteil dessen bedeuten, was mit den Gepflogenheiten nicht Vertraute verstehen. Im fränkischen Sprachraum etwa gelten zahlreiche Invektiven keineswegs als Beleidigungen. In einer Familie, die ich gut kenne, ist die Anrede „Arschlöchlein! “ die höchste Form der verbalen Liebkosung - ein Paradeexempel für die „kosende Schelte“ (Friedrich Kur: How to use Dirty Words - Schimpfwörter und Beleidigungen, Frankfurt / Main 1997). Gewiß, es gibt Wörter und Wendungen „von unüberbietbarer Brutalität und Gemeinheit“ (Kur), das vor nicht allzulanger Zeit kurrente „Du Scheißopfer! “ läßt einen schaudern. Solch „sprachliches Verhalten oder Handeln im Affekt“ (Kur) will treffen, verletzen, schädigen, bisweilen vernichten, obwohl „schimpfen“ ursprünglich „Scherz treiben, spielen, verspotten“ bedeutet hat, das Schimpfen diente der Kurzweil. „Das Schimpfen gehört ganz gewiß zur ‚Grundausstattung‘ des animal loquens“, heißt es bei Friedrich Kur, der betont, daß Kraftwörter aus „Frust, Wut, Enttäuschung, Liebeskummer und zur Selbstbehauptung in allen möglichen Widrigkeiten des Lebens hilfreich sein können“. Sie entlasten und vermögen dem berechtigten Widerstand gegen Zumutungen und Übergriffe aller Art Ausdruck zu verleihen (Mießgang stuft Unhöflichkeit „auch [als] eine Form des symbolischen Klassenkampfes“ ein), und es ist kaum von der Hand zu weisen, „daß die strategischen Gründe für Unhöflichkeit eines erwischten Parksünders andere sind als die eines Militärausbilders“ (Gesprächsforschung Online - Zeitschrift zur verbalen Interaktion, Nummer 12, 2011). Gezielte verbale Verletzungen wären somit hinsichtlich der jeweiligen sozialen Rollen, der Machtgefüge und -gefälle, der institutionellen Rahmenbedingungen, nicht zuletzt hinsichtlich der situativen Variabilität zu betrachten - Wolfgang Frühwald nennt als Kriterien „Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprachmelodie“ (Forschung und Lehre 6 / 2010); genauso wie, ohne Dialektik kommt man schwerlich aus, Höflichkeit, bereits Knigge monierte es, reine Heuchelei oder eine Demütigung sein kann. Es 16 Jürgen Roth gebe, schrieb er, „eine Art von Herablassung, die wahrhaftig kränkend ist, wobei der leidende Teil offenbar fühlt, daß man ihm nur ein mildtätiges Almosen der Höflichkeit darreicht. Endlich gibt es eine abgeschmackte Art von Höflichkeit, wenn man nämlich mit Leuten von geringerm Stande eine Sprache redet, die sie gar nicht verstehen, die unter Personen von der Klasse gar nicht üblich ist, wenn man das konventionelle Gewäsche von Untertänigkeit, Gnade, Ehre, Entzücken und so ferner bei Personen anbringt, die an solche starken Gewürze gar nicht gewöhnt sind. Dies ist der gemeine Fehler der Hofleute.“ Und im Grünen Heinrich von Gottfried Keller stoßen wir auf folgende Passage: „Schon die Sprache, welche der große Haufen in Deutschland führt, war ihnen unverständlich und beklemmend; die tausend und abertausend „Entschuldigen Sie gefälligst, Erlauben Sie gütigst, Wenn ich bitten darf, Bitt‘ um Entschuldigung“, welche die Luft durchschwirrten und bei den nichtssagendsten Anlässen unaufhörlich verwendet wurden, hatten sie in ihrem Leben nie und in keiner anderen Sprache gehört, selbst das ‚Pardon Monsieur‘ der höflichen Franzosen schien ihnen zehnmal kürzer und stolzer, wie es auch nur in dem zehnten Falle gebraucht wird, wo der Deutsche jedesmal um Verzeihung bittet. Aber durch den dünnen Flor dieser Höflichkeit brachen nur zu oft die harten Ecken einer inneren Grobheit und Taktlosigkeit, welche ebenfalls ihren eigentümlichen Ausdruck hatten.“ Um die Konfusion weiter zu vergrößern: Das Bemühen um politische Korrektheit (und damit Höflichkeit), um die Ächtung gesellschaftlicher Exklusion und denunziatorischer respektive diskriminierender Sprechakte, ist nicht selten selbst hochgradig deplaziert, restringierend, herrisch und narzißtisch. Da wird sehr rasch vielerlei übersehen und verdrängt. „Ist die schwarze Community […] unter sich“, führt Thomas Mießgang aus, „kann das N-Wort durchaus zu einer kameradschaftlich-freundlichen Begrüßungsformel umsemantiert werden, zu einem wohlwollend-grobianischen Schulterklopfen, das vom geteilten Wissen über den Rassismus genauso erzählt wie von der Überwindung diskriminierender Diskurse in der ironischen Sprachverdrehung. Eine als Beleidigung intendierte Geste oder Wortprägung wird also dem Aggressor entrissen […] und von den Insultierten als positiv besetzte Kommunikationsformel verwendet oder gelegentlich sogar als Kampfwerkzeug gegen die Beleidiger eingesetzt.“ Hinzu kommt, daß durch die Bestrebungen, das öffentliche Sprechen nach Maßgaben der Political Correctness zu reinigen - und ich wähle bewußt das Wort „reinigen“ -, „bei nicht wenigen jungen Menschen das Verständnis von Ambivalenz und Ironie in Mitleidenschaft gezogen wird; daß die bloßstellende und befreiende Gewalt des uneigentlichen Sprechens und die Freuden der Disziplinlosigkeit einer ständigen, irgendwie protestantischen Selbstüberprüfung zum Opfer fallen, kurz: daß dem Lachen mißtraut wird“ (Titanic 6 / 2016). Verloren geht die Möglichkeit der Selbstreflexion und -relativierung qua Spaß und Die Unhöflichkeit der Verhältnisse 17 Sprachspiel, sauertöpfische Besserwisserei, die zum eliminatorischen Furor ausarten kann, gewinnt die Oberhand. Wenig zu lachen haben mittlerweile auch einige Verfechter der akademischen Lehre in Freiheit. Unter der Überschrift „Gefühlte Argumente“ berichtete der Schriftsteller Ilija Trojanow am 27. April 2016 in der taz von einem „Kampf […], der inzwischen auf fast jedem Campus der USA entbrannt ist“. Geführt werde er „unter dem nichtssagenden Titel der ‚politischen Korrektheit‘“. „Immer öfter wird Sprachkritik zur Wortpolizei und diskursive Vielfalt zur dogmatischen Einfalt“, so Trojanow. Und er erzählte von folgendem Vorfall: „Landesweit bekannt wurde ein Fall an der renommierten Yale University vom letzten Herbst. Die universitäre Verwaltung hatte vor Halloween in einem Rundbrief die StudentInnen aufgefordert, auf potentiell beleidigende Kostüme zu verzichten (das bezog sich konkret auf das ‚blackfacing‘, bei dem sich Weiße das Gesicht schwarz anmalen). Eine Dozentin verfaßte daraufhin eine Mail, in der sie mehr Lockerheit anregte, die Fahne der freien Meinungsäußerung schwenkte und die Sorge äußerte, daß Colleges zu Horten der ‚Zensur und Entmündigung‘ würden. ‚Gibt es keinen Platz mehr für einen jungen Menschen, ein wenig anstößig zu sein? ‘ Daraufhin tobte ein Shitstorm, und die Frau sowie ihr Ehemann, Professor an derselben Universität, sahen sich heftigsten Angriffen ausgesetzt.“ Äußerst aggressiv sei die Forderung erhoben worden, „das Ehepaar zu entlassen“. Und das sei beileibe kein Einzelfall gewesen. „Es gibt eine Reihe von Dozenten“, erläuterte Trojanow, „deren Verträge wegen ähnlich gelagerter Fälle nicht verlängert wurden.“ Dieser erschreckende Wutwille der Entrüsteten zur Säuberung der sprachlichen und sozialen Welt pulverisiere, schlußfolgerte Trojanow, „Analyse und Urteilskraft“. Im näheren: „Gerade die Politik der eigenen Identität bedient sich der Gefühle als entscheidender Filter. Was als verletzend empfunden wird, ist anstößig. Und dagegen ist kein Argument gewachsen. Selbst die hehrsten Absichten zerschellen an den Klippen der Empfindsamkeit. Das gilt inzwischen für alle Gruppen, selbst für konservative Weiße. […] Es kann also jeder im Saft der eigenen Überempfindlichkeit schmoren.“ Die Konsequenzen für Lehrinhalte und -gegenstände sind verheerend: „Wenn StudentInnen sich erfolgreich beschweren können, daß ihnen ‚anstößige‘ Texte von Mark Twain und Edward Said (ein Beispiel von vielen) vorgesetzt worden seien, werden vorsichtige, karrierebewußte DozentInnen all jene Texte aussondern, die provozieren, verwirren und irritieren.“ Und das haben andere ja auch schon mal angeordnet. „Die Sklaverei der deutschen Sprache ist in den Höflichkeitsformeln bis zum kriechendsten Unsinn gesunken und hat bloß dadurch die mehrsten Abstu- 18 Jürgen Roth fungen des Knechtsinns gewonnen“, schimpfte Johann Gottfried Seume. Heute führt die Unterwerfung unter dekontextualisierende, outrierte, nicht selten fanatisch eingeklagte sprachliche Umgangsnormen zu erheblichen Einschränkungen von Entfaltungsmöglichkeiten. Der Blogger und Datenschutzaktivist Felix von Leitner, der entschieden für „mehr Empathie und eine Rückkehr zum Solidargedanken“, für „mehr Zusammenarbeit und weniger Kämpfen, mehr Respekt voreinander“ eintritt, beklagt sich in einem Interview auf nachdenkseiten.de (20. September 2016) über eine Kampagne der Amadeu-Antonio-Stiftung gegen „Hate-Speech“, die in Kooperation mit dem Bundesfamilienministerium initiiert wurde. „Unter dem Label der Bekämpfung von ‚Hate-Speech‘ wird jetzt eine moralische Grundlage für das Unterdrücken von unerwünschten Meinungen im Internet geschaffen“, legt er dar. „Zensur ist ein inhaltlich neutrales Machterhaltungsinstrument, das den Eliten dient, um den Rest der Bevölkerung daran zu hindern, sich darüber auszutauschen, was das Problem ist, daß es überhaupt ein Problem gibt und man nicht der einzige ist, der sich das fragt - und was hiergegen getan werden muß. […] Für eine Zensurinfrastruktur reicht es in diesem Sinne bereits aus, wenn Menschen sich nicht mehr trauen, bestimmte Themen zu diskutieren oder bestimmte Thesen zu diskutieren, weil sie mit einem öffentlichen Pranger rechnen müssen, wie ihn die Amadeu-Antonio-Stiftung nicht nur vorgeschlagen, sondern bereits betrieben hat.“ Den Meistermotzer und Eristiker Schopenhauer, der die Polemik ad personam und an die Adresse ganzer Gruppen von Menschen mit Wollust auf die Spitze trieb, würde man aus der Zunft der Philosophen ausschließen. Ebensowenig sähe der unbestechliche Herbert Wehner, der langjährige Vorsitzende der SPD - Bundestagsfraktion, in diesen Tagen der leeren, pflaumenweichen Politrhetorik der „Lächelmasken“ (Mießgang) noch Land. Er pflegte zu einer Zeit, als auf der Agora Konflikte mit politischen Kontrahenten mit notfalls erheblicher Schärfe, indes zivilisiert austragen wurden, die Kunst der Verbalinjurie, des gezielten Aktes verbaler Gewalt, wie kein zweiter. Wehners Schimpfattacken und -kanonaden, stets institutionell gerahmt, sind legendär, seine mit einer Rekordserie von Ordnungsrufen prämierten Schmähzwischenrufe sind Legion. Jeder Malediktologe hätte an Wehners Kreationen seine helle Freude: „Einstudierter Pharisäer! “ - „Wir können ja nicht auch noch die Dummheit verstaatlichen, die Sie verkörpern! “ - „Staatszwerg! “ - „Wenn man Sie sieht, vergeht einem die Lust am Kinderkriegen! “ - „Schämen Sie sich, Sie Frühstücksverleumder! “ - „Geistiges Eintopfgericht! “ - „Sie Salatöl! “ Verschwunden oder im Verschwinden begriffen also ist in bestimmten Bereichen der einerseits medial deformierten, andererseits medial uniformen Öffentlichkeit die klärende, konfrontative, bisweilen anarchische Intervention. Dafür nimmt sich in der alltäglichen Interaktion, scheint’s, jeder überall zu Die Unhöflichkeit der Verhältnisse 19 jedem Zeitpunkt die Freiheit, der plansten und niedersten Gesinnung freien Lauf zu lassen. Thomas Mießgang konstatiert, daß in dem Maße, in dem der „strategische Grobianismus“ zurückgedrängt wurde (und wird), „die Erosion des Sittengesetzes“ sich fortsetzt, „sich das Vulgäre ausbreitet“ und sich der „Verfall der Umgangsformen“ beschleunigt. „Die Struktur menschlicher Affekte und ihrer Kontrolle“ (Norbert Elias) scheint vielerorts zu zerbröseln. Kaum noch jemand kann sich zum Beispiel in einer Lautstärke unterhalten, die aus dem Homo sapiens einen zivilisierten Menschen macht. An nahezu jedem Nebentisch in nahezu jedem Café sitzt eine Ansammlung von Peinfiguren, die ihre unmaßgeblichen Meinungen akustisch derart ostentativ ausbreiten, daß man sich die ridikülen Schweigekreise der achtziger Jahre zurückwünscht. Die Verrottung der Lebensumstände, sie schreitet offenbar unaufhaltsam voran. Die Unerträglichkeit namens öffentliches Leben, das nur mehr „Gesellschaftswiderwillen“ (Peter Handke) auslöst: Es ist der permanente monadenhafte, egozentrische Aufruhr, der sinnwie ziellose Krawall, das unentwegte Affekt- und Affektiergehabe. Jürgen Kaube erkennt darin - bei aller Gleichförmigkeit solcher Aufspreizungen, bei aller Homogenität solcher „Selbstverwirklichungs“-Hampeleien, die nichts mit fröhlicher Pluralität gemein haben - das „Recht zur Normalabweichung“: „Individualität heißt also nicht Originalität und schon gar nicht, daß es möglich wäre, ein Leben diesseits gesellschaftlicher Prägungen zu führen.“ Denn all diese angeblichen Individualisten sind durch und durch nichts anderes als begeistert Angepaßte. Sie gehorchen ausschließlich dem unausgesprochenen Zwang zur Exaltation, konformistische „Identitätspflege“ (derselbe) ist Pflicht. Es ist aber nicht bloß das „Erlebnisvolk“ (Stefan Rose), das gewissermaßen als Autistenmasse auf jeden Anflug von Empathie pfeift; es sind nicht bloß die durch die Werbeindustrie, Aufpeitschermedien und andere soziopathisch-ideologische Apparate angestachelten und seelisch amputierten Unterklassen- und Randgruppenexistenzen, die durch die Welt ramentern, als gebe es weder Nachbarn noch Mitmenschen. Die spätkapitalistische Verelendung der Sitten und die Depravation der Gemüter, das insinuierte Naturgesetz befolgend, zu (über-) leben habe nur verdient, wer sich im Dauerkonkurrenzkampf lauter, härter, ungestümer, gemeiner und brutaler geriert als der Nächstbeste, machen vor keiner Schicht halt. Im Juste milieu, in den sogenannten bürgerlich-gebildeten Kreisen, sieht es keinen Deut besser aus. Die Schriftstellerin Kathrin Röggla spricht in ihrem Essay „Reden in Zeiten der Verrohung“ (Le Monde diplomatique, Mai 2016) von der ubiquitären Zerstörung der „Würde der Rede“ (Frühwald), der überall erlebbaren „Aufkündigung des Gesprächs“ und den zahlreichen „Verrohungskampagnen“ (eines 20 Jürgen Roth ihrer Beispiele: Innenminister de Maizières Satz, „man dürfe sich nicht von Kinderaugen erpressen lassen und müsse diese Bilder eben aushalten“), und sie erzählt folgendes: „Meine Irritation setzte im letzten Jahr auch oft genug beim bürgerlichen Kulturpublikum an. Was ist mit dem Publikum los? fragte ich mich da. Denn plötzlich pöbeln sie, und auch wenn man mir zum Beispiel in der Akademie der Künste sagte, sie haben da immer schon etwas gepöbelt, pöbeln sie jetzt anders, irgendwie lauter. Sie, die kulturinteressierten Bürger, unterbrechen die Leute, die zu hören sie ja gekommen waren. Sie sagen nicht immer zu einem iranischen Pianisten: ‚Reden Sie gefälligst deutsch, wenn Sie in Deutschland spielen! ‘ - wie im März in der Kölner Philharmonie, als dieser sich in englischen Worten ans Publikum wandte -, aber oft muß man sie daran erinnern, daß eine Podiumsdiskussion erst mal etwas ist, wo Statements auf dem Podium ausgeführt werden, die dann in einem zweiten Schritt diskutiert werden. […] Für mich stellt gerade die vermeintliche Harmlosigkeit dieser zunehmenden Pöbeleien einen Indikator dar, einen Indikator für eine gewaltige Schieflage in der öffentlichen Kommunikation. Warum kündigen diese Leute die Veranstaltungskonventionen auf ? Geht es ihnen um verstärkte Sichtbarkeit, wollen sie mehr gesehen und nicht übersehen werden? “ In der Cafeteria des geisteswissenschaftlichen Zweiges der Universität Frankfurt ist mir folgende Unterhaltung zu Ohren gekommen (die drei Frauen waren nicht zu überhören): „Diese Hartz- IV -Penner sollen das Maul halten.“ - „Es ist unglaublich, wie die sich aufführen.“ - „Die gehören in Zwangsarbeit gesteckt.“ Am nächsten Tag auf der Terrasse einer Speisegaststätte; zwei höhere Bahnangestellte, beide ungefähr Mitte dreißig; des einen Freundin ruft an; er: „Wieso bist du immer noch nicht da? ! Dich mach’ ich rund, du Schlampe! “; und so weiter; nach dem Telephonat beginnt er gegenüber seinem Arbeitskollegen zu prahlen: „Wie ich die Alte heute fertiggemacht hab’, als es um den Posten 23 ging! Hat die losgeheult! Mann, war das geil! “ Folgenden Tags treffe ich einen Freund, der ebenfalls bei der Bahn beschäftigt ist. „So sind sie“, sagt er. „Heute kann sich jeder aufführen wie offene Hose.“ Das Niedermachen anderer sei üblich, sogenannte „Führungskurse“ brächten nichts. „Lustgewinn aus Demütigung, verstehst? Und nachher scheißfreundlich. Die Heuchelei ist Grundprinzip. Wie heißt’s? Anstand ist eine Zier, aber weiter kommt man ohne ihr.“ Die Folgen des vom Soziologen Wilhelm Heitmeyer in zahllosen empirischen Details beschriebenen „rabiaten Klassenkampfes von oben“, der vor Jahren angezettelt worden ist, sind allenthalben zu gewahren - bei den Auftritten der, mit Karl Kraus zu reden, „elektrisch beleuchteten Barbaren“ in Scripted-Reality- Shows und in den Schlangen im Supermarkt und auf der Post und in den Chefetagen und sonstwo. Die Unhöflichkeit der Verhältnisse 21 Es scheine „mit der Angst vor dem Abstieg auch die Bereitschaft zu wachsen, sich im Verteilungskampf mit härteren Bandagen Vorteile zu verschaffen“, liest man auf der Website des WDR . Die Deregulierung des Sozialen ist weit vorangeschritten. Große Teile der Gesellschaft befinden sich im oder fürchten den „ständigen Abstiegskampf“ (ein winziger Teil organisiert ihn), sagt Oliver Nachtwey vom Frankfurter Institut für Sozialforschung (Spiegel Online, 14. August 2016). Der „gesteigerte Wettbewerb“ sei, erläutert er, „heute so schwer als solcher erkennbar, gerade weil er im Namen der Selbstentfaltung stattfindet“. Man denke etwa „an die sogenannten Helikoptereltern. Die sagen häufig, sie schicken ihr Kind schon mit vier Jahren zum Mandarinlernen, damit es gebildet ist. In Wirklichkeit wollen sie aber auch, daß es in Zukunft, wenn es noch viel härter wird da draußen, der Konkurrenz standhalten kann. Gerade in linken, liberalen Milieus findet sich diese Lebenslüge: Man ist ja immer für soziale Integration auf allen Ebenen - aber nicht mehr, wenn es um den eigenen Nachwuchs geht.“ Man ist geneigt, den „allgemeinen Kompetitionslärm“ ( Joseph Vogl) soziolinguistisch auf den Begriff zu bringen. Bei Valentin Volosinov (Marxismus und Sprachwissenschaft - Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, 1929) gilt das Wort (oder Wortzeichen), das „empfindsam die feinsten Veränderungen des gesellschaftlichen Seins“ wiedergibt, als multidimensionales, mehrfach gebrochenes „ideologisches Zeichen“. In ihm kollidieren die heterogenen Ziele und Weltansichten, es artikuliert „die Überschneidung unterschiedlich orientierter gesellschaftlicher Interessen innerhalb einer Zeichengemeinschaft“. Das Wort, eine Art Akzentuierungsagent der Konfrontation, der Text, die Rede, die „ideologische Kommunikation“ werden somit „zur Arena des Klassenkampfes“. Für Brecht war Freundlichkeit eine politische Kategorie, eine erlernbare Haltung, und „wo Freundlichkeit nicht geübt werden kann, wegen der Härte der Klassenauseinandersetzungen, leben wir in finsteren Zeiten“ (Christian Semler). Adorno notierte in den Minima Moralia, „daß in der repressiven Gesellschaft Freiheit und Unverschämtheit aufs gleiche hinauslaufen“ (§ 72). Und Richard Sennett hielt in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens - Die Tyrannei der Intimität (Frankfurt / Main 1983) fest, Zivilisiertheit bedeute, daß man „nicht das eigene Selbst zu einer Last für andere macht“. - „Zivilisiertheit ist ein Verhalten, das die Menschen voreinander schützt und es ihnen zugleich ermöglicht, an der Gesellschaft anderer Gefallen zu finden.“ Mir scheint, davon sind wir weiter denn je entfernt. Die Unhöflichkeit der Verhältnisse 23 Kulturhistorische Dimensionen Höflichkeitsdissonanzen 25 Höflichkeitsdissonanzen. Zum Gebrauch unterschiedlicher Höflichkeitsformen in historischen Texten und Gesprächen Dieter Cherubim Politeness may be reconstructed as a means of controlling social distance, depending on the evaluation of situations and cultural factors. In managing politeness the communicative behaviour need not be symmetrical but can be complementary or even dissonant. Two examples from 19th century literary texts (Karl May, Thomas Mann) are used to illustrate how this was achieved and also commented in poetic contexts. Some examples from an Austrian guide for polite behaviour (so-called Complimentirbuch) of the early 19th century (Rittler 1834) are quoted to illustrate ways of resolving social conflicts without losing composure. 1. Höflichkeitskonstruktionen und kultureller Kontext Höflichkeit ist ein soziales Konstrukt zur Steuerung von menschlichen Interaktionen, das im Kern auf Variationen von Distanz oder Respekt beruht und sich in unterschiedlichen, u. a. auch sprachlichen Formen äußern kann (Cherubim 2011, 4 ff.). Dabei stellt das Höflichkeitsverhalten, das sich notwendig kommunikativen Akten und deren Wahrnehmung und Interpretation bei den Beteiligten verdankt, eine „mittlere“ Stufe von Beziehungssteuerung zwischen den Interaktanten dar: zwischen Formen eines „kalten“, feindseligen oder aggressiven Verhaltens auf der einen Seite und Formen eines „warmen“, freundschaftlichen oder sogar liebevollen Verhaltens auf der anderen Seite, und es ist janusartig beiden Extremen zugewandt (vgl. Schema 1). Denn feindseliges Verhalten kann aus pragmatischen Gründen auf ein distanziertes Verhalten reduziert werden und aus Respekt kann sich mit der Zeit und bei entsprechenden Bedingungen ein freundschaftliches Verhältnis entwickeln, seltener auch wieder umgekehrt. 26 Dieter Cherubim feindsel. Verhalten Distanz / Respekt freundschaftl. Verhalten Schema 1 Was Höflichkeit ist oder als höfliches Verhalten verstanden wird, ist so nicht nur variabel und instabil, sondern auch sprach- und kulturabhängig, wie man es sich schon am klassischen Beispiel der Anredepronomina verdeutlichen kann: In engen, relativ geschlossenen Gemeinschaften braucht man im allgemeinen keine unnötigen Komplikationen mit mehreren situationsspezifischen Alternativen oder setzt sie, falls doch vorhanden, gerne durch Zusatzregeln („Ab 2000 m Höhe / unter Wasser wird geduzt! “) außer Kraft. Entwickelte Gesellschaften mit ihren Differenzierungen und komplizierten Übergängen zwischen einzelnen Bereichen oder Sphären tendieren dagegen zur Ausprägung mehrerer Möglichkeiten, die in der Sozialisation von Kindern oder bei der Integration von Fremden erst mühsam erlernt werden müssen; und dies gilt vor allem, wenn sie mit anderen Möglichkeiten wie z. B. dem Gebrauch von Eigennamen gekoppelt sind. Im Deutschen ist etwa die Anrede mit dem Vornamen meist mit dem Duzen verbunden, während das Siezen die Anrede mit dem Familiennamen (plus vorangestellten Titeln) verlangt; Ausnahmen davon sind aber in bestimmten Berufsfeldern (Kaufhaus) oder engeren Arbeitsgemeinschaften (auch in der Wissenschaft) möglich (Heringer 2009). Im Standardchinesischen gibt es hingegen nur eine Anredeform, die aber nicht mit dem Gebrauch des Vornamens verbunden werden darf; eine dem Siezen vergleichbare Form der Anrede ist (wie auch im Schwedischen) nur für wenige honorative Anreden reserviert (Liang 2009). Auch für das Englische gibt es bekanntlich nur die eine Möglichkeit des you , und selbst das in älteren Texten oder in religiösen Zusammenhängen noch verwendete thou fällt nicht aus diesem Rahmen, sodass soziale oder situative Differenzierungen auf andere formelle Techniken zurückgreifen müssen. Höflichkeitskonzepte sind also stets Antworten auf zivilisatorische Prozesse, die dann ihre eigene, durchaus ambivalente Kraft (z. B. Differenzierung, Identifikation und soziale Kontrolle) entfalten können. Selbst der deutsche Ausdruck Höflichkeit zeigt noch diese historische Relativität, insofern die Kultivierung des guten Geschmacks bzw. der „feinen“ Unterschiede durchaus mit der Institution der Höfe bzw. der höfischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit zu tun hatte. 1 1 Vgl. Ljungerud (1979). Zur historischen Entwicklung der Höflichkeitsgrammatik im Deutschen vgl. Augst (1977) und Haase (2004), allgemein zur Entwicklung von Höflichkeitsstandards vgl. Lindorfer (2009) und den schönen Ausstellungskatalog von Roeber / Bernsmeier (2009). Höflichkeitsdissonanzen 27 Der konstruktive Charakter von Höflichkeit ergibt sich daraus, dass entsprechende Verhaltensweisen eben nicht absolut, sondern erst im Zusammenhang oder als Ergebnis interaktiver Akte als mehr oder weniger höflich, nicht-höflich oder sogar als unhöflich bestimmt werden können und dass sie eine Verarbeitung unterschiedlicher Faktoren voraussetzen: vor allem von Intentionen, die dabei verfolgt werden, von Höflichkeitsregeln, die in verschiedener Form (z. B. durch kommunikative Praxis oder Regelbücher) vermittelt werden, und von Situationseinschätzungen, die selbst wieder komplexer Natur sind (Bayer 1977). Dabei wird oft davon ausgegangen, dass der Gebrauch von höflichen Verhaltensweisen eine Art Symmetrie, d. h. den Bezug auf gleiche oder wenigstens vergleichbare Höflichkeitskonzepte beinhalte, sodass Höflichkeit und Unhöflichkeit den gleichen Maßstäben unterliegen. Dies ist aber eine kontrafaktische Annahme, die nicht der vielseitigen Realität des Höflichkeitsmanagements in kommunikativen Zusammenhängen und damit auch nicht unseren Erfahrungen damit entspricht. 2. Höflichkeitsentwicklung am Beispiel. Vom Kompliment zur Aggression Wie Höflichkeitskonstruktionen in kommunikativen Akten entstehen, kann man sich modellhaft (und das heißt: vereinfachend) wie folgt vorstellen: Regeln / Normen Komm. A Komm. B Aktion Intention Höflichkeitsverhalten Eindruck Reaktion Situationseinschätzung Schema 2 Eine Aktion eines Kommunikanten A verfolgt hinsichtlich eines Kommunikanten B eine bestimmte (bewusste oder unbewusste) Intention (z. B. jd. geneigt zu machen / jd. zu etwas veranlassen ) und versucht diese Intention höflich, d. h. mit Distanz oder Respekt an B zu vermitteln. Dabei orientiert sich A an geltenden Normen oder erfahrungsgestützten Regeln der Höflichkeit (z.B . jdm. nicht zu nahe treten ) und wählt nach Einschätzung der aktuellen Kommunikations- 28 Dieter Cherubim situation (z. B. soziales Gefälle, formell vs. informell ) diejenigen Ausdrucksmittel sprachlicher und / oder nichtsprachlicher Qualität aus, von denen er glaubt, dass er damit erfolgreich ist, ohne damit die vorausgesetzte Beziehung zwischen A und B (hier: Distanz / Respekt) in Frage zu stellen. Das Verhalten von A erzeugt dann, wenn adäquat wahrgenommen und verstanden, bei B einen Eindruck nicht nur von dem, was A von ihm will, sondern auch von dessen Höflichkeitskompetenz, Situationseinschätzung und dem vorausgesetzten Beziehungsverhältnis, das nicht in Frage gestellt werden soll. Die daraus abgeleitete Reaktion von B kann dann die gesamte Konstellation bestätigen, aber auch partiell oder im Ganzen korrigieren, was wiederum von A zu verarbeiten ist und so in folgenden kommunikativen Schritten zu weiteren Aktionen und Reaktionen bzw. entsprechenden, eventuell modifizierten Interpretationen auf beiden Seiten Anlass geben kann. Vieles von diesen rekursiv anwendbaren Prozessen wird dabei nicht sichtbar gemacht, sondern nur aus bestimmten Anzeichen (z. B. Tonfall, Gebrauch von Modalpartikeln ) erschlossen; aber es ist natürlich auch möglich und keineswegs selten, dass Divergenzen durch metakommunikative Thematisierung sichtbar gemacht und verhandelt werden. Ich wähle ein literarisches Beispiel des späten 19. Jahrhunderts, das ich in anderen Zusammenhängen schon ausführlicher diskutiert habe: den Beginn des Romans „Am Rio de la Plata“ von Karl May (1894). 2 Die dort in Form einer Ich-Erzählung dargestellte, relativ abgeschlossene Szene umfasst drei Schritte: 1. Besuch eines Unbekannten im Hotel des Erzählers mit auffällig übertriebener („überhöflicher“) Begrüßung und Unterbreitung eines noch unbestimmten Angebots, das sich letztlich als delikat (Waffenhandel, Bestechung) erweisen sollte: Eben setzte ich den Hut auf, als es an meine Tür klopfte. Ich rief herein, und zu meinem großen Erstaunen trat ein fein nach französischer Mode gekleideter Herr ein. Er trug eine schwarze Hose, eben solchen Frack, weiße Weste, weißes Halstuch, Lackstiefel und hielt einen schwarzen Zylinderhut in der Hand, um welchen ein weißseidenes Band geschlungen war. Dieses Band, von welchem zwei breite Schleifen herabhingen, brachte mich unerfahrenen Menschen auf die famose Idee, einen Kindstauf- oder Hochzeitsbitter vor mir zu haben. Er machte mir eine tiefe, ja ehrerbietige Verneigung und grüßte: „Ich bringe Ihnen meine Verbeugung, Herr Oberst! “ Er wiederholte seinen tiefen Bückling noch zweimal in demonstrativ hochachtungsvoller Weise. Wozu dieser militärische Titel? Hatte man hier in Uruquay vielleicht dieselbe Gepflogenheit wie im lieben Österreich, wo die Kellner jeden dicken Gast 2 Vgl. Cherubim (1999), dort auch Hinweise zur Textvorlage. Höflichkeitsdissonanzen 29 ‚Herr Baron‘, jeden Brillentragenden ‚Herr Professor‘ und jeden Inhaber eines kräftigen Schnurrbartes ‚Herr Major‘ nennen? Der Mann hatte so ein eigenartiges Gesicht. Er gefiel mir nicht. Darum antwortete ich kurz: „Danke! Was wollen Sie? “ Er schwenkte zweimal den Hut hin und her und erklärte: „Ich komme, mich Ihnen mit allem, was ich bin und habe, zur geneigten Verfügung zu stellen.“ 2. Prüfung des Angebots durch den von Beginn an misstrauischen Erzähler und Versuch einer Klärung der Situation: Dabei richtete sich sein Auge von seitwärts mit einem scharf forschenden Blick auf mich. Er hatte keine ehrlichen Augen. Darum fragte ich: „Mit allem, was Sie sind und haben? So sagen Sie mir zunächst gefälligst, wer und was Sie sind.“ „Ich bin Señor Esquilo Anibal Andaro, Besitzer einer bedeutenden Estanzia bei San Fructuoso. Euer Gnaden werden von mir gehört haben.“ Es kommt zuweilen vor, daß der Name eines Menschen bezeichnend für den Charakter desselben ist. Ins Deutsche übersetzt, lautete derjenige meines Besuches Äschylus Hannibal Schleicher. Das war gar nicht empfehlend. „Ich muß gestehen, daß ich noch nie von Ihnen gehört habe“, bemerkte ich. „Da Sie mir gesagt haben, wer und was Sie sind, darf ich wohl auch erfahren, was Sie haben, das heißt natürlich, was Sie besitzen? “ „Ich besitze erstens Geld und zweitens Einfluß.“ Er machte vor den beiden Worten, um sie besser ins Gehör zu bringen, eine Pause und sprach sie mit scharfer Betonung aus. Dann sah er mich mit einem pfiffigen, erwartungsvollen Augenblinzeln von der Seite an. Sein Gesicht war jetzt ganz dasjenige eines dummlistigen, dreisten Menschen. 3. Die Klärung der Situation (Verwechslung) führt dann zu einer tendenziell aggressiven Haltung (Erregung) beim Besucher, der wiederum der Erzähler mit „kalter“ Höflichkeit begegnet: Da rief er zornig: „So hole Sie der Teufel! Warum sagten Sie das nicht sogleich? “ „Weil Sie nicht fragten. Ihr Auftreten ließ mit Sicherheit schließen, daß Sie mich kennen. Erst als Sie von den Gewehren sprachen, erkannte ich, wie die Sache stand. Dann habe ich Sie sofort auf Ihren Irrtum aufmerksam gemacht, was Sie mir hoffentlich bestätigen werden.“ „Nichts bestätige ich, gar nichts! Sie hatten mir nach meinem Eintritt bei Ihnen sofort und augenblicklich zu sagen, wer Sie sind! “ Er wurde grob. Darum antwortete ich in sehr gemessenem Ton: 30 Dieter Cherubim Ich ersuche Sie um diejenige Höflichkeit, welche jedermann von jedermann verlangen kann! Ich bin nicht gewöhnt, mir in das Gesicht sagen zu lassen, daß mich der Teufel holen sollte […]. Die so entwickelte Aggressivität auf beiden Seiten führt dann zur Artikulation verdeckter und offener Vorwürfe (Unterstellung von Heuchelei) und zum Abgang des Besuchers nach Austausch von intentional gesichtswahrenden Drohungen und Gegendrohungen. Die literarische Form des Textes macht es hierbei möglich, die sich wandelnde Situationseinschätzung wenigstens des Erzählers fortlaufend miteinzuarbeiten. Interessant ist auch, wie stark dabei nonverbale und paraverbale Höflichkeitstechniken (Kleidung, Gestik, Mimik, Betonung) neben klassischen sprachlichen Mitteln (Titulaturen, performative Formeln wie geneigt u. ä.) eingesetzt werden 3 und wie dann die schrittweise Veränderung der sozialen Beziehungen, die vor allem vom Erzähler und von dessen durch Skepsis bestimmten, wenig entgegenkommenden (eher unhöflichen) Reaktionen ausgeht, durch entsprechende Interpretationen (ehrerbietig, eigenartig, [nicht] ehrlich, dummlistig, dreist / vertraulich, erstaunt, ernst, verlegen, zornig, grob) signalisiert und gesteuert wird. Höflichkeit und Unhöflichkeit bzw. Grobheit als gemeinsam konstruierte Beziehungskonzepte werden zudem in ihrer Ambivalenz sichtbar gemacht: Höflichkeit kann darauf abzielen, einen persönlichen Zugang zu öffnen, aber auch (so im Beschluss der Szene durch den Erzähler), jemand kalt „abfahren“ zu lassen; Unhöflichkeit kann zunächst noch positiv als List der Verstellung verstanden werden, dient aber letztlich dazu, die Illusion einer freundlichen Beziehung zu zerstören und Aggressivität zu entfalten. 3. Regional und sozial bedingte Differenzen von Höflichkeitsstilen Höflichkeitskonzepte und ihre Umsetzung im kommunikativen Alltag dienen also primär der Beziehungssteuerung zwischen den Beteiligten auf einem bestimmten Niveau und orientieren sich dabei an anthropologischen und kulturhistorischen Voraussetzungen, die durch praktische Erfahrungen bestätigt und sekundär durch fixierte Regeln kontrolliert werden können. Nicht immer wird jedoch Höflichkeit im sozialen Handeln benötigt. So kann Höflichkeit z. B. bei der Abwehr von drohenden Gefahren, wenn schnelles Handeln nötig ist, eher hinderlich sein und ist deswegen auch in manchen institutionellen Kontexten (z. B. beim Militär) explizit ausgeschlossen oder wird durch hochgradig rituelles 3 Selbst vor der Nutzung einer etymologischen Deutung des Namens schreckt der Verfasser [Karl May] nicht zurück! Höflichkeitsdissonanzen 31 Verhalten ersetzt. Ebenso fehl am Platz erscheint sie auch in ganz persönlichen Situationen (z. B. bei Liebeserklärungen); hier kann sie sogar kontraproduktiv wirken. 4 Wie Höflichkeit aktuell konstruiert bzw. fortlaufend rekonstruiert wird, ist so ein Akt der Balance, bei dem Intentionen und Situationseinschätzungen der Beteiligten miteinander verarbeitet und die dabei mehr oder weniger bewusst unterstellten Höflichkeitsregeln auf ihre Anwendbarkeit und Geltung hin überprüft werden müssen. Dabei erwecken Anstandsbücher bei ihren Demonstrationen von gesellschaftlich relevantem Höflichkeitsverhalten (der „feinen Art“, wie es früher gern hieß) oft den Eindruck, als gäbe es nur die Alternative zwischen regelkonformem („höflichen“) und regelabweichendem („unhöflichen“) Verhalten, während in der Realität, z. B. bei unterschiedlichen sozialen Konstellationen eine größere Bandbreite von Möglichkeiten des Einsatzes von Höflichkeitstechniken oder Höflichkeitsverstößen beobachtbar ist. Darüber hinaus wird leicht der Eindruck vermittelt, gute Höflichkeit erfordere eine gewisse Kooperativität zwischen den Beteiligten, die sich u. a. in Symmetrien oder der Reziprozität des Verhaltens zeige. Tatsächlich dürften sich aber den beobachtbaren Konsonanzen ebenso häufig Dissonanzen, z. T. als bloß fakultative Varianzen, z. T. als Konfliktmarkierungen an die Seite stellen lassen. Nehmen wir wieder ein Beispiel aus dem Alltag. Der in so vielen Sprachen und Kulturen beliebte Tageszeitgruß (Guten Tag! ) , der meist nur noch als reduzierte Wunschformel verstanden wird oder sogar bloß noch ein semantisch leerer Höflichkeitsmarker ist, wird im Normalfall mit einem symmetrischen Respons (_ guten Tag! ) verbunden. Abweichungen von dieser Praxis z. B. in der Umgangssprache sind aber sehr häufig und aus verschiedenen Gründen beliebt: So werden als Reaktionen gerne verkürzte Varianten (’n Tag! bzw. Tach! ) eingesetzt, die je nach Tonfall positive (Kollegialität, Vertrautheit) oder negative Bedeutungen (Desinteresse, Abwehr) signalisieren können. Durch Aufwertung mit Diminutiv (Tachchen! ) kann dabei eine negative Funktion der Verkürzung wieder aufgefangen werden. Die Neutralität des Standards (Guten Tag! ) kann durch Nutzung regionaler Varianten (z. B. Moin in Norddeutschland, Grüß Gott! im Süden) oder ein Hallo als Lockerungsübung), weiterhin durch fremdsprachige Alternativen (Hey! Salus! ) korrigiert und mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen werden, wobei das bei unterschiedlichen Situationseinschätzungen aber auch falsch (z. B. als Aufdringlichkeit oder Affektiertheit) verstanden werden kann. Eine pointierende, silbenbetonende Aussprache wird eher als Anzeichen größerer Formalität, eventuell sogar konflikt- 4 Heinrich Heine: Nur einmal noch möchte ich dich sehen, / Und sinken vor Dir aufs Knie, / Und sterbend zu Dir sprechen: / Madame, ich liebe Sie! (Buch der Lieder, 3. Aufl., 1839) 32 Dieter Cherubim indizierend gedeutet; das gilt auch für Erweiterungen der Grußformel durch Titel und Namen. Nur die Grußformel zu benutzen kann darauf hinweisen, dass kein Gesprächskontakt möglich (Eile) oder erwünscht ist (Vermeidung); wird er jedoch gewünscht, folgen häufig Fragen nach dem Wohlbefinden, bei der wiederum eine minimale (lakonische) Replikation (gut! ) wiederum kontraproduktiv wäre. Wie dies alles aber im konkreten Fall im Sinne einer Höflichkeitsgestaltung interpretiert und eingesetzt wird, muss jeweils Schritt für Schritt von den Beteiligten unter Nutzung verschiedener Informationen rekonstruiert und im Fortgang der Interaktion überprüft werden. Während dissonante Höflichkeitsgestaltung dieser Art sich nur auf einzelne sprachliche Mittel bezieht und Fehlinterpretationen dabei leichter durch Korrekturen, notfalls auch durch metakommunikative Vergewisserungen repariert werden können, macht der Gebrauch unterschiedlicher Höflichkeitsstile erheblich mehr Schwierigkeiten. Das kann z. B. generational ( Jugendliche vs. Erwachsene), sozial (Unterschicht vs. Mittelschicht) oder regional (Dialekt vs. Standardsprache) bedingt sein, kann aber auch mehrdimensional (z. B. Dialektvs. Schichtvs. Generationenkontraste) fungieren. Ein besonders schönes Beispiel dafür hat Thomas Mann mit einer Szene in den „Buddenbrooks“ (1894) geliefert, wo der Münchner Permaneder nach Lübeck kommt, um bei der Familie des Senators um die Hand der Schwester Toni anzuhalten. Da ich auch diese literarische Szene ebenfalls schon an anderer Stelle in ihrem Ablauf genauer behandelt habe (vgl. Cherubim 2009, 106 ff.), kann ich mich hier auf die Verdeutlichung einiger Dissonanzen und ihrer Folgen für die Höflichkeitsgestaltung im ersten Gespräch beschränken. Die Szene (Teil VI , Kap. 4), die ja ebenso durch charakterisierende Hinweise des Erzählers oder der Figuren interpretativ abgesichert wird, lebt vor allem vom Gegensatz zwischen zwei Welten, was primär am Sprachverhalten verdeutlicht, aber ebenso auf anderen damit verbundenen Ebenen sichtbar gemacht wird. Dabei wird der Unterschied zwischen süddeutschem (bair.) Dialekt und norddeutscher Umgangssprache 5 gerade auch als soziale Differenz zwischen einer groben, direkten Sprechweise des Besuchers, die weniger Rücksicht auf die Adressaten nimmt als darauf abgestellt ist, die eigene Befindlichkeit zu artikulieren, und einer „feineren“, beherrschten Sprechweise der alten Konsulin, die Verbindlichkeit intendiert, notfalls aber auch ins Unverbindliche ausweicht, dargestellt. Für das Dienstmädchen mit seiner einfacheren Weltsicht ist es sogar eine Differenz zwischen „deutsch“ (dütsch) und „nichtdeutsch“. Die Grobheit 5 Auf deren niederdeutschen Einsprengsel bzw. dem Wechsel von gepflegter Umgangssprache (Thomas Mann: „Schriftdeutsch“) zur dialektal geprägten Lübecker Stadtsprache, der ja auch in den „Buddenbrooks“ genutzt wird und hier z. B. in der Sprache des Dienstmädchens sichtbar wird, gehe ich hier nicht ein. Vgl. jedoch Cherubim (2016). Höflichkeitsdissonanzen 33 der Sprechweise des Besuchers wird paraverbal durch Merkmale wie „laut“, „(starke) Betonung“, „knorrig“ gekennzeichnet; ihrer als unkultiviert 6 und aufdringlich empfundenen Wirkung entsprechen Erscheinung und Bekleidung des Gastes ebenso wie seine Mimik und Gestik (vertrauliches Blinzeln, unruhige Handbewegungen). Vor allem aber sind es die durchgängige Neigung zu direkten Gefühlsausbrüchen (Äußerungen des Unbehagens, der Freude) und vereinnahmende dialogische Formeln wie gelten’s , die das Selbstbild der um Beherrschung ringenden Konsulin mehrfach in Frage stellen: Die Konsulin hatte sich nun völlig erhoben und trat mit seitwärts geneigtem Kopf und ausgestreckten Händen auf ihn zu … „Herr Permaneder! Sie sind es? Gewiß hat meine Tochter uns von Ihnen erzählt. Ich weiß, wie sehr Sie dazu beigetragen haben, ihr den Aufenthalt in München angenehm und unterhaltend zu machen … Und Sie sind in unsere Stadt verschlagen worden? “ „Geltn’s, da schaun’s! “ sagte Herr Permaneder, indem er sich bei der Konsulin in einen Lehnsessel niederließ, auf den sie mit vornehmer Bewegung gedeutet hatte, und begann, mit beiden Händen behaglich seine kurzen und runden Oberschenkel zu reiben … „Wie beliebt? “ fragte die Konsulin … „Geltn’s, da spitzen’s! “ antwortete Herr Permaneder, indem er aufhörte, seine Knie zu reiben. „Nett! “ sagte die Konsulin verständnislos und lehnte sich vor, die Hände im Schoß, mit erheuchelter Befriedigung zurück. Aber Herr Permaneder merkte das; er beugte sich vor, beschrieb, Gott weiß, warum, mit der Hand Kreise in der Luft und sagte mit großer Kraftanstrengung: „Da tun sich die gnädige Frau halt … wundern! “ „Ja, ja, mein lieber Herr Permaneder, das ist wahr! “ erwiderte die Konsulin freudig, und nachdem dies erledigt war, trat eine Pause ein. Um aber diese Pause auszufüllen, sagte Herr Permaneder mit einem ächzenden Seufzer: „Es is halt a Kreiz! “ „Hm … wie beliebt? “ fragte die Konsulin, indem sie ihre hellen Augen ein wenig beiseite gleiten ließ … „A Kreiz is! “ wiederholte Herr Permaneder außerordentlich laut und grob. „Nett“, sagte die Konsulin begütigend, und somit war auch dieser Punkt abgetan. 6 Natürlich entspricht die Grobheit des Dialektsprechers auch einem Klischee, das z. B. ebenso im Mundartwitz gerne gespiegelt wird. Die „Unbeholfenheit“ im „hochdeutschen“ Kontext, die hier ebenfalls klischeehaft vorgeführt wird, zeigt sich auch im Gebrauch veralteter submissiver Formeln wie „Habe die Ähre“ am Anfang der Szene. Vgl. insgesamt Zehetner (1985, 188 ff.), wo auch auf die „Buddenbrooks“ eingegangen wird. 34 Dieter Cherubim Auch andere Seiten dialektal geprägter Direktheit, z. B. eine brüske Reaktion auf ein höflich gemeintes Kompliment der Konsulin („Is scho recht. Davon is koa Red“), später noch die anbiedernde Anrede (Herr Nachbohr) und die unverstellte Demonstration bäuerlicher Schläue („ungewöhnlich hurtiger Blick“) gegenüber dem jungen Konsul kommen hier zum Zuge. Kein Wunder also, dass dies von der Familie beim späteren „Nachverbrennen“ als Stilwidrigkeit und fehlende Weltläufigkeit (Provinzialität) eingeschätzt wird, mit der man im Höflichkeitsmanagement schwer zu Recht kommt, sich bisweilen auf Unverbindlichkeiten zurückziehen muss wie die alte Konsulin („ein angenehmer Mann“) oder über die man sich (hinterher) arrogant „moquieren“ kann. 4. Mögliche Höflichkeitsdissonanzen In Anstandsbüchern Während man für die Rekonstruktion des Höflichkeitsmanagements in aktuell aufgezeichneten Gesprächen, gerade auch bei unübersehbaren oder sogar thematisierten Dissonanzen, 7 seine eigenen kommunikativen Erfahrungen, eventuell auch noch begrenzt historische Erfahrungen aus dem Umgang mit älteren Generationen einsetzen kann, ist man für die Vergangenheit auf schriftlich aufgezeichnete Texte angewiesen, die nur annähernde Sinndeutungen von Mustern erlauben, wenn zusätzliche Informationen, z. B. in Form von eingearbeiteten Interpretationen (vor allem bei literarischen Texten) oder in Form von Musterbüchern, zur Verfügung stehen (Linke 1996, 41 ff.). So kommen für solche Rekonstruktionen auch nur wenige Textsorten in Frage: Literarische Texte, wie sie auch hier benutzt wurden, wenn sie sich einem -freilich selektiven und poetisch überformten - Realismus verpflichtet fühlen und daher auf musterhafte Erfahrungen ihrer Zeit in vergleichbaren anderen Texten beziehen lassen; Protokolltexte z. B. von Verhandlungen juristischer oder geschäftlicher Art, die allerdings auch eigenen Gestaltungs- und Selektionsprinzipien folgen; 8 Lebenserinnerungen in Form von Tagebüchern oder Autobiographien, bei denen ebenfalls mit subjektiven Verkürzungen oder sogar Umdeutungen des realen Geschehens zu rechnen ist. 7 Aktuelle Höflichkeitsdissonanzen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen demonstriert Gerdes (2011), die unterschiedliche Stilisierung der Distanzsteuerung zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Generationen wird auch von Fontane in seinem Roman „Frau Jenny Treibel“ bei der Schilderung der Abendgesellschaft im Hause Treibel dargestellt, vgl. dazu auch Cherubim (2009, 99 ff.). 8 Interessantes Material, das z. T. aber auch starken Ritualisierungen unterliegt, enthalten etwa Dokumente von Verhandlungen studentischer Auseinandersetzungen vor den akademischen Gerichten, wie sie Objartel (2016, 129 ff.) zitiert. Höflichkeitsdissonanzen 35 Zweifellos am interessantesten, aber nicht unproblematisch 9 sind die sog. Anstandsbücher, die nicht nur mehr oder weniger begründete Standards höflichen Verhaltens liefern, welche in der einschlägigen Literatur (vgl. auch Krumrey 1984) in verschiedenen Varianten existieren können, sondern die auch anhand von krisenhaften Begegnungen mögliche Dissonanzen zwischen verschiedenartigen Agenten (alt vs. jung, Damen vs. Herren, Vorgesetzte vs. Untergebene, Adlige vs. Bürger vs. „einfache Leute“) thematisieren oder sogar Entwicklungstendenzen andeuten. Als exemplarischen Fall möchte ich hier ein Anstandsbzw. „Complimentierbuch“ herausgreifen, das in einschlägigen Bibliothekskatalogen kaum nachzuweisen ist und auch in der umfangreichen Literaturliste von Linke (1996, 329 ff.) nicht vorkommt: Der Titel lautet: Echter / Anstand, guter Ton und feine Sitte, / als / bewährte Wegweiser durch das gesellige Leben; / oder / (zur allgemeinen Verständlichkeit) / Neuestes / Wiener- Complimentirbuch, / für Personen beiderlei Geschlechtes, / die sich in allen Verhältnissen des Umgangs mit ihren Neben- / menschen, wahrhaft angenehm und liebenswürdig zu benehmen wünschen. Verfasser ist ein gewisser Franz Rittler, das Buch ist im Verlag Mayer und Compagnie, Wien 1834 erschienen. 10 Die Intention dieses sich ausdrücklich in der Nachfolge Knigges sehenden Buches (mit 17 Kapiteln auf 276 gez. Seiten) richtet sich, wie es schon der Titel formuliert, vorrangig auf die „positive“ Höflichkeit als Vermögen, durch sein Verhalten einen guten, d. h. angenehmen und liebenswürdigen Eindruck auf andere Menschen zu machen, enthält aber auch reichlich Hinweise, wie man Menschen im geselligen Umgang den nötigen Respekt entgegenbringen oder die Achtung ihrer Persönlichkeit sicherstellen kann. Dementsprechend wird zunächst beschrieben und immer wieder an angeblich selbst erlebten „Scenen“ demonstriert, 11 wie man durch Aussehen (Physiognomie), Körperhaltung und Kleidung („Tracht“) [Einleitung], dann durch das Sprachverhalten allgemein (Orientierung an der Standardsprache) und im Besonderen (mündlicher und schriftlicher Vortrag, Briefe) einen guten Eindruck bei anderen Menschen erzeu- 9 Vgl. dazu speziell auch Linke (1996, 35 ff.), die neben Anstandsbüchern vor allem Tagebücher auswertet. 10 Vom selben Verfasser Franz Rittler (1782-1837) erschienen vorher schon eine spezielle Abhandlung zum Handkuss „in seinen verschiedenen Abstufungen“ (Wien 1829) und eine Abhandlung zu „Kleine Anreden und mündliche Vorträge in verschiedenem Fällen des Lebens“ (Wien 1832). Eine im vorliegenden Werk, das eine „allgemeine Theorie“ anbietet, vorangekündigte („ausschließlich dem practischen Leben“ gewidmete) Fortsetzung (vgl. S. 276) des Werks kam aber offensichtlich nicht zzustande. 11 Vom selben Verfasser existiert auch ein Büchlein mit dem Titel „Humoristische Scenen der Vergangenheit. Nach wahren Ereignissen des Lebens gezeichnet“ (Wien 1822). 36 Dieter Cherubim gen kann [1. Abschnitt, Kapitel 1-5]. Der Unterstützung bzw. Sicherung dieses guten Eindrucks dienen dann Regeln zur äußeren Gestaltung bzw. „Belebung“ einer prototypischen gesellschaftlichen Situation, wie einer Abendeinladung; hier kommen dann Fertigkeiten wie das „Tafel-Arrangement“, die Technik des Tranchierens, Verhalten bei Spielen (Kartenspiel, Billard) und die Unterhaltung durch Kunstfertigkeiten zur Sprache [2. Abschnitt, Kapitel 6-10]. Für die hier angesprochene Dissonanzproblematik ist besonders der 3. Abschnitt des Buches [Kap. 11-17] ergiebig, denn nun geht es um den Umgang mit „verschiedenen Menschenklassen im Allgemeinen, in steter Berücksichtigung der mancherlei Verhältnisse“ . U. a. werden dabei folgende potentiell krisenhaften Abstimmungen zwischen Beteiligten einschlägiger Interaktionen ins Auge gefasst: das Benehmen gegenüber Frauenzimmern, das heikle Verhalten bei der Applikation von Handküssen, die Auswahl von Menschen, mit denen man sich (nicht) umgeben soll, das problemorientierte Verhalten zwischen Schuldnern und Gläubigern und die Behandlung von Untergebenen. Generell gründet sich das Idealbild eines Menschen „von echtem Anstand, gutem Ton und feiner Sitte“ auf Geistesbildung und bestimmten Grundtugenden (Bescheidenheit, Freundlichkeit […], Billigkeit […] und Wahrheitsliebe: S. 92 ff.) die dann zu einer „gesetzten Denkungsart“ (S. 96) und einem ungezwungenen (natürlichen) Verhalten führen, das dazu befähigt, auch mit dissonantem Verhalten (Abgeschmacktheit, linkisches Wesen, Unverschämtheit) fertig zu werden, ohne die höherwertigen „Vorschriften der Wohlanständigkeit“ aufzugeben. 12 In der Praxis des (ständisch gegliederten) Alltags ist jedoch diese harmonistische Konzeption durch Rücksichten auf besondere Umstände zu modifizieren (S. 230 f.): Ein artiges und höfliches Betragen wird zwar jeder gesittete Mensch stets gegen einen Andern beobachten; er hat aber auch zugleich, gewisse Rücksichten auf das Alter und den Stand der Person, mit welcher er es zu thun hat und auf die unter ihnen gegenseitig bestehenden Verhältnisse zu nehmen. Aufmerksamer, zuvorkommender und submisser wird er in der Wahl seiner Ausdrücke, sogar in der Haltung des Körpers, gegen einen hohen Vorgesetzten, als gegen Seinesgleichen, vertraute Freunde und gute Bekannte, ganz anders gegen diese, als gegen Unbekannte, oder gegen Niedere und Untergebene seyn. Zum Exempel: Weit gegründetere Ansprüche auf Achtung und nachgiebige Bescheidenheit hat das, unter Erfahrungen aller Art, mit Ehren ergraute Haar des Alters, als der, die kost- 12 Auffällig erscheint hier, dass der Verfasser „bescheidene Dreistigkeit“ als Resonanz auf dissonantes Höflichkeitsverhalten einfordert (S. 97). Höflichkeitsdissonanzen 37 barsten Wohlgerüche verduftende Lockenkopf einer vorlauten, gern alles meisternden Jugend. - Es gibt sogar gewisse Stände in der bürgerlichen Gesellschaft: z. B. alte Militäre, Seefahrer, Personen in früheren Hofdiensten und im Lehrfache ergraute Philologen, die im Allgemeinen, mit einer ganz eigenen Schmiegsamkeit in ihre Denkungsart und angenommene Lebensweise behandelt seyn müsssen, was bei Letzteren besonders durch jenen, bisweilen von Kindheit an genährten Glauben, an die Infallibität [Untrüglichkeit, D.Ch.] ihrer Kathederweisheit, noch um vieles vermehrt wird. Modifizierende Anpassungen also ja, aber nicht um jeden Preis: Im Falle krasser Differenzen können Zumutungen an die „Contenance“ durchaus deutlich markiert und energisch abgewehrt werden: Nicht weniger Vorsicht zur Vermeidung unangenehmer Reibungen, heischt das Benehmen gegen Künstler überhaupt, besonders Schauspieler, gegen abstracte Stubengelehrte und nur von sich selbst anerkannte Schöngeister, ganz vorzüglich aber gegen die Kaste der Recensenten und Kritiker von Profession, die, wie in Falten versteckte Wanzen, überall juckende Blasen beißen und nach Verdienst abgefertigt, noch aus Rache wenigstens - stinken. Und anderer Stelle wird der Verfasser noch deutlicher: Welch ein unaussprechlich süßer Genuß muss es für einen sellbständigen, sich seiner Vorzüge bewußten, independenten und edlen Mann seyn, ein solches Klotz [hier: einen ungebildeten Parvenu] durchaus in keinem Falle, nach einem anderen Maßstabe, als dem seines eigenen Benehmens zu behandeln und ihm dadurch den thörichten Irrthum seiner Voraussetzung, mit männlicher Energie radicaliter zu benehmen, ohne dabei die Grenzen des, nie außer Augen zu setzenden Anstandes zu überschreiten (S. 235). Wen würde es auf dem Hintergrund solcher Reflexionen und Beispiele nicht reizen, literarische Darstellungen wie die Beschreibung des Verlaufs der heterogen zusammengesetzten Abendgesellschaft und ihrer Plaudereien in Fontanes „Frau Jenny Treibel“ (1892) neu zu lesen? Literatur Augst, Gerhard (1977). Zur Syntax der Höflichkeit. In: Ders. (Hrsg.) Sprachnorm und Sprachwandel. 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The contribution deals with fundamental functions of face-work and seeks to illustrate this through literary dialogues taken from novels of Theodor Fontane. The analysis focusses, above all, on problems that may arise from translations into French, and offers information on how polite behaviour is influenced by social and cultural factors during the period in question. 1. Theodor Fontane als Sprachvirtuose Die Übersetzung literarischer Texte erfordert in der Regel mehr als nur eine wortgetreue Übertragung von Ausgangstexten. Dies gilt vor allem dann, wenn sich die gegebenen Äußerungen nicht auf einen reinen Informationstransfer beschränken lassen, sondern auch Merkmale emotionaler Befindlichkeit, sozialer und regionaler Herkunft oder altersmäßiger Gruppenzugehörigkeit aufweisen. Weitere Schwierigkeiten können sich insofern ergeben, als bestimmte sprachstilistische Besonderheiten oder Verweise auf kulturspezifische Realien eine entsprechende Wiedergabe in der Zielsprache erschweren bzw. ausschließen. Übersetzen geht also meist über ein einfaches Umkodieren hinaus, im Falle literarischer Texte dürfte dies sogar die Regel sein. Es kann im wesentlichen nur darum gehen, zwischen ausgangs- und zielsprachlichen Äußerungen jeweils eine Art kommunikativer Gleichwertigkeit herzustellen, und zwar auf der Ebene der betreffenden Texte insgesamt (und nicht auf der Ebene der sprachlichen Mittel). Wichtig ist dabei, das soziale und kulturelle Umfeld, in dem ein Text erstellt wurde, und die Bedingungen, unter denen sprachlich gehandelt wird, 40 Heinz-Helmut Lüger von vornherein mitzureflektieren und auf diese Weise eine - wie Coseriu (1981: 43) es schlagwortartig nennt - „Invarianz des Textinhalts“ anzustreben. 1 Mit Blick auf Theodor Fontane erhalten diese Bemerkungen zusätzliches Gewicht, da es sich hier um einen Autor handelt, für den die Thematisierung von Sprache und Sprachverhalten eine zentrale Rolle spielt. Dies gilt ebenfalls für seine Romane. Ganz generell dienen sprachliche Verhaltensweisen sowohl der Charakterisierung einzelner Protagonisten als auch der Darstellung und Abgrenzung verschiedener gesellschaftlicher Milieus, als Zeichen für Kultiviertheit, Bildung, Kreativität oder aber als Indiz für Überheblichkeit und peinliche Niveaulosigkeit. Einige Figuren sind mit einer markanten Sensibilität für Sprachliches ausgestattet. Nicht selten werden Handlungsabläufe unterbrochen, um metakommunikativen Kommentaren mit Problematisierungen des sprachlichen Ausdrucks Raum zu geben. Sprache und Stil rücken somit nicht nur in der Figurenrede, sondern ebenso im Erzählertext immer wieder in den Vordergrund. 2 Fontane gehört bekanntlich zu den Autoren, die sich um eine starke Annäherung an den alltäglichen Sprachgebrauch bemühen. Dies zeigt sich vor allem in den gesprochenen Passagen der Protagonisten, wo z. B. mit dialektalen Ausdrücken, Registerwechseln oder mit verschiedenen syntaktischen Mitteln ein möglichst realistisches, d. h. zeit-, schicht- und situationsspezifisches Bild vom mündlichen Sprachverhalten erzeugt werden soll. Das Gespräch wird gleichsam, so Preisendanz (1984: 473), zum „beherrschenden Medium der Wirklichkeitsmodellierung“. Trotz eines solchen Bestrebens bleibt jedoch festzuhalten: Die in den Romanen vorgestellte Mündlichkeit ist immer nur eine fingierte bzw. simulierte. Eine auch nur annähernd komplette Wiedergabe alltagsweltlicher Gesprächsstrukturen (etwa mit simultanem Sprechem, Rückmeldepartikeln oder Selbst- und Fremdkorrekturen) würde für literarische Texte als unangemessen gelten; andererseits schafft die zugrundeliegende fiktionale Bezugswelt auch Freiräume für Verbalisierungsmöglichkeiten jenseits zweckrationaler Handlungsbedingungen. In diesem Rahmen ist nun ebenfalls der Ausdruck sprachlicher Höflichkeit anzusiedeln. Wie bringen die Kommunikationsbeteiligten ihre Beziehung zu- 1 Zur Vertiefung der hier angesprochenen Übersetzungsproblematik vgl. ausführlicher Drahota-Szabó (2013: 93 ff.) und Hammer / Lüger (2016: 618 ff.). 2 An Sprachanalysen zu Fontane fehlt es nicht. Exemplarisch seien genannt: als übergreifende Darstellung Mittenzwei (1970), zur Einbettung in bürgerliche Normvorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts Linke (1988), zum Gesprächsverhalten Warning (2002), zu Formen positiver und negativer Selbstdarstellung Lüger (2005), zur sozialen Schichtung der Protagonisten Buffagni (2011), zu dialektalen und fremdsprachigen Ausdrucksformen Schorneck (1970), Burger / Zürner (2015), zum Einsatz von Phraseologismen Rösel (1997), Lüger (1999: 231 ff.). Verbale Höflichkeit in der Übersetzung 41 einander zum Ausdruck, wie regulieren sie diesbezügliche Veränderungen? In welcher Form wird wechselseitige Respektbezeugung signalisiert? Welche Verfahren kommen in Frage, um Gesichts- oder Imagebedrohungen zu vermeiden oder abzumildern, wie wird auf Gesichtsverletzungen reagiert? Mit welchen Mitteln lassen sich Erwartungen an das Partnerimage bestätigen, wie können Sprecher das Gewähren von Freiraum und Distanz bestätigen oder einschränken? 3 Für all diese Fragen und den Einsatz von Höflichkeitsstrategien kommen in den Fontane-Romanen vor allem die folgenden Bereiche in Betracht (vgl. Abb. 1): Abb. 1: Simulierte Mündlichkeit und Bereiche verbaler Höflichkeit a. Sprechstile Mit dem Einsatz dialektaler Elemente und der Kontrastierung zum Hochdeutschen wird nicht nur Lokalkolorit vermittelt; oft handelt es sich auch um ein Verfahren zur Herstellung kommunikativer Nähe, zur Markierung von Schichtzugehörigkeit, von Überlegenheit oder Unterlegenheit. Ebenso kann der Rückgriff auf vorgeprägtes Sprachgut, auf floskelhafte Ausdrücke unter bestimmten Bedingungen einen Imageverlust oder eine soziale Herabstufung zur Folge haben. 3 Der Bezug zu einem von Goffman und Brown / Levinson inspirierten Höflichkeitsmodell wird hier nicht nochmals ausgeführt; vgl. z. B. Werlen (1987), Lüger (2010), Thaler (2011). Auch auf die grundsätzliche Kulturalität von Höflichkeitskonventionen kann hier nicht ausführlicher eingegangen werden; vgl. etwa Kotthoff (2003). 42 Heinz-Helmut Lüger b. Dissens-Regulierung Ein geradezu privilegiertes Feld höflichkeitsrelevanter Kommunikation stellt die Aushandlung kontroverser Positionen dar; hier ist die Beziehung zwischen den Partnern fast immer mit im Spiel, ein Umstand, der im allgemeinen das Vorkommen abschwächender oder zurückweisender Maßnahmen zum Schutz des positiven Gesichts wahrscheinlich macht. Beispiele für den entgegengesetzten Fall der Selbstdemontage sind seltener. c. Phraseme, Zitate Fontane gilt nicht zuletzt als ein Meister der kreativen Verwendung phraseologischer Ausdrucksmittel: Auf diese Weise lassen sich z. B. bestimmte Romanfiguren - besonders im Falle von Modifikationen oder anspielungsreich in die Rede eingefügter Zitate und geflügelter Worte - leicht als originell, literarisch gebildet und gesellschaftlich hochgestellt charakterisieren. d. Fremdsprachen-Einsatz Auch das Vorkommen fremdsprachlicher Elemente ist alles andere als zufällig, vielfach ist es ebenfalls ein Signal der Status-Differenzierung. So deutet der Rückgriff auf französische Wortverbindungen in der Regel darauf hin, einen Sprecher als dem Bildungsbürgertum oder dem Adel zugehörig auszuweisen bzw. ihm den elitären Konversationston der Salons zuzuschreiben; dagegen steht das Englische eher für das Aufkommen einer neuen, modernen Zeit. Alle genannten Merkmale, darauf sei noch hingewiesen, sind in ihrer textuellen Funktion abhängig von der konkreten „Dosierung“ und von ihrer kommunikativen Einbettung. Insofern können sie Höflichkeitseffekte jeweils verstärken oder abschwächen, die Protagonisten aufwerten, als normenkonform präsentieren oder unter Umständen auch der Lächerlichkeit preisgeben. 2. Höflichkeit und Übersetzbarkeit Wie eingangs bereits angedeutet, beschränkt sich das Bedeutungspotential sprachlicher Äußerungen längst nicht immer nur auf die Ausführung einer einzigen sprachlichen Handlung. Selbst bei vermeintlich unprätentiösen Aussagen schwingen nicht selten Momente der Selbstdarstellung oder Impulse der Beziehungsgestaltung mit. Sandig (1978) spricht in dem Zusammenhang von ‚Zusatzhandlungen‘: „Zusatzhandlungen können als weitere, aber nicht konstitutive Teile den Sprechhandlungen hinzugefügt werden“. (1978: 84) Verbale Höflichkeit in der Übersetzung 43 Was im einzelnen als Haupt- oder Zusatzhandlung gilt, ist eine Frage der Äußerungsinterpretation. Für Übersetzungen stellen Zusatzhandlungen und ihr Bezug zur übergeordneten Handlung eine besondere Herausforderung dar. Dies sei an einem einfachen, von Knapp-Potthoff (1992: 208) übernommenen Sprachmittlungs-Beispiel illustriert: A. Ehm, tut mir leid, dass ich da drängen muss. Aber ich brauch’s wirklich ganz dringend. B. He says it’s urgent. B reduziert als Sprachmittler die Äußerung von A auf den aus seiner Sicht wesentlichen Punkt, die Betonung der Dringlichkeit einer zuvor formulierten Bitte. Dabei fallen mehrere abschwächende, gesichtsschonende Komponenten unter den Tisch: die Verzögerungspartikel (ehm) , die Bedauerns-Bekundung (tut mir leid) , der akzeptanzstützende Glaubwürdigkeitsappell (brauch’s wirklich ganz dringend) . Als Test zur Unterscheidung von Zusatz- und Haupthandlung kann die Umstellprobe dienen. An die obige Äußerung von A anschließend, wäre paraphrasierbar: ,Der Sprecher A insistiert mit seiner Bitte - und bringt außerdem zum Ausdruck, in welchem Maße er diese als dringend bewertet und inwieweit er den Eingriff in die Handlungsfreiheit des Adressaten bedauert.’ Eine umgekehrte Reihenfolge wäre kaum denkbar, die Bewertung der Bitte und die Signalisierung des Bedauerns sind als Zusatzhandlungen hier eindeutig nachgeordnet. Bei der Übertragung in eine Zielsprache ergibt sich oft das Problem, Formulierungen finden zu müssen, die nicht nur als als Wiedergabe der Haupthandlung, sondern auch als adäquate Entsprechung der Zusatzhandlung(en) gelten können. Dies ist bekanntlich in vielen Fällen nur schwer oder gar nicht möglich. Dieser Gedanke soll nun anhand literarischer Auszüge weiter vertieft und veranschaulicht werden. Alle Belege sind dabei den Fontane-Romanen Irrungen, Wirrungen (1888) und Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“ (1892) entnommen. 4 Der folgende Beleg liefert erste Hinweise auf die in dieser Hinsicht möglichen Schwierigkeiten: 4 Zitiert wird nach folgenden Ausgaben: Fontane, Theodor (1979): Irrungen, Wirrungen. Roman. Stuttgart: Reclam; (1973): Frau Jenny Treibel oder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“. Stuttgart: Reclam. In Klammern sind jeweils Kapitel und Seiten angegeben. Als französische Übersetzung dient: Fontane, Theodor (1981): Romans. Édition dirigée par Michel-François Demet. Paris: Laffont. - Einschlägige Beispielanalysen dieser Fontane- Texte finden sich u. a. in: Faucher (1969), Burger et al. (1982: 137 ff.), Linke (1988), Warning (2002), Cherubim (2009). 44 Heinz-Helmut Lüger (1) (a) [Frau Nimptsch: ] Und nu rücken Sie ’ran hier, liebe Frau Dörr, oder lieber da drüben auf die Hutsche … […] (Irrungen, Wirrungen I, 5) (b) [madame Nimptsch : ] Bon, et maintenant approchez-vous donc, ma chère madame Dörr, ou plutôt non : mettez-vous là-bas sur le tabouret 5 . […] (Errements et tourments I, 62) Ohne Frage handelt es sich in (1) um eine vertrauensvolle Bitte, nämlich um die Einladung an eine Gesprächspartnerin, umstandslos und direkt neben der Sprecherin Platz zu nehmen. Beiden Redebeiträgen kann man also das allgemeine Handlungsmuster Aufforderung zuordnen: Abb. 2a: Zuschreibung eines gemeinsamen Handlungsmusters Doch weisen die Äußerungen auch Unterschiede auf. So wird in (1a) eine nähesprachliche Formulierung gewählt, die mit den mündlichen Kurzformen nu , ’ran und dem dialektalen Hutsche (‚kleine Fußbank‘, ‚Schemel‘) ein hohes Maß an Vertrautheit und Informalität signalisiert. Im Vergleich dazu erscheint die französische Version deutlich distanzierter: Es fehlen die Mündlichkeitssignale (allenfalls die Partikel donc könnte man als in diese Richtung gehend auffassen), das direktive « et maintenant approchez-vous » drückt eher Formalität aus als „nu rücken Sie ’ran hier“, die Negation in « ou plutôt non : mettez-vous là-bas » hat im Ausgangstext keine Entsprechung, der Berlinismus Hutsche ist nicht übersetzbar und wird mit dem standardsprachlichen, nicht ganz äquivalenten Lexem tabouret (‚Hocker‘) wiedergegeben und außerdem um eine erklärende Fußnote ergänzt. Verbale Höflichkeit in der Übersetzung 45 Abb. 2b: Zentrales Handlungsmuster und höflichkeitsspezifische Zusatzhandlungen Es gibt hier also Zusatzhandlungen, die verschiedenen Ebenen zuzuordnen sind (Abb. 2b): Mit der Verwendung des Berlinismus wird z. B. auf der Ebene der Selbstdarstellung eine regionale und soziale Markierung vorgenommen. Darüber hinaus zeigt die Art der Diktion bezüglich der Beziehungsgestaltung ein Bemühen um kommunikative Nähe, wobei der deutsche Ausgangstext dies stärker betont als die französische Übersetzung; letzteres gilt ebenso für die Ebene der Kommunikationsmodalität, wo die etablierte vertraute Informalität in der deutschen Fassung wiederum deutlicher ausfällt. Hinsichtlich der ablaufregulierenden Funktion, der Textorganisation, kann man die zitierte Äußerung als Eröffnung, als Anbahnung eines längeren vertrauten Gesprächs betrachten. Wie oben skizziert, ist die Art der Herstellung von Informalität und von kommunikativer Nähe sowie insgesamt die Modulierung der direktiven sprachlichen Handlung durch Zusatzhandlungen an dieser Stelle kennzeichnend für die Imagearbeit und für die Signalisierung höflicher Kommunikationsgestaltung. Und in der Hinsicht ergeben sich bei der Übertragung in eine andere Sprache mehr oder weniger zwangsläufig oft Divergenzen (vgl. in Abb. 2b die schattierten Felder, für die in der Übersetzung Reduktionen auftreten). Diese Beobachtung sei im Folgenden anhand weiterer Beispiele präzisiert. 46 Heinz-Helmut Lüger 3. Beziehungsgestaltung in der Übersetzung In seinem Roman Frau Jenny Treibel führt Fontane eine ganze Reihe von Kommnunikationssituationen vor, in denen die Aushandlung von Positionen und Beziehungen im Mittelpunkt steht. Es ist geradezu eine Konsequenz der Figuren- Konstellation, wenn hier Vertreter unterschiedlicher Milieus und Stände ihr Selbstbild und ihre Erwartungen bezüglich gesellschaftlicher Wertschätzung zur Schau stellen und versuchen, Abgrenzungen und Imageansprüche in der Auseinandersetzung mit Gegenspielern geltend zu machen und durchzusetzen. Gegensätze zwischen Adel und Emporkömmlingen, zwischen Besitz- und Bildungsbürgertum, zwischen Herrschafts- und Dienerfiguren bilden daher einen omnipräsenten Hintergrund für den häufig kontrovers und asymmetrisch gestalteten Dialog zwischen diesen Welten. Ein anschauliches Beispiel bietet in Frau Jenny Treibel die Verlobungs-Kontroverse, an der mehrere Protagonisten mit ihrer speziellen Vorstellung von gesellschaftlich angemessenem Redeverhalten beteiligt sind: zuallererst die Kommerzienrätin Jenny Treibel, dann der Gymnasialprofessor Schmidt, seine selbstsichere Tochter Corinna und schließlich auch die Haushälterin Schmolke. Ein erster Beleg ergibt sich bereits aus dem Gebrauch der nominalen Anredeformen (und ihrer Übersetzungen, s. Abb. 3): Abb. 3: Nominale Anrede und Sprecherbeziehung Im Wissen um den Geltungsdrang der aus recht bescheidenen Verhältnissen stammenden Jenny Treibel werden im Hause Schmidt durchweg ehrerbietige und statusorientierte Anredeformen verwendet: Die Hausangestellte benutzt den Titel Frau Kommerzienrätin ( XIII , 174), den Jenny dank der Position ihres Mannes für sich Anspruch nimmt, und Schmidt wie auch seine Tochter wählen die formelle und aufwertende Form meine gnädigste Frau ( XIII , 175 ff.), das vor allem, so lange es um eine ernste Auseinandersetzung geht. In vertrauterer Situation, z. B. bei der Begrüßung oder Verabschiedung, kann es auch liebe Freundin oder mein lieber Freund heißen. Die französischen Entsprechungen bestätigen zwar das Bemühen um Distanzwahrung, allerdings nur in einem Verbale Höflichkeit in der Übersetzung 47 abgemilderten Maße: Die Formel chère Madame ist weniger formell als meine gnädigste Frau , und die Bezeichnung Conseillère de commerce hat im Französischen überhaupt keine Bedeutung, wie ihm der preußische Ehrentitel Kommerzienrat in der Wilhelmischen Zeit zukommt. Dies ist indes kein Versäumnis des Übersetzers, sondern den unterschiedlichen politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldet; der Leser kann die Art der Beziehungsgestaltung zwischen den betreffenden Protagonisten somit nur über den weiteren Austausch im Dialog erschließen. Die Formulierung von Vorwürfen und der Ausdruck von Meinungsverschiedenheit bergen leicht die Gefahr von Verletzungen des positiven Gesichts. Auch hierzu liefert die sog. Verlobungs-Kontroverse reichlich Beispielmaterial. (2) (a) [ Jenny Treibel: ] „[…] und so muß ich denn, zu meinem lebhaften Bedauern, von etwas Abgekartetem oder einer gestellten Falle, ja, Verzeihung, lieber Freund, von einem wohlüberlegten Überfall sprechen.“ (b) Dies starke Wort gab dem alten Schmidt nicht nur seine Seelenruhe, sondern auch seine gewöhnliche Heiterkeit wieder. Er sah, daß er sich in seiner alten Freundin nicht getäuscht hatte, daß sie, völlig unverändert, die, trotz Lyrik und Hochgefühle, ganz ausschließlich auf Äußerlichkeiten gestellte Jenny Bürstenbinder von ehedem war und daß seinerseits, unter selbstverständlicher Wahrung artigster Formen und anscheinend vollen Entgegenkommens, ein Ton superioren Übermutes angeschlagen […] werden müsse. […] (c) [Schmidt: ] „Ein Überfall, meine gädigste Frau. Sie haben vielleicht nicht ganz unrecht, es so zu nennen. (d) […] Erlauben Sie mir, gnädigste Frau, daß ich den derzeitigen Junker generis feminini herbeirufe, damit er seiner Schuld geständig werde.“ (Frau Jenny Treibel XIII , 175) Jenny Treibel macht Prof. Schmidt ihre Aufwartung, um gegen die heimliche Verlobung seiner Tochter Corinna und ihres Sohnes Leopold zu protestieren (2a). Ihre Vorwürfe sind durchaus schwerwiegender Natur, ungeachtet der formelhaften Abschwächungsversuche (zu meinem lebhaften Bedauern; ja, Verzeihung, lieber Freund) , sie lassen sich in Form einer dreischrittigen Klimax mit folgenden negativwertenden Bezeichnungen wiedergeben: etwas Abgekartetes → gestellte Falle → wohlüberlegter Überfall. Die genannten Ausdrücke stellen für den Adressaten, den alten Schmidt, ohne Zweifel einen massiven Angriff auf das positive Gesicht dar und würden normalerweise eine deutliche Zurückweisung als Gegenreaktion provozieren. Dieser Erwartung entspricht der Text jedoch nicht, im Gegenteil: Der so Angegriffene reagiert gelassen und, in Rückbesinnung auf die Herkunft Jennys, aus einer Position der Überlegenheit heraus und in einem „Ton superioren Übermuts“ (2b). Dieser Haltung folgend, 48 Heinz-Helmut Lüger kommt Schmidt seiner Kontrahentin zunächst entgegen und zeigt, zumindest nach außen hin, sogar Verständnis bezüglich der Vorwürfe (2c). Für den Leser ist aufgrund des Erzählerkommentars jedoch klar: Der Sprecher versucht, auf humorvolle und unernste Weise zu antworten und so zur Entspannung der Situation beizutragen. Dies gilt auch für den abschließenden Vorschlag (2d). Abb. 4: Vorwurf, Beschwichtigung, Gesichtsbedrohung Mit Periphrasen wie seiner Schuld geständig werden und Junker generis feminini signalisiert Schmidt, nicht in erster Linie und nicht allein auf eine Klärung in der Sache aus zu sein. Für ihn kommt es vor allem darauf an, sich als überlegen, gebildet und über den Dingen stehend zu zeigen; in diesem Sinne ist auch seine gekünstelte Ausdrucksweise mit dem Rückgriff auf das Lateinische zu verstehen: Jenny Treibel soll gleichsam bereits sprachlich in die Schranken gewiesen werden. Der Professor Schmidt führt (neben den genannten Momenten der Selbstdarstellung und Beziehungsgestaltung) außerdem eine spöttischdistanzierte Kommunikationsmodalität ein, die die gesamte Auseinandersetzung entkrampfen und den Beteiligten ein Abrücken von ihren kontroversen Standpunkten ohne größeren Gesichtsverlust erleichtern soll. Dieses Bemühen kommt in den Formulierungen der französischen Version nur sehr eingeschränkt zur Geltung (Abb. 4): Da die periphrastischen Wendungen aus (2d) in dieser Form nicht wiedergebbar sind - confesser sa faute ist ein unmarkierter standardsprachlicher Ausdruck, und chevalier moderne du sexe féminin dürfte eher als umständliche Konstruktion gelten, weniger als originelle oder gebildet klingende Bezeichnung - kommen auch Zusatzhandlungen, wie sie der ausgangssprachlichen Äußerung zuschreibbar sind, nicht weiter in Betracht. Verbale Höflichkeit in der Übersetzung 49 Ein häufig thematisiertes Motiv bei Fontane ist die Frage des gesellschaftlichen Aufstiegs. So gilt zum Beispiel Jenny Treibel als typische Vertreterin der Parvenüs und Emporkömmlinge: Ihre Position verdankt sie ausschließlich dem wirtschaftlichen Erfolg ihres Mannes, leitende Ziele für sie sind: materielle Vorteile und die damit verknüpfte soziale Anerkennung. Die Verlobung ihres Sohnes versucht sie nur deshalb zu hintertreiben, weil keine nennenswerte Mitgift zu erwarten ist. Aus Leserperspektive überrascht insofern nicht, wenn ein solches Verhalten verstärkt zum Ausgangspunkt für Kritik und Spott wird. Hieran ändern auch gesichtsschonende, höflichkeitsorientierte Maßnahmen Schmidts wenig, zumal das Geschehen auf der Figuren-Ebene für den Text-Rezipienten mehr als durchsichtig erscheint. Wie schon in (2) wird dies ebenfalls im folgenden Auszug (3) überdeutlich: (3) (a) [Jenny Treibel: ] „[…] Impietät ist der Charakter unsrer Zeit.“ (b) Schmidt, ein Schelm, gefiel sich darin, bei dem Wort „Impietät“ ein betrübtes Gesicht aufzusetzen. „Ach, liebe Freundin“, sagte er, „Sie mögen wohl recht haben, aber nun ist zu spät. Ich bedaure, daß es unserm Hause vorbehalten war, Ihnen einen Kummer wie diesen, um nicht zu sagen eine Kränkung anzutun. Freilich, wie Sie schon sehr richtig bemerkt haben, die Zeit… alles will über sich hinaus und strebt höheren Staffeln zu, die die Vorsehung sichtbarlich nicht wollte.“ (c) Jenny nickte. „Gott beßre es.“ (d) „Lassen Sie uns das hoffen.“ (e) Und damit trennten sie sich. (Frau Jenny Treibel XIII , 180) Während sich Jenny Treibel wegen des selbstsicheren Auftritts von Corinna, der Tochter Schmidts, beklagt und dies u. a. mit dem gemeinplatzartigen Impietät ist der Charakter unsrer Zeit zum Ausdruck bringt (3a), geht Schmidt in seiner Replik (3b) scheinbar auf die Vorwürfe ein, zeigt vordergründig Verständnis für die Einwände, bekundet sein Bedauern und spricht sogar von Kummer und Kränkung . Gewissermaßen im Schutz eines solchen Reparaturversuchs folgt sodann mit „alles will über sich hinaus und strebt höheren Staffeln zu“ eine Formulierung, die man als zweifachadressiert betrachten kann: Aus der Sicht Jennys handelt es sich um eine Verallgemeinerung, die die Entschuldigungs- Sequenz fortführt und mit einer Erklärung abschließt - zumindest die Quittierung in (3c) bestätigt ein solches Verständnis. Andererseits, und für den Leser dürfte das aufgrund verschiedener Erzählerkommentare naheliegend sein, ist die Äußerung als massive Kritik Jennys interpretierbar, und zwar wegen ihres geradezu obsessiven Aufstiegsstrebens. Die vermeintliche Rücknahme einer gesichtsbedrohenden Handlungsweise entpuppt sich damit als eine gezielte und ungeschminkte Imageverletzung, wobei jedoch die betroffene Person 50 Heinz-Helmut Lüger weit davon entfernt ist, die ihr zugedachte Demontage als solche überhaupt wahrzunehmen. Für den Rezipienten mag sich aus einer derart vorgeführten Unhöflichkeit, verbunden mit der Diskrepanz im Äußerungsverstehen, eine zusätzliche Quelle für Lesevergnügen und Selbstbestätigung ergeben 5 - das umso mehr, als vergleichbare Situationen vom Romanautor ja keineswegs zufällig angebahnt werden. Betrachtet man nun, wie bestimmte Formulierungen ins Französische übersetzt werden, ergibt sich wiederum der Eindruck einer gewissen Bedeutungsreduktion (Abb. 5). Abb. 5: Aufstiegsmetaphorik und Bedeutungsreduktion Jenny Treibel orientiert sich an einer vertikalen Schichtung der Gesellschaft; ihr großes Ziel ist es, möglichst schnell die nächsthöhere Stufe zu erreichen. Insofern erscheint die Wortwahl, wenn es um die Charakterisierung ihres Verhaltens geht, überaus konsequent: - höher hinaufrücken (XII, 156 f.) → ne pas aller plus loin (518) - höher hinaufschrauben (XII, 163) → viser un peu plus haut (522) - über sich hinaus wollen (XII, 180) → vouloir sortir de sa classe (535) - höheren Staffeln zustreben (XII, 180) → aspirer à un état plus élevé (535) 5 Angesichts der Nutzung von Schadenfreude und Bloßstellungen zum Beispiel in Unterhaltungssendungen des heutigen Fernsehens kann man Fontane eine gewisse Modernität sicher nicht absprechen; vgl. Lüger (2014). Zum Wandel von Höflichkeit in elektronischen Medien allgemein vgl. auch Bonacchi (2013: 215 ff.). Verbale Höflichkeit in der Übersetzung 51 Den teilweise phraseologischen Ausdrücken des Ausgangstextes kommt durchweg das Merkmal ‛nach oben gerichtet’ zu; die französischen Entsprechungen geben das nur zum Teil wieder, ein Phänomen, das auch in (3b) die Bedeutungsreduktion (und damit die geringere Markiertheit der Imageverletzung) ausmacht. Zu den problematischen Fällen gehören für den Übersetzer ebenfalls fremdsprachige Elemente, z. B. einzelne Ausdrücke, Redewendungen, geflügelte Worte, Zitate. Wie soll der jeweilige Codeswitching-Effekt übertragen werden? Hierzu sei abschließend noch folgender Beleg aus Irrungen, Wirrungen angeführt: (4) (a) [Serge: ] „[…] Aber Scherz beiseite, Freund, eines ist Ernst in der Sache: Rienäcker ärgert mich. Was hat er gegen die reizende kleine Frau. Weißt du’s? “ (b) [Pitt: ] „Ja.“ (c) [Serge: ] „Nun? “ (d) [Pitt: ] „She is rather a little silly. Oder wenn du’s deutsch hören willst: sie dalbert ein bißchen. Jedenfalls ihm zuviel.“ (Irrungen, Wirrungen XVIII , 131 f.) In dem zitierten Auschnitt geht es um eine Einschätzung der neuen Lebensgefährtin Botho von Rienäckers: Während Serge eine positive Meinung vertritt, äußert Pitt ein eher skeptisches Urteil, wie es in der despektierlichen Äußerung (4d) zum Ausdruck kommt. Mit dieser eindeutig negativen Bewertung setzt letzterer auch sein eigenes Image aufs Spiel, trotz der zunächst abmildernden englischen Formulierung. Indem er jedoch anschließend seine Einschätzung bekräftigt („wenn du’s deutsch hören willst…“), wird schließlich jeder Zweifel beseitigt, eine Eindeutigkeit, die in dieser Form in der Übersetzung nicht besteht (s. Abb. 6): Abb. 6: Selbstdarstellung und Imagegefährdung Es erstaunt, die Formulierung „wenn du’s deutsch hören willst“ (im Sinne von: ‛um es ganz deutlich zu sagen’) wörtlich übertragen und mit der französischen Aussage „elle bêtifie un peu“ kombiniert zu finden; hier dürfte eine Fehlinter- 52 Heinz-Helmut Lüger pretation des Übersetzers vorliegen, was dann auch das Imagegefährdende der betreffenden Äußerung fraglich macht. Dagegen ist die Wiedergabe des Regionalismus dalbern (‛sich albern, kindisch verhalten’) nur begrenzt möglich, bêtifier entspricht allerdings dem semantischen Kern. 4. Fazit Die besprochenen Beispiele beleuchten schlaglichtartig die semantisch-pragmatische Komplexität vieler Dialoge in den Fontane-Romanen. Dies dürfte einerseits mit dem Bemühen Fontanes zusammenhängen, die gesprochene Sprache möglichst wirklichkeitsgetreu nachzuempfinden. Andererseits sorgt das Bestreben, ebenso die soziale Milieu-Zugehörigkeit, bestimmte regionale Unterschiede, verschiedene Bildungsniveaus und überhaupt die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts einzubeziehen, für eine starke Ausdifferenzierung des Sprachverhaltens der beteiligten Protagonisten. Vor diesem Hintergrund ist auch die Ausprägung verbaler Höflichkeit zu sehen. Die obigen Ausführungen sind keineswegs ein Beleg für die These, Höflichkeit sei prinzipiell unübersetzbar. Sie zeigen aber gleichwohl, wie sinnvoll es möglicherweise ist, Höflichkeitsaspekte relativ zu speziellen Handlungsbereichen zu untersuchen und sie von vornherein mehreren Textbildungsebenen zuzuordnen. Als zielführend erweist sich in dem Zusammenhang, grundsätzlich zwischen Haupt- und Zusatzhandlungen zu unterscheiden: Die Signalisierung von Höflichkeit geschieht häufig in Form einer Modifikation übergeordneter Handlungen wie M itteilen , A uffordern oder B ewerten und kann die Ebenen der Selbstdarstellung, Beziehungsgestaltung, Kommunikationsmodalität und der Text- oder Ablauforganisation betreffen. Und genau hier dürfte das zentrale Problem für die Übersetzung von als höflich wahrgenommenen Äußerungen liegen. Es ist vielfach schwierig oder gar unmöglich, in der Zielsprache Äquivalente zu finden, die nicht nur die gegebene Haupthandlung übertragen, sondern auch den jeweils mitgemeinten Zusatzhandlungen entsprechen. Dies zu veranschaulichen, sollte das Ziel des vorliegenden Beitrags sein. Literatur Bonacchi, Silvia (2013). (Un)Höflichkeit. Eine kulturologische Analyse Deutsch - Italienisch - Polnisch. Frankfurt / M. Buffagni, Claudia (2011). 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Verbale Höflichkeit in der Übersetzung 55 Aktuelle Tendenzen Der face-Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework 57 Der face-Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework. Paradigmatische Überlegungen Gudrun Held This paper revisits the concept of face as it is constituted in the politeness-theories following Brown’s & Levinson’s seminal work. Considered as being in a causal interrelation with politeness, face gets the key-notion of modern sociopragmatics throughout its different paradigmatic stages. The assumption of the famous dichotomic wants (positive vs. negative face) enables linguistic research to turn a supposed inside of values into an outside of verbal strategies directed to rapport management and conflict avoidance. This leads to the one-sided equation between face and politeness which, in recent literature, is getting however more and more contested by opening up the view from the culturally driven concept of politeness to the more generally definable concept of facework. Referring to the recent development of this discussion the paper argues that face and politeness are matters of their own right based on fundamental differences in the a) terminological practice, b) social-semantic content, c) ontological status, and d) theoretical conceptualisation. Mit der Pionier-Arbeit von Penelope Brown und Stephen Levinson 1978 / 87 hat das politeness -Paradigma in der linguistischen Pragmatik unaufhaltsam Einzug gehalten, gibt es doch eine plausible theoretische Basis ab zur Erklärung der Mechanismen sozialer Interaktion. Da diese vor allem in der Sprache empirisch greifbar sind, wird das Paradigma in den verschiedensten Sprach- und Kulturgemeinschaften quer über den Globus auf die verschiedensten Kommunikationssituationen angewandt und macht somit ‚Höflichkeit‘ zu jenem scheinbar vergleichbaren Referenzbereich, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Strategien, Prinzipien und (Un)Regelmäßigkeiten sozialen Handelns aufdeckt und zu erklären sucht. Im Lichte universaler, aber traditionsgeprägter Sozial- Ethik gerät das kooperative Verhalten ins Zentrum der Aufmerksamkeit und wird anfänglich an zahlreiche sprachliche Verfahren gebunden, die auf eine weitgehend harmonische Beziehungsgestaltung ausgerichtet sind und kommunikative Konflikte entsprechend zu vermeiden suchen. Ja, wie Kerbrat- 58 Gudrun Held Orecchioni (1992, 160) zusammenfassend sagt, solcherart „Beziehungszeichen“ „font système“ - sie machen plötzlich - oft im Zusammenhang mit paraverbalen Phänomenen - sozialen Sinn. Dieser kann allerdings nur im größeren kulturellen Rahmen, im darin verankerten situativen setting und da vor allem in Bezug auf die jeweilige kommunikative Beziehung bemerkt, erfasst und interpretiert werden. So erkennt die linguistische Forschung schnell, dass nicht die sprachlichen Formen per se ‚höflich‘ sind, sondern die sozialisierten Subjekte, indem sie ihre kommunikativen Handlungen gemäß den in ihrer Kultur üblichen Normen und Konventionen möglichst beziehungs-bewusst ausführen: dabei gilt die wechselseitige Wahrung des face als jene Richtlinie, die solche und viele andere sprachliche Formen als strategische Mittel zur situationsadäquaten Modalisierung ihrer Handlungen rechtfertigen. Die Gründe für die Art und Weise, wie Handlungen jeweils verbalisiert werden, sind somit sozial-anthropologischer Natur; die jeweilige Regelung sowie die Wahrnehmung ihrer Wertigkeit bedürfen aber eines Bewertungsmaßstabs, der kulturimmanent festgelegt und als solcher unbewusst verankert ist. Das ‚fuzzy concept‘ der politeness 1 bietet sich als Meta-Konzeption scheinbar sprach-übergeordnet an, diesem Spagat gerecht zu werden: es steht für gewisse ethisch unterlegte Grundtendenzen mit Universalitätsanspruch, lässt jedoch (sozio-)semantisch kulturspezifische Ausprägungen und Ausdeutungen sowie entsprechende Übersetzungen zu. Die (sozio)-pragmatische Polymorphie dieses alltagsweltlich so geläufig scheinenden Konzepts lässt das Paradigma allerdings schnell in ein vielschichtiges Fangnetz theoretischer und methodologischer Probleme geraten: Analytisch dem sich ständig wandelnden Spannungsverhältnis zwischen Formen und Funktionen ausgesetzt, bedarf es sowohl der Objektivierung der intersubjektiven Vielfalt sowie der Neutralisierung der ethischen Wertmaßstäbe, als auch der Anerkennung von deren situativer Variation und der Beachtung sozio-kultureller Einflüsse; kurz, es braucht ein Modell, das emisch und etisch gleichermaßen Relevanz hat und sich demnach als für alle Kulturen operabel erweist. Diesem Dilemma versucht die Forschungsdiskussion in den frühen 90er Jahren durch terminologische Ausdifferenzierung beizukommen: es wird vorgeschlagen zwischen politeness 1 , dem kultur-immanenten Alltagsverständnis von Höflichkeit, und politeness 2 , der modell-theoretischen Abstraktion zur wis- 1 Aus Gründen meiner hier vertretenen Argumentation bleibe ich auch in der deutschen Diktion beim englischen Fachbegriff politeness , welcher das Paradigma nicht nur identifiziert und etikettiert, sondern auch die verschiedenen wissenschaftstheoretischen Problem-Bereiche deutlich macht, die mit der englischen Metasprache generell verbunden sind. Geht es aber um die wert-immanente Deutung im sozio-kulturellen Sinn, so verwende ich das geläufige deutsche Wort Höflichkeit . Der face -Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework 59 senschaftlichen Erklärung von sozialer Interaktion i. a., zu unterscheiden (Eelen 2001, Watts 2003, Haugh 2012a). Damit sollte das, was Laien landläufig unter Höflichkeit verstehen, grundsätzlich theoretisch erklärbar werden, d. h. es wird ein Inklusionsverhältnis postuliert, nach dem politeness 2 immer politeness 1n enthalten müsse. Wie groß auch immer der Erkenntnisgewinn aus dieser epistemologischen Unterscheidung in der weltweit ungebrochenen Anwendung des politeness -Paradigmas ist, sie hält eine Diskussion in Gang, die vor allem um die Problematik zwischen Universalität und Kulturspezifik kreist. Der Ruf nach Kritik und Revision verebbt auch nicht durch die verschiedenen paradigmatischen Wendepunkte hindurch, indem sich der kritische Blick der Forscher schärft und zwar von einer anfangs normativ orientierten Höflichkeits-Konzeption über die auf die Reaktion der Rezipienten angewiesene diskursive Interpretation bis hin zur interaktionalen Aushandlung, wo die Bedeutungen immer Prozesse gemeinsamer Konstruktionen sind (zu den paradigmatischen Phasen cf. Sifianou 2010, Watts 2010; Locher 2012, 2013). Meines Erachtens geht es daher im Forschungsdiskurs mittlerweile längst nicht mehr um das, was politeness generell ist und wie sie sprachlich in den einzelnen Kulturgemeinschaften festgemacht werden kann - dies zeigt nicht zuletzt der deutliche turn des Paradigmas hin zum Gegenteil, der impoliteness , die formal und funktional viel klarer fassbar zu sein scheint (Bousfield 2008, Culpeper 2011). Vielmehr stehen andere Grundkonzepte des Modells im Kreuzfeuer, und da besonders der von Goffman übernommene Begriff des face . Das im Paradigma so zentrale face erweckt in letzter Zeit das Interesse kritischer Stimmen (cf. Bargiela / Haugh 2009) und zwar nicht nur als analytisch brauchbare Abstraktion einer Wert-Idee, sondern auch in Verantwortung für zahlreiche davon abgeleitete Konzeptionen, von denen ich facework als essentiell erachte, weil es die Idee des face nach außen zu kehren sucht und an empirisch sichtbaren Handlungen festzumachen scheint. Diesem Spannungsverhältnis zwischen Innen- und Außenseite, das Goffman mit face und face-work bereits deutlich angedacht hat, möchte ich im Folgenden meine Aufmerksamkeit widmen. In Anknüpfung an die dazu jüngst aufgekommene Diskussion (O’Driscoll 1996, 2007, 2011; Bargiela-Chiappini 2003, Haugh 2009, Sifianou 2011, 2016) versuche ich die Rolle in den Blick zu nehmen, welche der Begriff des face im politeness -Paradigma übernommen hat. Wiewohl politeness nur eine Seite von facework realisiert und damit ein viel engeres Funktions-Konzept darstellt, hat sie das einschlägigere facework scheinbar völlig aus dem ‚Gesichtsfeld‘ verdrängt. Mich interessiert daher das Verhältnis von face und politeness unter epistemologischen und ontologischen Vorzeichen, und ich möchte dazu einige Überlegungen aus semantischer und pragmatischer Sicht anstellen, die ich in früheren Publikationen angestoßen habe (Held 2014, 60 Gudrun Held 2016a,b) und die generell auf der grundlegenden Erkenntnis der unabdingbaren Bindung von Sprache an (rational handelnde) Subjekte fußen. Denn face ist in seiner primären Bedeutung die Kristallisation des Subjekts schlechthin - aufgrund seiner Natur steht der Begriff nicht nur metonymisch für die individuelle Person als Vertreter seiner Kultur und Lebenswelt, sondern wird auch metaphorisch zum Wende- oder Schnittpunkt zwischen deren Innen- und Außenseite, also zwischen Fühlen und Denken zum einen, und Anzeigen und Mitteilen zum anderen. Diese These lässt sich mit einer klassischen lexikographischen Analyse des Terminus face aus dem lat. FACIES in Kookkurrenz mit dem durchsichtigeren lat. VISUM stützen. Eine nähere Untersuchung des lateinisch-romanischen Repertoires für das Wortfeld ‚Gesicht‘ und seinen deutschen Übersetzungen sowie deren idiomatische Kollokationen hat gezeigt (cf. Held 2016b), dass der lateinische Bezeichnungsbefund zwischen FACIES - VISUM - VULTUS eine klare Differenzierung zwischen dem biologisch-natürlichen, dem sozio-kulturellen (weil gezeigten / erblickten) und dem bewegten, gemachten ‚Gesicht‘ aufweist. Ganz konträr zur Wurzel des engl. face aus FACIES ist das lateinische Perfekt- Partizip VISUM - und in der Folge die Lehnübersetzung ins Deutsche als ‚das Gesichtete‘ - per se ein bildhafter Ausdruck. Indem es die Dialektik von Sehen und Gesehen-Werden wörtlich wider-spiegelt, hat es meines Erachtens genügend metaphorische Kraft, das Soziale als die zentrale Schnittstelle zwischen den Menschen zu erklären. Als der anatomische Sitz der Sinne bzw. des Gehirns hat das Gesicht die intrinsische Fähigkeit anzuschauen; es wird als solches aber immer auch von anderen Gesichtern angeschaut und ist demnach - aufgrund der Mode der meisten Kulturen - das von den Mitmenschen ungehindert und direkt ‚Gesichtete‘. Ebenso zeigt die Untersuchung der Kollokate des Begriffs an, dass die um face gebildete Idiomatik ursprünglich auf bestimmte ‚Gesichtspraktiken‘ verweist. Diese werden wiederum metaphorisch umgedeutet auf soziale Handlungen, die je nach Selbst- oder Alter -Bezogenheit in Status, Aktionsart und Zweckhaftigkeit sowie kulturspezifischer Auslegung stark differieren. Den Befunden nach lässt sich ontologisch unterscheiden zwischen ‚Gesicht haben‘ vs. ‚Gesicht verlieren‘ und ‚Gesicht machen‘ zum einen, und (jemandem) ‚Gesicht geben‘ (in Form von bedrohen, zerstören, bestätigen, etc.) zum anderen 2 . Der englische Begriff face als ‚Gesicht‘ ist somit schon aus kultursemantischer Sicht eine komplexe Einheit aus biographischem Besitz (physiologischer Be- 2 In dieser semantischen Diskussion geht es hier nicht um den Ursprung und den interkulturellen Transfer der bekannten Wendungen to lose / to save face , der in der Literatur aus semantischer und pragmatischer Sicht oft diskutiert wird (cf. dazu auch Held 2014a). Der face -Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework 61 schaffenheit), kollektivem Zeichen(system) (ästhetischer Qualität) und kommunikativem Kanal. Zum einen macht das Gesicht als das einzigartige Gut einer Person das Individuum aus; zum anderen ist es auch ein soziales Gut, d. h. es ist immer locus - und beziehungs-determiniert, je nachdem ob und wie es von den Anderen wahrgenommen und bewertet wird. Daher erfüllt es alle semantischen und ‚grammatischen‘ Bedingungen, um vom biologischen zum soziologischen Konzept zu avancieren und sich dort als ein plausibles Instrument zur Erfassung sozialen Handelns i. a. zu etablieren. Goffman nimmt diesen Bedeutungsradius des face -Begriffs als erster auf und gründet darauf seine bekannten sozialpsychologischen Konzeptionen 3 . Sie führen erst in der Auslegung von Brown & Levinson 1978 / 87 zur expliziten Verbindung mit Höflichkeit. Bei Goffman gilt face noch als allgemeiner „positive social value“, der in der sozialen Interaktion zwar richtliniengerecht („in terms of approved social attributes“, Goffman 1967, 222) demonstriert und entsprechend beachtet werden soll. Face ist dabei keineswegs nur auf die konfrontative Begegnung in dyadischer Kommunikation eingeschränkt, wo es sich lediglich als sprachliche Entschärfung bedrohter Interaktanten veräußert. In der bekannten Umschreibung als das „public self image“ hat face vielmehr eine öffentliche Dimension, d. h. es gehört zum Geschick des sozialisierten Ich, Ausdruck und Eindruck stets aufeinander abzustimmen (cf. das berühmte „impression-management“), und dabei - gleichsam wie auf einer Bühne - ein entsprechendes Selbstbild zu etablieren und zu reproduzieren ( Image ! ). Goffman legt sein Konzept auf das handelnde Subjekt hin an, empfindet dieses im Sinne des Symbolischen Interaktionismus Meads aber als projizierte Dualität zwischen I und me (cf. Mead 1967). Er konstruiert damit ein aktives, aber hoch narzisstisches Ich, das kontinuierlich vom „deep rooted concern with what others think of us“ geprägt ist und so vom Blick der Anderen als ein sog. „looking-glassself “ völlig abhängig zu sein scheint (Haugh 2012b, 48). Aus meiner Sicht wäre face demnach der reflexiv erworbene innere Wert der Person. Er ist gleichsam ein ‚sakrales‘ Gut und daher verehrenswürdig. Diese Verehrung geschieht in der Kommunikation dauernd und zwar durch facework . Facework ist daher der empirische Kanal des face . Soweit meine Interpretationen von Goffmans Grundgerüst, das grob reduziert werden kann auf die Eindruck-Ausdruck-Relation zwischen face und facework . Indem der ‚Stellen-Wert‘ dieses Eindrucks im sozialen Gefüge immer auf ein 3 Ich gehe hier nicht auf die vielerorts immer wieder vertretene These ein, wonach face - ungeachtet seiner metaphorischen Bedeutung - eine Lehnübersetzung aus dem Chinesischen (lien - mien-tzu) ist (cf. Held 2016a). Ich übernehme daraus jedoch voll und ganz die Meinung, face als „sociological, rather than psychological construct“ zu verstehen (Ho 1976: 876). 62 Gudrun Held Gegenüber angewiesen ist, welches ihn nach normativen Richtlinien (lines) beurteilt, kommen bald moralisch-ethische Aspekte ins Spiel. Kommunikative Begegnungen funktionieren eben dann reibungsfrei, wenn die Interaktanten einander wechselseitig Wertschätzung und Protektion zollen. Die socially attributed aspects of self (Watts 2003: 125) werden - unter der idealtypischen Annahme einer dyadischen Kopräsenz rationaler Interaktanten ( face to face ! ) - demonstrativ ausgehandelt und auf diese Weise nachvollziehbar ‚abgebildet‘. Facework , bei Goffman generell verstanden als „the actions taken by a person to make whatever he is doing consistent with face“ (Watts 2003, 125), macht damit face sprachlich nachweisbar; es darf daher zurecht als „the verbal face of face“ angesehen werden (Tracy 1990). Indem es aber Ziel jeder gelingenden Interaktion ist, die soziale Ordnung nach ethischen Prinzipien aufrechtzuerhalten, geraten gerade Momente in den analytischen Blickpunkt, wo es darum geht „to counteract incidents“ und facework als Abwehr von face -Bedrohung zur Rettung guter Beziehungen analytisch dingfest gemacht werden kann. Damit wird zwei Sichtweisen Vorschub geleistet - der defensiven und der protektiven. Beide machen den Konflikt zum kommunikativen Verhandlungsobjekt und bauen darauf ihre theoretischen und methodologischen Konzeptionen auf. Es sind dies in der (linguistischen) Pragmatik die politeness -Theorien, und in der Sozial-Psychologie die face-negociation und face-management -Theorien. 4 Ich wende mich hier lediglich den auf Brown & Levinson beruhenden politeness -Theorien zu. Aufgrund ihrer starken Präsenz und globalen Beanspruchung in der modernen Linguistik bringen diese den Terminus face und die davon abhängigen Konzepte in das allgemeine Bewusstsein ein und konstituieren - unter Verlust des Begriffs des faceworks - das scheinbar unabdingbare Verhältnis von face und politeness - ja, zwischen face und ‚Höflichkeit‘ scheint - ungeachtet jeglicher ontologischer Problematisierung - eine zwingende kausale Interdependenz zu bestehen, die meines Erachtens den hohen Anwendungs- Wert des Paradigmas erst ausmacht. Dahinter verbergen sich jedoch zahlreiche Trugschlüsse, die im Folgenden aus meiner Sicht näher zur Sprache kommen sollen. In den politeness -Theorien wird face zum normativen Bezugszentrum zur Einschätzung des Konfliktpotentials von Handlungen und dem Grad seiner Abfederung. Ohne genau zu definieren, was unter emischen Gesichtspunkten mit face jeweils genau gemeint ist, wird es dennoch zum generellen Maßstab für Höflichkeit und seiner etwaigen sprachlichen Phänomenologie erhoben. Wenn 4 Verwunderlicherweise werden die face -Theorien (cf. Ting-Toomey 1994; Hopkins 2015) von der Linguistik kaum rezipiert. Viele ihrer Thesen stimmen jedoch mit den politeness - Paradigmen stark überein und ergänzen diese sinnvoll durch den starken Kultur-Bezug und die damit verbundene interkulturelle Einsetzbarkeit (cf. Held, 2016a,b). Der face -Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework 63 die Grundkonzeption von Brown & Levinson darauf angelegt ist, „to show how degrees of politeness can be expressed and determined in a principled way using the concept of ‚face‘,“ und so „seemingly disparate phenomena found in various languages by universally valid principles“ tatsächlich zu erklären (Matsumoto 2009, xi), dann braucht es einen allgemein gültigen methodisch umsetzbaren Angelpunkt zwischen Theorie und Praxis. Dieser wird mit dem Konzept der face-wants kreiert, d. h. das abstrakte face wird in ein Korrelat an Wünschen bzw. Bedürfnissen umgedeutet, welche jede sozialisierte Person grundsätzlich entwickelt hat, als solche in die jeweilige Kommunikation automatisch einbringt und dort entsprechend befriedigt wissen möchte. Es dürfte also gerade die Annahme der face-wants sein, welche die Praktikabilität des Paradigmas ausmacht, gleichzeitig aber seine problematischen Grundsteine legt, und zwar aus folgenden Gründen: • mit wants wird ein ‚plastischer‘ Wende-Punkt von der ideellen Innenseite auf die manifeste Außenseite etabliert; • die Übersetzung in das dichotomische Korrelat von inneren Werten (positive vs. negative face) in darauf bezogene Handlungs-Strategien (positive vs. negative politeness) macht face inhaltlich greifbar; • derartige Strategien sind nur in einer ongoing communication als wechselseitiger account im turn -Abtausch nachweisbar, wobei Dyadik, Ko-Präsenz und (alltägliche) Mündlichkeit als die idealen Grund- und Bemessensbedingungen gelten; • nachdem die wants besonders unter Bedrohung des kommunikativen Gleichgewichts deutlich werden und gerade dann nach entsprechender ‚Behandlung‘ rufen, eignen sich konfliktäre Handlungen und deren Ausgleich besonders zur Sichtbarmachung von Höflichkeit in Sprachgestalt - nicht mehr face ist demnach der empirische Anhaltspunkt der Paradigmen, sondern der berühmte FTA , der face-threatening act - er avanciert zum idealen Analyse- Forum höflicher Phänomene. Politeness und face gehen somit scheinbar eine Symbiose ein, welche sich mit dem zunehmenden Einsatz des Paradigmas als Funktions-Form-Korrelat immer mehr festigt. Mit der Entwicklung zu weniger form-gebundenen, sondern diskurs-inhärenten und interaktiv ausgehandelten Auslegungen (s. o.) hin wandelt sich allerdings diese Haltung. Das Verhältnis scheint zu ‚hinken‘ und ist bald dabei, sich unter neuen methodologischen Standpunkten aufzulösen. Die Diskussion weist daher drei Stadien auf: a. das normative Stadium mit der (anfänglich) unabdinglichen Bindung von politeness an face (Brown & Levinson-Schule), welches als eine universell gül- 64 Gudrun Held tige, moralistisch beeinflusste Richtlinie gilt, die von rationalen ‚Sprechern‘ im Sprachhandeln strategisch erfüllt wird; b. das interpretative Stadium, wo die Ausformung und Auslegung von sprachlichen Äußerungen im ongoing discourse je nach kultur-spezifischer, beziehungs- und frame-geprägter Sichtweise unterschiedlich erfolgt und eine funktional bedingte Auseinander-Entwicklung bzw. langsame Loslösung von politeness und face bewirkt (Watts 2003, Locher 2008, O’Driscoll 1996, 2007, 2011, Arundale 1999, 2006, 2009, Sifianou 2011, 2016,); und schließlich c. das ‚interaktionale‘ Stadium, wo die Ablösung bzw. völlige Trennung von face von politeness (man beachte die Reihenfolge der Komponenten! ) erfolgt ist und daher das Desiderat besteht, sie „as objects of studies on their own right“ (Haugh 2012b: 53) zu behandeln. Grund dafür ist die stets multiple Natur beider Konzepte und deren immer beziehungs-abhängige, interaktional verhandelbare und stets neu verhandelte Geltung (Spencer-Oatey 2007, 2011; Bargiela Chiappini 2009; Haugh 2009, 2012b; Arundale 2009, 2013). Dass das Verhältnis zwischen face und politeness also ein höchst problematisches ist, zieht sich durch die ganze politeness -Forschung, ja etabliert dort mittlerweile eine Diskussion (cf. Bargiela / Haugh 2009, Bogdanowska-Jakubowska 2010, 2016), die sich an der Theorie und der Anwendung auf die verschiedensten Daten gleichermaßen entzündet und dort immer wieder angesichts der Spannung zwischen Universalität und Kulturspezifik einerseits und zwischen inneren Wert-Annahmen und äußeren Erscheinungsformen andererseits aufflammt. Sie wird dann besonders eklatant, wenn westliche mit östlichen Wertkonzepten und Umgangsformen verglichen oder miteinander konfrontiert werden. Bei der Untersuchung chinesischer und japanischer Diskurse etwa (Scollon / Scollon 1994, Morisaki / Gudykunst 1994, Kadàr / Mills 2011) zeigt sich - wohl gemerkt immer aus dem im Paradigma üblichen englischen Metablick - schnell, dass sowohl face wie politeness emisch vom westlichen Verständnis derart abweichende ‚Bedeutungen‘ haben, dass sie kaum im etischen Konzept politeness 2 fruchtbar eingeordnet werden können. Ich versuche, dieses Fangnetz mit einigen Argumenten zu ‚entflechten‘, die den unterschiedlichen Status der Begriffe in den Blick nehmen: a) das terminologische Argument Die problematische Beziehung von face und politeness scheint schon in der Handhabung und Auslegung der Terminologie selbst und deren disproportionalen Übernahme in die verschiedensten Objekt- und Metasprachen der politeness - Forschung begründet zu sein: face wird ohne kernsemantische Aufschlüsselung meist überall als englischer Fach-Begriff entweder beibehalten oder mehr oder Der face -Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework 65 weniger wörtlich entlehnt (etwa frz. face , it. faccia , span. faz, dt. Gesicht 5 ); politeness wird hingegen meist mit kultureigenen Termini übersetzt - wie eben im Dt. mit ‚Höflichkeit‘. Damit verliert sich die epistemologische Ambivalenz als politeness 1 , der kulturimmanenten Laien-Lesart, und politeness 2 , dem abstrakten Erklärungs-Modell für soziale Interaktion überhaupt, worin - wie oben schon angesprochen - sämtliche politeness 1n enthalten sein müssen. Dieses Problembewusstsein scheint beim einheitlichen face -Begriff erst gar nicht bzw. viel später auf. Erst als sich seine emischen Implikationen durch immer mehr Daten hindurch als zunehmend verschieden erweisen und damit theoretisch immer schwieriger in einem gemeinsamen Kern fassbar sind, wird der Wunsch laut, auch beim face -Begriff unbedingt zwischen kulturspezifischen face 1n und einem abstrakten Dachkonzept face 2 , der diese erklärt, deutlich zu unterscheiden (cf. Haugh 2012a). b) das inhaltliche Argument Mit der Metasprache wird jedoch auch der ethnozentrische Filter mitgeliefert, durch den die Konzepte inhaltlich interpretiert werden. Während politeness etwa als dt. Höflichkeit, it. cortesia, frz. politesse, chin. limào , jap. wakimae , hebr. nimus , gr. evgenia , russ. vezlivost 6 - um nur einige typische zu nennen (cf. die Zusammenstellung in Watts 2003: 14-16) - in der jeweiligen Alltagskultur verankert ist, ist face kein Alltagsbegriff und Laien meist völlig unbekannt. Höflichkeit & Co. werden daher in der Forschungsliteratur ohne viel Nachfrage als semantisch gut greifbare Kategorie empfunden und so vor allem in Form des gängigen Adjektivs - ‚höflich‘ - zur Qualifizierung von Handlungen, Personen und, wie wir wissen, ursprünglich auch von Formen (etwa wie dt. bitte und danke ) verwendet. Schließlich macht sich aber auch die theoretische Abstraktion dieses Qualitätsprädikat zunutze und lässt daraus gleichsam onomasiologisch eine plausible, weil scheinbar universal geltende Untersuchungskategorie entstehen. Face ist hingegen nur schwer übersetzbar; seine Bedeutung als Fachterminus ist für Laien undurchschaubar und kann selbst von Forschern höchstens meta-pragmatisch eruiert werden. Wo der ihm einfach zugeordnete, im Paradigma so zentrale Norm-Gehalt daher genau liegt, ist weder theoretisch, noch praktisch klar auszumachen. 5 Die im Deutschen gängigere Übersetzung als Image bezieht sich eher auf Goffmans Konzeptionen (siehe oben), wird in frühen Arbeiten zur Höflichkeit noch beibehalten, dann aber auch in der deutschen Diskussion zugunsten des englischen Fachbegriffs aufgegeben. 6 Es geht mir hier nur um die geläufigen Begriffe für ‚Höflichkeit‘ - dass dazu auch noch Kookurrenzen im Wortfeld existieren (wie z. B. im Französischen neben politesse auch courtoisie , etc.) führt in das weite Feld der kulturhistorischen Implikationen und der Metapragmatik, das hier nicht angerissen werden kann. 66 Gudrun Held Die politeness -Forschung versucht trotzdem seit ihren Anfängen dem face - Begriff emisch und etisch beizukommen. Zwei Vorgehensweisen werden dazu mehr oder weniger bemüht: Die eine versucht, in den jeweiligen Kulturen nach möglichen Übersetzungsäquivalenten zu suchen; die andere versucht, im sprachlichen Repertoire konkurrierende Begriffe aufzuspüren und Laien und Forscher nach deren Paraphrasen zu fragen. Aus der Zusammenstellung von Haugh (2012b, 54), die ich hier nicht mit den einzelnen sprachlichen Termini wiedergeben kann, geht folgendes hervor: • Die Übersetzungen in den verschiedenen überprüften Sprachkulturen kreisen erwartungsgemäß alle um das menschliche Gesicht. • Die Synonyme oder Paraphrasen, die in verschiedenen Kultur-Gemeinschaften von Laien erfragt werden, zeigen das Spannungsverhältnis zwischen der Personen- und der Beziehungs-Zentriertheit des Konzepts. Haughs Liste vervollständigend, betreffen sie andere „saliente“ Verkörperungen der Person (wie engl. heart, front, dt. Augen, it. figura, persona… ); soziale Emotionen / Affekte (wie engl. sympathy / empathy, dt. Liebe, sp. respeto, confianza, it. gentilezza, engl.=jap. attentiveness 7 ,…) und soziale Relationen (wie engl. dependency, locus ‚place‘, status, reputation, involvement, dt.Zugehörigkeit, …), d. h. die Ausleuchtung der face -Äquivalente fördert emotionale und kognitive Aspekte des Begriffs zu Tage, die weit über die Wesenheit des menschlichen Gesichts hinausgehen. Die Angaben machen aber deutlich, dass es sich dennoch um eine Wesenheit handelt, deren man sich bewusst ist und über die daher auch gesprochen werden kann („something perceived and talked about by members of sociocultural groups“ cf. Watts/ Ide/ Ehlich 1992, 3). c) das ontologische Argument Aus diesen Befunden wird ersichtlich, dass face und politeness kaum etwas gemeinsam haben, wenn man davon absieht, dass politeness ein demonstratives Verfahren ist, das den face -Bedürfnissen, vor allem denen nach Anerkennung und Schonung, entgegenkommt - doch wie sehen diese Bedürfnisse in den jeweiligen Kulturen und deren Individuen genau aus und welches sind die Mittel, die ihnen gerecht werden? Trotz der großen Bandbreite der Diskussion und der immer wieder ins Feld geführten empirischen Daten wird nämlich etwas m. E. Entscheidendes übersehen und zwar, dass beide Konzepte einen grundunterschiedlichen ontologischen Status haben: face we have vs. politeness we do , darauf weist schon O’Driscoll 1996 hin. Face , so wird postuliert, ist ein inneres, ideelles (Wert)Konzept emischer Natur, das jeder Mensch aufgrund seiner 7 Cf. die überzeugende Studie zur attentiveness von Fukushima 2015. Der face -Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework 67 Biographie internalisiert hat. Politeness hingegen ein symbolisch manifestes Verhaltens-Konzept, das im Angewiesensein auf Beurteilung von außen ( nota bene durch Teilnehmer und Forscher gleichermaßen) damit etischer Natur zu sein scheint. Während politeness ‚materiell‘ produziert und demonstriert wird, ist face hingegen eine anthropologische Wesenheit. Um dieser beizukommen, braucht es eine wissenschaftliche Abstraktion „that can be used by scholars from all over the world to denote the same concept whatever their origin or specifics of their empirical application is.“ (O’Driscoll 2011, 23) Für face würde daher epistemologisch das umgekehrte Inkludierungsverhältnis gelten wie für politeness : der bisherige Begriff ist eigentlich ein face 2 , unter dessen Deckmantel die einzelnen face 1n erst gesucht und definiert werden müssen, um sie dann auch entsprechend subsumieren zu können. Diese ontologische Diskussion lässt sich noch weiter führen, denn wiewohl in der Realisation unklar, ist der Begriff des face aus der Analyse sozialer Interaktionen nämlich nicht wegdenkbar. Dass er zum normativen Referenzpunkt wird, auf den die Goffmanschen lines gerichtet sind, liegt an der einfachen Tatsache, dass face in jeder Art von Kommunikation, in jeder Art von sozialer Interaktion immer mit-vorhanden ist: Face kann daher nicht verneint werden, es gibt kein Unface , wie es z. B. Un- Höflichkeit oder Nicht-Höflichkeit gibt. Jede Interaktion ist daher automatisch faceinhärent, face-constituted und face-constituting , wie es in manchen paradigmatischen Positionen zurecht heißt (cf. Arundale 2006, 2009, Haugh 2009, 2012a). Die Frage nach Sein oder Nicht-Sein ist daher methodisch obsolet. Demzufolge kann das face auch nicht verloren werden, wie es die teilweise schon in vielen Sprachen populären Wendungen to lose face vs. to save face etwa glauben machen. Face ist personen-inhärent, es ist immer da. Was zerstört, bestätigt bzw. behandelt u. ä. wird, sind der kulturell hinein-interpretierte Normbzw. Wertgehalt und die damit verbundenen Ansprüche bzw. Erwartungen der Handelnden. Nur um diese festzumachen, kommt Höflichkeit ins Spiel. Sie deckt aber als strategische Antwort auf die dichotomisch aufgeschlüsselten face-wants nur einen Teil dessen ab, was eigentlich in der Kommunikation normal ist: nämlich die Begegnung von faces zu realisieren, zu signalisieren, zu steuern, zu - ich verwende wiederum die Fachsprache - „relationieren“ ( ‚relating‘ cf. Arundale 2010), kurz: immer und überall facework zu ‚tun‘. d) das konzeptuelle Argument Mit dem Fokus auf Höflichkeit und seine sozial-ethischen Grundfesten ist dieses viel realitätskonformere Konzept des faceworks aus den Augen verloren worden und kehrt erst mit der Hinterfragung des face -Begriffs und dem Ringen um seine allgemeine Erklärungskraft wieder ins Blickfeld zurück. Watts stößt diese Dis- 68 Gudrun Held kussion schon früh an mit der Graduierung des Sozialverhaltens zwischen den Polen politeness („positively marked behaviour“) und impoliteness („negatively marked behaviour“) und dem dazwischen liegenden Bereich des üblichen situationsadäquaten politic behaviour . Das politeness -Paradigma macht vor allem wegen der kulturellen Differenzen im face -Konzept einen turn zur pragmatisch allgemeiner greifbaren im-politeness . Generell zeigt sich damit ein deutlicher Trend „for developing a larger framework that emcompasses both face and im / politeness“ (Haugh 2012b, 53): Ansätze wie die Rapport Management Theory (Spencer-Oatey 2000, 2007), das Relational Work (Locher 2008, Locher/ Watts 2005) und seine Weiterführung in die Interpersonal Pragmatics (Locher / Sage 2010, Haugh / Kadàr / Mills 2013) versuchen Abhilfe zu schaffen und überdecken so immer wieder die Tatsache, dass eigentlich mit facework die Lösung für die Linguistik schon parat zur Verfügung stand: Tracy hat recht, facework ist in jeglichem Sprachhandeln, also immer und überall „the verbal face of face“ (1990). Auch ganz neue Modelle werden entworfen, wie z. B. die - schon mehrfach hier genannte - Face Constituting Theory (Arundale 1999, 2006, 2010), welche face-want -bezogene Interpretationen des Handelns ganz ablehnen und damit nicht in die Falle geraten, eine Entität und einen Prozess miteinander auszuspielen. Für sie existiert face als Entität an sich nicht, es ist immer eine relationale, wechselseitig projizierte Größe, die lediglich kommunikativ realisiert wird. Haugh drückt das so aus: „on the one hand, face can be conceptualized as „persons-in-relationship“ (…) on the other hand, face can be conceptualized as relationships-constituted-in-interaction by persons.“ (Haugh 2012b, 57) Er könnte damit sagen wollen, dass face eine soziale Kompetenz ist, die das Sich- In-Beziehung-Setzen in actu ‚performt‘ und sich darin gleichzeitig auch formt. Face könnte so gesehen nichts anderes als die gelebte, vercodete communicatio selbst sein. Das Neue an solchen Zugängen ist, dass sich communicatio - meist unbewusst und intuitiv - als Streben nach Verbindung (connection) einerseits oder nach Abgrenzung (separation) andererseits erweist. Nach Arundales alternativem face -Modell entpuppe sich face danach aus dem Prozess des relating (2010) und kann als eine statisch-dynamische Dialektik aus connectedness vs. separatedness gedeutet werden. Ungeachtet dieser metasprachlichen Überfrachtung (die übrigens in kaum eine Objektsprache entsprechend zu übersetzen sein wird) dürfte damit ein soziales Befinden gemeint sein, das je nach Situation den Wunsch nach Nähe oder Distanz zum Ausdruck bringt. Dieser ist allen sozialen Individuen gemein und kann damit wertfrei erklärt und behandelt werden. 8 8 Es ist allerdings zu bezweifeln, ob die in der Soziolinguistik als Nähe- und Distanz- Diskurs identifizierten Bedingungen und Sprach-Strategien (cf. Koch / Österreicher 1990 / 2012) mit diesem Modell in Verbindung gebracht werden können. Hier tut sich ein weiterer Forschungsbereich auf, der aber neuerdings bei der Untersuchung der Kommunikationsformen in den Neuen Medien stark bemüht wird (cf. Thaler 2012). Der face -Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework 69 Gleichzeitig - und dies ist ein weiterer Vorteil paradigmatischer Öffnung - dürfte es sich nicht nur um soziale Befindlichkeit, sondern konkreter um Gefühle handeln, die in Interaktionen, vor allem in konfrontativen, ausgelöst und verhandelt werden. Mit face werden diese metaphorisch und ikonisch repräsentiert - man denke an den weltweit verwendeten piktogrammatischen Code der Emoticons aus der digitalen Kommunikation, der - auf der Basis von sich ständig weiter ausdifferenzierenden Gesichtsausdrücken - solche Gefühle per se ‚verkörpert‘. Ein derart manifestes facework ikonifiziert die aktuelle Emotion und hat so gleichsam ‚pro-phrastische‘ Funktion oder aber sie begleitet andere Sprachhandlungen, die damit illokutiv modalisiert werden. Die Diskussion um face und facework führt damit von den Werten weg zu den Emotionen und rührt so an ein weites Feld, das von der Pragmatik noch viel zu wenig ausgeschöpft ist (cf. Fiehler 1990; Langlotz 2013). Als inhärente Eigenschaften von Subjekten (also faces ! ) sind Interaktionen immer auch emotionale Begegnungen - der Begriff der Emotionalität ist aber noch weniger konturenscharf, als der des face oder der Höflichkeit. Dies zeigt etwa ein jüngst in der Politikwissenschaft erschienener Titel „Emotional Diplomacy“ (Hall 2015), wo es im Rahmen von Goffmans face -Konzept um einen dem Geschichtsbild angemessenen Umgang von Staaten miteinander geht. Im Zusammenhang mit ‚Diplomatie‘ meint das Prädikat emotional hier nichts anderes als ein behutsames, respektvolles Handeln zur Vermeidung bilateraler Konflikte und politischem Schaden. Die untersuchten Strategien - schon das Titelbild zeigt eine asiatische Demutsgeste - lassen sich bedenkenlos als ‚Höflichkeit‘ ausmachen und zwar, in unserem Sinne, als kultur-spezifische politeness 1 und abstrakte politeness 2 , nur dass es sich nicht um ein zu ehrendes individuelles, sondern um ein öffentliches (diskursiv vermitteltes) Gruppenface handelt. 9 Gleichzeitig zeigt die unbedachte Verwendung von Emotionalität auch, wie dringlich es wäre, sie von Emotivität zu unterscheiden: in der Sozialpsychologie wird darunter nämlich ein Handeln verstanden, „in which affective displays are produced consciously and used strategically in a wide variety of social situations to influence (…) perceptions and interpretations of conversational events“ ( Janney/ Arndt 1992, 27) - die Nähe zur politeness liegt - wiederum - auf der Hand. Die Diskussion aus terminologischer, ontologischer und konzeptioneller Sicht ließe sich noch lange weiterführen. Ich wollte hier lediglich einige Argumente andeuten, die anhand der (Un)gleichung von face und politeness für die Rückkehr zum Konzept des facework plädieren, zumal sich dadurch Aspekte auftun, die der pragmatischen Forschung weitere Wege weisen. Es sind dies: 9 Mich hat schon immer verwundert, warum das politeness -Paradigma - zumindest meines Wissens nach - noch nie auf die diplomatische Kommunikation angewandt wurde, umfasst doch das Konzept der Diplomatie viele Verhaltensstrategien, die dem Verständnis, aber auch der Problematik von Höflichkeit entsprechen. 70 Gudrun Held • ein wertfreier Rückschluss auf die innere Wesenheit des face über die äußere Schiene der Symbolik; • eine mögliche Überwindung der kommunikations-immanenten Grenzen des politeness -Paradigmas, die ich sehe in: - der Bindung an dyadische Konstellationen, idealiter im face-to-face- Modus, - der Zentrierung auf vorrangig mündliche Realisationen in alltäglicher Konversationspraxis; - dem dominierenden Umgang mit Konflikt-Prophylaxe in Bemessung am strategischen cost-benefit -Modell; - und einem nur über die Bedürfnisbefriedigung des Anderen projizierten Selbst-Verständnis. Mit der Emanzipation aus dem politeness -Paradigma würde die Pragmalinguistik zwar das Terrain ‚verlässlicher‘ Phänomenologie verlassen, mit der man face sprachlich vermeintlich aufspüren und am ehesten systematisieren kann, es würden sich aber weitere und neue Forschungsbereiche auftun, die den diskursiven Bedingungen unserer post-modernen Gesellschaft eher gerecht werden. Mit der ihr von der Kulturphilosophie zugeordneten Bezeichnung als „faciale Gesellschaft“ (Löffler / Scholz 2004) scheint nämlich tatsächlich das face - in all seinen Lesarten - eine primordiale Rolle im gesamten öffentlichen Diskurs zu spielen. Fragen, die weit über die konfrontative Interaktion hinausgehen und die medial und technologisch sich immer weiter differenzierenden Kommunikationsformen betreffen, stellen sich mit Vehemenz ein und fordern die pragmatischen Konzepte von face sowie facework ziemlich heraus; aber auch politeness kommt nicht mehr so einfach davon, wenn man z. B. an (globale) Phänomene wie political correctness, free speech und Nettikette, oder deren Gegenteile wie shitstorms, Hass-Postings, trolling , u. ä. denkt. Angesichts dieser rasanten Ausweitung, Globalisierung und Ausdifferenzierung diskursiver Phänomene plädiere ich für mehr Anwendbarkeit der soziopragmatischen face -Konzeptionen auf die soziopolitische und mediale Kommunikation durch folgende Richtungsänderungen: i) die eine ist der return zu Goffmans demonstrativer Konzeption von face als „verehrenswürdiger“ menschlicher Grundwert, der von Akteuren auf der öffentlichen Bühne gezeigt und für ein entsprechendes „eingeweihtes“ Publikum hin inszeniert wird. Indem Ausdrücke notwendig sind, um wirksame Eindrücke zu machen, kommt das impression management wieder ins forscherische Blickfeld zurück, das die Medienkommunikation heute in Form von Selbst-Marketing weitgehend beherrscht; ii) die andere - damit zusammenhängend - ist die Loslösung des Selbst aus dem Blick des Anderen unter Hinwendung auf die in der heutigen Ego-Gesell- Der face -Begriff im Schnittpunkt zwischen politeness und facework 71 schaft so vielfältigen Formen der Selbst-Darstellung, Selbst-Einschätzung und Selbst-Optimierung (cf. Held 2014). Ungeachtet der ‚alten‘ Prinzipien des egoenhancement geht es - besonders in den Neuen Ich-Medien (facebook! ) - um Erzeugung von Gemeinschaft und Zugehörigkeit (shared face) oder um die Markierung von Aus- und Abgrenzung von Gruppen und Kollektiven in der Ära multipler Rollen und ständig wechselnder Identitäten durch Migration, Tourismus, Globalisierung, Mediatisierung und Anonymisierung; iii) eine weitere bisher von der Pragmatik noch nicht beschrittene Richtung ist die omnipräsente mediale Konstruktion der Personen durch Dritte - ich nenne dieses Mittel journalistische Personalisierung (cf. Held 2007) -, wo das jeweilige ‚Gesicht‘ mit unterschiedlichen politischen Zielen durch die verschiedenste Portraitierungsformen buchstäblich ‚gegeben‘ wird. Es entsteht die brennende Frage, ob man auch da von facework sprechen darf, indem Andere faces diskursiv formen und behandeln, d. h. damit ein face öffentlich auf- und ab-werten, es erschaffen oder zerstören, u. ä.; iv) schließlich soll das Verhältnis von face und facework unter dem Blickwinkel der Verkodung bzw. des Kanals angesprochen werden, welcher bisher fast ausschließlich der Sprache überlassen blieb. ‚Gesichtsarbeit‘ wird jedoch auch durch und mit weiteren semiotischen modes und Darstellungstechniken vermittelt, wovon das Bild heute das aktuellste und technologisch differenzierteste ist. Ob anonym oder „personalisiert“, ob bekannt oder unbekannt, faces werden multimodal in allen Facetten und mit unbegrenzter technischer Stilisierbarkeit re-produziert, als piktogrammatischer Code ersetzt oder ergänzt. Visuelle Modes rufen Emotionen hervor; sie indizieren, demonstrieren und konstruieren faces in actu zwischen connection und separation und tun dies selbst wenn das eigentliche face in der Begegnung mit anderen faces nicht sichtbar - und damit auch nicht in Gefahr! - ist ( nota bene die paradoxe Bezeichnung der Neuen Medien als „faceless media“ cf. Herring 2003); v) und nicht zuletzt noch der Hinweis auf einen Bereich, der noch viel zu wenig ausgeschöpft ist, aber gerade für die inhaltliche Füllung und kulturspezifische Ausdeutung der Fach-Konzepte von methodologischer Relevanz ist: es ist die - vor allem in der historischen Pragmatik auf Grund des fehlenden Kommunikationserlebens (cf. Paternoster 2015) - bereits erfolgreich eingesetzte Metapragmatik. Hier geht es, wie oben angedeutet, zum einen um den Zugriff auf die Metasprache anhand von sozialsemantischen und metakommunikativen Untersuchungen (wie Laien-Kommentare zum Sprachhandeln), zum anderen um die Aufarbeitung des jeweiligen offiziellen Metadiskurses (wie der Benimm- und Erziehungsliteratur) sowie des meta-kognitiven Bewusstseins, welches sich in der „Aufmachung“ des eigenen Sozial-Verhaltens reflektiert und durch die 72 Gudrun Held Meta-Ebene hindurch extrahieren lässt (etwa wie kommt die italienische bella figura zum Ausdruck, cf. Held 2016a). Mit dem Brückenschlag zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung des face -Begriffs plädiere ich konkludierend für die Öffnung der politeness - Paradigmen zu face -Paradigmen. Wiewohl in der hier geführten Diskussion keineswegs die Problematik des face als „multifaceted construct that takes on dimensions of identity issues, social cognitive issues, affective issues and communication issues“ (Ting-Toomey / Crocroft 1994, 307) entschärft werden konnte, so hat die Klärung seines ontologischen Status im Verhältnis zur politeness die Omnipräsenz dieser subjekt-inhärenten Wesenheit dennoch deutlich gemacht. Face ist demnach - im Sinne der Axiome Watzlawicks - in jeder Art von Kommunikation immer vorhanden, und zwar eben als das facework . „Facework involves the enactement of face strategies, verbal and non-verbal moves, self-presentation acts, and impression management interaction“ (Ting-Toomey 1994, 1). Ohne die strategische Seite zu sehr zu betonen, ist facework die Außenseite des face und analytisch gesehen eben sein empirischer Katalysator. Diese Art Öffnung des soziopragmatischen Blicks könnte den Ansprüchen einer sich ständig wandelnden Kommunikation zwischen Globalisierung und Ausdifferenzierung, zwischen Universalität und Kulturalität, zwischen Direktheit und Indirektheit kritischer gerecht werden und so auch die aktuelle Sprachrealität theoretisch und methodisch adäquater erfassen. Literatur Arundale, Robert B. (1999). An alternative model and ideology of communication for an alternative to politeness theory. Pragmatics 9, 119-154. Arundale, Robert B. (2006). Face as relational and interactional: A communication frame work for resaerch on face, face work and politeness. Journal of Politeness Research 2, 193-216. Arundale, Robert B. (2009). Face as emergent in interpersonal communication: an alternative to Goffman. In: Bargiela-Chiappini / Haugh (eds.), 33-55. Arundale, Robert B. (2010). Relating. In: Locher / Sage (eds.), 137-165. Arundale, Robert B. (2013). 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Locher 2 In light of the fact that politeness research has been on the map since the 1970s, this paper revisits some of the more recent developments. The scope of analysis has been widened from face-maintaining and face-enhancing data to instances of conflictual and face-aggravating behaviour. There is an increase in discussions about appropriate methodological and theoretical approaches to politeness, and we see a tendency to creatively draw on approaches from other fields (such as identity construction research). These trends have made the field an especially vibrant one that is currently witnessing a struggle to (re)define its focus. Two connected issues, clarifying and refining the scope of our research questions and efforts of developing an interdisciplinary approach within interpersonal pragmatics, are particularly discussed in an endeavour to outline potential research paths. 1. Einführung Forschung zum Thema der Höflichkeit ist zu einem festen Zweig innerhalb der Pragmatik geworden, seit Lakoff (1973), Brown / Levinson (1978 / 1987) und Leech (1893; s.a. 2014) Politeness zum Gegenstand der Linguistik gemacht haben. Diese Pioniere wollten pragmatische Variation in natürlichen Sprachdaten erklären (im Rahmen der pragmatischen Wende), dies freilich noch mit Denkmodellen, die Regeln und Universalien im Blick hatten. Ihre Arbeit sollte die nachfolgende Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern 1 Dieser Artikel ist eine Übersetzung aus dem Englischen von Locher, Miriam A. (2015). Interpersonal pragmatics and its link to (im)politeness research. Journal of Pragmatics 86, 5-10. Der Text erschien in einem der Forschung von Jonathan Culpeper gewidmeten Themenband und wird mit Erlaubnis des Verlages Elsevier verwendet. Ich danke Sixta Quassdorf für die Übersetzung. 2 University of Basel, Departement Sprach- und Literaturwissenschaften, Englisches Seminar, Nadelberg 6, 4052 Basel, Schweiz 78 Miriam A. Locher auf dem Gebiet der Höflichkeitsforschung nachhaltig beeinflussen. Ungefähr seit den 1990er Jahren beschränkte sich die Analyse von Sprachdaten allerdings nicht mehr auf gesichtsbewahrende (face-maintaining) 3 und gesichtsaufwertende (face-enhancing) Strategien; neu wurde sie auch auf Konfliktfälle und Beispiele von gesichtsschädigenden (face-aggravating) Situationen ausgedehnt. Außerdem lassen sich zunehmend Diskussionen um angemessene methodische und theoretische Zugänge zu Höflichkeit beobachten sowie die Tendenz, sich konzeptuell und methodisch von anderen Disziplinen inspirieren zu lassen (z. B. von der Identitätskonstruktionsforschung). Diese Entwicklungen bewirkten eine starke Dynamisierung des Forschungsgebietes und trugen damit zur gegenwärtigen Debatte um die (Re)Definition der Disziplin bei. Maßgeblich geprägt hat diese Auseinandersetzung Jonathan Culpeper. Als einer der ersten weitete er sein Forschungsinteresse auf Unhöflichkeitsphänomene (z. B. 1996, 2005, 2010, 2011; Culpeper et al. 2003; Bousfield / Culpeper 2008) sowie auf fiktionale und historische Daten (z. B. 1996, 1998, 2010; Culpeper / Kádár 2010; Culpeper / Demmen 2011) aus und hinterfragte hartnäckig die Grundannahmen der bisherigen Forschung (z. B. 2012; Culpeper / Haugh 2014; bzw. das großangelegte Projekt des Palgrave Handbook of Linguistic (Im)Politeness von Culpeper / Haugh / Kádár, 2017). Im Folgenden sollen zwei derzeit viel diskutierte mit diesen Entwicklungen zusammenhängende Aspekte vertieft werden, die besondere Aufmerksamkeit verdienen: das Themenspektrum der Höflichkeitsforschung sowie die Entwicklung eines interdisziplinären Ansatzes innerhalb der Interpersonalen Pragmatik . 2. Das Themenspektrum der Höflichkeitsforschung Obwohl die frühen Theorien von Lakoff, Leech und Brown / Levinson heute noch weit verbreitet sind, ist es eine wesentliche Errungenschaft des sogenannten „diskursiven Denkansatzes“ in der Höflichkeitsforschung, sich wieder einem emischen Verständnis zuzuwenden. Dieses berücksichtigt die Verhandelbarkeit von wertenden Konzepten wie ‚höflich‘, ‚unhöflich‘, ‚frech‘ usw. sowie die Einbettung der beobachteten sozialen Handlungen in den lokalen, kontextgebundenen Rahmen ihrer moralischen Ordnung (siehe z. B. Kádár / Haugh 2013, 95). Frühe Theorien können später selbstverständlich verschieden ausgelegt werden. Diese Einsicht gerät jedoch leicht in den Hintergrund, sobald Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die vorgeschlagenen ‚Regeln‘ rein mechanisch anwenden. Die diskursiven Denkansätze dagegen berücksichtigen, dass 3 In der deutschsprachigen Literatur wird der englische Terminus face i. d. R. mit ‚Gesicht‘ übersetzt; mitunter findet man auch den Begriff ‚Image‘ bzw. die englische Form ‚Face‘. Interpersonale Pragmatik und (Un)Höflichkeitsforschung 79 es verschiedene gesellschaftliche Ideologien zu Höflichkeit und Unhöflichkeit gibt, wobei die beobachteten Praktiken von diesen allgemeineren Normen auch abweichen können. Culpeper (2008, 30) versucht diesem Anspruch gerecht zu werden, indem er personelle, kulturelle, situative und kotextuelle Normen einführt, welche Interaktion beeinflussen. Kádár / Haugh (2013, 95) sprechen von a) lokalisierten Normen, b) gruppenbasierten Normen (community of practice/ organisational or other group-based norms) und c) gesellschaftlichen / kulturellen Normen, die die Bewertung von Höflichkeit mitbestimmen. Manche Kritikerinnen und Kritiker des diskursiven Ansatzes sind der Auffassung, dass die Erforschung von (Un)Höflichkeit sinnlos werde, wenn das Verständnis dessen, was (Un)Höflichkeit bedeutet, den Interagierenden selbst überlassen werde (siehe Locher 2012, 51-53, für eine Entgegnung). Zum Beispiel verwendet Haugh (2013), an sich ein Anhänger der diskursiven Strömung, in diesem Zusammenhang eine interessante Formulierung. Er beklagt, dass Locher / Watts (2005, 2008) „gezwungen sind, sich auf Aussagen zu beschränken wie ‚letztendlich muss die Bewertung, ob etwas als höflich, unhöflich usw. empfunden wird, offenbleiben‘“ (Haugh 2013, 55, kursive Hervorhebung durch die Autorin). Er fragt „[w]ie können wir als Analysierende mit Sicherheit Fälle von (Un)Höflichkeit identifizieren? “ (Haugh 2013, 55, Übersetzung der Autorin). Tatsächlich haben Locher / Watts bei der Beschreibung konkreter Fälle Sätze wie diese geäußert, sie formulieren hiermit jedoch keineswegs eine Niederlage. Vielmehr beabsichtigen sie, dem qualitativen Charakter der Analyse sowie dem diskursiven Denkansatz gerecht zu werden. Locher / Watts sind nicht zur Kapitulation „gezwungen“, sondern verstehen Formulierungen wie „es muss offenbleiben, ob das Verhalten als höflich eingeschätzt wird“ als ihrer theoretischen Grundposition entsprechend. Sie bemühen sich um eine qualitative Interpretation anhand linguistischer und nicht-linguistischer Anhaltspunkte, die die interpersonale Haltung der beiden Interagierenden zueinander sowie zu den impliziten (Un)Höflichkeitsnormen offenbaren. Eine solche Auffassung gründet auf der Überzeugung, dass gesellschaftliche Normen fließend sind und interaktiv verhandelt werden; bei gleichzeitiger Anerkennung der Bedeutung von kognitiven und historischen Vorannahmen bzw. ‚Rahmen‘ (Frames) . Wie erwähnt können weit verbreitete Auffassungen gleichzeitig mit lokalen Normen einer Community of Practice bestehen. Da Höflichkeit hier als eine Kategorie der Interagierenden selbst verstanden wird, die das eigene und das Verhalten anderer bewerten, und zwar gleichermaßen aufgrund gesellschaftlicher Vorstellungen und Wertesysteme wie aufgrund lokaler Normen, wird die formale Ausprägung von Höflichkeit jeweils variieren (vgl. auch Kádár / Haugh 2013, 69 bzgl. der Idee von Höflichkeit als sozialer Praxis). Die Existenz kultureller Unterschiede im Verständnis dessen, was Höflichkeit ausmacht, sowie die Ge- 80 Miriam A. Locher schichtsgebundenheit des Begriffs und seine verschiedenen Konnotationen in unterschiedlichen Sprachen sind hinreichend belegt worden. Daher kann es nicht das primäre Ziel sein, bestimmte Oberflächenerscheinungen als eindeutig höflich oder unhöflich zu bestimmen. Stattdessen offenbart der Ansatz von Locher / Watts die Verhandelbarkeit relationaler Bedeutung sowie das Ringen um angemessenen Verhaltens. Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass Forschungsziele variieren. Die frühen Theorien verwendeten den Begriff Politeness als Kurzform zur Beschreibung fundamentaler Prozesse bei der Bedeutungsgenerierung. Das oben von Haugh zitierte Problem bezieht sich also auf einen vergleichsweise engen Anwendungsbereich, während die frühen Höflichkeitstheorien, die sich sowohl von der pragmatischen Wende inspirieren ließen als auch zu ihr beitrugen, pragmatische Variation im Allgemeinen untersuchen wollten: Lakoff schlug aufbauend auf Grices Kooperationsprinzip (Grice 1975) und in Analogie zu syntaktischen Sprachgebrauchsregeln drei Höflichkeitsregeln vor. Leech postulierte ein Höflichkeitsprinzip (politeness principle) als eine der tragenden Säulen in seiner Theorie der Interpersonalen Rhetorik, die die Entstehung von Bedeutung generell, d. h. nicht nur von Höflichkeit, erklären sollte. In den Arbeiten von Brown / Levinson wird das Konzept des Gesichts (face) eingeführt, das die psychologischen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Distanz berücksichtigt. Diese Ansätze betonen Faktoren, welche Interaktion beeinflussen (z. B. Nähe und Distanz, Machtverhältnisse / Hierarchien, der kulturelle Kontext), und tragen so zur Theoriebildung darüber bei, wie menschliche Beziehungen durch die Wahl sprachlicher Mittel charakterisiert werden und wie sprachliche Anhaltspunkte konkrete zwischenmenschliche Deutungen begünstigen. Im Rahmen eines solchen breiteren Ansatzes zur Erforschung von Sozialität und (sprachlicher) Beziehungskonstruktion wird mit Konzepten wie Gesichtsarbeit (facework) , Beziehungsmanagement (rapport management) und Beziehungsarbeit (relational work) gearbeitet. Diesen Forschungsansatz nennen Graham / Locher Interpersonal Pragmatics bzw. Interpersonale Pragmatik, womit die relationale bzw. interpersonale Perspektive auf Interaktion bezeichnet wird, und zwar unabhängig davon, welche Analysekonzepte letztlich angewandt werden (Locher / Graham 2010, 2; vgl. auch Haugh et al. 2013, 9). Eine interpersonale Perspektive bedeutet nicht, dass ausschließlich (Un)Höflichkeitsaspekte interessieren, aber diese können durchaus im Vordergrund stehen. In den vergangenen Jahren haben Forscherinnen und Forscher eine Reihe theoretischer Konzepte und Positionen angewendet, um Interaktionen von einer interpersonalen Warte aus zu diskutieren (wobei die Kompatibilität untereinander variiert, auch wenn der klassische Höflichkeitsansatz in jedem Fall erweitert wird). So entwirft Arundale (2010a, b) eine Theorie zur Konstituierung Interpersonale Pragmatik und (Un)Höflichkeitsforschung 81 von Gesicht, die, wie er betont, nicht mit Höflichkeitstheorie gleichzusetzen ist. Langlotz (2010, 2015) entwickelt eine sozio-kognitive Theorie situationsgebundener sozialer Bedeutung. Um Interaktionen unter Berücksichtigung ihres lokalen und sozialen Kontexts zu diskutieren, übernehmen Locher / Watts (2005, 2008) das Konzept der Rahmen-Analyse (frames) , das aufgrund seiner historischen und kognitiven Dimension und Flexibilität besticht. Im Gegensatz dazu schlägt Garcés-Conejos Blitvich (2013) vor, Faircloughs Konzepte Diskurs, Genre und Stil zu verwenden, um die dynamische Herausbildung von Normen zu beschreiben. Spencer-Oatey (2007, 2011), Locher (2008, 2012, 2014) und Garcés-Conejos Blitvich (2009) weisen darauf hin, dass eine enge Verbindung besteht zwischen Identitätskonstruktion und Höflichkeitsfragen, wie sie zuvor in der (Un)Höflichkeitsliteratur diskutiert wurden. Langlotz / Locher (2012, 2013, 2017; Locher / Langlotz 2008), Spencer-Oatey (2011), Culpeper (2011), Culpeper et al. (2014) und Kádár / Haugh (2013) betonen die maßgebliche Rolle von Emotionen für das Aushandeln von Bedeutung und Beziehungen und knüpfen somit an Erkenntnisse aus der Psychologie und den Kognitionswissenschaften an. Culpeper / Haugh (2014, 197-198) plädieren für eine stärkere Erforschung interpersonaler Einstellungen (inkl. zwischenmenschlicher Emotionen und wechselseitiger Bewertungen). Culpeper (2011), Kádár / Haugh (2013) und Haugh (2015) loten die Aussagekraft metapragmatischer Signale aus, und Haugh (2015) konzentriert sich auf Implikaturen bezüglich (Un)Höflichkeit. Diese Übersicht ist zugegebenermaßen lückenhaft und unvollständig. Dennoch lässt sich erkennen, dass sich die jüngere (Un)Höflichkeitsforschung gerne und auf kreative Weise der Konzepte anderer Fachrichtungen bedient, um die Analyseverfahren zur Erfassung dessen, was auf der Beziehungsebene geschieht, zu verfeinern. Allerdings variiert die Rolle, die (Un)Höflichkeit in diesen Forschungsansätzen spielt, stark. Für die einen mag eine (Un)Höflichkeitsnorm einer unter vielen potenziellen Ansätzen sein, Interaktionen bzw. Bedeutungsgenerierung zu erklären. Für andere stellt (Un)Höflichkeit die zentrale soziale Größe zur Erklärung von Variation dar. Man ist also gut beraten, das jeweilige Erkenntnisinteresse, das mithilfe der gewählten Methodik verfolgt werden soll, genau zu fassen. 3. Methodenmix und Anleihen bei anderen Disziplinen Das zweite nennenswerte Thema betrifft die Tendenz, die Grenzen der ursprünglichen Höflichkeitstheorien auszuweiten und Anleihen bei anderen linguistischen (z. B. Identitätskonstruktion) und nicht-linguistischen Forschungsbereichen zu nehmen. Dies wird etwa deutlich, wenn Wissenschaftlerinnen und 82 Miriam A. Locher Wissenschaftler mehrere linguistische Methoden und Werkzeuge verwenden, was uns mit einer größeren Bandbreite von Datentypen konfrontiert (etwa erfundene Beispiele, experimentelle Daten aus Ergänzungstests und Rollenspielen, natürliche Face-to-Face-Interaktionen, geschriebene Daten, Korpusdaten, Feldforschungsdaten, Teilnehmerbefragungen). Außerdem bereichern Erkenntnisse aus anderen Disziplinen die sprachwissenschaftliche Theoriebildung. So betont z. B. Culpeper in seinem Buch über (Un)Höflichkeit (2011) den fundamental interdisziplinären Charakter von Unhöflichkeitsphänomenen, indem er auf Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie, Soziologie, Konfliktforschung und Geschichte sowie aus den Medien-, Wirtschafts- und Literaturwissenschaften zurückgreift. Nähme man die konsensorientierten Strömungen innerhalb des Spektrums der Beziehungsarbeit hinzu, wäre noch an die Bereiche Rhetorik und Überzeugungsarbeit (im Sinne von Angleichung und Abkehr) zu denken. Interessanterweise erfolgt diese Entwicklung offenbar nur einseitig: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jener Fachrichtungen, deren Erkenntnisse sich für die (Un)Höflichkeitsforschung als nutzbringend erwiesen haben, sehen oft keine Notwendigkeit, Ergebnisse aus der (Un)Höflichkeitsforschung in ihr Denken zu integrieren. Beispielsweise werden in der Gesprächsanalyse wiederholt Bewältigungsstrategien in heiklen Situationen erklärt, ohne Konzepte aus der (Un)Höflichkeitsforschung einzubeziehen (z. B. Silverman / Peräkylä 1990, Miller 2013). In ihrem Epilog zur Sonderausgabe des Journal of Politeness Research zu Gesicht, Identität und (Un)Höflichkeit räumen Hall / Bucholtz (2013) ein, dass eine verstärkte Berücksichtigung von Konzepten wie Gesicht und Gesichtsarbeit (facework) für ihre Forschung gewinnbringend sein könnte; allerdings gehen sie nicht auf Höflichkeit als eigenständigen Ansatz ein, um Identitätskonstruktion befriedigend zu beschreiben. „We have titled this epilogue ’Facing identity’ as a bidirectional call for a deeper consideration of the relationship between face and identity: to scholars of politeness to consider the place of identity in facework; and to scholars of identity to consider the place of face in identity work. Although we did not explicitly build politeness into our model of identity and interaction, we are now freshly reminded, after familiarizing ourselves with the excellent research featured in this special issue, that facework, at once rational and emotional, is fundamental to the workings of identity, as human positioning is always sensitive to the reflection of one’s image in the eyes of another.“ (Hall and Bucholtz, 2013, 130) Eine ähnliche Haltung kann in vielen Untersuchungen der Angewandten Linguistik beobachtet werden. Eine Literaturauswertung für ein Kapitel über Interpersonale Pragmatik und (Un)Höflichkeitsforschung 83 (Un)Höflichkeit im medizinischen Kontext (Locher / Schnurr 2017) ergab bemerkenswerterweise, dass es eine Fülle an Literatur gibt, die verschiedene auch für den Bereich der (Un)Höflichkeitsforschung relevante Phänomene behandelt, darunter der Umgang mit heiklen Situationen, Tabus und spezifischen Gesundheitsthemen, das Aushandeln von Wissens- und Machtunterschieden oder der Gebrauch von Humor und lexikalischen Heckenausdrücken zur Entschärfung einer Situation. Allerdings kommt ein Großteil dieser Literatur auch ohne die Erkenntnisse aus der (Un)Höflichkeitsforschung aus, um Interaktion valide zu beschreiben. Daher stellt sich letztlich die Frage nach dem Wert der frühen Theorien sowie nach der Relevanz des gegenwärtigen Ansatzes. Wenn Erklärungen zur Generierung von Bedeutung in der Interaktion ohne ein Höflichkeitsprinzip (Leech), ohne das Konzept der Entschärfung und ohne die Berücksichtigung von gesichtsbedrohenden Akten (Brown / Levinson) auskommen, was bedeutet dies für die angenommene Universalität dieser Theorien? Wie müssen die beobachtbaren Strategien interpretiert werden, wenn man sie mit allem anderen, das in der Interaktion parallel dazu abläuft, in Beziehung setzt? In welchem Verhältnis stehen die Theorien der (Un)Höflichkeitsforschung zur Historischen, Kognitiven und Angewandten Linguistik bzw. zu Identitätskonstruktion, Rhetorik und Überzeugungsarbeit? Es gibt auf diese Fragen keine simplen Antworten. Bei meiner eigenen Arbeit im Bereich der Interpersonalen Pragmatik habe ich die ursprünglichen theoretischen Konzepte zunehmend als zu eng und nicht mehr adäquat empfunden (z. B. Höflichkeit als theoretischen Begriff ohne emische Komponente), da mein Erkenntnisinteresse einen ganzheitlicheren Blick auf Interaktion inklusive der Beziehungsebene erfordert. Dies führte mich zu einem umfassenderen Begriff, jenem der relationalen Arbeit bzw. der Beziehungsarbeit, der „alle Anstrengungen, die Individuen in die Konstruktion, Aufrechterhaltung, Reproduktion und Transformation der wechselseitigen Beziehung als Agierende in der sozialen Praxis investieren“ (Locher / Watts 2008, 96, meine Übersetzung) in sich vereint. Dabei ist es weiterhin möglich, mit dem Begriff Gesicht zu arbeiten und somit gesichtserhaltende, gesichtsaufwertende oder gesichtsschädigende multi-modale Strategien während der Aushandlung solcher Beziehungen zu beschreiben. Mit anderen Worten deckt sich dieser Ansatz weitgehend mit dem oben zitierten Appell von Hall / Bucholtz (2013, 130), Beziehungsarbeit und Identitätskonstruktion miteinander zu verknüpfen; zumal das, was sich auf der Beziehungsebene abspielt, nicht das einzig relevante Phänomen in der Kommunikation ist. Diese Erkenntnis ist natürlich nicht neu, aber sie mahnt uns, Theorien nicht unkritisch und ohne holistische Analyse der Daten zu verwenden. Im Rahmen eines Forschungsprojektes zu Language and Health Online streben wir deshalb an, Inhaltsanalyse mit Strategien der Beziehungsarbeit zu 84 Miriam A. Locher korrelieren. 4 Dabei können wir beobachten, dass die Interagierenden in zentralen Momenten der Textgenese ihre Stellung zueinander ausloten, dass sie also letztlich Beziehungsarbeit leisten, während gleichzeitig Informationsaustausch, Hilfesuche, Hilfestellung usw. stattfindet. Auch wenn sich das Forschungsinteresse von einem ausschließlichen Fokus auf Höflichkeit fortbewegt hat, bleibt es weiterhin möglich, Interaktionen mit emischer Relevanz zu analysieren. Sobald akzeptiert wird, dass ‚Höflichkeit‘ ein evaluatives und kontextgebundenes Konzept und, wie oben beschrieben, Teil einer moralischen Ordnung ist, gelingt es auch, jene Passagen herauszufiltern, in denen die gegenseitigen Beziehungen verhandelt werden. Dies verhilft wiederum zu einem verbesserten Verständnis der impliziten Höflichkeitsideologien, welche historisch gewachsen sind. Es könnte sich auch herausstellen, dass diese Höflichkeitsideologien mit anderen Grundeinstellungen überlappen, diese verstärken oder ihnen widersprechen (zu denken wäre etwa an Ideologien zu Geschlecht, Klasse, Alter, Professionalität usw.). Ein weiterer Forschungsansatz innerhalb der Beziehungsarbeit könnte darin bestehen, sich auf einen gesonderten Aspekt zu konzentrieren, also etwa Unhöflichkeit oder Höflichkeit, und nicht auf eine gesonderte Praxis (wie Beratung im medizinischen Kontext, Emailanfragen von Studierenden usw.). Genau diesen Weg schlägt Culpeper (2001, 3) mit seiner Arbeit zu Unhöflichkeit ein, indem er unter Verwendung verschiedener Daten und Methoden (darunter Feldnotizen, Interviews, Fragebögen oder Korpusdaten) möglichst viele Ereignisse und Meta-Diskussionen zu diesem Phänomen berücksichtigt. Durch die explizite Bezugnahme auf Erkenntnisse der bereits erwähnten Disziplinen hebt er zudem den interdisziplinären Charakter von Unhöflichkeitsphänomenen hervor. Diese Herangehensweise ist gewinnbringend, da sie dem Themengebiet (d. h. Unhöflichkeit und Höflichkeit) gerecht wird, welches durchaus mehr als nur sprachliche Oberflächenstrukturen umfasst und es verdient, in seinem historischen, sozialen und lokalen Kontext (in verschiedenen Kulturen und sprachlichen Gegebenheiten) untersucht zu werden. Die Annäherung an einen gewählten Gegenstand von möglichst vielen Seiten ist also eine wertvolles Verfahren, das weitergeführt werden sollte. 4 Diese Methode, die für die Analyse einer englischsprachigen Beratungskolumne im Internet entwickelt wurde, basiert auf Locher (2006). Aktuell laufende Tiefenstudien von Thurnherr, Rudolf von Rohr und Locher untersuchen Beratungsemails einer britischen Universität, die computergestützte Kommunikation zwischen Mitgliedern einer Selbsthilfeplattform sowie professionelle Gesundheitswebseiten zum Thema Rauchstopp. Interpersonale Pragmatik und (Un)Höflichkeitsforschung 85 4. Abschließende Bemerkungen Dieser kurze Beitrag zur Würdigung der herausragenden Arbeit Culpepers auf dem Gebiet der (Un)Höflichkeitsforschung soll nicht dahingehend missverstanden werden, dass hier einer der angesprochenen Forschungsansätze favorisiert würde. Vielmehr wird dafür plädiert, dass verschiedene Analyseansätze gut miteinander kombinierbar sind. Dabei dürfen die (teilweise sehr feinen) Unterschiede in den Forschungsfragen nicht außer Acht gelassen werden. Es sind letztlich die konkreten Forschungsziele, die die Wahl der Analysewerkzeuge im Bereich der Interpersonalen Pragmatik bestimmen und die sehr weit auseinanderliegen können - sie reichen von der Suche nach Universalien in linguistischer Interaktion und in der Gesellschaft bis hin zu kleinteiligen Untersuchungen von Beziehungsmarkern in spezifischen lokalen Kontexten. Je nach Erkenntnisinteresse können Forscherinnen und Forscher methodische Werkzeuge und theoretische Erkenntnisse anderer Fächer auf ganz eigene Weise miteinander verbinden und so auf dem Wissen anderer aufbauen, um das jeweilige Forschungsvorhaben optimal zu verfolgen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Forschungsziel als Beitrag zum Verständnis einer spezifischen Praxis in ihrem Facettenreichtum definiert wird oder ob sich das Interesse auf individuelle, kulturelle, situative und kotextuelle Normen und Ideologien bezieht, die Interaktion globaler prägen. Literatur Arundale, Robert B. (2010a). Constituting face in conversation: Face, facework, and interactional achievement. Journal of Pragmatics 42: 8, 2078-2105. http: / / dx.doi.org/ 10.1016/ j.pragma.2009.12.021 Arundale, Robert B. (2010b). Relating. In: Locher, Miriam A./ Graham, Sage L. (Hrsg.) Interpersonal pragmatics. Berlin: Mouton de Gruyter, 137-167. Bousfield, David / Culpeper, Jonathan (2008). 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In the use of language and in communication that means that one has to do something more than required by the default case and the communication maxims. One word more, something stilistically elevated, a difficult or more complex form (e.g. subjunctive) an indirect speech act. For a strucutralist linguist it is also possible to ask: from what do polite speakers distinguish with their polite expressions? In terms of Saussure: To what are polite expressions in opposition? What do they live upon? Here we arrive immediately on the dark side of politeness. I don’t dare to pass there. Why not? (see my App „Wildes Deutsch“). Wer sich mit Höflichkeit befasst, von dem wird vielleicht zu Anfang eine Antwort auf die Frage erwartet: Was ist Höflichkeit? Dieser Art Fragen sind nun allerdings in mehrerlei Sinn naiv: Höflichkeit ist nicht irgendein vorgegebener Gegenstand, den man nach aristotelischem Muster definieren könnte. Schon bei der Frage nach dem genus proximum zeigt sich eine Vielfalt - und eine Tendenz. Duden Universalwörterbuch höflich in seinem Verhalten anderen Menschen gegenüber aufmerksam u. rücksichtsvoll, so, wie es die Umgangsformen gebieten PONS Schulwörterbuch höflich den Regeln des Anstands entsprechend ein höflicher Mensch höfliches Verhalten jemanden höflich grüßen/ um etwas höflich bitten 90 Hans Jürgen Heringer Höflichkeit (Meibauer 2008, 197) Ausdruck sozialer Distanz oder Nähe mithilfe sprachlicher (Duzen/ Siezen) oder nichtsprachlicher Mittel. Wikipedia meint doch wirklich: „Die Höflichkeit […] ist eine Tugend …“. Da wird dann auch noch eine bemerkenswerte Gleichsetzung eingeführt. In meiner Auslassungsklammer heißt es nämlich: „oder Zivilisiertheit“. Wie man wohl darauf kommt? Introspektion eines Individuums. Und wohin Sie das Stichwort „Tugend“ führt, können Sie leicht erproben. Wollte man in dieser Weise verfahren, wäre doch ein genus wie „ein Verhaltensmuster“ schon etwas besser. Aber mit empirischer Wissenschaft hat das wenig zu tun. Auch viele (die meisten? ) Linguisten gehen nicht gerade empirisch vor. Üblich ist es, Höflichkeit anzuhängen an ein in der Linguistik etabliertes Konstrukt. Ich denke da etwa an den üblichen Anschluss an Goffmans face-Begriff, wie es auch in der Fortsetzung bei Meibauer anklingt, wo es dann um gesichtsbedrohende oder gesichtsbewahrende Akte geht. Vom face-Konstrukt leben die meisten pragmatischen Arbeiten zur Höflichkeit seit Brown/ Levinson 1978. Wir sollten uns davor hüten, wie in vielen Untersuchungen, den Untersuchungsbereich noch weiter auszudehnen. So wuchert auch die Unhöflichkeit hin zu Akten wie Ablehnen, Vorwerfen, Belehren. Oder Höflichkeit driftet in Stilregister. Kribbliger wird es dann noch, wenn kontrastiert werden soll. Wie soll verglichen werden, wie es Japanisch geht, wie Deutsch oder Italienisch? Das Gespenst des tertium comparationis erscheint. These 1 Höflich hat (wie alle Wörter? ) eine Streubedeutung. Man könnte auch sagen: schwammig. Sich mit Höflichkeit zu beschäftigen heißt für mich erst einmal: • Was verstehen Menschen unter Höflichkeit? Und das heißt für Linguisten vor allem: • Wie wird das Wort h ö f l i c h gebraucht? Als Linguist • einen Begriff der Höflichkeit vorauszusetzen, oder • einen eigenen zu schaffen, das ist für mich nicht empirisch. Über Höflichkeit 91 Was die Empirie betrifft, könnten wir Einiges zusammensuchen aus diesem höflich -Stern. Er ist empirisch gewonnen auf Basis des Mannheimer Korpus DeReKo und verwendet die Kookkurrenzdatenbank von Belica (http: / / corpora. ids-mannheim.de/ ccdb/ ). Um einige dieser Kookkurrenten wird es auch im Folgenden gehen. These 2 Höflich bezieht sich auf Interaktion, auf Kommunikation. Höflichkeit ist eine Sache des Tuns, nicht des Seins. Ein Vokabular für höflich Kommunizieren gibt es nicht. Die vokabularistische Betrachtungsweise ist höchstens ein Anfang. Kommunikation beherrscht Vokabular. Auch wenn eine Mutter ihr Kerlchen „kleinen Hosenscheißer“ nennt. Deshalb geht es weniger um das „Was ist …“? als darum: • Wie geht es? Und zwar kommunikativ gesehen. 92 Hans Jürgen Heringer Als Beispiel das Höflichkeitssuperwort danke : Es „drückt Anerkennung des Anderen und seiner Leistungen aus.“ (Bonacchi 2013, 169 5 ) Aber Kommunikation geht etwas anders. Ich wandle des Morgens auf meinem lauschigen Uferweg, nachdenkend über Höflichkeit. Entgegen kommen mir drei schnelle Biker hoch zu Rad. Ich bleibe starr stehen. Sie brausen vorbei. Der letzte ruft mir ein freundliches „Danke“ zu. Umdefinition der Situation: Sich bedanken für etwas, was man erzwungen hat. Vorauseilendes Danke: Sie will mich zu etwas bringen. Auf schmalem Treppenweg an der Küste kommt mir eine Frau mit Krücken entgegen. Zwei Meter vor mir sagt sie: „Merci.“ Ironisch oder so tun als ob? Der kleine Knirps verliert grad seinen Euro. Die kleine Maus dabei schnappt sich die Münze und sagt: „Danke“. Ich halte meiner Frau - wie immer? - die Tür auf. Und bekomme ein Danke. Is was? - denke ich. Da können Eheleute sich ihre Gedanken machen. Eine stille Gemeinheit? Tut sie so, als täte ich es aus Höflichkeit oder normal nicht? Möchte sie sich ankratzen, versöhnen nach dem Krach von gestern? Ich bin versucht, eine Typologie für das danke zu entwickeln. Wohin das face-Konstrukt führt, kann man schon im Meibauer-Zitätchen erkennen. Als sprechend und ernst genommen das Sie als Pronomen der Höflichkeit. Siezen aber ist unter den entsprechenden Gebrauchsbedingungen der Default und Duzen desgleichen. Mit Höflichkeit hat das bestenfalls zu tun über die dunkle Seite, weil man vielleicht als unhöflich gesehen wird, wenn man sich nicht an die übliche Verwendung hält. Aber was heißt da schon üblich? Und für wen und wann? Wie das gehändelt wird, können Sie sehen an Garfinkeling-Experimenten (Heringer 2009). Einen Standard des höflichen Kommunizierens gibt es nicht. Das face einer Person ist nichts Objektives, jeder Person in gleicher Weise Zukommendes. Schon Goffman macht deutlich: Es ist etwas sozial Entstandenes und Gemachtes. Was Standardisierer als höflich sehen und proklamieren, gilt bestenfalls für standardisierte faces. Unter Prollis mag Höflichkeit anders ausschauen als unter Gentlemen. 5 Dann aber auch in den Schlussfolgerungen Bonacchi 2013, 239, in der Anmerkung (! ) 246: „… „danke“ oder „bitte“, können in bestimmten kommunikativen Situationen als „unhöflich“ oder „nicht höflich“ dienen.“ Besser spät als nie? Über Höflichkeit 93 Das face einer Person ist etwas Individuelles. Was des Einen face bedrohen könnte, muss für andere keine Bedrohung darstellen. Ja, sogar face fördernde Akte unterliegen keinem allgemeinen Standard (so wie Etikettebewusste sich das vielleicht vorstellen und vokabularistisch orientierte Linguisten). Es kommt auf das reziproke Wissen der Partner an und alles, was kommunikativ dazugehört. These 3 Für mich haben die Wörter höflich und Höflichkeit etwas Fischiges. Für mich haben sie ein Gschmäckle. Sie riechen nach upperclass und Adel gar. Schon die Etymologie zeigt, worum es ging und oft noch geht. Ähnlich die verwandten gentilhomme und etwas auch gentleman . Und es zieht sich durch die Geschichte: Es ist soziale Abgrenzung. 6 Und die Höflichen sind die Tollen. Ein anderer Punkt ist der Übersprung von höflich zu Höflichkeit . Der Übersprung von interaktivem Verhalten von Personen zu stehenden Eigenschaften der Person, gar zu irgendwas im platonischen Himmel. (Denken Sie an die Tugend! ) Gilt also etwa: Einmal höflich, immer höflich? Oder darf die Höfliche sich mal einen Ausreißer gestatten? Es gibt noch mehr Fischiges. Wer hat nicht alles versucht das Konzept „Höflichkeit“ zu läutern - bis hin zu Verbrämungen. So ist nicht unüblich: Der Höfliche verfolgt kein Eigeninteresse. Er gibt ohne haben zu wollen. Wer diese gängige Idee ernst nähme, der würde die Höflichkeitsvorkommen drastisch begrenzen. Und er würde den Selbstdarstellungsaspekt des Höflichen vergessen. Ein kleiner Business-Knigge lässt die Katze alsbald unreflektiert aus dem Sack. Zuerst das Soziale: „Mit Höflichkeit und Respekt meistern Sie heikle Situationen. Zeigen Sie, dass Sie Ihren Partner achten“. Dann aber: „Wer Benimmregeln beherrscht, profitiert im Geschäftsleben“. Und: „Wie Sie durch richtiges Verhalten punkten“. 6 In der heutigen Lehre zu korrekten Briefanreden schimmert die Tradition der Briefsteller nur noch kümmerlich in verkümmerter Form durch. Und die Fundierung hat sich anscheinend geändert. 94 Hans Jürgen Heringer Da ist die Katze aus dem Sack. Natürlich wollen Höfliche was mit ihrem Verhalten. Das ist normal und ich finde es sowieso ok. Dennoch wurden große Anstrengungen (auch von Linguisten) unternommen, diesen Aspekt wegzudefinieren. Es gelingt nur nicht. Es schlummert in der Wortbedeutung. Höflichkeit ist etwas Gutes. Hätten Sie da Zweifel? Natürlich nicht. Denn wir haben es mit einer Immunisierung zu tun: Wenn es sich herausstellt, dass höfliches Verhalten nicht gut war, war es dann noch höflich? These 4 Höflich sein heißt etwas mehr als normal tun. Höflichkeit verbraucht sich. Hier kriegt man es zu tun mit Paul Watzlawicks „Mehr desselben“. Wenn eine Handlung nicht zum gewünschten Erfolg führt, sollte man sie verstärken und wiederholen. Das führe zum gewünschten Erfolg. In einem Stück von Roda Roda gibt es unter all den Offizieren einer Garnison nur eine Frau, eine attraktive und charmante, hinter der sie alle her sind. Sie wird komplimentiert und hofiert. Ein Offizier aber kann und schafft das nicht: Er ist unsterblich in sie verliebt, drum bleibt er stumm. Und siehe da, das macht ihn besonders und weckt ihr Interesse. Also … Präsident Obama verbeugte sich einst tief vor dem Tenno. Wie tief ? Es heißt, die Japaner hätten das gut geregelt und abgestuft. Wer sich daran hält, bleibt im Default. Aber durch amerikanische Medien ging der Vorwurf, das sei zu tief und unterwürfig gewesen. So sah es das amerikanische Publikum mit seinen Augen. Wie also dosiert man? (Eine heilsame Grenze ziehen Parodie und Ironie.) Höflichkeit lebt vom Besonderen. Um besonders zu sein, braucht es das Normale, den Default. Je höflicher die Leute, umso mehr wird der Standard gehoben. Also … Watzlawick lässt wieder grüßen. Und sein Prinzip hat fatale Folgen. Es führt zur Pejorisierung höflicher Ausdrücke. Höfliche Ausdrücke nutzen sich ab. Denken Sie an die Entwicklung von frouwe . Über Ameliorisierung ist mir im Sprachwandel kaum was bekannt. Die Höflichen zeichnen sich aus. Sie müssen vielleicht hoffen, dass nicht allzu viele allzu höflich sind. 7 Höflichkeit ist im Innersten elitär. Und da ist noch ein anderes Problem mit den Grundmaximen: Mach dich selbst klein! Mach den Partner größer! Nur wie steht es mit dem elliptischen „als“? 7 Wie wäre das, wenn jeder eine Prada-Tasche trüge? (Ariely 2015, 139-141) Über Höflichkeit 95 • Als du denkst? • Als du glaubst, dass du bist? • Als du glaubst, das dein Partner glaubt, dass du bist? Sie wissen schon, wo das hinführt. Analog die zweite Maxime: • Als der Partner ist? • Als du glaubst, dass die Partnerin ist? • Als die Partnerin glaubt, dass sie ist? Da können wir sogar ein Paradox der Höflichkeit erkennen: Sich groß machen, indem man sich klein macht. Der Default genügt. Ist man nicht schon höflich, wenn man nicht unhöflich ist? Wenn man etwa Beschimpfungen und Beleidigungen unterlässt? Was ist der Default der Höflichkeit? Sich bedanken etwa ist der Normalfall. Auffällig ist, wenn man es unterlässt. „Ein Brot, bitte“ und „Guten Morgen“ ist Default. Sogar sich bedanken für etwas, das man bezahlt hat, ist Default. Insofern ist vielleicht nicht angebracht, so etwas unter Höflichkeit zu behandeln (Kerbrat-Orecchioni 2005). In der Moralphilosophie gibt es eine alte Tradition: Das Maß der Mitte. Für das gute Leben ist es das richtige Maß und der richtige Weg. Nicht so viel nach unten und nicht so viel nach oben. Der sprachliche Kontrast von höflich und unhöflich lässt ein weites, weißes Feld dazwischen. Dies zeigt die Grafik. 8 Sie zeigt den Default. 8 Es ist eine SOM nach Belica http: / / corpora.ids-mannheim.de/ ccdb/ . 96 Hans Jürgen Heringer Der Default ist das Glatte, das Normale. Der Default ist natürlich kein allgemeiner, genereller Standard. Er wird als im reziproken Wissen unterstellt. Und das mag bekanntlich auch nicht wohlkoordiniert sein. Ich halte mich an die Grundmaxime (Höflichkeit eingeschlossen): Sag, was zu sagen ist. Nicht mehr und nicht weniger. Ich möchte gern • glatt • empathisch • nett kommunizieren. Über Höflichkeit 97 Und ich möchte alle kommunikativen Möglichkeiten nutzen, die ich nutzen will und nutzen kann. Denn wozu haben wir denn diese Mittel? Noch ein Wort zu höflichem Handeln und felicity conditions: Einer hilft einer Frau in den Mantel und kugelt ihr dabei den Arm aus - ohne Absicht natürlich. War er höflich? Sollen Schussel höflich sein? Zumindest es versuchen? Und ein allerletztes: Bitte klatschen Sie nicht höflich, sondern von Herzen. Literatur Ariely, Dan (2015). Unerklärlich ehrlich. München: Droemer. Bonacchi, Silvia (2013). (Un)Höflichkeit. Eine kulturologische Analyse Deutsch-Italienisch-Polnisch, Frankfurt a. M.: Lang Brown, Penelope / Levinson, Stephen C. (1987). Politeness. Cambridge: CUP . Goffman, Erving (1971). Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heringer, Hans Jürgen (2009). Duzen und Siezen revisited. In: Ehrhardt, Claus / Neuland, E. (Hgg.): Sprachliche Höflichkeit in interkultureller Kommunikation und im DaF-Unterricht. Frankfurt a. M.: Lang, 61-75. Leech, Geoffrey (1983). Principles of Pragmatics. London: Longman. Kerbrat-Orecchioni, Cathérine (2005): Politeness in France: How to buy bread politely. In: Hickey, Leo / Stewart, Miranda (Hgg.) Politeness in Europe. Cleveland / Buffalo / Toronto: Multilingual Matters, 29-44. Meibauer, Jörg (2008): Pragmatik. Eine Einführung. Tübingen: Stauffenburg. Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation 99 Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation Irma Hyvärinen The aim of this study is to investigate the use of vielleicht and eigentlich as politeness markers in authentic spoken everyday German and in performances of Finnish GFL-learners on different levels. Having the property of hinting on alternatives, these lexems are able to express fuzzyness and indirectness which can be used as means of polite mitigation. After discussing word classification problems (ch. 2) and descriptions of these lexems in dictionaries and in research literature (ch. 3), empiric data will be presented: Ch. 4 illustrates the polite use of vielleicht and eigentlich in the BYU-Corpus of Spoken German. Corresponding samples of the learner language corpuses HY TALK and TAITO of the University of Helsinki (ch. 5) give evidence that an adequate use of the most important politeness functions of these lexems is mastered on the CEFR-level B1, partly thanks to similar usage of Finnish modal adverbials and particles, as pointed out in the concluding remarks in ch. 6. 1. Zur Einleitung Ziel meines Beitrags ist zu erörtern, welche Rolle vielleicht und eigentlich bei Höflichkeit in der deutschen Alltagssprache spielen sowie in welcher Lernphase finnische Deutschlernende diese Lexeme zur höflichen Modifizierung des Gesprächs einsetzen können. Im gesprochenen Deutsch weisen diese Lexeme eine hohe Frequenz auf. Nicht in allen Gebrauchskontexten geht es um Höflichkeit, es scheint aber, dass das den beiden Lexemen eigene Merkmal, auf Alternativen hinzuweisen, sie dazu fähig macht, (oft zusammen mit anderen Mitteln) als Vagheitsindikatoren den Direktheitsgrad der Äußerung zurückzustufen und so zur sprachlichen Höflichkeit beizutragen. Unter Höflichkeit verstehe ich situationsbezogene optimale Gestaltung reibungsloser Kommunikation, um sowohl das eigene Gesicht als auch das des 100 Irma Hyvärinen Partners zu wahren. Außerdem geht es um Korrektheit dem / den Besprochenen und auch anderen, dritten Personen gegenüber. 1 Als empirische Basis dieser Studie dienen für natives Deutsch das BYU -Corpus of Spoken German und für das Deutsch finnischer Lernender Teile des mündlichen Testmaterials des HY TALK- und des TAITO-Projekts der Universität Helsinki. 2 Im Folgenden wird zuerst die Wortklassenproblematik von vielleicht und eigentlich erörtert (Kap. 2), wonach ihre Beschreibungen in einem allgemeinen einsprachigen Wörterbuch und zwei wortklassenspezifischen Spezialwörterbüchern sowie in exemplarischen Quellen der einschlägigen Fachliteratur mit besonderer Berücksichtigung der Höflichkeitsrelevanz besprochen werden (Kap. 3). In Kap. 4 werden höflichkeitsrelevante Gebrauchsweisen der beiden Lexeme im deutschen Korpus, in Kap. 5 Ergebnisse der Analyse der Helsinkier Lernerkorpora vorgestellt. Der Schwerpunkt der Analyse liegt in qualitativer Beschreibung. Das Fazit (Kap. 6) rundet den Beitrag ab. 2. Zur Wortklassenzugehörigkeit von vielleicht und eigentlich In der modernen Grammatikforschung hat es sich eingebürgert, unter den Indeklinablia u. a. Abtönungs-/ Modalpartikeln ohne Satzgliedfunktion und Modalwörter als Satzadverbialien als eigenständige Wortklassen zu unterscheiden, so etwa Helbig / Buscha (2001, 421-439); vgl. auch Helbig (1988, 32-37) und Helbig / Helbig (1990, 12-21, 30-39). Die Abgrenzung der Klassen und die Zuordnung verschiedener Gebrauchsvarianten zu der einen oder anderen Klasse sind jedoch nicht einheitlich, und auch die Terminologie ist bunt, zum Teil sogar irreführend. Denn was bei Helbig „Modalwort“ genannt wird, heißt z. B. in der Grammatik von Zifonun et al. (1997) „Modalpartikel“, d. h. dort ist „Modalpartikel“ nicht synonym mit „Abtönungspartikel“ (ebd., 58 f.). Die Zifonun’sche Terminologie wird auch von Diewald und Ballweg in dem von Hoffmann he- 1 Aus Platzgründen wird auf eine detaillierte Erörterung des viel diskutierten, auf Goffman (1967) und Brown / Levinson (1987) zurückgehenden face -basierten Höflichkeitsbegriffs verzichtet. Kritik am Face-Konzept übt u. a. Weydt (2003). 2 An dieser Stelle möchte ich meinen Dank an Prof. Dr. Erwin Tschirner (Leipzig) sowie die Projektleiterinnen Dr. Raili Hildén und Dr. Marjo Vesalainen (Helsinki) aussprechen, die mir den Zugang zu den Materialien gewährten. Danken möchte ich auch der Research Community CoCoLaC (Comparing and Contrasting Languages and Cultures) an der Universität Helsinki (http: / / blogs.helsinki.fi/ cocolac-rc/ ) und der Bergischen Universität Wuppertal für Reisezuschüsse, die mir die Teilnahme an der Konferenz ermöglichten. Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation 101 rausgegebenen Handbuch der deutschen Wortarten (2009) verwendet. 3 In dem von Nübling verfassten Kapitel über die nicht flektierbaren Wortarten in der Duden-Grammatik (2016) findet sich wieder die terminologische Gleichstellung von „Modalpartikel“ und „Abtönungspartikel“, während die andere Klasse „Kommentaradverb“ (bzw. „Satzadverb“, „Modalwort“) heißt (Nübling 2016, 598 f., 602-606). Auch Brünjes (2014) verwendet in ihrer Monographie den Terminus „Modalpartikel“ im Sinne von „Abtönungspartikel“. In meinem Beitrag verwende ich deutlichkeitshalber die Termini „Abtönungspartikel“ vs. „Modalwort“. In der folgenden Tabelle sind zentrale Merkmale der beiden Klassen aufgelistet (vgl. u. a. Brünjes 2014, 18, Thurmair 1989, 37). Einige Merkmale sind für beide Klassen gemeinsam, sodass die Grenzziehung nicht immer leicht fällt (vgl. Nübling 2016, 598). Des Weiteren hat z. B. das Kriterium der Erststellenfähigkeit seine Grenzen: In V1-Entscheidungsfragen gibt es kein Vorfeld, in V2-Ergänzungsfragen ist das Vorfeld obligatorisch durch die Fragephrase besetzt. Die in dieser Studie interessierenden Lexeme sind in der Kerngruppe der Abtönungspartikeln vertreten: Dazu gehören aber, auch, bloß, denn, doch, eben, eigentlich, einfach, etwa, halt, ja, mal, nur, schon, vielleicht, wohl (vgl. Helbig 1988, 36, Gelhaus1998, 379, Diewald 2009, 118, Brünjes 2014, 18; Nübling 2016, 603 fügt noch nicht und ruhig hinzu). 4 Während dem Lexem vielleicht allgemein sowohl die Funktion als Abtönungspartikel wie auch die als Modalwort zugewiesen werden (Homonymie bzw. Heterosemie 5 ), wird eigentlich - trotz seiner Erststellenfähigkeit - z. B. von Helbig (1988) nur als Abtönungspartikel angesehen; dagegen wird in den meisten anderen Quellen mit sowohl Modalwort als auch Abtönungspartikel gerechnet. Im folgenden Kapitel werden für beide Lexeme einige Ansätze der Wortklassenzuordnung und Varianteneinteilung miteinander verglichen. 3 Von diesen beiden Wortklassen sind die Abtönungspartikeln viel reger untersucht worden, was sich auch im Umfang der Beiträge von Diewald (2009) und Ballweg (2009) zeigt. 4 Von Helbig (1988, 36) wird wohl nicht erwähnt und eigentlich zur Peripherie gezählt. Diewald und Nübling zählen einfach nicht zur Kerngruppe. 5 Zum Terminus Heterosemie vgl. Brünjes (2014, 18) und die dort angeführte Literatur. 102 Irma Hyvärinen Tabelle 1: Zentrale Merkmale von Abtönungspartikeln und Modalwörtern 3. Beschreibungen von vielleicht und eigentlich Schon ein exemplarischer Vergleich der betreffenden Bedeutungsbzw. Funktionsbeschreibungen im DUW = Duden Deutsches Universalwörterbuch (2011), in den Spezialwörterbüchern zu Abtönungspartikeln von Helbig (1988) und zu Modalwörtern von Helbig / Helbig (1990) sowie in den Partikelmonographien von Thurmair (1989) und Brünjes (2014) zeigt, dass das Bild alles andere als einheitlich ist. 3.1 vielleicht Vielleicht kann als Modalwort, Abtönungspartikel oder Gradpartikel fungieren. I Modalwort Im DUW (2011,1924) wird 1 vielleicht als Adverb kategorisiert; der Terminus „Modalwort“ kommt nicht vor. Es „relativiert die Gewissheit einer Aussage, gibt an, dass etwas ungewiss ist; möglicherweise, unter Umständen “ (ebd., Punkt 1). Hiermit stimmt die Beschreibung des Modalworts vielleicht als „Hypotheseindikator“ in Helbig / Helbig (1990, 270 ff.) überein: Der Sprecher bezweifelt die Faktizität von p, hält diese aber für möglich (d. h. ebensogut p wie nicht p) (ebd., 270). Laut Brünjes (2014, 170) hat das Modalwort vielleicht „Skopus über die Proposition und macht eine Einschätzung bezüglich des Wahrscheinlichkeitsgrades des dargestellten Sachverhalts“. Das meistens unbetonte Modalwort sei in Aussage- und Fragesätzen einsetzbar, erststellenfähig und als Einwortantwort auf Entscheidungsfragen bzw. als Einwortreplik auf Aussage-Vorgängersätze möglich (Helbig / Helbig 1990, 271). Um Vermutungen geht es z. B. in den folgenden Fällen: • Vielleicht kommt er morgen. ( DUW ) • Vielleicht ist er krank? (Helbig / Helbig) Der Aspekt von Höflichkeit wird in diesem Zusammenhang weder von DUW noch von Helbig / Helbig thematisiert. Dagegen macht Brünjes (2004, 170) darauf aufmerksam, dass das Modalwort vielleicht im ersten Beispiel unten die Äußerung des Moderators in einer Fernsehsendung als höfliche Bitte erscheinen lässt. Entsprechend steigert vielleicht den Höflichkeitsgrad im zweiten Beispiel (vgl. Hentschel / Weydt 1989, 12). • Dann darf ich jetzt vielleicht mal um den ersten Anruf bitten? (Brünjes) • Könnte Ihre Tochter das vielleicht für mich erledigen? (Helbig / Helbig) Auch in Ergänzungsfragen kann der Sprecher durch vielleicht die Imposition abmildern, und in vielen Situationskontexten macht vielleicht den Aussagesatz weniger aufdringlich, vgl.: • Wann kann ich Sie vielleicht in dieser Angelegenheit sprechen? (Helbig / Helbig) • Es wäre vielleicht besser, wenn er nicht käme. ( DUW ) II Abtönungspartikel Laut DUW (2011, 1924) hat 2 vielleicht (Partikel, unbetont) drei Gebrauchsweisen, vgl. a)-c): Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation 103 104 Irma Hyvärinen a) Die Partikel 2 vielleicht „dient im Ausrufesatz der emotionalen Nachdrücklichkeit und weist auf das hohe Maß hin, in dem der genannte Sachverhalt zutrifft; wirklich, in der Tat “ (ebd.). Dieser Partikelvariante entspricht bei Helbig (1988, 228 ff.) die Abtönungspartikel vielleicht 1 , die unbetont ist und „in Ausrufesätzen (mit Erst- und Zweitstellung des finiten Verbs)“ (ebd., 228) vorkommt (vgl. auch Thurmair 1989, 192 ff.). Sie drückt „ein Staunen des Sprechers über einen als außergewöhnlich empfundenen Sachverhalt (über das Wie, nicht über das Daß des Sachverhalts) aus, das begründet ist auf einer Abweichung von der Erwartung des Sprechers und einem Gegensatz zwischen Erwartetem und Eingetretenem […] (= wie man mit Erstaunen feststellen muß, das kannst du dir vielleicht nicht vorstellen! ).“ (Helbig 1988, 229) Beispiele: • Ich war vielleicht aufgeregt! ( DUW ) • Du bist vielleicht ein Träumer! (Helbig) Den letzteren Beispielsatz führt auch Brünjes (2014, 167) an, konnte aber diesen Typ in ihrem Korpus nicht belegen. Dieser Variante kommt keine Höflichkeitsrelevanz zu. b) Laut DUW ( 2011, 1924) dient die Partikel 2 vielleicht „am Anfang eines Aufforderungssatzes der Nachdrücklichkeit und verleiht der Aufforderung einen unwilligen bis drohenden Unterton“: • Vielleicht wartest du, bis du an der Reihe bist! ( DUW ) • Vielleicht benimmst du dich mal! ( DUW ) Bei Helbig (1988) kommt diese Gebrauchsweise nicht vor. Eventuell hängt das damit zusammen, dass vielleicht hier die Erststelle einnimmt, was als syntaktisches Kriterium eher für die Kategorie Modalwort spricht. Allerdings wird eine entsprechende Gebrauchsweise auch in Helbig / Helbig (1990) nicht angeführt. Brünjes (2014, 169 f.) ihrerseits sieht in Sätzen mit vielleicht im Mittelfeld die Möglichkeit von zwei Lesarten: Wenn vielleicht nicht als Modalwort (vgl. oben), sondern als „Modalpartikel“ fungiere, gehe es nicht um eine höfliche, sondern um eine nachdrückliche, brüske Aufforderung. Für Dann darf ich jetzt vielleicht mal um den ersten Anruf bitten wäre in dem Fall z. B. Jetzt schaltet doch endlich mal die Leitungen frei ein passender Nachsatz. - Es sei angemerkt, dass sowohl bei Erstals auch bei Mittelfeldposition von vielleicht die Stimmfarbe und der Situationskontext dafür entscheidend sind, ob die Aufforderung als höflich oder als brüsk interpretiert wird. c) Die Partikel 2 vielleicht „drückt in einer Entscheidungsfrage aus, dass der Fragende eine negative Antwort bereits voraussetzt oder vom Gefragten eine solche erwartet; 2 etwa (1)“ ( DUW 2011, 1924). Dieser Partikelvariante entspricht bei Helbig (1988, 230) die unbetonte Abtönungspartikel vielleicht 2 ( = etwa 1 ) in rhetorischen Entscheidungsfragen, die das Gegenteil präsupponieren (vgl. auch Thurmair 1989, 194 f.). Diesen Typ konnte Brünjes (2014, 168 f.) in ihrem Korpus nur einmal belegen. 6 In folgenden Beispielen besteht kein direkter Zusammenhang mit Höflichkeit: • Na, und wird das vielleicht bei Männern gefragt? (Nein, zumindest seltener als bei Frauen.) (Brünjes) • Ist das vielleicht keine Lösung? (Doch, es ist eine (recht gute) Lösung.) (Helbig) III Gradpartikel Im DUW (2011,1924) wird s.v. 1 vielleicht (Adv.) unter Punkt 2 eine Gebrauchsweise angeführt, die m. E. als Gradpartikel einzustufen ist: vielleicht „relativiert die Genauigkeit der folgenden Maß- oder Mengenangabe; ungefähr, schätzungsweise “ (ebd). Für Helbig (1988, 231) gilt das entsprechende vielleicht 3 vor Nominal- oder Präpositionalphrasen, die meistens eine Zahl- oder Zeitangabe enthalten, als unbetonte Gradpartikel ( = etwa 4 , ungefähr, annähernd ) (ebd.). Vgl.: • eine Frau von vielleicht fünfzig Jahren ( DUW ) • In vielleicht drei Tagen ist er wieder abgereist. (Helbig) Brünjes (2014, 165 f.) erwähnt einen weiteren Typ von vielleicht als Gradpartikel, bei dem vielleicht m. E. gegen zum Beispiel, etwa ausgetauscht werden kann (vgl. die Gradpartikel etwa 5 bei Helbig 1988, 144): • Und wenn sie einen Job finden, dann ist es vielleicht McDonalds auf Vierhundertfünfzigmarkbasis. (Brünjes) Hier wie bei manchen Korpusbelegen der vorliegenden Studie fällt es schwer, zu entscheiden, ob sich der Skopus von vielleicht über die ganze Proposition (Modalwortgebrauch) oder aber nur über die unmittelbar folgende Nominal-/ Präpositionalphrase (Gradpartikelgebrauch) erstreckt. In Vorschlägen signalisiert dieses janusgesichtige vielleicht Unverbindlichkeit und trägt insoweit zur 6 Brünjes (2014, 165-170) findet in ihrem Korpus nur sporadische Belege für die „Modalpartikel“ (= Abtönungspartikel) vielleicht : Nur vier von ihren 734 Belegen (d. h. rund 0,5 %) zählen hierher; bei den restlichen handle es sich um Modalwörter oder Gradpartikeln. Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation 105 106 Irma Hyvärinen Höflichkeit bei, als es Spielraum für andere Alternativen lässt, vgl. Korpusbelege weiter unten. 3.2 eigentlich Auch für eigentlich kodifiziert DUW (2011, 472) (neben dem Adjektiv 1 eigentlich ) sowohl ein Adverb (d. h. Modalwort) 2 eigentlich als auch eine Abtönungspartikel 3 eigentlich . Dagegen ist eigentlich in Helbig / Helbig (1990) nicht als Modalwort lemmatisiert, während Helbig (1988, 128-131) für die entsprechende Abtönungspartikel vier Gebrauchsweisen unterscheidet. Wenn man aber an den Kriterien der Erststellenfähigkeit und der Betonbarkeit festhält, 7 geht es nur bei einer der Gebrauchsweisen um eine Abtönungspartikel, nämlich bei Helbigs unbetonter Partikelvariante eigentlich 3 in Entscheidungs- und Ergänzungsfragen. Wie Thurmair gehe ich davon aus, dass eigentlich in Aussagesätzen (d. h. Helbigs eigentlich 1 und eigentlich 2 ) „aufgrund der Vorfeldfähigkeit, der Betonbarkeit und der Paraphrasierbarkeit mit ‚im Grunde‘, ‚wirklich‘ zu den Satzadverbien [d. h. Modalwörtern, I. H.] zu rechnen“ ist (Thurmair 1989, 175). Genauso kommt dem betonten eigentlich in Fragesätzen (vgl. Helbigs eigentlich 4 in Ergänzungsfragen) der Modalwortstatus zu. M.a.W.: Nur das unbetonte, nicht mit ‚wirklich‘ paraphrasierbare eigentlich in Fragen gilt als Modalpartikel (vgl. Thurmair 1989, 26 f., 175-178). 8 I Modalwort DUW (2011, 472) sieht für 2 eigentlich (Adv.) drei Gebrauchsweisen vor, vgl. a)-c). In den Bedeutungserklärungen der entsprechenden drei (vermeintlichen Partikel-)Varianten wiederholt Helbig (1988, 128 ff.), eigentlich signalisiere, dass es sich um einen schwerwiegenden, wesentlichen Gedanken geht. 7 Helbig (1988, 128 f.) räumt ein, dass eigentlich 1 in Aussagesätzen betont, erststellenfähig und - wie ein Modalwort - satzfähig ( Es ist eigentlich so, dass … ) ist. Trotzdem sei es zweckmäßig, es unter den Partikeln zu subsumieren, da die Erststellung keinen Bedeutungsunterschied ergebe. Zusammenfassend für alle vier Gebrauchsvarianten stellt Helbig (1988, 131) fest: „Die Grundbedeutung weist auf die Komponente im Grunde genommen, in Wirklichkeit, wenn man es recht betrachtet , die bei den betonten Varianten und bei Aussagesätzen offensichtlich ist, die aber wohl auch den anderen Verwendungen - über eine vermittelte Ableitungskette - zugrunde liegt.“ 8 Brünjes (2014, 134) konnte das unflektierte Wort eigentlich 835mal belegen. Davon waren ca. 23 % Abtönungspartikeln („Modalpartikeln“) und der Rest Modalwörter („Satzadverbien“). Auf das Modalwort eigentlich geht sie nur anhand eines Beispiels ein. a) Die erste Gebrauchsweise im DUW (2014, 472) wird durch in Wirklichkeit (im Unterschied zum äußeren Anschein) paraphrasiert. Hiermit können Helbigs betonte Varianten vielleicht 1 (= im Grunde genommen) und vielleicht 4 (= im Grunde genommen, wirklich, tatsächlich) (1988, 128-131) gleichgesetzt werden. Höflichkeitsrelevanz wird hier nicht vermutet. Vgl.: • Éigentlich ist er ein guter Fußballer, aber heute leistet er nicht viel. (Helbig, eigentlich 1 ) • Wie heißt er éigentlich? (im Gegensatz zu den falschen Namen, die er führt) (Helbig, eigentlich 4 ) b) Mit der Gebrauchsweise im Grunde, genau genommen; an und für sich ( DUW 2011, 1924) lässt sich Helbigs unbetontes, erststellenfähiges eigentlich 2 (= bei tieferer Überlegung, wenn man es recht betrachtet) (Helbig 1988, 129) in Aussagesätzen vergleichen: • Eigentlich hast du recht. ( DUW ) • Eigentlich hat er zeit seines Lebens hart gearbeitet. (Helbig) • Wir wollten eigentlich (ursprünglich) nach München. ( DUW ) Helbig (ebd.) vermerkt hier eine konversationelle „Hinwendung zu einem neuen Thema oder Gesichtspunkt“ - ein Merkmal, das insbesondere bei der Abtönungspartikel eigentlich in beiläufigen Fragen (vgl. Abschnitt II unten) hervorgehoben wird. Aus der Höflichkeitsperspektive erweist sich diese Beobachtung als relevant: In meinen Korpusbelegen (Kap. 4 und 5) wird das Modalwort eigentlich in Aussagesätzen oft eingesetzt, um den Hörer behutsam auf einen neuen Gedanken einzulenken. c) Laut DUW (2011,472) signalisiert 2 eigentlich (Adv.) „einen meist halbherzigen, nicht überzeugenden Einwand, weist auf eine ursprüngliche, aber schon aufgegebene Absicht hin“. M. E. könnte dieser Punkt mit b) oben vereint werden, denn auch hier könnte man eigentlich durch im Grunde genommen, an und für sich oder ursprünglich ersetzen. Zudem könnte man das einwendende Beispiel unten auch als höfliche Ablehnung verwenden, wenn die ursprüngliche Absicht nicht aufgegeben wird: • Eigentlich wollten wir heute lernen. ( DUW ) II Abtönungspartikel Für 3 eigentlich (Partikel; unbetont) werden im DUW (2011, 472) zwei situative Varianten unterschieden, von denen a) eine kritische, reservierte Einstellung und b) Beiläufigkeit ausdrückt. Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation 107 108 Irma Hyvärinen a) Laut DUW „verstärkt oder relativiert [ 3 eigentlich ] besonders in Fragesätzen eine gewisse Anteilnahme, eine vorwurfsvolle Äußerung“ (ebd.). Helbig (1988), Thurmair (1989) und Brünjes (2014) notieren keine entsprechende Variante. Vgl: • Was denkst du dir eigentlich (denn) ? ( DUW ) • Was willst du eigentlich (überhaupt) hier? ( DUW ) b) In Entscheidungs- und Ergänzungsfragen 9 signalisiert diese Partikel „eine gewisse Beiläufigkeit, einen spontanen Einfall“; als Paraphrasen gelten nebenbei bemerkt, übrigens, was ich noch sagen wollte ( DUW 2011, 472). Helbig (1988, 129 f.) bezeichnet diese Variante als eigentlich 3 und beschreibt ihre konversationelle Rolle wie folgt: Sie „[d]rückt einen neuen (bisher unbeachteten) Sachverhalt oder Aspekt aus, der für interessant und bemerkenswert gehalten wird und ins Gespräch kommt; […] signalisiert die Aktualisierung eines Gedankens, der seit längerem latent im Bewußtsein vorhanden war. Dient der Loslösung vom bisherigen Gesprächs- und Interaktionszusammenhang, gibt dem Gespräch eine gedankliche Wendung und neue Richtung, leitet häufig ein neues Gesprächsthema ein, wirkt oft freundlich oder beiläufig.“ (Helbig 1988, 129 f.; vgl. auch Thurmair 1989, 175-178) Auch laut Brünjes (2014, 134 ff.) besteht die Grundfunktion der Partikel eigentlich darin, eine Frage explizit als themen(aspekt)wechseleinleitend zu markieren. Es kann sich auch um einen beiläufigen Abstecher handeln, nachdem man wieder zum eigentlichen Thema zurückkehrt. Die Partikelverwendung ist für den höflichen Ton relevant: „Die Frage mit der Partikel wirkt höflicher und weniger abrupt“ (ebd., 136). • Kennen Sie eigentlich diese Malerin? ( DUW ) • Wie bleiben Sie denn eigentlich so schlank? (Brünjes) 3.3 Zwischenbilanz Der obigen Bestandsaufnahme gemäß können die folgenden Gebrauchsweisen der untersuchten Lexeme zur Höflichkeit beitragen: 9 Laut Thurmair (1989: 178) sind „Fragesätze mit der Modalpartikel eigentlich […] echte, aufrichtige Fragen. Der Sprecher zeigt durch den Gebrauch von eigentlich wirkliches Interesse an der Beantwortung.“ Frageförmige Sätze mit eigentlich können nicht als Aufforderungen oder rein phatische Fragen und auch nicht als rhetorische Fragen dienen (ebd.). Ähnlich Brünjes (2014, 134). • Das Modalwort vielleicht steigert den Höflichkeitsgrad von indirekten Aufforderungen und Fragen und modifiziert den Geltungsgrad von Aussagen, sodass sie weniger aufdringlich und „besserwisserisch“ klingen. • In höflichen Vorschlägen signalisiert vielleicht Optionalität und lässt Spielraum für andere Alternativen offen. Je nachdem, wie der Skopus von vielleicht interpretiert wird, geht es um Modalwort oder Gradpartikel. • Das unbetonte Modalwort eigentlich dient in Aussagesätzen dazu, den Hörer behutsam auf einen neuen Gedanken einzulenken. • Die Abtönungspartikel eigentlich expliziert in beiläufigen Fragesätzen einen Themen(aspekt)wechsel und macht diesen dadurch weniger abrupt. 4. Empirische Beispiele von Muttersprachlern Als muttersprachliches Material, um die oben besprochenen Höflichkeitseffekte empirisch nachzuweisen, dienen zwölfbis fünfzehnminütige spontane, meist interviewförmige Gespräche des BYU-Corpus of Spoken German. Die 402 Gespräche mit ca. 700 000 Wörtern wurden 1989-1993 in 60 lokal gleichmäßig verteilten Ortschaften des deutschen Sprachgebiets mit Berücksichtigung der Bevölkerungszahl sowie der Geschlechts-, Alters- und Sozialklassenverteilung gesammelt. Thematisch ging es um Zeitgeschehen, persönliche Interessen und Hobbys, örtliche touristische Attraktionen, Politik, Wetter, Kindheits- und Jugenderinnerungen, Zukunftspläne usw. ( Jones / Tschirner 2005, 2) In diesem Korpus weisen durch das Modalwort vielleicht abgemilderte höfliche indirekte Aufforderungen eine hohe Frequenz auf, denn der Interviewer (tF = der Fragende) steuert das Gespräch, indem er den Interviewten (tA = der Antwortende) möglichst kooperativ zu Äußerungen animiert. Oft erscheinen auch weitere Abmilderungsmittel wie Modalverb- oder würde -Konstruktionen. Vgl.: 10 (1) |tF Vielleicht könntest du etwas von dem Dorf erzählen oder von deinen Erinnerungen daran, wie du dort aufgewachsen bist. (|g BA 02_Würzburg) (2) |tF […] Würden Sie vielleicht als erstes so nett sein - Ihren Namen sagen und sagen wer Sie sind, was Sie hier an der PH tun. (|g BI 07_Heidelberg) 10 Hier und in den weiteren empirischen Belegen habe ich das zu betrachtende Lexem kursiviert. Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation 109 110 Irma Hyvärinen Im folgenden Beleg wird der Ton der wiedergegebenen Äußerung metasprachlich durch höflicherweise kommentiert. Der Mann, von dem erzählt wird, merkt, dass seine Gesprächspartnerin keine genaue Vorstellung von der geographischen Lage Burkina Fasos hat, und nennt deswegen den früheren Landesnamen Obervolta in einer mit vielleicht eingeleiteten aussageförmigen indirekten Folgefrage, auf die mit Nein zu antworten nicht so blamierend ist wie auf eine direkte Frage ohne Modalwort. (3) |tF […] Also zuerst hat, hat sie gesagt, also das [= Burkina Faso, I. H.] liegt sicher in Afrika, und dann hat er höflicherweise gesagt, naja, vielleicht kennen Sie Obervolta. (|g BC 01_ Bayreuth) Des Weiteren werden Behauptungen oft durch das Modalwort vielleicht entschärft. Bei Meinungsunterschieden dient das abmildernde vielleicht zur höflichen Verteidigung der eigenen Ansicht wie im Redebeitrag von tA2 in (4). In (5) zeugt tF: s scheinbare Einräumung als Reaktion auf tA: s strikt formulierte Vorgängerbehauptung von Konsensträchtigkeit; neben vielleicht schwächen das Modalverb und in gewisser Weise aber den Zustimmungsgrad. Im darauffolgenden Teilsatz wird die Meinungsdiskrepanz nochmals mit weiteren Abmilderungsmitteln relativiert. In (6) mildert tA seine kritischen Bewertungen ab (vielleicht nicht ganz gut ausgebildet; vielleicht die verkehrten Leute), um korrekter zu sein. (4) |tA1 […] Ja, aber wie gesagt, Wiedervereinigung, von mir aus, hätte - sie nicht unbedingt sein müssen. Das war also … |tA2 Ich meine, man kann es vielleicht auch so positiv sehen, daß vielleicht in einiger Zeit das doch geschafft wird […] (|g RC 08_Bonn) (5) |tF - ja hier -das stimmt vielleicht in gewisser Weise, wo man hier möglicherweise geteilter Meinung sein kann. […] (|g BD 04_Nürnberg) (6) |tF […] Würden Sie sagen, daß die Stadträte oder Gemeinderäte immer einen engen Kontakt zur Bevölkerung haben? Wie es eigentlich sein sollte, oder, oder liegt da manches im Argen? |tA Der Kontakt finde ich ist schon da. Und wenn Sie mich danach auch fragen, ob vieles im Argen liegt, das - hat glaube ich damit nichts zu tun, daß der derzeitige Bürgermeister, Oberbürgermeister Schönlein nicht auf die Bevölkerung zukäme, das ist irgend ausgelöst auch wieder eben von den Leuten, die vielleicht auch nicht ganz gut vor -eben ausgebildet sind und dann, es liegt wahrscheinlich daran, daß Gelder ausgegeben werden für Projekte und damit oft vielleicht die verkehrten Leute an den Stellen und Positionen sitzen […] (|g BD 05_Nürnberg) Mit dem Modalwort eigentlich werden oft gegenteilige Argumente oder Einwände markiert. Dabei macht eigentlich den Einwand weniger schroff, indem es die Möglichkeit anderer Auffassungen einbezieht, vgl. (7): (7) |tF Ja. Ist es da nicht ein bißchen kalt und naß da oben [an der Nordsee]? |tA Ja, wenn man Pech hat schon, aber man stellt sich schon darauf ein. |tF Ja. |tA Das ist eigentlich gar kein Problem, wenn man die entsprechende Kleidung dabeihat. […] (|g BI 05_Heidelberg) In vielen Belegen mit eigentlich geht es um Räsonierung, die man als allmähliches und dadurch nicht aufdringliches „Herantasten“ an die eigene, noch nicht voll kristallisierte Meinung bezeichnen kann: (8) |tA […] Radiohören ist eigentlich eine Sache, die man nebenbei macht. Ohne sich eigentlich voll drauf zu konzentrieren, das - wird eigentlich mehr als so eine Art Berieselung im Hintergrund benutzt. (|g BD 04_Nürnberg) Die Belege (9)-(10) veranschaulichen den Gebrauch der Abtönungspartikel eigentlich in beiläufigen Fragen als höfliche Explizierung eines Themen(aspekt)wechsels. In (9) erklärt tA zuerst, wie die Tourniers im Tanzsport organisiert sind, wonach tF das Thema wechselt, indem er sich um tA: s Herkunftsort erkundigt. Dessen Antwort enthält wiederum das heteroseme betonte Modalwort, sodass das Beispiel den Unterschied dieser beiden Gebrauchsweisen gut exemplifiziert. In (10) geht es um einen Themenwechsel: Das vereinbarte Gesprächsthema ist modernes Leben, insbesondere Verkehr. Mit eigentlich markiert tF den Wechsel auf den Teilaspekt Verkehrsmittel und zugleich auf tA: s persönliche Erfahrungsebene. Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation 111 112 Irma Hyvärinen (9) |tA Es beginnt bei einer - Kreisklasse, die heißt noch nicht Kreisklasse, sondern heißt Startklasse E und geht hoch bis zu einer - Bundesliga, die heißt dann S-Klasse, Sonderklasse. |tF -- Toll. Gut. -kommen Sie hier - kommst du hier aus der Gegend eigentlich? |tA, naja, ich wohne - schon relativ lange in Mannheim, so zirka zehn Jahre. |tF -- |tA Aber eigentlich komme - ich aus Frankfurt. (|g BK 02_Mannheim) (10) [Unmittelbar vorher stellt sich tA vor.] |tF Sehr schön. Unser heutiges Thema wäre modernes Leben, ein sehr umfassendes Thema, - vielleicht sagen wir ein bißchen was über den modernen Verkehr. Welche Verkehrsmittel benutzen Sie eigentlich auf dem Weg in die, in die, ins Bildungszentrum? (|g BD 04_Nürnberg) 5. Lernersprachliches Material Im HY TALK-Projekt wurden 2007-2010 in der Hauptstadtregion (Helsinki, Espoo, Vantaa) lernersprachliche Dialoge (a) in der 7. Klasse der Gesamtschule (langer Lehrgang), (b) am Anfang der gymnasialen Oberstufe (10. Schuljahr, langer Lehrgang) 11 und (c) in einem Fortgeschrittenenkurs des Sprachenzentrums der Universität Helsinki auf Video aufgenommen und transkribiert; (d) die Gesprächsproben des TAITO-Projekts (2008-2012) stammen von Erstsemestlern der Germanistik der Universität Helsinki. 12 Da die Gesprächsthemen und Gesamtdauern der Aufnahmen unterschiedlich sind, sind die Befunde nicht direkt miteinander vergleichbar, es können jedoch zumindest Tendenzen aufgezeigt werden. Bei (a) und (b) besteht das Material aus (i) einer Aufwärmphase, in der zwei Lernende sich mit einer deutschen Muttersprachlerin unterhalten, (ii) einem 11 Der lange Lehrgang setzt im 3., 4. oder 5. Schuljahr ein. Als Zielniveau im mündlichen Sprachgebrauch beim Abschluss der Gesamtschule (9. Klasse) und somit als Ausgangsniveau der gymnasialen Oberstufe gilt das Niveau A.2.1 des GER (2001); Genaueres hierzu s. Lahti (2017, Kap. 5.2.1). 12 Bei den Gruppen c) und d) liegen die mündlichen Fertigkeiten zumindest auf dem GER- Niveau B1. monologischen Video-Clip, in dem die Testpersonen sich einem deutschen Austauschschüler, der bald nach Finnland kommt, vorstellen, (iii) der Ankunftsszene, in der die Lernenden Gast und Gastgeber darstellen, und (iv) einem weiteren Dialog über gemeinsame Erfahrungen und Pläne. (c) Die Tests im Sprachenzentrum aus dem Jahr 2010 waren thematisch ambitiöser: Angefangen wurde mit einer Selbstvorstellung, in der das Studium und berufliche Zukunftspläne im Mittelpunkt standen, dann folgten drei Dialogausschnitte über Themen, die aus einer Liste gewählt werden konnten, etwa Kulturunterschiede, Austauschstudium im Ausland, Pro oder contra Studiengebühren, Jobben während des Studiums, deutsche Vergangenheitsbewältigung, aktuelle Ereignisse wie der zu dem Zeitpunkt aktuelle Vulkanausbruch in Island etc. Meistens war eine deutsche Muttersprachlerin anwesend, hielt sich aber möglichst im Hintergrund. (d) Vom mündlichen Material des TAITO-Projekts wurden Probandenpaare der Jahrgänge 2008 und 2011 analysiert. Thematisch ging es um das gerade angefangene Studium sowie um touristische Ratschläge an die deutsche Muttersprachlerin. In den Gesprächsausschnitten unten sind die Testpersonen mit S1 und S2 und die deutsche Muttersprachlerin mit S3 gekennzeichnet. 13 (a) Im untersuchten HY-TALK-Material der 7. Klasse (24 Lernende, Gesamtdauer 3: 11: 22) kam eigentlich nicht vor, und nur zwei Testpersonen (rund 8 %) haben das Modalwort vielleicht insg. fünfmal verwendet. Die wenigen Belege waren jedoch sinnvoll in die Kommunikation eingebettet: Es ging um höfliche Vorschläge bzw. Spezifizierung von Optionen, was man in der Freizeit unternehmen oder wie man die Details eines Ausflugs gestalten kann. Dabei dient vielleicht insoweit der Höflichkeit, als die Optionalität dem Adressaten Spielraum lässt, sodass es ggf. weniger gravierend ist, nein zu sagen. 13 Die Redebeiträge der Muttersprachlerin werden nicht analysiert, auch wenn sie typisches Höflichkkeitsverhalten enthalten, das den Lernenden als Modell dienen kann. Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation 113 114 Irma Hyvärinen (b) Das Material der gymnasialen Oberstufe war umfangreicher und die Gespräche waren auch länger (Probandenzahl 40, Gesamtdauer 5: 32: 26). Sechs Personen (15 %) haben vielleicht verwendet (insg. 15 Belege), d. h. der relative Anteil ist etwa doppelt so hoch wie bei den Siebentklässlern. Für eigentlich gab es 8 Belege von vier Testpersonen (10 %), davon sogar fünf Belege von einem Schüler, der schon öfter in Österreich war. Das Funktionsspektrum ist breiter als bei den Siebentklässlern, was z. T. auch auf den größeren Materialumfang zurückgeht. Neben ähnlichen höflichen Aktionsvorschlägen wie oben in (11)-(12) diente das Modalwort vielleicht zur Abmilderung von Meinungsäußerungen, vgl. (13), und zur höflichen Modifizierung einer Entscheidungsfrage, auf die eine bejahende Antwort nicht unbedingt erwartet werden konnte (nämlich ob der Gast die finnische Band Nightwish kennt), vgl. (14): In einem Beleg kam die themenwechselnde Abtönungspartikel eigentlich vor: Der Sprecher wechselt von der Inhaltsauf die Formulierungsebene, weil ihm das Wort Vergnügungspark nicht einfällt. Es handelt sich um eine Gesprächsformel, die als Chunk gelernt sein dürfte: (c) In den Aufnahmen des Sprachenzentrums (Gesamtdauer 2: 21: 26) kam vielleicht bei allen 14 Versuchspersonen (100 %) insg. 141mal vor. Oft ging es um Vermutungen über Zukünftiges (Modalwort) oder um ungefähre Maß- und Mengenangaben (Gradpartikel), aber auch höflichkeitsbedingte Modalwortbelege waren häufig, so etwa in gesprächssteuernden Vorschlägen zum Themenwechsel (16) und Abmilderungen von insbesondere kritischen Meinungsäußerungen (17): Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation 115 116 Irma Hyvärinen Immerhin fünf Personen (36 %) bedienten sich des Worts eigentlich (32 Belege). Dabei waren die individuellen Frequenzen hoch, z. B. hat eine Person eigentlich 11mal und eine andere neunmal verwendet. Belegt werden konnten das Modalwort zum behutsamen Einlenken auf eine kritische Meinungsäußerung, wie in (18) in Bezug auf das Flugverbot wegen des Vulkanausbruchs, sowie die Abtönungspartikel zum Signalisieren eines Themenaspektwechsels bei einer beiläufigen Detailfrage (19): (d) Aus dem Material des TAITO-Projekts wurden die Performanzen von 26 Probanden der Jahrgänge 2008 und 2011 ausgewertet (Gesamtdauer 2: 34: 32). Bei 24 (92 %) kam vielleicht und bei 16 (61,5 %) eigentlich vor. Wie in den Gruppen a) und b) war hier - aus Gründen der Aufgabenstellung - das Modalwort vielleicht in höflichen Handlungsvorschlägen recht häufig, oft mit fließendem Übergang zu Gradpartikel, wie im letzten Beleg des Auszugs (20). In (21) geht es wiederum um die Abtönungspartikel als Signal des Themenwechsels. 6. Fazit Die in der Forschungsliteratur erwähnten höflichen Gebrauchsweisen von vielleicht und eigentlich konnten sehr wohl im BYU-Interview-Korpus belegt werden. Eine statistische Auswertung war im Rahmen dieser Studie nicht möglich. Da die Interviews nur einen Redekonstellationstyp darstellen, wäre in künftigen Studien die Einbeziehung von weiteren gesprochenen Korpora mit einem breiteren Situationsspektrum sinnvoll. In den lernersprachlichen Korpora nahmen erwartungsgemäß sowohl der relative Anteil von Probanden, die die untersuchten Lexeme zu Höflichkeitszwecken benutzten, als auch die Breite von deren Funktionsspektrum mit der Lerndauer zu. Im HY TALK-Material der Siebentklässler waren Höflichkeitssignale noch rar, weil wegen des begrenzten Wortschatzes und mangelhafter Morphosyntax das Produzieren von Äußerungen überhaupt die ganze Aufmerksamkeit verlangt. Die Performanzen von Gymnasiasten (10. Schuljahr, vorausgesetztes GER-Niveau A.2.1) zeigten schon ein vielseitigeres Bild. Die Resultate hängen auch mit dem Alter der Versuchspersonen zusammen. Sowohl die Teilnehmer des Fortgeschrittenenkurses im Sprachenzentrum als auch die Erstsemestler der Germanistik (angenommenes GER-Niveau B1) waren Erwachsene mit schon weit entwickelten allgemeinen Kommunikationsfertigkeiten und einer starken berufsorientierten Lernmotivation, und sie hatten nicht nur mehr DaF-Unterricht, sondern oft auch Erfahrung authentischen Sprachgebrauchs hinter sich. Zur Höflichkeitsrelevanz von vielleicht und eigentlich in mündlicher Alltagskommunikation 117 118 Irma Hyvärinen Dass die Lernenden auf diesem Niveau die wichtigsten Höfichkeitsnuancen im Griff haben, mag darüber hinaus damit zusammenhängen, dass ähnliche Modalwörter und Abtönungspartikeln auch im Finnischen üblich sind (vgl. Husso 1981,90, Kärnä 1983, 92). Literatur Ballweg, Joachim (2009). Modalpartikel. In: Hoffmann, Ludger (Hrsg.), 547-553. Brown, Penelope / Levinson, Stephen C. (1987). Politeness. Some Universals in Language Usage (= Studies in Interactional Sociolinguistics 4). 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Methodologically, the following three points are taken into account: a) the complementary nature of politeness and impoliteness, b) the use of „interest“ as a new analytical tool, and c) the role of the third person. This article shows that politeness also has several dark sides: politeness can conceal the reality of the external world, or even something at the bottom of one’s heart. Since politeness is indirect and superficial, in some cases it has less influence than impoliteness. Since politeness may be regarded as an in-group identity marker, one sometimes excludes „others“, who cannot share a sense of in-group identity, in both conscious and unconscious ways. 1. Einleitung In der sozialen Lebenswelt trägt die Höflichkeit dazu bei, die menschlichen Interaktionen und Kommunikationen reibungsloser zu gestalten und somit die zwischenmenschlichen Beziehungen aufrechtzuerhalten und gegebenfalls zu verbessern. Wie Erving Goffman konstatiert, spielt die Höflichkeit nicht nur bei der Ehrerbietung, sondern auch beim Benehmen sowie der Bildung von Identität und dem Ausdruck von Gefühlen eine gewisse Rolle (Goffman 1975). Höflichkeit hat also verschiedene Funktionen. Sie hat jedoch nicht immer nur die positiven Funktionen, die man für selbstverständlich hält und von denen man oft bei der linguistischen Untersuchung ausgeht, sondern auch negative, die das gegenseitige Verständnis verhindern und / oder die zwischenmenschlichen Beziehungen verschlechtern können. Durch die Verwendung von höflichen Äußerungen kann man außerdem andere Menschen leicht manipulieren, 122 Hitoshi Yamashita belügen, und womöglich auch verletzen. Obwohl man in der Lebenswelt auch aus eigener Erfahrung weiß, dass die Höflichkeit nicht immer ein Zeichen für etwas Positives ist, haben die bisherigen Höflichkeitstheorien die Kehrseite der Höflichkeit nur am Rande behandelt. Diese Funktionen verhalten sich durchaus kompliziert: In der Lebenswelt kann Höflichkeit etwas Negatives bewirken und vice versa Unhöflichkeit etwas Positives. Um die negativen Aspekte der Höflichkeit und die positiven der Unhöflichkeit herauszustellen, werden in diesem Beitrag problematische Kommunikationen herangezogen. Dabei handelt es sich um unehrliche, gemeine und boshafte Kommunikationen. Anhand konkreter Beispiele wird versucht zu zeigen, welche Kehrseiten und negativen Wirkungen Höflichkeit haben kann. Als Beispiel für unehrliche Kommunikationen werden „Todai Waho“, die ‚Redeweisen der Universität Tokio‘, von Ayumu Yasutomi behandelt. Von den 20 Geboten werden wir uns in diesem Beitrag mit einem Gebot beschäftigen; nämlich, „Lammfleisch ans Ladenschild schreiben, aber Hundefleisch verkaufen“. Ein entsprechendes Sprichwort im Deutschen wäre: „Mit schönen Worten verkauft man schlechte Ware.“ Bei diesen schönen Worten bzw. „Lammfleisch am Ladenschild“ handelt es sich um eine lügnerische und / oder eine verschleiernde Funktion der Höflichkeit (vgl. Yamashita 2013). Was die gemeine unhöfliche Kommunikation anbelangt, werden hier ein Zwischenruf des japanischen Premierministers, Shinzo Abe, und ein Blogeintrag gegen „Japan“ herangezogen. Der japanische Premierminister Shinzo Abe bietet uns gutes Material für die Untersuchung der Unhöflichkeit. Er benimmt sich äußerlich wie ein höflicher und freundlicher Mensch. Wenn er aber einen Zwischenruf macht oder mit kritischen Reaktionen konfrontiert wird, zeigt er sich von einer ganz anderen Seite, nämlich als ein recht unhöflicher, egoistischer und arroganter Zeitgenosse. Seine Höflichkeit kann man als eine nur inszenierte auslegen. Sein unhöfliches Verhalten hat jedoch keine so große negative Wirkung. Des Weiteren wird gezeigt, dass ein unhöflicher Blogeintrag sogar eine größere Wirkung hat. Im Allgemeinen werden die Japaner als höflich angesehen. Leider gibt es jedoch Japaner, die zum Beispiel vor der koreanischen Schule in Kyoto mit Lautsprechern so laut und vulgär gegen Korea und die Koreaner protestierten, dass einige der koreanischen Schüler vor Angst zu weinen begannen: „Weg mit der koreanischen Schule“, „Verbrecher Koreaner“, „Spione für Nordkorea“, usw. So lauteten die Sprechchöre. Es wird versucht, zu zeigen, dass Höflichkeit auch in diesen drastischen Hassreden zu finden ist. Höflichkeit und ihre Kehrseite 123 2. Theoretische Vorüberlegungen Bevor wir auf konkrete Beispiele eingehen, sollen kurz die theoretischen Vorüberlegungen behandelt werden. Inzwischen hat es sich herausgestellt, dass Eelens Monographie A Critique of Politeness Theories für die Höflichkeitsforschung ein bahnbrechendes Werk darstellt, und dass sie eine neue Epoche eröffnet hat. Es folgten dann neuere Forschungen (vgl. zum Beispiel Eelen 2001, Watts 2003 oder Mills 2003). Diese neueren Forschungen nach etwa 2000 werden discoursive approach genannt. Charakteristika des discoursive approach sind außer der Erweiterung des Forschungsgegenstandes auf die Ebene des Diskurses, wie schon der Name sagt, die Folgenden (Bargiela-Chiappini / Kádár 2011, Kádár / Mills 2011, Yamashita 2011a, Yamashita 2011b): 1. Man unterscheidet die first order politeness (Höflichkeit 1 als die alltägliche Bewertung durch Laien) von der second order politeness (Höflichkeit 2 als wissenschaftlichen Begriff der Experten). 2. Man erweitert die Höflichkeitsforschung auf die Phänomene nicht nur der Höflichkeit, sondern auch auf die der Unhöflichkeit. 3. Während sich die bisherigen Untersuchungen auf die sprecherorientierten Strategien beschränkten, berücksichtigen die neueren Forschungen auch die Bewertung der Hörer. Diese Erweiterung des Gegenstandes halte ich für sehr nützlich und relevant für die Höflichkeitsforschung. Jedoch, wenn man die problematischen Kommunikationen behandeln will, muss man darüber hinaus noch drei weitere Punkte hinzufügen: nämlich a) die komplementäre Natur der Höflichkeit und der Unhöflichkeit berücksichtigen, b) an Stelle von „face“, „Interesse“ als neues analytisches Instrument verwenden und c) die Rolle des Publikums in Betracht ziehen. 2.1 Die Komplementäre Natur der Höflichkeit und der Unhöflichkeit In einer Arbeit habe ich die Relevanz des Benehmens nach Erving Goffman hervorgehoben, weil man sich in Japan damals hauptsächlich nur auf die Theorie von Brown und Levinson, also auf die Erforschung der Ehrerbietung beschränkte (Yamashita 2007). Damals habe ich gezeigt, dass man mit der Erforschung des Benehmens auch die Zusammenhänge zwischen Identität und Höflichkeit oder die zwischen Ideologie und Höflichkeit klären kann. Aber jetzt glaube ich, dass man diese Dichotomie an sich überwinden sollte, indem man die komplementäre Natur der beiden Begriffe berücksichtigt. Goffman selbst erklärt dazu: 124 Hitoshi Yamashita „Ehrerbietung und Benehmen sind analytische Begriffe; empirisch greifen die Handlungen, zu denen sie gehören, ineinander über. Eine Handlung, durch die jemand anderen Ehrerbietung erweist oder sie verweigert, bringt zum Ausdruck, dass er ein sich gut oder schlecht benehmender Mensch ist“. (Goffman 1986, 90) Genauso kann man annehmen, dass sich Höflichkeit und Unhöflichkeit bei einer konkreten Handlung einander überschneiden: Eine äußerlich unhöfliche Äußerung kann unter Umständen oder von bestimmten Hörern / Interaktanten als höflich angesehen werden. Umgekehrt ist es auch der Fall. Eine äußerlich höfliche Aussage könnte unter Umständen unhöflich wirken. Höflichkeit und Unhöflichkeit sollten nicht getrennt, sondern ihre komplementäre Natur berücksichtigend untersucht werden. 2.2 „Interesse“ als analytisches Instrument Die bisherigen Forschungen haben den Begriff „face“ als analytisches Instrument sehr hoch geschätzt und sich fast ausschließlich damit beschäftigt, gerade so als ob die menschliche Kommunikation nur durch die Wahrung des Gesichtes geregelt wäre. Es gibt jedoch Phänomene, die man durch die Gesichtswahrung nicht hinreichend erklären kann. Yanagida (2015) schlägt in diesem Zusammenhang anstatt „face“ den Begriff „Interesse“ vor. Es ist bekannt, dass Brown und Levinson schon in ihrer positive politeness strategy 3 „intensify interest to H“ die Bedeutung des Interesses erwähnt haben (Brown / Levinson 1987, 101-107.). Bei diesem Interesse handelt es sich jedoch um die Aufmerksamkeit des Hörers. Yanagida meint dagegen das Interesse des Sprechers: Man kommuniziert nicht nur für die Gesichtswahrung des Partners, sondern auch für die Aufrechterhaltung des eigenen Interesses bzw. für den Eigennutz des Sprechers. Wenn ein Verkäufer oder eine Verkäuferin sich einem Kunden oder einer Kundin gegenüber höflich verhält, so möchte er oder sie nicht nur dessen Gesicht wahren, sondern auch zu einem geschäftlichen Profit beitragen und damit die eigene Position sichern. Die Wahrung des eigenen Interesses dürfte in diesem Fall wichtiger sein als die Gesichtswahrung des Gegenübers. Auch diejenigen, die Hassreden äußern, behaupten, dass Flüchtlinge, Immigranten oder die in Japan ansässigen Koreaner Privilegien genießen würden und Arbeitsstellen besetzen würden, die ansonsten für Einheimische zur Verfügung stünden. Aufgrund dieser Logik rechtfertigen sie ihr Handeln. Dabei spielt die Gesichtsverletzung fast keine Rolle, vielmehr die Aufrechterhaltung eines kolportierten eigenen Interesses. Höflichkeit und ihre Kehrseite 125 2.3 Die Rolle des Publikums In einer früheren Arbeit habe ich die Rolle des Hörers berücksichtigt. Es wurde der Frage nachgegangen, wie die Äußerungen vom Hörer bewertet werden (Yamashita 1993). Eine Äußerung, die in der sozialen Wirklichkeit gemacht wird, wird jedoch nicht immer nur von dem „Hörer“ gehört. Selbst eine Äußerung, die der Sprecher an einen bestimmten Gesprächspartner richtet, kann unter Umständen auch von anderen Personen gehört und bewertet werden. Diese Personen könnten etwas pauschaler als Publikum bezeichnet werden. Oft ist es sogar so, dass ein Sprecher oder eine Sprecherin damit rechnet, dass seine oder ihre Äußerung außer von dem eigentlichen Gesprächspartner auch von dem Publikum empfangen wird. Man sollte daher nicht nur die Rolle des Hörers, sondern auch die Rolle des Publikums berücksichtigen. Anders formuliert, sollte der Kontext der Sprechsituation vermehrt in Betracht gezogen werden. Bezüglich des Kontextes könnte man des Weiteren auch den geschichtlichen sozialen Kontext einbeziehen. Vor dem Fall Fukushima haben viele Leute in Japan geglaubt, dass Atomkraftwerke sicher seien, weil man oft davon hörte. Die dabei oft benutzten Redewendungen nannte Ayumu Yasutomi „Todai Waho“ (vgl. Yamashita 2015). Man könnte meinen, dass die bisherigen pragmatischen Höflichkeitstheorien davon ausgehen, dass man sich gegenseitig verständigen kann und / oder kooperieren möchte, und dass die menschliche Kommunikation daher reibungslos vollzogen wird. Unter dieser Voraussetzung wird bei den Untersuchungen auf eine bessere Kommunikation abgezielt und versucht, zu klären, wie man sich mit wem in welcher Situation höflich verhält. Obwohl mir auch bewusst war, dass es viele Skandale um die Sprache in der Politik gibt, hatte ich mich nicht so ernsthaft damit beschäftigt, sondern wollte auch mit meiner Arbeit zu einer besseren Kommunikation beitragen. Aber nach dem Fall Fukushima in Japan 2011 konnte ich nicht mehr so naiv glauben, dass Kommunikation reibungslos vollzogen würde. Es gibt vielmehr auch böse Gerüchte, blanke Lügen, groben Unsinn, Verleumdungen usw. usf. Man sollte auch solche Kommunikationen berücksichtigen. 3. Todai Waho Todai Waho bedeutet wortwörtlich „Redeweise der Universität Tokio“. Yasutomi (2012, 16) meint, dass viele Professsoren der Universität Tokio eine eigentümliche Redeweise pflegen, um andere zu überzeugen und / oder zu manipulieren. Diese Redeweise wird dann auch von Politikern und Bürokraten verwendet, vor allem, um die Allgemeinheit zu manipulieren, und beispielsweise den Mythos 126 Hitoshi Yamashita von der Sicherheit der Atomkraftwerke aufrechtzuerhalten. Todai-Waho besteht aus den folgenden 20 Geboten. Im Folgenden werden davon 10 ausgewählte Beispiele dargestellt. • Den Kommunikationspartner so interpretieren, wie für die eigene soziale Position günstig ist. • Das Ungünstige ignorieren und nur auf das Günstige erwidern. • Wenn nichts Günstiges vorhanden ist, nur über Belangloses sprechen und ausweichend darüber hinwegreden. • Mit vollem Selbstvertrauen sprechen, auch wenn es unzuverlässig und unlogisch ist. • Um eigene Probleme zu verschleiern, diejenigen heftig kritisieren, die ähnliche Probleme haben. • Lügen mit Ausreden wie dieser einleiten: „Ich fürchte, es könnte zu einem Missverständnis führen, aber…“ • Lammfleisch ans Ladenschild schreiben, aber Hundefleisch verkaufen. • Ehrlichkeit durch unverständliche Selbstkritik inszenieren. • Mit unverständlicher Logik den Gesprächspartner verwirren und die eigenen Behauptungen rechtfertigen. • Mit oberflächlichen Entschuldigungen die Schwierigkeiten überwinden, „wenn…, so muss ich mich entschuldigen“ (Yasutomi 2012, 24-25). Für diejenigen, die diese Redeweisen verwenden, spielt die Höflichkeit fast keine Rolle, weil sie von vornherein nicht auf gegenseitiges Verständnis oder auf Kooperation abzielen. Wozu werden diese Kommunikationen vollzogen? Wie oben erwähnt hat Yanagida die Relevanz des Interesses herausgestellt. Man findet einen Artikel, der den Zusammenhang zwischen Höflichkeit und Interesse erklärt, nämlich „Lammfleisch ans Ladenschild schreiben, aber Hundefleisch verkaufen“. Im Deutschen gibt es, wie oben schon erwähnt, ein ähnliches Sprichwort: „Mit schönen Worten verkauft man schlechte Ware.“ Man könnte annehmen, dass das, was man ans Ladenschild schreibt, höflich sei. Die metaphorische Handlung, also Hundefleisch verkaufen und dadurch einen ungerechtfertigten Profit machen, sei das eigene Interesse. Ein typisches Beispiel wäre der Mythos: „Atomstrom ist sauber, sicher und billig“. Heutzutage weiß fast jeder, dass es sich dabei nicht um die objektive Wahrheit handelte und dass diese schönen Worte zur Manipulation verwendet wurden. Vor Fukushima glaubten viele Menschen diese Worte, und auch diejenigen, die die Gefahren der Atomkraft richtig erkannten, konnten die weiteren Entwicklungen der Atomindustrie nicht stoppen, weil man dadurch angeblich billige Energie erzeugen konnte. Höflichkeit und ihre Kehrseite 127 Die Höflichkeit verschleiert die negativen Tatsache der äußeren Welt, aber nicht nur Tatsachen der äußeren Welt, sondern auch das, was man denkt. Ein Aktivist der Anti-Hassreden Bewegung namens Norikazu Doro erzählt bei einem Interview eine Anekdote, die mit der Hassrede zusammenhängt (Nakazawa 2015, 255 f.). „Mein Onkel hat eine Auto-Reparaturwerkstatt. Eine Zeitlang habe ich bei ihm gejobbt. In der Nähe gibt es einen Schlachthof und dort arbeiten viele Zainichi-Koreaner (in Japan ansässige Koreaner). Mein Onkel hat darunter viele Bekannte und bekommt manchmal von ihnen Rippenfleisch mit Knochen geschenkt. Sie braten im Büro das Fleisch und essen gemeinsam. Mein Onkel sagt immer „Das schmeckt wirklich toll! Danke, dass ihr uns das immer mitbringt“. Daraufhin sagen die Zainichi-Koreaner „Wir sind ja doch Freunde“. Aber wenn sie nach Hause gehen und die Tür zugemacht wird, sagt mein Onkel hinterher: „Was reden denn diese Koreaner? Diese Scheiß- Dummköpfe! “ So geht das! “ Das „Danke“ des Onkels in dieser Anekdote ist zwar eine höfliche Äußerung, die eine gute menschliche Beziehung aufrechterhält und weiterhin das von dem Koreaner mitgebrachte Rippenfleisch garantiert. Das ist aber nur ein Schein. Im Grunde des Herzens verachtet er die Koreaner. Auf Grund eines grundlosen Überlegenheitsgefühls ärgert er sich und meint: „Was reden denn diese Koreaner? “ Trotzdem macht er von Angesicht zu Angesicht einfach eine höfliche und freundliche Äußerung, die das Gesicht des Gesprächspartners wahrt. Gleichzeitig verschleiert er jedoch seine wahre Absicht. Wahrscheinlich hat jeder mehr oder weniger ähnliche Erfahrungen. Die verschleiernde Funktion der Höflichkeit ist mit Sicherheit eine ihrer Kehrseiten. Betrachten wir nun einen Zwischenruf und einen Blogeintrag. 4. Zwischenruf und Blogeintrag Am 28. Mai 2015 äußerte sich im japanischen Parlament (genauer gesagt, im Sonderkomitee des Unterhauses für die Gesetzgebung über das Friedens- und Sicherheitsproblem in Japan und in der internationalen Gesellschaft) eine Abgeordnete namens Kiyomi Tsujimoto von der Demokratischen Partei als Fragestellerin. Als Frau Tsujimoto erklärte, was der Premierminister Abe vor einem Jahr gesagt habe, machte Abe von seinem Sitzplatz aus einen Zwischenruf, der unangebracht ist. Dieser Zwischenruf hatte eine große Wirkung. Tsujimoto wollte weiter erklären, konnte aber nicht, vor Wut oder vor Schock. Abe hatte ihr gesagt: „Hayaku shitsumon shiroyo! “ Wörtlich übersetzt: „Stell endlich mal die Frage! “ Der Inhalt dieser Äußerung war zwar harmlos, der Ton der Aussage 128 Hitoshi Yamashita jedoch außerordentlich unhöflich. Da seine Äußerung fürs Parlament unangemessen war, musste sich Abe am 1. Juni in demselben Sonderkomitee dafür entschuldigen, dass er sich im Ton vergriffen habe. Nun denken wir darüber nach, warum er diesen Zwischenruf gemacht haben mag. Spielten hier auch Interessen eine Rolle? Da Frau Tsujimoto einfach nur erklärte, was Abe vor einem Jahr geäußert hatte, und weil sie ihn nicht scharf angriffen hatte, brauchte sich Abe gar nicht dagegen zu verteidigen. Daher ist es nicht plausibel, von Interessen zu sprechen. Abe selbst meinte, er habe Tsujimoto einfach darauf aufmerksam gemacht, dass sie keine Redezeit mehr habe. Wenn er aber einen freundlichen Hinweis hätte geben wollen, hätte er nicht so einen rabiaten Ton wählen müssen. Er hat durch diesen Zwischeruf unbewusst und unweigerlich gezeigt, dass er auf Frau Tsujimoto von oben herabsah, indem er sie angriff und schlichtweg beleidigte. Man kommuniziert mit einem anderen manchmal mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl. Ich würde also interpretieren, dass hinter diesem Zwischenruf ein machthaberisches Verhalten und / oder eine überhebliche Einstellung steckte. Man darf jedoch nicht übersehen, dass dieses machthaberische Verhalten und / oder die überhebliche Einstellung des Premierministers, was eigentlich negativ wirken müsste, bei vielen Wählern keineswegs eine negative Wirkung hat. Sonst hätte die Liberaldemokratische Partei im Juli 2016 bei der Oberhauswahl keinen so großen Sieg errungen. Es gibt ein anderes Beispiel, bei dem eine unhöfliche Aussage auch eine große Wirkung hatte. Dabei handelt es sich um einen Blogeintrag, der am 15. Februar 2016 im Internet auftauchte (Anonym 2016, Originaler Text: Siehe Anhang). „Antrag auf einen Kindergartenplatz zurückgewiesen! Was ist denn los mit dir, Japan! / Hast du nicht gesagt, Japan sei eine Gesellschaft, in der alle 100 Millionen Menschen arbeiten können? / Gestern ist mein Antrag auf einen Kindergartenplatz grandios abgelehnt worden. / Und was soll ich jetzt machen? Ich kann nun nicht mehr weiter arbeiten. / Ich wollte nur ein Kind bekommen, es großziehen, in der Gesellschaft arbeiten und meine Steuern bezahlen! Bist du, Japan, denn damit nicht zufrieden? / Wir haben einen Trend zu weniger Kindern? So eine Scheiße! / Kinder kann man zwar bekommen, aber wenn es so gut wie unmöglich ist, einen Platz im Kindergarten zu bekommen, wer will dann überhaupt noch ein Kind? / (Ihr Politiker: ) Geht doch fremd! Lasst euch ruhig bestechen! Da habe ich gar nichts dagegen. Aber schafft mehr Kindergärten! / Wie viel Geld habt ihr, Japan, schon für die Olympischen Spiele verschwendet? / Wenn ihr soviel Geld für einen berühmten Architekten habt, macht doch mehr Kindergärten! / Was soll ich denn jetzt machen? Ich muss jetzt meinen Job kündigen. / Nein, Japan, das kann doch nicht dein Ernst sein! “ Höflichkeit und ihre Kehrseite 129 Dieser Blogeintrag hat in der Bevölkerung schnell so viel Resonanz gefunden, dass die damalige Abgeordnete der Demokratischen Partei, Shiori Yamano, am 29. Februar im Haushaltausschuss im japanischen Parlament darauf zu sprechen kam. Zu dieser Schrift äußerte Shinzo Abe, man könne dies nicht beurteilen, weil der Text anonym sei. Von den anderen teilnehmenden Abgeordneten wurden sogar noch Zwischenrufe gemacht: „Wer hat denn das geschrieben? “ Einige Bürger, deren Anträge auf Kindergartenplätze tatsächlich zurückgewiesen worden waren oder die mit der Bloggerin sympathisierten, versammelten sich am 5. März vor dem Parlamentsgebäude mit dem Plakat: „Mein Kindergartenplatz wurde abgelehnt! “ Dieser Blogeintrag ist vom Gesichtspunkt der Höflichkeit zwar gar nicht höflich. Er kann sowohl als eine Beschwerde, als ein Befehl als auch als eine Bedrohung oder Beleidigung betrachtet werden. Der Inhalt ist jedoch sehr ernst und zugleich bitter. Nachdem sie ein Kind bekommen hat, muss die Bloggerin ihre Arbeit aufgeben, weil ihr Antrag auf einen Kindergartenplatz zurückgewiesen wurde. Der Grund der Zurückweisung ist selbstverständlich das Fehlen von Kindergärten. Wenn die Politiker mehr Kindergärten schaffen könnten, bräuchte sie ihre Arbeit nicht aufzugeben. Der Empfänger dieser Schrift ist „Japan“, also ein personifizierter Staat. Das heißt, die tatsächlichen Kommunikationspartner von dieser Schrift sind der für die japanischen politischen Maßnahmen verantwortliche Premierminister Shinzo Abe und die für die Gesetzgebung zuständigen Abgeordneten der Liberal Demokratischen Partei. Da sie jedoch wegen der Anonymität dieses Blogeintrags diese Problematik ignorieren wollten, reagieren viele Bürger, die als Publikum dieses Gespräch zwischen Abe und Yamano am Fernseher gesehen und gehört haben. Sie haben sicherlich das gleiche Interesse wie die Autorin: die Vermehrung der Kindergärten oder die Erhöhung des Kindergeldes. Obwohl die Blogschrift gar nicht höflich war, oder vielleicht gerade weil sie gar nicht höflich war, hatte sie eine große Wirkung. Die direkte ernsthafte Unhöflichkeit hat eine Wirkung. Man könnte annehmen. dass indirekte oberflächliche Höflichkeit in diesem Fall keine so große Wirkung gehabt hätte, wie direkte Unhöflichkeit. 5. Hate speech Zum Schluss behandlen wir Hassreden in Japan. In ihrem Buch „Was ist Hate Speech“ zeigt Yasuko Morooka einige konkrete Beispiele, die ca. um 13 Uhr am 4. Dezember 2009 vor der koreanischen Schule in Kyoto geäußert wurden: „Koreanische Schule raus“, „Koreanische Rasse raus“, „Verbrecher Koreaner“, 130 Hitoshi Yamashita „Spione für Nordkorea“, „Fresst Scheiße und haut ab auf die Halbinsel“, „Ihr stinkt nach Kimchi“ usw. (Morooka 2013, iii f.). Diese Worte wurden von der rechtsextremen Gruppe „Zaitokukai“ geäußert ( „ Zaitokukai “ ist eine abgekürzte Form von „zainichi no tokken wo yurusanai shimin no kai“, auf Deutsch: „Bürgerinitiative, die keine Privilegien für die in Japan ansässigen Koreaner duldet“). Die Zaitokukai bezieht einen festen Standpunkt gegen das zukünftige Zusammenleben mit der anderen Kultur und äußert ihre eigentümlichen extremen Meinungen mit drastischen Hassreden ganz offen. Am 7. Oktober 2013 verurteilte das Landgericht Kyoto diese Tätigkeit nicht nur als illegal, sondern auch als eine rassistische Diskriminierung, die in der Internationalen Konvention zur Beseitigung von rassistischer Diskriminierung definiert wird. Noriyuki Wakisaka ist der Meinung, Zaitokukai sei eine soziale Bewegung, die aus Internet-Medien wie Blogs oder Videoportalen hervorgehe. Blanke Hassausdrücke, die zuerst im Internet-Cyberspace geäußert wurden, gingen dann in die reale Welt hinaus und kehrten danach wieder in den Internet-Cyberspace zurück. Auf diese Weise werde der Samen des Hasses in der wirklichen sozialen Welt verbreitet. Für mich war es ein Schock, dass ein 14-jähriges Mädchen in Osaka bei einer Demonstration der Zaitokukai die folgenden Hassreden äußerte. Sie sagte, dass die Japaner in Osaka, wo viele Koreaner wohnen, einen Massenmord anrichten würden, wie das Massaker von Nanking (1937 / 38), wenn die Koreaner nicht sofort nach Korea zurückkehrten. Dabei nannte das Mädchen die Koreaner ganz offen „Scheißkoreaner“. Die Mitglieder der Zaitokukai waren mit diesen Worten sehr zufrieden. Diese drastischen Ausdrücke sind für die Koreaner und für diejenigen, die im Gegensatz zu den Mitgliedern der Zaitokukai das zukünftige Leben mit den Anderen fördern wollen, schlicht Hassreden. Sie sind jedoch für die Gleichgesinnten eine das „Wir-Gefühl“ festigende Aussage, also in-group identity markers . Insofern könnte diese Aussage zumindest für die insider auch als eine Form von positive politeness betrachtet werden. Ein verwandtes Phänomen ist die Appropriation, wobei Pejorativa innerhalb einer In-Group Höflichkeit ausdrücken, bzw. ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen, worauf Rita Finkbeiner, Jörg Meibauer und Heike Wiese hingewiesen haben (vgl. Finkbeiner / Meibauer / Wiese 2016). Selbstverständlich handelt es sich dabei um einen extremen Fall, und man kann nicht sagen, dass Hassreden zu den höflichen Ausdrücken zu zählen wären. Aber die das „Wir-Gefühl“ befestigenden Aussagen, also in-group identity markers , schließen die „Anderen“, die das „Wir-Gefühl“ nicht teilen können, bewusst oder unbewusst aus. Diese ausschließende Funktion könnte auch eine Kehrseite der Höflichkeit sein. Ähnliches lässt sich heute in Deutschland regel- Höflichkeit und ihre Kehrseite 131 mäßig auf Pegida-Demonstrationen oder ähnlichen rechten Veranstaltungen beobachten. 6. Ausblick Um die Kehrseite der Höflichkeit herauszustellen, werden in diesem Beitrag problematische Kommunikationen behandelt, nämlich Todai Waho (die Rhetorik der Universität Tokyo), ein Zwischenruf, ein Blogeintrag und Hassreden. Methodologisch werden die folgenden drei Punkte berücksichtigt: a) die komplementäre Natur der Höflichkeit und der Unhöflichkeit, b) an Stelle von „face“, „Interesse“ als neues analytisches Instrument zu verwenden und c) die Rolle des Publikums. Daraus ergibt sich, dass Höflichkeit doch sehr verschiedene Kehrseiten hat: Höflichkeit kann die reale Wirklichkeit der Außenwelt, oder aber auch etwas, was man im Grunde seines Herzens denkt, verschleiern. Höflichkeit kann das „Wir-Gefühl“ einer Gruppe festigen, aber gerade deswegen die „Anderen“, die das „Wir-Gefühl“ nicht teilen können, bewusst oder unbewusst ausschließen. Literatur Bargiela-Chiappini, Francesca / Kádár, Dániel Z.(Hrsg.) (2011). Politeness Across Cultures. Hampshire, UK : Palgrave Macmilan. Brown, Penelope / Levinson, Stephen C. (1987). Politeness: Some universals in language usage. Cambridge: Cambridge University Press. Eelen, Gino (2001). A Critique of Politeness Theories. Manchester: St. Jerome Publishing. Finkbeiner, Rita / Meibauer, Joerg / Wiese, Heike (2016). Pejoration (Linguistik Aktuell / Linguistics Today 228). Amsterdam: John Benjamins Publishing Company. Goffman, Erving (1986). Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. 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Online Quellen Anonym (2016) (http: / / anond.hatelabo.jp/ 20160215171759) Hatena tokumei daiarii (Hatena Anonymes Tagbuch) ( はてな匿名ダイアリー )(Stand: 26 / 11 / 2016). Höflichkeit und ihre Kehrseite 133 Anhang 何なんだよ日本。一億総活躍社会じゃねーのかよ。昨日見事に保育園落 ちたわ。どうすんだよ私活躍出来ねーじゃねーか。子供を産んで子育て して社会に出て働いて税金納めてやるって言ってるのに日本は何が不満 なんだ?何が少子化だよクソ。子供産んだはいいけど希望通りに保育園 に預けるのほぼ無理だからって言ってて子供産むやつなんかいねーよ。 不倫してもいいし賄賂受け取るのもどうでもいいから保育園増やせよ。 オリンピックで何百億円無駄に使ってんだよ。エンブレムとかどうでも いいから保育園作れよ。有名なデザイナーに払う金あるなら保育園作れ よ。どうすんだよ会社やめなくちゃならねーだろ。ふざけんな日本。 Ist Höflichkeit angeboren? 135 Ist Höflichkeit angeboren? Frank Liedtke In this contribution politeness is considered as a relational concept. The relation consists between an utterance type performed in a specific situation on the one hand, the effect of being polite on the other hand. It is conceived as a template which encompasses the combination of an utterance type and a situation type as one relatum of the politeness relation. This combination has to be learned by the child in order to be competent concerning polite behaviour, which constitutes the other relatum. Together both sides of the relation constitute (a fragment of) the cultural ressources of the respective community. The question is pursued whether and in what sense the capacity to acquire the politeness relation is innate to the child. 1. Zwei Fragestellungen und ein Erkenntnisinteresse-- ein begriffliches Präludium Zu Beginn möchte ich zwei Fragestellungen unterscheiden, die das Verhältnis von Höflichkeit und sprachlicher Form betreffen. Die erste Fragestellung lautet: (i) Zu welchem Zweck verwenden wir höfliche Äußerungen? Mögliche Antworten auf diese Frage sind: Um das Gesicht des Anderen zu schonen. Oder: Um unser eigenes Image zu pflegen. Diese Antworten bewegen sich in der Tradition der grundlegenden Arbeiten von Irving Goffman (1975) und Penelope Brown / Stephen C. Levinson (2007). Die zweite Fragestellung lautet: (ii) Zu welchem Zweck vollziehen wir in einer bestimmten Situation eine Äußerung eines umschriebenen Typs? Eine mögliche Antwort hierauf ist: Um höflich zu sein. Diese Fragestellung richtet den Blick auf Höflichkeit als Zweck sprachlicher Äußerungen, wobei die jeweilige Äußerung als Mittel der Höflichkeit fungiert. Es geht darum, wie Höflichkeit mittels sprachlicher Äußerungen oder anderen mimischen oder gestischen Ausdrucksverhaltens (diesen Terminus entlehne ich Wilhelm Wundts Arbeiten über Sprache im Rahmen seiner Völkerpsychologie [1904]) zustande kommt. 136 Frank Liedtke Die Fragestellung (i) nimmt hingegen Höflichkeit als Mittel für einen weitergehenden Zweck in den Blick, in Bezug auf die Wirkung oder die Funktion von Höflichkeit. Dies kann in einer individuellen Perspektive (warum ist jemand höflich in einer bestimmten Situation? ) oder in einem kollektiven Sinne (warum gibt es Höflichkeitsrituale in einer Population? ) aufgefasst werden. In vielen Untersuchungen zur Höflichkeit werden die individuelle und die kollektive Dimension nicht konsequent unterschieden. Will man im Sinne der Fragestellung (i) weitergehende Zwecke höflichen Verhaltens festmachen, dann kann man allerdings nicht bei dem Zweck der Imagepflege stehen bleiben, denn es fragt sich sogleich, wozu Imagepflege ihrerseits dient. Wenn man mit dieser Frage nicht in einen infiniten Regress der Mittel und Zwecke geraten will, dann wird als Letztbegründung auf anthropologische Konstanten zurückgreifen sein. Eine solche Konstante könnte ein sehr grundlegender Zweck sein, wie zum Beispiel Aggressionsvermeidung. Ich nenne die Fragestrategie (i) die anthropologische Strategie. Im konkreten Verlauf sprachlicher Interaktion genügt es allerdings oft, wenn die Interaktionsteilnehmenden merken, dass der / die jeweils andere höflich ist bzw. sein möchte (die Absicht steht oft für die Tat). Warum er / sie es ist - das fragt man sich in der Regel erst, wenn der Verdacht entsteht, es könnte eine zweifelhafte Absicht hinter dem höflichen Verhalten stehen. Das heißt aber, in der kooperativen Interaktion stellt man sich die Frage (i) eher nicht, aktuell ist die mit der Fragestellung (ii) verbundene Perspektive. Nimmt man in der Beschreibung des Sprachverhaltens die Fragestrategie (ii) ein, so verfolgt man eine interaktionistische Strategie. Ich werde im Folgenden primär diese interaktionistische Strategie verfolgen. Ein Grund hierfür ist, dass die Frage der Angeborenheit, die in diesem Beitrag thematisiert werden soll, am besten mit Blick auf den Erwerb von Fähigkeiten gestellt wird, die höfliches Verhalten betreffen. Das lernende Kind stellt sich dabei die Frage (ii), das heißt es lernt im Laufe der Sozialisation, sich sprachlich so zu verhalten, dass es als höflich wahrgenommen wird. Anders gesagt: Es lernt, in welcher Situation mit welchem sprachlichen Mittel der erwünschte Effekt des höflichen Sprachverhaltens erzielt werden kann. Wenn dieser Erwerbsschritt erfolgreich verlaufen ist, dann verfügt es über ein pragmatisches Muster, das einen umschriebenen Äußerungstyp mit einem bestimmten Typ von Situation korreliert, in dem höfliches Verhalten als angemessen bzw. erforderlich gilt. Ist Höflichkeit angeboren? 137 2. Kulturelle Ressourcen und kulturelles Reservoir Will man die Fragestellung (ii) nicht nur in Bezug auf eine Kultur - vorwiegend die jeweils eigene - aufwerfen, sondern in einer kulturvergleichenden Perspektive formulieren, dann muss man sie entsprechend erweitern. Es geht in diesem Fall um die Frage, ob es in verschiedenen Kulturen spezifische Äußerungsformen gibt, die innerhalb bestimmter Situationen dem Zweck der Höflichkeit dienen. Was finden wir vor, welche Dimensionen von Höflichkeit sollen realisiert werden, für welche Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen gibt es ausgewiesene Formen sprachlicher Höflichkeit? Relevant ist darüber hinaus die Frage, welche Höflichkeitsaspekte üblicherweise sprachlich, und welche durch anderes Ausdrucksverhalten kodiert werden. Können wir diese Fragen in Bezug auf eine bestimmte Population beantworten, dann haben wir einen Teil dessen beschrieben, was ich die kulturellen Ressourcen einer Sprachgemeinschaft nennen möchte. Ganz allgemein ist eine Ressource etwas, auf das man zurückgreifen kann, um ein basales Bedürfnis zu erfüllen, wie z. B. Öl für Wärmeerzeugung oder Fortbewegung. In Analogie hierzu sollen sprachliche oder im weiteren Sinne expressive Handlungsmuster als kulturelle Ressourcen aufgefasst werden, auf die die Teilhaber einer Sprachgemeinschaft zurückgreifen können. Für den vorliegenden Fall bestehen diese kulturellen Ressourcen unter anderem aus einem strukturierten Reservoir von pragmatischen Mustern als Korrelationen von Äußerungstyp und Situationstyp, über die eine Population verfügt, um den gesellschaftlich akzeptierten Zweck des Höflichseins realisieren zu können. Kulturelle Ressourcen kann man in drei Perspektiven untersuchen. Man kann in kulturspezifischer Sicht fragen: Wie sieht das strukturierte Reservoir an sprachlichen oder expressiven Handlungsmustern aus, das als Teil der kulturellen Ressourcen einer Population zum Zwecke höflichen Verhaltens eingesetzt werden kann? Hieran schließt sich die kulturvergleichende Fragestellung an: Gibt es Ähnlichkeiten / Überlappungen bezüglich der Ressourcen, über die verschiedene Populationen verfügen? Man kann auch noch einen Schritt weitergehen und in kulturübergreifender Perspektive fragen: Gibt es ein Reservoir an sprachlichen oder expressiven Handlungsmustern, über das (mehr oder weniger) alle Populationen verfügen? Wenn es diese Schnittmenge gibt, wie kann man sie beschreiben und worauf kann man ihre Existenz zurückführen? Eine kulturspezifische Feststellung in Bezug auf Höflichkeit ist beispielsweise, dass es zum kulturellen Reservoir einer Gesellschaft gehört, einer Person zu ihrem Geburtstag schriftlich oder mündlich zu gratulieren: ‚Herzlichen Glückwunsch zu deinem x-ten Geburtstag! ‘ Eine kulturvergleichende Feststellung in Bezug auf Höflichkeit besteht beispielsweise in der Beobachtung, dass man 138 Frank Liedtke im Gegensatz zu diesem im Deutschen etablierten Handlungsmuster in der polnischen Kultur dann einer Person gratuliert, wenn sie an dem Anlass der Gratulation irgendein Verdienst hat, also: ‚Herzlichen Glückwunsch zu deinem Fahrtenschwimmer-Abzeichen.‘ In einer kulturvergleichenden Sicht ist dem Sprechakt der Gratulation das Merkmal [+/ eigenes Verdienst] hinzuzufügen, um den entsprechenden Unterschied in den Angemessenheitsbedingungen festmachen zu können. In einer kulturübergreifenden Perspektive wiederum kann man z. B. feststellen, dass es zu unterschiedlichen Anlässen sprachliche Übergangsriten ( rites de passage im Sinne von van Gennep 1909 / 1981) gibt, die in jeder Gesellschaft in Form eines Reservoirs an Handlungsmustern realisiert werden, wobei es unterschiedlich verteilte Merkmale für ihren angemessenen Einsatz gibt. Im Folgenden soll geklärt werden, unter welchen methodischen und begrifflichen Voraussetzungen und mit welchen Vorannahmen die kulturspezifische, -vergleichende und -übergreifende Frage jeweils gestellt werden kann. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der kulturübergreifenden Fragestellung, wobei diese in ihrem Verhältnis zur vergleichenden und spezifischen Perspektive verfolgt werden soll. Es soll in diesem Zusammenhang einerseits geklärt werden, ob die jeweils eingenommene Perspektive eher dem eingangs vorgestellten Fragetyp (i) oder dem Fragetyp (ii) zugeordnet werden kann, und es soll weiterhin geklärt werden, ob eine eher individuelle oder eine kollektive Perspektive eingenommen wird. In diesem Sinne betrachte ich näher die Ansätze von Leon Talmy (für den der Begriff des cognitive culture system leitend ist), von Anna Wierzbicka (mit ihrem Ansatz der cultural script ) und Stephen Levinson (mit dem zentralen Begriff der interaction engine ). Leon Talmy und Stephen Levinson setzen sich dabei auch mit der Frage der Angeborenheit dessen auseinander, was oben als kulturelle Ressource eingeführt wurde. Eingangs gehe ich auf einige Bemerkungen von Stephen Pinker ein, die er in seinem Buch über den menschlichen Geist zur Angeborenheit gemacht hat. 3. Stephen Pinker und die universelle Grammatik der Kultur S. Pinkers Konzeption, die er in seinem Buch How the Mind works von 1997 entwickelt (Dt.: Wie das Denken im Kopf entsteht , 1998), enthält eine klare Position: Die grundlegende Gestaltung unserer mentalen Organe ist auf unser genetisches Programm zurückzuführen; die Struktur unserer Persönlichkeit ist von den Genen vorgegeben. Dies gilt auch, wenn man einen größeren Maßstab anlegt; Pinker weist darauf hin, dass die Eigenschaften von Kulturen nicht will- Ist Höflichkeit angeboren? 139 kürlich variieren können. Vielmehr zeige eine Übersicht über die ethnologische Literatur, dass „den Völkern der Erde eine allgemeine psychische Struktur gemeinsam ist, die erstaunlich weit ins Detail geht.“ (Pinker 1998, 47) Er konzediert dabei, dass jeder Teil der menschlichen Intelligenz Kultur und Lernen einschließt, aber auch dies ist nur möglich, weil es einen angeborenen Apparat gibt, der zum Lernen konstruiert ist. Bei aller Radikalität des nativistischen Programms, das explizit auf das chomskysche Paradigma des menschlichen Geistes bezogen ist, stellt Pinker mit leicht bedauerndem Unterton fest: „Noch wurden keine Gene für Höflichkeit, Sprache, Gedächtnis, motorische Steuerung, Intelligenz oder andere vollständige geistige Systeme entdeckt, und wahrscheinlich wird das auch in Zukunft nicht geschehen.“ (ebd., 50) Trotzdem unterliegt allen genannten Fähigkeiten ein jeweils spezifisches genetisches Programm, und dies ist letztlich Ergebnis der Evolution des Menschen. Pinker bezieht sich auf den Evolutionsbiologen Richard Dawkins, wenn er schreibt: „Unsere mentalen Programme funktionieren so gut, weil sie von der Selektion so gestaltet wurden, daß unsere Vorfahren mit Steinen, Werkzeugen, Pflanzen, Tieren und miteinander umgehen konnten, alles letztlich im Dienst von Überleben und Fortpflanzung.“ (ebd., 52) ‚Miteinander umgehen‘ lässt sich auf die kulturelle Kommunikation im oben skizzierten Sinne anwenden. 4. Leon Talmy und das ’Cognitive Culture System’ Als ein moderater Nativist und Universalist kann Leon Talmy angesehen werden. Das, was eingangs als Reservoir an (sprachlichen) Handlungsmustern benannt wurde, wird von Talmy als ‚kulturelles Muster‘ eingeführt. Talmy stellt die Frage nach der Art und Weise, wie solche kulturellen Muster in einer Gesellschaft existieren. Seine Antwort ist klar kognitivistisch und damit auf das einzelne Individuum bezogen. Kulturelle Muster existieren vor allem auf der Grundlage der kognitiven Organisation einzelner Individuen, die gemeinsam eine Gesellschaft bilden (s. Talmy 2000, 373). Ich möchte eine solche Auffassung als individuenorientierten kulturellen Kognitivismus bezeichnen: Der Entstehungsprozess für kulturelle Muster bewegt sich vom Individuum und seiner Kognition zur hin zur Gesellschaft, nicht von der Gesellschaft zum Individuum. Auch L. Talmy spricht wie S. Pinker von einem angeborenen System im Gehirn, dessen hauptsächliche Funktion darin besteht, den Erwerb, die Ausübung und die Weitergabe von kulturellen Mustern zu ermöglichen. Dieses System ist spezifisch für Kultur ausgelegt und nicht auf andere kognitive Domänen wie allgemeine Intelligenz oder Sprache zu reduzieren. „The cognitive culture system operates in each individual in accordance with its innately structured program.“ 140 Frank Liedtke (Talmy 2000, 374) Das Verarbeitungsprogramm des ’cognitive culture system’ ist angeboren und damit universell. In seiner Auffassung eines ‚cognitive culture system‘ hebt Talmy vor allem auf die strukturellen Ähnlichkeiten ab, die zwischen den unterschiedlichen Kulturen bestehen. „[…] the proposal here is that the cognitive culture system accounts for much of what is universal across cultures.“ (Talmy 2000, 375) Talmy schließt sich - das ist offenkundig - der Angeborenheitshypothese Noam Chomskys an, vertritt aber die Auffassung, dass das kulturelle System (sowie auch das sprachliche) sehr viel stärker mit benachbarten kognitiven Systemen interagiert, als dies die Fodorsche Modularitätshypothese unterstellt. Die Architektur, die aus dieser Annahme folgt, nennt er das überlappende System. Die konzeptuellen Systeme Sprache, visuelle und kinästhetische Wahrnehmung, Denken, Affekt, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Planung und Kultur weisen sowohl Eigenschaften auf, die für das jeweilige System spezifisch sind, als auch solche, die sie mit einem oder sogar allen konzeptuellen Systemen gemeinsam haben. Das sprachliche und das kulturelle System stehen zueinander in einer engen Beziehung und haben sich phylogenetisch als letzte entwickelt; sie ruhen auf früheren und somit basaleren kognitiven Systemen (z. B. der Wahrnehmung) auf. Talmy stellt sich die Frage, auf welche Weise ein Kind die kulturellen Muster seiner Population erwirbt, in der es aufwächst. Man muss sich - so seine Antwort - den Erwerbsprozess als einen fortlaufenden Prozess der Schematisierung und Abstraktion von beobachtetem Verhalten vorstellen. Das Kind filtert aus den alltäglichen Handlungen der umgebenden Personen diejenigen Elemente heraus, die für das kulturelle Muster jeweils relevant sind (vgl. Talmy 2000, 383). Lernt es zum Beispiel, wie ‚man‘ sich in ‚unserer‘ Kultur begrüßt, dann hat es das Problem der Schematisierung zu lösen, indem es aus einer Vielzahl von Begrüßungsvorkommnissen dasjenige herausfiltert, was Teil des Schemas ist, und dasjenige ignoriert, was nicht Teil des Schemas werden soll. Dies bezieht sich einerseits auf die Ebene der Granularität, aber auch auf das Problem der Ideosynkrasie. Nehmen wir das Beispiel des Händeschüttelns: Manche begrüßen andere Leute, indem sie ihnen einen schwachen Händedruck geben und den Blick abwenden, andere umfassen die Hand des anderen mit beiden Händen und schauen ihm tief in die Augen, noch andere geben eine Hand und machen einen Diener, schließlich ziehen einige die Hand des anderen zu sich heran oder sie führen sie an sich vorbei, um endlich den nächsten zu begrüßen etc. etc. … Aus der Vielzahl der Ausführungsvarianten hat das Kind die für das Schema relevanten Elemente zu abstrahieren, wobei ihm nur manchmal eine Unterweisung der Eltern behilflich ist - die sich auch nur auf einzelne Elemente des Rituals erstreckt. Ist Höflichkeit angeboren? 141 Wie Talmy schreibt, muss das relevante Handlungsmuster unterschieden werden von den Manierismen der Einzelpersonen, die es ausführen. Die Eigenschaft, die der Schematisierung zugrundeliegt, nennt er ‚strukturelle Selektivität‘. Sie wirkt sich folgendermaßen aus: Das cognitive culture system nimmt eine Bewertung der kulturellen Umwelt hinsichtlich ihrer strukturellen Charakteristika vor, wobei es bestimmte Aspekte dieser Struktur zur Anpassung auswählt und andere Aspekte verwirft. Nur mithilfe dieses Systems ist das Kind in der Lage, aus dem Wust an einströmenden Daten ein sinnvolles Handlungsmuster zu abstrahieren. Dieses besteht nur aus den Elementen, die über die individuelle Art zu handeln hinausgehen, also aus einem ‚metapersonalen kulturellen Muster‘ (Talmy 2000, 387). Auf die Frage, ob der Erwerb und das Praktizieren kultureller Muster auf die Angeborenheit des cognitive culture system allein zurückzuführen sind, gibt Talmy eine differenzierte Antwort. Neben den angeborenen Systemeigenschaften sind vor allem die Konstanten in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt für die kulturellen Universalien verantwortlich. Sie bilden die Erklärung für den größten Teil der sogenannten substanziellen Universalien, die sich feststellen lassen. Das cognitive culture system seinerseits ist vor allem als abstraktes Programm anzusehen, das bestimmte Prozeduren zur Verfügung stellt, mit deren Hilfe Einzelbeobachtungen zunächst kategorisiert und anschließend bewertet und verarbeitet werden können. Es liefert also nicht einen Grundstock an substanziellen kulturellen Universalien, sondern stellt eher die Prozeduren bereit, um diesen Grundstock überhaupt auszubilden. Auf die Frage der Höflichkeit übertragen hieße dies, dass nicht einzelne Verhaltensweisen als Bestandteile dieses Systems festzumachen sind (beispielsweise die Hand reichen mit einer leichten Verbeugung, dem Aussprechen eines Grußes und dem Blick in die Augen). Es geht vielmehr - wenn man Talmys Terminologie ausbuchstabiert - darum, dass bestimmte Prozeduren zur Verfügung stehen, mittels derer Begrüßungshandlungen überhaupt schematisiert werden können, so dass das erwerbende Kind anschließend in der Lage ist, ein zutreffendes kulturelles Muster auszubilden, das es zur Wahrnehmung und zur Ausübung von angemessenen Begrüßungshandlungen befähigt. 5. Stephen Levinson und die ‚interaction engine‘ Stephen Levinson ist - im Gegensatz zu den bisher besprochenen Autoren - dem gebrauchsbasierten Ansatz zuzuordnen, er ist „Neo-Griceaner“. Levinson arbeitet seine Kulturauffassung im Wesentlichen mit Nick J. Enfield in dem Buch ‚Roots of Human Sociality‘ (2006) aus. Die grundsätzliche Idee ist es, dass Sprache eine Ausformung des sozialen Lebens einer Gesellschaft ist. 142 Frank Liedtke Die Autoren stellen daher die Untersuchung der Vergesellschaftung des Menschen in den Vordergrund (human sociality) . Diese besteht hauptsächlich in der Fähigkeit eines Mitglieds einer Gesellschaft, in einen strukturierten interaktiven Austausch mit anderen Mitgliedern zu treten. Diese Fähigkeit beruht vor allem darauf, dass die Mitglieder einer Gesellschaft an einer gemeinsamen mentalen Welt teilhaben, wobei diese zum Beispiel gemeinsame Glaubenseinstellungen umfasst, also das, was übereinstimmend für wahr gehalten wird. Aber auch hinsichtlich des Verhaltens der Mitglieder bestehen wechselseitige Erwartungen, das heißt, dass eine Person erwartet, dass sich ihr Gegenüber in einer bestimmten Situation so-und-so verhält und diese Erwartung dem Gegenüber wiederum bewusst ist. Diese Art der kooperativen, mental vermittelten Interaktion führt, wenn sie sich wiederholt, zu sich verfestigenden Strukturen; Enfield / Levinson bezeichnen diese verfestigten Strukturen der mentalen Welt, die den Kern der human sociality ausmachen, mit einem Begriff P. Bourdieus: Es ist die Ausbildung kulturellen Kapitals (vgl. Enfield / Levinson 2006, 1). Im Gegensatz zu Talmy geht bei Enfield / Levinson die Erklärungsrichtung von der Gesellschaft zum Individuum. Was verstehen Enfield / Levinson unter kulturellem Kapital? Dieses besteht beispielsweise in der Fähigkeit, zu kooperieren (für den Entwicklungspsychologen Michael Tomasello ist die Fähigkeit zur altruistischen Kooperation ein Merkmal spezifisch menschlichen Verhaltens und damit der Kulturentstehung, s. Tomasello 2009). Kulturalität besteht darüber hinaus in der Fähigkeit, dem / der anderen Intentionen zuzuschreiben, um sein / ihr Verhalten interpretieren zu können. Kultur als Ganzes wird als ein interdependentes Netzwerk von Fähigkeiten und Praktiken aufgefasst, die als spezifisch menschlich gelten können. Dieses Netzwerk kann gedacht werden als ein System von sozialen Organisationen und grundlegenden Werten, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es erfüllt damit eine Entlastungsfunktion, denn es ist nicht mehr notwendig, die gesellschaftlichen Konstruktionsleistungen immer wieder auf ’s Neue zu erbringen (s. Enfield / Levinson 2006, ebd. ). Es geht Enfield / Levinson grundsätzlich um die menschliche Fähigkeit, sozial zu interagieren, und dies ist nur möglich, wenn man bestimmte kulturelle Muster ausbildet - zu denen man situationsangemessenes höfliches Sprachverhalten zählen kann. Die Gesamtheit der kulturellen Muster einer Gesellschaft oder einer Teilgesellschaft kann man mit einem oben eingeführten Begriff ihr kulturelles Reservoir nennen. Auch Levinson stellt - wie Talmy - die Frage, wie Kinder oder allgemein Kulturlernende in der Lage sind, aus der Menge an (sozialen) Fakten diejenigen auszuwählen, die für das betreffende kulturelle Muster relevant sind. Diese Auswahlprozedur kann nicht auf der Basis von Ist Höflichkeit angeboren? 143 statistischer Wahrscheinlichkeit allein geleistet werden, sondern sie setzt einen relevanzsetzenden Mechanismus voraus. Diese selektive Fähigkeit wird auf eine universelle human interaction engine zurückgeführt, eine Interaktionsmaschine, die den Menschen in die Lage versetzt, in einen sozialen Austausch mit seinen Mitmenschen zu treten (s. Levinson 2006). Sie besteht aus einer Menge von angeborenen kognitiven Fähigkeiten und Verhaltensdispositionen, deren Zusammenwirken im Sinne eines Synergieeffekts spezifische face-to-face -Interaktionen erst ermöglicht. Im Gegensatz zum Begriff des cognitive culture system ist eine solche Interaktionsmaschine eben nicht systematisch, sondern eher fragmentarisch und eklektisch. Es spielen Teile von motivationalen Tendenzen, halbkooperative Instinkte, alte mimische Displays und vieles andere eine Rolle, wobei sich diese Anteile nicht unbedingt einheitlich einordnen lassen. Wie sieht das Räderwerk dieser Interaktionsmaschine aus? Nach Ansicht ihrer Erfinder ist das Gricesche Kommunikationsmodell ein wesentlicher Bestandteil der Maschine; es besteht darin, dass die Adressat_innen einer sprachlichen Äußerung die dahinterliegende Sprecherintention erkennen und auch erkennen, dass sie diese erkennen sollen (also die reflexive Intention erkennen). Dies wurde auch von Michael Tomasello in seinem kulturanthropologischen Ansatz immer wieder betont: Die Fähigkeit zum intentionalen Verstehen der Handlungen und der Äußerungen anderer Mitglieder der eigenen Spezies ist dem Menschen angeboren. Ein weiterer Bestandteil der interaction engine ist die sogenannte Theory of Mind. Theory of Mind ist die Bezeichnung für die Fähigkeit eines Individuums, anderen Individuen mentale Zustände (wie Glauben oder Absicht) zuzuschreiben. Diese Zuschreibung ist völlig unabhängig davon, was man beispielsweise selbst glaubt oder nicht, das heißt sie ist unabhängig vom Wahrheitsgehalt des zugeschriebenen Glaubens. Auch die Regeln des turn taking , die als universell gültig aufgefasst werden, sind Bestandteil der interaction engine . Interaktion ist das Vehikel für Kultur (s. Levinson 2006, 55), wobei die dabei wirksame Interaktionsmaschine nicht als starres Formgebilde zu verstehen ist, sondern als ein Bündel allgemeiner Prinzipien. Diese globalen Prinzipien der Interaktionsmaschine erhalten dann innerhalb einer lokalen Kultur ihre spezifische Ausprägung. Daraus folgt: Sprachliche Kommunikation ist erst erklärbar, wenn man die Wirksamkeit der allgemeinen Prinzipien der Interaktion auf den Sprachgebrauch zur Kenntnis nimmt. Eine zentrale Domäne einer lokal realisierten Ausformung der interaction engine ist die Matrix des höflichen Verhaltens, die von Brown / Levinson (2007) erstellt wurde. Sie geht von einem FTA - einem gesichtsbedrohenden Akt - und seiner 144 Frank Liedtke interaktionalen Bearbeitung aus und resultiert in einer ausgeprägten Struktur von Optionen und Entscheidungen, die im Laufe dieser Bearbeitungssequenz getroffen werden. Man kann die Analyse einer ‚Sequenz des höflichen Sprachverhaltens‘ somit als ein Beispiel für die Anwendung eines kulturellen Musters durch kompetente Teilhaber an der Interaktionsgemeinschaft auffassen. 6. Anna Wierzbickas natural semantic metalanguage Der Ansatz von Anna Wierzbicka bildet einen Gegenentwurf zu L. Talmys Vorstellung eines angeborenen kognitiven Systems, aber auch zu S. Levinsons Idee einer interaction engine . Ihrer Meinung nach sind viele universalisierende Ansätze geprägt von Ethnozentrismus - in der Regel Anglozentrismus - und ignorieren kulturelle Unterschiede schon auf engem Raum. Ob dies wirklich auf Talmy und Levinson zutrifft - letzterer hat mehrfach mehrmonatige Aufenthalte im ‚Feld‘ auf Rossel Island, einer Inselgruppe im Südpazifik unternommen - kann hier nicht diskutiert werden. Vielmehr soll die leitende Idee der natürlichen semantischen Metasprache vorgestellt werden, die ihrerseits nicht auf Universalien und die Suche danach verzichtet. Der Weg ihrer Ermittlung geht dabei allerdings von der kulturspezifischen über die kulturvergleichende zur kulturübergreifenden Fragestellung, ist also in der Begründungsrichtung bottom up statt top down . Der grundlegende Begriff, auf den sich der gesamte Ansatz stützt, ist derjenige des kulturellen Skripts . Kulturelle Skripte umfassen stillschweigende Normen, Werte und Verfahren, die in einer bestimmten Gesellschaft etabliert sind, wobei sie allgemein anerkannt sind oder von den Mitgliedern eher intuitiv erfasst werden. Es wird darauf geachtet, dass die so ermittelten Skripte aus der Perspektive der Sprachverwender selbst formuliert werden. Die verfolgte Methode konzentriert sich dabei auf die semantische Beschreibung von Ausdrücken, die in der untersuchten Kultur unterstelltermaßen eine Kernfunktion besitzen. Hierzu zählen unter anderem Ausdrücke für geltende Werte, für soziale Kategorien und zentrale Sprechakte. Wierzbicka nennt diese Ausdrücke cultural key words - kulturelle Schlüsselbegriffe (Wierzbicka 2010, 47). Kulturelle Skripte werden dokumentiert in der schon erwähnten natürlichen semantischen Metasprache, deren Funktion es ist, diese Werte, Kategorien und Sprechakte auf den Begriff zu bringen. Es geht dabei zunächst um die sprachspezifische semantische Beschreibung von Einzelwörtern, in denen der jeweilige kulturelle Kernbestand kodiert ist, aber es wird auch auf Redensarten, Kollokationen bis hin zu konversationellen Routinen und Anredeformen zurückgegriffen. Die Analyse ist auf dieser Ebene zunächst sprach- und kulturspezifisch. Ist Höflichkeit angeboren? 145 In einem weiteren Schritt wird sodann der Vergleich zwischen Einzelsprachen / Einzelkulturen vorgenommen, und so wird nach und nach, auf der Basis des Vergleichs der einzelsprachlichen Befunde, das allen natürlichen Sprachen gemeinsame Grundvokabular ermittelt, das in Form konzeptueller Primes auftritt. Diese Primes bilden in ihrer Gesamtheit ein System, das letztlich eine „universelle Grammatik“ der skriptbezeichnenden Ausdrücke ergibt - allerdings gewonnen aus den jeweiligen sprach- und kulturspezifischen Einzeluntersuchungen (s. Wierzbicka 2010, 48). Es werden insgesamt 65 konzeptuelle Primes ausgemacht, die in unterschiedlichen Kombinationen jeweils ein kulturelles Skript bilden. Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes mit Blick auf sprachliches Handeln ist die Verallgemeinerung zum Paradigma der Ethnopragmatik durch Goddard (2006). Goddard gesteht zu, dass nicht alle Mitglieder einer Kultur immer ein bestimmtes Skript teilen. Es reicht, wenn alle Mitglieder damit rechnen, dass die anderen diese Denkweise einnehmen oder einnehmen können. Ein möglicher Einwand gegen eine rein semantische Vorgehensweise könnte sein, dass das semantische System einer Einzelsprache nicht immer deckungsgleich ist mit dem kategorialen System einer Kultur - allein schon deswegen, weil innerhalb einer Population mit relativ einheitlicher Kultur verschiedene Sprachen gesprochen werden können und - vielleicht noch häufiger - eine Sprachgemeinschaft das sprachliche Dach für verschiedene Kulturen sein kann. Auch ist der Bereich der ontologischen oder sozialen Kategorien nicht deckungsgleich mit demjenigen der semantischen Kategorien - wenn man an dem Unterschied zwischen sprachlichem und enzyklopädischem Wissen in irgendeiner Form festhält. Um den Ansatz von Wierzbicka im Blick auf unsere Fragestellung einschätzen zu können, sollen einige Beispiele diskutiert werden, mit denen sie argumentiert. In einem Vergleich des Sprechakts der Bitte werden die zugehörigen Skripte der russischen sowie der angelsächsischen Kultur miteinander verglichen. Der Dreh- und Angelpunkt ist die Erwartung des Sprechers - also des Bittenden -, dass die Bitte auch erfüllt wird bzw. der Ausdruck dieser Erwartung. Dieser ist in der russischen Kultur möglich, in der angelsächsischen wird er vermieden. Während in der ersteren Imperativsätze durchaus üblich sind sowie Wendungen wie „I ask you very much …“ ( Ja vas očen’ prošu), ist es in der letzteren üblich, ein gewisses Maß an Unsicherheit über die Erfüllung dieser Bitte auszudrücken: „I was wondering if it could be possible …“ - das heißt es ist ein hohes Maß an Indirektheit und damit Gesichtspflege angebracht. Es gibt keine genaue Entsprechung für dieses ‚Indirektheits‘-Skript im Russischen. Allerdings existiert ein Skript, das die Form der geäußerten Bitte beinhaltet, und das die Abwesenheit eines Skripts der Indirektheit und Gesichtspflege kompensiert. Es geht darum, dass eine Einstellung der Nähe, ja fast der Zärtlichkeit gegenüber dem 146 Frank Liedtke Adressaten ausgedrückt wird. Dies kann über Koseworte geschehen, die man eher den eigenen Kindern gegenüber verwendet, aber auch durch den Gebrauch von Diminutiva, die sich auf die erbetenen Gegenstände beziehen. Kulturelle Skripte der erwähnten Art sind in Wierzbickas Sicht in der Lage, die Unterschiede in der Art des Kommunizierens und der jeweils zugrundeliegenden kulturellen Werte in einfachen Worten, die jedoch universell geltende Begriffe beinhalten, zu identifizieren. Im vorliegenden Fall geht es um den Wert der persönlichen Autonomie, der dem Wert der persönlichen Nähe und Wärme gegenüber steht. Einen ähnlichen Unterschied macht sie fest bezüglich persönlicher Bemerkungen einem Adressaten gegenüber, der im Russischen von Aufrichtigkeit, im Englischen von Takt geprägt ist. Hier relativieren sich durchaus Beobachtungen von G. Leech, der auf der Ebene des Griceschen Kooperationsprinzips ein Höflichkeitsprinzip annimmt, das u. a. eine Taktmaxime enthält. (s. Leech 2002, 57 f.) Diese Maxime bedarf offensichtlich kulturspezifischer Konkretisierungen, bevor man sie kulturübergreifend anwenden kann. 7. Fazit In der Gesamtschau lassen sich folgende Punkte nennen, die den Erklärungsbedarf einer kulturübergreifenden Theorie kultureller Muster, von denen Höflichkeit eines ist, beinhalten: Es besteht eine Reihe kulturübergreifender Gemeinsamkeiten hinsichtlich der kulturellen Ressourcen von Populationen - oder ihres jeweiligen kulturellen Kapitals. Konkret gesagt: Jede Kultur hat einen umschriebenen Begriff davon, welches sprachliche oder expressive Verhalten dem Zweck der Höflichkeit dient. Dieses Reservoir ist auf einer angemessenen Abstraktionsebene beschreibbar (s. L. Talmy). In einer kulturvergleichenden Perspektive sind die jeweiligen kulturellen Spezifika in der Realisierung der universellen Muster zu identifizieren. Dabei ist darauf zu achten, dass nicht implizit kulturspezifische Stereotype (angelsächsische Vorstellungen von Höflichkeit) als universell gültig ausgegeben werden (s. Wierzbicka). Das Reservoir an Handlungsmustern, das für eine Gesellschaft spezifisch ist, hat normativen Status. Anders gesagt: Es gibt definierte Abweichungen, die nach ‚oben‘ gehen können (als bewusste Verletzung im Sinne eines Nonkonformisten, der Höflichkeit verlogen findet) oder nach ‚unten‘ (indem sie sanktioniert werden als grob unhöfliches Verhalten) (s. Leech). Es muss erklärt werden, auf welche Weise Kinder in der Lage sind, die Korrelation von Äußerungsform und höflichem Zweck zu erlernen. Hierzu benötigen Ist Höflichkeit angeboren? 147 sie eine angeborene Fähigkeit, die sie in die Lage versetzt, Interaktionen zu klassifizieren und nachzuahmen (s. Enfield / Levinson). Sie müssen außerdem in der Lage sein, ein Schema auszubilden, das die relevanten Aspekte des sprachlichen oder expressiven Verhaltens herausfiltert (s. Talmy). Sie müssen aber nicht nur erlernen, wie man höflich ist, sondern auch, dass man höflich sein sollte, d. h. sie müssen die normative Natur höflichen Verhaltens erkennen und erwerben. Aus all dem folgt: Höflichkeit ist nicht angeboren, aber die Fähigkeit, höfliches Verhalten zu erkennen und zu erlernen, ist den Vertretern der menschlichen Spezies angeboren. Literatur Bourdieu, Pierre (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt / M.: Suhrkamp. Brown, Penelope / Levinson, Stephen C. (2007). Politeness: some universals in language usage. Cambridge: CUP . Enfield, Nick J. / Levinson, Stephen C. (Hrsg.) (2006). Roots of Human Sociality. Oxford/ New York: Berg. Goddard, Cliff (2006). Ethnopragmatics: A new paradigm. In: Goddard, Cliff (Hrsg.) Ethnopragmatics: Understanding Discourse in Cultural Context. Berlin / New York: Mouton de Gruyter, 1-30. Goffman, Irving (1975). Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt / M: Suhrkamp. Leech, Geoffrey (2002). Principles of Pragmatics. London / New York: Longman. Levinson, Stephen C. (2006). On the Human Interaction Engine. In: Enfield, Nick J. / Levinson, Stephen (Hrsg.), Roots of Human Sociality. Oxford / New York: Berg, 39-69. Pinker, Steven (1997). How the Mind Works. New York: Penguin. Talmy. Leonard (2000). The Cognitive Culture System. In: Ders., Towards a Cognitive Semantics. Vol. 2, Cambridge: MIT Press, 373-416. Tomasello, Michael (2009). Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt / M.: Suhrkamp. van Gennepp, Arnold (1909 / 1981). Les rites de passage. Paris: Èd. Picard Wierzbicka, Anna (2010). Cultural scripts and intercultural communication. In: Trosborg, A. (Hrsg.), Pragmatics across languages and cultures. Berlin: Mouton de Gruyter, 43-78. Wundt, Wilhelm (1904). Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte. Bd. 1, 1. Teil: Die Sprache. Leipzig: Engelmann. Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen 149 Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen Claus Ehrhardt / Bernd Müller-Jacquier Compliments can be understood as a prototypical realization of polite actions. The contribution tries to point out the principal rules and characteristics of compliments as speech acts. It discusses the puposes of speakers that give compliments to others and shows how these speech acts are integrated in and linked to larger strings of verbal exchanges. Finally it focuses on the relation between compliments and politeness and tries to draw some conclusions for politeness theory. 1. Einleitung Wenn Höflichkeit auf der Ebene von Sprechhandlungen lokalisiert werden soll, dann werden regelmäßig höflichkeitssensitive Sprechakte wie Danken, Sich entschuldigen und eben Komplimente als Beispiele dafür angeführt, dass in einigen Fällen sprachlich vollzogene Handlungen höflich sind und eben nicht (nur) die Verwendung bestimmter Strukturen oder Ausdrücke. Vor allem Komplimente fehlen in so gut wie keiner Aufzählung von Handlungen, die man vollziehen kann und sollte, wenn man höflich sein möchte: „Wenn nicht in allen, so doch in den meisten Sprachgemeinschaften dient der Austausch von Komplimenten als gängige Höflichkeitsstrategie“ (Probst 2003, 210). Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass Komplimente als prototypische Vertreter höflicher Kommunikation angesehen werden können. „Von einem guten Kompliment kaunn ich zwei Monate leben“, hat Mark Twain geschrieben. Er verweist darauf, wie wichtig Komplimente für die soziale Interaktion sind. Es ist sicher übertrieben zu sagen, dass sie überlebenswichtig sind, es ist aber intuitiv sofort einleuchtend, dass Kommunikation ohne Komplimente weniger angenehm wäre. Ebenso klar ist, dass Komplimente eng mit Kulturen zusammenhängen und dass es in Bezug auf Komplimente, ihre Form, Funktion, Frequenz und ihren Inhalt große Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen gibt (vgl. z. B. Neuland 2011, Probst 2003, Grein 2008). 150 Claus Ehrhardt / Bernd Müller-Jacquier Und - eine dritte intuitive Einsicht: Wenn man Komplimente macht, geht es nicht so sehr um den Wahrheitsgehalt der Aussagen: Es ist durchaus akzeptabel, dass man einem Gastgeber ein Kompliment für den schönen Abend macht, obwohl das Abendessen eine Katastrophe und die eingeladenen Gäste fürchterliche Langweiler waren. Solche Komplimente gehören zu den „prosozialen Lügen“ (Meibauer 2014, Hornung / Meibauer 2016). Wer immer sich über die moralische Verwerflichkeit oder Gebotenheit von Lügen Gedanken macht (vgl. z. B. Dietz 2016), kommt am Kompliment als Gegenstand nicht vorbei. Ebenso wichtig ist aber das von Meibauer gewählte Adjektiv: Manche Lügen und sehr viele Komplimente haben eine gesellschaftsstiftende Wirkung, sie dienen dem Aufbau, Ausbau oder der Erhaltung von Beziehungen. 2. Ein Beispiel Komplimente sind eine ausgesprochen delikate Angelegenheit. Wer ein Kompliment macht, der riskiert, dass er sich damit in die Nesseln setzt. Auch innerhalb einer Kultur ist es nämlich durchaus nicht unumstritten, was als Kompliment zählen kann und was nicht - was also eine Höflichkeitsbezeugung ist und wo eine als solche geplante Handlung ins Gegenteil umschlägt. Ein Beispiel dafür wurde zum vieldiskutierten Thema in Deutschland. Die Zeitschrift „Stern“ veröffentlichte im Jahr 2013 ein Porträt des FDP-Politikers Rainer Brüderle, ehemaliger Bundeswirtschaftsminister und Parteivorsitzender und damals Spitzenkandidat für die Bundestagswahl. Die Journalistin berichtete von einer Episode, die sich ein Jahr vorher abends in einer Hotelbar ereignet hatte. Im Rahmen ihrer Recherche hatte sie Herrn Brüderle begleitet und war deswegen auch an diesem Abend noch anwesend. Zu fortgerückter Stunde wandte sich der Politiker mit diesen Worten an sie: „Sie können auch ein Dirndl ausfüllen“. Sobald dieses Zitat bekannt wurde, entbrannte eine scharfe Debatte, die u. a. unter #aufschrei geführt wurde, aber auch in allen anderen Medien ein breites Echo fand. Es ging dabei auch um die Frage, was ein Kompliment ist und was nicht. Ganz offensichtlich ist es bis heute sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, einen Konsens darüber zu erzielen, ob die Äußerung von Brüderle ein Kompliment, ein misslungenes Kompliment, eine Beleidigung, eine sexistische Bemerkung, eine Demütigung (um nur einige Attributionen aus der öffentlichen Diskussion zu nennen) oder sonst etwas war - oder auch eine Kombination davon, etwa ein sexistisches Kompliment. Vor allem zwei Besonderheiten von K oMpliMent im Allgemeinen und diesem potentiellen Kompliment im Besonderen stellen sich für Definitions- und Abgrenzungsversuche als problematisch heraus. Dem Kompliment wird leicht Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen 151 unterstellt, es könne ein verstecktes Ziel haben, das als unangemessen und verwerflich aufgefasst wird. In diesem Fall vermuten diverse Beobachter wohl, dass der Sprecher eine Annäherung mit sexuellem Hintergrund („Anmache“) gesucht hat. Belegen kann man das jedoch an der zitierten Satzform nicht, womöglich ist dem Sprecher selber so etwas nicht bewusst. In vielen anderen Fällen stehen Komplimente in der Diskussion, weil sie gegenüber Vorgesetzten eingesetzt werden, um die Karriere zu fördern, gegenüber Lehrern, um eine bessere Note zu bekommen, gegenüber Eltern, um beschenkt zu werden usw. Sprechakttheoretisch gesprochen geht es in solchen Auseinandersetzungen um den illokutionären „Witz“ oder Zweck der Sprechhandlung. Im Fall von Kompliment sollte der Zweck offensichtlich darin liegen, dem Partner etwas Gutes zu tun, ohne dass dabei ein Eigennutz des Sprechers verfolgt wird. Viele Beobachter sehen deswegen eine Parallele zur Praxis des Schenkens und bezeichnen Komplimente als „verbales Geschenk“ (z. B. Bonacchi 2013, 141). Sowohl bei Geschenken als auch bei Komplimenten ist allerdings ein mehr oder weniger verwerflicher Eigennutz nie ganz auszuschließen; wer etwas verschenkt, der erwartet wahrscheinlich die eine oder andere Gratifikation als Reaktion. Der Übergang von einem Dank zu aufwändigeren Formen von Gratifikation bis hin zu geldwerten oder sexuellen Gegenleistungen ist so fließend und unbestimmbar, dass es sicher ratsam ist, die vom Sprecher erwartete Anschlusshandlung in einer Definition des Kompliments nicht als das zentrale Definitionskriterium anzusehen und davon auszugehen, dass eine anerkennende Bemerkung auch dann ein K oMpliMent sein kann, wenn der Sprecher sie möglicherweise strategisch einsetzt. Das zweite Problem betrifft die Frage, was ein gelungenes Kompliment ausmacht: die Intention des Sprechers, die Reaktion des Hörers, die Einschätzung eines Beobachters oder weitere Kriterien. Man kann wohl davon ausgehen, dass Brüderle den betreffenden Satz geäußert hat, um der Journalistin seine Anerkennung und seine Wertschätzung für ihr Aussehen auszusprechen, ihr damit eine Freude zu machen und auf der Beziehungsebene deutlich zu machen, dass er nicht nur eine Journalistin in Ausübung ihres Berufes vor sich sieht, sondern auch eine Person mit allen ihren Eigenschaften. Die Intention mag durchaus akzeptabel sein. Das Kompliment ist aber trotzdem fehlgeschlagen - die Adressatin und vor allem unbeteiligte Kommentatoren haben die Äußerung als herablassend oder beleidigend gewertet und sogar infrage gestellt, ob eine solche Formulierung überhaupt ein Kompliment sein kann. Wenn man einer Antwort auf diese Frage näher kommen will, muss man v. a. genauer definieren, was man unter K oM pliMent versteht. 152 Claus Ehrhardt / Bernd Müller-Jacquier 3. K ompliment als Sprechakt In Termini der Sprechakttheorie könnte man davon ausgehen, dass im Falle von Komplimenten (und von Höflichkeit im Allgemeinen) der perlokutionäre Akt oder Effekt (vgl. Austin 1972, 145 f. oder Staffeldt 2009, 43), also die nichtkonventionelle Wirkung eines Sprechaktes, ausschlaggebend für die Definition der Handlung ist. Anders ausgedrückt: Eine Handlung ist nur dann erfolgreich, wenn sie bestimmte Effekte erzielt. Ein Kompliment ist nur dann ein K oMpliMent , wenn der Adressat es als solches ratifiziert. Effekte sind aber kaum kontrollierbar und in gewisser Weise von der gewählten Ausdrucksform unabhängig. Ob B glaubt, was A behauptet, hängt etwa von vielen Faktoren ab, die nichts mit der Sprechhandlung des B ehAuptens zu tun haben. Oder: Ist eine Warnung keine w Arnung , wenn der Gewarnte sie ignoriert? Es könnte sinnvoller sein, perlokutionäre Akte (die auch theoretisch schwer zu fassen sind) in einer Definition zumindest nicht zu stark zu machen. Alternativ könnte man betonen, dass sich ein Kompliment auf eine Eigenschaft beziehen sollte, die von den Beteiligten in einem gegebenen Kontext als positiv bewertet wird. Im professionellen Kontext des Beispiels sollten die körperlichen Attribute der Journalistin keine Rolle spielen; mögliche und konsensfähige Gegenstände von Komplimenten wären beispielsweise ihre Beobachtungsgabe, ihre Kompetenz in der Gesprächsführung oder ihr Schreibstil. Stellt man diesen Zusammenhang in das Zentrum der Definition, ist ein Kompliment nur dann eins, wenn es sich auf eine von allen Beteiligten als positiv klassifizierte Eigenschaft bezieht. Damit wird der Akzent mehr auf Wertvorstellungen als auf Reaktionen gelegt - wobei sich solche geteilten Wertorientierungen natürlich auch in Reaktionen manifestieren. Es wäre so aber in bestimmten Fällen möglich, von einer Äußerung zu sagen, sie sei ein K oMpliMent , auch wenn der Adressat diese Einschätzung nicht teilt. Beide hier angesprochenen Fragen werden breit und kontrovers diskutiert; es gute Gründe für jede Position. In der öffentlichen Diskussion wird man keine Einigung erzielen können, und so wird die Natur und der Status eines Kompliments immer umstritten bleiben. Das ist in diesem Kontext auch unproblematisch. Die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Sprechakt kann sich mit dieser Vagheit aber nicht zufrieden geben. Hier ist eine möglichst klare Definition notwendig um anzugeben, worüber man genau spricht, wenn es um K oMpliMente geht. Eine solche Definition wird man nicht empirisch herleiten können, es handelt sich vielmehr um ein theoretisches Problem, das mit den Instrumenten der Sprechakttheorie (oder anderer Theorien) angegangen werden muss. Empirisch sollte dann untersucht werden, wie die so definierten und eingegrenzten Handlungen in verschiedenen Sprachen vollzogen werden, ob man Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen 153 bestimmte Muster identifizieren kann, ob es Unterschiede zwischen Sprachen gibt, wie die mit Kulturen zusammenhängen, wer wann wo wem Komplimente macht und wie oft sie vorkommen usw. In der Fachliteratur spiegelt sich die Unsicherheit über den Status und die Definition von Kompliment in unterschiedlichen Definitionen und Einordnungen wider. So versteht z. B. Valtl unter K oMpliMent keinen Sprechakt, sondern „eine Form der Aufmerksamkeit, die sich nicht unmittelbar auf Wünsche und Bedürfnisse des Kommunikationspartners, sondern auf seine Eigenschaften und Güter richtet […].“ (Valtl 1986, 70) Den sprachlichen und - aus linguistischer Perspektive - pragmalinguistischen Aspekt von K oMpliMent betonen viele andere Autoren, die es als Sprechakt betrachten - etwa Alfonzetti: „Ein Kompliment ist ein konduktiv-verdiktiver Sprechakt, mit dem der Sprecher seine Würdigung oder Bewunderung für eine Eigenschaft des Empfängers zum Ausdruck bringt und diese positiv bewertet“ (Alfonzetti 2009, 15, trad.: C.E.) 1 . Eine häufig zitierte Definition stammt von Holmes: „A compliment is a speech act which explicitally or implicitally attributes credit to someone other than the speaker, usually the person adressed, for some „good“ (possession, characteristic, skill, etc.) which is positively valued by the speaker and the hearer.“ (Holmes 1988, 446) Dass K oMpliMent ein Sprechakt ist, ist so gut wie unstrittig. Die von Alfonzetti verwendeten Adjektive deuten aber schon an, dass die Natur des Sprechaktes weniger konsensträchtig zu sein scheint. Die Autorin spricht zwei sehr unterschiedliche Klassen an. Verdiktive Sprechakte sind im Sinne von Austin sprachliche Handlungen, die sich dadurch auszeichnen, „daß über Werte oder über Tatsachen (soweit sie unterscheidbar sind) auf Grund von Beweismaterial oder Argumenten ein amtliches oder nichtamtliches Urteil abgegeben wird.“ (Austin 1972, 171) Unter den Beispielen, die Austin für diese Sprechaktklasse gibt, listet er Komplimente jedoch nicht auf. In seiner Klassifikation (und darauf zielt das zweite Adjektiv bei Alfonzetti ab), lassen sich K oMpliMente wohl eher als konduktive Akte klassifizieren, d. h. es geht u. a. um „Einstellungen und den Ausdruck von Einstellungen gegenüber dem vergangenen oder unmittelbar bevorstehenden Verhalten eines anderen.“ (Austin 1972, 178) Einerseits wird ein Kompliment also als Aussage über Tatsachen (den Gegenstand des Kompliments oder den propositionalen Gehalt) verstanden, andererseits als wertende Äußerung, in der der Sprecher eine subjektive Einstellung zum Ausdruck bringt. 1 Original: „Un complimento è un atto linguistico comportativo-verdittivo in cui il parlante manifesta apprezzamento e ammirazione nei confronti di un qualche proprietà del destinatario, valutandola positivamente.“ (Alfonzetti 2009, 15). 154 Claus Ehrhardt / Bernd Müller-Jacquier Andere Klassifikationen sind: Expressiva (Norrick 1978, auch Staffeldt 2009), acknowledgements (Bach / Harnisch 1982), supportive actions (Pomerantz 1978) oder social lubrificants (Wolfson 1983). In den Termini Searles schwanken die Einordnungen zwischen Assertiva und Expressiva , also Aussagen über die Welt, bei denen der Sprecher die Verantwortung über die Wahrheit der Aussage übernimmt einerseits und dem Versuch, die emotionale Lage des Adressaten zu beeinflussen andererseits. Hier stellt sich die Frage, ob beide Aspekte des K oMpliMents gleich relevant sind. Haben diese Handlungen tatsächlich eine assertiv-expressive Doppelnatur? Damit kommen wir zurück auf die Frage nach dem illokutionären Witz oder dem illokutionären Effekt der Handlung - oder der Frage, mit welchem Hauptziel man ein Kompliment macht bzw. welches Ziel dem Sprecher vom Hörer unterstellt werden muss, wenn die Handlung als gelungen angesehen wird. Wenn man die bereits angesprochene Auffassung von K oMpliMenten (wenigstens einigen davon) als prosoziale Lügen teilt, dann muss man wohl davon ausgehen, dass es hier eine klare Hierarchie gibt und dass die soziale / emotionale Funktion des K oMpliMents für seine kommunikative Funktion, den illokutionären Effekt und für die Definition wichtiger ist als die Frage, ob der Sprecher wirklich für wahr hält, was er sagt. Um auf das genannte Beispiel zurückzukommen: Wenn der Gastgeber nach dem Abendessen merkt, dass es ein desaströser Abend war und einer der Gäste beim Weggehen ein Kompliment für den schönen Abend macht, dann wird der Adressat zwar verstehen, dass das eine Form von Falschaussage war, er wird sich aber wahrscheinlich trotzdem für das Kompliment bedanken und es zu schätzen wissen, dass der Sprecher damit auch zum Ausdruck gebracht hat, dass er (der Gast) den Gastgebern den unangenehmen Abend nicht persönlich und für alle Zeiten ankreidet. Oder: Wenn jemand einem Freund ein Kompliment für die geschmackvolle Wohnzimmereinrichtung macht, dann ist es für den Empfänger des Kompliments doch gar nicht besonders wichtig, ob es dem Sprecher tatsächlich gut gefällt. Wichtiger ist die unterstützende Geste. Das Kompliment kann dann als geglückt angesehen werden, wenn der Empfänger sie versteht und akzeptiert. Der illokutionäre Witz liegt also in erster Linie auf der Beziehungsebene. Man kann ihn grob so zusammenfassen: Der Sprecher will die Beziehung zum Adressaten positiv gestalten, um in angenehmer, kooperativer Weise weiter kommunizieren zu können. In der Sprechakttheorie ist es üblich, Sprechakte über Gelingensbedingungen zu definieren, sie dadurch von anderen abzugrenzen und aus den Bedingungen Regeln (gegliedert in vier Typen) für den Vollzug der entsprechenden Handlung abzuleiten. Im Falle von K oMpliMent könnte man die bisherige Diskussion wie folgt in Form von Regeln auf den Punkt bringen (für eine etwas andere Darstellung vgl. Lewandowska-Tomaszczyk 1989, 80): Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen 155 1. Regel des propositionalen Gehalts Der Gegenstand der Aussage von Sprecher (S) muss eine Eigenschaft, ein Attribut, eine Handlung von Hörer (H) sein (Komplimentgegenstand). Diese muss sich auf einen gegenwärtigen Zustand beziehen, evtl. auch auf die Vergangenheit, wenn diese gegenwartsrelevant ist. 2. Einleitungsregeln a) Ein K oMpliMent darf nur dann geäußert werden, wenn im Kontext und damit aller Wahrscheinlichkeit nach auch von S und H der Komplimentgegenstand im Allgemeinen positiv bewertet wird. b) H sollte zum komplimentierten Gegenstand in einem verantwortlich anzusehenden Zusammenhang stehen. c) Die Eigenschaften des Komplimentgegenstandes sollten sich von einer als normal angenommenen Ausprägung positiv abheben. Es sollte sich nicht um natürlich oder selbstverständlich gegebene Eigenschaften handeln. d) S sollte keine direkte und unmittelbare Gegenleistung für die Handlung erwarten. 3. Aufrichtigkeitsregel S muss die aufrichtige Intention vermitteln, H unterstützen, gut behandeln, aufbauen usw. zu wollen und die Beziehung zu H in positiver, konstruktiver Weise unterstützen und weiterführen zu wollen. 4. Wesentliche Regel Die Äußerung des K oMpliMents gilt als beziehungsunterstützende kommunikative Maßnahme. Dazu einige kurze Erläuterungen: Die Regel des proportionalen Gehalts legt in allgemeiner Form den Inhalt der zu definierenden Sprechhandlung fest. Bei Komplimenten ist das der Komplimentgegenstand. Es muss sich dabei um etwas handeln, das H auszeichnet, etwas, was er getan hat, tut, besitzt, eine Eigenschaft oder ein Attribut. Er sollte diese Auszeichnung im weitesten Sinne zum Zeitpunkt des Kompliments haben oder - wenn es sich ein Attribut der Vergangenheit handelt - es sollte noch Auswirkungen aufweisen. „Du warst ein wunderschönes Kind“ impliziert - geäußert gegenüber einem 45jährigen Mann - eher, dass H heute nicht gerade schön anzusehen ist. „Du warst der tollste Typ unserer Klasse“ bei einem Klassentreffen 25 Jahre nach dem Abitur ist wohl ein Kompliment, weil man unterstellen kann, dass H noch immer ein attraktiver Typ ist. Die Tatsache, dass K oMpliMente sich durchaus auf Äußerlichkeiten und flüchtige Attribute beziehen können, unterscheidet sie vom l oB . Letzteres wird tendenziell eher einer eingegrenzten Leistung gezollt und weniger dem Aussehen - obwohl es natürlich Überschneidungen gibt: 156 Claus Ehrhardt / Bernd Müller-Jacquier Man kann jemanden dafür loben, das er in der Prüfung sehr gut aufgetreten ist, man kann ihm aber auch ein Kompliment dafür machen. Die Einleitungsregeln bestimmen die Sinnhaftigkeit der Handlung und nennen Bedingungen / Voraussetzungen für ihr Zustandekommen. Wenn die Bedingungen nicht erfüllt sind, dann misslingt die Handlung. Sehr wichtig ist hier natürlich die Tatsache, dass der Komplimentgegenstand mindestens von S und H positiv bewertet wird und dass sie diese Attribution wechselseitig unterstellen. Es wäre (zumindest in Europa und zumindest in den meisten Kontexten) kein Kompliment, wenn man jemandem sagt, er habe zugenommen. Ein Kompliment setzt also eine dem Sprecher und Hörer gemeinsame Werteorientierung voraus. An dieser Regel scheitert Rainer Brüderle im Beispiel, Wie gesagt, versucht er anscheinend, die Beziehung zu der Journalistin auf eine persönliche Ebene auszuweiten, tut dabei aber etwas, was zumindest in sehr vielen Kreisen und seit einigen Jahrzehnten als Fehltritt angesehen wird: Er reduziert die Persönlichkeit seiner Gesprächspartnerin auf Äußerlichkeiten, sogar auf sekundäre Geschlechtsmerkmale. Das lässt in diesem Kontext im Wesentlichen zwei Erklärungen zu: Brüderle gehört einer Generation oder einer gesellschaftlichen Gruppe an, in der man gegenüber einer kaum bekannten Frau eine Bemerkung über ihre Brüste machen darf; oder: Es geht ihm tatsächlich um eine Annäherung mit sexuellem Hintergrund. Auf jeden Fall demonstriert dieses Verhalten, dass zwischen den Beteiligten unterschiedliche Auffassungen von weiblicher Persönlichkeit und Aussehen bestehen. Die Konsequenz: Man muss diese Äußerung als misslungenes Kompliment betrachten. Es ist auf eine ähnliche Weise misslungen wie Komplimente in der interkulturellen Kommunikation, die aufgrund von Unterschieden in der Bewertung von Alter, Gewicht, Bedeutung von Reichtum u. ä. beruhen. Die Regel 2b) schließt aus, dass man jemandem ein Kompliment für etwas macht, was er eindeutig nicht beeinflussen kann. Es wäre kein Kompliment, wenn wir jemandem sagen, wie schön die neuesten Modelle aus der Kleiderkollektion von X sind. Es ist aber durchaus ein Kompliment, wenn wir positiv hervorheben, dass eine Person eines dieser Kleider gekauft und damit einen guten Geschmack bewiesen hat. 2c) schließlich schließt Äußerungen aus, die eindeutig und unmittelbar auf eine Gegenleistung abzielen. Wie gesagt gibt es hier einen breiten Unsicherheitsbereich. Niemand kann jemals wissen, was ein Sprecher tatsächlich bezweckt. Aber jeder Hörer wird sich aufgrund seines Weltwissens, des Kontextwissens und Informationen, die er über den Sprecher hat, ein Bild von den Intentionen machen. Wenn ein Lehrer das Gefühl haben sollte, ein Schüler lobt seinen Unterrichtsstil, damit die Note besser ausfällt, wird der Lehrer die Äußerung nicht als Kompliment verstehen. Es gibt aber einen breiten Übergangs- Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen 157 bereich zur Schmeichelei oder auf der sexuellen Ebene zur Anmache: Natürlich kann eines der sekundären und mittelbis langfristigen, strategischen Ziele eines Kompliments durchaus darin bestehen, einen Karrierevorteil oder eine bessere Chance auf eine Liebesbeziehung zu erreichen. Es bleibt trotzdem ein K oMpliMent . Die hier gewählte Form der Aufrichtigkeitsregel unterscheidet unsere Definition von anderen. Unser Vorschlag beruht auf der Annahme, dass der Erfolg eines Kompliments sich nicht so sehr am Wahrheitsgehalt der Aussage bemisst, sondern vielmehr an der Aufrichtigkeit der Intentionen des Komplimentierers auf der Beziehungsebene. Es ist demnach akzeptabel, im Dienste der positiven Entwicklung der Beziehung auch zu flunkern. Als Inhalt der wesentlichen Regel wurde hier also der Aufbau, Ausbau oder die Entwicklung einer kooperativen, konstruktiven Beziehung angegeben. Auch das ist tendenziell etwas anders als in anderen Definitionen. Probst etwa schreibt: „Der Sprecher solidarisiert sich mit dem Hörer“ (Probst 2003, 212, vgl. auch Wolfson / Manes 1980, 391). Damit scheint sie sagen zu wollen, dass das Kompliment eine gewisse Nähe von Sprecher und Hörer stiftet. Der Bezug auf die Gestaltung einer positiven Beziehung ist hier vorsichtiger; eher wird der Eindruck betont, dass der Empfänger des K oMpliMents für diesen Moment als einzigartig dargestellt und sowohl vom Sprecher als auch von anderen Personen abgehoben wird. Der Haupteffekt eines gelungenen Kompliments liegt also darin, dass er das Wohlwollen des Empfängers auf den Sender zieht, dass dieser sich wertgeschätzt fühlt und sich damit die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass beide in kooperativer, angenehmer Weise weiter kommunizieren können oder bei zukünftigen Begegnungen eine gute Grundlage für einen Austausch haben, in dem die gegenseitige Wertschätzung nicht neu erobert oder bestätigt werden muss. Hinsichtlich der angesprochenen Bedeutung des perlokutionären Effekts für die Definition von K oMpliMenten bleibt die vorgeschlagene Regelformulierung zurückhaltend. Sie geht davon aus, dass die Intention des Sprechers (oder die dem Sprecher von Hörer zugeschriebene Intention) das relevantere Kriterium ist. Die Hörerperspektive kommt nur in dem Verweis auf eine gemeinsame Wertegrundlage zur Sprache. Hier müsste natürlich noch ergänzt werden, dass das Vorhandensein oder die Abwesenheit der gemeinsamen positiven Bewertung des Komplimentgegenstands sich erst im weiteren Verlauf der Interaktion erweist. Aus guten Gründen werden Komplimente daher oft in Zusammenhang mit der Reaktion des Komplimentierten diskutiert - den Komplimenterwiderungen, die wiederum einen interessanten Gegenstand für pragmatische und kontrastive Überlegungen darstellen (vgl. Bonacchi 2013, 146ff, Neuland 2009, Nixdorf 2002, aber auch schon Pomerantz 1978 und Herbert 1989). Ein 158 Claus Ehrhardt / Bernd Müller-Jacquier Kompliment ist immer Teil eines Adjazenzpaares, das eben aus dem Kompliment selber und der Erwiderung besteht und kann nur dann richtig verstanden werden, wenn beide Teile in den Blick genommen werden. Darüber hinaus ist auch der weitere Kontext relevant; eine vollständige Analyse müsste z. B. berücksichtigen, in welchem Zusammenhang und aus welchem Anlass ein Kompliment gemacht wurde, wie die Interaktion weitergeht, ob sich Veränderungen auf der Beziehungsebene erkennen lassen, ob sich im kommunikativen Verhalten der Beteiligten etwas ändert usw. Leech spricht aus diesem Grund nicht von Sprechakt, sondern von „speech event“ (Leech 2014, 115) und betont damit, dass Handlungen wie Komplimente immer ein Teil eines komplexen Gefüges wechselseitig aufeinander bezogener Handlungen ist. Wir kommen im weiteren Verlauf der Diskussion darauf zurück. Für den Vollzug eines K oMpliMents ist es nicht notwendig, die Sprechhandlung explizit oder sogar explizit performativ zu vollziehen. In der Frequenz und Distribution expliziter Komplimente unterscheiden sich Sprachen und Kulturen: So ist es im Deutschen vergleichsweise unüblich so etwas zu sagen wie „Kompliment, das hast du toll gemacht.“ Extrem selten sind performative Formulierungen wie „Hiermit mache ich Ihnen ein Kompliment.“ Im Italienischen beispielsweise ist eine explizite Realisierung des Kompliments viel häufiger anzutreffen. Solche intuitiven Befunde müssen natürlich empirisch verifiziert werden. Dazu gibt es einige Ansätze (vgl. z. B. Neuland 2011). Dennoch scheint es nicht so zu sein, als ließen Sprecher ihrer sprachlichen Kreativität oder Originalität freien Lauf, wenn sie jemandem ein Kompliment machen: Ebenfalls empirisch ansatzweise nachgewiesen ist die Tatsache, dass Komplimente bestimmten Mustern folgen. Sowohl auf der syntaktischen als auch der lexikalischen Ebene sind hier klare Tendenzen beschrieben worden. Diese scheinen so verbindlich zu sein, dass hier sogar von der Formelhaftigkeit des Kompliments gesprochen wird. Diese ist besonders für das Englische gut dokumentiert: „One of the most striking features of compliments in American English is their almost total lack of originality. An initial examination of a large corpus reveals a surprising repetitiveness in both the object of the compliments and the lexical items used to describe them. (…) Compliments are, in fact, formulas.“ (Manes / Wolfson 1981, 115) Die deutsche Sprache ist in verschiedenen kontrastiven Studien thematisiert worden. So verweist Mulo Farenkia (2005) darauf, dass deutsche K oMpliMente wesentlich formelhafter ausfallen als solche in Kamerun. Probst (2003) untersucht deutsche und französische Komplimente und kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass - zumindest bei direkten Komplimenten - eine Beschränkung auf Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen 159 einige wenige Strukturen zu beobachten ist. Die Hauptaussage wird etwa durch Adjektive realisiert - oft noch durch Intensifikatoren verstärkt. Und: „Auch die Analyse der syntaktischen Strukturen lässt auf eine gewisse Formelhaftigkeit des untersuchten Sprechaktes schließen: Es gibt in beiden Sprachen - z. T. sehr ähnliche - präferierte Formulierungsarten, d. h. die überwiegenden Komplimentäußerungen beschränken sich auf eine reduzierte Anzahl möglicher Strukturen“ (Probst 2003, 218). Grein (2008, 22 ff.) verweist auf sieben präferierte Konstruktionen. Zumindest in Ansätzen ist also auch im Bereich der K oMpliMente eine gewisse Tendenz zur Idiomatisierung erkennbar, die als sprachliche Realisierung der Routinisierung des Handlungsmusters aufgefasst werden kann. Für den Vollzug eines delikaten Sprechaktes greifen viele Sprecher also lieber zu standardisierten Formulierungen. Damit bewirken sie u. a., dass der Empfänger relativ eindeutig erkennen kann, wie die betreffende Äußerung verstanden werden soll und somit Risiko kommunikativer Unfälle reduziert wird. 4. Das Kompliment in der Interaktion In der Interaktion treten Komplimente aber meistens nicht in idealtypischen Formen auf, vor allem sind sie aber - wie bereits angesprochen - in einen Kontext eingebettet und tragen zu dessen Konstituierung bei; sie stehen daher in einem engen Abhängigkeitsverhältnis mit dem Kontext. Deswegen soll nun anhand authentischer Situationen untersucht werden, wie Komplimente als Komplimentierungssequenz im Gesprächsverlauf auftreten. Nach den oben genannten Kriterien ist zu erwarten, dass Komplimentieren als Nebensequenz erscheint, d. h. als abgeschlossene, identifizierbare Kleinstgattung, für die Interagierende (a) einen Übergang vom Hauptstrang konstruieren, (b) ein Kompliment produzieren, (c) eine Annahme bzw. Aushandlung vornehmen, und entsprechend (d) eine Beendigung mit einer Rückkehr in die ursprüngliche Sequenz praktizieren müssen. Die Sequenz muss also anhand der kommunikativen Praktiken der Komplimentierer und Komplimentempfänger als Einheit erkennbar sein. Methodisch gilt die Grundannahme der Konversationsanalyse, dass ein Kompliment vor allem daran erkannt werden kann, dass ein Hörer auf eine Äußerung von einem Sprecher so reagiert, dass man als Analytiker erkennen kann, dass er auf ein K oMpliMent und nicht auf eine andere Handlung reagiert. Die Zuschreibung Kompliment-Handlung muss auch an Merkmalen der Rezeption erkennbar sein. 160 Claus Ehrhardt / Bernd Müller-Jacquier Als Daten dienen im Folgenden Auszüge aus einem authentischen Gespräch, das in der Literatur angeführt wurde. 2 Als Beschreibungsinstrument verwenden wir die oben angeführten Kriterien. Sie können durch ethnografische Kenntnisse mit Blick auf die angeführten Realsituationen erweitert werden (Deppermann 2013). Beispiel „Buntes Kleid“ An dem von Lambert erhobenen Beleg „Buntes Kleid“ soll untersucht werden, ob die sprechakttheoretische Bestimmung des Kompliments hinreichend ist oder ob aus authentischen Daten weitere Bestimmungselemente abgeleitet werden können, die über Einzel- oder Minimalpaar-Beschreibungen hinausgehen: 01 ME Frau KL + ich wollt ihnen mal was sa: gen + ihr Haa: r ist wu: nderschön 02 KL ja --------------------- 03 ME geschnitten ++ und dieses bunte Kleid mag ich zu: gern an Ihnen 04 KL ja? --------------------- 05 ME leiden kein bißchen ist das zu: hübsch so fröhlich 06 KL das ist mir zu bunt --------------------- 07 ME und so: sommerlich (bitte ( ) ich bin 08 KL ich danke Ihnen ich danke Ihnen für das gute Wort --------------------- 09 ME alt darf das aussprechen ( ) 10 KL das dürfen Sie das stört mich nicht --------------------- 11 ME ja ja (also gut) 12 KL nech Sie sind ja bedeutend älter wie ich denn ich bin --------------------- 13 ME und ich bin vierundachtzig 14 KL fünfundsiebzig oh Mann! (Lambert 2003, 171) Anders als Lamberts Klassifizierung der Anrede als „höflich, namentlich“ (Z1) kann diese aus sequenzanalytischer Sicht erst einmal als Indikator für die notwendige Einleitung für eine Nebensequenz angesehen werden. Denn jede Abweichung vom Hauptstrang muss Co-Interagierenden angezeigt werden. Dies geschieht hier auch zusätzlich als metasprachlicher Hinweis in Z1. ME holt zum 2 Die Transkriptkonventionen werden hier aus Platzgründen nicht im Detail angeführt; sie sind für den hier verfolgten Zweck der Illustration weitgehend selbsterklärend. Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen 161 Zweck des Komplimentierens eine Lizenz zur Einnahme einer längeren Sprecherrolle ein und eröffnet damit einen Nebenstrang. KL ratifiziert dies mit ja (Z02), bevor ME fortfährt. Beides, der Verweis auf bzw. die Bitte um ein Abweichen vom Handlungsstrang kann auch mithilfe nonverbaler oder paraverbaler Mittel erfolgen (die im Auszug oben nicht kodiert sind). Es folgt ein Kompliment zum Haar der Komplimentierten, das in Form einer Aussage über den Haarschnitt geäußert wird. Die positive Evaluation quittiert KL nach einer Kurzpause mit einem intonatorisch ansteigendem ja? (Z04). Sprechakttheoretisch und wörtlich betrachtet könnte man diese Reaktion als Rückfrage ansehen oder - wie Lambert - als question accuracy bzw. request asssurance . Gesprächslinguistisch handelt es sich um eine Annahme in Form einer Erstaunens-Vokalisierung bzw. ein hedgendes Anzweifeln (oder auch um ein Rezipientensignal mit suspendierender Kompliment-Reaktion, wenn man unterstellt, dass die Rezipientin realisiert, dass die Komlimentiererin das Rederecht nicht abgeben will). Es folgt ein zweites Kompliment zum Kleid von KL (Z03). Interessant ist, dass letzteres wiederum nicht als initial gewertet werden kann, da - wie Lambert zu Recht vermerkt - Nachfolgekomplimente oftmals als Reaktionen auf Anzweifelungen oder hedges provoziert werden, wie es oben durch das besprochene ja? (Z04) naheliegt. Auch wird das Kompliment mit der Abschwächung mag ich zu: gern (Z03) versehen. Eine solche Individualperspektivierung könnte wörtlich als subjektive, evaluierende Feststellung interpretiert werden, doch muss auch eine solche Klassifizierung als mögliche konventionelle Realisierung von K oMpliMent gelten. Als KL versteht, dass ME ein zweites Kompliment macht, reagiert sie überlappend und abwertend mit das ist mir zu bunt (Z06). Wörtlich interpretiert kann man hier von einer Ablehnung ausgehen (wie es auch Lambert beschreibt, vgl. 2013, 171), doch gilt ein solches „Zurückweisen“ auf der Äußerungsebene ebenfalls als mögliche konventionelle Form der Reaktion auf K oMpliMente - und zwar in mehreren Sprachgemeinschaften, u. a. in Japan - und damit als konventionalisierte Variante zur Realisierung der Handlung A nnAhMe . In Form eines Oppositionsformats, also einer expliziten Dissensäußerung unter Verwendung der Worte der Vorrednerin und verbunden mit einer Negation (Kotthoff 1993, 201 ff.) reagiert ME (Z05) konfrontativ und intensiviert ihr Kompliment durch eine partikelverstärkende dreifache Adjektivhäufung (Z05 / 07). Dass hier ein konventionalisiertes Muster der Annahmeaushandlung abläuft, bestätigt KL s anschließende, „ausdrückliche“, und in der Verdoppelung ernst gemeinte Annahme durch ich danke Ihnen ich danke Ihnen (Z08), die wiederum überlappend und damit potenziell als dispräferierte Unterbrechung realisiert wird. Dazu gehört auch, dass sich KL für das gute Wort (Z08) bedankt und da- 162 Claus Ehrhardt / Bernd Müller-Jacquier mit für die Handlung K oMpliMent und nicht etwa - wie sprechakttheoretisch postuliert - für die positive Evaluierung ihrer Frisur bzw. Kleidung. Interessant ist auch die anschließende Thematisierung eines „Rechts“ auf Komplimentieren ich darf das aussprechen (Z09). ME verweist als Grundlage für ihre Lizenz zum K oMpliMent auf einen bestehenden Altersunterschied. Beide Komplimentrealisierungen im Beispiel „Buntes Kleid“ weisen also eine Form auf, die auch andere Illokutionen interpretierbar machen. Dies ist ein generelles Problem der oben skizzierten Sprechakttheorie (und durch Searles Konzept der indirekten Sprechakte auch nicht zufriedenstellend gelöst, vgl. u.a Fritz 1981, 108), doch scheint es so zu sein, dass - wie oben angezeigt - indirekte Ausdrucksformen im Fall des Komplimentierens die Regel sind. Das Beispiel verdeutlicht, dass K oMpliMente in konkreten Situationen kontextsensitiv erschlossen werden müssen. Dazu ist nicht nur die Handlung selbst relevant, sondern ihre Einbettung. Konkret müssen bei der Bestimmung von K oMpliMent also (a) der Übergang vom Hauptstrang, (b) die Kompliment-Äußerung, (c) die Annahme bzw. Aushandlung und (d) die Beendigung als Rückkehr in die ursprüngliche Sequenz erfasst werden. Aus gesprächslinguistischer Sicht stellt also der sprechakttheoretisch zweite Schritt beim Komplimentieren in der Regel die A nnAhMe des K oMpliMents dar, und zwar unabhängig von seiner sprachlichen Form, die - wie oben illustriert - in der sprachlichen Form als Zurückweisen, Abwiegeln, submissives Beschwichtigen, kompensatorisches Selbstverkleinern (vgl. Lambert 2003, 165 / 166 und 169) realisiert wird. 3 5. Kompliment und Höflichkeit Welche Konsequenzen K oMpliMente auf der Beziehungsebene genau haben, müsste im weiteren Verlauf der Konversation oder anderer Interaktion zwischen diesen beiden Personen verifiziert werden. Wahrscheinlich lässt sich aber unter Beobachtern leicht ein Konsens darüber erzielen, dass die Komplimente im Beispieldialog sich positiv auf den weiteren Verlauf der Interaktion(en) auswirken werden. ME hat KL ein verbales Geschenk gemacht und ihre Wertschätzung demonstriert, die hat deutlich gemacht, dass sie auf kooperative Weise kommunizieren möchte und dass von ihr keine unnötigen Störungen auf der Beziehungsebene zu erwarten sind. Aus diesen (und anderen) Gründen gehören K oMpliMente nach übereinstimmender Ansicht von mehr oder weniger professionellen Beobachtern von 3 U. a. sich BedAnKen , zustiMMen , sich freuen , scherzen , zurücKgeBen , erKlären , zweifeln , AB lehnen (Nixdorf 2002, 37) Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen 163 Sprache und Kommunikation zu den zentralen Gegenständen der Reflexion über Sprache und Höflichkeit. Es handelt sich bei diesem Handlungstyp um eine prototypische Realisierung von Höflichkeit. Das zeigt sich in den Gesprächsdaten, und es spiegelt sich in den Gelingensbedingungen bzw. Gebrauchsregeln für die Sprechhandlung, v. a. in der wesentlichen Regel wider. Sie legt als Hauptziel des Komplimentierens die Beziehungsunterstützung oder des Beziehungsmanagements fest. Komplimente sind beziehungssupportive Handlungen. Die Grundaussage eines Kompliments kann man vielleicht so auf den Punkt bringen: „Ich finde dich gut und ich will, dass du das weißt.“ Wie immer man Höflichkeit definieren möchte, diese Art von kommunikativer Aktivität gehört mit Sicherheit zu ihrem Kernbereich. Der Zusammenhang zwischen Höflichkeit und Komplimenten - so wie diese hier dargestellt wurden - lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: 1. Man kann kein gelungenes Kompliment machen, ohne höflich zu sein. Nach der vorgeschlagenen Definitionen sind Komplimente per definitionem höflich, sie unterscheiden sich durch diese Eigenschaft von vielen anderen Sprechhandlungen ( sich entschuldigen , sich BedAnKen , jMdn . wArnen , jMdn . ein lAden , jMdn . entlAssen ) und auch von anderen sprachlichen Formen der Realisierung von Höflichkeit. Die meisten dieser Sprechakte können mehr oder weniger höflich vollzogen werden. Ihre kommunikative Hauptfunktion liegt eben nicht darin, höflich zu sein. Wenn ein Sprecher A einen Partner B höflich auffordert, etwas zu tun, dann vollzieht er erst einmal eine direktive Sprechhandlung, die im Dienste der Persuasion steht. Zusätzlich gibt er dem Adressaten durch die Formulierung, die Intonation oder sonstige Hinweise zu verstehen, dass er B respektiert und die Beziehung zu ihm pflegen möchte. In diesem Fall könnte man darüber spekulieren, ob eine höfliche A ufforderung zu einer B itte wird und in den Gelingensbedingungen dieser Sprechhandlung nicht ebenfalls eine höfliche Beziehungsorientierung eingeschrieben ist. Bei Handlungen wie jemanden entlAssen ist das aber sicher nicht der Fall. Höflichkeit ist bei diesen Sprechhandlungen kein Aspekt der Gelingensbedingungen oder in der Definition der Handlung unerheblich, also eine zusätzliche kommunikative Aktivität, die allerdings nicht als unabhängige Sprechhandlung charakterisiert werden kann. Weil K oMpliMente dagegen keine anderen relevanten Funktionen haben als die, höflich zu sein, können sie als eines der wenigen Beispiele für höfliche Handlungen in Reinform, für Höflichkeit in ihrer Essenz betrachtet werden. Für Überlegungen über Sprache und Höflichkeit stellen sie also einen privilegierten und besonders interessanten Gegenstand dar. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Sprecher das, was sie tun, wenn sie Komplimente machen, auch dann tun, wenn sie andere Handlungen höflich vollziehen - nur dass bei der Analyse 164 Claus Ehrhardt / Bernd Müller-Jacquier solcher Handlungen verschiedene Ebenen der Äußerungsbedeutung (etwa Persuasion und Beziehungspflege) getrennt werden müssen. K oMpliMente sind demnach ein Beispiel für ein routinisiertes Verfahren, höflich zu sein. Das Sprechhandlungsmuster stellt eine standardisierte Lösung für ein rekurrentes kommunikatives Problem dar, nämlich die Aufgabe, dem Partner zu signalisieren, dass man ihn schätzt und dass man mit ihm kooperieren möchte. Für die Lösung dieser Routineaufgabe gibt es wiederum routinisierte oder standardisierte sprachliche Muster, die auf dem Weg der Idiomatisierung sind. 2. Man kann höflich sein, ohne ein Kompliment zu machen. Man kann Höflichkeit und Komplimente nicht einfach gleichsetzen. Höflichkeit ist der umfassendere Begriff. Komplimente machen ist nur eine Option, höflich zu sein. Es stellt sich die Frage, inwieweit Komplimente die Essenz von Höflichkeit verkörpern oder ob - im Gegenteil - andere Realisierungen von Höflichkeit andere oder zusätzliche kommunikative Ziele erreichen können. Anders gefragt: Besteht Höflichkeit in der Kommunikation von Wertschätzung und dem damit verbundenen Ziel, eine positive Beziehung zum Partner zu etablieren, oder gibt es noch weitere Ziele - etwa die Abfederung potentiell konfliktträchtiger Handlungen? 3. Man kann kommunizieren, ohne Komplimente zu verwenden, aber die Kommunikation wäre so weniger effizient und weniger angenehm; die Wahrscheinlichkeit von Anschlusskommunikation hängt in vielen Fällen auch davon ab, dass die Beteiligten sich gegenseitig ihre Wertschätzung oder ihren Respekt signalisiert haben. Der kommunikationstheoretische Stellenwert von Höflichkeit lässt sich auf dieser Grundlage vorerst so skizzieren: Kooperation im Sinne von Grice ist eine Bedingung für die Möglichkeit von Kommunikation. Wer nicht kooperiert, kommuniziert nicht. Höflichkeit ist eine Bedingung der Möglichkeit von angenehmer Kommunikation und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Kommunikation fortgesetzt werden kann, erheblich. Und die Wahrscheinlichkeit wächst, dass der Sprecher in der Kommunikation seine Ziele erreicht d. h. dass Kommunikation erfolgreich / effizient ist. Ohne Höflichkeit (und - je nach Kultur - einer gewissen Anzahl von Komplimenten) hat man schnell keine Lust mehr, mit dem anderen zu sprechen. Die genaue Betrachtung von K oMpliMenten zeigt auch, dass Höflichkeit nicht immer eine subsidiäre Zusatzhandlung sein muss, die gesichtsbedrohende Akte oder andere konfliktträchtige kommunikativen Handlungen abmildert oder verhindert. Komplimente sind ein Beweis dafür, dass Höflichkeit als Hauptziel von Kompliment und Komplimentieren. Begriffs- und Handlungsbestimmungen 165 kommunikativen Aktivitäten angesehen werden kann und eben nicht nur als Strategie, dem Partner potentiell giftige Pillen süß schmecken zu lassen. Literatur Alfonzetti, Giovanna (2009). I complimenti nella conversazione. Roma: Editori Riuniti University Press. Austin, John L. (1972). Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart: Reclam. 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The development of politeness competence in L2 is seen as a fundamental component of the acquisition of communicative competence. At the same time, the acquisition of communicative competence in L2 is not seen as monodirectional, but as a dialectic process of reflection on default structures (in L1) and new structures (in L2). In the second part two lexicographic projects of (Polish-German and German-Polish) dictionaries of politeness expressions are presented. 1. Problemstellung In einer Zeit fortschreitender globalisierter Kommunikation, bei der die Sprechergemeinschaften nicht mehr „national“ festgelegt sind, sondern sich in jeweils unterschiedlichen Kontextfigurationen und medialen Rahmen konstituieren, scheint Höflichkeit ein linguistisches Gebiet zu sein, in dem landesspezifische Eigenschaften noch von Belang sind: In kaum einem anderen Bereich als im höflichen Umgang lassen sich „nationale“ Werte spüren und interkulturelle Probleme feststellen, die nicht nur aus sprachtypologischen Unterschieden, sondern auch aus einer unterschiedlichen Gewichtung der jeweils geltenden kulturellen Werte resultieren. Höflichkeit hat ein Janusgesicht: Einerseits stellt sie eine sprachenübergreifende kultursystemische Ressource zur Beziehungsgestaltung dar (wie sie der Festlegung des Höflichkeitsbegriffs zweiter Ordnung 170 Silvia Bonacchi / Virginia Schulte in der Tradition Brown / Levinson 1987 zugrunde liegt), andererseits sind Höflichkeitssysteme tief in den jeweiligen Sprachen kodiert, in den jeweiligen Kulturen verankert 1 und erwachsen aus realen landesspezifischen Begebenheiten (Sitten, Bräuchen, umweltlichen Bedingungen). Es liegt daher nahe, dass die richtige Beherrschung von höflichen Formen in der Fremdsprache bzw. der Erwerb von fremdsprachlicher Höflichkeitskompetenz ein Problem für Fremdsprachenlernende darstellt: Auch bei relativ hohem Sprachkompetenzniveau treten „Fehler“ im Gebrauch von höflichen Formen in der Fremdsprache auf. Der falsche Einsatz von Höflichkeitsformen kann daher als „Xenismus“ 2 betrachtet werden, wodurch ein Sprecher trotz sonstiger sprachlicher Korrektheit als Ausländer ausgewiesen wird: „Xenismen sind solche sprachlichen Produktionen, die sich außerhalb des sprachlichen Systems bewegen, aber in sprachliche Realisierungen dieses Systems eingebettet sind. Xenismen […] stellen die Gemeinsamkeit der Kommunikation in Frage, weisen den Sprecher als Nicht-Mitglied aus und können zu einer kommunikativen Verunsicherung führen. Derjenige, der den Xenismus produziert, gerät dadurch sozusagen schlagartig in die Kategorie des Fremden - eines Fremden, der weiterhin incognit kommuniziert.“ (Ehlich 1986, 50 f.) Dies ist auffällig, wenn etwa polnische Muttersprachler auf Deutsch höflich sein möchten und umgekehrt: Auch bei gutem Kompetenzniveau - etwa B2 oder C1 - und sprachlicher Korrektheit treten pragmatische Fehler auf, die die Sprecher als „Ausländer“ bzw. „Fremde“ entlarven. Welche didaktischen Strategien sollen dabei verfolgt werden? Sollen Abweichungen vom muttersprachlichen Gebrauch als „Fehler“ bestraft werden - der Lernende soll eine Höflichkeitskompetenz in der Fremdsprache entwickeln, die mimetisch möglichst nah zu der des Muttersprachlers ist - oder geht es um die Entwicklung von kommunikativen Kompetenzen, die einen erfolgreichen höflichen Austausch mit Sprechern ermöglichen, die eine andere Sprache bzw. Herkunftskultur haben? Es wird somit klar, dass der Erwerb fremdsprachlicher Höflichkeitskompetenz als grundlegender Teil der fremdsprachlichen Kommunikationskompetenz (nach den klassischen Adäquatheitsparametern: korrekt, angemessen, nicht markiert) eine Schwierigkeit nicht nur für die Lernenden selbst, sondern auch für Spezialisten der interkulturellen Kommunikation 1 Dies kommt in der diachronischen Betrachtung besonders klar zum Ausdruck, vgl. Marcjanik 2011. 2 Mit Xenismus sind Fehler von Zweit- und Fremdsprachlern, die nicht mehr den üblichen Lernerstatus haben (und ihnen daher Fehler „verziehen“ werden). Es sind „Abweichungen“ und „Unzulänglichkeiten“, die den Sprecher als „Fremden“ auswiesen. Möglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke 171 (Sprachvermittler, Daf-Spezialisten 3 und Übersetzer) ist, die vor der Aufgabe stehen, Lehrmethoden und Bildungskonzepte zu entwickeln, die den Erwerb fremdsprachlicher und fremdkultureller Höflichkeitskompetenz begünstigen. Dazu gehört auch die Vorbereitung von entsprechenden lexikographischen Nachschlagewerken. 2. Muttersprachliche und fremdsprachliche Höflichkeitskompetenz Höflichkeitskompetenz ist eine wichtige Komponente der Kommunikationskompetenz eines Sprechers, der in unterschiedlichen sozialen Arenen kommunikativ handelt. Es wurde schon betont, dass Höflichkeitskompetenz als grundlegende Komponente der Kommunikationskompetenz 4 nicht nur sprachliches und kulturelles Wissen, sondern auch eine ausgeprägte pragmatische Handlungskompetenz voraussetzt (Bonacchi 2011, 95 ff., Bonacchi 2013, 228). Kommunikationskompetenz setzt immer „Wirkungskompetenz“ voraus, d. h. die Fähigkeit zur Selbstregulierung und zur Modulierung des eigenen kommunikativen Verhaltens im Zusammenhang mit den jeweils verfolgten kommunikativen Zielen. Unter „Höflichkeitskompetenz“ wird jene kommunikative Kompetenz subsumiert, die einem konkreten Sprecher / Hörer ermöglicht, an höflichen Interaktionen (unter Berücksichtigung der jeweiligen Sprecher-, Situation- und Kontextvariabilität) in einer konkreten kontextuell gegebenen Situation adäquat teilzunehmen (vgl. dazu Bonacchi 2013, 231). Es geht dabei nicht nur um die Entwicklung eines Wissens über die sprachlichen Formen zum Vollzug von Höflichkeitsakten 5 , sondern auch über die kulturellen Rahmenbedingungen ihres Gebrauchs (vor allem hinsichtlich der Präferentialität konkreter Akte, z. B. ein Wissen darüber, wann Dankverhalten erwartet wird, welche Spielregeln (constraints) beim Komplimentierverhalten zu beachten sind oder wer wen wie erwartungsgemäß grüßt etc.). Darüber hinaus soll eine 3 Was die Glottodidaktik betrifft, sind eine Reihe von Studien zu nennen, die den Erwerb von Höflichkeitskompetenz durch Lehrwerke thematisieren (vgl. Ehrhardt / Neuland 2009, Reeg 2009, Kaunzner 2009, Birk 2009, Simon 2009, Scialdone 2009, Pieklarz 2011). 4 Für die Bestimmung des Begriffs der Kommunikationskompetenz sei auf die Diskussion in Folge von Hymes 1972 (Göring 1978, Coseriu 1988) bis zu neueren Ausführungen (Calonder-Gerster 2001, Deppermann 2004) hingewiesen. 5 Aus der Sicht ihrer handlungsleitenden Struktur lassen sich Höflichkeitsakte in präsentative (Grußverhalten, und Akte der Eigen- und Fremdpositionierung), supportive (Akte der Teilnahmebekundung, Dankverhalten, Lobverhalten, Komplementierverhalten) und reparative Akte (Akte der Selbst- und Fremdrechtfertigung, Entschuldigungen) einteilen, vgl. Bonacchi 2013, 125-157. 172 Silvia Bonacchi / Virginia Schulte pragmatische Handlungskompetenz entwickelt werden, die dem Sprecher ermöglicht, in der konkreten Situation mit dem konkreten Gegenüber in einem konkreten Gesprächssetting adäquat zu handeln - auch im Sinne einer strategischen Gesprächsgestaltung bzw. eines adäquaten Adressatenzuschnitts (vgl. dazu Bonacchi 2016). Höfliches Verhalten wird meistens nicht bewusst reflektiert, sondern relativ spontan auf der Basis von Handlungsskripten realisiert, die die sozial handelnden Akteure im Laufe von Sozialisierungsprozessen internalisiert haben und die sie angesichts des gegebenen situationellen Kontextes, des Gesprächspartners und des Typs der Interaktion aktivieren. Sowohl muttersprachliche als auch fremdsprachliche Höflichkeitskompetenz sind also nicht angeboren, sondern werden im Laufe von Lernprozessen erworben. Die Lernprozesse zur Entwicklung von Höflichkeitskompetenz in der Muttersprache und in der Fremdsprache unterscheiden sich aber grundlegend. Die muttersprachliche bzw. eigenkulturelle Höflichkeitskompetenz wird im Laufe von „natürlichen“ primären, sekundären und tertiären Sozialisierungsprozessen erworben: allen voran in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Peer-Gruppe. Fremdsprachliche bzw. fremdkulturelle Höflichkeitskompetenz wird dagegen vor allem in didaktischen Kontexten erworben, die stark hierarchisiert sind (etwa Lehrende-Lernende, Einheimische-Ausländer). Der Lernprozess von höflichem Verhalten in der Fremdsprache erfolgt durch den Kontakt mit dem oft hierarchisch höher gestellten „Anderen“ und durch eine Auseinandersetzung mit dem, was bis dahin als default galt (das Eigene). In diesem Prozess stellt der Lernende Kongruenzen, aber auch Inkongruenzen (nach dem Motto: das macht man in der Fremdsprache nicht oder das darf man in der Fremdsprache nicht sagen / machen! ) zwischen dem eigenen Höflichkeitssystem (Herkunftssystem) und dem Zielsystem fest. Des Weiteren eignet sich der Lernende das neue Höflichkeitssystem meistens nicht holistisch, sondern „stückweise“, höchstens modular an, sein sprachliches Handeln ist weniger situiert (insofern kontextentbunden) als im Falle des Erwerbs eigensprachlicher Höflichkeitskompetenz. Der Lernende befindet sich also, vor allem in den anfänglichen Phasen des Lernprozesses, auf einer schwierigen Gratwanderung zwischen dem Eigenen und dem „Anderen“, bzw. zwischen dem meist unreflektierten eigenen und dem neuen (in dieser Phase noch „fremden“) Höflichkeitssystem (vgl. dazu Bonacchi 2012a). Wenn man aber den höflichen Austausch in der interkulturellen Kommunikation nicht als monodirektional, sondern als Dialog, als dynamischen Austausch zwischen Vertretern unterschiedlicher Sprachen und Kulturen erfasst, dann eröffnen sich didaktische Perspektiven, die sich auf der praxeologischen Ebene direkt umsetzen lassen. Zu ergänzen scheint daher die grundlegende Definition der fremdkulturellen Höflichkeitskompetenz als „das Wissen um Möglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke 173 situationsgebundene Höflichkeitskonventionen“ und „um deren Bedeutung für den Erfolg von sprachlichen Handlungen“ (Simon 2009, 268). Denn es geht dabei nicht nur um den Erwerb von fremdsprachlichem und fremdkulturellem Wissen über Höflichkeitsforme(l)n in der Zielsprache, sondern vielmehr um eine selbstkritische Reflexion, die vor allem bei höheren Kompetenzniveaus (B2, C1 und C2) ermöglicht, sich zwischen Herkunftssprache bzw. -kultur und Zielsprache bzw. -kultur, d. h. zwischen muttersprachlichem und zielsprachlichem Höflichkeitssystem kompetent zu bewegen. Es geht also nicht darum, die fremdkulturelle Höflichkeit zu übernehmen oder die eigene Höflichkeit anhand von 1: 1 Äquivalenzen in die Fremdsprache zu transponieren, sondern um die allmähliche Entwicklung eines selbstreflektiven Bewusstseins im dialogischen Verhältnis mit dem Anderen, das auch ermöglicht, Distanz vom Eigenen zu gewinnen. Der Erwerb fremdkultureller Höflichkeitskompetenz ist also als ein komplexer Prozess der Vermittlung zwischen Eigenem und Fremdem didaktisch zu gestalten. Der höflich kompetente Sprecher in einer Fremdsprache ist nicht nur ein Sprecher, der das fremdsprachliche und fremdkulturelle Höflichkeitsystem beherrscht, sondern ist vielmehr ein Kulturvermittler, der von seiner Herkunftskultur mindestens als Substrat geprägt ist, es sei denn, dass er bibzw. mehrsprachig und bibzw. mehrkulturell sozialisiert ist. Der höflich kompetente Pole, der Deutsch spricht, bleibt „sich selbst“ treu in dem Sinne, dass er nolens volens im Lernprozess von seiner „Herkunftskultur“ ausgeht. Entgegen einer Mimikry des „Überkulturellen“ soll von einem Polen, der höflich in der Fremdsprache handelt, nicht erwartet werden, dass er zu einem „Deutschen“ wird und umgekehrt. Bei der Entwicklung fremdsprachlicher Höflichkeitskompetenz soll eine Reihe von kommunikativen Eigenschaften entwickelt werden, die ein gutes Gelingen des höflichen Umgangs in der interkulturellen Kommunikation ermöglichen: Ambiguitätstoleranz, Fehlertoleranz, Rollendistanz, Flexibilität, Respekt. Unter „fremdkultureller Höflichkeitskompetenz“ (Erndl 1998, 39, Neuland 2008, 170) sollen daher jene Fähigkeiten subsumiert werden, die ein kommunikatives Verhalten ermöglichen, das in einem fremdkulturellen Kontext als „höflich“ bezeichnet werden kann, bei dem gleichzeitigen Bewusstsein, dass die Gesprächspartner eine Zwitterstellung zwischen unterschiedlichen Sprachen und Kulturen haben. Die Frage lautet nun: Kann ein bilinguales Wörterbuch der Höflichkeitsausdrücke zu diesem Ziel beitragen? 174 Silvia Bonacchi / Virginia Schulte 3. Die lexikographischen Projekte Ein bilinguales Wörterbuch der Höflichkeitsausdrücke 6 stellt eine Herausforderung für den Lexikographen dar. Wörterbücher repräsentieren Ausschnitte des jeweiligen Sprachsystems bevorzugt monolexikalisch: Die Lemmata (Einträge) sind meistens Einzelwörter, die man dann unterschiedlich für die Suche ordnen kann (alphabetisch, thematisch, nestmäßig, etc.). Höflichkeit besteht aber vor allem in polylexikalischen Einheiten (Phrasemen), die erst dank ihrem gleichzeitigen Zusammentreffen höflich sind − manchmal ist nur die Präsenz einer Modalpartikel oder einer epistemischen Modalität, die beispielweise einen Fragesatz zu einem Höflichkeitsausdruck macht: „Hast du morgen Zeit? “ (Fragesatz, nicht höflich) vs. „Hättest du morgen Zeit? “ (höfliche Frage) „Hast du vielleicht morgen Zeit? “ (höfliche Frage) 7 . Ein Wörterbuch hat darüber hinaus in der Regel bescheidene Möglichkeiten einer sequentiellen Repräsentation der Gesprächsschritte. Höflichkeit ist aber ein dialogisches Phänomen, das aus der Sequenzstruktur (Aktion - Reaktion bzw. initiierender Gesprächsschritt - respondierender Gesprächsschritt) erwächst. Dem Lexikographen, der sich eine bi- oder mehrlinguale lexikographische Repräsentation der sprachlichen Höflichkeit zum Ziel setzt, steht die schwierige Aufgabe bevor, Äquivalenzverhältnisse zwischen polylexikalischen Ausdrücken, die oft erst in der Sequenzstruktur ihre höflichen Funktionen entwickeln, in zwei Sprachen zu beschreiben und möglicherweise „Entsprechungen“ anzugeben. Das Repertoire an Höflichkeitsausdrücken ist sehr breit: von höflichen Routineformeln und festen Wendungen, die hoch konventionell sind, über typische Höflichkeitsindikatoren (darunter etwa Satztypen, höfliche Präsequenzen) bis zu Modulierungsverfahren (etwa Abtönung der illokutionären Kraft von potenziell gesichtsbedrohenden oder Verstärkung von gesichtswahrenden Sprechakten), die einen hohen idiosynkratischen Grad aufweisen. In der breiten polnisch-deutschen Wörterbuchlandschaft gibt es kaum Nachschlagewerke, die höfliche Umgangsformen registrieren, vergleichen und Äquivalenzverhältnisse auf verschiedenen Ebenen besprechen. Auf dem Markt sind einige „Ratgeber“ (so genannte: „Helper“) für besondere Arbeitssituationen (etwa als Pflegepersonal) und touristische Führer mit höflichen Wendungen zu 6 Im Folgenden wird von Höflichkeitsausdrücken gesprochen, weil die Einträge in den besprochenen lexikographischen Werken keine Einzelwörter sind, sondern polylexikalisch spezifizierte Phraseme, die zur Bildung von frequenten Sprachgebrauchsmustern benutzt werden können. 7 Vgl. dazu Szulc-Brzozowska 2002, 279, 342. Für didaktische Implikation vgl. Laskowski 2011. Möglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke 175 finden 8 , die eine sehr beschränkte Reihe von festen Wendungen bieten, auf die die Benutzer mehr oder weniger automatisch zurückgreifen können, wenn sie im fremden Land grüßen, sich bedanken, entschuldigen oder höfliche Routinen in Standardsituationen bewältigen möchten. Es gibt allerdings keine lexikographischen Werke, die das Ergebnis von systematischen Korporaanalysen im Bereich der höflichen Formen sind. Im Folgenden werden zwei lexikographische Projekte präsentiert, die sich zum Ziel setzen, diese Lücke zu füllen: 1. Das erste Projekt „Polish and German Savoir-vivre and Civility of Language. A Comparative Study“ wird durch das Polnische Nationale Wissenschaftszentrum (Narodowe Centrum Nauki) finanziert 9 und sieht die Vorbereitung eines bilingualen (polnisch-deutschen) Wörterbuches für Benutzer mit Polnisch als L1 vor. 2. Das zweite Projekt ist das Promotionsprojekt 10 von Virginia Schulte, die im Rahmen einer konfrontativen Studie ein deutsch-polnisches Wörterbuch vorbereitet, die für Benutzer mit Deutsch als L1 vorgesehen ist. Beim ersten Projekt handelt es sich um ein polnisch-deutsches Wörterbuch, beim zweiten Projekt um ein deutsch-polnisches Wörterbuch der Höflichkeitsausdrücke. Der unterschiedliche Aufbau dieser zwei Wörterbücher ist dadurch motiviert, dass angesichts der unterschiedlichen Charakteristika der Benutzer und der Ziele, die ein solches Wörterbuch als Instrument zum Erwerb der fremdsprachlichen Höflichkeitskompetenz verfolgt, keine volle Umkehrbarkeit der Lemmata möglich ist. Dies bedeutet, dass die Entsprechung von Ausgangslemmata und Äquivalenten nur in eine Richtung (eben polnisch-deutsch bzw. deutsch-polnisch) gilt, weil der Aufbau des Wörterbuchs eng an die Zielgruppe (Polen oder Deutsche) und an die Funktionen des Wörterbuchs gebunden ist. 8 Vgl. etwa „Rozmówki polsko-niemieckie dla turystów i dla wyjeżdżających do pracy“ [deutsch: „Polnisch-deutsche Gespräche für Touristen und für Arbeiter im Ausland“] von Golis / Golis (2004), oder „Wzorce wypowiedzi“ [„Gesprächsmuster“] von Jaworowska (2009). 9 Das Projekt „Językowy savoir-vivre polski i niemiecki. Studium konfrontatywne“ (2014 / 13 / B/ HS2 / 00 658) wird in Zusammenarbeit mit der Fakultät für Journalismus und Medienkunde der Warschauer Universität, (Małgorzata Marcjanik), der Neophilologischen Fakultät (Germanistik, Agnieszka Frączek) und der Fakultät für Angewandte Linguistik (Institut für Fachkommunikation und interkulturelle Studien, Silvia Bonacchi) realisiert. Die geplante Dauer ist 2015-2018. 10 Virginia Schultes Arbeit „Tłumaczenie wyrazów grzeczności językowej. Polski i niemiecki: analiza konfrontatywna“ (deutsch: „Das Übersetzen von Höflichkeitsausdrücken Deutsch und Polnisch: Eine konfrontative Analyse“) wird am Institut für Fachkommunikation und interkulturelle Studien der Universität Warschau unter der Betreuung von Silvia Bonacchi vorbereitet. 176 Silvia Bonacchi / Virginia Schulte Den beiden Wörterbuchprojekten ist die Grundidee gemeinsam, dass der Benutzer darin „seine Höflichkeit“ und die Möglichkeiten (und Grenzen) ihrer Umsetzung in die Fremdsprache findet. 3.1 Das polnisch-deutsche Wörterbuch Das erste Projekt setzt sich den Aufbau eines bilingualen Wörterbuchs polnisch-deutsch (die Ausgangslemmata sind auf Polnisch) zum Ziel. Wörterbuchtypologisch gesehen handelt es sich um ein kommunikationsorientiertes Korpuswörterbuch, dem polnische und deutsche Höflichkeitskorpora zugrunde liegen, die die Grundlage für pragmalinguistische und konfrontative Studien (Bonacchi 2011 und 2013, Marcjanik 2002, 2005, 2013 und 2014) geliefert haben. Funktionstypologisch ist das Wörterbuch für den polnischen Benutzer (bzw. für Benutzer mit Polnisch als L1) mit mindestens B2-Kompetenzniveau im Deutschen bestimmt. Dieses relativ hohe Kompetenzniveau kann vorausgesetzt werden, weil B2 das Niveau des polnischen Abiturs mit Deutsch als Leistungskurs ist. Deutsch ist immer noch die zweitwichtigste Fremdsprache an polnischen Schulen (nach Englisch), viele Polen haben private und dienstliche Beziehungen zu Deutschland, was dazu führt, dass Deutsch als Sprache ein hohes Prestige hat. Was die Lemmatyporientierung betrifft, wird es sich um ein Wörterbuch mit pragmatisch beschränkter Lemmaauswahl handeln, denn es repräsentiert Teile des Wortschatzes, die pragmatisch (durch den rekurrenten Höflichkeitsusus) markiert sind. Was die Mikrostruktur betrifft, umfasst der Lemmataaufbau einen polnischen Ausgangsteil und einen deutschen Zielteil. Der polnische Eintrag ist ein Ausgangsphrasem, das zur Bildung von typischen höflichen Ausdrücken benutzt werden kann. Anschließend folgt eine Erklärung zum Usus im Polnischen und Beispiele für höfliche Sequenzen, die dank diesem Phrasem gebildet werden können. Dem folgt die Übersetzung auf Deutsch des polnischen Phrasems, die Übersetzung auf Deutsch der polnischen Beispiele, eventuelle Erklärungen zu Unterschieden im Gebrauch oder sonstige Erklärungen. Das Wörterbuch enthält ca. 1150 polnische Lemmata. Was die Makrostruktur betrifft, handelt es sich um ein monodirektionales bilinguales Wörterbuch, in dem die Lemmata striktalphabetisch geordnet sind (nach dem ersten Wort des Phrasems), also nach der semasiologischen Ordnung. Die Phraseme bzw. Phraseolexeme sind polylexikalische Einheiten, die durch Idiomatizität, Stabilität und Lexikalisierung gekennzeichnet sind. Der Gebrauch dieser Phraseme wird dann durch Beispiele in Gebrauchskontexten veranschaulicht. Diese entsprechen eigentlich den authentischen Dialogen, die in den Korpora (Marcjanik 2002 und 2014) enthalten sind, wobei hier eine Möglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke 177 „Säuberungsarbeit“ derjenigen Elemente durchgeführt wurde, die allzu „landesspezifisch“ waren. Vor allem wurden hoch kontextsensible Elemente 11 , die eine Äquivalenz ins Deutsche kaum ermöglichen, durch „allgemeinere“ Merkmale ersetzt. Auch was die Übersetzungen der Beispiele betrifft, wurde - nach Möglichkeit - auf deutsche Höflichkeitskorpora zurückgegriffen, die im Rahmen des Warschauer Projektes MCCA (Multimodal Communication: Culturological Analysis) 12 gesammelt wurden. Hier die Darstellung des polnischen Lemmas „dziękuję“ (deutsch: „danke! “ im Printmodus (Arbeitspreview) 13 : 11 So etwa wurde das Wort „Kajaklager“ (poln. obóz kajakowy), das eine Lieblingsurlaubsform für Polen bezeichnet, durch „Sportlager“ ersetzt. 12 Vgl. http: / / portal.uw.edu.pl/ sk/ web/ mcca/ home (letzte Einsicht: 4. 1. 2017) 13 Der Printmodus ist noch ein Arbeitsformat. Denkbar sind für die Veröffentlichungen unterschiedliche technische Formen, wie etwa die eines E-Wörterbuchs (E-book) mit ausgebauten Hyperlinkfunktionen und multimodalen Darstellungsfunktionen. 178 Silvia Bonacchi / Virginia Schulte Die polnischen Ausgangsphraseme bzw. Lemmata (1) zeichnen sich durch Stabilität und Reproduzierbarkeit aus und sind als „prototypisch“ zu betrachten. Sie weisen unterschiedliche Variabilitätsgrade auf (von Idiomen bis zu freien Phrasemen). Nach den polnischen prototypischen Höflichkeitsphrasemen (Lemmata) sind pragmatische Erklärungen auf Polnisch (2) zu finden, die den möglichen Gebrauch dieser prototypischen Strukturen im polnischen Höflichkeitssystem darstellen. Es folgen dann Beispiele auf Polnisch mit Gebrauchskontexten (in eckigen Klammern) dieses prototypischen Phrasems (3). Der deutsche Teil (Äquivalenzteil) besteht in der deutschen Übersetzung (1a) des polnischen Höflichkeitsphrasems, der eventuell durch eine Erklärung begleitet wird (2a). Darauf folgt die Übersetzung der polnischen Beispiele mit Gebrauchskontexten (3a). In den Erklärungen und in den Beispielen wurde auf Deskriptoren und auf grammatische Informationen verzichtet. Möglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke 179 Das Ziel war es, dem Benutzer häufige möglichst prototypische polnische Sprachgebrauchsmuster und die Möglichkeit ihrer Wiedergabe ins Deutsche zu präsentieren. 3.2 Das deutsch-polnische Wörterbuch Das zweite Projekt setzt sich den Aufbau eines bilingualen deutsch-polnischen Wörterbuchs deutsch-polnisch (die Ausgangslemmata sind auf Deutsch) zum Ziel. Funktionstypologisch ist das Wörterbuch für Lerner bestimmt, die ein niedrigeres Kompetenzniveau als B2 haben (A2 und B1), da man bei den deutschen Benutzern nur von eingeschränkten Kenntnissen der polnischen Sprache ausgehen kann. Polnisch wird an deutschen Schulen bis auf wenige Ausnahmen nicht gelehrt und Polnisch genießt in Deutschland kaum Prestige als Fremdsprache. So soll das Wörterbuch viele ergänzende Informationen erhalten, insbesondere wenn es um grammatische und pragmatische Informationen geht; zugleich sollen die Phraseme noch prototypischer präsentiert werden als im polnischdeutschen Wörterbuch, d. h. ohne die Zugabe von zusätzlichen gebrauchsgebundenen Elementen (wie etwa Modalpartikeln, Intensifikatoren), die den Benutzer verwirren können. Präsentiert das polnisch-deutsche Wörterbuch authentische Beispiele, verzichtet das zweite Wörterbuch oft auf Authentizität zugunsten der didaktischen Effektivität und enthält detaillierte Gebrauchserklärungen. Was die Makrostruktur betrifft, wurde hier eine onomasiologische Ordnung vorgezogen, die eine Gliederung der Phraseme auf der Grundlage der handlungsleitenden Struktur der Höflichkeitsakte (vgl. dazu Bonacchi 2011, 266-307, Bonacchi 2013, 125-156) ermöglicht: präsentative Höflichkeitsakte (Grußverhalten, Anredeverhalten, Kontaktverhalten oder Phatika, direktives Verhalten), supportive Höflichkeitsakte (Komplementierverhalten, Dankverhalten, Teilnahmebekundung, Wunschverhalten), reparative Höflichkeitsakte (Entschuldigungen, Rechtfertigungen, Präsequenzen). Die onomasiologische Ordnung der Phraseme müsste dem Benutzer die Suche der Lemmata im Wörterbuch erleichtern, wenn er nach einem „Verhalten“ sucht, wie z. B. nach Danksagung. Da nicht immer eine eindeutige Einordnung der Phraseme in die Höflichkeitsakte möglich ist, wurden interne Verweise vorgenommen. Innerhalb der einzelnen Höflichkeitsakte herrscht eine alphabetische Ordnung. Was die Mikrostruktur betrifft, umfasst die Lemmatastruktur genauso wie das erste Wörterbuch einen deutschen Ausgangsteil und einen polnischen Zielteil. Der Zielteil auf Polnisch wird gleich nach dem deutschen Ausgangsteil präsentiert. Der deutsche Eintrag ist ein deutsches Ausgangsphrasem, das zur Bildung von typischen höflichen Ausdrücken benutzt werden kann. Es schließt sich eine Erklärung zum Usus im Deutschen und Beispiele für höfliche Sequenzen an, die 180 Silvia Bonacchi / Virginia Schulte dank diesem Phrasem gebildet werden können. Dem folgt die Übersetzung auf Polnisch des deutschen Phrasems, die Übersetzung auf Polnisch der deutschen Beispiele, eventuelle Erklärungen zu Unterschieden im Gebrauch oder sonstige Erklärungen. Wegen des ausgeprägten didaktischen Charakters werden Lemmata durch den Einbau von Nestern und Nischen erweitert, die über das Wortbildungspotenzial einzelner Elemente Aufschluss geben können. So wird die striktalphabetische Ordnung (enge alphabetische Ordnung) durch eine nestalphabetische Ordnung und eine nischenalphabetische Ordnung ergänzt. Die alphabetische Struktur kann durchbrochen werden, indem Lemmata Sublemmata (Nester) enthalten können, die aus einem Morphem oder aus einem Teil einer Wortverbindung bestehen können ( nesting , vgl. Swanepol 2003, 41). Die nischenalphabetische Ordnung charakterisiert sich dadurch, dass neben der striktalphabetischen Ordnung zu einer Wortfamilie mehrere Wörter aufgelistet werden können (horizontale Gliederung), die dann als Sublemmata vom Hauptlemma abgesetzt werden. Dies macht eine vertikale (alphabetische) und horizontale Schichtung möglich, wie z. B. bei Dankverhalten-Phrasemen. Das prototypische Phrasem „danke! “ (Haupteintrag) wird durch das Nest: *dank - (als lexikalisches Morphem zur Bildung von Verben und Adjektiven) und entsprechende Nischen erweitert: sich be dank en (mit dem Beispiel: „ich bedanke mich bei dir“) dankbar, (mit dem Beispiel: „ich bin dir dankbar“), dank en (mit dem Beispiel: „danke schön! “). • danke! • dziękuję ! -dank- | jdM danken / dziękować komuś → ich danke dir / dziękuję ci ! danke schön! / dziękuję bardzo ! | jdM dankbar sein / być komuś wdzięcznym → ich bin dir dankbar / jestem ci wdzięczna ( f ) / wdzięczny ( M ) | sich bedanken bei jdM für etw / (po)dziękować komuś za coś → ich bedanke mich bei dir / dziękuję ci | Grammatische Informationen wie Valenz, Kasus und weibliche (F) oder männliche (M) Form werden ebenfalls angeben. Das Lemma „Vielen Dank! “ sieht folgendermaßen aus: • Vielen Dank! • Dziękuję bardzo ! ~ Dank | → Haben Sie Dank dafür! / Dziękuję Pani ( f ) / Panu ( M ) bardzo ! | → Herzlichen Dank! / Dziękuję bardzo ! | → Schönen Dank! / Dziękuję pięknie ! | Möglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke 181 4. Äquivalenzprobleme Die größten Schwierigkeiten in der Gegenüberstellung des polnischen und deutschen sprachlichen Höflichkeitssystems lassen sich auf sprachtypologische Unterschiede, kulturspezifische Differenzen und Unterschiede in den realen Begebenheiten zurückführen. Höflichkeitssysteme und -normen sind sprachsystemisch bedingt in dem Sinne, dass sie in den jeweiligen Sprachsystemen bzw. in deren Tiefenstrukturen fest verankert sind. Man denke etwa auf der Ebene der grammatischen Strukturen in den Einzelsprachen an das Pronomensystem, das Nähe und Distanz im sprachlichen Anredeverhalten und Grußverhalten ausdrückt, an die honorifischen Pronomen und Anredeformen, an die Mechanismen der Wortbildung, die Pejoration und Melioration ermöglichen, an die syntaktischen Strukturen, die die stilistische Variation bestimmen und die die Wahrnehmung von hierarchischen Strukturen indizieren. Große Schwierigkeiten in der Äquivalenz zwischen deutschen und polnischen Ausdrücken liegen u. a. im unterschiedlichen (pro)nominalen System 14 , in den unterschiedlichen Möglichkeiten der Benutzung der nominalen Alteration zur Realisierung von höflichen Funktionen, im verbalen Aspekt 15 . Im Deutschen sind etwa Modalpartikeln eine wichtige Ressource zur Realisierung von Höflichkeitsausdrücken, während im Polnischen andere Mittel wie etwa Diminutivbildungen zur höflichen Modulierung eingesetzt werden können. Über diese sprachtypologischen Unterschiede hinaus gibt es einige kulturelle Unterschiede, die eine direkte Übersetzung von Höflichkeitsausdrücken 14 Polnisch unterscheidet beispielsweise zwischen männlichen und weiblichen Höflichkeitspronomina. Dem deutschen „Sie“, das sowohl die Singularform als auch die Pluralform des Höflichkeitsanredepronomens ohne geschlechtliche Differenzierung ist, entspricht im Polnischen „Pan“ (männliche Singularform), „Pani“ (weibliche Singularform), „Państwo“ (Pluralform ohne geschlechtliche Differenzierung), „Panie“ (weibliche Pluralform), „Panowie“ (männliche Pluralform). Dies führt dazu, dass die semantische Vagheit des deutschen Höflichkeitspronomens „Sie“ im Polnischen durch die Zugabe von weiteren Elementen ergänzt werden muss. Auch die Benutzung der Titulatur im Anredeverhalten weist Unterschiede auf: im Polnischen gilt die Form Höflichkeitsanredeform + Titulatur (ohne Familiennamen) - z. B. „Pan mecenas“ (wörtlich: Herr Anwalt) oder Höflichkeitsanredeform + Eigennamen (oft im Vokativ) - z. B. Panie Jacku (wörtlich: „Herr Jakob“) als Standardanrede, im Deutschen gilt Titulatur + Familienname (z. B. „Frau Schmidt“ / Herr Schmidt) als Standardform für die Anrede. Im Polnischen gibt es eine Reihe von Anredeformen, die aus Anredeform + Titulatur bestehen, die ins Deutsche nicht übersetzbar sind: Pani redaktor (wörtlich: „Frau Journalistin“), Pan kierowca (wörtlich: „Herr Fahrer“). 15 So kann im Polnischen durch die Benutzung der perfektiven oder imperfektiven Verbform Höflichkeit moduliert werden. Dem deutschen Aufforderungssatz: „Setz dich hin! “ kann mit „Siadaj! “ (imperfektive Form, eher autoritäter und unhöflich) oder mit: „Usiąć! “ (perfektive Form, höflicher) wiedergegeben werden. 182 Silvia Bonacchi / Virginia Schulte erschweren. Die Polen tendieren eher zu einer sprachlichen Kodierung von Beziehungen und hierarchischen Strukturen, die von den Deutschen als „Zeremonialität“ und „Überhöflichkeit“ interpretiert werden kann - wie etwa im weiten Titulaturgebrauch oder im konventionalisierten phatischen Gebrauch von höflichen Formeln, wie es etwa im Fall von „dziękuję“ (dem wörtlich „danke“ entspricht) als reine Markierung für das Ende des Kontaktes (als Abschiedsformel also) ersichtlich ist. Das Fehlen dieser „Zeremonialität“ bei den Deutschen kann bei den Polen den Eindruck erwecken, die Deutschen seien unkultiviert. Ein weiterer kultureller Unterschied besteht im Ausdruck der Beziehungen Mann- Frau: ein ausgeprägtes honorifizierendes Verhalten der Frau gegenüber wird in Polen positiv als Galanterie und nicht als Zeichen von Diskriminierung der Frauen oder von Submissivität-Dominanz-Verhältnissen gedeutet. Die Polen haben tendenziell keine Schwierigkeit mit der Selbststilisierung als starker Mann und hilfebedürftige Frau. Es ist ein gesellschaftliches Spiel, das in breiten Kreisen akzeptiert wird. Besonders wichtige Konsequenzen haben diese Unterschiede z. B. im Komplementierverhalten. Große Schwierigkeiten in der Wiedergabe ins Deutsche bieten polnische Diminutivformen und Hypokoristika als wichtige Mittel der polnischen Höflichkeit. Im Polnischen können diminutive Formen über ihre referentielle, expressive und skalare Bedeutungskomponenten hinaus (vgl. dazu Technau 2016, 67-141) auch eine höfliche Funktion haben. Sie gelten als Mittel der Minimierung des Aufwandes für den Hörer (vgl. dazu Bonacchi 2012b). In der Frage: Ile pieniążków jestem Pani winna? (wörtlich auf Deutsch: *wieviel Geldchen bin ich Ihnen schuldig? ) drückt die Diminutivform „pieniążki“ für „pieniądze“ (Geld) eine Minimierung der Forderung auf. Das Deutsche verfügt über diese Ressource nicht, die höfliche Markierung müsste anders realisiert werden, etwa durch Modalpartikeln oder durch den Einsatz einer epistemischen Modalität. Systematische Probleme treten auch in der Wiedergabe auf Deutsch von polnischen Hyporistika (Diminutiv- und Koseformen bei Vornamen bzw. Rufnamen) auf. Diese Formen drücken die oben erwähnten Bedeutungskomponenten aus. Dies sei anhand des Rufnamen Ewa gezeigt. Ewa : Grundform Ewunia, Ewusia, Ewusieńka : Diminutivformen (durch die Endungen -unia, -usia, -usieńka): referenziell, expressiv, meliorativ (höflich) Ewka : Augmentativform (durch die Endung -ka): referenziell, expressiv (kumpelhaft), pejorativ (unhöflich) An dieser Stelle stellt sich z. B. die Frage, wie etwa die polnische Form Ewunia ins Deutsche zu übetragen ist. Wird als Übersetzung einfach die deutsche Grundform Eva angegeben, bringt dies einen Bedeutungsverlust mit sich. Wenn Möglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke 183 wir versuchen, die Form sinngemäß zu übersetzen, haben wir folgende Möglichkeiten der Wiedergabe auf Deutsch: • referenzielle Bedeutung → kleine Eva, Evchen • meliorative / höfliche Bedeutung: → liebe Eva, meine Eva, Eva • expressive Bedeutung (der Sprecher bringt z. B. damit zum Ausdruck, dass er ungeduldig ist): → Evchen, Eva • skalare Bedeutung: → Eva (vs. Evchen ) Ein weiteres Mittel der Beziehungsgestaltung im Gebrauch von Anredeformen ist die Benutzung des Nominativs oder des Vokativs. Als ausgeprägt flektierende Sprache hat das Polnische dank reichen nominalen Deklinationsmustern die Möglichkeit der Deklination im Vokativ des Anredenomens, was eine zusätzliche höfliche Modulierung ermöglicht - z. B. ist die Nominativform Ewa ! weniger höflich als die Vokativform Ewo ! Nominativ Vokativ Grundform Ewa ! Ewo! Diminutivform Ewunia ! Ewunio ! Ewusia ! Ewusiu ! Ewusieńka ! Ewusieńko ! Augmentativform Ewka ! Ewko! Deutsch verfügt im Vergleich zu Polnisch über deutlich bescheidenere Mittel zur Bildung von Hypokoristika. Im Deutschen ist auch die Verwendung von Diminutivformen bei Eigennamen möglich (Hänschen, Karlchen, Evchen, Evi), allerdings ist ihr Gebrauch idiosynkratischer und nicht so stabil wie im Polnischen. Daher muss man im Deutschen andere Mittel benutzen, wenn man diese Bedeutungskomponenten wiedergeben möchte. In den folgenden Beispielen, die aus dem polnisch-deutschen Wörterbuch entnommen sind, wird versucht, diese Bedeutungskomponenten im Deutschen auszudrücken: 1) [mężczyzna w odwiedzinach u znajomych] Będę już uciekał, bo z Ewką idziemy do kina. [ein Mann zu Besuch bei Bekannten] Ich muss schon gehen, wir wollen mit Eva noch ins Kino gehen. In diesem Beispiel ist Ewka die Ehefrau. Diese expressive Bedeutungskomponente wird durch die augmentative hypokoristische Form „Ewka“ (Kumpelhaftigkeit, Vertrautheit) ausgedrückt. Im Deutschen geht diese Bedeutungskomponente verloren. 184 Silvia Bonacchi / Virginia Schulte 2) [przyjaciółki] Cześć, Ewka! No i co z tobą? Na urodzinach nie byłaś, telefonu nie odbierasz. [Freundinnen] Hi, Eva! Was ist denn mit dir? Du warst beim Geburtstag nicht dabei, du nimmst auch keine Anrufe entgegen. In diesem Beispiel ist Ewka die Freundin, die augmentative hypokoristische Form „Ewka“ gilt als umgangssprachliche Anredeform (expressive Bedeutungskomponente). Im Deutschen wird der umgangssprachliche Ton durch die Modalpartikel „denn“ wiedergegeben. 3) [kobieta do koleżanki swojej niedorosłej córki] Masz ochotę na gumę? Ewunia ma tego całe pudełko. [eine Frau zur Freundin ihrer jungen Tochter] Möchtest du ein Kaugummi? Evchen hat eine ganze Packung davon. In diesem Beispiel ist Ewunia die kleine Tochter, die Diminutivform „Ewunia“ drückt eine referenzielle und expressive Bedeutungskomponente, die im Deutschen auch mit der hypokoristischen Form „Evchen“ wiedergegeben wird, aus. 4) Pani Ewusiu, ile pieniążków jestem Pani winna? [wörtlich: *Frau Evchen, wie viel Geldchen bin ich Ihnen schuldig? ] Eva, darf ich fragen, wieviel Geld ich Ihnen schuldig bin? In diesem Beispiel drücken die Diminutivformen „Ewusia“, „pieniążki“ keine referenzielle Bedeutung, sondern einfach eine höfliche Minimierung des Aufwandes aus. Im Deutschen wird das durch die höfliche Präsequenz „darf ich fragen“ mit epistemischer Modalität ausgedrückt. Manchmal können auch Augmentativformen positive Höflichkeit (Maximierung der Vorteile für den Adressaten) ausdrücken, etwa im Ausdruck: „Ale ciacho“ (ciacho: Augmentativform für ciasto, Kuchen), der im Deutschen mit „Was für ein herrlicher Kuchen! “ übersetzt werden könnte. 5. Schlussfolgerungen Anhand dieser Ausführungen möchten wir zu der anfangs aufgestellten Frage zurückkommen: Kann ein Wörterbuch ein Instrument zum Erwerb von fremdsprachlicher Höflichkeitskompetenz sein? Falls ja, was sind dessen Möglichkeiten und Grenzen? In den beschriebenen Projekten wurde von der Annahme ausgegangen, dass der fremdsprachlich höflichkeitskompetente Sprecher ein Vermittler zwischen zwei Kultursystemen ist, aber zugleich Vertreter der eigenen Herkunftskultur Möglichkeiten und Grenzen eines Wörterbuches der Höflichkeitsausdrücke 185 bleibt. Daher war es uns wichtig, den polnischen und den deutschen Benutzern Instrumente an die Hand zu geben, um: • das Andere (bzw. das andere Höflichkeitssystem) kennenzulernen • über die eigene Höflichkeit zu reflektieren • die Unterschiede zwischen Eigenem und Anderem zu reflektieren und zu verstehen. Ein lexikographisches Werk, das ein Höflichkeitssystem repräsentiert, hat immer Grenzen, die den Grenzen der Transposition der eigenen Höflichkeit in eine andere Sprache entsprechen. Zugleich besteht die große Möglichkeit darin, dass jeder Benutzer dadurch das Eigene kritisch reflektiert, indem das Andere kennengelernt wird. Dies eröffnet die Möglichkeit einer bewussten Wahl der eigenen Höflichkeitsstrategie in der Zielsprache. Literatur Birk, Andrea Meta (2009). Höflichkeit an der Schnittstelle zwischen interkulturellem Kommunikationstraining und DaF. Methodische Anmerkungen. In: Ehrhardt, Claus / Neuland, Eva (Hrsg.) Sprachliche Höflichkeit in interkultureller Kommunikation und im DaF-Unterricht. Frankfurt a. M. u. a.: Lang, 251-266. Bonacchi, Silvia (2011). Höflichkeitsausdrücke und anthropozentrische Linguistik. Warschau: Euroedukacja. Bonacchi, Silvia (2012a). Einige Bemerkungen zum Begriff der Höflichkeitskompetenz. Kwartalnik Neofilologiczny 1, 17-35. Bonacchi, Silvia (2012b). 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Dissertation, JGU zu Mainz. Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ 189 Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ Deutsch-dänische kontrastive Überlegungen Peter Colliander In Danish and German apartment blocks there are two main types of notices on the stairs: those in locked showcases and those outside these showcases, which could be termed „stairwell texts“. In this article, the latter are examined from an intercultural perspective, partly from a text-typological viewpoint, partly with regard to linguistic politeness. Features such as author-recipient, linguistic form, layout, style and text conventions are taken into account. It is shown that the texts exhibit considerable differences between the two cultural spaces - despite the same place of publication, the same group of recipients, and the same purpose - which could lead recipients from the other culture to perceive the texts as rude. 1. Motivation für die Beschäftigung mit einer kaum beachteten Textsorte Im Laufe jahrzehntelanger „Berieselung“ mit Aushängen in der Wohnanlage in München, in der ich zeitweise zur Untermiete wohne, wurde mir immer klarer, dass diese Texte ein Eigenleben führen, wobei ich nach wie vor immer wieder feststellen muss, dass mich diese Texte in Staunen versetzen. Sie sind einfach anders, als ich sie vor meinem dänischen Hintergrund erwarte, und zwar in verschiedenen Hinsichten, die als Bündel darauf hinauslaufen, dass ihre „Strenge“ meinen vorerst unbewussten Erwartungen nicht entspricht (vgl. Colliander 2015). Im vorliegenden Beitrag möchte ich versuchen, diese Erwartungen zu explizitieren, indem ich einen Vergleich mit entsprechenden dänischen Texten anstelle. 190 Peter Colliander 2. „Treppenhaustexte“-- was ist das? Fix (2009, 13) stellt fest, dass das Textmerkmal Lokalität erst seit kurzem im Blickwinkel der Textlinguistik sei; vgl. auch Adamzik (2016, 151 ff.). Genau dieses Merkmal gehört zu den konstitutiven Merkmalen (Fandrych / Thurmair 2011, 16) der Textsorte „Treppenhaustext“, denn der gemeinsame Nenner der zu untersuchenden Texte ist der Ort, an dem sie den angedachten Rezipienten, genauer den Lesern, zugänglich gemacht werden, nämlich das Treppenhaus. So verstehe ich unter „Treppenhaustext“ einen medial schriftlichen Text, der in einer Wohnanlage durch Aushang desselben den Bewohnern zugänglich gemacht wird. Diese m. W. bis jetzt kaum beachtete Textsorte lädt zu vielerlei grundsätzlichen Überlegungen ein - z. B. bezüglich der Kommunikationssituation (Fandrych / Thurmair 2011, 17) -, die im vorliegenden Rahmen jedoch nicht möglich sind, weshalb ich eher axiomatisch vorgehen muss. So nehme ich an, dass der typische Treppenhaustext Appellfunktion im Sinne von Brinker (2005, 105 ff.) hat und dass er von einer Instanz verfasst wurde, die befugt ist, gegenüber den Bewohnern direktive Sprachhandlungen auszuführen. Der Treppenhaustext lässt sich einerseits in eine Textsortentypologie einordnen, in der er als Subklasse der Textsorte „Aushang“ verstanden werden kann, in die auch Subklassen wie „Schwarzes-Brett-Texte“ gehören. Wichtiges Textsortenspezifikum, konstitutives Merkmal also, für „Aushang“ könnte das sein, dass der Aushang an einem ganz bestimmten Ort einer ganz bestimmten Rezipientengruppe zugänglich gemacht wird, von der der Textproduzent erwartet, dass sie auch den Text liest und - falls für den Leser relevant - darauf adäquat reagiert. 1, 2 Andererseits hat der Treppenhaustext selbst zwei Subklassen, nämlich solche, die ich „Vitrinen-Texte“ und „Ad-hoc-Texte“ benennen möchte. Stringenter wäre statt „Ad-hoc-Texte“ die Benennung „Nicht-Vitrinen-Texte“, da das Klassifikationskriterium wieder mit Lokalität zu tun hat: Es gibt in einem typischen Treppenhaus, meist direkt hinter der Eingangstür, eine abgeschlossene Vitrine, in der sich Texte befinden, die praktische Auskünfte enthalten wie die Telefonnummer des Hausmeisters, eines Schlüsseldienstes, der Polizei, der Rettung usw. 3 Im Folgenden bleibe ich jedoch bei „Ad-hoc-Texte“, da es in der Tat 1 Statt von „Aushang“ zu sprechen, könnte man auch von „Aufruf “ (siehe Deutscher Text 2 unten), „Bekanntmachung“ oder „Anschlag“ sprechen, wobei diese Begrifflichkeiten wiederum für jeweils andere, selbstständige Subklassen gebraucht werden (könnten). 2 Diese Subklasse zeigt sehr deutlich, dass man es im Normalfall mit mehreren konstitutiven Merkmalen zu tun hat. 3 Solche Auskünfte könnten für den Hausbesitzer (die Hausverwaltung) Pflicht sein; eine Bestätigung dieses Verdachts habe ich allerdings nicht finden können. So kommen juristische Aspekte ins Spiel; siehe unten. Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ 191 um Texte geht, die nicht nur dem Kriterium „Nicht-Vitrine“, sondern auf jeden Fall auch dem Kriterium „plötzlich entstandener Informationsbedarf “ genügen. „Nicht-Vitrine“ als Veröffentlichungsort bedeutet Verschiedenes: aufgeklebt an die Haustür, an Fenster im Treppenhaus, an die Wand neben der Vitrine, an die Tür des Aufzugs oder im Aufzug. Übersicht: Aushang Schwarzes-Brett-Texte Treppenhaustexte xxx Vitrinentexte Ad-hoc-Texte Ohne Zweifel lassen sich alle diese Subklassen in weitere Subklassen unterteilen. Im Folgenden werde ich nur die Ad-hoc-Texte etwas näher unter die Lupe nehmen, wobei ich sowohl auf Subklassen als auch auf kontrastive Aspekte eingehen werde. 3. Meine Empirie Mein Textkorpus besteht aus 32 Texten aus „meiner“ Wohnanlage in München und 24 Texten aus drei verschiedenen Wohnanlagen in Kopenhagen. Alle Wohnanlagen liegen in bester Lage, wobei die ca. 100-300 Wohnungen, die es in der deutschen Anlage und in zwei der drei dänischen Anlagen gibt, im Prinzip Eigentumswohnungen sind, die jedoch in recht großem Umfang nicht vom Besitzer, sondern von Untermietern bewohnt werden. In der dritten dänischen Anlage gibt es nur Mietwohnungen. Eine tiefer gehende Analyse der dänischen Texte könnte sicherlich Unterschiede zwischen den Texten aus der Anlage mit lauter Mietwohnungen und den Texten aus den Anlagen mit Eigentumswohnungen ausmachen; für meine Zwecke sind diese Unterschiede ohne Belang. 192 Peter Colliander Typische Beispiele: Deutscher Text 1 Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ 193 Dänischer Text 1 Das deutsche Beispiel ist in der Hinsicht typisch, dass die allermeisten Texte (26) aus meinem deutschen Korpus die Hausverwaltung als Textproduzenten haben. Beim dänischen Text ist es extremer: Alle Texte im Korpus haben den Hausmeister oder die Hausmeisterin als Autor bzw. Autorin. Im deutschen Korpus gibt es zweierlei andere Texte: Drei Texte mit einem Hausbewohner als Autor und drei Texte mit einer anderen externen Instanz als der Hausverwaltung als Autor. Beispiele für diese Subklassen (siehe nächste Seite): Es ist nicht auszuschließen, dass in dänischen Wohnanlagen vereinzelt dieselben Subklassen vertreten sind wie in meinem deutschen Korpus, aber es scheint nicht üblich zu sein. 4 Dänische Entsprechungen des deutschen Texts 2 - wie auch viele Entsprechungen des deutschen Texts 1 - werden offenbar in aller Regel den Bewohnern in der Form eines Briefes zugestellt, den der Hausmeister bzw. die Hausmeisterin in den Briefkasten jedes einzelnen Bewohners einwirft. 4 In manchen dänischen Wohnanlagen gibt es ein Schwarzes Brett, wo sich die Bewohner austauschen und z. B. nach Kinderbetreuung suchen können. 194 Peter Colliander Deutscher Text 2 (Autor: Hausbewohner) Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ 195 Deutscher Text 3 196 Peter Colliander 4. Merkmale der Ad-hoc-Treppenhaustexte Die Texte werden auf folgende Merkmale hin untersucht: • Textproduzent • angedachte Textrezipienten • Anrede • Textthema (-en) • sprachliche Ausformung • Illustrationen • Formalitäten wie Layout und Typografie • Stil - Höflichkeit In einem ersten Schritt werden die deutschen Texte, in einem zweiten die dänischen Texte analysiert. In einem dritten Schritt werden die beiden Korpora verglichen, wobei schon vorab festgestellt werden kann, dass es nur in einem Punkt weitgehende Übereinstimmung zwischen den Korpora gibt: Die angedachten Rezipienten sind die Hausbewohner. Nicht übersehen werden sollte natürlich die Tatsache, dass in konkreten Fällen nur eine Teilmenge der Bewohner angesprochen wird. Das gilt z. B., wenn von dem unvorschriftmäßigen Abstellen von Fahrädern die Rede ist, oder wie im deutschen Text 4 die Treppenhausfenster thematisiert werden: Deutscher Text 4 (vgl. deutscher Text 6) „[…] Sehr geehrte Damen und Herren, aus aktuellem Anlass möchten wir darauf hinweisen, dass die Treppenhausfenster bei den kalten Außentemperaturen dringend geschlossen gehalten werden müssen. Wir bitten um Beachtung.“ Wer nicht Rad fährt oder nie auf die Idee kommen würde, bei frostigen Temperaturen die Fenster aufzumachen, muss sich von diesen Texten nicht angesprochen fühlen. 4.1 Die deutschen Texte 4.1.1 Textproduzent Der typische Textproduzent ist ein Mitarbeiter der Hausverwaltung, in seltenen Fällen ein Hausbewohner (Text 2) oder ein Handwerksbetrieb (Text 3). Mit diesen Texten hat der Hausmeister wahrscheinlich nur das zu tun, dass er sie aushängt. Auch die Firma, die die Parkgarage betreibt, in der sich auch Fahrradräume befinden, meldet sich manchmal zu Wort: Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ 197 Deutscher Text 5 „[…] An die Nutzer der Fahrradräume […] Nachdem es durch einen mit weit überhöhter Geschwindigkeit durch die Garage fahrenden Fahrradfahrer beinahe zu einem Unfall mit einem Fahrzeug gekommen wäre, sehen wir uns gezwungen, das Fahrrad-Fahrverbot auf die gesamte Garagenanlage auszuweiten. Versuchsweise ist es gestattet, die Abstellräume in den o.a. Anwesen das Fahrrad SCHIEBEND zu erreichen.“ […] (Halbfett, Unterstreichungen und Versalien im Original) Die Texte der Hausverwaltung hinterlassen den Eindruck eines offiziellen Schreibens, eines Schreibens einer Behörde. 4.1.2 Anrede In den allermeisten Texten gibt es die Anrede Sehr geehrte Bewohner und ausnahmsweise nur die Nennung des Adressaten wie in Text 5. 4.1.3 Textthema (-en) Es geht häufig um praktische Angelegenheiten wie das Ablesen der Strom- und Wasserzähler, die die Präsenz des Bewohners in einem angegebenen Zeitraum verlangt. Aber auch Gegebenheiten im Bereich des alltäglichen Miteinanders werden thematisiert, wobei bei beiden Themenbereichen die Frage der juristischen Aspekte relevant ist: Was passiert, wenn man beim Ablesen des Wasserzählers nicht zu Hause sein kann, oder wenn man den Müll einfach im Treppenhaus hinterlässt, statt ihn vorschriftsmäßig im Müllschlucker zu entsorgen? Ein thematischer Dauerbrenner sind Lärmbelästigungen. 4.1.4 Sprachliche Ausformung Selbst in den „inoffiziellen“ Texten ist die sprachliche Ausformung von Sorgfalt und grammatischer und orthografischer Korrektheit geprägt. Die wenigen Verstöße gegen die Orthografie sind Petitessen wie z. B. in Text 2 P. S. statt PS . Die Texte weisen zum Teil sehr komplexe syntaktische Konstruktionen auf wie beispielsweise die Partizipialkonstruktion in Text 5 [einen] mit weit überhöhter Geschwindigkeit durch die Garage fahrenden [Fahrradfahrer]. 198 Peter Colliander 4.1.5 Illustrationen Illustrationen gibt es nur in den Texten, die von Bewohnern stammen, siehe Text 2. 4.1.6 Formalitäten wie Layout und Typografie Nur die Texte der Bewohner sind nicht auf Firmenbriefpapier geschrieben. Die Texte der Hausverwaltung und der Handwerksbetriebe genügen alle den Formalitätsanforderungen an offizielle Schreiben. Typografisch fallen der ausgedehnte Gebrauch von halbfetter Schrift und Versalien sowie viele Unterstreichungen auf. 4.1.7 Stil-- Höflichkeit Es geht nicht nur um mediale, sondern in fast allen Texten auch um konzeptionelle Schriftlichkeit im Sinne von Koch / Oesterreicher (1985), vgl. auch Dürscheid (2016, 44 ff.) und Adamzik (2016, 74 ff.). Als Belege möchte ich Wörter wie erbitten in Text 1 und Anwesen und erreichen in Text 5, Konstruktionen wie die in 4.1.4 angeführte Partizipialkonstruktion und sich gezwungen sehen im Text 5 nennen. Auch die in fast jedem Text vorhandenen Präpositionsgruppen mit Genitiv-regierenden Präpositionen als Kern (z. B. aufgrund eines Wasserschadens in Text 1) gehören zur konzeptionellen Schriftlichkeit, wobei eine Konstruktion wie mittels sogenanntem Stoßlüften allein wegen der Präposition in den Bereich der konzeptionellen Schriftlichkeit gehört. Aus deutscher Sicht sind die Texte sicherlich von einem höflichen Sprachgebrauch geprägt. Sie sind sachlich, und selbst wenn es um heiklere Themen geht, bleibt man höflich, vgl. Text 4 mit Text 6: Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ 199 Deutscher Text 6 (vgl. deutscher Text 4) 200 Peter Colliander 4.2 Die dänischen Texte Vorab ein Versuch einer möglichst wort-, konstruktions- und orthografiegetreuen Übersetzung des dänischen Texts 1: „Behälter Reinigung: [Zeichnung eines Heißwasserspeichers] [Straßenname] Montag den 27 / 6 2016 machen wir den Heißwasser Speicher um 7 Uhr aus P.s dann ist es letzter Ausruf wenn du Erde für [Zeichnung eines Blumenkastens] den Blumenkasten haben möchtest M.f.G Lone [Frauenvorname; Hausmeisterin]“ 4.2.1 Textproduzent Alle Texte sind vom Hausmeister oder der Hausmeisterin verfasst. 4.2.2 Anrede Es fehlen ziemlich konsequent sowohl eine einleitende Anrede als auch ein angedachter Rezipient. Ausnahmsweise findet sich in einem Text die Entsprechung des deutschen Z. H. der Bewohner . In den Texten selbst gibt es sehr viele Beispiele für deiktische Anredeformen, in aller Regel der zweiten Person, d. h. es geht um das Duzen. 5 Das fällt einem Dänen nicht auf - im Gegensatz zum Siezen in einem einzigen Text, in dem sich eine Renovierungsfirma an die Bewohner wendet. Im ersten Absatz wird gesiezt, im zweiten geduzt (fehlerhafte Kleinschreibung des Deiktikons ( i statt I ), im dritten und vierten Absatz wird wieder gesiezt (fehlerhafte Kleinschreibumg der Deiktika ( de und deres statt De und Deres )). 4.2.3 Textthema (-en) Es geht im Großen und Ganzen um eher harmloses Alltägliches, was in Richtung Smalltalk über das Miteinander zeigt. Sobald rechtsverbindliche Themen angesprochen werden müssen, geschieht das nicht in Form eines vom Hausmeister verfassten Aushangs, sondern in einem persönlichen Brief an jeden Haushalt. 5 Zum Duzen und Siezen: siehe Heringer (2009), Colliander (2011) und Ehrhardt / Heringer (2011, 134). Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ 201 4.2.4 Sprachliche Ausformung Auch wenn es übertrieben oder gar unglaubwürdig klingt: Es ist eine Tatsache, dass keiner der dänischen Texte auch nur annährend fehlerfrei ist. Es gibt in mehr als der Hälfte der Sätze jedes Textes auffallende und indiskutable Fehler. 6 Hier nur ein paar Beispiele: In Text 1 gibt es zweimal zwei Beispiele für „Klassiker“: 1. Getrenntschreibung von Komposita: Beholder rensning und varmvands beholder statt Beholderrensning und varmtvandsbeholder. 2. Abkürzungen ohne Punkt: d und kl statt d. und kl. Dafür ist - wie oben schon angesprochen - in P.s ein Punkt zu viel. Beide Fehlerklassen könnten auf den auch im Dänischen nicht zu übersehenen Einfluss des Englischen zurückzuführen sein. varmvands beholder exemplifiziert noch einen häufigen Fehler bei selbst geübten Muttersprachlern: die Auslassung eines stummen Konsonanten, nämlich das t nach warm . Diesen Fehlertyp gibt es en masse in allen dänischen Texten. So wird in Text 2 (siehe unten) das r in Präsensformen häufig ausgelassen, was zum Synkretismus zwischen Infinitiv und Präsensform führt, z. B. sætte (setzen), fylde (füllen) und høre (hören) statt sætter, fylder und hører . Im selben Text wird dafür zwei Infinitiven das r hinzugefügt, in einem Fall in einer Koordination mit einer richtig gebildeten Infinitivform: gå og sorterer (gehen und sortieren) statt gå og sortere , im anderen Fall nach Modalverb: skal … afleverer (soll … abliefern) statt skal … aflevere . Auch um die Substantivdeklination es schlecht bestellt: im selben Text sækker (Säcke) statt sække . Usw. usf. Dänischer Text 2 „Information Vedr. affald Jeg må konstatere, at flere og flere er i gang med at tømme deres kælderrum, og hvor nogle få, bare sætte de ting de ikke mere har brug for forskellige steder i kælderen, eller fylde mine tomme skraldespande, så jeg ikke har tomme når jeg skifter i skakterne. Andre smider deres gamle ting hen på det gamle storskraldsområde i små poser eller sækker. Jeg må åbenbart igen forklare, hvad der høre hjemme på storskraldsområde. DET ER KUN STORT BRANDBART AFFALD ( SYNLIG ) OVER 1,20 M, alt andet såsom glas spejle, havemøbler i plast og maling og kemikalie rester, poser o.s.v. SKAL MAN SELV AFLEVERER PÅ GENBRUGSPLADSEN . Jeg er dødtræt af, at gå og sorterer jeres private affald. Mvh Varmemesteren“ 6 In Colliander (2015) bespreche ich die „Lockerheit“ der dänischen Muttersprachler und der Ratgeber im Umgang mit sprachlicher Korrektheit. 202 Peter Colliander 4.2.5 Illustrationen Die dänischen Texte sind fast alle illustriert. Die obere Illustration im dänischen Text 1 ist insofern interessant, als dass sie sechs schriftlich formulierte Anweisungen enthält, die nur mit der Lupe leserlich sind. Die Illustration stammt von der Firma, die den Heißwasserbehälter wartet, wobei die Anweisungen für die Bewohner ohne Belang sind. 4.2.6 Formalitäten wie Layout und Typografie Das Layout und die Typografie der dänischen Texte lassen sich wohl am treffendsten als informell beschreiben. Es wird kein offizielles Briefpapier benutzt; die meisten Texte sind auf Papierbögen ca. im DIN -A5-Format geschrieben, die ohne Sorgfalt aus einem DIN -A4-Bogen ausgeschnitten wurden. 4.2.7 Stil-- Höflichkeit Vier Merkmale prägen die dänischen Texte stilistisch: 1. die sprachliche Unbeholfenheit, 2. der raue Ton, 3. ein thematisches Durcheinander und 4. in manchen Texten (siehe den dänischen Text 1) kindisch anmutende Versuche, den Text durch Illustrationen aufzulockern oder vielleicht verständlicher und „genießbarer“ zu machen. Bei der sprachlichen Unbeholfenheit geht es nicht nur um die in 4.2.4 angesprochene Unsicherheit in der Bildung der Flexionsformen, sondern vielmehr um eine generelle Unsicherheit in allen Kategorien. Apokoinus sind nicht selten, Probleme in der Idiomatik gibt es viele. Am treffendsten lässt sich der Stil m. E. als konzeptionelle Mündlichkeit beschreiben. Dabei ist auch eine stilistische Unsicherheit feststellbar, die sich in Konstruktionen wie Samtidig skal jeg hermed gøre opmærksom på at […] (Gleichzeitig soll ich hiermit darauf aufmerksam machen, dass […]). Für einen rauen Ton gibt es in Text 2 zwei gute Beispiele: 1. Jeg er dødtræt af, at gå og sorterer jeres private affald. (Ich habe es sowas von satt, euren privaten Müll zu sortieren.) und 2. Jeg må åbenbart igen forklare, hvad der høre hjemme på storskraldsområde. (Ich muss es offenbar noch einmal erklären, was in den Sperrmüll gehört.). Manche Texte haben in der Darstellungsweise der Themen joycesche Züge. Ein eher harmloses Beispiel findet sich in Text 1, in dem das Thema Kompost (jord) vom Thema Heißwasserspeicher nur durch ein PS getrennt ist. Aus dänischer Sicht kann man den Sprachgebrauch sicherlich nicht als unhöflich bezeichnen. Die Unbeholfenheit fasst man nicht als Zumutung auf, sondern man versetzt sich eher in die Situation eines Schreibers, der des Schreibens Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ 203 solcher Texte eigentlich nicht mächtig ist, und man bringt eher das Gefühl der Nachsicht auf, kennt man doch die Hausmeisterin Lone (Text 1) ganz gut, die es einem ja nicht böse meint, auch wenn der Ton hin und wieder mal in eine raue Richtung tendiert. Sie hat ja letztendlich recht. 5. Vergleich der beiden Textkorpora Die Beobachtungen in Kapitel 4 geben Anlass zu Überlegungen in allen Dimensionen, die angesprochen wurden. Ich greife hier jedoch nur die auf, die mit der Textklassifikation und der Höflichkeit zu tun haben. Die beiden Textkorpora verbinden Medium-Lokalität, angedachte Rezipienten und der meistens handlungsregulierende Zweck, in allen anderen Punkten sind die Unterschiede größer als die Ähnlichkeiten. Das wirft die Frage auf, ob es sinnvoll und zweckmäßig ist, bei beiden Korpora von derselben Textsorte auszugehen, wobei als ausschlaggebend gelten muss, in wie hohem Maße sich diese vermeintliche Textsorte von allen anderen Textsorten abgrenzen lässt. Die Dimension Medium-Lokalität reicht m. E. als konstituierendes Merkmal aus, um die Textsorte „Treppenhaustext“ zu etablieren, und sie bietet sich gleichzeitig bei interkulturellen Vergleichen geradezu als ein sinnvolles und handhabbares Tertium Comparationis an. Man findet in beiden Kulturräumen, dem deutschen und dem dänischen, Treppenhaustexte, die - möchte man versuchen, sie in eine der von Fandrych und Thurmair aufgestellten 20 Textsorten einzuordnen - den „Ordnungen“ nahekommen (Fandrych / Thurmair 2011, 194 ff.), aber nicht direkt „reglementierend-handlungskontrollierend“ (ebd., 194), sondern nur handlungsregulierend sind. Es fehlt den Treppenhaustexten die juristische Verbindlichkeit, wobei aus den deutschen Texten der Hausverwaltung sehr wohl ein Verbindlichkeitsanspruch herauszulesen ist. Die fehlende juristische Verbindlichkeit zeigt sich sehr deutlich in der Tatsache, dass meistens keine Drohungen, keine möglichen Sanktionen und keine Konsequenzen einer Nichtbefolgung der Aufforderungen / Anweisungen / Gebote ausgesprochen werden. In beiden Kulturräumen sind Treppenhaustexte fast immer direktiv, wobei es durchaus auch im Interesse des Rezipienten sein kann, dass ihnen gefolgt wird. Der ganz deutliche Unterschied ist der Stil, der wiederum auf den jeweiligen Autor (Hausverwaltung vs. Hausmeister) und auf basale interkulturelle Unterschiede zurückzuführen ist. 7 Für eine deutsche Hausverwaltung ist es wahr- 7 So kann ich - aus meiner interkulturellen Perspektive - Krieg-Holz / Bülow (2016, 211) ausdrücklich nicht zustimmen, die die Annahme vertreten, dass „eine Textsorte untrennbar mit einer typischen Form von Stil verbunden“ sei. 204 Peter Colliander scheinlich unvorstellbar, einen Hausmeister solche Texte verfassen zu lassen, wohingegen die dänische Hausverwaltung die konzeptionelle Mündlichkeit, deren sich der Hausmeister bedient, als vorteilhaft, weil erfolgsversprechender als ein formellerer Text, betrachten könnte. Ehrhardt / Neuland / Yamashita (2011, 20) sprechen den „Zusammenhang zwischen sprachlicher Form und Äußerungsbedeutung“ an und stellen dabei die Frage, welche Rolle das Konzept der Höflichkeitsstile spiele. Ich denke, dass es bei interkulturellen Vergleichen besonders deutlich wird, dass Höflichkeitsstile eine herausragende Rolle spielen: Die Texte in meinem dänischen Korpus werden von den angedachten Rezipienten ohne Zweifel als normal und unauffällig angesehen, was Höflichkeit betrifft; dasselbe gilt sicherlich für die deutschen Texte, bezogen auf den deutschen Rezipienten. Für einen Bewohner aus der jeweils anderen Kultur sieht es anders aus: Dem Deutschen fielen die „Lockerheit“ und das Informelle in den dänischen Texten auf; den Dänen wunderte die „Strenge“ der deutschen Texte, eine Strenge, die er erst in Texten erwarten würde, in denen es sozusagen ernst wird und von juristischer Verbindlichkeit die Rede ist, wobei solche Texte im dänischen Kontext gar nicht als Treppenhaustexte vorkommen; vgl. Zint-Dyhr / Colliander (2011) und Colliander (2015). Beide Rezipientengruppen verstehen natürlich den Zweck der Texte, aber die benutzten sprachlichen und textgestalterischen Mittel befremden sie. Das Einsetzen solcher unerwarteten Mittel könnte als unhöflich aufgefasst werden, denn man könnte darin eine Fehleinschätzung des Rezipienten durch den Autor sehen: Die dänischen Texte hinterlassen beim deutschen Rezipienten das Gefühl, respektlos und wie ein Kind angesprochen zu werden; die deutschen Texte lassen den dänischen Rezipienten fragen, ob ihn der Autor tatsächlich so negativ einschätzt, dass er dieses schwere Geschütz auffahren muss, um den Rezipienten zu erreichen. Literatur Adamzik, Kirsten (2016). Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. 2. Aufl. Berlin / Boston: de Gruyter. Brinker, Klaus (2005). Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 6. Aufl. Berlin: Schmidt. Colliander, Peter (2011). „Mich brauchst du nicht zu siezen“. Kontrastive Aspekte der deiktischen Anrede am Beispiel Dänisch-Deutsch. In: Czucka, Eckhard / Neuland, Eva (Hrsg.): Interkulturelle Kommunikation. Perspektiven einer anwendungsorientierten Germanistik. Beiträge einer internationalen Fachtagung in Kairo 9. bis 12. November 2009. München: iudicium, 93-110. Colliander, Peter (2015). Deutsche stilistische „Strenge“ vs. dänische „Lockerheit“. Eine didaktische Herausforderung. In: Dalmas, Martine / Foschi Albert, Marina / Hepp, Sprachliche Höflichkeit in „Treppenhaustexten“ 205 Marianne / Neuland, Eva (Hrsg.): Texte im Spannungsfeld von medialen Spielräumen und Normorienrierung. Pisaer Fachtagung 2014 zu interkulturellen Perspektiven der internationalen Germanistik. München: iudicium, 173-189. Dürscheid, Christa (2016). Einführung in die Schriftlinguistik. 5. Auf. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Ehrhardt, Claus / Heringer, Hans Jürgen (2011). Pragmatik. Paderborn: Fink. Ehrhardt, Claus / Neuland, Eva / Yamashita, Hitoshi (Hrsg.) (2011). 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For this purpose, German and Spanish interviews were analyzed, both referring to their mechanisms and their functions. The results showed that similar strategies were used principally when referring to conversations within the global framework of the talk show format. Nevertheless, due to the different structure of the languages and their culturally marked politeness, different strategies were used. 1. Einleitung Im Folgenden werden Intensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in spanischen und deutschen Talkshows untersucht. Abschwächungsmechanismen sind Strategien, um einen Sprechakt positiver zu übermitteln und um eventuell auftretende face-threatening-acts (Brown / Levinson 1987) abzuschwächern. Im Gegensatz dazu werden Intensivierungsmechanismen v. a. in face flattering acts (Kerbrat Orecchioni 2004; Albelda 2007) verwendet, um Kompromisse zu schließen, Interesse zu zeigen oder ein Kompliment zu machen. Face flattering politeness wurde bisher hauptsächlich von der französischen und spanischen Höflichkeitsforschung behandelt und als charakteristisch für diese Kulturen angesehen, da es sich um Sprechakte handelt, die soziale Beziehungen verstärken. Deshalb ist es Ziel dieser Forschung zu untersuchen, welche Strategien in der jeweiligen Sprachgemeinschaft benutzt werden. Um diese Studie durchzuführen, die innerhalb des Forschungsprojekts Es.Vag.Atenuación: Pragmatic attenuation and its genre variation: written 208 Josefa Contreras-Fernández and oral discursive genres in European and Latin American Spanish ( MINECO FFI 2016-75249-P) entstand, werden Intensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in deutschen und spanischen Talkshows analysiert und kontrastiert. Es wird von folgenden Fragestellungen ausgegangen: (i) Da es sich um eine Mediensprache handelt: Werden ähnliche Strategien in beiden Sprachen benutzt? (ii) Werden in den spanischen Interviews mehr Intensivierungsmechanismen, bzw. wertschätzende Höflichkeitsstrategien benutzt als in den deutschen? Es gibt eine reichhaltige Literatur über Abschwächungsmechanismen (Langner 1994, Bravo 1993, Caffi 1999, Contreras 2007, Albelda 2016), über Intensivierungsmechanismen (Held 1987, Albelda 2007, Barros 2010), so wie über Höflichkeit in Talkshows (Danilova 2008), doch wissenschaftliche Studien zu Intensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in Talkshows in einer kontrastiven Studie Spanisch-Deutsch fehlen bislang. 2. Theoretischer Hintergrund 2.1 Image Das Imagekonzept von (Goffman 1971) hat sich als sehr geeignet erwiesen, um pragmalinguistische Phänomene wie Höflichkeit, Abschwächung und Intensivierung erklären zu können. Dieses Goffmansche Image umfasst zwei komplementäre Aspekte: die Achtung gegenüber dem eigenen Image und die Rücksichtsnahme gegenüber dem Image des Anderen. Diese doppelte Wirkung der Selbstachtung und der Rücksichtsnahme hat dazu geführt, dass oftmals in wissenschaftlichen Studien facework und Höflichkeit gleichgesetzt wurden. Dieses ist jedoch nicht immer zutreffend (vgl. Bravo 1999; Briz 2003; Heránandez-Flores 2002, Albelda 2007). Es stimmt zwar, dass innerhalb der Höflichkeit facework praktiziert wird, aber facework lässt sich nicht immer durch Höflichkeit erklären. Spencer-Oatey (2005) oder Locher / Watts (2005) beforzugen statt facework die Termini rapport management bzw. relational work , da diese Begriffe beide Images -die Achtung gegenüber dem eigenen Image und die Rücksichtsnahme gegenüber dem Image des Anderenberücksichtigen. Die Art und Weise, wie das eigene Image und das der anderen in den Talkshows behandelt wird, ist grundlegend, denn die Situation erfordert von den Teilnehmern, dass sie sich um ihre eigene Selbstachtung kümmern und gleichzeitig um die Rücksichtsnahme auf andere, sowie um das Gespräch, das in diesem Moment vor sich geht. Intensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in Talkshows 209 2.2 Höflichkeit In den letzten Jahren basierten die meisten Höflichkeitsstudien auf den Postulaten von Brown / Levinson (1987) bezüglich der positive und negative politeness. Diese Postulate haben einerseits ein weites Forschungsgebiet in die Wege geleitet, wurden aber auch kritisiert, sowohl aufgrund ihrer Grundannahmen über menschliche Interaktion (Kasper 1990; Held 1992; Kerbrat-Orecchioni 2004) als auch wegen des Universalitätsanspruchs (Matsumoto 1988, Mao 1999; Bravo 1999; Boretti 2001; Hernández-Flores 2002). Wie diese Studien aufzeigen, liegt das Problem im negativen und positiven Aspekt des soziokulturell identifizierten face, d. h., Brown / Levinsons Theorie kann man zwar in einigen Sprachgemeinschaften anwenden, sie ist jedoch nicht für alle Sprachkulturen geeignet. Das hat damit zu tun, dass, auch wenn einige Werte universal sind, sie in anderen Kulturen bzw. Sprachgemeinschaften verschieden interpretiert bzw. verstanden werden, wie von vielen Autoren (Fant 1989; Watts / Sachiko / Ehlich 1992; Scollon / Scollon 1995; Contreras 2005, 2008) bestätigt wurde. Bravo (1996) basiert ihre Forschung auf solche Studien und postuliert die autonimia und afiliación Maxime. Wie Brown / Levinson (1987), geht auch Bravo vom Goffmanschen face Konzept aus. Bravo ist der Auffassung, dass es Grundinhalte „contenidos básicos“ (Bravo 1999, 157) des Image gibt, die zwar universelle und leere Kategorien sind, aber kulturspezifische Differenzierungen haben können, d. h., die je nach Sprachgemeinschaft gefüllt werden können. Sie nennt diese leeren Kategorien autonomía und afiliación und bringt sie in Verbindung mit der Dimension vom Ego und vom Alter. Die Autonomie ist, „verse o ser visto diferente a los otros“(sich anders als die anderen sehen oder anders gesehen werden) und die Affiliation „verse o ser visto en su identificación con el grupo“ (sich in der Identifikation mit der Gruppe sehen oder gesehen werden.). Bravo definiert die spanische Autonomie mit dem Konzept Selbstaffirmation und Affiliation mit Vertrauen. (Bravo 1999, 157). 1 Diese Kategorien wurden für unsere spanisch / deutsch kontrastiven Studien (Contreras 2005, 2008, 2010) übernommen, einerseits, weil es leere Kategorien sind, die kulturspezifisch variieren können und anderseits wegen der Homogenität der zu vergleichenden Forschungsobjekte. Die leere Kategorie der Affiliation wurde für die deutsche Sprachgemeinschaft mit dem Konzept der „Privatsphäre“ belegt, mit der Unter- 1 Bravo beschreibt es wie folgt: „autoafirmación […] mostrarse original y consciente de las buenas cualidades propias“ (Selbstafirmation. Sich originell zeigen und sich der eignen guten Eigenschaften bewusst sein), und das Affiliationskonzept mit Vertrauen: „confianza […] ideal de confianza, saber a qué atenerse con respecto al otro, y que se puede hablar sin temor a ofensas“ (Vertrauensideal, wissen, wie man sich dem Anderen gegenüber zu verhalten hat, und dass man sprechen kann ohne Angst zu haben den Anderen zu beleidigen) (Bravo 1999, 157). 210 Josefa Contreras-Fernández scheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre (Contreras 2008, 717). 2 Diese Unterscheidung zeigt sich sowohl in den Höflichkeitsstrategien (Contreras 2005, 2008), als auch in den Abschwächungs- und Intensivierungsmechanismen wie bei den Ergebnissen der Studie zu sehen ist. 2.3 Abschwächung Seit Lakoffs Arbeit (1972) über hedges ist eine große Anzahl wissenschaftlicher Untersuchungen (Albelda / Contreras 2009; Albelda / Briz / Cestero / Kotwica / Villalba 2014, Briz 2007; Caffi 1999, 2007; Contreras 2016, Contreras / Zhao, i.D., Fraser 1980, Mihatch 2013) veröffentlicht worden. Für Fraser (1980) sind hedges Wörter, die die Realität in einer vagen, nicht präzisen Form präsentieren. Sie werden verwendet, um Zweifel, Unbestimmtheit auszudrücken oder einen Kompromiss geringer erscheinen zu lassen oder abzuschwächern. Folglich ist dabei die Absicht des Sprechers, die message nicht so klar oder so schroff zu übermitteln. Briz (2007) beschäftigt sich auch mit diesen Wörtern und ist der Ansicht, dass aufgrund dessen, dass diese Abschwächungswörter den Geltungsgrad der Aussage minimieren, sowohl das Image der Sprecher als auch das der Gesprächspartner bewahrt werden kann. (1) 4.58’ H: ist ein Trend gerade! Ja? Ist meine Beobachtung In Beispiel (1) schränkt der Interviewer (H) seine Meinung ein, indem er sowohl sein eigenes Image als auch das des Gastes schützt. Albelda / Briz / Cestero / Kotwica / Villalba (2014) machen eine Auflistung linguistischer Mechanismen für eine pragmatische Analyse der Abschwächung. Im Folgenden werden die Funktionen der Abschwächungen kurz erläutert. Die linguistischen Mechanismen, v. a. die, die in unserem Korpus vorkommen, werden beim Ergebnis der Analyse aufgezeigt. 2 Andere Autoren (Haverkate 1994, Schäfer 2006) benutzen die Begriffe Nähe und Distanz zur Unterscheidung zwischen der spanisch / holländischen bzw. der französisch / deutschen Kultur, was zwar zutreffend ist, aber für unsere Arbeiten zwischen formellen und informellen Gesprächen (Contreras, 2005, 2008, 2010, 2016) nicht ausreichend war, da in den spanischen Gesprächen, auch in den formellen, eher eine Vertrauensbeziehung überwog, während in den deutschen Gesprächen eine Unterscheidung zwischen formellen / informellen Gesprächen gemacht wurde, also eine Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Intensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in Talkshows 211 Bezüglich der Funktionen der Abschwächung unterscheiden Albelda / Briz / Cestero / Kotwica / Villalba (2014) drei Funktionen: Selbstschutz, Vorbeugen und Heilen. „ Autoprotección (Selbstschutz), indem man sich vor dem Gesagten schützt, um sein Image nicht zu verlieren. Da bei dieser Funktion nur das eigene Image und nicht das des anderen gefährdet ist, kann man nicht von Höflichkeit sprechen.“ (Albelda / Briz / Cestero / Kotwica / Villalba 2014, 16) „Prevención“ (Vorbeugen) bei einer eventuellen Gesichtsbedrohung des anderen oder bei einem möglichen Hindernis in einem Gespräch oder in einer Beziehung. Man beugt vor, wenn das Image des Anderen oder seine Privatsphäre bedroht sein könnten. (Albelda / Briz / Cestero / Kotwica / Villalba 2014, 17) „Curación“ (Heilen) im Falle einer Gesichtsbedrohung des Anderen. Hier geht es darum, einen Sprechakt wiedergutzumachen oder aufzuheben, wenn man dem anderen bereits einen Schaden zugefügt hat. (Albelda / Briz / Cestero / Kotwica / Villalba 2014, 18) Um den illokutiven Gehalt eines Sachverhalts abzuschwächen, bedient man sich Abschwächungsmechanismen. Um den Effekt einer Äußerung zu verstärken, werden Intensivierungsmechanismen angewandt. 2.4 Intensivierung Kerbrat-Orecchioni (2004) führt den Begriff der face flattering acts ( FFA s) ein, im Gegensatz zu den face threatening acts ( FTA s), ausgehend davon, dass nicht jeder Sprechakt eine Bedrohung für das Image ist, sondern dass es auch Sprechakte gibt, durch die ein Nutzen für den Hörer erreicht werden soll und die einen positiven Effekt auf das Image des Anderen haben. Für diese Autorin besteht die Höflichkeit nicht nur darin, die bedrohenden Sprechakte abzuschwächern, sondern auch schmeichelnde Sprechakte zu äußern, wie z. B. Komplimente. Der Sprechakt des Komplimentieren als Höflichkeitstratgie ist auch von Neuland (2011) behandelt worden. Sowohl FTA s als auch FFA s können verstärkt werden. Wenn es jedoch darum geht, eine harmonische Beziehung zu schaffen, werden FTAs abgeschwächt und FFA s verstärkt bzw. intensiviert. Diese Beziehungen sind oft mit Emotionen verbunden. So ist Held (1989) in Bezug auf Intensifikationsmechanismen (MAX) der Auffassung: „MAX refers to psychological components which are hierarchically responsible, above all, for the total effect of politeness, viz, truth content, affect and efficiency“(167) 212 Josefa Contreras-Fernández Hinsichtlich der spanischen Höflichkeitsforschung schlägt Carrasco im Gegensatz zur negative and positive politeness folgende Begriffe vor: „cortesía mitigadora“ (abschwächende Höflichkeit) und „cortesía valorizante“ (wertschätzende Höflichkeit) (Carrasco 1999, 15). Die wertschätzende Höflichkeit setzt die Ausführung von höflichen Sprechakten voraus, entsteht aus positiven Gründen (schmeicheln, behagen, danken, unterstützen) und versucht, einen angenehmen Effekt hervorzurufen, wie in Beispiel (2) zu sehen ist (2) B: […] nos dieron un papel para imitar a Sardà, para mí fue titánico (Sardà 14.10’) H. […] Ich seh deine Sendung sehr sehr gerne (Rach 6.38’) Der spanische Interviewer will dem Interviewten, Sardà, gefallen und sagt: „Wir bekamen eine Rolle, um Sardà zu imitieren, für mich war es titanisch“, und Harald Schmidt macht dem eingeladenen Gast durch die semantische Bedeutung und Intensivierung seiner Äußerung ebenfalls ein Kompliment. Autorinnen wie Albelda (2007), Bernal (2007) und Barros (2011) unterstreichen, dass die wertschätzende Höflichkeit nicht nur ritualisiert in formellen Gesprächen vorkommt, sondern auch oft in spanischen Alltagsgesprächen. Das Ziel ist, das Image des Gesprächspartner positiv zu bewerten und interpersonale, affektive Bindungen zu schaffen. Vivas (2014) spricht von „bromas afiliadoras“ (166) (affektive Scherze) in spanischen Facebook-Gesprächen, die dazu dienen, die Bindungen innerhalb der Gruppe zu stärken bzw. um ein Vertrauen, das Affiliationskonzept der spanischen Sprachgemeinschaft, herzustellen. Andere Funktionen der Intensivierungsmechanismen, wie im Ergebnis der Analyse zu sehen sein wird, sind u. a. das Image des Anderen zu belobigen. 3. Datenanalyse Um diese Studie durchzuführen, wurden Talkshows ausgewählt. Der Grund dafür lag darin, dass bei Interwiews von berühmten Personen in beiden Sprachgemeinschaften das Image der interviewten Person schonend behandelt und oftmals wertgeschätzt wird. Die Auswahl der Talkshows war jedoch mit einigen Erschwernissen verbunden, aufgrund der kulturspezifisch verschieden strukturierten Talkshows. Nicht nur die behandelten Themen variieren von einer Sprachgemeinschaft zur anderen, sondern des Öfteren auch die Anzahl 3 der eingeladenen Gäste. 3 In deutschen Talkshows diskutieren normalerweise mehrere Gäste über ein Thema, in Spanien normalerweise nicht. Intensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in Talkshows 213 Die Auswahl für die analysierten Talkshows dieses Korpus wurde aus folgenden Gründen getroffen: Die Talkshows sind gleich aufgebaut, sogar mit gleichem Hintergrund. Beide Sendungen sind sog. late night shows, und die interviewten Gäste haben ein ähnliches Profil ( Journalist und Fernsehmoderator, Koch, Schauspielerin, Regiseurin, Sängerin). Es wird je ein Gast interviewt und die Gesprächsdauer variiert nur wenig. Für die deutsche Analyse wurde ‚Die Harald Schmidt Show‘ gewählt und für die spanische ‚Buenafuente‘. Die deutschen interviewten Gäste sind: Ulrich Meyer, Christian Rach, Katharina Schüttler und Nina Hagen; die spanischen Gäste sind: Xavier Sardà ( Journalist und Fernsehmoderator), Carlos Arguiñano (Fernsehkoch und Kochbuchautor), Isabel Coixet (Regiseurin) und Alaska (Sängerin). In Bezug auf die Analyseparameter wurden zwei Variabeln berücksichtigt: (i) welche Abschwächungsmechanismen verwendet wurden, und ob sie als solche fungierten - dafür war der Kontext ausschlaggebend - und (ii) welche Intensivierungsmechanismen gebraucht wurden. In den analysierten Talkshows werden Fragen zur Arbeit und zum Leben der Personen mit Spaß und Humor gestellt, nicht nur, um die Zuschauer zu informieren, sondern sie v. a. zu unterhalten. Unabhängig vom Land, in dem diese Programme stattfinden, sind ähnliche Merkmale bzw. Strukturen zu erkennen, dennoch existieren Unterschiede, denn, auch wenn sie einem bestimmten Kanon folgen müssen, reflektieren sie die Besonderheiten des Publikums. 4. Ausgewählte Ergebnisse Dieser Absatz ist in zwei Teilabsätze aufgeteilt. Im ersten werden die Abschwächungsmechanismen in den deutschen und spanischen Talkshows dargelegt, v. a. die dominierenden Strategien, und im zweiten Teilabsatz werden die auffallenden Intensivierungsmechanismen aufgezeigt und die Unterschiede erläutert. 4.1 Abschwächung in deutschen und spanischen Talkshows In unserem deutschen Korpus kamen folgende Abschwächungsmechanismen vor: der Konjunktiv II , Abtönungspartikeln, externe Modifizierer 4 , Einschränkungen von Geltungsansprüchen, Rechtfertigungen, Entschuldigungen, Fremd- 4 Externe Modifizierer sind cuantificadores mimimizadores (abschwächende Quantifikatoren) wie ein bisschen, etwas usw., Approximative wie mehr oder weniger , usw., oder difusores significativos (Bedeutungsdiffusoren) wie im Prinzip, usw. (Albelda / Briz / Cestero / Kotwica / Villalba 2014). 214 Josefa Contreras-Fernández wörter, Litotes und Paraphrasen, Ironie, konzessive-oppositive Konstruktionen, generalisierende Ausdrücke und prosodische, paralinguistische Elemente. Die meistgebrauchten Abschwächungsmechanismen in unserem deutschen Korpus sind Abtönungspartikeln und der Konjunktiv II , wie im Beispiel (3) zu sehen ist (3) H […] dann würde ich ganz gerne in 123 Schlagwörtern hören, ja, worauf sollte ich eigentlich achten (Rach, 2.48’) Der Interviewer möchte gerne wissen, was er beachten sollte, wenn er ein Restaurant aufmachen würde, und verwendet dafür den Konjunktiv II . Dieser Modus wird oft als Höflichkeitsform im Deutschen verwendet, denn der Konjunktiv als hypothetischer Modus bewirkt eine zeitliche Distanz und minimiert somit den illokutiven Akt. Die Funktion dieses Mechanismus besteht darin, eine potenzielle Bedrohung des Images des Anderen zu vermeiden. Das nächste Beispiel stammt aus einem Interview mit Ulrich Meyer, das in der letzten Folge der Harald Schmidt Show geführt wurde. Harald Schmidt fragt den Gast, wie er es denn macht, zwanzig Jahre lang so erfolgreich zu sein. (4) M: […] und immer da, das ist das Wichtigste, immer da H: Es sind viele immer da, aber keiner will das sehen (Meyer, 4.17’) Auf die Antwort von Ulrich Meyer äußert sich dann der Interviewer mit Ironie und mit den generalisierenden Pronomen viele / keiner, um sein eigenes Image zu bewahren und um eine potenzielle Bedrohung durch diese Sprechakt auf das face des Publikums zu vermeiden. Im nächsten Beispiel (5), weigert sich der Interviewer, die Frage des Gastes zu beantworten und benutzt, um seine Ablehnung abzuschwächern, prosodische Elemente, d. h., das Verb nennen wird etwas lauter und ironisch ausgesprochen und außerdem rechtfertigt er sich. Rechtfertigungen kommen in beiden Korpora sehr oft vor und haben die Funktion sowohl das eigene Image als auch das des Anderen zu bewahren. (5) M: Wo gehen Sie jetzt genau hin? Sky? Atlantik, hab ich gehört H: Ja, ich will das gar nicht NENNEN , denn wir sind ja hier noch sozusagen noch bei Sat1 sehr glücklich heute (Meyer, 0,40’) Intensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in Talkshows 215 Auch in Beispiel (6) werden prosodische und paralinguistische Elemente verwendet, um den potenziell bedrohenden Sprechakt du bist ja so gealtert abzuschwächern. (6) H: Das sind Samen? Für meinen Garten? N: mhm! H: Woher wusstest du, dass ich so ein verrückter Hobbygärtner bin? N: Mann, wir dürfen das niiie wieder tun, weil, wir dürfen uns niiie wieder so lange nicht sehen. Ich hab ja so einen SCHO ck bekommen auf dem Korridor, du bist ja so gealtert. (Nina, 0,10’) H: (lacht) ja das letzte Mal […] N: […] We love you Nina bringt Harald Blumen mit ‚Ich denk an dich, vergiss mein nicht‘ und, bevor sie den Sprechakt äußert, beugt sie einer eventuellen Geseichtsbedrohung vor mittels einer Stimmveränderung wir dürfen das niiie wieder tun und einem verlängertem Vokal, außerdem sagt sie dann auf Englisch We love you . Durch die Bedeutung dieser Äußerung und dadurch, dass sie in einer anderen Sprache geäußert wird, wird der Sprechakt noch weiter abgeschwächt, denn je größer die Gesichtsbedrohung ist, desto mehr Abschwächungsmechanismen werden verwendet. In den spanischen Talkshows kommen folgende Mechanismen vor: der Konjunktiv II (weniger als im deutschen Korpus), interne und externe Modifizierer, Ausdrücke der Beschränkung des Geltungsanspruchs, Rechtfertigungen, Entschuldigungen, Diskuspartikeln, Litotes und Paraphrasen, konzessive-oppositive Konstruktionen, generalisierende Ausdrücke, paralinguistische Elemente und Ellipsen. Ein oft benutzter Abschwächungsmechanismus in spanischen Gesprächen sind interne Modifizierer bzw. Diminutive, wie in Beispiel (7) un poqu ito, (ein bisschen). Sie minimisieren die Bedeutung des Wortes und können sowohl das eigene Image als auch das der Gegenüber wahren. In dieser Situation dient der Diminutiv dazu, das Image des Interviewer zu schützen. (7) B: un poquito, un poquito saturado sí que estoy (Alaska, 4,07’) (B: ein bisschen, ein bisschen überlastet bin ich schon) Eine beliebte Abschwächungstrategie in spanischen Gesprächen sind Diskurspartikeln, die nicht nur abschwächern, sondern auch nach einem Konsens mit dem Gesprächspartener streben. Im Beispiel (8) benutzt der Interviewer die Ge- 216 Josefa Contreras-Fernández sprächspartikel eh und formuliert seine Frage negativ, so dass er im Voraus einer eventuellen Ablehnung der Sängerin vorbeugt. Alaska spricht in ihrem neuen Lied davon, die Gefühle zu bändigen, was der Interviewer als etwas Komisches betrachtet, doch er minimisiert seine Äußerung durch die Abschwächungsmechanismen. (8) B: Pero no me negarás que unos cantantes hablando de domesticar los sentimientos es raro, eh? (Alaska, 5.31’) (B: Aber du wirst nicht leugnen, dass es etwas komisch klingt, wenn Sänger davon sprechen, die Gefühle zu bändigen, oder? ) Im nächsten Beispiel benutzt der Interviewer außer der Diskurspartikel no, Ellipsen und paralinguistische Abschwächungsmechanismen. Die Regiseurin hat in Amerika einen Film gedreht und für diesen dort Geld bekommen. Der Interviewer sagt, dass es in Spanien nicht möglich ist, spicht aber den Satz nicht aus, insofern ist die potenzielle Gesichtsbedrohng nur implizit ausgesprochen, und er bewahrt dadurch v. a. sein eigenes Image. (9) B: Claro, porque está fuera de España y ha encontrado el dinero, claro (verzieht Gesicht) porque esto en España …… no? Puede pasar que ………(verzieht Gesicht) (Coixet, 3,12’) (B: Klar, weil sie nicht in Spanien ist und sie hat Geld bekommen, klar (verzieht Gesicht) weil das in Spanien … nicht wahr? Es kann passieren, dass …… (verzieht Gesicht) In Beispiel (10) geht es darum, dass sowohl Benafuente als auch der Gast zur gleichen Zeit eine Sendung moderierten und der Interviewer formuliert dann folgende Äußerung (10) B: ah, bueno, ah bueno, el programa que al mismo tiempo tuvo más audiencia que el tuyo (lacht, steht auf und küsst ihn auf die Wange) (Sardà, 11,48’) (B: ah, ja, ah ja, die Sendung die auch mehr Zuschauer als deine hatte) Da der Sprechakt eindeutig eine klare Gesichtsbedrohung impliziert, wird er durch prosodische und paralinguistische Abschwächungsmechanismen minimisiert: durch das Lachen und den Kuss auf die Wange. Wenn man die verwendeten Abschwächungsmechanismen kontrastiert, fallen manche kulturspezifische Unterschiede auf. Der Konjunktiv II , den man als ritualisierte Höflichkeitsfrage in deutschen formellen Interaktionen betrachten Intensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in Talkshows 217 könnte, wird in der spanischen Sprachgemeinschaft in gleichen Situationen weniger benutzt. In Beispiel (11) sind zwei direktive Sprechakte (11) B: ¡Dime! , por favor, ¿cómo se trabaja con Ben Kingsley? (Coixet 4.36’) B: (Sag mir bitte, wie arbeitet man mit Ben Kingsley? ) Diese direktiven Sprechakte werden vom Interview lediglich durch die Höflichkeitsfloskel bitte abgeschwächt. Das hängt zum Teil damit zusammen, dass der Konjunktiv als hypothetischer Modus eine Distanz bewirkt und die Interaktionen in den spanischen Gesprächen eher auf einer Vertrauensbasis basieren. Aus diesem Grunde gibt es in den Talkshows eine große Anzahl an Diskurspartikeln, die charakteristisch für das spanische Affiliationskonzept des Vertrauens sind, so wie auch der Kuss auf die Wange. 4.2 Intensivierung in deutschen und spanischen Talkshows In Bezug auf die Intensivierungsstrategien kommen sowohl in den deutschen wie auch in den spanischen Talkshows folgende Mechanismen vor: wertschätzende Adverbien, Adjektive und Substantive, wertschätzende Auflistungen und Wiederholungen. Beispiele für eine wertschätzende Auflistung, die oft am Anfang vieler Talkshows zu hören sind, sehen wir in (12) und (13) (12) H: Du spielst an den besten Filmen, du arbeitest mit den besten Regiseuren, du bist Schauspielerin des Jahres geworden […] Das ist eine enorme Leistung (Schüttler, 0,48’) (13) H: Sie haben sich kaum verändert, Sie haben dieses Jugenhafte, Energische, Dynamische und Frische bewahrt (Meyer, 4,17’) Rhetorische Fragen als Intensivierungsstrategie wie in Beispiel (14) kamen nur in unserem deutschen Korpus vor (14) H: Aber, kann man Sie denn sehen ohne zu zahlen? (Meyer, 6,32’) Es ist eine wertschätzende Höflichkeit. Der Inerviewer versucht durch diesen Mechanismus einen schmeichelnden Effekt hervorzurufen. In unserem spanischen Korpus wird eine größere Varietät an Intensivierungsmechanismen verwendet und einige, die im deutschen Korpus nicht vorkamen wie, z. B., Ausrufesätze, Wiederholungen, persönliche Deixis mit Intensivierungszwecken, Personalisierungen, Augmentative. 218 Josefa Contreras-Fernández In Beispiel (15) ist die Absicht des Interviewers, den neuen Film der Regiseurin Isabel Coixet zu loben: (15) B: Es una película que transmite como mucha vida, mucha positividad […] ¡Muy bonito todo! ¡Muy buena pinta! (Coixet, 1,56’) (B: Es ist ein Film, der viel Leben, viele positive Eigenschaften übermittelt […] Sehr schön alles! Sieht sehr sehr gut aus! ) Benafuente lobt das Image der Regisseurin, indem er durch die positiv wertenden Adjektive und Ausrufesätze den Film komplimentiert bzw. lobt. In Beispiel (16) gibt es auch Ausrufesätze, die aber durch die zweifache Verwendung dieses Mechanismus und durch die persönliche Deixis einen größeren Intensivierungseffkt bewirken. (16) B: ¡Tú eres muy joven! ¿eh? , ¡Tú eres muy joven! ¿eh? (Alaska, 7,15’) (B: Du bist sehr Jung! Nicht wahr? , Tu bist sehr jung! Nicht wahr? ) Diese persönliche Deixis ist hier insofern als Intensivierungsmechanismus zu betrachten, als dass sie in der spanischen Syntax nicht erforderlich ist, wie in Beispiel (17) zu sehen ist: eres statt: tú eres . In (17) wird eine Personalisierung als Intensivierungsmechanismus verwendet. (17) B: Es que eres un género en ti mismo (Arguiñano, 18,48’) (B: Du bist eine Art für sich) Hier entsteht die positive Höflichkeit aus dem Grund, das Image des Gastes zu komplimentieren. So auch in (18), wo aber die Äußerung des Interviewers eher einem informellen, auf einer Vertrauensbasis aufgebautem Gespräch ähnelt. (18) B: ¡Qué bien hueles! (Alaska 0,46’) (B: Du riechst aber gut) In (19) wird im Ausrufesatz ein Augmentativ verwendet mit dem Ziel, durch den Intensivierungsmechanismus das Image des Intervierer (A ist der Gast) positiv zu bewerten und eine affektive Bindung herzustellen. (19) A: No, ¡este es un programón! (Arguiñano, 9,02’) (A: No, das ist eine super Sendung! ) Intensivierungs- und Abschwächungsmechanismen in Talkshows 219 Augmentative als Intenivierungsmechanismen kommen wegen der Struktur der spanischen Sprache nur in den spanischen Talkshows vor, so wie auch die persönliche Deixis mit Intensivierungszwecken. Weitere Unterschiede zu unserem deutschen Korpus sind: eine größere Varietät an Intensivierungsstrategien, Personalisierungen und Ausrufesätze, die, wie in den Ergenissen zu sehen waren, nicht nur das Image des Gesprächspartner positiv bewerten, sondern auch eine affektive Bindung hervorrufen. 5. Fazit Das Ziel dieser empirischen Arbeit war, zu untersuchen, welche Strategien in den deutschen und spanischen Talkshows verwendet wurden. In Bezug auf unsere Frage, ob man wegen der Mediensprache des Genres in beiden Sprachen ähnliche Strategien benutzt, konnte Folgendes festgestellt werden: Z. T. werden ähnliche Mechanismen benutzt, wie z. B. konzessive-oppositive Konstruktionen, Rechtfertigungen und Einschränkungen mit der Funktion das Image des Anderen und das Selbstimage zu schonen. Das liegt daran, dass es bei Talkshows wichtig ist, beide Images zu bewahren, das des Interviewers und das des Gastes. Auch bezüglich der Intensivierungsstrategien wurden v. a. Mechanismen verwendet, die im Zusammenhang mit dem Genre stehen, wie z. B. wertschätzende Adverbien und Adjektive. Auch wenn diese Sendungen einem bestimmten Kanon folgen müssen, so müssen sie sich jedoch auch an die Charakteristiken des Publikums richten, weshalb kulturspezifische Mechanismen von den Gesprächsteilnehmern benutzt wurden. Diese Unterschiede zeigten sich im Hinblick auf die Morphologie, so die Diminutive und Augmentative im Spanischen, aber auch hinsichtlich des Affiliationskonzepts: In den deutschen Talkshows bevorzugten die Interaktanten den Konjunktiv II , der als hypothetischer Modus eine Distanz bewirkt. In den spanischen Talkshows wurden Diskurspartikeln und paralinguistische Mechanismen verwendet, wie z. B. der Kuss, die charakteristisch für eine Sprachgemeinschaft sind, in denen Gespräche, auch formelle, eher einem auf einer Vertrauensbasis aufgebauten Diskurs entsprechen. Dieses konnte auch bezüglich der Intensivierungsmechanismen festgestellt werden: Eine größere Varietät an Strategien in den spanischen Talkshows, die die Funktion hatten, das Image des Anderen zu komplimentieren und eine affektive Bindung zu schaffen, charakteristisch für das Affiliationskonzepts des Vertrauen dieser Sprachgemeinschaft. 220 Josefa Contreras-Fernández Literatur Albelda, Marta (2007). La intensificación como categoría pragmática: revisión y propuesta. Frankurt am Main: Peter Lang. Albelda, Marta (2008). Atenuantes en Chile y España. In: Briz Antonio / Antonio Hidalgo/ Marta Albelda / Josefa Contreras / Nieves Hernández-Flores (Hrsg.). Cortesía y conversación: de lo escrito a lo oral . 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An action that is deemed polite in a culture might be rudely identified in another and this leads the actor of the deed to lose value in the eyes of the other person or people. This paper aims to draw attention to differences of polite behaviour patterns and correcting behavioural forms through the example of ‛apologizing’ speech acts in German and Turkish in order to increase intercultural communicative rapport. In addition to this, it is important to compare and observe fundamental behaviour patterns in terms of apologizing and addressing, since these patterns show significant differences. In this context, this paper aims to determine some similarities and differences between the correcting behavioural forms to find answers to the way people apologize in daily communication. 1. Einleitung Im Umgang mit anderen Menschen sind wir alle darauf bedacht, uns sowohl sprachlich wie auch nichtsprachlich höflich zu verhalten. Neben dem sprachlichen Verhalten kann in einer Kommunikationssituation auch das außersprachliche Verhalten für den Kommunikationserfolg und für die Fortsetzung der sozialen Beziehungen ausschlaggebend sein. Im Falle einer unzureichenden Berücksichtigung dieses Aspekts kommt, wie auch Nixdorf zu Recht behauptet, eine misslungene Kommunikation zustande (2002, 7), die das bestehende Vertrauensverhältnis der Gesprächspartner erheblich beeinträchtigen oder gänzlich unwiederherstellbar zum Abbruch führen kann. Das Problem wird noch größer, wenn die Interaktionspartner unterschiedlichen Kulturkreisen oder gänzlich fremden Kulturen angehören; hier wird allzu deutlich, dass Höflichkeit sowohl sprachlich wie auch nichtsprachlich im engeren Zusammenhang mit kulturellen Verhaltensnormen und sozialen Beziehungen steht. 224 Yadigar Eğit Die Höflichkeit ist zunehmend zu einem wichtigen Untersuchungsgegenstand sprachwissenschaftlicher Arbeiten geworden und wurde unterschiedlich konzeptualisiert 1 , so z. B. von Goffman (1971), Leech (1971, 1983), Lakoff (1973), Lange (1984), Vorderwülbecke (1986) mittels des Face -Konzepts oder der Erweiterung des Face -Konzepts bei Brown / Levinson (1978, 1987) sowie in den kulturvergleichenden Studien von Blum - Kulka (1989). Neuere Einzelbeiträge und wichtige Sammelbände (u. a. Held 1995), Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (1996), Lüger (2002), Ehrhardt / Neuland (2009) u. a. haben in der Höflichkeitsforschung, wie auch Ehrhardt / Neuland / Yamashita hervorheben, „neue Impulse ausgelöst“ (2011, 19). Ausgehend von Neulands These, dass „heute die sprachliche Höflichkeit für die Kommunikation im Allgemeinen und vor allem im interkulturellen Kontext“ eine ‛Schlüsselkompetenz’ darstellt (2011, 129), ist es ratsam, das Konzept der Höflichkeit aus allgemeineren Prinzipien der Interaktion unter interkulturellem Aspekt anzugehen (Vgl. Eğit 1998, 14). So betrachtet, steht die Höflichkeit „für einen ganzen Block von Interaktionsnormen“, welche die sprachlichen und nichtsprachlichen Verhaltensmuster in einer Interaktion regeln (Eğit 2013, 97). Diese Normen sind nach Eğit „nicht nur bloße Verhaltensnormen, sondern bilden auch die Grundlage für das Verstehen des Verhaltens von anderen“ (1998, 14). Was in einer Kultur als höflich zu bezeichnen ist, kann in einer fremden Kultur als unhöflich eingestuft werden und die Geringschätzung des Kommunikationspartners bewirken, was dann auch „direkt zur Stereotypenbildung“ führen kann (vgl. Nixdorf 2002, 7 f.). In jeder Kultur findet sich, so auch Bremer, „eine Vielzahl von stereotypen Situationen, die gemäß den dort gültigen sozialen Konventionen“ eine Entschuldigungsäußerung abverlangen (2009, 1). Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht nun gerade darin, die besagte Konventionalisierung der Entschuldigungen und ihrer Ausdrucksformen als einen Teil der sogenannten Höflichkeitsstereotypen im Deutschen und Türkischen ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, kontrastiv zu untersuchen und ihre kommunikativen Funktionen zu beschreiben. Es soll noch darauf eingegangen werden, ob in den letzten zwei Dekaden die Entschuldigungsformeln im deutschen und türkischen Sprachgebrauch eine wesentliche Veränderung erfahren haben, was auch für die Fremdsprachendidaktik von Bedeutung sein könnte. Die Daten meiner Untersuchung beruhen auf Tonaufnahmen mit einem Smartphone in beiden Sprachen und eigenen gezielten Beobachtungen, die 1 Vgl. dazu auch Ehrhardt (2011, 28) und für einen historischen Überblick und eine Darstellung der verschiedenen Aufsätze in der Höflichkeitsforschung Kasper (1996, 4). Entschuldigungen im Deutschen und Türkischen 225 protokolliert sind, aber auch auf ältere für andere Untersuchungen von mir mit einem Kassetten-Recorder aufgenommenen spontanen Wegerklärungen oder auch Erklärungen für den Autoreifenwechsel. 2. Wesen der Höflichkeit Höfliches Verhalten bzw. das gute Benehmen ist nach Belma Aksun 2 „die Grundlage der menschlichen Existenz und zugleich auch eine der wichtigsten Konventionen, die das harmonische Zusammenleben in der Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht“ (Aksun 1980, 5, zit. nach Eğit 1998, 13). Denn in der zwischenmenschlichen Kommunikation geht es nicht nur um einen „effektiven Informationsaustausch“ oder um bloße Sachverhaltsmitteilungen, sondern, wie auch Lüger unterstreicht, um „das Bemühen der Kommunikationspartner, ihre Identität zu wahren, zu bilden oder zu stärken“ (2005, 5). Bei dieser Identitätsbildung steht das jeweilige face oder Gesicht der Kommunikationspartner im Vordergrund. Unter dem Begriff face bzw. Gesicht wird in dieser Studie in Anlehnung an Goffman (1971, 10ff) und Brown / Levinson (1978, 66ff) das im Deutschen zumeist „mit Image wiedergegebene, mit sozial anerkannten Eigenschaften umschriebene Selbstbild eines Mitglieds der Gesellschaft“ verstanden (Eğit 1998, 11). Der Begriff Gesicht bzw. Image ist nach Brown / Levinsons Modell noch weiter zu unterscheiden in: positives und negatives Gesicht. Das positive Gesicht bezieht sich auf den Wunsch des Individuums nach Anerkennung, Wertschätzung und sozialer Integration. Das negative Gesicht bezieht sich auf das Bedürfnis, den persönlichen Handlungsspielraum frei zu halten und das Verlangen nach persönlichen Territorien. Das Gesicht kann in einer Kommunikation gegenseitig bedroht oder verletzt werden. Solche sprachlichen oder nichtsprachlichen Handlungen bezeichnen Brown / Levinson als face-threatening acts (1978, 66ff). Die Vermeidung des Gesichtsverlusts bedarf einer besonderen Aufmerksamkeit, d. h. bestimmter Strategien, die Goffman als face-work bezeichnet (1971, 11). Das positive Gesicht ist, laut Lüger, meistens durch „Selbstkritik, Entschuldigungen, Schuldeingeständnissen“ (2002, 6) und das negative Gesicht durch „Versprechen oder andere Festlegungen“ (ebd.) gefährdet. Mit der Höflichkeit stehen sowohl im Deutschen wie auch im Türkischen die Begriffe Anstand, Manieren, Selbstachtung, Galanterie, Wohlerzogenheit, Schicklichkeit in engem Zusammenhang (vgl. Lange 1984, 5; Ding / Fluck 2002, 96). Die normbezogene Höflichkeit wurde schon sehr früh für das Deutsche und 2 Für die Literatur zur Höflichkeit im Türkischen vgl auch Muhsin Karaş (1989), Müjdat Kayayerli (1994), İbrahim İlkhan (2011). 226 Yadigar Eğit für das Türkische erst 1985 in den Höflichkeitsbüchern bzw. Benimmbüchern beschrieben und kodifiziert (z. B. Knigge, Aksun). Allerdings ist zu bemerken, dass für das Türkische die ländlichen Varianten der Höflichkeit nicht berücksichtigt wurden und die vorliegenden Arbeiten rein westlich orientiert sind. Der Begriff Höflichkeit mit der äquivalenten Übersetzung nezaket 3 im Türkischen umfasst mehrere Bedeutungen, die in direkter Beziehun g zur Höflichkeit stehen: Naziklik : Liebenswürdigkeit, freundliches zuvorkommendes Benehmen. Edep : Anstand Zariflik bzw. zarafet : Vornehmheit, Feinheit. Terbiye : Wohlerzogenheit. İncelik : Feinheit, Subtilität Görgü : Etikette, Anstand, korrekte Umgangsformen. 3. Höfliches Verhalten unter interkulturellem Aspekt Der Kodex der Höflichkeit, in dem sprachliche Ausdrücke wie Grüßen, Bitten, Danken, Anreden, Entschuldigungen, Komplimente u. a. je nach der Gesellschaftsordnung konventionalisiert sind, regelt die interpersonalen Beziehungen. Die Auslassung der genannten sprachlichen Ausdrücke kann in Extremfällen unangenehme Folgen herbeiführen. Betrachtet man die Praxis der Höflichkeit, so scheint das höfliche Verhalten in beiden Sprachen, wie auch von den meisten Verfassern von Höflichkeitsfibeln 4 zum Ausdruck gebracht wird, von vielen Faktoren abhängig zu sein. Diese sind folgende: Person, die Beziehung zwischen den Personen, Zeit, Ort, Handlungsort sowie ihre Ausdrucksformen. Bei dem Faktor Person stehen Aspekte wie Alter, Geschlecht, sozialer Status und Charakter im Vordergrund. Der Faktor, das Verhältnis zwischen den Personen umfasst v. a. die Aspekte Standesunterschiede, Vertrautheit - Distanz. Der Faktor Ort ist als öffentlich oder privat zu interpretieren. An dieser Stelle ist zu bemerken, dass im Türkischen die Faktoren Person und das Verhältnis zwischen den Personen eine bedeutsamere Rolle als im Deutschen spielen. Welche gesellschaftlich anerkannten Eigenschaften das gute Benehmen indizieren, ist, wie bereits erwähnt, kultur- und gruppenspezifisch. So ist z. B. innerhalb der türkischen Kultur das laute Schneuzen in einer Gesellschaft nicht höflich; man nimmt sein Taschentuch, entschuldigt sich und dreht sich halb zur Seite und schneuzt dann so leise wie möglich. Auch das nonverbale Verhalten und die Intonation spielen in der türkischen Kultur hinsichtlich der 3 Das türkische Wort nezaket stammt ursprünglich vom Persischen Adjektiv nazük ab. 4 Vgl. Kamptz-Borken (1954, 299). Vgl. Ebhardt (1984, 13). Entschuldigungen im Deutschen und Türkischen 227 Höflichkeit eine wichtige Rolle, wobei hier auch die Faktoren Alter, Geschlecht und Standesunterschiede im Vordergrund stehen. Es gibt viele Bereiche in beiden Kulturen, die bezüglich des nonverbalen nicht höflichen Verhaltens Unterschiede aufweisen 5 . So kommt es aus diesem Grund bei den in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen türkischer Herkunft oft zu einem Kulturbruch, wenn sie in die Heimat zurückkehren. Sie werden von vielen Personen als grob, nicht wohlerzogen und unhöflich bezeichnet, weil sie gegen türkische Höflichkeitsnormen verstoßen. Um einige Beispiele zu geben: 1. das Nichtaufstehen beim Eintreten einer älteren Person zwecks Begrüßung, 2. das Nichtbegleiten des Gastes bis zur Wohnungstür, 3. die lasche Körperhaltung in Gegenwart des Gastes, besonders in Gegenwart von älteren Personen (Beine ausstrecken, Körper nach hinten werfen, Beine ausgestreckt hochlegen), 4. dem Gast den Rücken zukehren, 5. beim Ausgehen die Rechnung nur für sich selbst bezahlen oder die Rechnung gar dem Gast überlassen. Die Aufzählung lässt sich fortsetzen. Viele dieser Verhaltensweisen gelten auch in Deutschland und in anderen europäischen Kulturen als unhöflich, dennoch sind Unterschiede wahrnehmbar. Es wäre sowohl für Deutsche als auch Türken in Deutschland und in der Türkei von Vorteil, wenn solche kulturellen Differenzen kulturvergleichend erforscht werden könnten. 4. Entschuldigungen als Beispielfall Entschuldigungen bilden einen Teil der sogenannten Höflichkeitsstereotypen. Sie gehören zur Alltagskultur und werden gewöhnlich dann geäußert, wenn jemand eine soziale Regel verletzt hat. In diesem Falle bemüht sich gewöhnlich die für das Vergehen verantwortliche Person um eine Rettung aus dieser unangenehmen Situation (Vgl. Eğit 1998, 43). Dieses Bestreben ist die Entschuldigung selbst. Jochen Rehbein definiert die Entschuldigung wie folgt: „Die Entschuldigung ist eine kommunikative Handlung, in der jemand (hier der Defendend Y) zugibt, dass die inkriminierte Handlung schlecht war (er entschuldigt sich), aber im Allgemeinen nicht die volle Verantwortung für die Handlung übernimmt“. (1972, 306) 5 Vgl dazu Eğit, Yadigar (1998): Höflichkeit und Höflichkeitsformen. Überlegungen am Beispiel des Stereotyps „Entschuldigungen“ im Deutschen und Türkischen. İzmir: Ege Üniversitesi Basımevi. 228 Yadigar Eğit In unserem sozialen Leben können sich alltäglich kleine Zwischenfälle ereignen, die das Gesicht des Anderen gefährden können. Solche Zwischenfälle können z. B. Zusammenstöße von Passanten, Drängeln in einer Schlange, Unpünktlichkeit, das Vergessen einer Verabredung u. a. sein. In Anlehnung an Lange wird in der vorliegenden Untersuchung für solche Zwischenfälle der Begriff Tat sowie die Begriffe Täter und Opfer verwendet (1984, 62). Ferner werden im Sinne Goffmans die Begriffe „virtuelles Vergehen“ und „virtueller Regelübertreter“ für „schlimmstmögliche Deutungen“ der Tat, die sich die Beteiligten „mehr und weniger übereinstimmend“ machen, eingeführt (1974, 156). Analog dazu verwendet Lange den Begriff virtueller Geschädigter (1984, 62). Die korrektive Tätigkeit wird erst dann in Gang gesetzt, wenn sich die Interaktionspartner des virtuellen Vergehens bewusst sind und die mögliche schlimmste Deutung der Tat machen. Die Funktion der korrektiven Tätigkeit beschreibt Goffman wie folgt: „Die Funktion der korrektiven Tätigkeit besteht darin, die Bedeutung zu ändern, die andernfalls einer Handlung zugesprochen werden könnte, mit dem Ziel, das, was als offensiv angesehen werden könnte, in etwas zu verhandeln, das als akzeptierbar angesehen werden kann“. (1974, 156) Möglich wird dies durch jene sprachliche Mittel, „die sich alle auf den Wert der Tat oder die moralische Verantwortung für die Tat beziehen“ (Eğit 1998,44), nämlich durch Entschuldigungen, Erklärungen und Ersuchen 6 . Diese drei sprachlichen Mittel haben in direkter Interaktion einen unterschiedlichen Stellenwert innerhalb der korrektiven Tätigkeit. Demnach stehen z. B die Entschuldigungen und Erklärungen nach der Tat und Ersuchen vor der Tat. In der vorliegenden Studie werden die beiden letztgenannten Mittel jedoch nicht berücksichtigt, da sie einer eingehenden, jeweils separaten Untersuchung bedürfen. 4.1 Zur Forschungslage zu Entschuldigungen Im Vergleich mit den anderen Höflichkeitsstereotypen wie etwa Anrede, Dank, Gruß, Komplimente wurden die Entschuldigungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung nicht so häufig und detailliert untersucht. Den meisten Untersuchungen liegen, methodisch betrachtet, die Sprechakt- und die Konversationsanalyse zugrunde, so z. B. Rehbein (1972), Austin (1979), Lange (1984). Weitere Aufsätze in englischer Sprache finden sich in dem von Coulmas her- 6 Ersuchen liegt dann vor, wenn „das Opfer vom Täter um die Erlaubnis gebeten wird, eine Handlung auszuführen, die als Verletzung seiner Rechte“ interpretiert werden könnte (Egit 1998, 74). Entschuldigungen im Deutschen und Türkischen 229 ausgegebenen Sammelband Conversational Routine und in dem von Shoshana Blum-Kulka, Julianne House und Gabriele Kasper veröffentlichten Band Cross- Cultural Pragmatics: Requests and Apologies. Borkin / Reinhardt (1978) interessieren sich in ihrem Artikel Excuse me and I am sorry mehr für die Lösung eines didaktischen Problems im Fremdsprachenunterricht. Erwähnenswert sind weiterhin Beiträge von Edmonson (1981), Fraser (1981), Coulmas (1981) und Holmes, die sehr stark sprechakttheoretisch orientiert sind. Für das Türkische liegen zu Entschuldigungen bis auf einige Aufsätze und das Buch von Aksun (1980), in denen Entschuldigungen im Zusammenhang mit Höflichkeit erwähnt werden, keine detaillierten Untersuchungen bis auf die Untersuchung zu Entschuldigungen, Erklärungen und Ersuchen und ihren Ausdrucksformen in der Alltagskultur von Egit (1998) vor. Die oben erwähnten Untersuchungen stützen sich mehr oder weniger explizit alle auf Goffman (1974), auf den auch hier zurückgegriffen wird. 4.2 Zur Grundstruktur von Entschuldigung und Entgegenkommen Folgende Beispiele sollen die Grundstruktur von Entschuldigung und Entgegenkommen veranschaulichen: Bsp.(1): Im DB -Reisezentrum Flughafen Terminal Düsseldorf F1 : Fahrgast (männl.) F2 : Fahrgast (weibl.) (Als F1 sich gerade vom Schalter abwendet und entfernen will, bewegt sich F2 voreilig auf den Schalter zu, so dass sie leicht zusammenstoßen) F2 : Tschuldigung F1 : Is schon gut Bsp (2): In İzmir auf dem Bazar in der Mokkaschlange vor dem Gewürzwarengeschäft. K1: Kunde (männl.) K2: Kunde (weibl.) (Der Verkäufer füllt die Kaffeetüten im Schneckentempo, so dass K1 in der Schlange sehr ungeduldig wird. Vor sich hin schimpfend dreht er sich hastig um und stößt dabei leicht mit K2, der hinter ihm stand, zusammen, so dass der Fächer von K2’s Hand auf den Boden fällt.) K1: Pardon, çok özür dilerim! (Pardon, ich bitte vielmals um Entschuldigung! ) K2: Önemli değil! (Nicht wichtig! ) (K1 hebt den Fächer auf und gibt ihn K2 ) K2: Teşekkürler! (Vielen Dank! ) 230 Yadigar Eğit Zwischenfällen dieser Art begegnen wir sehr oft in unserem Alltagsleben. Bei den Äußerungen der Interaktionspartner in Bsp. (1) und Bsp. (2) lässt sich feststellen, dass die Interaktionen sich jeweils aus zwei Gesprächsschritten zusammensetzen. In den Beispielen (1) und (2) verletzen F2 und K1 die persönliche Sphäre von F1 und K2: das ist die Tat und dementsprechend sind F2 und K1 die Täter und F1 und K2 die Opfer . Der sprachliche Teil stellt die korrektive Tätigkeit dar. Wie bereits erwähnt, hängt die korrektive Tätigkeit vom virtuellen Vergehen ab, d. h. von der schlimmstmöglichen Deutung der Tat. In den Beispielen (1) und (2) sind F1 und K2 die virtuell Geschädigten. Mit der Entschuldigung geben F2 und K1 freiwillig einen Fehler zu und nehmen dadurch auch einen eventuellen Gesichtsverlust in Kauf. An dieser Stelle muss man allerdings bemerken, dass in beiden Kulturen Personen, die sich zu ihrem fehlerhaften Verhalten bekennen, insbesondere Ausländer, toleriert werden. Mit dem Gesprächsschritt Entgegenkommen von F1: Is schon gut und K2: Önemli değil wird die korrektive Tätigkeit abgeschlossen. 4.3 Entschuldigungsformeln Die große Klasse der Höflichkeitsformen erfasst außer Anrede-, Gruß-, Beileids-, Wunsch- und Tischformeln auch die Entschuldigungsformeln, die im Alltag in verschiedenen Situationen, um kleine Zwischenfälle zu beheben, routinisiert verwendet werden. Lange gliedert sie in drei Typen: • Entschuldigungen in Form eines Wortes • Entschuldigungen in Form von Imperativsätzen • Entschuldigungen in Form von Aussagesätzen Beispiele für die 3 Typen der Entschuldigungsformeln: 1. Entschuldigungen in Form eines Wortes: Deutsch Türkisch Entschuldigung! Verzeihung! Pardon! (veralt. ) Sorry! Pardon! Affedersiniz! Entschuldigungen im Deutschen und Türkischen 231 2. Entschuldigungen in Form von Imperativsätzen: Deutsch Türkisch (2.Pers. Sg. und Pl.) Entschuldige bitte! Entschuldigen Sie! Entschuldigen Sie bitte! Entschuldigen Sie (bitte) vielmals! Verzeihen Sie! Verzeihen Sie bitte ! Sakın kusura bakma! Sakın kusura bakma-yın! Lütfen kusura bakma-yın! Bağışla! Bağışla-yın! Lütfen bağışla-yın! Mazur gör! Mazur gör-ün! Lütfen mazur gör-ün! Wenn man die Entschuldigungsformeln in Form von Imperativsätzen näher betrachtet, so erkennt man, dass sie im Deutschen nur von der Partikel bitte und im Türkischen nur von den zwei Partikeln lütfen (bitte) und sakın (bloß ja nicht) begleitet werden. An dieser Stelle muss allerdings erwähnt werden, dass die Partikel sakın , wie den Beispielen zu entnehmen ist, nur in negierter Form verwendet werden kann. Für das Deutsche lässt sich noch eine andere Form der Entschuldigung in Form von Imperativsätzen feststellen, nämlich die Intensivierung der Entschuldigung, wie z. B. Entschuldigen Sie (bitte) vielmals. Diese Form wird zwar in der Alltagspraxis sehr oft verwendet, ist aber eigentlich unlogisch, „denn, man kann einen Menschen vielmals bitten, etwas zu entschuldigen, aber nicht von ihm verlangen, dass er etwas vielmals entschuldigt“ (Duden 1972: Zweifelsfälle der dt. Sprache, Bd. 9, S. 229f). Als ‚richtig‘ wird angesehen: Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Eine andere Form der Entschuldigung in Form von Imperativsätzen ist die Verwendung mit mal , wie etwa in dem Beispiel: Du entschuldige mal, ich muss jetzt gehen, ich habe noch etwas zu erledigen, hab es vergessen, dir zu sagen! Diese Struktur weicht von den anderen ab, weil hier die Entschuldigung nicht wie üblich nach der Tat, sondern vor der Tat geäußert wird. Dieser Fall gehört in den Bereich der Erklärung, eine der grundlegenden Formen der korrektiven Tätigkeit. Im Türkischen ist eine Intensivierung der Entschuldigung in Form von Imperativsätzen kaum vorhanden, die einzige Form ist die sehr veraltete Form: Beni / Bizi çok mazur gör / görün! Im Türkischen werden Intensivierungen von Entschuldigungen generell in Form von Aussagesätzen im Aorist (eine Form des Präsens) gebildet, wie z.B: Çok özür dilerim! Çok, çok özür dilerim! Çok afedersiniz! / Çok, çok afedersiniz 232 Yadigar Eğit 3. Entschuldigungen in Form von Aussagesätzen: Deutsch Türkisch Im Aorist (1.Pers. Sg. und Pl.) Im Aorist (2.Pers. Sg. und Pl.) Özür dile-r-im! (Ich entschuldige mich! ) Çok özür dile-r-im! (Ich entschuldige mich sehr! ) Çok, çok özür dile-r-im! (Ich entschuldige mich vielmals! ) Özür dile-r-iz! (Wir entschuldigen uns! ) Çok özür dile-r-iz! (Wir entschuldigen uns sehr! ) Çok, çok özür dile-r-iz! (Wir entschuldigen uns vielmals! ) Affede-r-sin! (Du entschuldigst mich! ) Affede-r-sin-iz! (Sie entschuldigen mich / uns! ) Çok affede-r-sin! (Du entschuldigst mich sehr! ) Çok affede-r-sin-iz! (Sie entschuldigen mich / uns sehr! ) Çok, çok affede-r-sin! (Du entschuldigst mich vielmals! ) Çok, çok affede-r-sin-iz! (Sie entschuldigen mich / uns vielmals! ) Wie bereits erwähnt, werden diese Formen häufig im Aorist 1. Pers. Sg. und 1. Pers. Pl. als Entschuldigungsformeln verwendet. Bekanntlich existieren ja auch die Intensivierungen dieser Formen. Eine zweite Möglichkeit der Entschuldigungsformeln in Form von Aussagesätzen in der Gegenwartsform aufiyor (1. Pers. Sg. und 1. Pers. Pl.), die auch intensiviert werden können, sind folgende: Entschuldigungen im Deutschen und Türkischen 233 Deutsch Türkisch ---------------- Gegenwartsform auf -iyor (1.Pers. Sg. und Pl.) Özür dil(i)-yor-um! (Ich entschuldige mich! ) Özür dil(i)-yor-uz! (Wir entschuldigen uns! ) Çok özür dil(i)-yor-um! (Ich entschuldige mich sehr! ) Çok özür dil(i)-yor-uz! (Wir entschuldigen uns sehr! ) Çok, çok özür dil(i)-yor-um! (Ich entschuldige mich vielmals! ) Çok, çok özür dil(i)-yor-uz! (Wir entschuldigen uns vielmals! ) Die oben angeführten Entschuldigungsformeln sind sehr förmlich und werden nur in formellen Situationen wie in informellen Korrespondenzen, speziell in formellen Briefen verwendet. In beiden Sprachen kommen bei schwerwiegenden Verletzungen von Verhaltensnormen neben Entschuldigungsformeln auch wichtige Momente der Entschuldigung zum Ausdruck (Vgl. Eğit 1998: 56). In solchen Fällen kann, wie auch Lange ausführt, eine Expansion der Entschuldigung in Frage kommen, die folgende Momente beinhaltet: Tat, Verwirrung, Bedauern und Wiedergutmachung bzw. Reparatur sowie die Subkategorien der Wiedergutmachung: faktische Reparatur, Reparaturversprechen und symbolische Reparatur. Fazit Aufgrund meiner gezielten Beobachtungen über lange Jahre hinweg könnte ich die These aufstellen, dass Deutsche in Bezug auf Höflichkeitsformen, wie etwa Anrede, Begrüßen und Verabschieden, Bedanken, Gratulieren, interkulturell betrachtet, viel höflicher geworden sind, insbesondere im Bereich des nonverbalen Verhaltens, dagegen sind Türken vor allem in Großstädten, sowohl im verbalen wie auch im nonverbalen Verhalten unhöflicher geworden, was grüßen, sich bedanken und entschuldigen betrifft. Bei Entschuldigungsformeln hat sich in den letzten zwei Dekaden in der Türkei nichts geändert, in Deutschland dagegen lässt sich meiner Beobachtung nach der Gebrauch des englischen ‚Sorry‘ feststellen, sehr auffällig vor allem in 234 Yadigar Eğit Berlin und Potsdam. Das französische ‚pardon‘ wird im Türkischen nach wie vor sehr oft, dagegen im Deutschen sehr selten verwendet. Zusammenfassend kann man bezüglich der Entschuldigungsformeln im Türkischen im Gegensatz zum Deutschen sagen, dass das Türkische über mehr Entschuldigungsformeln verfügt, die in diversen Situationen verwendet werden. Eine Entschuldigungsformel im Türkischen in Form von Imperativsätzen, ist die selten verwendete Form: Af buyrun! Diese Form wird meistens von Menschen ländlicher Herkunft sowie mit niedrigem Bildungsniveau verwendet, wenn jemand sich in einer Gesellschaft über ein unangenehmes Thema wie Durchfall, Verstopfung, Erbrechen etc. äußern muss. Ein treffendes Beispiel wäre der folgende Satz: Af buyrun, geçen hafta çok kötü ishal olmuştum! (Entschuldigen Sie, ich hatte letzte Woche einen furchtbaren Durchfall.) Für solche Äußerungen braucht man sich im Deutschen nicht zu entschuldigen. Literaturverzeichnis Adelfels, Kurt (o. J.). Das Lexikon der feinen Sitte. Stuttgart. Aksun, Belma (1980). Görgü, Yaşama Sanatı. Ankara: Tur Yayınları. Ammon, Ulrich (1972). 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The study examines which politeness strategies are used to counter the presumed facial threat and whether they differ in both texts. The result reveals similarities and differences between both texts according to the employed politeness concept regarding intercultural aspects. 1. Einleitung „In Deutschland respektiert man das Eigentum der anderen. Man betritt kein Privatgrundstück, keine Gärten, Scheunen und andere Gebäude und erntet auch kein Obst und Gemüse, das einem nicht gehört. Deutschland ist ein sauberes Land und das soll es auch bleiben! In Deutschland bezahlt man erst die Ware im Supermarkt, bevor man sie öffnet. […] Es gibt bei uns öffentliche Toiletten, die für jeden zugänglich sind. Wenn man solche Toiletten benutzt, ist es hier zu Lande üblich, diese sauber zu hinterlassen“. Diese Sätze sind einem Schreiben entnommen, das im Herbst 2015 auf der Webseite der Gemeinde Hardheim in Baden-Württemberg unter dem Titel „Hilfestellung und Leitfäden für Flüchtlinge“ veröffentlicht 1 und Helfern in Flücht- 1 http: / / www.t-online.de/ nachrichten/ deutschland/ gesellschaft/ id_75721762/ der-fluechtlingsknigge-von-hardheim-im-wortlaut.html (12. 01. 2016). 240 Nahla Tawfik lingkamps übergeben wurde, damit sie die darin enthaltenen Hinweise an die Flüchtlinge vermitteln 2 . Der Text sorgte für ein bundesweites Medieninteresse und kontroverse Reaktionen und wurde u. a. als „voller Vorurteile und Ressentiments“ 3 kritisiert. Eine nähere sprachwissenschaftliche Betrachtung des 1-seitigen Textes zeigt, dass sich der Text durch fehlendes Fingerspitzengefühl und erkennbaren Mangel an höflichem Sprachverhalten kennzeichnet. Dazu gehören vor allem das wiederholte Ansprechen brisanter Themen (Sauberkeit / Diebstahl) und eine rücksichtslose sprachliche Formulierung durch eine verfehlte Wortwahl, Präsuppositionen und latente Beschuldigungen, Ich-Botschaften statt Wir-Botschaften usw. Für die Belange des vorliegenden Beitrags ist das Hardheimer Beispiel von großer Relevanz, insofern es zeigt, wie schwierig es ist, in so einem brisanten Thema den richtigen Ton zu finden und den Balanceakt zwischen einer benötigten, klaren und unmissverständlichen Vermittlung von Regeln und Werten auf der einen Seite und einer höflichen sprachlichen Gestaltung auf der anderen Seite zu meistern. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch, zu aktuellen „Fragestellungen […] der Höflichkeitsforschung […], und zwar im Hinblick auf kulturtypische Ausprägungsformen und das Anwendungsfeld der interkulturellen Kommunikation“ (Ehrhardt / Neuland / Yamashita 2011, 9) einen Beitrag zu leisten. Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages stehen zwei Flüchtlingsratgeber, die 2015 in Deutschland veröffentlicht und in mehrere Sprachen übersetzt wurden: „Eine Orientierungshilfe für das Leben in Deutschland“ 4 und „Willkommen in Deutschland: Wegweisung für muslimische Migranten zu einem gelingenden Miteinander in Deutschland“ 5 . Es handelt sich bei beiden Ratgebern um Texte im Umfang von ca. 15 Seiten, die in Zusammenarbeit mit Menschen aus verschiedenen Ländern oder Menschen mit Migrationshintergrund entstanden und Geflüchteten und Neuankömmlingen Hinweise und Informationen über den deutschen Alltag und die Werte der deutschen Gesellschaft sowie über Einschränkungen und Verbote vermitteln. In beiden Ratgebern wird sowohl auf allgemeine Themen und Situationen des Alltags (z. B. Grüßen, Öffentliches Leben, Studium, Sauberkeit und Umwelt) als auch auf brisante Themen (z. B. Gleichberechtigung, Persönliche Freiheit, Religionsfreiheit, Gesetze und Formalitäten) 2 http: / / www.rnz.de/ nachrichten/ buchen_artikel,-Fluechtlinge-Der-Hardheimer-Protestwird-lauter-_arid,129811.html (12.01.2016). 3 http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ hardheim-buergermeister-verfasst-benimmregeln-fuer-fluechtlinge-a-1056614.html (12. 01. 2016). 4 http: / / www.refugeeguide.de/ dl/ RefugeeGuide_de_925.pdf (15. 10. 2016). 5 http: / / www.islam-muenchen.de/ wp-content/ uploads/ 2015/ 12/ 03-Willkommen-in- Deutschland.pdf (10. 02. 2016). Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen 241 eingegangen. Während der erste Ratgeber einen allgemeinen Adressatenkreis anspricht, hat der zweite Ratgeber nur muslimische Migranten im Auge. Da es in erster Linie in beiden Texten darum geht, dass die Adressaten eine gewünschte Handlung ausführen bzw. eine unerwünschte Handlung unterlassen, werden Aufforderungen bei der beabsichtigten Untersuchung besonders berücksichtigt. In den Ratgebern handelt es sich in erster Linie um Tipps und Ratschläge, also hauptsächlich um nicht-bindende Aufforderungssubtypen. (Omar 2016, 51) Dabei begnügt sich die Untersuchung nicht mit der Erforschung isolierter Sprechakte oder sprachlicher Einzelmerkmale, sondern berücksichtigt vor allem die textuelle Einbettung und die Adressatenorientierung. (Neuland 2007, 832) Der vorliegende Beitrag versucht folgende Fragen zu beantworten: Mit welchen sprachlichen Mitteln werden Ratschläge und Tipps in beiden Ratgebern realisiert? Welche Höflichkeitsstrategien werden eingesetzt, um die mit dem Sprechakt der Aufforderung verbundene Gesichtsverletzung abzumildern oder zu vermeiden? Unterscheiden sie sich in beiden Ratgebern im Hinblick auf die Verfasser und intendierte Adressatengruppe? Welches Höflichkeitskonzept liegt in beiden Texten vor? Die Untersuchung stützt sich dabei auf die von Brown und Levinson eingeführte Unterscheidung des positiven und negativen Gesichts. Mit positivem Gesicht ist das Bedürfnis nach Respekt, Anerkennung und Wertschätzung gemeint, während sich das negative Gesicht auf das Bedürfnis nach Handlungsfreiheit bezieht. (Neuland 2007,834) 2. Eine Orientierungshilfe für das Leben in Deutschland 6 Diesen teilweise bebilderten Ratgeber gibt es sowohl in Printform als auch online 7 als PDF zum Herunterladen in mehreren Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Arabisch, Türkisch, Kurdisch, Farsi, Urdu, Serbisch, Russisch… usw.). Was das Deutsche angeht, so gibt es auch eine vereinfachte Version in „leichter Sprache“ 8 für das Niveau A2, versehen mit Anmerkungen für Deutschlehrer. Der Ratgeber erschien Anfang Oktober 2015, und wurde u. a. von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration, dem Thüringer Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz, der Hans Seidel Stiftung und dem Ernst Klett Verlag unterstützt. Die Autoren sind ehrenamtliche Unterstützer, v. a. Studenten und Doktoranden, mit 6 Der Titel wird in dem vorliegenden Beitrag durchgehend als (O plus Seitenzahl) abgekürzt. 7 http: / / www.refugeeguide.de/ de/ (15.10.2016). 8 http: / / www.refugeeguide.de/ dels/ (15.10.2016). 242 Nahla Tawfik verschiedensten (geographischen und kulturellen) Hintergründen. Was den Adressatenkreis angeht, so lässt sich anhand der Sprachen, in denen der Ratgeber verfasst ist, erkennen, dass der Ratgeber Neuankömmlinge aus verschiedenen Kulturräumen ansprechen möchte. In dem letzten Kapitel mit dem Titel „Über diese Orientierungshilfe“ wird der intendierte Adressatenkreis explizit genannt: „Besucher, Geflüchtete und zukünftige Bürger Deutschlands“ (O14). Der Zweck dieses Ratgebers ist schon am Titel „Orientierungshilfe“ erkennbar und wird auch auf der ersten Seite ausgeführt: „Diese Orientierungshilfe enthält nützliche Tipps und Informationen für das Leben in Deutschland“. (O 1) Der 15-seitige Ratgeber umfasst - neben Vorwort und Schlusswort - acht Kapitel: Öffentliches Leben; Persönliche Freiheiten; gesellschaftliches Zusammenleben; Gleichberechtigung; Umweltfreundlichkeit; Essen, Trinken und Rauchen; Formalitäten; In Notfällen. Jedes Kapitel umfasst höchstens zwei Seiten und besteht aus mehreren Abschnitten. Nonverbale Elemente erscheinen in Schwarz-weiß: (O 1) Abb.1: Gesellschaftliches Zusammenleben (O6) Abb.2: Gleichberechtigung (O7) Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen 243 Abb.3: Umweltfreundlichkeit (O8) Nur das Logo des Refugee guide, das sich auf jeder Seite wiederholt, ist farbig, es besteht aus einer Art stilisierten Sprechblase in den Farben der deutschen Flagge: schwarz, rot und gelb. 2.1 Sprachliche Realisierung: In diesem Ratgeber werden Ratschläge, Tipps und Hinweise vor allem unpersönlich formuliert. Dadurch wird versucht, ein direktes Ansprechen der Adressaten zu vermeiden und den Akzent auf die Handlung und nicht auf die Person zu legen. Ermöglicht wird diese unpersönliche Formulierung durch den Rückgriff auf Infinitivpronomen, die Bildung von Infinitivsätzen, den Einsatz von Passivstrukturen sowie den Verweis auf unspezifische Gruppen: Indefinitpronomen: 1. Man spricht oder telefoniert eher leise, um andere Leute nicht zu stören. (O4) 2. Wenn man etwas angeboten bekommt, ist „Nein, danke“ eine höfliche Ablehnung. „Ja, bitte“ oder „Gerne“ bedeuten, dass man das Angebot annehmen möchte. (O6) 3. Wenn man jemanden anruft, gibt man sich zunächst mit dem eigenen Namen zu erkennen. (O12) Durch das Modalverb sollen im Konjunktiv II wird eine Abmilderung gegenüber einem müssen erzielt: 4. Ebenso sollte man Menschen um ihre Erlaubnis fragen, bevor man Fotos von ihnen macht. (O7) 244 Nahla Tawfik 5. Auch das Indefinitinpronomen „Jeder“ wird zum Zwecke der Verallgemeinerung eingesetzt: Jeder und jede wählt seinen Partner oder seine Partnerin selbst und entscheidet frei, ob er oder sie diese Person heiraten will. (O 7) 6. Jeder ist dazu verpflichtet, einer Person in Not zu helfen, zum Beispiel durch Leisten von Erster Hilfe und Anrufen des Notrufs. (O13) Infinitivsätze 7. Es ist aber unangebracht, sich Kindern ohne Erlaubnis der Eltern zu nähern. (O4) 8. Es ist niemals zulässig, mit Gewalt zu reagieren. Gewalt ist in Deutschland ebenfalls verboten. (O7) 9. Es wird üblicherweise als höflicher betrachtet, zum Rauchen nach draußen oder auf den Balkon zu gehen. (O10) Passivstrukturen 10. Toilettenpapier wird in der Toilette entsorgt, nicht in dem Mülleimer neben der Toilette. (O4) 11. Ist kein Mülleimer in der Nähe, so wird Müll in der Hand behalten oder aufbewahrt, bis man ihn umweltgerecht entsorgen kann. (O8) 12. Am Esstisch wird Besteck allerdings üblicherweise benutzt. (O9) Nicht selten werden Passivkonstruktionen mit Modalverben kombiniert, vor allem mit dem Modalverb sollen im Konjunktiv II : 13. Rückstände in der Toilette sollten mit der Toilettenbürste entfernt werden. Man sollte die Toilette möglichst sauber und trocken hinterlassen. Deshalb sollte die Toilette im Sitzen benutzt werden. (O4) Unspezifische Gruppen 14. Auf Rolltreppen stehen die Menschen meistens auf der rechten Seite und gehen auf der linken Seite. (O4) 15. Männer und Frauen genießen in Deutschland die gleichen Rechte. (O7) Die imperativische Form und eine direkte Anrede der Adressaten werden fast in dem ganzen Text vermieden. An wenigen Stellen, wo es sich um unproblematische Themen handelt, bei denen man kaum Gefahr laufen kann, das Gesicht der Adressaten zu bedrohen, treten sie auf: 16. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen, Diebstahl oder sexueller Belästigung: Rufen Sie die Polizei. (O13) 17. Versuchen Sie immer, Menschen in Notsituationen zu helfen. (O13) Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen 245 2.2 Höflichkeitsstrategien Schreitet man von der Satzebene zu der textuellen Umgebung, so sind Höflichkeitsstrategien feststellbar, die sich hauptsächlich auf die Bedürfnisse des negativen Gesichts des Adressaten nach Handlungsfreiheit beziehen. Die meisten Hinweise und Ratschläge sind von Erklärungen, Begründungen und Relativierungen begleitet: Erklärungen: Hier wird das erwünschte Verhalten, das die Geflüchteten als unhöflich interpretieren könnten, erklärt, um Missverständnisse zu beseitigen. Das zeigt, dass man sich auch um die Gefühle und Reaktionen der Adressaten kümmert und sie respektiert: 18. Lächeln wird üblicherweise nicht direkt als Flirten interpretiert, auch dann nicht, wenn man mit Fremden spricht. Die Menschen versuchen, normalerweise einfach nur freundlich zu sein. (O3) 19. Trifft man sich mit Freunden, begrüßt man sich häufig mit einer Umarmung, in manchen Regionen auch mit einem Kuss auf die Wange. Dies ist eine nicht-sexuelle Geste der Freundschaft. (O6) Auch im Kapitel „Formalitäten“, wo es um eine respektvolle Befolgung der Regeln und nicht um deren Umgehung geht, werden Erklärungen und Informationen ausgeführt: 20. Der Umgang mit der Bürokratie ist manchmal sehr komplex und kann ineffizient wirken. Bürokratie braucht Zeit und folgt standardisierten Abläufen. Das kann frustrierend sein. Allerdings sind diese bürokratischen Prozesse für alle gleich und so gemacht, dass sie alle gleich behandeln. Bestechung anzubieten oder anzunehmen, ist eine Straftat. (O11) Begründungen: Die erwünschte Handlung wird nicht selten im Text begründet bzw. rechtfertigt. Das „stützt dann die übergeordnete Aufforderung, minimiert die Territoriumsverletzung und sorgt für eine Verbesserung der Akzeptanzbedingungen“ (Lüger 2002, 178). Im Kapitel „Gesellschaftliches Leben“ geht es u. a. um konstruktive Kritik: 21. Deutsche sagen oft direkt, was sie denken. Sie möchten damit nicht unhöflich sein, sondern ehrlich. Konstruktive Kritik wird als hilfreich erachtet, um sich selbst und andere zu verbessern. Vor allem im Beruf gilt dies als wichtig. Deshalb kommt es nicht selten vor, dass man kritisiert wird oder auch von anderen um Feedback gebeten wird. (O6) 246 Nahla Tawfik Auch der erwünschte sparsame Umgang mit Energie und Wasser wird begründet: 22. Viele Deutsche versuchen, ihren Energie- und Wasserverbrauch möglichst niedrig zu halten. Damit möchte man die Umwelt schützen und Geld sparen. Zum umweltfreundlichen Verhalten gehört es zum Beispiel, den Kühlschrank zu Hause und auch im Supermarkt nur so lange geöffnet zu lassen wie nötig, und das Licht auszuschalten, sobald man einen Raum verlässt. (O8) Relativierungen: Eine weitere Maßnahme ist die Relativierung des Verbindlichkeitsgrads der erwünschten Handlung, was eine freiere Handlungsmöglichkeit des Adressaten impliziert. Schon in der Einleitung heißt es: 23. Die Hinweise in dieser Orientierungshilfe sollten weder als Gesetze noch als bindende Regeln wahrgenommen werden. Die Menschen in Deutschland werden sich nicht immer verhalten wie hier beschrieben. (O1) Diese Maßnahme wird an mehreren Stellen des Ratgebers erkennbar und durch die Einschränkung einer „allgemeinen“ Gültigkeit der erwünschten Handlung gestützt: 24. Viele Deutsche versuchen, ihren Energie- und Wasserverbrauch möglichst niedrig zu halten. (O8) 25. Am Esstisch wird Besteck allerdings üblicherweise benutzt. (O9) 26. Die meisten Menschen in Deutschland halten sich an die Verkehrsregeln. (O12) 3. „Willkommen in Deutschland: Wegweisung für muslimische Migranten zu einem gelingenden Miteinander in Deutschland“ 9 Der Text, den es auf Deutsch, Englisch und Arabisch gibt, wurde von dem Münchner Forum Für Islam, mit Unterstützung der Landeshauptstadt München / Fachstelle für Demokratie gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit verfasst. Es gibt sowohl Printals auch Online-Versionen 10 . Am Anfang stellen sich die Verfasser dem potenziellen Adressaten vor: 9 Der Titel wird in dem vorliegenden Beitrag durchgehend als (W plus Seitenzahl) abgekürzt. 10 http: / / www.islam-muenchen.de Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen 247 27. […] muslimische Männer und Frauen unterschiedlicher Herkunft, viele von uns sind in München geboren. Wir leben als Teil der Stadtgesellschaft und sind hier gerne daheim. In den Werten des Hier und Jetzt, der deutschen Gesellschaft im 21. Jahrhundert, sehen wir keinen Widerspruch zu einem authentischen Verständnis von Islam und seinen Weisungen, sondern eine wechselseitige Bereicherung. (W2) Der Zweck des Schreibens wird gleich in der Eröffnung zum Ausdruck gebracht. Mit dem Ratgeber wollen die Verfasser, ihre „gewachsenen und erprobten Erkenntnisse und Erfahrungen mit denen teilen, die neu nach Deutschland kommen und ihnen dabei helfen, hier heimisch zu werden“ . (W2) Adressiert sind hier ausschließlich muslimische Migranten, wie schon im Titel des Ratgebers genannt wird. Da der Ratgeber nur auf Deutsch, Englisch und Arabisch vorliegt, kann man davon ausgehen, dass hauptsächlich Adressaten aus dem arabischen Kulturraum angesprochen werden. Der Ratgeber umfasst zwölf 1-seitige Kapitel: Herzlich Willkommen; Grüßen; Allah / Gott / JHWH ; Bildung; Arbeit; Geschichte; Gesetze achten; Die Würde des Menschen ist unantastbar; Gleichberechtigung und Diskriminierung; Nicht stören; Sauberkeit und Umwelt; Toleranz. Ein besonderes Merkmal des Ratgebers ist die Integration von Elementen der arabischen Sprache und Kultur: Im Text selbst eingebettet, sowie an Seitenrändern befinden sich Koranverse und Hadithe vom Propheten Muhammed auf Arabisch, die die erwünschte Handlung untermauern. Eine deutsche Übersetzung steht darunter mit Verweis auf die betreffende Stelle im Koran. Wichtige Wörter, die den Kern der intendierten Botschaft unterstützen, werden fett gedruckt: 28. im Glauben ist kein Platz für Zwang. (W5). Der Text erfolgt in Schwarz, Titel der jeweiligen Kapitel erscheinen in Rot; Verse, Zitate und Hadithe sind in Blau abgefasst. Auf der Frontseite der Broschüre steht in grüner Farbe auf Arabisch die Formel „im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen“. Ein Halbmond ist auch zu sehen. Auf Seite 4 erscheint die arabische Grußformel „Friede sei mit Euch“ auch in grüner Farbe, die für Muslime als Farbe des Islams gilt: 248 Nahla Tawfik Daher steht auch das Wort „Islam“ in „Münchner Forum für Islam“ auf der Vorder- und Rückseite der Broschüre in grüner Farbe. In dem letzten Kapitel „Was uns zusammenhält“ kommen die drei Farben zusammen: Schwarz, Blau und Grün. In dem ganzen Ratgeber erscheinen nonverbale Elemente in graubläulichen Tönen. Diese können einerseits das Textverstehen erleichtern, andererseits die sprachliche Botschaft unterstützen. Abb. 4: Gleichberechtigung und Diskriminierung (W11) Abb. 5: Nicht stören! (W12) Abb. 6: Toleranz! (W14) Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen 249 3.1 Sprachliche Realisierung: Zur Vermittlung von Regeln, Hinweisen und Ratschlägen dominieren hier auch unpersönliche Strukturen. Diese dienen -in diesem Ratgeber auchder Anonymität und damit einer gewissen Freiraumgewährung: Indefinitpronomen: Beim Thema Grüßen zum Beispiel wird - neben dem Verweis auf Händeschütteln - Folgendes ausgeführt: 29. Dabei schaut man sich gleichzeitig kurz in die Augen. Wenn ein ehrliches Lächeln noch dazu kommt, drückt man Freundlichkeit aus. (W4) 30. Im Bus, im Zug, im Einkaufszentrum oder auf der Straße spricht oder telefoniert man besser leise, um andere Leute nicht zu belästigen. In den späten Nachtstunden vermeidet man Besuche oder Telefonanrufe. (W12) 31. Niemand darf einen anderen Menschen mit Worten oder Taten erniedrigen. (W10) Passivstrukturen und -umschreibungen: 32. Müll wird sachgerecht getrennt und in Sammelstellen entsorgt. (W13) 33. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Hass gegen Juden, Christen und Muslime sind gleichermaßen verwerflich. (W10) 34. Jede Form der Gewaltausübung ist in Deutschland strafbar, und zwar auch innerhalb der Ehe sowie bei der Erziehung der Kinder. (W10) Auch Modalverben werden mit Passiv kombiniert, um die Unterlassung der gewünschten Handlung hervorzuheben: 35. Über den Glauben oder Unglauben irgendeines Menschen darf durch andere Menschen nicht geurteilt werden.(W5). Auch Passivumschreibungen durch sein + zu betonen den auffordernden Charakter: 36. Wie in allen Dingen ist auch in Glaubensangelegenheiten Maß zu halten, Exzess und Übertreibung sind zu meiden. (W4) Unspezifische Personen / Gruppen: 37. Eltern halten Kontakt mit den Lehrern und der Schulleitung ihrer Kinder; […] sie fördern die künstlerische Neigung ihrer Kinder; […] sie wenden in keiner Weise Gewalt gegen sie an. (W6) 38. Die meisten Menschen in Deutschland achten auf Sauberkeit und verhalten sich umweltfreundlich. (W13) 250 Nahla Tawfik Um eine Abschwächung zu erzielen, wird vor allem das Modalverb sollen im Konjunktiv II eingesetzt: 39. Nachbarn sollten sich freundlich, aber niemals aufdringlich begegnen. (W12) Umleitung auf Dritte: 40. Deswegen ist eine gut integrierte und erfolgreiche Person diejenige, die fleißig und aufrichtig arbeitet, ihre Arbeit in hoher Qualität ausführt […]; sie verlässt nicht unerlaubt ihren Arbeitsplatz, um zu beten, sondern sie verrichtet ihre Arbeit zu dieser Stunde, als ob sie ihr Gebet wäre. (W7). Durch die verschiedenen unpersönlichen Strukturen wird eine direkte Anrede der Adressaten in dem Ratgeber vermieden, um dadurch jede Art der Gesichtsbedrohung zu vermeiden. Nur in dem letzten, mit „Toleranz“ betitelten Kapitel wird das Personalpronomen „Du“ verwendet: 41. Toleranz gegenüber Lebensweise und Weltanschauungen, die anders ist als deine! Toleranz gegenüber Kleidung, die dir seltsam erscheinen mag! (W14) 3.2 Höflichkeitsstrategien: Folgende Strategien sind feststellbar: Begründungen: Beim Thema Nationalsozialismus, das im Kapitel „Geschichte“ angeschnitten wird, werden Gründe dafür genannt, warum eine bestimmte Handlung zu unterlassen ist: 42. Jedes Volk und jedes Land hat in seiner Geschichte glückliche und unglückliche Zeiten erlebt, kennt hellere und dunklere Kapitel. Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust stehen unbestreitbar für die schrecklichsten Seiten der Geschichte Deutschlands, vielleicht der ganzen Welt. Deshalb ist Bewunderung oder auch nur Verharmlosung für Hitler und den Nationalsozialismus in Deutschland unerträglich und aus gutem Grund gesetzlich verboten. (W8) Auch bei dem Thema „Religionsfreiheit und Demokratie“ im Kapitel „Gesetze achten“ werden eine Reihe von Begründungen im voraus angeführt: 43. Der Mensch ist Gottes würdigstes Geschöpf und zugleich Gottes Stellvertreter auf Erden. Das wertvollste Wesen auf Erden ist „der Mensch“, und das ist jede / r von unsob er oder sie Muslim, Christ, Jude, andersgläubig oder Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen 251 religionslos ist. Daher sind die Freiheit und Würde, der Glaube, das Leben und der Lebensstil des Individuums unantastbar. (W9) Hier gehören auch das Zeigen von negativen Konsequenzen der unerwünschten Handlung sowie Motivationen für die erwünschte Handlung: Das Zeigen von negativen Konsequenzen: 44. Wer verliert, ist der Intolerante. (W14) Motivationen: Schon in der Einleitung des Ratgebers wird von einer „neuen Ära“ und „einer besseren Zukunft“ der Flüchtlinge gesprochen: 45. Im Leben der Flüchtlinge beginnt jetzt eine neue Ära. Um ihnen den Weg in eine bessere Zukunft hier zu erleichtern, finden sie hier einige Hinweise, damit sie sich schnell angekommen fühlen, sich gut in die Gesellschaft integrieren und an ihr partizipieren können. (W3) Bei dem Thema Bildung werden die Vorteile eines Studiums in Deutschland für bessere Zukunftschancen dargestellt: 46. Deutschland ist ein Bildungsparadies. Der Schlüssel zum Erfolg in diesem Land liegt im Beherrschen der deutschen Sprache. Es gibt viele Angebote dafür. Die Sprache zu lernen und die Kultur des Landes zu entdecken, ist wichtig. Diejenige und derjenige, die sich in diesem Land eine gute und erfolgreiche Zukunft aufbauen wollen, werden die eigene Bildung wie auch die Bildung ihrer Kinder wichtiger nehmen, als alles andere! (W6) Wertschätzung: In dem Kapitel „Arbeit“ wird die Botschaft vermittelt, dass die Zuwanderer keine Last darstellen, sondern dass man sie wertschätzt und davon ausgeht, dass sie etwas Positives mitbringen können: 47. Bildung, gesellschaftliche Werte wie auch fleißige Arbeit machen Deutschland stark. Das Engagement der Zuwanderer kann Deutschland noch stärker machen. (W7) Ein weiteres Zeichen der Wertschätzung ist der Rückgriff auf Elemente der arabisch-islamischen Kultur in dem Ratgeber. Hier ist besonders auf die Koranverse, die Hadithe, sowie die Verwendung der arabischen Sprache hinzuweisen: (ا َ هوُّد ُ ر ْ وَ أ ا َ هْ ن ِ م َ نَ س ْ حَ أِب اوُّي َ حَف ٍ ةَّي ِ حَ تِب مُ تّيِ ّي ُ ح اَذِإ َ و) 48. „Wenn ihr mit einem Gruß gegrüßt werdet, grüßt mit einem schöneren zurück oder erwidert ihn.“ (Koran 4: 86) 252 Nahla Tawfik Selbstkritik: Eine weitere Höflichkeitsstrategie besteht in der Selbstkritik: 49. Leider gibt es aber auch in Deutschland Menschen, die Angst vor Fremden haben oder die Fremden gegenüber aggressiv und hasserfüllt auftreten. Hier sollte man sich die Unterstützung von Polizei, Justiz oder entsprechenden Beratungsstellen holen, aber nicht selbst aggressiv werden. (W14) Ausdruck von Nähe und Zugehörigkeit: Ein gutes Beispiel liefert das erste Kapitel „Herzlich Willkommen“, das zur Eröffnung des Ratgebers die Adressaten begrüßt, Nähe und Zugehörigkeit durch den Rückgriff auf folgendes arabisches Sprichwort explizit versprachlicht: 50. Ein arabisches Sprichwort sagt: „ Wenn du 40 Tage mit einem Volk lebst, bist du einer von ihnen .“ Es sind bereits weit mehr als 40 Tage verstrichen, seit Tausende von Flüchtlingen Deutschland betreten haben. Dieses Land heißt sie herzlich willkommen! (W3) Damit wird gleich am Anfang ein Beitrag zur Förderung des positiven Gesichts des Adressaten geleistet. Fettdruck wird hier auch eingesetzt, um die sprachliche Botschaft paraverbal zu unterstützen. Auch die Entscheidung für das Personalpronomen „Du“ bei der Übersetzung dieses arabischen Sprichworts ins Deutsche und bei der persönlichen Anrede im letzten Kapitel signalisiert Nähe und Zugehörigkeit: 51. Wenn dich jemand kränkt und beleidigt, dann denk an diesen Vers. (W14) Die Betonung gleicher Gruppenzugehörigkeit wird auch durch Wir-Botschaften erzielt: 52. Dieser Toleranz müssen wir als Muslime selbst mit Toleranz begegnen. (W 14) Diese Strategie wird auch durch nonverbale Elemente unterstützt: Im Kapitel Bildung zum Beispiel sitzen Studierende aus unterschiedlichen Nationalitäten und Kulturzugehörigkeiten nebeneinander im Hörsaal, darunter eine Studentin mit Kopftuch. Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen 253 Abb. 7: Bildung (W6) Konsensorientierung Diese Höflichkeitsstrategie durchzieht alle Kapitel des Ratgebers als roter Faden. Schon im ersten Kapitel wird diese Strategie bei der Erklärung des Wortes Integration eingesetzt, um zu betonen, dass dieser in der deutschen Gesellschaft erwünschte Wert keinen Widerspruch zum Islam darstellt, denn er ist der 53. Weg der Mitte, den der Koran fördert und fordert.(W3). Hinzu wird auf einen Hadith aus der Überlieferung des Propheten zurückgegriffen, der die Integration in die Gesellschaft lobt und die Abschottung kritisiert. Der Abschnitt endet mit der Schlussfolgerung: 54. Wer diesen Weg wählt, gelangt letztlich zum Heil und Erfolg und verdient das Lob des Propheten. (W3) So wird gleich am Anfang der Broschüre der Versuch gemacht, potentielle Vorbehalte abzubauen, um die Akzeptanz zu steigern. In den weiteren Kapiteln kommt auch diese Strategie zum Einsatz: Präsentiert wird die bayerische Grußformel „Grüß Gott“ als 55. islamisch ganz korrekt und eine Art bayerisches „as-salamu aleikum“ . (W4) Im Kapitel „Geschichte“ wird die potentielle brisante Verharmlosung Hitlers unter Angehörigen des arabischen Kulturraums angesprochen; die Nazi-Verbrechen sind gleichermaßen 56. gesetzlich verboten und vom Islam verwerflich (W8) Im Kapitel „Gesetze achten“ wird Demokratie als ein System betrachtet, das nicht nur 57. den Prinzipien und Lehren des Islam am nächsten kommt, sondern auch dasjenige, das der menschlichen Vernunft am meisten entspricht. (W9) 254 Nahla Tawfik Bei dem Thema Gleichberechtigung ist auch eine starke Konsensorientierung bemerkbar: 58. Polygamie ist in Deutschland nicht erlaubt und im Islam nicht erforderlich. Ebenso ist die Vollverschleierung der Frauen weder islamisch erforderlich noch gesellschaftlich erwünscht. (W11) Im Schlussteil wird die Wirkung der Konsensorientierung durch die Wir-Botschaft in dem Titel Was uns zusammenhält verstärkt, der Übereinstimmung betont. In der Mitte steht ein Vers aus dem Koran, umgeben von vielen gemeinsamen Werten. 4. Ergebnisse: Flüchtlingsratgeber zwischen Imagebedrohung und Imageförderung Die Analyse hat zwei unterschiedliche Ratgeber für Geflüchtete herangezogen: einen, der eher kulturübergreifend und universell konzipiert ist, und einen, der besonders an Angehörige des arabisch-islamischen Kulturraums gerichtet ist. Die Analyse ergab, dass es sich - im Gegensatz zu dem Hardheimer Beispiel - bei den beiden Ratgebern, um mit Held zu sprechen, um ein aufwendiges und vielschichtiges face-work (Held 2001,126) handelt, dass auf eine bewusste Entscheidung der Verfasser für eine gute zukünftige Partnerbeziehung deuten kann. Folgendes lässt sich durch die Analyse feststellen: Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen 255 Die Verfasser beider Ratgeber sind um eine positive Partnerbeziehung bemüht und sind sich der Tatsache bewusst, dass das durch die mit der Vermittlung von Regeln, Hinweisen und Verboten in Kauf zu nehmende potentielle Gesichtsbedrohung beeinträchtigt werden könnte. Einerseits weil die Regeln und Hinweise einen Eingriff in die Handlungsfreiheit des Adressaten und somit eine Bedrohung für das negative Gesicht darstellen können, andererseits weil sie als überheblich oder als latente Kritik und Beschuldigung wirken und das positive Gesicht der Adressaten damit bedrohen könnten. Hinzu kommt das unumgängliche Ansprechen von heiklen Themen, wodurch der Eindruck entstehen könnte, dass die Gefühle und Reaktionen der Adressaten den Verfassern gleichgültig seien. (Kotorova 2011, 81f) Um „jeder Kategorie Rechnung zu tragen: dem positiven Gesicht mit Lob, Bestätigung und Unterstützung, dem negativen Gesicht mit Abschwächung und Indirektheit“ (Neuland 2007, 834), werden diverse Höflichkeitsstrategien eingesetzt. Gemeinsam ist beiden Ratgebern - neben einem hohen Formulierungsaufwand, der als Zeichen der Höflichkeit verstanden werden kann - der Rückgriff auf Strategien der negativen Höflichkeit durch die Verwendung unpersönlicher Strukturen mittels Indefinitpronomen, Passivkonstruktionen, Modalverben, Modus-Gebrauch. In der textuellen Umgebung wird in Anlehnung an Lüger durch den gezielten Einsatz von „subsidiärer Handlungen, wie z. B. von Rechtfertigungen oder anderen argumentativen Mitteln“ (Lüger 2001, 183) die unerwünschte Imagebedrohung entschärft bzw. vermieden. Hinzu kommen Erklärungen, die kulturspezifische Informationen und Hintergründe liefern, das Zeigen von negativen Konsequenzen der unerwünschten Handlung für die Adressaten sowie Relativierungen und Einschränkungen des Aufforderungsgegenstandes, die nach Lüger eine „Territoriumsverletzungen minimierende Funktion“ (Lüger 2001, 183) haben. Im Allgemeinen lassen sich die oben angeführten Strategien den von Brown / Levinson angeführten Regeln der negative politeness zuordnen: Impersonalize S and H; State the FTA as a general rule. Die Strategie „off record“ wird durch die Hinweise auf Motive und Bedingungen der auszuführenden Handlung sowie durch die Umleitung auf Dritte erkennbar. (Brown / Levinson. 1987. S. 211 ff.) Unterschiede zwischen den beiden Texten bestehen jedoch in den Bemühungen um Unterstützung des positiven Gesichts des Adressaten: In dem Ratgeber „Orientierungshilfe für das Leben in Deutschland“ wird offen und explizit auf die von den Verfassern befürchtete, potentielle Bedrohung des positiven Gesichts der Adressaten eingegangen. Das Schlusswort zeigt, dass sich die Verfasser darüber Gedanken gemacht haben, dass die Hinweise als „überheblich oder abwertend empfunden werden können“ und dass das bei der Erstellung des Ratgebers „kontinuierlich kritisch hinterfragt und reflektiert“ und durch „Zusammenarbeit mit Menschen aus verschiedensten Ländern“ und die „Ein- 256 Nahla Tawfik bindung von Geflüchteten beim Entwurf dieses Guides“ berücksichtigt wurde. Die Annahme, dass die Hinweise als überheblich und abwertend wahrgenommen werden können, wurden „von den Geflüchteten deutlich zurückgewiesen“. (O14) Auch in der Einleitung wird angegeben, dass die „Orientierungshilfe durch Fragen, die viele Geflüchtete immer wieder stellen“, angeregt wurde, und nicht etwa durch Befürchtungen, Vorurteile und latente Beschuldigungen seitens der Verfasser. Das zeigt, wie die Gefühle und Reaktionen der Adressaten den Verfassern wichtig sind. Die wiederholte Verwendung der Bezeichnung Geflüchtete im Gegensatz zu einer einmaligen Verwendung des Wortes Flüchtling, das die Gesellschaft der deutschen Sprache als Wort des Jahres 2015 wählte und als „für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig“ 11 klingend bezeichnete, zeigt, wie die Verfasser um eine politisch korrekte Sprache in dem Ratgeber bemüht sind. Dieser Aspekt, der vielleicht nicht von den arabischen Adressaten wahrgenommen wird, wird in dem zweiten Ratgeber nicht berücksichtigt. Hier manifestiert sich als hauptsächlicher Unterschied ein intensiver Einsatz von Strategien der positive politeness. An erster Stelle steht die Strategie der Konsensorientierung. Die Verfasser, die einen Migrationshintergrund haben, sind bestrebt, möglichst jegliche Diskrepanz zwischen den beiden Orientierungssystemen der Adressaten, Werten der deutschen Kultur und Werten des Islams zu mindern und den Adressaten Wertschätzung, Interesse und Gruppenzugehörigkeit zu vermitteln. Die Berücksichtigung kulturspezifischer Aspekte zeugt von einer ausgeprägten interkulturellen Kompetenz, was das Verständnis von Höflichkeit im arabisch-islamischen Kulturraum angeht. Relevant in diesem Kontext sind die von Abbas Amin für Ägypten dargestellten Kulturstandards, die - ihm zufolge - auf die arabische Welt generalisiert werden können. Zu den „Meta-Kulturstandards als übergeordneter Ausgangspunkt mit weitreichenden Auswirkungen auf die anderen Kulturstandards“ (Amin 2007, 212) zählt Amin die religiöse Orientierung. Hinzu kommen die Einbindung in Beziehungsnetze und vor allem das Wahren von Stolz: „Den eigenen Stolz zu wahren und den der anderen nicht zu verletzen, stellt ein wichtiges Anliegen der Ägypter dar und beschreibt die Tatsache, dass sie sehr auf ihr Erscheinungsbild nach außen bedacht sind: Gesellschaftliche Normen werden geachtet, Image wird gepflegt und Hierarchien werden respektiert. Infolgedessen gehen Ägypter mit Konflikten anders um als Deutsche. Nicht durch direktes Ansprechen oder sachliche Analyse werden Konflikte bewältigt, vielmehr tendiert man dazu, sie zu vermeiden oder allenfalls indirekt anzusprechen […] Durch Sympathiebekundungen und herzliche Worte tastet man sich an die Lösung von Konflikten heran.“ (Amin 2007, 214) 11 http: / / gfds.de/ wort-des-jahres-2015/ http: / / gfds.de/ wort-des-jahres-2015/ (05. 12. 2016). Sprachliche Höflichkeit in deutschen Flüchtlings-Kniggen 257 Somit lassen sich in dem Ratgeber des MFI in Anlehnung an Brown/ Levinson folgende Regeln der positive politeness bestätigen: Seek agreement; Avoid disagreement; Exaggerate interest, approval, sympathy with H; use in-group identity markers. Davon zeugen die oben festgestellten Strategien der Konsensorientierung vor allem bei heiklen Themen wie Gleichberechtigung, der Wertschätzung (u. a. durch den Rückgriff auf Elemente des islamisch-arabischen Kulturguts), des Ausdrucks von Nähe und Zugehörigkeit und der Betonung gleicher Gruppenzugehörigkeit und Solidarität (u. a. durch den Rückgriff auf die Persponalpronomina „wir, uns“ und „du“). Die Botschaft wird sowohl sprachlich formuliert als auch durch nonverbale Elemente unterstützt. 5. Fazit und Ausblick Sprachliche Höflichkeit hat im Hinblick auf das Forschungsfeld interkulturelle Kommunikation durch die derzeit unvorhersehbaren Migrationswellen nach Europa an großer Relevanz gewonnen. Ratgeber für Geflüchtete sind ein noch relativ unbeackertes Forschungsfeld. Dazu wollte die vorige Untersuchung einen Beitrag leisten. Hier könnten weitere Forschungsarbeiten anknüpfen, die die Entwicklung dieser Textsorte in den kommenden Jahren im Hinblick auf höfliches Sprachverhalten verfolgen. Zu diesem Zweck könnte ein Korpus von Ratgebern zum synchronen und diachronen Vergleich herangezogen werden. Empirische Arbeiten, die die adressierten Geflüchteten in die Untersuchung einbeziehen, sind besonders zu begrüßen. Ebenso dürfte die Übersetzung dieser Ratgeber ins Arabische und andere betroffene Sprachen im Hinblick auf kulturspezifische Aspekte interessant sein. Nicht zuletzt ist die Erforschung von an Geflüchtete gerichteten YouTube-Kanälen oder Welcome-Apps in diesem Kontext besonders aufschlussreich. Literatur Amin, Abbas (2007). Ägypten. In: Thomas, Alexander / Kammhuber, Stefan / Schroll- Machl, Sylvia (Hrsg.) Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 2: Länder, Kulturen und interkulturelle Berufstätigkeit. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 211-224. Brown, Penelope / Levinson, Stephen (1987). Politeness. Some universals in language usage. Cambridge: CUP . Ehrhardt, Claus / Neuland, Eva / Yamashita, Hitoshi (Hrsg.) (2011). Sprachliche Höflichkeit zwischen Etikette und kommunikativer Kompetenz. Frankfurt: Peter Lang. 258 Nahla Tawfik Held, Gudrun (2001). Richtig kritisieren-eine Frage des höflichen Stils? Überlegungen anhand italienischer, französischer und österreichischer Beispiele. In: Lüger, Heinz- Helmut (Hrsg.) Höflichkeitsstile. Frankfurt: Peter Lang, 113-127. Kotorova, Elizaveta (2001). Indirekte Sprechakte als höfliche Äußerungsformen: sprechaktklassenspezifische Unterschiede. In: Lüger, Heinz-Helmut (Hrsg.) Höflichkeitsstile. Frankfurt: Peter Lang, 77-92. Lüger, Heinz-Helmut (2001). Aufforderung und Gesichtsschonung in Behördentexten. In: Lüger, Heinz-Helmut (Hrsg.) Höflichkeitsstile. Frankfurt: Peter Lang, 165-184. Neuland, Eva (2007). Sprachliche Höflichkeit in kritischen Situationen. Ergebnisse kontrastiver Studien. In: Kairoer Germanistische Studien. Band 17, Teil II , Kairo: Dar El-Thaquafa El-Elmeya, 831-855. Omar, Hamdy (2016). Zur sprachlichen Höflichkeit beim Ablehnen im Deutschen und Arabischen. Eine kontrastive Studie. München: Iudicium. Online-Quellen http: / / www.t-online.de/ nachrichten/ deutschland/ gesellschaft/ id_75721762/ der-fluecht lingsknigge-von-hardheim-im-wortlaut.html. http: / / www.rnz.de/ nachrichten/ buchen_artikel,-Fluechtlinge-Der-Hardheimer-Protestwird-lauter-_arid,129811.html. http: / / www.spiegel.de/ politik/ deutschland/ hardheim-buergermeister-verfasst-benimm regeln-fuer-fluechtlinge-a-1056614.html. http: / / www.refugeeguide.de/ dl/ RefugeeGuide_de_925.pdf. http: / / www.islam-muenchen.de/ wp-content/ uploads/ 2015/ 12/ 03-Willkommen-in- Deutschland.pdf. http: / / www.refugeeguide.de/ de/ . http: / / www.refugeeguide.de/ dels/ . http: / / gfds.de/ wort-des-jahres-2015/ . Akademische Höflichkeit: eine historische Perspektive 259 Akademische Höflichkeit: eine historische Perspektive Tatiana Yudina The article presents analyses of forms of politeness in academic correspondence in the early 20 th century. The pragmalinguistic perspective demonstrates the connection between direct and indirect speech acts, between historical conventions and emotional variability. 1. Vorbemerkungen Höflichkeit ist eine Erscheinung des zwischenmenschlichen Umgangs, deren Entstehung weit in die Geschichte der Zivilisationen hineinreicht. Unterschiedliche Epochen, Kulturen und Umgangssphären entwickelten ihre eigenen Vorstellungen, Wahrnehmungen und Rituale, aus denen Höflichkeitsformen herausgebildet wurden. Dem Ausdruck der Höflichkeit dienen verbale, nonverbale und paraverbale Formen sowie Signale, die durch Kleidung, Farbenpalette u. ä. manifestiert werden, teilweise in verdeckten Nuancen und Details. Diese bilden oft geschlossene kultur- und gruppenspezifische Systeme, die sich von anderen vergleichbaren Systemen deutlich unterscheiden können. Die europäische Kultur setzte sich spätestens seit der Renaissance, insbesondere aber im 19. Jahrhundert mit dem Aspekt der Höflichkeit im ‚angewandten‘ Sinne von Normfestlegung, Ratschlägen und Empfehlungen zum guten Benehmen auseinander. Die Entwicklung dieser Prozesse geht allerdings schon auf die Antike und auf das Mittelalter zurück, z. B. auf die „situative Ritualität des mittelalterlichen Herrschaftswesens“ (Knape 2012, 2). Eine umfassende, fundierte und theoriebasierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Höflichkeit in ihrer sprachlichen Gestalt und in einem breiteren verhaltensbezogenen Kontext ist allerdings eher die Leistung des 20. Jahrhunderts. Die letzten zwei Jahrzehnte sind im Bereich der kultur- und kommunikationswissenschaftlich arbeitenden Fächer durch eine intensive Aufarbeitung des Themas Höflichkeit geprägt. Es geht dabei um verschiedene wissenschaftliche 260 Tatiana Yudina Ansätze: kulturwissenschaftliche (Ankenbrand 2013), semantische/ pragmalinguistische (Grice1993), kommunikationswissenschaftliche (Neuland 2011, Thaler 2012), linguistische (Ehrhardt 2002), rhetorische (Knape 2012), Untersucht werden sprachliche institutions- und gruppenrelevante Höflichkeitsformen wie z. B. Höflichkeit in Verhandlungen, Höflichkeit in Telefongesprächen sowie in vielen anderen Bereichen der alltäglichen und der offiziellen bzw. institutionellen Kommunikation. Höflichkeitsaspekte und sprachliche Kommunikation werden heute in der Regel in einer Einheit betrachtet. In pragmalinguistisch orientieren Forschungen arbeitet man mit Begriffen wie „kommunikative Realität“ und „kommunikative Kompetenz“ (Ehrhardt 2002; Neuland 2011; Lüger 2002) und geht dabei von dem methodischen Ansatz aus, dass die sprachliche Höflichkeit weit mehr als „ein bestimmtes Subsystem mit entsprechenden lexikalischen, morphologischen oder syntaktischen Mitteln“ ist (Lüger 2002, 23). Höflichkeit wird im breiten Kontext der kultur- und situationsabhängigen Handlungen betrachtet. Im vorliegenden Beitrag geht es um einen kleinen historischen Ausschnitt sprachlicher, verbal artikulierter Höflichkeitsformen im akademischen Kontext, um akademische Höflichkeit . 2. Sprachliche Höflichkeit aus historischer Perspektive In den Forschungen zur sprachlichen Höflichkeit und zu den Wandelprozessen im Deutschen werden schwerpunktmäßig insbesondere zwei Zeitabschnitte untersucht. Sie betreffen • Die Dynamik zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert • Wandelprozesse der Gegenwart, von etwa 1950 bis heute. Bei der Analyse der Transformationsprozesse, die sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entfalten, werden besonders intensiv sprachliche Folgen der 1968er Bewegung, die Ergebnisse der deutschen Wiedervereinigung und die Konstituierung der IT -gestützten Kommunikationsformen aufgearbeitet. Peter von Polenz konzentriert sich sprachgeschichtlich unter anderem auf Wandelprozesse für Anrede- und Höflichkeitsformen im Deutschen der Neuzeit und interpretiert sie als Signale: zuerst für eine „gemäßigte Verbürgerlichung altständischer Gewohnheiten“ (im 19. Jahrhundert), dann aber für eine „Entbürgerlichung im Sinne der Hierarchien abbauenden pluralistischen Massengesellschaft“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (von Polenz 1999, 60). Der Gebrauch von Titeln, Anredefloskeln und Grußformeln wurde im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reduziert, „als letzte Reste davon hielten sich Briefanreden wie sehr geehrter / verehrter / hochverehrter […] und Brief- Akademische Höflichkeit: eine historische Perspektive 261 schlüsse wie hochachtungsvoll, Ihr sehr ergebener bis in die Nachkriegszeit, in Adelskreisen […] an Universitäten die Titelanreden Magnifizenz, Spektabilität teilweise bis heute“ (von Polenz 1999, 386). Ankenbrand (2013) konzentriert sich in ihrer Analyse der Wandelprozesse in den Höflichkeitsformen ebenfalls auf den Übergang von der adligen zur bürgerlichen Kultur im 19. Jahrhundert und geht dann gleich zur 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts über. Den Entwicklungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird spürbar weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Die 1920er und1930er Jahre lassen sich allerdings als einen Zeitabschnitt bezeichnen, der durch gewisse eigene Prägungen und Ausdifferenzierungen im Bereich der Höflichkeitsformen markiert ist. Sprachliche Wandelprozesse begleiten den politischen Wandel in Deutschland nach dem Untergang des Kaiserreiches. Ein breites politisches Spektrum der Weimarer Republik prägt auch die Heterogenität der sozial-politischen Sprachregister und zum Teil der Umgangsformen (Lehnert 1999, 34, 294, 296). Eine teilweise kritische Reflexion der „neuen Sachlichkeit“ lässt sich in den akademischen Kreisen verfolgen (Otto 1956, 456, 459). 3. Zum Begriff ‚Akademische Höflichkeit‘ Die akademische Höflichkeit wird hier als ein unentbehrlicher Teil der wissenschaftsbegleitenden Sprache und der institutionellen Kommunikation im akademischen beziehungsweise im Bildungsbereich verstanden. Zur wissenschaftsbegleitenden Sprache werden hier verbale Kommunikationsformen gezählt, die keine Objekte und Inhalte der wissenschaftlichen Tätigkeit betreffen, also nicht in den Bereich der Wissenschaftssprache gehören. Bei diesen Kommunikationsformen geht es in der Regel nicht um das Fachliche, sondern um Organisatorisches, zum Teil auch um Interpersonelles. Sprachliche Höflichkeitsformen spielen dabei ihre eigene Rolle und haben eigene Prägungen. Sie bewegen sich zwischen Konventionalität / Regularität und Variabilität. Aus pragmalinguistischer Sicht konzentriert man sich auf verbale Höflichkeitsformen und diskursive Strukturen, in denen interpersonelle und zwischeninstitutionelle kommunikative Handlungen ablaufen. Akademische Höflichkeit manifestiert sich in ihrer schriftlichen Form in einigen Textsorten und übernimmt darin eine zentrale kommunikative Funktion. Dazu gehören Danksagungen und Widmungen. Sie dienen nicht primär der Inhaltsvermittlung, sondern dem Ausdruck von Dank, Respekt und Anerkennung (Yudina 2011). 262 Tatiana Yudina Akademische Höflichkeit ist ein Teil der kommunikativen Handlung zwischen den Partnern, die aus dem akademischen Kontext stammen und im Rahmen ihrer professionellen Tätigkeit eine zielorientierte und ergebnisorientierte Beziehung unterhalten. Das hier analysierte Material präsentiert „positive“ Beispiele einer guten interpersonellen und zwischeninstitutionellen kooperationsorientierten Beziehung. Es geht in diesem Bereich nicht um Sprache „als Instrumentarium zur Mitteilung von Kenntnissen oder Wahrheiten, sondern primär der Herstellung der Verständigung, Zustimmung oder Duldung, auf die der Handelnde angewiesen ist“ (Blumenberg 1981,108). Verbale Höflichkeit aus linguistischer Perspektive wird vom gewählten Medium, d. h. von der Sprache, in der man kommuniziert, geprägt. Ob die Kommunikation zwischen Muttersprachlern stattfindet, ob es sich um einen Muttersprachler und einen Nichtmuttersprachler handelt oder ob die Kommunikationspartner sich einer Drittsprache bedienen, die Sprache bleibt ein verbindendes Element, durch das die bestehenden Konventionen manifestiert werden. Im Weiteren wird die Untersuchung auf schriftliche, und zwar briefliche Präsentationsformen der Akademischen Höflichkeit eingeschränkt. Im Fokus stehen Kommunikationsbereiche, Gebrauchssphären, in denen einzelne Wissenschaftler, Hochschulen und wissenschaftliche Institutionen (in Person ihrer Angehörigen) als Kommunikationspartner auftreten. 4. Zum Korpus In diesem Beitrag wird akademische Höflichkeit an Beispielen eines interpersonellen und zwischeninstitutionellen Briefwechsels aus den 1920er / 1930er Jahren analysiert. Bei der interpersonellen Kommunikation geht um veröffentliche Briefe zwischen zwei Physikern „aus dem goldenen Zeitalter der modernen Physik“, zwischen Albert Einstein und Arnold Sommerfeld. Beim zwischeninstitutionellen Briefwechsel geht es um deutsch-russische briefliche akademische Kontakte aus der gleichen Zeit. In dieser Zeit war Deutsch in Russland eine sehr verbreitete und im akademischen Bereich vertraute Fremdsprache (Yudina 2012). Die Korrespondenz aus der Periode 1920-1930 zwischen den damaligen deutschen und russischen akademischen Institutionen gibt Beispiele dafür, wie man versucht hat, ideologische Differenzen und beiderseitige Kooperationswünsche in eine Balance zu bringen. Kommunikative Strategien und indirekte Höflichkeitsformen haben in diesem Prozess gestaltende Funktionen erfüllt. Die interpersonelle Kommunikation (Situation I) erfolgt zwischen gut bekannten Personen aus dem Akademische Höflichkeit: eine historische Perspektive 263 gleichen Kulturkreis. Die zwischeninstitutionelle Kommunikation (Situation II ) wird zwar auch von Personen ausgeführt, allerdings haben diese in der Regel nur einen brieflichen Kontakt oder agieren nur im Auftrage ihrer Vorgesetzten. 5. Akademische Höflichkeit im Kontext Die Struktur der Äußerungen zeigt eine Vielfalt und Variabilität der Höflichkeitsformen im Rahmen der damaligen Konventionen. „Eine Konvention wird durch keinerlei Autorität öffentlich bekanntgemacht. Sie wird nicht durch Sanktionen durchgesetzt… Sie ist nirgends kodifiziert …Und doch ist sie mehr als eine bloße Regularität, die in der Regel gilt; sie ist eine Regularität, die von einem speziellen System von Annahmen und Wünschen begleitet und aufrechterhalten wird“ (Lewis 1993, 224). „Fassbar wird sprachliche Höflichkeit nur als textuelle Erscheinung. […]. Darüber hinaus ist sprachliche Höflichkeit eine interaktive Kategorie. Gerade in dialogischer Kommunikation wird erkennbar, dass Höflichkeitsgrade nicht a priori feststehen oder festgelegt werden. Sie konstituieren sich erst im Laufe des Austausches durch wechselseitige Beeinflussung und werden gewissermaßen, wie insbesondere bei der Verbalisierung von Bewertungen zu sehen, koproduktiv hervorgebracht.“ (Lüger 2002, 23) In den analysierten Beispielen der brieflichen Kommunikation sind Höflichkeitsformen präsent, die sprachliche Handlungen wie ‚Bitte‘, ‚Anfrage‘, ‚Wunsch‘, Erklärung’, ‚Absage‘, ‚Zusage‘, ‚Entschuldigung‘, ‚Dank‘, Gruß- und Abschiedsformeln ausdrücken. Grundsätzlich wird ein brieflicher Dialog zwischen den Personen mit vergleichbaren Interessen geführt. 5.1 Akademische Höflichkeit interpersonell In dem Briefwechsel zwischen den beiden Physikern (Einstein und Sommerfeld) geht es nicht um Physik oder andere wissenschaftliche Themen, sondern um wissenschaftsbegleitende Aspekte des akademischen Betriebes. Beispiele 1. Respekt / Anerkennung Lieber Sommerfeld! Gestern Abend sind Sie vom Vorstand und Beirat sowie vom Plenum der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zum Vorsitzenden gewählt worden, und zwar mit sichtlicher Begeisterung. Diese Einhelligkeit verdient Anerkennung, und diese der Gesell- 264 Tatiana Yudina schaft bald zukommen zu lassen in Gestalt eines erquickenden Ja bittet Sie Ihr A. Einstein […]. Außerdem herzliche Privatgrüße 2. Abschiedsformeln (2a) Viele Grüsse von Ihrem getreuen A. Sommerfeld / viele Grüsse von Ihrem A. Sommerfeld (1926, München, 1927, München) Ich würde sehr glücklich sein, wenn wir und trotz allem einmal wiedersehen könnten. Ihr getreuer A. Sommerfeld (1934 aus Südtirol) Seien Sie innig gegrüsst von Ihrem getreuen alten A. Sommerfeld (1937, Zürich) (2b) Herzlich grüsst Sie Ihr Einstein Es grüsst Sie bestens Ihr Einstein 3. Bitte Ich habe den Auftrag von unserem Ausschuss für Gastvorlesungen erhalten, Sie freundlichst zu bitten, uns Anfang Dezember […] einige Vorträge zu halten. […] Es wäre schön, wenn wir uns auf diese Weise ausgiebig wiedersehen könnten. Es gibt so manches zu besprechen […] Das wäre der größte Triumph der Relativitätstheorie (1926) 4. Absage Ich habe nichts zusagen, was mir für die ins Auge gefassten Vorträge belangreich genug zu sein scheint. Deshalb muss ich schweigen und solche reden lassen, welche etwas Bedeutsames zu sagen haben, was die anderen noch nicht wissen. (Berlin, 1926) 5. Absage Berlin 14. August 1930 Lieber Sommerfeld! Ich freue mich sehr, wenn ich Sie sehen kann, bin aber im Sommer in Caputh bei Potsdam […] Vortrag kann ich keinen übernehmen, habe auch nichts Besonderes zu berichten. Ihr Buch über Wellenmechanik finde ich sehr schön. 6. Indirekte Höflichkeit Lieber Einstein! Wie lange ist es her, dass wir nicht direkt von einander gehört haben! Und was ist alles seitdem passiert.(…)Ich schreibe diesen Brief von Italien aus. Wenn ich ihn von Deutschland aus schreibe, würde er kaum in Ihre Hände kommen. Auch so werden Sie ihn verspätet erhalten, da Sie wohl gegenwärtig in Europa sind.[…] Sollten Sie mir Akademische Höflichkeit: eine historische Perspektive 265 doch etwas zu sagen haben, so könnten Sie mir nach Genf schreiben […] unter der unverfänglichen Adresse von Professor J. Weigle, Faculte des sciences. (Südtirol 1934) In den Beispiele 1 bis 6, die die Situation I vorstellen, sieht man Höflichkeitsformen als eine Verbindung von Sachbezogenheit, Respekt, Vertrautheit und Zugewandtheit. Beispiel (1) präsentiert eine kollegiale Bitte von Einstein an Sommerfeld, die mit dem impliziten Ausdruck von Respekt verbunden ist. Allerdings ist die hier als ‚Bitte‘ formulierte Äußerung keine Bitte im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern eher Ausdruck des Respekts und der Anerkennung des Kollegen. Die verwendete Abschiedsformel vermittelt dem Schreiben eine besondere persönliche Note. Das Schreiben von Sommerfeld an Einstein, Beispiel (3) enthält dagegen eine klare direkte Bitte, es geht um die Bitte, einen Vortrag, beziehungsweise Vorlesungen zu halten. Gleichzeitig bezieht sich Sommerfeld auf die Einsteinische Relativitätstheorie, und neben der offiziell übertragenen Einladung äußert er seinen persönlichen Wunsch und eine persönliche Hoffnung, Einstein wiederzusehen: Es wäre schön, wenn wir uns auf diese Weise ausgiebig wiedersehen könnten. Einstein antwortet auf die Einladung zum Vortrag mit einer höflichen Absage (5), indem er sich quasi hinter einer bescheidenen Formulierung habe auch nichts Besonderes zu berichten ‚versteckt‘. Gleichzeitig zeigt er seinerseits Respekt den Leistungen des Kollegen gegenüber durch seine Bewertung des Buches von Sommerfeld über Wellenmechanik. Eine weitere höfliche Absage von Einstein findet man auch im Beispiel (4). Äußerungen im Beispiel (6) lassen sich als indirekte Höflichkeit interpretieren. Im Brief von Sommerfeld deutet alles darauf hin, dass er Rücksicht auf die neue politische Lage nimmt, die ihm höchst peinlich ist. Der wissenschaftliche sowie der persönliche Kontakt zu Einstein bleibt ihm aber wichtig. Bemerkenswert ist auch die verstärkte Emotionalität in den Abschiedsformeln von Sommerfeld nach 1933 im Vergleich zu den Briefen davor (2a). In seinem Brief an Einstein vom 30. Dezember 1937 gebraucht Sommerfeld die informelle Anredeform ‚mein Freund‘. In den vorherigen Briefen kommt diese Anredeform nicht vor. 5.2 Akademische Höflichkeit zwischeninstitutionell In ihrer kontrastiven Untersuchung über „die Kunst des Briefschreibens in der Fremdsprache und in der Muttersprache“ vertritt Büchle (2002) die These, dass in der interkulturellen brieflichen Interaktion einerseits Universalstrategien, andererseits soziokulturelle und sprachliche Normdifferenzen vorkommen. 266 Tatiana Yudina In der Korrespondenz zwischen der Berliner (damals Preußischen) Akademie der Wissenschaften und den damaligen sowjetischen Hochschulen beziehungsweise Forschungsinstituten lässt sich ein brieflicher Dialog zwischen den Personen und Institutionen mit vergleichbaren Interessen aber aus unterschiedlichen Kulturkreisen verfolgen (Situation II ). Es geht um einen institutionellen Kontakt. Bei den Personen handelt es sich teilweise um Mittler, um Angestellte, die im Auftrag ihrer Vorgesetzten schreiben, teilweise um persönlich verfasste Briefe der Amtsträger. Der Charakter der Briefe deutet eher darauf hin, dass es nur dienstliche briefliche Kontakte ohne persönliche Bekanntschaften waren. Ein Teil der russischen Briefe ist allerdings handschriftlich verfasst, was man für die damalige Zeit jedoch kaum als ein Ausdruck der Vertrautheit interpretieren könnte. Die Kommunikation verlief ausschließlich in der deutschen Sprache. Diese fungiert dabei als ein verbindendes Element und ein konventionenprägendes Mittel. Die Nichtmuttersprachler machen zwar grammatische und lexikalische Fehler, Verstöße gegen die zu der damaligen Zeit in den deutschen akademischen Kreisen üblichen Gruß- und Abschiedsformeln, gegen die höfliche Bitte oder Absage waren jedoch nicht zu beobachten. Es fehlte auch die Interferenz mit den damaligen russischen Etikettenformen. Das Hauptthema des Briefwechsels war der gegenseitige Schriftenaustausch im Sinne der wissenschaftlichen Kooperation. Die in der deutschen Sprache damals üblichen diskursiven Konventionen bei den Anrede-, Gruß- und Abschiedsformeln, wurden von den russischen Korrespondenten als Nichtmuttersprachlern bewusst eingesetzt. Voraussetzung war die Beherrschung der deutschen Sprache, was damals im russischen akademischen Bereich fast eine Norm war, wobei unterschiedliche Stufen der Sprachkompetenzen zu beachten sind. Die untersuchten Brieftexte präsentieren in erster Linie solche Sprechhandlungen wie Bitten, Zusagen, Absagen, Danksagungen, Entschuldigungen, Erklärungen, Anfragen, Wünsche. Die Struktur der Äußerungen zeigt eine Vielfalt und Variabilität der Höflichkeitsformen im Rahmen der geltenden Konventionen. 7. Anrede Sehr geehrter Herr Sehr verehrter Herr (7a) Abschiedsformel Hochachtungsvoll Mit vorzüglicher Hochachtung Mit freundlichem akademischen Gruß Akademische Höflichkeit: eine historische Perspektive 267 8. Ausdruck der Bitte (8a) Dürften wir Sie ersuchen, uns mitteilen zu wollen, (…) (8b) Die Moskauer Universitätsbibliothek wird Ihnen sehr verbindlich sein , wenn (…) (8c) (…) gestattet sich die Universität Smolensk, Sie höflichst zu ersuchen, (…) 9. Ausdruck des Dankens (9a) Wir bestätigen bestens dankend (…) (9b) Mit wahren vergnügen [so im Original- TY ] kann ich Sie benachrichtigen, (…) 10. Absage (10a) …teilen wir Ihnen ergebenst mit, daß der Schriftenaustausch der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf die „Sitzungsberichte“ und „Abhandlungen“ ihrer beiden Klassen beschränkt ist. (10b) (…)Die Akademie bedauert daher, Ihren Wunsch (…) nicht erfüllen zu können. 11. Bitte + explizite Kooperationsidee Die Universität wäre gerne bereit, Ihnen auch ferner Veröffentlichungen zu senden, wenn Sie Ihrerseits das Tauschangebot annehmen würden. Die in den Brieftexten gebrauchten Höflichkeitsformen kann man als Signale für Sachlichkeit und eine höfliche Distanz betrachten. Die Anrede- und Abschiedsformeln (7, 7a) sind höflich und distanziert. Der Ausdruck der Bitte ist ausgeprägt höflich (8a, 8b, 8c). Die Sprechakte sind klar strukturiert, die Intention wird klar artikuliert. In den Briefen geht es um Ausdruck von Bitte / Wunsch (8a, 8b, 11), Absage (10a, 10b), Anfrage (8c), Dank (9a, 9b). 6. Zusammenfassung Die akademische Höflichkeit kann sich in der interpersonellen (Situation I) und in der zwischeninstitutionellen Form (Situation II ) manifestieren. In den für die Untersuchung ausgewählten Brieftexten fällt auf, dass in der Situation I akademische Höflichkeit formelle und informelle Ausdrucksweisen präsentieren kann. Sprechhandlungen wie Bitte oder Wunsch werden zum Teil indirekt ausgedrückt, so dass ihr pragmalinguistischer Inhalt im vollen Umfang erst auf der diskursiven Ebene zur Geltung kommt. Die Höflichkeitsformen in der zwischeninstitutionellen Kommunikation (Situation II ) sind mehr formalisiert und distanziert. Eine Analyse der Höflichkeitsformen in der deutschsprachigen zwischeninstitutionellen Kommunikation 268 Tatiana Yudina zeigt, dass russische Korrespondenten die deutsche Sprache zwar auf unterschiedlichem Niveau beherrschten, was aber den Umgang mit den Höflichkeitsformen anbetrifft, legen sie viel Wert auf die konventionelle Formelhaftigkeit und auf die ausgeprägt höfliche Ausdrucksformen. Literatur Ankenbrand, Katrin (2013). Höflichkeit im Wandel. Entwicklungen und Tendenzen in der Höflichkeitspraxis und dem laienlinguistischen Höflichkeitsverständnis der bundesdeutschen Sprachgemeinschaft innerhalb der letzten fünfzig Jahre. Inauguraldissertation: Heidelberg. Austin, John (1972). Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam. Blumenberg, Hans (1981). Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Blumenberg, Hans (Hrsg.) Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart: 104-136. 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It also deals with some intracultural differences in using nominal forms addressing strangers based on questionnaire data. 1. Einführung Obwohl kontrastive Studien zu den Anredesystemen des Deutschen und der slawischen Sprachen (Rathmayr 1992, Tomiczek 1997, Betsch / Berger 2009) vorhanden sind, sind zur Problematik der Variabilität der Anredeformen im ukrainischen Sprachraum nur einige deskriptiv und präskriptiv ausgerichtete Beiträge zu erwähnen (Bohdan 1998, Brehmer 2004, Kononenko 2002). Das Ziel dieses Beitrags ist es, zum kontrastiven Vergleich einiger nominaler Anredeformen des Deutschen und Ukrainischen beizutragen. Für den vorgeschlagenen Fokus sind folgende Fragestellungen relevant: • Welche interkulturellen Unterschiede sind im Gebrauch von scheinbar äquivalenten isolierten nominalen Anreden des Deutschen und des Ukrainischen zu beobachten? • Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede bestehen beim Gebrauch von kombinierten nominalen Anreden des Deutschen und des Ukrainischen? • Welche intrakulturellen Besonderheiten existieren derzeit in der usuellen Realisierung einzelner nominaler Anredeformen im ukrainischen Sprachraum? 272 Oksana Khrystenko 2. Empirische Daten Die Untersuchung stützt sich auf folgende Daten: 1. Eine Fragebogenerhebung unter Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Leuten im mittleren Erwachsenenalter aus östlichen und westlichen Regionen der Ukraine zur Erforschung der intrakulturellen Unterschiede im Anredegebrauch. Die Stichprobe umfasst 150 Personen. Die Befragung umfasst 9 Fragen, die um eine Einschätzung des eigenen Anredegebrauchs bitten. Außerdem wurde danach gefragt, welche Anreden die Befragten für sich als akzeptabel / inakzeptabel ansehen. 2. Das Korpus ausgewählter nominaler Anreden (510 Anreden) aus Stenogrammen von Plenarsitzungen des deutschen Bundestages und aus dem ukrainischen Parlament (Verchovna Rada) zur Herausstellung der vorherrschenden Anredeformen in öffentlichen Redesituationen. 3. Textbeispiele aus Literaturquellen und alltäglichen kommunikativen Situationen. 3. Die Variabilität des Anredesystems Das Paradigma des nominalen Anredesystems variiert in Bezug auf die Parameter der kommunikativen Situation, wobei die sozialen und hierarchischen Verhältnisse zwischen den Interaktanten in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung sind. Für die Darlegung der kulturellen Besonderheiten von nominalen Anredeformen ist „die Art der gebrauchten nominalen Anrede und die Möglichkeit ihrer Verwendung und Kombination“ entscheidend (Betsch / Berger 2009, 1022). Wichtig erscheint dabei auch die Beschreibung von Ähnlichkeiten und Unterschieden im Anredesystem und in der Pragmatik des Anredegebrauchs. Im Anredesystem sind manche interkulturellen Unterschiede in der möglichen Abweichung der Anredekombination in den vergleichbaren Sprachen anzutreffen. Im Falle des Vorhandenseins von formal äquivalenten Anredekombination in beiden Sprachen können bestimmte Unterschiede im Anredegebrauch durch folgende Faktoren bedingt werden: • Unterschiede in diskursiven Praktiken, die zur Minderung / Beibehaltung der Distanz zwischen den Interaktionspartnern führen, und die damit verbundene Wahl der Anredeformen voraussetzen. • Einbettung mancher Anredeformen in statusrelevanten Situationen, in denen der Einfluss der Tendenzen zur Informalisierung des Sprachgebrauchs kaum festzustellen ist. In solchen Fällen werden die nominalen Anreden oft mit den entsprechenden pronominalen Dubzw. Sie-Formen verbunden, deren Interkulturelle Besonderheiten im Gebrauch nominaler Anredeformen 273 Gebrauch in statusrelevanter Situation mit Konventionsverstößen in einer Kultur und der Imagebedrohung zu verbinden ist 1 . • Einschränkung mancher isolierter Anredeformen an Unbekannte auf situativ begrenzte Räume in Deutschland (Handel, Restaurant). In Sprachen mit konventionalisierter Anrede fehlen diese Gebrauchsrestriktionen. • Gebrauch mancher Anreden in „kritischen Phasen des Gesprächs“ (Kritik, Widerspruch, Warnung) (vgl. Rathmayr 1992, 304) und das Fehlen dieser Restriktionen für die Äquivalente in der anderen Sprache. • Unterschiede im Formalitätsbzw. Distanzgrad einiger nach der Form äquivalenter Distanzanreden in den vergleichbaren Sprachen. Im Weiteren wird in diesem Aufsatz auf die Unterschiede im Anredegebrauch in den öffentlichen Redesituationen im Parlament und in der Alltagskommunikation eingegangen. 4. Variation der Anredeformen in den öffentlichen Redesituationen im Parlament In öffentlichen Redesituationen innerhalb der Parlamentsinstitution ist eine Vielfalt der Anredeformen vorhanden, wobei die parlamentarische Anrede vorwiegend „in nominaler Gestalt auftritt und syntaktisch nicht integriert ist“. (Burkhardt 2003, 398). Interkulturelle Unterschiede und Ähnlichkeiten im Gebrauch nominaler Anredeformen im Parlament sind einerseits durch das Wesen der öffentlichen Kommunikation bestimmt. Andererseits sind sie durch Unterschiede in spezifischen Praktiken, die unterschiedliche Voraussetzungen und Strategien einschließen, determiniert. Das wohl wichtigste Kennzeichen der parlamentarischen Kommunikation ist „[…] das weitgehend sprachlich realisierte Bestreben, für die jeweiligen Ziele erfolgreich zu werben, [dabei] sind die Akteure darum bemüht, beim Adressaten zum einen Aufmerksamkeit für ihre Belange zu wecken, zum zweiten ihre Meinung durchzusetzen“. (Diekmannshenke 2002, 306). 1 Bspw. wäre die interpersonelle Anrede im akademischen Hochschulbereich in der Ukraine mit Vornamen und dem geknüpftem „du“ unmöglich, obwohl deren Gebrauch in Deutschland unter den Bekannten auch in der Anwesenheit des Dritten gebräuchlich ist: „Ja, Annelies, ich danke dir für deinen interessanten Vortrag“ (Beispiel aus einer Tagung). Das mögliche Äquivalente für die ähnliche Situation in der Ukraine wäre die an Sie-Anrede geknüpfte Kombination „Herr / Frau+Vorname“ : „Herr Stanislav, Sie haben das Wort“ (Auszug aus einer Dissertationsdisputation). 274 Oksana Khrystenko Diesen Zwecken entspricht auch die Wahl von nominalen Anredeformen in der Parlamentskommunikation. Obwohl die häufigsten Anredeformen im deutschen und im ukrainischen Parlament die kollegialen Anreden und Gruppenanreden in unterschiedlicher Kombination sind, welche den „Gleichrangigkeitsanspruch“ akzentuieren (vgl. dazu Burkhardt 2003, 398), sind in der parlamentarischen Kommunikation vielfältige Möglichkeiten der Anredekombination anzutreffen. Die gebräuchlichsten Anredeformen aus dem Korpus der Plenarsitzungen können in Form einer Graphik präsentiert werden: Bestimmte Anredekombinationen gebraucht man häufiger zum indirekten Ausdruck der negativen Bewertung. Dabei verweisen die solche Anreden einschließenden Äußerungen auf bestimmte Fakten, welche einer Kritik unterzogen werden. In der Äußerung »Lieber Herr Fechner, glauben Sie mir: mir scheint, dass man auf eine Landesregierung, die vier Tage lang nichts bemerkt hat, wohl nicht unbedingt stolz sein kann« (Auszug aus der 183. Plenarsitzung) wird bspw. eine scharfe Kritik an die Nichtvornahme von entsprechenden Handlungen nach den Silvesterereignissen 2016 in Köln geübt. Dabei wird präsupponiert, dass der Vortragende die aus dem Ereignis »rechtzeitig gezogenen Konsequenzen« einer Landesregierung lobt. Die »Rechtzeitigkeit« der ergriffenen Maßnahmen und die umstrittene Ansicht des Redners werden also in Frage gestellt. Die nominale Anrede VN+PN 2 , die an das Attribut »liebe / lieber« geknüpft wird, kann man als 2 Vorname + Patronymika Interkulturelle Besonderheiten im Gebrauch nominaler Anredeformen 275 Mittel des Ironieausdrucks auch im ukrainischen Parlament 3 ansehen. So können die an die Attribute »lieber / liebe« geknüpften nominalen Anredeformen ( VN + PN , Herr / Frau + NN ) wegen deren Überfreundlichkeit oft als Mittel der Ironie eingesetzt werden. 4 Im ukrainischen Parlament sind die indirekten expressiven Sprechakte seltener anzutreffen, stattdessen sind die direktiven Sprechhandlungen wie Aufforderungen, Befehle, Bitten sowie die komissiven und expressiven Handlungen wie Drohungen, Klagen oder Tadel viel häufiger. So wird bspw. im ukrainischen Parlament über bestimmte Gesetze abgestimmt, deren Wichtigkeit wegen der häufigen Disziplinverstöße der Abgeordneten vom Parlamentsvorsitzenden mehrmals im Laufe der Sitzung betont wird; dementsprechend wird auf bestimmte v. a. direktive sprachliche Handlungen zur Realisierung des Zwecks „Abstimmung über einen Gesetzentwurf“ zurückgegriffen. Wenn aber im deutschen Parlament die Aufforderungen an die Anredeformen Herr / Frau (H / F) + Nachname (NN) oder H / F+Kollege / Kollegin gebunden sind („Können Sie mal zuhören? Zuhören, Frau Wagenknecht! “, „Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen“), sind diese Handlungen im ukrainischen Parlament an die informelleren sprachlichen Umgangsformen (meistens Nachnamen) geknüpft. Durch die nachdrückliche Wiederholung und die zur Distanzminderung gebrauchten Anredeform wird die Intensität der Illokution gestärkt: „Мосейчук, заспокойтесь! Kолeги заспокойтесь, сядьте на свої місця! “ (Mosejčuk, beruhigen Sie sich! Kollegen, beruhigen Sie sich, nehmen Sie Ihre Plätze ein! ) . Manche informelleren Anreden ( VN + PN , H / F+ VN ) sind trotz ihrer nicht stark ausgeprägten Formalität im ukrainischen Kulturraum ein Ausdruck der Ehrbezeugung - dies betrifft v. a. die Anredekombination H / F+ VN , die wegen der mit ihr verbundenen Taktlosigkeit (vgl. Tomiczek 1997, 208) im Deutschen kaum verwendet wird. 3 »Дорога моя Юліє Володимирівно, якщо ви сказали, що ціна буде 150, то вона буде 150.А якщо буде не 150, то я звернуся до Вас, щоб Ви […] компенсували різницю до держбюджету« (Meine liebe Julija Volodymyrivno, wenn Sie gesagt haben, der Preis beträgt 150, dann wird er 150 betragen. Aber wenn nicht, dann wende ich mich an Sie [mit Ihren Geldmitteln] den Unterschied im Staatshaushalt zu begleichen). Es wird hier eine Kritik an den von Frau Tymoschenko unterzeichneten Gaslieferungsvertrag geübt. 4 Die Verwendung der Kombination »Herr / Frau« mit dem Attribut »liebe / er« an einen Vortragenden im Bundestag kann laut meinen Daten einige Missverständnisse auslösen: »-Liebe Frau Wagenknecht…- Liebe? Bestimmt nicht! - über Ihre Angriffe war ich nicht überrascht« (Auszug aus der 183.Plenarsitzung) 276 Oksana Khrystenko 5. Einige inter- und intrakulturelle Unterschiede im Gebrauch nominaler Anreden an Unbekannte Bestimmte kulturelle Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Ukrainischen bestehen im Gebrauch isolierter nominaler Anreden an Unbekannte. Dabei sind sie in dem präferierten Gebrauch einer Anrede im Deutschen in einem begrenzten situativen Rahmen und dem Fehlen solcher Gebrauchsrestriktionen für das Anredeäquivalent in der ukrainischen Sprache ersichtlich. Das Ukrainische, wo jede Frau mit „пані“ und jeder Mann mit „пан“ angesprochen werden können, verfügt über konventionalisierte Anredeformen, wobei im Gebrauch der möglichen Äquivalenten im Deutschen („Dame / Herr“) einzelne Gebrauchsrestriktionen auftreten - z. B. in der Kellneranrede Hat der Herr schon bestellt? (Kerzel/ Schultze 2004, 942) oder der Anrede im Handel: Was kann ich für Sie tun, junge Dame? Die intrakulturellen Besonderheiten im Gebrauch mancher Anredeformen an Unbekannte auf dem Territorium der Ukraine sind durch den Einfluss des russischen Anredesystems hauptsächlich in östlichen Regionen bedingt. Derzeit konkurrieren folgende Anredeformen in den westlichen Regionen miteinander - „пане / пані“, „добродію / добродійко“ vs. „женщина“ (Frau / Dame), „мужчина“(Herr / Mann), „девушка“ (junge Frau), „молодой человек“ (junger Mann) im Osten der Ukraine. Die umstrittenste Anrede in der östlichen Region ist wohl die Anrede „женщина“, die oft ab einer bestimmten Altersgrenze gebraucht wird und an die kritischen Phasen des Gesprächs wie Warnung, Kritik oder Widerspruch gebunden ist: »Женщина/ женщино, я в цій черзі стояла! « (Frau/ Dame, ich hab in dieser Schlange gestanden! ), »Женщина, тут люди в черзі стоять« (Frau, hier stehen die Leute Schlange). Diese Faktoren tragen wohl dazu bei, dass sogar in der östlichen Region 55,8 % der Befragten diese Anrede als für sich inakzeptabel bezeichnen. Trotzdem ist z.Z. die allmähliche Änderung des Anredegebrauchs in einigen östlichen Regionen der Ukraine festzustellen, was durch die Änderung der dortigen Sprachsituation zugunsten des Gebrauchs der ukrainischen Sprache vor allem unter jungen Leuten bedingt werden kann. Mit der allmählichen Änderung der Sprachsituation ist auch ein hohes Prozent der Akzeptabilität der ursprünglich in westlichen Regionen verbreiteten Anrede (пан / пані ) von Befragten aller Altersstufen in den Ostregionen zu verbinden. Interkulturelle Besonderheiten im Gebrauch nominaler Anredeformen 277 6. Fazit Aus den in diesem Beitrag vorgestellten Untersuchungsergebnissen ist zu schließen, dass die interkulturellen Unterschiede im Anredegebrauch vor allem die Unterschiede in den Anredekonventionen reflektieren. Die situativen Merkmale, Statusrelationen zwischen den Interaktanten sowie die durch historische Faktoren und Sprachkontakte determinierten territorialen Unterschiede spielen eine große Rolle bei der Wahl der entsprechenden Anredeform. Literatur: Betsch, Michael / Berger, Tilman (2009). Anredesysteme. In: Kempgen, Sebastian / Kosta, Peter/ Berger, Tilman / Gutschmidt, Karl (Hrsg.). Die slavischen Sprachen. Ein internationales Handbuch zu ihrer Struktur, ihrer Geschichte und ihrer Erforschung. Bd. 1. Berlin / New York, de Gruyter. 1019-1028. Bohdan, Svitlana (1998). Movnyj etyket ukrajinciv.Tradyciji I sučasnist’.Kyjiv: Ridna mova. Brehmer, Bernhard (2004). Pan oder Patronymikon? Zum System der nominalen Anrede im Ukrainischen. In: Bayer,Markus / Betsch,Michael / Błaszczak"Joanna (Hrsg.). Beiträge zur Europäischen Slavistischen Linguistik (Polyslav) 7. München, 28-37. Burkhardt, Armin (2003). 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Interkulturelle Kommunikation zwischen Deutschen und Polen. In: Bzdęga, Andrzej Z. u. a. (Hrsg.). Studia Germanica Posnaniensia XXIII . Poznań: Wydawnictwo naukowe, 205-213. Kontrastive Aspekte der Dankesforschung 279 Kontrastive Aspekte der Dankesforschung (am Beispiel des multilingualen Mikroblogging-Dienstes Twitter) Svetlana Kraeva The establishment of the new social media has largely influenced the interpersonal communication. The question is how large is that influence and what are the ways for it to reveal in different languages. In this article I try to show the main features of the gratitude expressions functioning in the social media discourse using the pragmatical communication pattern „benefactum - gratitude expression - confirmation“ exemplified by the contrastive analysis of the german and russian user-dialogues of the multilingual online social networking service Twitter. Mit der Etablierung von „social media“ - sozialen Netzwerken und Mikroblogging-Plattformen - kann man eine enorme Übertragung der Kommunikation ins Internet beobachten. Hier stellt sich die Frage, inwieweit die Kommunikation von der Diskursart neuer sozialer Medien bestimmt wird. Das soll anhand der Dialoge aus dem multilingualen Mikroblogging-Dienst Twitter unter pragmalinguistischen Aspekten erforscht werden. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist also situationsbedingte Pragmatik des Dankes im Deutschen und im Russischen im Diskurs der sozialen Medien zu vergleichen. Dankesbezeugungen sind offensichtlich ein bedeutender Teil der zwischenmenschlichen Kommunikation. Dankesbezeugung wird im Situationsrahmen als ein dreigliedriges Handlungsgefüge bezeichnet (Coulmas 1981, 74; Imas 2001, 40), welches aus Benefaktum, Danksagung und Honorierung besteht (Held 1995, 251). Ausführlicher gefasst werden diese Kommunikationsphasen auf dem folgenden Schema mit Einbeziehung pragmatischer Faktoren (s. folgende Abb.): 280 Svetlana Kraeva Der in dem Schema dargestellte Ablauf dient als ein universelles pragmatisches Kommunikationsmuster in der Situation der Dankesbezeugung. Es ist universell sowohl im sprachlichen Sinne als auch im diskursiven: für Deutsch und Russisch, Konversationsdiskurs wie auch Internetdiskurs. Jeder Schritt zerfällt noch in zwei weitere, das sind die Bewertung der Situation (des Bedürfnisses bzw. des Aufwandes bzw. der Notwendigkeit einer weiteren Reaktion) und die unmittelbare sprachliche Ausführung. Während der erste allgemein charakteristisch ist, kann der zweite kulturspezifische Besonderheiten aufweisen. Auf dem ethnographischen Situationskonzept basierend, werden von den Forschern sowohl endogene als auch exogene Faktoren der Sprechsituation erforscht (Hymes 1972, Schütze 1987, Held 1995, Formanowskaja 2007). Die Aufgabe wird dadurch erschwert, dass für den Diskurs der sozialen Medien die typischen Merkmale wie Zeit, Ort, Übertragungskanal verschmelzen und solche Merkmale wie Sender, Empfänger, Form der Mitteilung, Definition der Akteure samt ihrer Erwartungen und Handlungsintentionen an Bedeutung gewinnen. Das Mikroblogging-Plattform Twitter ist ein unifiziertes System, wo alle Nutzer die gleichen Möglichkeiten zur Gestaltung ihrer Message haben: Sie können Kontrastive Aspekte der Dankesforschung 281 Nachrichten mit einem Umfang von höchstens 140 Symbolen verfassen und auf einen bestimmten Satz von Emojis zurückgreifen. Im Weiteren versuche ich zu schildern, wie diese Mittel im Deutschen und im Russischen während jeder der angeführten Phasen der Kommunikation beim Danken verwendet werden. Für die Dankesbezeugung sind drei Typen der Sprechsituationen relevant: 1) private Situation, 2) institutionelle Situation und 3) soziale Situation. Private Sprechsituation setzt Kommunikation aus einem individuellen persönlichen Anlass zwischen Freunden, Bekannten o. ä. voraus: A @nina: @fano alles gute! ! : ) B @fano: @nina danke Nina ❤ A @nina: @fano nachträglich natürlich! 🎂 und im Russischen A @nastya: @ ekaterina с Днём рождения 😘 всего тебе самого афигенного 😚 pic.twitter.com / OKA … (zum Geburtstag… [wünsche] dir alles Tollste) B @ekaterina: @ nastya Настюшечка, благодарю 🌹 ❤❤🌺🌺 (Nastjuschetschka, danke). Institutionelle Sprechsituation kommt zustande, wenn Kommunikation zwischen Fachleuten, Kollegen, Kunden und Service-Diensten der Firmen aus einem betriebsgebundenen Anlass erfolgt: A @jed: Wanted! Wir suchen ein gutes Wordpress-Plugin, mit dem wir Bildergalerien in unseren Blog integrieren können. Wer kennt eins? B @JoZ: @jed nextgen gallery - als Plugin kostenlos und sollte keine wünsche offenlassen. A @ jed: @JoZ Danke für den Tipp. Das werde ich mir anschauen! und im Russischen A @Marat: Ищем в штат разработчика iOS. Талантливого, трудолюбивого, смышленого, знающего! Есть такие? Помогите найти пжл! #Eventica (Suchen einen i OS -Entwickler. Begabt, emsig, gescheit, wissend! Gibt es solche? Bitte helfen uns einen zu finden! ) B @max: @Marat посмотрите на Джинне, http: / / djinni.co (schauen [Sie] mal auf Dschinn) A @Marat: @max спасибо! ! ! (danke! ! ! ). In der sozialen Sprechsituation erfolgt öffentliche Kommunikation mit öffentlichen Seiten bzw. Gruppen (Fangruppen usw.), zwischen unbekannten Personen mit gemeinsamen Interessen zu sozial relevanten Themen, sehr oft ist sie mit Erhöhung der Anzahl von Followers einer Gruppe oder einer Person verbunden: A @FCBayernMan: Danke @FCBayernEN fans… We have crossed 15K followers… You’ll are the best pic.twitter.com / ZR 57wfZcds und im Russischen A @Miha: Своих 3к посвящаю: @nobodykn @MyBeLo @Cat_od @Nodzo @ Dal_Fo (Meine 3K widme an…) B @Cat_od: @Miha благодарю~ (danke). Bei der Erforschung von insgesamt 202 Beispielen für Dankesäußerungen von den deutschen und russischen Twitter-Nutzern ließ sich feststellen, dass in unterschiedlichen Situationstypen verschiedene Anlässe mehr oder weniger aktualisiert werden, wie auch die Weisen, auf welche ein Dank intensiviert wird. Der kontrastive Vergleich zwischen dem Deutschen und dem Russischen hat aber gezeigt, dass es innerhalb der Situationstypen wenig Unterschiede zwischen den zwei Sprachen gibt. Um kulturspezifische typisch deutsche und 282 Svetlana Kraeva typisch russische Merkmale jeder Phase ans Licht zu bringen, ist ein allgemeiner Vergleich nötig. Quantitative Gegenüberstellung von 10 empirisch bestimmten Anlässen zum Dank - Gefallen, Glückwunsch, Information, Kompliment, Lob, Rat, Service, Unterstützung, Vorschlag, Zuwendung - zeigte, dass 4 davon besonders oft eine Dankesbezeugung über Twitter einleiten. Aufgrund der quantitativen Unterschiede (5 Punkte oder mehr) gelten solche Benefakten wie Informationen (20 / 8 - hier und weiter kommt der für das Deutsche relevante Wert zuerst) und Gefallen (30 / 13) als typisch Deutsch, Glückwunsch (23 / 29) und Zuwendung (11 / 26) - als typisch Russisch. Eine breite Anwendung in den Mikrobloggen finden klischeehafte Dankesformeln. Um pragmatische Verblassung von diesen auszugleichen, werden verbale und nonverbale Mittel verwendet, die nationalspezifische Aspekte des Sprachgebrauchs veranschaulichen. Die Struktur der Aussage, die zur Verbalisierung des Dankes dient, kann von 1 bis 6 Elemente enthalten: ein Dankeswort, Hinweis auf EGO, ALTER, Anlass, ein Intensivierungswort oder ein paralinguistisches Intensivierungsmittel. Da solche Elemente wie Hinweis auf den Sprecher selbst, seinen Gesprächspartner oder den Anlass nicht immer in der Aussage aktualisiert werden, kann man denen eine intensivierende Funktion zuschreiben. Am meisten wird in der Dankesbezeugung ein Dankeswort mit einem nonverbalen Intensifikator verwendet. So werden neben den Emotikons und Emojis, die Lächeln oder das Lachen wiedergeben (: ) : 3 😄 😂 ), Herzen (<3 💙 ), Blumen ( 🌹🌺 ), Sterne ( ☆✧ ), Küsschen (X * 😘 ) und Ausrufezeichen gebraucht. Der quantitative Vergleich zeigt, dass die Deutschen genauso häufig auf den Anlass zum Danken (19 / 9) wie auf den Gesprächspartner (19 / 12) hinweisen, wobei die Russen typischerweise Herzen (8 / 15) und Lächeln (29 / 44) beim Danken gebrauchen. Ein für das Deutsche sehr typisches nonverbales Intensivierungsmittel ist das Ausrufezeichen (33 / 12), das auch mehrmals wiederholt in den Aussagen vorkommt. Was die letzte Phase angeht, so können die Dankeserwiderungen generell als eine Annahme, eine Ablehnung (wobei es semantisch um die Abschwächung des Wertes vom Anlass geht), Nullreaktion oder Kombination der Annahme und Abschwächung sowie verbaler und nonverbaler Mittel erfolgen (Kraeva 2015, 190). Die Ablehnung bzw. die Abschwächung wird generell auf verbale oder nonverbale Weise realisiert, wobei die verbale Ausführung als eine Floskel oder als eine den Anlass minimierende Aussage vollzogen werden kann. Die Annahme kann auch entweder als eine verbale oder eine nonverbale Reaktion erfolgen, wobei verbale Formen dieser Art Dankeserwiderung ein Gegendank, eine Floskel oder eine unterstützende Aussage darstellen können. Es wurde festgestellt, dass die Nullreaktion die meist verbreitete allgemeingültige Re- Kontrastive Aspekte der Dankesforschung 283 aktion auf einen Dank ist. Annahme des Dankes durch eine Kombination aus Floskel und Emoji oder Emotikon: Gern geschehen. : ) / пажалста ❤❤ (bitte) sowie aus Gegendank und Emotikon : danke dir. ; )/ тебе спасибо: 3 bzw. eine Floskel: gerne/ пожалуйста sind universale Arten der Dankeserwiderung bei Twitter. Die Ablehnung des Dankes durch eine Floskel mit graphischen Intensivierungsmitteln ой не стоит) / не за что с: (keine Ursache, nichts zu danken) ist nur für das Russische typisch, es wurden keine Bespiele der Benefaktumsabschwächung als Dankeserwiderung unter den deutschsprachigen Nutzern registriert. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass ab und zu andere Reaktionen auf den Dank in den Twitter-Dialogen aktualisiert werden. Als Fazit des durchgeführten kontrastiven Vergleichs der Dankesbezeugungen im Deutschen und im Russischen bei der Kommunikation im sozialen Netzwerk Twitter ergeben sich folgende Punkte: 1) Auf der strukturellen Ebene weisen deutsche und russische Dankesbezeugungen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Das bezieht sich sowohl auf sprachliche Einheiten (Anreden, Hinweise auf den Wert der benefaktiven Handlung oder der Person) als auch auf paralinguistische Elemente (Ausrufezeichen, Emotikons, Emojis), die in den Dialogen zu finden sind. 2) Auf der pragmalinguistischen Ebene wurden nationalspezifische Unterschiede registriert, die sich in sprachlich signifikanten Anlässen zum Dank (Information und Gefallen für Deutsch, Glückwunsch und Zuwendung für Russisch) sowie verbalen und nonverbalen Intensivierungsmitteln (Ausrufezeichen, Anlass, Gesprächspartner im Deutschen, Lächeln und Herzen im Russischen) ausdrücken lassen. 3) Aus dem situativen Vergleich hat sich ein Funktionsunterschied ergeben: Für die russischen Nutzer scheint Twitter eher der Unterhaltung zu dienen, während die deutschen Nutzer das eher als ein Instrument des sozialen Engagements im Netz und als wichtiges fachliches Kommunikationsinstrument ansehen. Literatur Coulmas, Florian (1981). Poison to Your Soul. Thanks and Apologies Contrastively Viewed. In: Coulmas, Florian (Ed.) Conversational routine: Explorations in standardized communication situations and prepatterned speech. The Hague: Mouton, 69-91. Formanowskaja, Natalja (2007). Sprachliche Interaktion: Kommunikation und Pragmatik. Moskau: Ikar. (hrsg. auf Russisch) 284 Svetlana Kraeva Held, Gudrun (1995). Verbale Höflichkeit: Studien zur linguistischen Theorienbildung und empirische Untersuchung zum Sprachverhalten französischer und italienischer Jugendlicher in Bitt- und Dankessituationen. Tübingen: Narr. Hymes, Dell (1972). Toward Ethnographies of Communication. In: Giglioli, Pier P. (Ed.) Language and social context: selected readings. Harmondsworth: Penguin, 21-44. Imas, Alexandra (2001). Dankesbezeugungen in der deutschen Sprache: Am Beispiel von literarischen und lexikographischen Werken aus dem XVII - XX Jh.: Diss. zur Erlangung des Doktorgrades. Twer. (hrsg. auf Russisch) Kraeva, Svetlana (2015). Pragmalinguistische Eigenschaften vom Sprechmuster „Dank“: Diss. zur Erlangung des Doktorgrades. Tscheljabinsk. (hrsg. auf Russisch) Schütze, Fritz (1987). Situation. In: Ammon, Ulrich / Dittmar, Norbert / Mattheier, Klaus J. (Eds.) Sociolinguistics. An International Handbook of the Science of Language and Society. Berlin / New York: de Gruyter, 157-164. Angewandte Studien Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive 287 Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive Eva Neuland / Benjamin Könning / Elisa Wessels The paper presents the theoretical and methodological outlines of the Wuppertaler DFG-supported research project in the intersection of verbal politeness and youth language. Does the young generation still know and use the conventional meaning and expressions of politeness or do different styles of politeness exist according to general conventions and to the young generation and variing corresponding to contexts, recipients and modality? Some of our data from questionnaires and from corpus analysis of spontaneous peer communication offer innovative insights concerning impoliteness, especially face threatening acts like verbal insults and swearwords. Young people often use ftas which conventionally indicate impoliteness in a humorous and joking modality which finally strengthens as sort of cooperative rudeness the solidarity of the peer group. 1. Zur Relevanz des Faktors Generation Fast immer, wenn in Öffentlichkeit vom Verlust sprachlichen Benehmens, von respektlosem Umgangston und sprachlicher Unhöflichkeit die Rede ist, werden Jugendliche dafür verantwortlich gemacht. Obwohl diese Argumentationsfigur in der Öffentlichkeit so verbreitet ist, hat sie doch in der sprachwissenschaftlichen Forschung - zumindest im deutschsprachigen Raum - noch kaum Niederschlag gefunden. Diesem bezeichnenden Widerspruch wollen wir mit einem Einblick in unsere laufenden Forschungen zum Umgang von Jugendlichen mit sprachlicher Höflichkeit und Unhöflichkeit nachgehen. 1.1 Kurzer Rückblick Anhaltspunkte für einen kulturgeschichtlichen Rückblick sind vornehmlich der pragmatischen Sprach- und Kulturgeschichte zur Anstandsliteratur und zu Konversationslehren des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu 288 Eva Neuland / Benjamin Könning / Elisa Wessels entnehmen. Anleitungen zu einem „guten Ton“ und zu „feinen Sitten“ richten sich, so Linke (1988), oft an junge Leute aus dem gehobenen Bürgertum und mahnen sie, auf Sprechstil und Wortwahl zu achten, jugendsprachlichen Wortschatz zu vermeiden (damals v. a. Wertungsausdrücke wie feudal, famos, patent, superbe und kolossal ), Gesprächsvorrechte Älterer und höher gestellter Personen zu achten, emotionale Themen zu meiden (v. a. Politik und Religion), nicht zu unterbrechen, nicht zu laut zu lachen oder besser nur zu lächeln. Dies spiegelt zugleich Konversationsideale und Höflichkeitsvorstellungen der damaligen Zeit (vgl. dazu Krumrey 1984). 1.2 „Knigge für junge Leute von heute“ Ähnliche Belehrungen lassen sich bis in die heutige Anstandsliteratur verfolgen, wobei sich allerdings die Vorstellungen sprachlicher Etikette durchaus gewandelt haben. So präsentiert ein „Jugend-Knigge“ für junge Leute von heute (Hanisch 3. Aufl. 2014) in einem schmalen Kapitel: „Kommunikation und Konfliktvermeidung“ (S. 56 ff.) eine Liste von zu vermeidenden Wörtern: dazu rechnen „Straßenwörter“ (Mist, aber Hallo, meine Fresse) , Schwamm- und Füllwörter, Mode- und Fäkalwörter (cool, in und out) , sog. „Unwörter“. Gegenüber der reichhaltigen „not to do-Liste“ befindet sich auf einer „to do-Liste“ nur der Hinweis auf „die Zauberwörter“ bitte und danke. Abb.1: „Zauberwörter nach Hanisch“ (2014, 64) Viele Etikette-Ratgeber für die Zielgruppe von Jugendlichen enthalten allerdings keinerlei Hinweise für den sprachlichen Umgang mit Höflichkeit. Grundsätzlich bietet solche rezeptologische Literatur vorschnelle und oberflächliche Lösungen Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive 289 für ein durchaus grundlegendes Problem des gesellschaftlichen Umgangs, das mit dem kulturellen Wandel von Vorstellungen und Ausdrucksformen von Höflichkeit und Respekt bzw. Unhöflichkeit und Respektlosigkeit zusammenhängt und für fortwährende intergenerationelle Friktionen und Konflikte sorgt 1 . 1.3 Generationelle Differenzen von (Un)Höflichkeitsvorstellungen? Denn die Vorstellungen von Höflichkeit und gutem Ton haben sich ja nicht nur gewandelt, sie weisen vielmehr auch aufschlussreiche Ambivalenzen auf: Und zwar wird Unhöflichkeit heute - in gewissen Kontexten - besondere Prestigefunktion zugeschrieben. Dies zeigt sich etwa an dem zum Kultfilm avancierten: „Fuck ju göhte“, dessen neu-grobianistischer, cooler Umgangston im Klassenraum nicht etwa Empörung, sondern zugleich auch viel Zustimmung bis Begeisterung ausgelöst hat. Bei aller Klischeehaftigkeit vermittelt der Film doch die Botschaft, dass sich der Lehrer Zecki gerade durch seinen völlig unprofessionellen, unhöflichen, aber eben coolen Kommunikationsstil - entgegen aller Handreichungen für die Lehrersprache im Unterricht - den Respekt der Jugendlichen erwirbt. Die Frage liegt nahe, ob Höflichkeit und Respekt heute für Jugendliche noch bedeutungsvolle Kategorien darstellen und ob wir nicht von grundlegenden Bedeutungsdifferenzen von Höflichkeit und Unhöflichkeit, von Respekt und Respektlosigkeit zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ausgehen müssen. 2 Damit sind zugleich einige wesentliche Fragestellungen unseres Forschungsprojekts angesprochen. 2. Schnittstellen der Jugendsprachforschung und der Höflichkeitsforschung Das Projekt ist an der Schnittstelle von Jugendsprachforschung und Höflichkeitsforschung angesiedelt. Dazu seien allerdings an dieser Stelle nur einige kurze Bemerkungen erlaubt. Diese möchten wir unter die drei folgenden Unterpunkte subsummieren: 1 Vgl. dazu z. B. Cherubim / Neuland 2011. 2 Zur Bedeutung des Faktors Generation für die Sprachforschung vgl. Neuland 2015. 290 Eva Neuland / Benjamin Könning / Elisa Wessels Abb.2: Schnittstellen der Jugendsprach- und der Höflichkeitsforschung 2.1 Interaktionskontexte Gegenüber für allgemeingültig angesehenen strukturellen Merkmalen spielt die Berücksichtigung pragmatischer und kommunikativer Spezifika und stilistischer Mittel in unterschiedlichen Interaktionskontexten für die linguistische Jugendsprachforschung wie Höflichkeitsforschung eine immer größere Rolle. Dies zeigt sich in den aktuell gebräuchlichen Bezeichnungen jugendtypische Sprachstile einerseits (u. a. Neuland 2008) und Höflichkeitsstile andererseits (Lüger 2002, Ehrhardt/ Neuland/ Yamashita 2011). 2.2 Adressatenorientierung Im Interaktionskontext wird der Adressatenorientierung und damit verbunden der Adressatendifferenzierung von Sprachgebrauchsweisen in beiden Forschungsbereichen eine zunehmend größere Bedeutung beigemessen. Dies führt auch zur Unterscheidung intra- und intergenerationeller Sprechweisen (vgl. dazu Neuland 2013) und weist der Beziehungsarbeit in beiden Forschungsfeldern eine wichtige Rolle zu. Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive 291 2.3 Sprachgebrauch im kulturellen Wandel Der kulturelle Wandel manifestiert sich in Veränderungen von Einstellungen und Ausdrucksweisen sowohl von jugendtypischen Sprachstilen als auch von Höflichkeitsstilen. Ein solcher Wandel kann sich im gesellschaftlich-historischen wie im individuell-biographischen Zeitverlauf vollziehen. Besonders die beiden erstgenannten Aspekte spielen auch in unserem Projekt eine wichtige Rolle, während der kulturelle Wandel eher mittelbar erschlossen werden kann. Das Projekt kann mithin für beide Forschungsbereiche weiterführende Erkenntnisse vermitteln. 3. Wuppertaler Forschungsprojekt zu Gebrauchs- und Verständnisweisen sprachlicher Höflichkeit bei Jugendlichen 3.1 Zentrale Fragestellungen Aus den zentralen Fragestellungen des Projekts seien hier nur die folgenden zu Verständnis- und Gebrauchsweisen sprachlicher Höflichkeit hervorgehoben: • Sind die sprachlichen Kategorien Höflichkeit und Unhöflichkeit im Sprachbewusstsein von Jugendlichen präsent, und welche Bedeutung haben diese für die Jugendlichen im Umgang mit Lehrkräften und Eltern sowie mit Gleichaltrigen? • Welche sprachlichen Ausdrucksformen gebrauchen Jugendliche im Umgang mit älteren und mit gleichaltrigen Adressaten in verschiedenen höflichkeitsrelevanten Interaktions- und Sprachhandlungskontexten? • Weiterhin strebt das Projekt eine soziolinguistische Differenzierung der Ergebnisse im Hinblick auf alters- und geschlechtstypische Unterschiede und die Auswirkungen verschiedener Schulformen sowie deutscher und nicht-deutscher Muttersprachen an. Diese Daten müssen hier noch zurückgestellt werden. 3.2 Forschungskonzept Das Projekt arbeitet mit einer differenzierten Methodenkombination, die ein breites Datenspektrum eröffnet. Neben den beiden Fragebögen für Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrkräfte, die Aufschluss über die Verständnisweisen der Probanden geben, werden verschiedene Beobachtungsverfahren des spontanen Sprachgebrauchs Jugendlicher mit unterschiedlichen Formalitätsgraden (Unterrichts- und Pausengespräche) eingesetzt sowie Reflexionsgespräche, aus denen sowohl Daten zu Verständniswie zu Gebrauchsweisen gewonnen werden. 292 Eva Neuland / Benjamin Könning / Elisa Wessels 4. Ausgewählte Befunde zu Höflichkeit und Unhöflichkeit 4.1 Zum Begriffsverständnis bei SchülerInnen und Lehrkräften Die Daten aus den Fragebögen für Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrkräfte zum Begriffsverständnis von Höflichkeit und Unhöflichkeit unterscheiden sich allerdings durchaus bedeutsam: Tab.1: Bedeutungsangaben von „Höflichkeit“ durch Schüler [N=981 6 ] und Lehrkräfte [N=96] Tab.2: Beurteilung sprachlicher Höflichkeit durch Schülerinnen und Schüler [N=1029] Tab.3: Beurteilung der Wichtigkeit sprachlicher Höflichkeit durch Lehrkräfte [N=103] 3 Signifikanzniveau des Vergleichs der unabhängigen Stichproben, wobei die mit Sternchen gekennzeichneten Werte signifikante (*) bzw. hochsignifikante (**) Mittelwertunterschiede kennzeichnen. 4 Mittelwert auf einer Skala von -3 (Ablehnung) bis +3 (Zustimmung). 5 Standardabweichung (Maß für die durchschnittliche Streuung um den Mittelwert). 6 Es werden bei geschlossenen Antwortformaten diejenigen Fälle angegeben, für die bei jeder der Auswahlvariablen eine Antwort vorliegt. Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive 293 Höflichkeit wird demnach von den jugendlichen Probanden weitgehend mit Respekt und gutem Benehmen gleichgesetzt und vor allem für wichtig erachtet, keinesfalls für unecht , überflüssig oder spießig . Den Daten zufolge spielt eine gewählte Ausdrucksweise für die Schülerinnen und Schüler signifikant eine größere Rolle als für die befragten Lehrkräfte. In beiden Probandengruppen steht die Etikette an letzter Stelle der Auswahlantworten, die aus Vorstudien erhoben wurden. Obwohl vielen Jugendlichen der Begriff der Etikette kaum mehr geläufig scheint, wie manche Nachfragen während des Ausfüllens der Fragebögen ergaben. Bei Beispielen für Unhöflichkeit kommen Jugendliche, aber auch die befragten Lehrkräfte sehr schnell auf das Thema: Beleidigungen. So antworten Lehrkräfte auf die Frage nach Erwartungen an höfliche Umgangsformen bei Schülerinnen und Schülern: Vermeiden von Beleidigungen . Einen weiteren Befund entnehmen wir der Frage, ob Lehrkräfte Veränderungen im Höflichkeitsverhalten von Schülerinnen und Schülern heute bemerken. Da heißt es: Der Ton untereinander ist rauer geworden, Beleidigungen haben zugenommen, und zwar mit einer relativ hohen Frequenz. Die große Relevanz, die dem Alltagsbegriff Beleidigungen zugeschrieben wird, ist uns Anlass, uns wissenschaftlich genauer mit dieser Kategorie zu beschäftigen. 4.2 Beleidigung-- eine linguistische Kategorie? Ein Blick in deutschsprachige Fachlexika belehrt uns jedoch zunächst eines Besseren: Im Deutschen scheint Beleidigung durchaus keine linguistische Kategorie zu sein. Fehlanzeigen finden wir in den Fachlexika von Abraham (1988), Knobloch (1988), Bußmann (2008), Metzler - Lexikon Sprache hgg. von Glück / Rödel (2016). Obwohl sich im Letztgenannten ein Verweis auf die Kategorie Schimpfwort findet, muss festgehalten werden, dass Schimpfwort entgegen dem Alltagverständnis linguistisch gesehen kein Synonym für Beleidigung ist. Schimpfwörter können zwar lexikalische Besetzungen von Beleidigungen sein, diese können aber durchaus ohne Schimpfwörter auskommen. Beleidigungen erscheinen dem gegenüber eher als ein Sprechakt mit Gewichtung der Illokution bei vorsätzlichen, bewussten Beleidigungen und mit der Gewichtung auf Perlokution auch bei fehlender Intention. Allerdings scheint auch die Kategorie des face theatening acts (fta) bzw. des face insulting acts nicht generell zuzutreffen, denn Beleidigungen erweisen sich in hohem Maße als adressatenabhängig: Dies wiederum zeigt sich erst in der Interaktionsfolge responsiver Sprechhandlungen wie Zurückweisung, Gegenbeleidigung, metasprachlicher Kommentar u. a. Zu einer Beleidigung gehört sozusagen immer jemand, der sich beleidigt fühlt, wenn der intentionale Sprechakt gelingen soll. 294 Eva Neuland / Benjamin Könning / Elisa Wessels Zu diesen Überlegungen lassen sich wichtige Impulse aus der englischsprachigen Forschungsliteratur zur Kategorie insults ableiten. Bereits Ackerman nahm in der Enzyklopädie of Language and Linguistics (1994, 1691f) unter dem Stichwort ritual insults die folgenden Unterscheidungen vor: • Public Insults Among Friends and Peers: Friendship Masked as Antagonism • Public Insults Between Enemy: Antagonism • Private Insults Between Friends: Insiders’ Jokes. Seit den Untersuchungen von Labov (1972) sind rituelle Beleidigungen als Sprachspiele unter Jugendlichen bekannt, in denen es hauptsächlich um verbale Kreativität und Kunstfertigkeit nach dem Topping -Verfahren geht. Im deutschen Sprachraum hatten Kotthoff (1996) und Deppermann / Schmidt (2001) auf die Bedeutung von Scherzkommunikation aufmerksam gemacht. Auch zum Aspekt von nicht-ritueller Unhöflichkeit gibt es ein breiteres Forschungsspektrum in der angloamerikanischen Fachliteratur, z. B. Bousfield / Locher (2008), Terkourafi (2008), Culpeper (2005), Culpeper / Bousfield / Wichmann (2003). Dabei spielen die Kategorien: Sprecherintention und Hörerverständnis bzw. der illokutive und der perlokutive Anteil von ftas eine wesentliche Rolle. Kienpointner (1997), Culpeper (2005) und Terkourafi (2008) legen Ansätze zur Klassifikation von Formen der Unhöflichkeit vor, die allerdings noch weiterer empirischer Validierung v. a. im Kontext von Lebenswelten Jugendlicher bedürfen. Culpeper / Bousfield / Wichmann (2003, 1546) definieren Unhöflichkeit als „communicative strategies designed to attack face, and thereby cause social conflict and disharmony.“ Culpeper erweitert diese Definition um den Aspekt des Hörerverständnisses: „Impoliteness comes about when: (1) the speaker communicates faceattack intentionally, or (2) the hearer perceives and / or constructs behavior as intentionally faceattacking, or a combination of (1) and (2)“. (Culpeper 2005, 38) Mit der Adressatenorientierung ist zugleich eine starke Kontextgebundenheit verbunden: Beleidigungen im Sinne gesichtsbedrohender bzw. -verletzender Sprechhandlungen treten in den seltensten Fällen als isolierte Sprechakte auf. Wie unsere Daten noch zeigen werden (vgl. Kap. 4.4), werden sie oft durch bestimmte Kontexte ausgelöst, z. B. bei der Ablehnung einer Bitte. Verbunden damit ist wiederum die Modalität, die darüber entscheidet, ob Äußerungen wie: „du Blödmann du“ aggressive Attacken oder aber freundschaftliche Frotzeleien sind. Auch der von Terkourafi angeführte Aspekt der (Un)Konventionalität in gegebenen Kontexten (2008, 70), der zu markierten Fällen von Unhöflichkeit und rudeness führen kann, ist nicht zu vernachlässigen. Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive 295 Es ist aber durchaus fraglich, ob derartige ftas für Jugendliche Kooperationsverstösse darstellen, wie die folgende Bestimmung von rudeness als Gegenpol zu politeness nach Kienpointner es nahelegen würde: „Rudeness is a kind of prototypically non-cooperative or competitive communicative behaviour which destabilises the personal relationships of the interacting individuals […]“. (Kienpointner 1997: 259f; vgl. auch Kienpointner 2008) Demgegenüber unterscheidet er aber auch Formen von cooperative rudeness, darunter als simulated rudeness: mock impoliteness, ritual insults und ironic rudeness (1997: 261 ff.), die für viele Beispiele in unserem Korpus angenommen werden können. Jedenfalls scheinen Beleidigungen im Sinne von Locher / Watts (2005) als diskursives Konzept und Form der Beziehungsarbeit. Halten wir an dieser Stelle fest: Eine präzisere wissenschaftliche Beschäftigung muss Kategorien wie: Adressatenrelevanz, Kontextgebundenheit, Modalität, Kooperativität und Konventionalität in authentischen Gesprächskontexten berücksichtigen, ganz wesentlich aber auch kulturspezifische Traditionen und soziolinguistische Differenzierungen, besonders von Geschlecht, Alter und Status. Und nicht zuletzt geben Beleidigungen lexikalisch auch Aufschluss über die mit ihnen verbundenen sozialen Wertungen, wie wir noch zeigen werden. 4.3 Sichtweisen zu Beleidigungen von Schülerinnen und Schülern sowie von Lehrkräften Die Bezeichnungen Beleidigung bzw. Beleidigen sehen wir als relevante Ethnokategorien im Zusammenhang mit Unhöflichkeit für Schülerinnen und Schüler sowie auch für Lehrkräfte an und werden in diesem Sinne von uns weiterverwendet. Beide Probandengruppen bestätigen die Verbindung von Unhöflichkeit und Beleidigung auf einer Skala von -3 bis +3, wobei die Gleichsetzung mit: missachten bei den Lehrkräften signifikant häufiger ausfällt: Tab. 4: Bedeutung von Unhöflichkeit für Schülerinnen und Schüler [N=1104] sowie für Lehrkräfte [N=104] 296 Eva Neuland / Benjamin Könning / Elisa Wessels Auch die Auswertungen freier Antworten aus Schüler- und Lehrsicht scheinen diesen Befund zu bestätigen. Auf die Frage danach, mit welchen Ausdrucksformen sie sich schon einmal unhöflich gegenüber Gleichaltrigen geäußert haben, geben immerhin fast ein Viertel der Schülerinnen und Schüler metasprachlich Beleidigungen an. Als freie Beispiele für Beleidigungen gegenüber Gleichaltrigen führen sie hauptsächlich eine Reihe von Schimpfwörtern an: • spastie einfach so (Schüler, 11. Jgsst., Berufskolleg) • Beim Streit. z. B. Schlampe, Hure… (Schülerin, 8. Jgsst., Realschule) • du Opfer einfach so aus Spaß (Schüler, 8. Jgsst. Gymnasium) Einen ersten Hinweis auf Interaktionskontexte verschafft uns die Frage nach Anlässen bzw. Kontexten, die bei Jugendlichen schon einmal zu Beleidigungen geführt haben. Hier wird hauptsächlich und gleichrangig angegeben: im Streit und aus Spaß, sodann folgt: einfach so, wegen Kleinigkeiten. Tab. 5: Anlässe für Beleidigungen von Gleichaltrigen [N=235] 7 „Fälle“ meint die Anzahl der Probanden[n], die auf die Frage geantwortet haben. Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive 297 Die Häufigkeitsverteilung der als Beispiele genannten Ausdrücke ergibt folgendes Bild: 8 Tab. 6: Rangfolge der Schimpfwörter von Gleichaltrigen [N=235] und von Erwachsenen [N=184] gegenüber Jugendlichen Ersten Tendenzen der Auswertung von freien Antworten aus 250 Fragebögen nach sind innerhalb der Jugendlichen deutliche geschlechts- und auch altersspezifische Unterschiede bei der Angabe von Beleidigungen gegenüber Gleichaltrigen zu verzeichnen, auf deren Darstellung wir jedoch an dieser Stelle verzichten müssen. Auffällig erscheint schließlich, dass die meisten Ausdrücke der Jugendlichen keineswegs sonderlich innovativ oder gar exotisch erscheinen und keinen so starken generationellen Wandel widerspiegeln, wie es manche mediale Inszenierung von Jugendsprachen glauben machen möchten. Versuchen wir, die genannten Beleidigungen generationell zu differenzieren, so ergibt sich das folgende hypothetische Spektrum: 8 Es ergeben sich Prozentzahlen von über 100% der Probanden, da ein Proband mehrere Antworten geben konnte. 298 Eva Neuland / Benjamin Könning / Elisa Wessels Abb. 3: Beispiele für Beleidigungen durch Gleichaltrige und Erwachsene aus der Sicht von Jugendlichen Fragt man schließlich nach Situationen für Beleidigungen unter Gleichaltrigen, so geben die Jugendlichen vor allem Sport, Busfahrten und körperliche Kollisionen an, etwa auf dem Schulflur. • Bei einem Fußballspiel, wenn man was falsch macht (Schüler, 9. Jgsst., Hauptschule) • Im Bus: jemand wollte einen Platz und hat sich dafür vorgedrängelt und beleidigt . (Schülerin, 9. Jgsst., Realschule) • Wenn ich aus versehen gegen jemanden geknallt bin und die jenige direkt beleidigt hat . (Schülerin, 10. Jgsst., Gymnansium) Werfen wir noch einen Blick auf die Angaben von Lehrkräften. Unsere Daten enthalten auch Hinweise auf kulturkritische Ansichten von Lehrkräften, das Höflichkeitsverhalten habe sich verändert und zwar hauptsächlich zum Negativen ( „Ja. Die Schüler beleidigen sich häufiger, dabei empfinden sie die Beleidigungen als ‚normale Umgangssprache‘“; Lehrerin, Gymnasium). Demgegenüber erwähnen aber auch ca. ein Viertel der Lehrkräfte in diesem Zusammenhang, dass Ausdrücke von ihnen selbst als unhöflich wahrgenommen und von den Schülern eben nicht als unhöflich empfunden werden. Die Beispielangaben der Lehrkräfte selbst manifestieren mit dem Status verbundene soziale Wertungen, und zwar im Hinblick auf negative Leistungen, unsoziales Verhalten und Generationendifferenz (du kleiner …) . 40 % der Schüler geben an, Erwachsene niemals zu beleidigen. Im Gegensatz hierzu geben fast alle Schülerinnen und Schülern an, Gleichaltrige zu beleidigen. Auch hierbei sind Effekte der sozialen Erwünschtheit bei der Beantwortung eines Fragebogens stets mit zu bedenken. Etwa die Hälfte der Lehrkräfte gibt in den Fragebögen an, sich schon unhöflich gegenüber Schüler und Schülerinnen verhalten zu haben und zwar hauptsächlich in Situationen von Ohnmacht, Stress, Überforderung bzw. bei Unterrichtsstörungen und Nebenkommunikationen. Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive 299 • Ohnmacht angesichts ununterbrochener Regelbrechung innerhalb mehrerer aufeinander folgender Stunden (Lehrerin, Gymnasium) • aus Wut, Verzweiflung (Lehrer, Realschule) • Ja, wenn ein Kind permanent sich und die anderen stört (Lehrerin, Realschule) • bei fortwährendem Stören, nach dreisten Bemerkungen der Schüler (Lehrerin, Gymnasium) In diesem Zusammenhang ist folgende frei formulierte Äußerung aus der Fragebogenerhebung der Jugendlichen aufschlussreich: Wenn die mit mir höflich reden bin ich genauso höflich (Schüler, Berufskolleg) Höflichkeit ist ein relationales Phänomen aller Interaktionspartner. 4.4 Unhöflichkeiten in intragenerationellen Ausdrucksformen und Interaktions-kontexten Unsere authentischen Spontandaten informeller Gespräche unter Jugendlichen während ihrer Schulpausen bestätigen den frequenten Gebrauch von pejorativen Ausdrücken und belegen, dass die Jugendlichen von ihnen selbst als Beleidigungen kategorisierte Ausdrücke (s. Kap. 4.3) in ihrem authentischen Sprachgebrauch als eine kommunikative Ressource nutzen, mittels derer sie multifunktional und kontextabhängig gesprächsorganisatorische Aufgaben erfüllen und kommunikative Effekte bewirken. Gleichzeitig leisten sie damit Identitäts- und Beziehungsarbeit. In unserem Datenkorpus lassen sich zum jetzigen Stand der Auswertung folgende Formate beobachten: Vokative Zuschreibungen, im Sinne von „Du X! “, prädikative Zuschreibungen, die sich in der Form „Du bist X! “ paraphrasieren lassen sowie imperativische Strukturen, die lexikalisch zu meist mit „Halt deine Fresse! “, „Halt deine Klappe! “ oder „Halts Maul! “ besetzt sind. Abb. 4: Formate im Korpus 300 Eva Neuland / Benjamin Könning / Elisa Wessels Daneben sind unterschiedliche Modalitäten von Ernsthaftigkeit und Scherz zu unterscheiden. Für Jugendliche spielt die Scherzkommunikation eine wichtige Rolle 9 , wie auch die folgenden Beispiele zeigen werden. Im folgenden Beispiel (1) MISSGEBURTEN nutzen die Jugendlichen vokative Formen gleichzeitig sowohl als lexikalische Besetzung ihrer Begrüßungsbzw. Verabschiedungsaktivität als auch als Index für die Aushandlung sozialer Zugehörigkeit. So weist bereits Goffman auf die besondere Stellung ritueller Gruß- und Verabschiedungsformen für die Aktivierung sozialer Rollen hin: „Begrüßungen dienen natürlich dazu, Rollen zu klären und festzulegen, die die Teilnehmer während der Gesprächsgelegenheit einnehmen, und die Teilnehmer zu diesen Rollen zu verpflichten; während Verabschiedungen die Begegnung eindeutig beenden lassen“. (Goffman 1967 / 1991, 49) Im Beispiel (1) MISSGEBURTEN laufen die beiden Schülerinnen Janina ( JA ) und Paula ( PA ) 10 über den Sportplatz der Schule und begrüßen eine SchülerInnengruppe, die ihnen entgegen kommt: Janina versucht zunächst in Zeile 015 die Aufmerksamkeit der Gruppe mittels der primären Interjektion „<<F> UAY: : : ; >“ zu gewinnen, die sie der Gruppe laut entgegenruft, um sie daraufhin als „IH: R M: ISSGEBURTEN,“ (Z. 017) zu adressieren. In unseren Spontandaten finden wir auch weniger ritualisierte Fälle, in denen die Jugendlichen die potentiell gesichtsbedrohenden Beleidigungsformen nutzen. Im folgenden Beispiel (2) NERVENSÄGE steht der Schüler Dustin ( DU ) vor den Schultoiletten auf dem Schulflur. Zuvor hat er das Audiogerät von der 9 Vgl. dazu Kotthoff 1996, Deppermann / Schmidt 2001, Neuland i. E.2017. 10 Alle Namen wurden anonymisiert. Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive 301 Fokusperson 11 übernommen. Er startet eine ‚Performance‘ und erweitert die Gesprächssituation um ein imaginäres Publikum, an das er seine Darbietung richtet (vgl. Goffman 1979: 5). In Zeile 045 entdeckt er Johanna ( JO ), die über den Flur auf ihn zukommt: Als Teil seiner ‚Performance‘ kündigt Dustin Johanna seinem Publikum namentlich an: „JETZ KOMMT HIER JOHANNA: : ! BUL! DUA: : N,“ (Z. 045). Er initiiert eine Frotzelaktivität, indem er sie provokativ als „KLEIN ABER TROTZDEM: : NE ORDENTLICHE: : : NERVENSÄGE (.) MANCHMA: L,“ (Z. 046) beschreibt. Seine abwertende Beschreibung von Johanna als kleine, aber nervige Person funktioniert einerseits als Aufforderung, in seine initiierte Frotzelaktivität einzusteigen. Andererseits birgt sie, trotz der post-expansiven, mitigierenden Modalisierung „MANCHMA: L“ (Z. 046) eine potentielle Gesichtsbedrohung. Johanna erfüllt zwar die von Dustin konditionell relevant gesetzte Reaktion auf seine Frotzelei, behandelt dabei jedoch die potentielle Gesichtsbedrohung als eine Angriffsaktivität, indem sie in Zeile 047 mit einer imperativischen Beleidigungsform „HALT DEINE FRESSE? “ reagiert. Dennoch läuft die Interaktion weiter, indem Dustin seine ‚Performance‘ fortführt und Johannas Reaktion als einen Beleg seiner Beschreibung von ihr kommentiert: „UND SIE KANN AUCH=JA HAM SIE GEHÖRT; “ (Z. 048). Johanna wiederholt in stilisierter Form ihre vorherige Reaktion (Z. 049), die wiederum von Dustin als eine weitere Bestätigung verstanden wird (Z. 050). Auch in diesem Beispiel nutzen die Jugendlichen konventionelle Formen der Beleidigung als interaktionale Ressource, die sie multifunktional und kontextsensitiv einsetzen. Dustins Angriff in Zeile 046 funktioniert als eine Aufforderung an Johanna, in eine Frotzelaktivität einzusteigen. Johanna setzt die imperativische Form von „Beleidigung“ in Zeile 047 als ablehnende Reaktion auf Dustins 11 Pro Aufnahmezyklus haben wir jeweils zwei bis drei Fokuspersonen ausgewählt, die für die Aufnahmegeräte zuständig waren. 302 Eva Neuland / Benjamin Könning / Elisa Wessels provokative Frotzelei ein. Gleichzeitig verhandeln Dustin und Johanna - so wie die Jugendlichen in den Beispielen (1) und (2) - auf diese Art und Weise ihre soziale Beziehung zueinander. Auch wenn Johanna - erkennbar an ihrer Reaktion - Dustins prädikative „Beleidigung“ von ihr als intendierte Gesichtsverletzung rezipiert und ihm mittels des Imperativs „Halt deine Fresse! “ seinen Verstoß anzeigt, eskaliert die Situation in ihrer frotzelnden Rahmung nicht. So scheint auch hier eine jugendtypische ‚Wir‘-Identität im Sinne von „friendship masked as antagonism“ (Ackermann 1994, 1691f) aufgebaut zu werden. Unsere authentischen Sprachgebrauchsdaten bestätigen den frequenten Gebrauch der Jugendlichen von Ausdrucksweisen, die von ihnen selbst in unseren metasprachlichen Daten als beleidigend und gesichtsverletzend beschrieben werden. Doch zeichnet sich bei kontextsensitiver Analyse ab, dass sie die verschiedenen Ausdrucksweisen in intragenerationellen Gesprächssituationen durchaus kooperativ als eine interaktionale Ressource nutzen, um neben gesprächsorganisatorischen Aufgaben Identität und Zugehörigkeit anzuzeigen. Dabei wird der potentielle gesichtsbedrohende Gehalt der beleidigenden Äußerung stets kontext- und adressatenspezifisch verhandelt und kann letztlich zu gruppenverstärkenden und vergemeinschaftenden Zwecken eingesetzt werden. 5. Ausblick Der bisherige Auswertungsstand der Projektdaten ermöglicht bereits Antworten auf die zentralen Fragestellungen und vermittelt vorläufige Bestätigungen der Hypothesen von der Bedeutung sprachlicher (Un)Höflichkeit für Jugendliche und von der Existenz jugendtypischer Verständnis- und Gebrauchsweisen sprachlicher (Un)Höflichkeit, bei denen die Scherzmodalität und generationelle Adressatenorientierung eine entscheidende Rolle spielen. Damit ergeben sich neue Erkenntnisse für die linguistische Jugendsprachwie Höflichkeitsforschung. Die generationelle Perspektive eröffnet schließlich Erklärungsmöglichkeiten für manche Konflikte zwischen Jugendlichen und Erwachsenen. Umfangreichere Auswertungen der erhobenen Daten und ihre soziolinguistischen Differenzierungen von Geschlecht und Alter, Schulform und sprachlicher Herkunft werden weiteren Aufschluss über die generationelle Perspektive bringen. Zum Umgang mit (Un)Höflichkeit in generationeller Perspektive 303 Literatur Abraham, Werner (1988). Terminologie zur neueren Linguistik. 3. Aufl. Tübingen: Niemyer. Ackerman, R. (1994). Insult, Ritual. In: Asher, R. E./ Simpson, J. M. Y. (Hrsg.) The Encyclopedia of Language and Linguistics. 3 Band. Oxford: Pergamon Press, 1691-1692. Androutsopoulos, Jannis (1998): Deutsche Jugendsprache. Untersuchungen zu ihren Strukturen und Funktionen. Frankfurt a. M.: Lang. Bousfield, Derek / Locher, Miriam (Hrsg.) (2008). Impoliteness in Language. Studies on its Interplay with Power in Theory and Practice. New York: de Gruyter. Brown, Penelope / Levinson, Stephen (1987). Politeness. Some Universals in Language Usage. Cambridge: University Press. Bußmann, Hadumod (Hrsg.) (2008). Lexikon der Sprachwissenschaft. 4. Aufl. Stuttgart: Kröner. Cherubim, Dieter / Neuland, Eva (2011): Aggression und Unhöflichkeit bei Jugendlichen heute. In: Dies. (Hrsg.). Sprachliche Höflichkeit. 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Towards a Unified Theory of Politeness, Impoliteness, and Rudeness. In: Bousfield, Derek / Locher, Miriam (Hrsg.), 45-74. Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 307 Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden Zur Kommunikation von positiver Höflichkeit und Informalität in Eröffnungs- und Beendigungsphasen Helga Kotthoff How parents and teachers manage their relationship during parent-teacher consultations in school is the central focus of this article. Brown and Levinson’s well-known model of face work is the starting point. However, this speech act model is integrated into a sequential analysis of the ongoing talk which leads to a contextualization of some claims about positive politeness within the model. We will take a close look at opening and closing sequences of the teachers’ consultations and identify strategies of deformalizing ongoing interaction. Anthropological-linguistic theories of (in)formality are combined here with politeness research. The article aims at broadening the empirical basis of politeness research, which Ehrhardt, Neuland and Yamashita (2011, 18) see as a desideratum. 1. Zu den LehrerIn-Eltern-Sprechstunden Dynamiken in LehrerIn-Eltern-Sprechstundengesprächen sind erst seit einigen Jahren in den Fokus der deutschsprachigen Gesprächsforschung gerückt (Kotthoff 2012, Wegner 2016, Mundwiler 2017). LehrerInnen und Eltern tauschen Perspektiven auf den Schüler / die Schülerin miteinander aus, gleichen sie ab oder lassen sie auch konkurrieren. Beide Seiten führen sich dabei im Bezug auf das Kind als kompetent vor (etablieren in der Interaktion die Identität der guten Mutter oder guten Lehrerin) und als moralisch im Sinne des Kindes agierend (Baker / Keogh 1997) - beispielsweise in fragmentarischen Geschichten aus den jeweiligen Institutionen Schule und Elternhaus (Kotthoff 2015a), wobei auf Elternseite Differenzen in dieser schulkompatiblen Selbstdarstellung deutlich werden. Mitgliedschaftskategorisierungen (im Sinne von Sacks 1992) „guten“ und „schlechten“ Schüler-Seins spielen in den Gesprächen eine wichtige Rolle 308 Helga Kotthoff und es zeigt sich eine hohe Dichte an konversationellen Bewertungsaktivitäten (Mazeland / Berenst 2008). In den Gesprächen gehen Leistungsbeschreibungen in unterschiedliche Formate ein (Narrationen, Beratungssequenzen, argumentativen Sequenzen), an deren Ko-Konstruktion sich viele Eltern beteiligen - aber nicht alle unter Darbietung eigener Kompetenzen (Kotthoff 2017). Unterschiede in diskursiven schulbezogenen Passungen von Eltern und Lehrpersonen treten somit hervor. Mit dem deutschen Schulsystem wenig vertraute Eltern und solche, die ihre materiellen und bildungsmäßigen Ressourcen nicht in den Vordergrund bringen können (z. B. mangels Vorhandenseins) ko-konstruieren mit den Lehrperson mehr Asymmetrie auf eigene Kosten 1 , indem sie beispielsweise kaum an Leistungsdiagnosen und an Argumentationen teilnehmen, wie erste Analysen zeigen (z. B. Kotthoff 2014). Die mehr oder weniger ausgeprägten kulturellen Passungen im interinstitutionellen Schul-Diskurs verweisen auf sprach-, milieu- und institutionenbezogene Wissensbestände (Differenzen im „common ground“,), Ressourcendifferenzen und unterschiedliche Ausformungen von „kulturellem Kapital“ (Bourdieu 1977, Lareau 2003, Heller 2012). Das dem Aufsatz zugrunde liegende Projekt verfügt z. Z. über 41 Gesprächsaufnahmen schulischer Sprechstunden aus allen Schultypen (Grund-, Haupt-, Förder-, Real- und Oberschulen). Für einige Aktivitätenformate (narrative, argumentative, beratende) konnten bereits spezifische Möglichkeiten für elterliche Beteiligung herausgearbeitet werden. Ausgangspunkt der Studie ist somit die Annahme, dass Elternverhalten in den Gesprächen graduell unterschiedlich schulorientiert ist. Diese Thematik steht im vorliegenden Artikel allerdings nicht im Zentrum, sondern die informelle Gesprächsgestaltung, die auch Wegner (2015) und Mundwiler (2017) für die von ihnen untersuchten Gespräche feststellen. Hauser und Mundwiler (2015, 10) konstatieren in der Vielzahl praxisorientierter Publikationen zu schulischen Elterngesprächen einen stark problemzentrierten Ausgangspunkt und sehen dies auch als Indiz dafür, dass vor allem für Lehramtsstudierende die Elternarbeit als Unsicherheitsfaktor gilt. Buchtitel wie „Schwierige Elterngespräche erfolgreich meistern“ (Roggenkamp et al. 2014) sprechen eine deutliche Sprache. Damit mögen die beiderseitigen Bemühungen um eine informelle Gesprächsgestaltung zusammenhängen. 1 Wobei nicht unmittelbar „Kosten“ entstehen und erst recht nicht monokausal. Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 309 2. Höflichkeit, „face work“ und Beziehungsgestaltung Obwohl zu dem in der Pragmatik stark beachteten Modell von Brown und Levinson (1978; 1987, in der Folge B&L) inzwischen eine kaum überschaubare Vielfalt an Auseinandersetzungen, Gegenentwürfen und Ergänzungen entstanden ist (auch in diesem Band zu finden), will ich es später als einen Ausgangspunkt für eigene Analysen institutioneller Beziehungsgestaltung verwenden. Sie hatten Goffmans Image-Konzept („Face“ wurde im Deutschen mit „Image“ oder „Gesicht“ übersetzt, siehe Holly 1979) für linguistische Analysen von Höflichkeit fruchtbar gemacht, indem sie „face work“ und Höflichkeit gleichgesetzt haben. Ausgehend von Goffmans positiven und negativen „face-wants“ (Gesichts-Bedürfnissen) fassen sie zusammen, dass jeder Mensch mit zwei grundsätzlichen Bedürfnissen ausgestattet sei, „[…] the want to be unimpeded and the want to be approved“ (B / L 1978, 63). Nach Goffman richtet sich Verhalten an diesen menschlichen Grundbedürfnissen aus. B&L versuchen zu zeigen, dass auch Sprachgebrauch als Handeln in sozialen Beziehungen diesen beiden „face-wants“ gerecht werden muss und dass es sich bezüglich des grundsätzlichen Vorkommens um Universalien handelt. 2 Vom negativen Gesicht leiten sie alle Formen der Indirektheit ab und alle Höflichkeitsformen von „non-imposition“ (1978, 66). Handlungen, die den Handlungsspielraum des Hörers / der Hörerin behindern, wie z. B. Drohungen, Aufforderungen und Befehle, können durch zahlreiche Modalisierungsstrategien abgemildert werden. Das eigene negative face kann sich z. B. durch Danksagungen, Entschuldigungen oder Verpflichtungen bedroht fühlen. Negative Höflichkeit ist typisch für Distanzbeziehungen. „The outputs are all forms useful in general for social distancing (just as positive politeness realizations are forms for minimizing social distance); they are therefore likely to be used whenever a speaker wants to put a social brake on to the course of his interaction“. (Brown / Levinson 1987, 130) Das positive Image ist hingegen dasjenige, welches eine Person an Bestätigung, Verständnis, Sympathie und Liebesbekundung von einer anderen Person erhält und an sie gibt. B&L schreiben, dass es in vertrauten Beziehungen mehr Aktivitäten der positiven Höflichkeit gebe. Positive Höflichkeit schaffe Solidarität und Vertrautheit. Hohe Vertrautheitsgrade könnten signalisiert werden über eine Zurücknahme von negativer Höflichkeit und eine Zunahme an Strategien 2 Es gab neben diesem sehr einflussreichen Modell auch noch andere, in der Pragmatik weniger aufgegriffene Ansätze, die Ehrhardt 2002 vergleichend diskutiert. 310 Helga Kotthoff positiver Höflichkeit und könnten auch so hergestellt werden. Durch Kritik und Beschwerde kann ich das positive Gesicht meines Gegenübers angreifen, durch Grüßen, Komplimente, Scherzen und Anrede mit Spitznamen kann ich es bestätigen. Allerdings liegt vor allem innerhalb des Spektrums der positiven Höflichkeit ein erheblicher Spielraum. Ausgedehnte Grußrituale leisten eine erheblich andere Beziehungsgestaltung als Anreden mit möglicherweise despektierlichen Spitznamen. Auch bei Komplimenten spielen Bezugspunkte und Stilebenen eine Rolle. Sie entwickeln eine Taxonomie für die Ausführung potentiell imagebedrohlicher Aktivitäten (1987, 69). Die erste Handlungsalternative eines Sprechers besteht darin, die imagebedrohliche Sprechhandlung auszuführen oder zu unterlassen. Hat man sich für die Ausführung entschieden, kann weiter alterniert werden, ob man sie „on record“ oder „off record“ (unverblümt oder „verklausuliert“) ausführt. „Off record“-Strategien verlangen komplexe Implikaturen, da ihnen keine klare Intention zugeordnet werden kann (1987, 211). Indirektheit sei die wichtigste „off record“-Strategie der Höflichkeit. 3 Der Sprecher lässt sich die Möglichkeit defensiver Interpretationen offen. Wird die Sprechaktivität „on record“ realisiert, so kann dies ohne „redress“ (Abfederung, Abschwächung, Modalisierung, Einbettung) geschehen oder mit „redress“. Die Strategien der Abfederung der potentiellen Gesichtsbedrohung werden, wie gesagt, in solche der positiven und der negativen Höflichkeit unterteilt. Face-work verlangt Interpretations- und Inferenzleistungen und basiert insofern auf einer unterstellten Verhaltensrationalität (Ehrhardt 2002). B&L 1987 und Brown 2005 geben drei unabhängige und kultursensitive Variablen an, die den Grad an Höflichkeit beeinflussen: • die soziale Distanz (D) zwischen Sprecherin und Hörerin, • die relative Macht (P) der Sprecherin im Bezug auf die Hörerin, • das Gewicht der Zumutung in der Kultur, welches Größe / Schwere / Ausmaß der involvierten Handlung betrifft (1987, 74 ff.). Alle drei Dimensionen sind in den schulischen Elterngesprächen von Belang. Die Beziehung ist vom Ausgangspunkt her distanziert. Jedoch lässt sich die Distanz interaktional verringern. Die relative Macht der Institutionenvertreter(innen) ist höher, jedoch kann dies von beiden Seiten heruntergespielt werden. Die Zumutung kann bei kritischen Stellungnahmen hoch sein. Jedoch lässt sich dies im Laufe der Interaktion durch besondere Beziehungsarbeit ausgleichen. B&L meinen, je geringer der Distanziertheitsgrad oder das Statusgefälle zwischen 3 In der Forschung wurde gezeigt, dass Indirektheit insgesamt gar nicht so unmittelbar mit Höflichkeit zusammenhängt wie B&L meinen (Held 1995). Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 311 Personen sei, umso eher verzichteten sie auf negative Höflichkeiten und umso eher übten sie positive Höflichkeiten aus. Die neuere Höflichkeitsdiskursforschung würde eher sagen, dass sich der Distanziertheitsgrad aushandeln lässt (dazu später mehr). Alle drei kultursensitiven Variablen werden in ihrer konkreten Bedeutung konversationell ausgehandelt. Höflichkeitsabstufungen seien sowohl auf der Dominanz-Unterordnungsachse als auch auf der Distanz-Intimitätsachse ansiedelbar (was hier später bedeutsam wird). Bei B&L wird ein zweistufiges Modell der Beziehungsgestaltung von Distanz vs. Vertrautheit entworfen ( off record und / oder negative Höflichkeit = Distanz und positive Höflichkeit = Vertrautheit). Es ist die Frage, ob dies ausreicht, um die sozialdiagnostische Potenz von Interaktionen damit zu fassen. Einige wichtige Kritikpunkte und Erweiterungen des Modells seien hier vorgetragen. U. a. Kasper 4 (1990, 203) kritisiert unter Bezug auf andere Autoren den unidirektionalen Effekt von sozialen Faktoren auf den Grad an Höflichkeit, welcher der Dialektik von vorkommunikativen Beziehungsvorgaben und kommunikativer Beziehungsaushandlung nicht gerecht wird: „Despite efforts to consider the compounded impact of macrosocial factors on politeness enactment, the preceding discussion remains unsatisfactory in that it suggests an unidirectional effect of social factors on politeness styles, thereby failing to reconstruct the dialectic relationship between communicative activity and social relationship. As pointed out by Brown and Fraser (1979) and Kochman (1984), for instance, social attributes such as power and distance are themselves constituted by and subject to change in ongoing interaction. This thesis has been empirically supported, among others, by Aronsson and Sätterlund-Larsson (1987), who demonstrate that social distance is a dynamic and negotiable property in doctor-patient discourse. Likewise Herbert and Straight argue that complimenting in American society does not so much presuppose solidarity as construct it (1989, 43), in other words it is not the case that previously earned social entitlements are simply acted upon but that entitlements are mutually conveyed in conversational (as well as other types of) interaction. In ihrem Vorwort zu der Ausgabe von 1987 legen B&L einige Bedenken dar, die sie selbst bezüglich der 1978 zum ersten Mal publizierten Arbeit inzwischen entwickelt hatten.“ Sie schreiben, ihre Theorie der Höflichkeit arbeite mit der klassischen Form einer „Hypothese-Deduktions-Methode“ (1987, 11). Der analytische Apparat wird bereits vor der Auseinandersetzung mit dem empirischen Sprachmaterial entwickelt; das Sprachmaterial soll die vorab definierten Kategorien belegen. 4 Sehr ähnlich lautet auch die Kritik von Werkhofer (1992, 157). 312 Helga Kotthoff Sie ließen sich also nicht darauf ein, ihre Kategorien möglicherweise in Auseinandersetzung mit dem Sprachmaterial zu revidieren, wie es für qualitative Herangehensweisen wünschenswert wäre. Sie schreiben zwar, sie hätten sich zu Unrecht auf eine intuitive „means-ends“-Beziehung zwischen kommunikativen Zielen und Äußerungstypen verlassen. Aber der Einbezug von Höflichkeitsgesichtspunkten in Interaktionsanalysen wurde später von anderen Forscher- Innen versucht (z. B. Lüger 1992, Kotthoff 1998, Eelen 2001, Watts 2003, Arundale 2010). Lüger (1992) zeigt beispielsweise an einem Gesprächsausschnitt, wie Ablehnungshandlungen nach sich wiederholenden Angeboten immer gravierender werden. Es wird deutlich, dass man Analysen von Gesichtspolitik nicht auf der Ebene isolierter Sprechakte betreiben sollte. Auch der Bezug zu Goffmans Interessen an der Interaktionsordnung ist in den letzten Jahren verstärkt in die Debatte geraten. Als Soziologe geht Goffman davon aus, dass sich die gesellschaftliche Ordnung sowohl in der Interaktion zu erkennen gibt, als auch historisch in ihr begründet liegt (Knoblauch 1994). Im Zusammenhang mit der Erforschung der Interaktionsordnung hat Goffman sich auch Fragen der Darstellung normativer Zuweisungsakte gewidmet, die Implikationen beinhalten für die gesellschaftlichen Plätze der Individuen (mehr dazu im 9. Kapitel von Kotthoff 1998 und in Watts 2003). Goffmans Interessen bleiben grundsätzlich soziologischer als die von B&L. Arundale (2010) und Haugh / Bargiella-Chiapini (2010) haben die konversationellen Aushandlungspotentiale von „face“ stärker herausgearbeitet als Goffman selbst und B&L und sie in Interaktionsstudien eingebunden. Da wir Beziehungsgestaltung und Höflichkeit nicht gleichsetzen wollen, soll auf Konzeptionen eingegangen werden, die zwischen Höflichkeit und anderen Arten von „relational work“ (Beziehungsarbeit, Beziehungsgestaltung) unterscheiden und auch nicht jede Form von Informalität und Intimität als Strategie der positiven Höflichkeit fassen. Höflichkeit wird z. B. aufgegeben, wenn informelle, therapeutische Ziele in der Interaktion die Oberhand gewinnen. 5 Wenn Vergnügen und Unterhaltung deutlich für alle Beteiligten die Hauptfunktionen der Konversation ausmachen, kann ebenfalls der Rahmen der Höflichkeit verlassen werden, sowohl in beziehungsfördernder als auch beziehungsbedrohlicher Hinsicht. Das wissenschaftliche Modell von Höflichkeit (etisch) unterscheidet sich erheblich von emischen Konzeptionen 6 , was schon Haberland und Paul (1996, 31) 5 Es gibt dafür Ethnotermini wie „Klartext reden“, die durchaus nicht nur negativ charakterisiert sind. 6 Unter Rückgriff auf die Unterscheidung von Konzepten erster und zweiter Ordnung bei Alfred Schütz werden die emischen Konzepte oft auch Höflichkeit 1 und die etischen Konzepte 2. Ordnung Höflichkeit 2 genannt, z. B. bei Watts 2003 und Locher 2004. Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 313 in ihrer Dreiteilung von 1. elementarer Höflichkeit, 2. kodifizierter Höflichkeit und 3. reflektierter Höflichkeit zu berücksichtigen versuchten. Die „elementare Höflichkeit“ beinhaltet die Berücksichtigung gebräuchlicher Verhaltensstandards und wird den Interagierenden als Höflichkeit in der Regel nicht bewusst (gehört also nicht zu ihrem emischen Konzept). Auch Ehrhardt (2002, 34) fasst Höflichkeit im Unterschied zu sonstiger Beziehungsgestaltung als auf konventionellen Verfahren fußend, die man kennt. Ehrhardt, Neuland und Yamashita (2011, 14) ordnen der ersten Ebene die eines „impliziten Wissens“ zu. Die zweite Ebene schließt eng an Etikette-Regeln an (wäre auch von Laien explizierbar) und die dritte Ebene liegt jenseits von Normen in ausgesuchter und bemerkbarer Beziehungsgestaltung. Die letzten beiden gehören zu Alltagskonzepten von Höflichkeit. Watts (1989, 136) unterscheidet „politic verbal behavior“ und „marked politeness“; letzteres charakterisiert er folgendermaßen: „[…] explicitly marked, conventionally interpretable subset of politic verbal behavior responsible for the smooth functioning of socio-communicative interaction and the consequent production of well-formed discourse within open social groups characterized by elaborated speech codes. It will thus include highly ritualized, formulaic behavior, indirect speech strategies and conventionalized linguistic strategies for saving and maintaining face“. Watts (2003) und Locher (2004) arbeiten Grundüberlegungen zur Unterscheidung einer beziehungsorientierten „relational politics“ und einer wissensbasierten Höflichkeit im engeren Sinne weiter aus und binden sie in Interaktionen ein. Wir versuchen in diesem Artikel, das Höflichkeitsmodell von B&L in eine Gesprächsanalyse und anthropologisch-linguistische Analysen einzubinden. 3. (In)formalität Verschiedene Sprach- und KulturwissenschaftlerInnen beobachten in westlichen Gesellschaften einen Trend zur Informalisierung. Linke (2000) thematisiert eine Abnahme der formellen Varianten kommunikativer Praktiken und sprachlicher Umgangsformen, die als soziale und kulturelle Veränderungen zeichenhaft manifest werden und dem bewussten Verfügungswissen der Sprecherinnen und Sprecher unter Umständen noch gar nicht zugehören. Ihr Beitrag untersucht Informalisierung am Beispiel des Wandels von Begrüßungs-, Abschieds- und Anredeformen. Selbst in Geschäften kann man heute die Angestellten mit „Hallo“ begrüßen und sich mit „Tschüss“ verabschieden. Eigene Beobachtungen zeigen seit 20 Jahren, dass Studierende den Raum der mündlichen Prüfung 314 Helga Kotthoff des Staatsexamens fast immer mit „Tschüss“ verlassen; die ProfessorInnen äußern gleichfalls mehr die informelle Formel „Tschüss“ als die die formelle „Auf Wiedersehen“. Verschiedene Hypothesen zur Erklärung der beobachtbaren Verhaltensänderungen werden diskutiert, so der Einfluss von Jugendkulturen, ein generelles Einebnen sozialer Distanzunterschiede 7 , die Unterstellung von Solidarität auch in der institutionellen Kommunikation. 8 Um uns dem Phänomenbereich später in der institutionellen Eltern-Lehrperson-Kommunikation nähern zu können, greifen wir auf Irvines (1979) vier Dimensionen von diskursiver Formalität zurück, die sie hauptsächlich an Diskursen der Wolof herausgearbeitet hat: „1. Increased code switching - which has to do with the addition of extra rules or conventions to the codes that organize behavior in a social setting“. (Irvine 1979, 774) Damit ist gemeint, dass Interagierende auf hochsprachliche Register und / oder die Sprache der Institution umsteigen. Stilistiken grenzen schon seit langer Zeit saloppe oder gar vulgäre, niedrige Stilebenen und gehobene voneinander ab (z. B. Fleischer / Michel / Starke 1993, 209), hauptsächlich auf lexikalischer Ebene. „2. Code Consistency-or formalization that involves co-occurrence rules“. (Irvine 1979, 774) Für ein verwendetes formelles Register herrschen hohe Konsistenzanforderungen. Ein Richter hat beispielsweise seine fachorientierte Standardsprache mit der komplexen Syntax und der spezifischen juristischen Semantik in der Urteilsverkündung durchgängig beizubehalten. Hier berühren sich Ansätze der Textstilistik (Sandig 2006, 363-411) zur Kohäsion und Kohärenz von Stilmerkmalen mit Irvines kulturanthropologischem Befund. „3. Invoking Positional Identities - or the social identities of participants in a social gathering“. (Irvine 1979, 775) Die Interagierenden begegnen sich in formellen Interaktionen beispielsweise nur als Ärztin und Patientin und nicht auch als Mütter von Kindern aus demselben Kindergarten. Die Frage der Begegnung in sozialen Identitäten ist in den schulischen Elterngesprächen von besonderem Belang und wir können schon andeuten, dass sich die Mütter, Väter und Lehrpersonen oftmals nicht nur in ihren positionalen Identitäten begegnen. 7 Bei effektivem Fortbestand dieser Unterschiede. 8 Beim Wandel der Textsorte Todesanzeige in Richtung Entformalisierung kommen auch noch Faktoren einer Anzeige von Originalität und der Gestaltung persönlicher Betroffenheit ins Spiel (Linke 2001). Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 315 “4. Emergence of a Central Situational Focus-concerns the ways in which a main focus of attention, a dominant mutual engagement that encompasses all persons present is differentiated from side involvements. There are various aspects of formality use in social-cultural situations”. (Irvine 1979, 779) Es leuchtet ein, dass ein institutionelles Gespräch, bei dem der institutionelle Fokus erhalten bleibt (z. B. Projektentwicklung unter Mitarbeitern), formeller ist als eines, in dem man auch zu Themen wie Frisur, Freizeit oder Musikgeschmack abschweift. Durch thematisches Abschweifen in solche Gefilde wird das Gespräch persönlicher. Nach B&L geht Entformalisierung mit einer Zunahme an Strategien positiver Gesichtsarbeit einher (1987, 120 f.). Hier ein Ausschnitt aus ihrem Katalog: • Attend to H’s interests, needs, wants You look sad. Can I do anything? • Use solidarity in-group identity markers Heh, mate, can you lend me a dollar? ’Güey, ¿me haces un paro? ’* • Be optimistic I’ll just come along, if you don’t mind. • Include both speaker (S) and hearer (H) in activity If we help each other, I guess, we’ll both sink or swim in this course. • Offer or promise If you wash the dishes, I’ll vacuum the floor. • Exaggerate interest in H and his interests That’s a nice haircut you got; where did you get it? • Avoid Disagreement Yes, it’s rather long; not short certainly. • Joke Wow, that’s a whopper! Hier muss zunächst wieder B&Ls eigene Kritik aktiviert werden, dass wir es entgegen ihrem Modell nie mit gradlinigen „means-ends“-Beziehungen zu tun 316 Helga Kotthoff haben. Kumpelhafte Anreden oder Scherze sind nur unter sehr spezifischen Bedingungen Strategien von solidarischer Beziehungspolitik (mehr dazu in Kotthoff 1996), keinesfalls immer. Die meisten oben genannten Strategien finden sich in den Elterngesprächen (aber keine „in-group identity markers“). 4. Die Gesprächseröffnungen Goffman (1974, 118-119) zählt Begrüßungen und Verabschiedungen zu den rituellen Klammern von Gesprächen: „Um den Sachverhalt allgemeiner auszudrücken: Grüße bezeichnen den Übergang zu einem Zustand erhöhter, Abschiede den Übergang zu einem Zustand verminderter Zugänglichkeit. Es ist deshalb folgende sowohl Begrüßungen als Abschiede umfassende Definition möglich: sie sind rituelle Kundgaben, die einen Wechsel der Zugänglichkeitsverhältnisse markieren“. Gesprächsanfänge und -abschlüsse sind in vielerlei Art routinisiert; ebenso zeigen sich aber in diesen Routinen gesellschaftlich verfestigte Standardlösungen für eine Gesprächsbeendigung. Mit ihrer gesichtspolitischen Gestaltung gehören sie grundsätzlich in den Bereich der positiven Höflichkeit. Auch bei Goffman (1955) werden sie als Form des positiven face-work gesehen. Er sieht die in unserer Kultur üblichen Formen eines solchen Austauschs als reduzierte Form des Austauschs von Geschenken, wie er in vielen traditionelleren Gesellschaften zu Beginn eines Besuchs vorgeschrieben ist (Auer 2017). Ihre primäre Funktion ist die eines Rituals, durch das sich die Beteiligten ihrer positiven Einstellung zueinander und daher ihrer sozialen Beziehung versichern. Der bestätigende Austausch ist also eine kleine Zeremonie, in der Einer etwas gibt (z. B. einen Gruß oder die Hand) und die Andere etwas zurückgibt oder sich zumindest bedankt. Daran zeigt sich, dass Goffmans Ritualbegriff wesentlich weiter gefasst ist als der umgangssprachliche; alle gesichtswahrenden Aktivitäten haben für ihn rituellen Charakter, nicht nur routinemäßige Handlungen (vgl. dazu Auer 2013, Kap. 14). Oberzaucher (2015) fasst folgende vier Komponenten als zentral an Gesprächseröffnungen beteiligt zusammen: • Der rituelle Austausch • Einnehmen der Raumkonfiguration • Allmähliche Identitätsstiftung • Hinführung zum ersten Thema Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 317 Ad 1. Beispiel 1 Elterngespräch 4: Grundschule - Emil: Lehrerin (L), Mutter (M) In Deutschland kann die Grußformel „guten Tag“ auf „Tag“ reduziert werden. Zusammen mit der Familiennamensanrede der Distanz zeigt die initiative Begrüßung der Mutter eher eine formelle Realisierung; die Lehrerin grüßt mit der informellen Formelvariante zurück. Dieser Stil ist verbreitet. Auer (2017, im Druck) schreibt, unter Fremden sei der Einstieg in eine fokussierte Interaktion nur unter eingeschränkten Bedingungen möglich. Der wichtigste Fall seien Kontaktaufnahmen mit Menschen, die nicht als Individuen, sondern in ihrer institutionellen Rolle für den Kontakt mit Unbekannten zur Verfügung stehen müssen. Die fokussierte Interaktion sei dann auf diese Rolle beschränkt: die Verkäuferin im Backshop dürfe in ihrer beruflichen Rolle angesprochen, nicht ohne Weiteres aber in ein Gespräch über das Kinoprogramm verwickelt werden, ein Polizist darf nach dem Weg gefragt werden, nicht aber nach dem Gesundheitszustand seiner Kinder, eine Angestellte im Reisebüro darf nach günstigen Urlaubsangeboten, aber nicht nach den Details der Prüfungsordnung für die Promotion in Linguistik gefragt werden, etc. In die Gesprächseröffnung ist ihr Zweck mehr oder weniger eingeschrieben. In privaten Gesprächen erwarten wir ausgedehnte Erkundigungen nach dem Wohlergehen, in institutionellen Gesprächen hingegen ein schnelles Zur-Sache- Kommen. Wie wir in Beispiel 1 oben lesen, setzt sich die in den Raum kommende Interagierende sofort auf den dafür zur Verfügung stehenden Platz (ad 2 oben), über dessen Anordnung wir leider nichts wissen, da nur Audioaufnahmen zur Verfügung stehen. Wir wissen auch nicht, ob ein Handschlag den Formelaustausch begleitet hat. Beispiel 4 enthält die Fortsetzung. 318 Helga Kotthoff Ad 3 und 4 Mutter und Lehrerin begegnen sich genau in diesen institutionell zentralen Identitäten. Sie werden nach dem Floskelaustausch sofort relevant gesetzt. Allerdings geschieht etwas mehr. Beispiel 2 Elterngespräch 34a: Gymnasium - Viktor: Lehrer (L), Mutter (M) Der Lehrer bekundet Freude darüber, die Mutter kennenzulernen, welche die Mutter erwidert (02). Eine solche Sequenz der Freudekundgabe ist nicht obligatorisch und kommuniziert insofern eine auffällige Beziehungspolitik und herausgestellte positive Höflichkeit. Auch mit der in den Zeilen 04 und 05 zum Ausdruck gebrachte Freude darüber, dass Schüler Viktor nun in seiner Klasse ist, weil er ein fröhlicher Junge sei, kommuniziert der Lehrer zwar seine positionale Identität, gleichzeitig kann auch diese Kundgabe von Lob oder Kompliment als eine Praktik von positiver Höflichkeit eingeordnet werden. Die Mutter bestätigt nur knapp (07), was den Lehrer zu einer nochmaligen Elizitierung herausfordert. 9 Dann fragt er die Mutter nach ihrer Einschätzung des Einlebens ihres Sohnes Viktor (11, 12). Er setzt die positionale Identität der Mutter als Mutter von Schüler V. mit seinem Beobachtungsspektrum relevant. Der institutionelle Hauptzweck des Gesprächs, der Perspektivenabgleich im Bezug auf das Kind, 9 Pillet-Shore (2012) fand in ihren amerikanischen Schulsprechstundendaten auf Lehrerlob am Kind hin herunterspielende Reaktionen der Eltern und diskutiert diese im Rahmen der Konversationsanalyse als (Dis)präferenzdynamik. Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 319 wurde eingeleitet. Die Mutter weiß Positives zu berichten und tut dies in einer Art Aufzählung (13-20). 5. Typologie der Gesprächseinstiege Nach Durchsicht der 41 Gespräche haben Isabella Bandner 10 und ich vier Typen klassifiziert: 1. unauffällige Eröffnungen (14) 2. humoristische Einstiege (14) 3. Einstiege mit Kode-Inkonsistenzen (5) 4. Eröffnungen mit thematischer Abweichung (8) 5.1 Unauffällige Eröffnungen Datum 2 firmiert unter den unauffälligen Eröffnungen. Der Lehrer kommt nach trotzdem auffälligen Beziehungsaktivitäten schnell zur Sache und positioniert die Mutter auch als eine Ko-Expertin, die ihren Sohn und sein Verhältnis zur Schule zu beobachten weiß (dazu Ackermann 2014). Damit stellt er Symmetrie her (so unauffällig sind die Eröffnungen also doch nicht). In anderen Eröffnungen dieses Typs ergreifen auch Elternteile die thematische Initiative. Beispiel 3 Elterngespräch 13: Werkrealschule - Enver: Lehrerin (L), Vater (M) 10 Ihr sei als Hilfskraft des Forschungsprojekts an dieser Stelle herzlich gedankt. 320 Helga Kotthoff Der Vater wählt direkt nach der Begrüßung mit mehreren Fragen zum Leistungsstand seines Sohnes einen institutionell-thematischen Einstieg (1, 3, 4, 5, 6). Die Lehrerin antwortet jedoch nicht sofort, sondern äußert, dass sie den Besuch des Vaters erwartet habe. Dieser unterbricht in Zeile 12 die von der Lehrerin begonnene weil-Konstruktion. Er komme jedes Jahr und wolle nur allgemeine Informationen. Die Lehrerin klärt dann den notenbezogenen Kenntnisstand des Vaters. Insgesamt finden sich 14 unauffällige Eröffnungen im derzeitigen Korpus. In diesen variiert aber der Einsatz positiver Höflichkeitsstrategien. Einige verlaufen sehr themenzentriert (wie Bsp 3), andere enthalten ausgedehnte Beziehungsaktivitäten (wie Bsp 2) 5.2 Humoristische Einstiege Gleichfalls bei 14 Gesprächen wird der Einstieg humoristisch gestaltet, indem eine Partei auf Situationsaspekte eingeht, die außerhalb des institutionellen Rahmens liegen und mit einer leichten Schrägheit Heiterkeit erzeugen (Adelswärt 1989). So sucht in einer Aufnahme die Lehrerin ostentativ in einem Durcheinander von Kommentarkarten über die SchülerInnen die Karte für das anstehende Gespräch und bewitzelt dieses Durcheinander. Die Mutter witzelt solidarisch mit. Selbstbewitzelungen wirken distanzabbauend (Holmes 2000), was für ein möglicherweise heikles Gespräch funktional wäre. In einer anderen fragt die Mutter, ob die Lehrerin ein „Päuschen“ gehabt habe, weil noch die Kaffeetasse auf dem Tisch steht. Auch darüber lachen beide Anwesende gemeinsam. Ein humoristischer Einstieg lockert den erwartbaren Ablauf auf. Nach B&L gehört „joking“ zu den Strategien von positiver Höflichkeit. In den vorliegenden Daten kann man das tatsächlich so sehen 11 . Beide Seiten fokussieren Nebenaspekte der Situation und gewinnen ihnen eine leicht schräge Bedeutung ab. Holmes (2000) sieht das Scherzen in institutionellen Kontexten vor allem als ein soziales Schmiermittel. 11 Kotthoff 1996 diskutiert im Bezug auf Scherzen die Bandbreite von höflich bis unhöflich. Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 321 Beispiel 4 Elterngespräch 31: Gymnasium - Sabina (S), Lehrerin (L), Mutter (M), Vater (V) Nach der leider nicht mitgeschnittenen Begrüßung weist die Lehrerin den Eltern das Sofa in ihrem Büro als Sitzgelegenheit zu. Der Vater fokussiert mit sehr bewegter Intonation, jetzt werde es „bequem“, was in dem Kontext vermutlich witzig ist, weil die Gespräche landläufig als unbequem gelten. 12 Beide Elternteile rezipieren diese Sitzgelegenheit als etwas Besonderes und lachen. Die Lehrerin stimmt in Zeile 5 lachend ein. Dann stuft die Lehrerin das Sofa noch als „Belohnung fürs Hochlaufen“ ein, was witzig ist, weil Belohnungen in dem Kontext gar nicht anstehen (trotzdem eine schulische Konnotation haben) 12 Hauser / Mundwiler (2015) und Wegner (2015) fassen die in der Ratgeberliteratur aufgegriffenen Einstellungen der Lehrpersonen und der Eltern als heikel und anstrengend zusammen. 322 Helga Kotthoff und erst recht nicht für simples Alltagsverhalten. Wieder lachen alle drei (8, 9, 10). Dann thematisiert die Lehrerin noch, dass Schülerin Sabina ihr erzählt habe, die Mutter sei eine geborene Schlüter. Damit setzt sie relevant, dass sie die Mutter der anwesenden Mutter kennt und diese getroffen hat. Sie agiert nicht in ihrer positionalen Identität als Lehrerin, sondern knüpft in ihrer personalen Identität ein Beziehungsnetzwerk. Mit dem Gliederungssignal „ GU : : T“ schaltet sie dann aus dem „small talk“ in den institutionellen Themenbereich um (24). Der Vater möchte, dass sie erzählt (32). Ein heiterer Einstieg kreiert eine lockere Gesprächsatmosphäre. Die Lehrerin setzt für alle Beteiligten, auch für Schülerin Sabina, zunächst personale Identitäten relevant. Solche Relevanzen prägen das Beziehungsgeschehen. 5.3 Kode-Inkonsistenz In diese Rubrik haben wir Eröffnungsphasen eingeordnet, in denen die Lehrperson sich einer vulgär- oder jugendsprachlichen Lexik bedient. Das trifft durchgängig nur auf einen Lehrer (W5) von der Werkrealschule zu, bei dem das Projekt sechs Tonaufnahmen mitschneiden konnte. Beispiel 5 Elterngespräch 15: Werkrealschule - Fabienne, Lehrer (L), Vater (V), Mutter (M), Fabienne (F) Der Lehrer thematisiert zunächst das Hauptthema der Sprechstunde gänzlich unauffällig, liefert dann aber einen „account“ für die Prädikation „GEIL. geil. Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 323 geil.“ Unter einem „account“ versteht die Konversationsanalyse eine praktische Beschreibung, die in einem Handlungszusammenhang mitgeliefert wird (Bergmann 1981). Der Lehrer charakterisiert seine „Sätze“ vorab als „nicht ganz lehrertypisch“; damit liefert er eine Erklärung (account) für seinen folgenden jugendsprachlichen Jargon (08), auf den der Vater hörbar irritiert reagiert und zunächst meint, der Lehrer verwende Lieblingswörter der Tochter (09). Der Lehrer bekennt sich aber zu der Formulierung und charakterisiert so die derzeitigen schulischen Leistungen der Tochter (10). Die anwesende Tochter Fabienne fragt nach (11) und auch der Vater; dann zeigen sich Vater und Mutter erfreut (15, 16, 17). Dann geht es thematisch mit den Mathematikergebnissen weiter. In den anderen Gesprächseröffnungen und im gesamten Gesprächsverlauf kommen ähnlich informell-jugendsprachliche Ausdrucksweisen des Lehrers vor, an die sich die Eltern in keinem Fall lexikalisch anpassen. Sie bleiben in einer neutral-umgangssprachlichen Stillage. Einmal wendet er sich an eine Schülerin, die er für begabt, aber auch für faul hält, mit der Drohung „dann tret ich dich in den Hintern“ (er will sie symbolisch mit harten Mahnungen zum Realschulabschluss bringen), ein weiteres Mal spricht er davon, ein Schüler sei „abgenippelt“ (in Leistungen zurückgefallen). Ackermann (2014) hat diesen Lehrer in ihrer Typologie von Lehrpersonen als einen „Emphatischen“ bezeichnet. Sie stellt dem Lehrertypus des „Experten“ den des „Emphatischen“ gegenüber, der primär Fürsorge für die SchülerInnen, Engagement und Dringlichkeit kommuniziert. Emphatische Lehrpersonen arbeiten z. B. mit dem Dativus ethicus („wenn Du mir eine fünf schreibst…“). Da das hohe Engagement des Lehrers für seine SchülerInnen den Eltern durchaus deutlich wird, geben sie kaum Irritationen über die tatsächlich lehreruntypische Phraseologie und Lexik zu erkennen. 5.4 Thematische Abweichungen In acht Gesprächen thematisiert ein Elternteil oder die Lehrperson Aspekte des Schülers oder des Kontexts, die nicht direkt mit den Themen der Sprechstunde zu tun haben. In diesen Gesprächseröffnungsphasen wird deutlich, dass sich die Lehrperson für alle Aspekte des Verhaltens und Wohlergehens des Schülers interessiert. Die Lehrerin fragt die Mutter nach Emils Nasenbluten. Die Mutter bestätigt, dass es aufgehört habe. Die Lehrerin fragt weiter nach der Häufigkeit des Auftretens und die Mutter gibt noch mehr Informationen zu Emils Anfälligkeit dafür. 324 Helga Kotthoff Beispiel 6 (Beispiel 1 ist hier intergriert) Elterngespräch 4: Grundschule - Emil: Lehrerin (L), Mutter (M) 6. Zwischenfazit Die Mehrzahl der Gesprächseröffnungen in diesem Korpus wird von beiden Seiten informell gestaltet. Die 13 Einstiegsphasen mit humoristischen Sequenzen zeugen von dem Bemühen, einen als problematisch beleumundeten Gesprächstyp aufzulockern. Lehrpersonen und Eltern kommunizieren Rollendistanz und signalisieren frühzeitig, dass sie an einem guten Gesprächsklima interessiert sind. Ihren Einsatz von Humor würden die Beteiligten sicher nicht selbst als eine Höflichkeitsstrategie ansehen. Scherzen gehört kaum zu emischen Vorstellungen von höflichem Verhalten, wohl aber zum etischen Modell von B&L. 31 der Gesprächseröffnungen enthalten Strategien der positiven Höflichkeit, die über das institutionell Erwartbare hinausgehen und personale Identitäten der Beteiligten zum Anschlag bringen. Lehrpersonen tun eine besondere Freude am Kennenlernen der Eltern kund und ein über schulische Belange hinausgehendes Interesse am Kind und seiner Familie. Sie steuern in 14 Gesprächen auch nicht sofort auf den institutionellen Gesprächsanlass zu. Vor allem ein Lehrer bedient sich einer jugendsprachlichen Lexik und entformalisiert den Diskurs sehr stark. Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 325 In 31 Gesprächseröffnungen finden sich über Begrüßung und Platzanweisung hinausgehende Strategien der positiven Höflichkeit. Die 15 Gespräche mit thematischer Abweichungen perspektivieren entweder die SchülerInnen oder die Eltern über ihre unmittelbaren institutionellen Rollen hinausgehend. Krankheiten der Kinder werden ebenso thematisiert wie Berufstätigkeit und Schwangerschaft der Mütter, Instrumente und Freizeitaktivitäten der Kinder, ihr Heimweg, andere Kinder der anwesenden Eltern, gemeinsame Bekannte der Lehrperson und der Eltern. 7. Gesprächsbeendigungen zusammengefasst Nicht nur der Anfang, sondern auch das Ende eines Gesprächs ist eine sensible und komplexe interaktive Angelegenheit, wie vor allem die Konversationsanalyse erkannt hat (Schegloff/ Sacks 1973). Gerade in diesen rituellen Phasen der Gesprächsanfangs- und -beendigung zeigt sich zum einen die hochgradige Strukturiertheit alltäglicher Interaktionsabläufen und zum anderen die andauernde und in diesen Phasen hochgeschraubte Beziehungsgestaltung der positiven Gesichtsarbeit im Sinne von Brown und Levinson. In ihrem bekannten Aufsatz „Opening up closings“ führen Schegloff und Sacks (1973, 290) aus, dass ein Gespräch nicht einfach endet, sondern zu einem Ende gebracht wird. Auer (2017, im Druck) erläutert, dass die Gesprächsteilnehmer in vielerlei Hinsicht bei der Beendigung eines Gesprächs dieselben interaktiven Aufgaben bearbeiten müssen wie am Beginn, allerdings in spiegelbildlicher Reihenfolge: das (letzte) Thema des Gesprächs muss zu Ende gebracht und die Abschlussphase des Gesprächs eingeleitet werden; in der Abschlussphase werden genauso wie in der Anfangsphrase rituelle Handlungen ausgeführt, mittels derer sich die Gesprächsteilnehmer ihrer gegenseitigen Achtung versichern; dazu gehört minimal der Austausch von Abschiedsgrüßen. Es gibt viele Möglichkeiten, ein mögliches Gesprächsende bemerkbar in die Wege zu leiten. Sidnell (2010, 217) zeigt, dass in Privatgesprächen dazu oft die Anbahnung eines nächsten Treffens gehört (Why don’t we have lunch? ). Dann wird die Verabredung zum letzten Thema, bevor die „preclosings“ ausgetauscht werden, zu denen beispielsweise mehrmaliger Austausch von „okay“ oder „gut“ gehören kann (Vorbeendigungen). Damit verdeutlichen sich die Interagierenden, dass sie keine Themeninitiativen mehr ergreifen. Institutionelle Gespräche weisen in dieser Hinsicht Besonderheiten auf. Da ihre thematische Bandbreite enger ist als die von Privatgesprächen und sie außerdem zeitlich einer Limitierung unterliegen, können sowohl Klienten als auch Institutionenvertreter die Gespräche nach Abschluss des zentralen Themas 326 Helga Kotthoff relativ zügig beenden. Böhringer (2011) liefert Beispiele aus Gesprächen im Jobcenter, wo der Jobvermittler ein Gespräch mit einer expliziten Ankündigung „gut herr hoffmann; hätt mas erstma für heute“ auf sein baldiges Ende zusteuern lässt. Beratungsgespräche enden klassischerweise mit der Auflösung der Beratungssituation dadurch, dass die / der Ratsuchende den Lösungsvorschlag des Experten ratifiziert und die Beraterleistung honoriert, wobei sich der verbale Aufwand auf ein Minimum beschränken kann (Nothdurft, Reitemeier, Schröder 1994). Danksagungen der Ratsuchenden an die Ratgebenden sind beinahe obligatorisch. Wegner konstatiert, dass sich in seinem Korpus von schulischen Elterngesprächen überwiegend informelle Gesprächsbeendigungen finden (2015, 141). In allen in seinem Buch abgedruckten Transkripten der Endphasen findet sich die informelle Abschiedsformel „tschüss.“ Vorher entdeckt er hochfrequent Floskeln vom Typ „wir kriegen das auf ’n guten Wech“ und „hoffentlich geht_s weiter so.“ Damit werde Zukunftsoptimismus ausgedrückt und eine enge Interessensgemeinschaft mit dem Gegenüber. Es spiegele sich auch die Konsensorientierung der Gespräche darin wider. Mit Holmes (2000, 57) argumentiert er (2015, 143), dass „Small Talk“ in Gesprächsbeendigungen „provides a means of finishing on a positive note, referring, however briefly, to the personal component of the relationship following a period when work roles and responsibilies have dominated in the interaction.“ In unserem Korpus liegen 37 Beendigungsphasen vor, bei 5 Gesprächen wurde die Aufnahme leider vor der Anbahnung des Endes beendet. Nur in 20 von 41 Gesprächen liegen aber auch Mitschnitte der Verabschiedungen vor; 17 Gespräche enthalten somit zwar das Gespräch beendende Sequenzen, jedoch wurden die Aufnahmen leider vor dem Austausch der Grußformeln beendet. Bei den 20 Gesprächen, die uns mit abschließendem Formelaustausch vorliegen, tritt „Tschüss“ 17x auf, 1x „Wiedersehen“, 3x eine andere Formel („wünsch ihne was“, „hat mich gefreut“, „schönen abend“) Unsere Typisierungen der Gesprächsbeendigung beinhalten: • 33 Beendigungen mit mehreren Sequenzen, in denen Übereinstimmung (mehrere positive Bewertungen des Gesprächs vor der eigentlichen Gesprächsbeendigung) und ein positiver Beziehungsstand ausgedrückt wird. • 19 Gesprächsbeendigungen mit Small Talk nach der Beendigung des institutionellen Themas. Hier werden personale Identitäten kommuniziert. • 8 Beendigungenssequenzen mit dem stilistisch auffällig salopp sprechenden Werkrealschullehrer, der sich auch in der Schlussphase stark als Kumpel geriert. • 27 humoristische Rahmungen in der Endphase. Beziehungsgestaltung in schulischen Sprechstunden 327 Einige Gesprächsbeendigungen passen in mehrere Rubriken (was auch auf die Gesprächseröffnungen zutrifft). Auf Transkriptdiskussionen der Beendigungen der Sprechstundengespräche muss im Rahmen dieser Kurzversion des Artikels aus Platzgründen verzichtet werden. Die Langversion des Artikels findet sich im Internet als Freiburger Arbeitspapier aus der Germanistischen Linguistik 35. 8. Schluss Auch in Mundwilers schweizerdeutschem Korpus sind die Beendigungen sehr komplex; es werden abschließende Fragen gestellt, z. B. an die anwesenden Schüler(innen) diejenige, ob es „schlimm“ gewesen sei. Gegenseitige Kundgaben von Zufriedenheit fallen oft auf und deuten darauf hin, dass dies nicht als selbstverständlich erwartet wurde. Mundwiler zeigt in einigen Transkripten das starke Bemühen der Eltern und Lehrpersonen um Symmetrieherstellung. Zu diesem Befund kommen wir auch. Eine Lehrerin erzählt beispielsweise in Mundwilers Daten vom eigenen Kind (Beispiel 27) und perspektiviert sich so als Mutter, damit in gleicher Lage wie die anwesende Mutter. In unserem Korpus findet sich Ähnliches. Ausgedehnte Beziehungsaktivitäten, die dem Abbau der institutionellen Asymmetrie dienen und der Herstellung von Zugänglichkeit der Lehrperson können fast durchgängig beobachtet werden. Für die Analyse lässt sich das Modell von B&L durchaus zunächst nutzen. Positive face-work -Aktivitäten geben der institutionellen Interaktion vorübergehend ein privates Gepräge. Sie leiten aus der Distanz-Höflichkeit hinaus. Einige Etiketten aus dem Katalog von B&L werden allerdings präzisiert und relativiert, wenn sie in Sequenzanalysen einbezogen werden, was hier versucht wurde. „Joking“ ist beispielsweise viel zu grob, um die Scherz- und Lachaktivitäten zu charakterisieren und deren Beziehungsdynamik dingfest zu machen. Die Entformalisierung kann von Seiten der Lehrpersonen durchaus als funktional angesehen werden, um die Schule und vor allem diese Sprechstunden dadurch zugänglicher zu machen. Von Seiten der Eltern her sind persönliche Gespräche, in denen es auch um Außerschulisches geht und in denen gescherzt wird, in deren Interesse. Allerdings geht möglicherweise damit auch ein Abbau der Autorität der Lehrperson einher. In den Gesprächen mit dem Werkrealschullehrer bekunden Eltern durchaus Irritationen. Das deutet darauf hin, dass Entformalisierung eine graduelle Angelegenheit ist. Weitere Ethnographien, die im Rahmen des Forschungsprojekts demnächst unternommen werden, sollen etwas mehr Aufschluss über diese Frage bringen. Ein genereller kultureller Trend zur Informalisierung (im Sinne von Linke 2000) lässt sich durchaus bestätigen. 328 Helga Kotthoff Was dieser für den Kontext Schule bedeutet, kann nur im Lichte vieler weiterer Befunde zur Kommunikation im schulischen Feld beurteilt werden. Literatur Ackermann, Ulrike (2014). Positionierungen in schulischen Sprechstunden. 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Loben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt 331 Loben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt Ergebnisse eines Pilotprojekts zum Umgang mit sprachlicher Höflichkeit im DaF-Unterricht Andrea Taczman The following paper focuses on linguistic politeness in the context of foreign language teaching. It aims to present the importance of linguistic politeness in the language of teachers through the examples of criticism and praise. The first theoretical part focuses on the research context of classroom communication and linguistic politeness and on the role linguistic politeness plays when teachers express criticism or praise. The second part describes the findings of an empirical pilot study which investigated the way Hungarian teachers of German as a foreign language realize linguistic politeness. The analysis of two examples with their transcripts and some excerpts from the interviews provide insight into the realization of linguistic politeness in criticism and praise and into the research participants’ understanding of linguistic politeness. The presentation of the pilot study is followed by a summary of the most important findings. 1. Einleitung Seit Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts wird die Förderung der sprachlichen Handlungsfähigkeit der Lernenden als Lehr- und Lernziel im Fremdsprachenunterricht angestrebt. Die Wurzeln dieser neuen Orientierung liegen vor allem in der pragmatischen Wende der Sprachwissenschaft, die den Handlungscharakter von Sprache in den Vordergrund rückte. Die Verwirklichung der Handlungsorientierung ist in einem Unterricht möglich, in dem Lernende als sozial handelnde Personen betrachtet werden (Feld-Knapp 2005, 2012). Der Sprachgebrauch der Lehrperson erfüllt im Unterricht eine Musterfunktion für das sprachliche Handeln. Im Kontext des sprachlichen Handelns kommt der sprachlichen Höflichkeit eine große Bedeutung zu, denn sie gilt als der 332 Andrea Taczman zentrale Aspekt beziehungsrelevanter kommunikativer Aktivitäten (Ehrhardt 2002). Der vorliegende Beitrag greift sprachliche Höflichkeit im Fremdsprachenunterricht auf und setzt sich zum Ziel, ihre Bedeutung für die Lehrersprache am Beispiel des Ausdrucks von Kritik und Lob gemäß der neuen Lehr- und Lernkultur zu erfassen. Der Beitrag gliedert sich in zwei thematische Einheiten. Die erste theoretisch orientierte Einheit stellt Unterrichtskommunikation und sprachliche Höflichkeit im Forschungskontext dar. Anschließend werden die besonderen Merkmale der Sprechhandlungen des Kritisierens und Lobens im Fremdsprachenunterricht sowie der Beitrag sprachlicher Höflichkeit zu ihrem Ausdruck in der Lehrersprache behandelt. An die theoretischen Überlegungen knüpft die Darstellung der Ergebnisse einer Pilotstudie zur Untersuchung sprachlicher Höflichkeit in der Lehrersprache ungarischer DaF-Lehrender an. Den Beitrag schließt eine Zusammenfassung der Ergebnisse in ihrer Bedeutung für die neue Lehr- und Lernkultur ab. 2. Unterrichtskommunikation und sprachliche Höflichkeit Unterrichtskommunikation wird seit den 70er und 80er Jahren bis heute u. a. aus linguistischer Perspektive beschrieben und untersucht (Ehlich / Rehbein 1986, Becker-Mrotzek / Vogt 2001, Spiegel 2006, Wanjek 2010). Die Relevanz der Erforschung sprachlicher Höflichkeit in der Unterrichtskommunikation ergibt sich vor allem aus der Erwartung, dass in der Institution Schule Lehrende und Lernende einander mit Höflichkeit begegnen sollen (Neuland / Cherubim 2011). Dies liefert die Gründe in erster Linie für die Analyse und Bewertung des Schülerverhaltens, wobei in letzter Zeit auch negativen Entwicklungstendenzen (z. B. Aggression und Unhöflichkeit) eine besondere Aufmerksamkeit zukommt (Neuland / Cherubim 2011, Gysin et. al. 2016). Da sprachliche Höflichkeit als eine interaktive Kategorie gilt (Ehrhardt / Neuland 2009), ist es notwendig, auch die Lehrersprache in die Analyse einzubeziehen (Grossmann 2011). Diesbezüglich soll hier auf die erziehungspsychologischen Arbeiten von R. und A. Tausch (1965) hingewiesen werden. An dieser Stelle werden zwei für diesen Beitrag relevante Ergebnisse ihrer Studie hervorgehoben: (1) Mindestens 35 % der Äußerungen, mit denen Lehrende die Lernenden unmittelbar ansprechen, sind irreversibel, d. h. sie können von den Lernenden nicht nachgeahmt und der Lehrperson gegenüber gebraucht werden, ohne gegen Anstand und Höflichkeit zu verstoßen. Loben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt 333 (2) Eine quantitative Analyse der Daten ließ erkennen, dass die Höflichkeitswörter „bitte“ und „danke“ äußerst selten in der Lehrersprache benutzt werden. Die obigen Ergebnisse können Anstöße für weitere linguistische Arbeiten zur Lehrersprache liefern, denn die Sprache hält über die Höflichkeitswörter „bitte“ und „danke“ hinaus noch zahlreiche Möglichkeiten zum Ausdruck sprachlicher Höflichkeit bereit. 1 Eine Forschungslücke stellt die Untersuchung sprachlicher Höflichkeit am Beispiel des Ausdrucks von Kritik und Lob in der Lehrersprache dar. Anregungen für ihre Erforschung kann auch die linguistische Höflichkeitsforschung liefern. In ihren Anwendungsfeldern wurden nämlich sowohl Kritisieren als auch Loben in verschiedenen Kontexten untersucht (Held 2002, Neuland 2009, Gerdes 2011). 3. Realisierung sprachlicher Höflichkeit am Beispiel des Ausdrucks von Kritik und Lob in der Lehrersprache von Fremdsprachenlehrenden Bei der Realisierung der fremdsprachlichen Unterrichtskommunikation bedürfen die Sprechhandlungen des Kritisierens und Lobens einer besonderen Aufmerksamkeit, weil sie in beiden „koexistierenden Diskurswelten“ des Fremdsprachenunterrichts (Edmondson / House 1993, 260), die durch die besondere Stellung der Fremdsprache als Kommunikationsmittel und Lerngegenstand (Hunfeld 1990) entstehen, eine ausschlaggebende Rolle spielen: Einerseits nehmen Lernende in natürlichen Gesprächen des Unterrichts den lehrerseitigen Ausdruck von Kritik und Lob als Muster für die angemessene fremdsprachliche Realisierung dieser Sprechhandlungen wahr. Andererseits übt ihre sprachliche Ausformulierung in pädagogisch und didaktisch geprägten Diskursen des Unterrichts einen entscheidenden Einfluss auf den weiteren Lernprozess aus (Wipperfürth 2009). Eine hohe Komplexität zeigen Kritisieren und Loben auch auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung auf. Sie umfassen häufig mehr als eine einzelne sprachliche Handlung und ihre Realisierung fällt auch nicht immer mit einem einmaligen Redebeitrag der Lehrperson in einer bestimmten Kommunikationssituation zusammen (Graefen / Liedke 2008). Sprachliche Höflichkeit entfaltet sich dabei als eine textuelle und interaktive Erscheinung (Held 2002, Lüger 2002, 1 Siehe hierfür die zahlreichen linguistischen Forschungsarbeiten zur Untersuchung sprachlicher Höflichkeit wie beispielsweise Lüger 2002, Ehrhardt / Neuland 2009, Ehrhardt / Neuland / Yamashita 2011. 334 Andrea Taczman Neuland 2009). Folglich werden im vorliegenden Beitrag die Sprechhandlungen des Kritisierens und Lobens nicht als isolierte Einheiten, sondern in ihrer kontextuellen Einbettung betrachtet und analysiert. Neue Zugänge für ihre Untersuchung ermöglicht der Begriff der „kommunikativen Praktik“ (Fiehler 2004, Linke 2010, Schröter 2016). In Bezug auf die Verwendung dieses Terminus in der Höflichkeitsforschung gibt es noch Diskussionsbedarf. Kritisieren und Loben weisen enge Verflechtungen mit sprachlicher Höflichkeit auf. Im Sinne der Höflichkeitstheorie von Brown und Levinson (1987), die auch diesem Beitrag zugrunde liegt, zielen beide auf das positive Gesicht des Hörers: Kritisieren gilt als eine gesichtsbedrohende und Loben als eine gesichtswahrende Handlung. Sprachliche Höflichkeit stellt dabei ein „komplexes verbales face-work“ (Held 2002, 117) dar, das je nach dem Kontext, in dem Kritik oder Lob realisiert wird, diverse Funktionen erfüllen kann. Hierfür wird von der Annahme ausgegangen, dass Lehrende im Unterricht auf der Grundlage von Rollen und Rollenbedeutungen handeln (Kron et. al. 2014), mit denen die Realisierung von Kritik und Lob eng verbunden ist. Diesbezüglich werden im Folgenden zwei Lehrerrollen eingehender reflektiert. Im Unterricht fungieren Lehrende primär als Optimierer von Lehr- und Lernprozessen, denn sie üben keinen direkten Einfluss auf den Lehr- und Lernprozess aus. Diese Rolle umfasst u. a. die Steuerung von kognitiven Prozessen, damit Verstehen, der erste Schritt beim Lernen, zustande kommen kann (Wolff 1996). Die kognitiven Voraussetzungen stehen jedoch seitens der Lernenden nicht immer oder nicht im ausreichenden Maße zur Verfügung. Potenziell gesichtsbedrohende Situationen sind dadurch im Unterricht vorprogrammiert, nicht selten aus dem Grund, dass Lernende die Schule als eine „Zwangsinstitution“ erleben (Neuland et. al. 2012). Beim Ausdruck lehrerseitiger Kritik dient in diesem Sinne die sprachliche Höflichkeit in erster Linie zur Konfliktprophylaxe (Ehrhardt / Neuland 2009). Bei der Optimierung von Lehr- und Lernprozessen erfüllen Rückmeldungen wie beispielsweise das Lob, das bereits in sich einen Akt der Höflichkeit darstellt, eine wichtige Funktion (Gerdes 2011). Im unterrichtlichen Kontext soll besonders auf die mit ihm eng im Zusammenhang stehenden motivationalen Faktoren hingewiesen werden. Ein ernst gemeintes, differenziert ausgedrücktes Lob kann zur Motivierung der Lernenden beitragen, die wiederum den Lernprozess positiv beeinflusst (Rost-Roth 2010). Im vorliegenden Beitrag wird Lob als eine positive Höflichkeitsstrategie und als ein möglicher Ausdruck von Anerkennung in seiner Bedeutung für die Umsetzung der neuen Lehr- und Lernkultur hervorgehoben, die u. a. auf Partnerschaftlichkeit und gegenseitiger Wertschätzung basiert (Feld-Knapp 2015). Loben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt 335 Lehrende übernehmen auch die Rolle des Bewerters (Witte / Harden 2010). Laut der Ergebnisse der Studie von Hattie (2013) belegt die Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus der Lernenden den ersten Platz in der Rangliste der wirksamen Faktoren für das Lernen. Diese wird u. a. auch durch den sprachlichen Einfluss der Lehrperson maßgeblich geprägt. Höflichkeitsstrategien spielen hier besonders im Kontext der Bewertung mangelhafter Leistung eine relevante Rolle, denn sie tragen zur Reduzierung von Gesichtsbedrohung bei. Infolge der Wahrnehmung verschiedener Lehrerrollen werden Lehreinde oft vor eine widersprüchliche Situation im Unterricht gestellt: Sie sind Lernberater und -begleiter für Lernende, fungieren aber gleichzeitig auch als Bewertungs- und Kontrollinstanz und sollen in einem asymmetrischen Verhältnis auch die face-Bedürfnisse von Lernenden berücksichtigen (Boócz-Barna 2012, Feld-Knapp 2014). Der Ausdruck sprachlicher Höflichkeit in der Lehrersprache geht daher oft mit mehrfachen Herausforderungen einher. Im Besonderen trifft dies auf Fremdsprachenlehrpersonen zu, deren Lehrersprache nicht mit ihrer Muttersprache zusammenfällt (Wipperfürth 2009). 4. Loben und Kritisieren in der Lehrersprache ungarischer DaF- Lehrender. Ergebnisse eines Pilotprojekts Um empirische Daten zum Umgang mit sprachlicher Höflichkeit beim Ausdruck von Kritik und Lob in der Lehrersprache von Fremdsprachenlehrenden zu gewinnen, wurde im Mai 2016 ein Pilotprojekt an zwei Budapester Gymnasien durchgeführt. An der Untersuchung nahmen zwei ungarische DaF-Lehrerinnen teil, die über ca. 2-3 Jahre Unterrichtspraxis verfügen. Im Rahmen der Pilotstudie wurde den folgenden Fragestellungen nachgegangen: 1. Durch welche spezifischen Merkmale lässt sich sprachliche Höflichkeit am Beispiel des Ausdrucks von Kritik und Lob in der Lehrersprache erfassen? 2. Welches Verständnis von sprachlicher Höflichkeit liegt der Lehrersprache ungarischer DaF-Lehrender zugrunde? 3. Welche Rolle messen ungarische DaF-Lehrende sprachlicher Höflichkeit in der Lehrersprache bzw. bei dem Ausdruck von Kritik und Lob bei? Zur Datenerhebung wurden zwei Methoden eingesetzt: 1) Zuerst wurden Unterrichtsstunden der Probandinnen beobachtet und mit Diktiergerät aufgezeichnet: je vier Stunden in Klasse 9 (Niveaustufe A1-A2) und in Klasse 11 (Niveaustufe B1-B2). In allen Gruppen wurde Deutsch als 336 Andrea Taczman zweite Fremdsprache gelernt. Für die Stunden wurden den Lehrerinnen keine inhaltlichen Vorgaben gemacht. 2) Der Unterrichtsbeobachtung folgte eine mündliche Befragung der Versuchspersonen. 4.1 Ergebnisse der Unterrichtsbeobachtung Schritt 1: Auswahl von relevanten Kommunikationssituationen Nach der Unterrichtsbeobachtung wurden jene Kommunikationssituationen identifiziert, in denen Kritik und Lob in der Lehrersprache ausgelöst wurden. Bei der Auswahl von Kommunikationssituationen in Bezug auf Kritik wurde nicht nur die mündliche Bewertung von mangelhaften Schülerprodukten in das Korpus aufgenommen, sondern auch jene Situationen, in denen auf ein abweichendes Verhalten der Lernenden reagiert wird. Äußerungen, die auf die Korrektur eines Verstoßes gegen die sprachliche Norm oder Angemessenheit zielen, wurden ausgeklammert. Beim Lob wurden bestätigende Routineausdrücke wie beispielsweise „Sehr gut! “ ebenso nicht berücksichtigt. In Bezug auf die Realisierung von Kritik ergaben sich in den acht Stunden insgesamt achtunddreißig und im Falle von Lob zehn relevante Kommunikationssituationen. Schritt 2: Klassifikation der Auslöser von Kritik und Lob in der Lehrersprache Im nächsten Schritt der Analyse wurden Faktoren, die in den ausgewählten Kommunikationssituationen Kritik und Lob in der Lehrersprache induzierten, klassifiziert. Im Falle des Kritisierens konnten die Auslöser in fünf Kategorien gruppiert werden: • fehlende kognitive Voraussetzungen für das Lernen (z. B. fehlende Aufmerksamkeit), • Verstoß gegen eine Anstands- oder Höflichkeitsregel (z. B. Zwischenruf), • Verstoß gegen die institutionellen Rahmenbedingungen (z. B. Verspätung), • mangelhafte Ergebnisse bei einem schriftlichen Test, • fehlende Vorkenntnisse (z. B. Wissenslücke des Lernenden wegen fehlender Vorbereitung auf die Stunde). Im Falle des Lobens wurden vier verschiedene auslösende Faktoren festgestellt: • hervorragende Leistung der Lernenden (z. B. bei einem schriftlichen Test), • hervorragende Leistung bei einer Aufgabe (nicht auf Tests bezogen), Loben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt 337 • aktive Mitarbeit der Lernenden, • hervorragender Beitrag eines Lernenden auf inhaltlicher Ebene (z. B. Äußerung von guten Gedanken zu einem Thema). Schritt 3: Analyse der Lehreräußerungen unter dem Aspekt sprachlicher Höflichkeit Im dritten Schritt wurden Lehreräußerungen in den vorher ausgewählten Kommunikationssituationen unter dem Aspekt sprachlicher Höflichkeit untersucht. Im vorliegenden Beitrag wird je ein exemplarisches Beispiel für die Realisierung von sprachlicher Höflichkeit beim Ausdruck von Kritik und Lob mit Kontextbeschreibung und Transkription dargestellt und analysiert. 2 Dabei werden Höflichkeitsstrategien, d. h. jene Verfahren und Mittel, die zur Reduzierung der gesichtsbedrohenden Wirkung von Kritik und zur Gesichtswahrung im Falle von Lob eingesetzt werden, aufgedeckt (Lüger 2002). Die Erfassung von spezifischen Merkmalen sprachlicher Höflichkeit erfolgt auf zwei Ebenen: Auf der Formulierungsebene gelten die grammatischen Mittel wie syntaktische Grundmuster, zweigliedrige Konstruktionen, Möglichkeiten der Modulierung (z. B. Modus, Modalverben, Satzadverbien, Partikeln) und die lexikalische Auswahl als Gesichtspunkte der Analyse. Auf der Ebene der interaktiven Einbettung wird untersucht, von welchen anderen Sprechhandlungen Kritik und Lob begleitet bzw. wie sie im Gespräch bearbeitet werden (Held 2002, Lüger 2002, 2012, Neuland 2009). 2 Die detaillierte Analyse weiterer Fallbeispiele erfolgt in der Dissertation der Verfasserin. 338 Andrea Taczman 4.2 Ausgewählte Fallbeispiele für die Realisierung sprachlicher Höflichkeit Fallbeispiel 1: Bewertung von schriftlichen Tests Kontext: In einer Gruppe von Neuntklässlern wurden schriftliche Tests am Anfang der Stunde bewertet. Loben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt 339 Analyse: Der Bewertung von Tests ist eine Ankündigung in Bezug auf ihre fertige Korrektur vorangestellt. Infolge der notwendigen Verteilung von Testbögen ist eine Spannung spürbar, die durch das Gelächter einiger Lernenden und auch der Lehrerin aufgelöst wird (Zeilen 1-5). Mit diesen Elementen wird der Versuch unternommen, den gesichtsbedrohenden Charakter der bevorstehenden Bewertung im Vorfeld zu reduzieren. Erst nach dieser Präsequenz folgt die tatsächliche Bewertung von Tests (Zeile 5), wobei ihre gesichtsbedrohende Wirkung durch das Gradpartikel „ganz“ abgeschwächt wird. Aus der Eröffnungsphase lässt sich darauf schließen, dass die Bewertung „ganz gut gelungen“ auf eine mangelhafte Leistung hinweist. Daher ist es nicht überraschend, dass diese Phase eine auffällige Häufung von Verzögerungen aufweist (z. B. „öm“ und die mehrfache Wiederholung der Bewertung (Zeile 7 und 9)). 340 Andrea Taczman Im nächsten Schritt werden die Tests ausgeteilt. Einer längeren Pause folgt die Frage der Lehrerin nach der Zufriedenheit der Lernenden mit ihrer Leistung (Zeilen 20-22). Daran knüpft die subjektive Bewertung der Lehrperson bezüglich ihrer Zufriedenheit an, die durch den Präsatz „ich kann das auch sagen“ und Modulierung („mehr oder weniger“) entschärft wird (Zeilen 22-23). Während die im Test vorgekommenen typischen Fehler thematisiert und korrigiert werden, erfolgt ein weiterer bewertender Kommentar seitens der Lehrperson. Fehler werden hier ironischerweise als „Schönheiten“ bezeichnet, auf die die Lehrperson nicht mehr eingehen möchte (Zeilen 32-33). Abgeschlossen wird die Unterrichtssequenz mit einem direkten Lob, wobei auf die Leistung von Lernenden bei einer Schreibaufgabe hingewiesen wird (Zeilen 40-42). Dies wird durch den Einsatz des intensivierten Wertungsausdrucks „sehr schön“ und seine zweifache Wiederholung sowie die explizit zum Ausdruck gebrachte Zufriedenheit der Lehrperson ersichtlich. Auffallend ist der bereits an anderen Stellen häufig vorkommende Einsatz der Partikel „ja“, womit die Lehrperson ihre Äußerungen bestätigt. Resümierend lassen sich die Merkmale, mit deren Hilfe die gesichtsbedrohende Wirkung der Bewertung in der obigen Unterrichtssequenz abgeschwächt wird, auf der Formulierungsebene folgenderweise zusammenfassen: • Partikeln und Adverbien (z. B. „ganz“, „mehr oder weniger“), • Präsatz („ich kann das auch sagen“), • Ironie („Schönheiten“ für Fehler). Auf der Ebene der interaktiven Einbettung sorgen in diesem Fallbeispiel die folgenden Verfahren für die Vermeidung der Verletzungen des positiven Gesichts: • Ankündigung als Vorlaufelement, • Gelächter, • Verzögerungen und Wiederholungen, • eine der lehrerseitigen Bewertung vorangehende Frage in Bezug auf die Zufriedenheit der Lernenden, • Vermeidung der Thematisierung schwerwiegender Fehler, • höfliche Aufforderungen (Zeilen 37-39), • unterstützende und ausgleichende Sprechhandlungen mit gesichtswahrender Funktion (z. B. Ermutigung (Zeilen 18-19), Lob). Loben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt 341 Fallbeispiel 2: Rückmeldung nach einem Wortschatzspiel Kontext: Am Anfang der Stunde standen Neuntklässler in einem Kreis im Klassenzimmer. Jede Person sollte ein Wort zum Thema „Freizeit“ sagen und die Stoff-Bombe sofort der Nachbarin oder dem Nachbarn weitergeben. Die Person, in deren Händen die Bombe „explodierte“, war ausgeschieden. Jedes Wort durfte nur einmal gesagt werden. Nach dem Spiel gab die Lehrerin die folgende Rückmeldung. Analyse: Der Rückmeldung geht eine höfliche Aufforderung in Richtung der Lernenden voran, beim nächsten Spiel besser zuzuhören (Zeilen 3-4). Im ersten Schritt der eigentlichen Rückmeldung wird von der Lehrerin festgestellt, dass die Lernenden viele Wörter zum Thema sammeln konnten (Zeilen 4-5). Dies liefert den Grund für das kommende Lob, das explizit die erbrachte Leistung beim Spielen hervorhebt (Zeilen 5-6). Im zweiten Schritt folgt wieder eine feststellende Äußerung, in der auf die Herausforderungen des Spiels hingewiesen wird (Zeilen 7-9). Diese gilt als ein erneuter Grund für das direkte Lob (Zeilen 9-10). Lobende Äußerungen werden mit der Realisierung der Sprechhandlung des Dankens abgeschlossen (Zeile 10). Höflichkeitstragende Merkmale auf der Formulierungsebene lassen sich folgenderweise zusammenfassen: • direkte Positivbewertung in Form von Feststellungen, • Wertungsausdrücke (z. B. „toll“, „gut“), • Intensivierung (z. B. „sehr gut“, „sehr sehr gut“), • Partikel „ja“ zur Bestätigung lobender Äußerungen. 342 Andrea Taczman Auf der interaktiven Ebene gilt die obige Lehreräußerung als ein Beispiel für den Ausdruck von Lob in einer mehrstufigen Sequenz, in der sich lobende Äußerungen und Gründe für das Lob in Form von Behauptungen abwechseln. Ferner kann Lob mit weiteren Sprechhandlungen kombiniert werden, wie beispielsweise mit der gesichtswahrenden Sprechhandlung des Dankens aber auch mit einer höflichen Aufforderung, um eine noch effektivere Teilnahme beim nächsten Spiel zu erzielen. 4.3 Ergebnisse der mündlichen Befragung Der Unterrichtsbeobachtung folgte ein Interview mit den Probandinnen. Die Fragen bezogen sich auf die Lehrersprache und ihre Funktionen, auf das Verständnis von sprachlicher Höflichkeit, von Kritik und Lob sowie auf die Rolle sprachlicher Höflichkeit in der Lehrersprache bzw. beim Ausdruck von Kritik und Lob. Im Folgenden werden jene Kerngedanken aus beiden Interviews hervorgehoben und mit beispielhaften Auszügen untermauert, die in Bezug auf die Umsetzung der neuen Lehr- und Lernkultur eine besondere Bedeutung aufweisen. Beziehungsgestaltung im Unterricht Beide Lehrpersonen betonen die partnerschaftliche Beziehung zu Lernenden als einen wichtigen Aspekt ihrer Unterrichtsarbeit. Sie versuchen diese Beziehung aufzubauen, indem sie sich beispielsweise von der Rolle der Lehrperson als allwissende Instanz abkehren und ihre Rolle als Lernhelfer wahrnehmen, eine positive Atmosphäre im Klassenzimmer schaffen und Lernenden Möglichkeiten für die freie Fragestellung gewähren. Von der einen Lehrperson wird auch auf den engen Zusammenhang zwischen dem Ausdruck sprachlicher Höflichkeit und der Behandlung von Lernenden als Partner explizit hingewiesen. Verständnis von sprachlicher Höflichkeit (in der Lehrersprache) Sprachliche Höflichkeit wird von beiden Lehrpersonen mit gegenseitigem Respekt verbunden. Die eine Probandin assoziiert mit dem Begriff auch die Berücksichtigung konventioneller Verhaltensweisen (z. B. die Übergabe des Sitzplatzes an eine Frau). Im Kontext der Unterrichtskommunikation wird von beiden Probandinnen auf die sprachliche Höflichkeit als eine erwartete Norm hingewiesen, die sich beispielsweise in der Verwendung höflicher Anredeformen zeigt. In ihrer Lehrersprache wird sprachliche Höflichkeit mit dem Einsatz für höflich gehaltener Ausdrucksformen gleichgesetzt. Als Beispiele hierfür werden die Loben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt 343 Realisierung von indirekten Aufforderungen mittels Fragen, die Anwendung des Höflichkeitswortes „bitte“, die Gemeinschaftsgefühl ausdrückende Imperativform sowie die Konjunktiv II -Formen erwähnt. Dies lässt sich mit den folgenden Auszügen veranschaulichen: Sprachliche Höflichkeit bedeutet für mich, dass ich Aufforderungen und Bitten nicht in Imperativform sondern als Fragen formuliere. Häufig baue ich dabei das Wort „bitte“ in meine Äußerungen ein. Ich benutze ganz wenige Imperativsätze, also dieses klassische „Öffne das Buch! “, das sage ich wirklich sehr selten, ich sage, „Öffnen wir das Buch! “, das mache ich, oder wenn ich jemanden darum bitte, das Fenster bitte schön aufmachen, dann sage ich, „Kannst du bitte das Fenster aufmachen? “ oder „Könntest du das Fenster aufmachen? “ Rolle der Lehrersprache als Muster für das sprachliche Handeln Mehreren Antworten beider Lehrpersonen kann entnommen werden, dass sie sich der Musterfunktion der Lehrersprache bewusst sind. Sie messen dem musterhaften Charakter der Lehrersprache besonders bei der Realisierung von sprachlicher Höflichkeit eine besondere Bedeutung bei. Dies verdeutlichen die folgenden Stellen des Interviews: Als Vorbild möchte ich auch solche Situationen, solche Höflichkeitsformen ihnen zeigen, die sie später auch ganz gern verwenden können, die sie sich einfach mal aneignen können, damit sie ein gutes Vorbild sehen. Mit einer Gruppe haben wir die „könnte“ oder „würde“-Form gelernt, und dann versuche ich diese Form zu gebrauchen, damit sie das auch hören, dass man das auch benutzt. In diesem Zusammenhang weist die eine Versuchsperson auf die erzieherische Dimension sprachlicher Höflichkeit hin. In der Vermittlung eines sprachlichen Musters für Höflichkeitsformen im Unterricht sieht sie eine Möglichkeit, sprachliche Höflichkeit zu pflegen und Lernende auch dazu zu erziehen. Rolle sprachlicher Höflichkeit beim Ausdruck von Kritik und Lob Beide Lehrpersonen schreiben Lob diverse Funktionen zu. Es wird als eine Rückmeldung aufgefasst, die einen entscheidenden Einfluss auf die Motivation von Lernenden ausübt. Betont wird Lob als eine Ausdrucksform von Anerkennung der Lernenden. Die eine Lehrperson thematisierte auch den Beitrag von Lob zur Beziehungspflege mit Lernenden. Diese Funktionen weisen enge 344 Andrea Taczman Zusammenhänge mit sprachlicher Höflichkeit auf. Explizit wiesen jedoch die Probandinnen auf die Rolle sprachlicher Höflichkeit beim Lob nicht hin. Was den Ausdruck von Kritik anbelangt, kann man aus den Antworten darauf schließen, dass sich beide Lehrende des gesichtsbedrohenden Charakters dieser Sprechhandlung bewusst sind. Genannt werden Prinzipien, die sie sich bei der sprachlichen Gestaltung von Kritik vor Augen halten, wie beispielsweise die Vermeidung von Direktheit und Beleidigung sowie eine vorsichtige Formulierung. Diese weisen starke Überschneidungen mit dem Phänomen der sprachlichen Höflichkeit auf. Ferner werden noch die Herausforderungen, die in Bezug auf den Ausdruck von Kritik in der Lehrersprache auftauchen, angedeutet. Dies ist aus dem folgenden Auszug ersichtlich: Mir ist ganz wichtig, dass ich nicht zu stark kritisiere, sondern immerhin muss das irgendwie stark genug sein, damit das auch wirkt, aber nicht zu stark, also ich möchte niemanden beleidigen, oder so, deswegen muss man einen goldenen Mittelweg oder so dafür finden. Fazit Der vorliegende Beitrag setzte sich mit dem Phänomen der sprachlichen Höflichkeit im Fremdsprachenunterricht auseinander. Ausgehend vom aktuellen Forschungsstand wurde für die Relevanz der Untersuchung sprachlicher Höflichkeit in der Lehrersprache plädiert. Eingehender behandelt wurde die Rolle sprachlicher Höflichkeit beim Ausdruck zweier ausgewählter Sprechhandlungen. Die Ergebnisse einer Pilotstudie gewähren einen Einblick in den Umgang mit sprachlicher Höflichkeit in der Lehrersprache ungarischer DaF-Lehrender. Die aus den Ergebnissen gezogenen Konsequenzen lassen sich thesenhaft folgenderweise festhalten: • Aus den exemplarischen Beispielen kann im Falle der Realisierung von Kritik auf ein ausgeprägtes sprachliches Inventar bei den untersuchten DaF-Lehrenden geschlossen werden. Das zum Ausdruck von Lob zur Verfügung stehende sprachliche Repertoire bedarf der Erweiterung. • Bei den untersuchten Lehrpersonen beschränkt sich das Verständnis von sprachlicher Höflichkeit in der Lehrersprache auf die Verwendung bzw. Nicht-Verwendung bestimmter sprachlicher Formen. Wichtig wäre die Bewusstmachung von sprachlicher Höflichkeit als ein komplexes Phänomen und ein zentraler Bestandteil der kommunikativen Kompetenz. • Die gesichtswahrende Realisierung der Sprechhandlungen des Kritisierens und Lobens in der Lehrersprache verlangt von Lehrenden ein hochgradiges Loben und Kritisieren bzw. was sich dahinter versteckt 345 Beziehungsbewusstsein und einen reflektierten Umgang mit situativen Faktoren sowie den diversen Funktionen von sprachlicher Höflichkeit. • Die Auseinandersetzung mit sprachlicher Höflichkeit in der Lehrersprache bzw. die Förderung eines bewussten Umgangs damit im Laufe der universitären Lehrerausbildung könnte erheblich zum weiteren Ausbau der neuen Lehr- und Lernkultur beitragen. Literatur Becker-Mrotzek, Michael / Vogt, Rüdiger (2001). Unterrichtskommunikation. Linguistische Analysemethoden und Forschungsergebnisse. Tübingen: Max Niemeyer. Boócz-Barna, Katalin (2012). 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Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] 349 Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] Ulrike Simon As we know, linguistic politeness constitutes one of the essential elements of intercultural competence, because many critical incidents are caused by the non-observance of the politeness standards of the other culture. Even basic speech acts as ’to greet so.’ or ’to apologise for sth.’ will only be successful if we respect verbal, paraverbal and nonverbal standards according to the interlocutor and the communication situation. That is why students of foreign languages need to be sensitised from the outset to the importance of linguistic politeness and must acquire the necessary knowledge and know-how. In this learning process, teaching materials play a prominent role. For this reason, the following contribution will analyse various volumes of studio [21] , representing the recent generation of textbooks for German language teaching. 1. Einleitung Vielfach wird in der Literatur zur Höflichkeit im Rahmen fremdsprachendidaktischer Überlegungen betont, dass sprachliche Höflichkeit als eine wesentliche Komponente interkultureller Kompetenz zu verstehen sei (vgl. exemplarisch Simon 2009b; Neuland 2010). Denn vielen der für interkulturelle Interaktion typischen Missverständnissen und Critical Incidents liegt „eine Nicht-Beachtung der Höflichkeitsstandards der anderen Kultur“ zugrunde (Ehrhardt / Neuland 2009, 18). Da auch das Gelingen zahlreicher elementarer Sprachhandlungen wie jmdn. begrüßen, sich von jmdm. verabschieden, um etw. bitten oder sich für etw. entschuldigen von einem adressatenorientierten und situationsadäquaten Einsatz bestimmter verbaler, paraverbaler und nonverbaler Höflichkeitsstandards abhängt, muss Höflichkeitskompetenz von Anfang an im Fremdsprachenunterricht gefördert werden. Dies ist auch ansatzweise im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen ( GER ) verankert, der das Verwenden der „einfachsten, alltäglichen Höflichkeitsformeln zur Begrüßung und Verabschiedung“ ab der Niveaustufe A1 sowie ein Bewusstsein über die wichtigsten Höflichkeits- 350 Ulrike Simon konventionen und eine entsprechende Handlungskompetenz für die Niveaustufe B1 vorsieht (Glaboniat et al. 2002, 37). 1 Dennoch zeigen entsprechende Untersuchungen klare Defizite bei der Behandlung von Höflichkeit in Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache auf, da diese dort meistens nur vereinzelt und unzureichend, vor allem in Bezug auf pragmatische Fragestellungen und handlungsorientierte Lernangebote vorkommt (vgl. Erndl 1998; Vorderwülbecke 2001; Scialdone 2009; Neuland 2010). Vor diesem Hintergrund möchte dieser Beitrag anhand der Analyse verschiedener Teilbände von studio [21] feststellen, ob dieses Lehrwerk, als Vertreter einer jüngeren Generation von Lehrmaterialien, besser dazu beitragen kann, Höflichkeitskompetenz in der Fremdsprache Deutsch aufzubauen. 2. Interkulturelle Höflichkeitskompetenz Grundsätzlich muss vorausgeschickt werden, dass interkulturelle Höflichkeitskompetenz, ähnlich wie der Begriff Höflichkeit , wissenschaftlich schwierig zu erfassen und begrifflich zu bestimmen ist (vgl. Held 2009). 2 Da mit Höflichkeitskompetenz im Rahmen fremdsprachendidaktischer Überlegungen kein rein theoretisches Konstrukt, sondern eine anwendungsorientierte Fertigkeit angesprochen wird, müssen alle Dimensionen, Teilkompetenzen und Wissensdomänen, die dabei eine Rolle spielen, in besonderer Weise berücksichtigt werden. Das folgende Schema geht von einer zu erwerbenden interkulturellen Höflichkeitskompetenz aus, 3 die als Handlungskompetenz verstanden wird und der auf sprachlicher sowie auf kognitiver Ebene ein bestimmtes Wissen bzw. verschiedene Fertigkeiten zugrunde liegen. Dazu gehören in Bezug auf das höflichkeitsrelevante Sprachwissen die Kenntnis von bestimmten sprachlichen Merkmalen wie z. B. Formen der Indirektheit, Konjunktivformen, Modalverben und -partikeln u. v. a. m. Im Hinblick auf soziolinguistische Aspekte müssen Lernende entsprechendes Wissen über regionale, gruppenspezifische, kontextabhängige 1 Vgl. zu einer kritischen Darstellung der Behandlung von Höflichkeit im GER Neuland (2010, 15 f.), die u. a. die Widersprüche zwischen den im GER erhobenen theoretischen Ansprüchen und den dort in den Beispielen erscheinenden Realisierungsformen aufdeckt. 2 Cherubim (2011, 5) versucht der Komplexität des Begriffs beizukommen, indem er Höflichkeit als von „den sozialen Haltungen von Agenten“ sowie von „Verhaltensdomänen“ abhängige Größe beschreibt. 3 Inter kulturelle Höflichkeitskompetenz ersetzt hier bewusst den in anderem Kontext u. a. in Anlehnung an Vorderwülbecke (2001) verwendeten Begriff fremd kulturelle Höflichkeitskompetenz (vgl. Simon 2009b), da das Gefühl der Fremdheit durch den Erwerb von Sprach- und Kulturwissen in der L2 ja gerade überwunden werden und dazu befähigen soll, in interkulturellen Kommunikationssituationen erfolgreich zu agieren. Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] 351 und medial bedingte Sprechweisen erwerben und dafür sensibilisiert werden, dass diese nicht unreflektiert übernommen werden dürfen. Auf pragmatischer Ebene bedeutet dies, „merkmalübergreifende Gesprächspraktiken“ (Neuland 2012, 269) zu erkennen und zu lernen, welche Intention welchem Gesprächspartner gegenüber wie ausgedrückt werden sollte, d. h. adressatenorientiert und situationsadäquat zu kommunizieren. Eine weitere wesentliche Teilkomponente der Höflichkeitskompetenz in der L2 stellt kulturspezifisches Wissen dar. Sie umfasst u. a. die Kenntnis von bestimmten kulturgebundenen Gesprächskonventionen (z. B. hinsichtlich der Anrede, der körperlichen Distanz, der Themenwahl u. v. a. m.), eine Bewusstheit bezüglich der Heterogenität der Eigensowie der Fremdkultur und nicht zuletzt Toleranz gegenüber differenten Höflichkeitskonzepten (vgl. Grossmann 2011, 51). Lernende werden dazu befähigt, sich adäquat zu verhalten, ohne fremdkulturelle Muster unreflektiert zu übernehmen. Dementsprechend bedeutet metasprachliches Reflexionsvermögen hier zwar in erster Linie die Bedeutung von sprachlicher Höflichkeit für das Gelingen von Kommunikation zu erkennen, aber auch systemimmanente, soziolinguistische, pragmatische und interkulturelle Faktoren, die bei der Durchführung und Interpretation von Sprachhandlungen eine Rolle spielen, kritisch zu reflektieren. Durch den Erwerb dieser Wissensbereiche und Fähigkeiten wird eine Sprachbewusstheit geschaffen, beispielsweise für das in der Fremdsprache zur Ver- Abb. 1: Komponenten interkultureller Höflichkeitskompetenz 352 Ulrike Simon fügung stehende Repertoire sowie im Hinblick auf die Verwendungsbedingungen von Redemitteln und Sprachvarianten. Für erfolgreiches Sprachhandeln in der L2 ist dies vor allem unter folgenden Gesichtspunkten von besonderer Bedeutung: „Missverständnisse, die aufgrund der Unkenntnis von Gebrauchsregeln in der L2 entstehen, sind häufig viel schwerwiegender als solche aufgrund von morphosyntaktischen Verstößen gegen Sprachnormen, und es kann viel schwieriger sein, sie wieder aus der Welt zu schaffen. Gesprächspartner stehen ihnen oft mit viel weniger Toleranz gegenüber als grammatischen oder lexikalischen Fehlern. Dies hat damit zu tun, dass die pragmatischen Normen von vielen nicht als kulturspezifisch verstanden werden, man hält sie für Universalien, während Unterschiede in den Sprachsystemen jedermann bewusst sind“. 4 (Huneke / Steinig zitiert in Liedtke 2011, 68) Da eine Bewusstheit für kulturspezifische Höflichkeitskonzepte und Handlungsmuster also kaum vorausgesetzt werden kann, ist es umso wichtiger, dafür im Fremdsprachenunterricht zu sensibilisieren. Eine wesentliche Rolle sollten hierbei die Lehrwerke spielen. 3. Lehrwerkanalyse 3.1 Kriterien Im Folgenden wird das Lehrwerk studio [21] als Vertreter einer jüngeren Generation von Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache in Bezug auf höflichkeitsrelevante Aspekte untersucht. 5 Dazu wurden in Anlehnung an Vorderwülbecke (2001, 36-44) und Neuland (2010, 18) folgende Kriterien entwickelt: 1. Wird Höflichkeit eher implizit-integrativ behandelt oder explizit thematisiert? 2. Wird lediglich in bestimmte höflichkeitsrelevante Routinehandlungen eingeführt oder Höflichkeit in ihrer Vielschichtigkeit differenziert behandelt und reflektiert? 6 4 Kotthoff (2003, 296) weist ergänzend darauf hin, dass durch kulturdifferente pragmatische Konventionen ausgelöste Fehlinterpretationen auch deshalb schwer aufzuklären sind, weil „wir im Bereich der Höflichkeit nicht nachfragen, […]weil es wiederum die Etikette verbietet, der Irritation genauer nachzugehen.“ 5 Vgl. zu allgemeinen Kriterien der Lehrwerkanalyse Schmidt (2001), Hoffmann (2009) sowie die Hinweise in Rösler (2012, 48 ff.). 6 Vgl. zu einer ausführlichen Darstellung von Routineformeln in der Alltagskommunikation, auch im Hinblick auf deren höflichkeitsrelevante Funktion Höflichkeit, Lüger (1993). 2.a Werden Gebrauchsbedingungen von bestimmten höflichkeitsrelevanten (lexikalischen und morphosyntaktischen) Formen (z. B. im Bereich der Anrede) verdeutlicht? 2.b Wird dafür sensibilisiert, dass die Adäquatheit sprachlichen sowie nonverbalen Verhaltens, auch in Bezug auf Höflichkeit, stark von den die Interaktionssituation konstituierenden Elementen abhängt? (Formelle vs. informelle Interaktionssituation, Nähe-Distanz-Verhältnis der Gesprächspartner, kultureller Hintergrund der Interaktanten etc.) 3. Wird Höflichkeit im Zusammenhang mit bestimmten Sprachhandlungen und Gesprächssequenzen behandelt, bei denen adäquates höfliches (Sprach-) Handeln eine besondere Rolle zu spielen scheint? (Kontaktaufnahme und -beendigung, Small-Talk, Bitten und Aufforderungen, Entschuldigungen, Ablehnung und Absage, Widersprechen und Kritikäußerung etc.) 4. Wird Höflichkeit anhand unterschiedlicher Textsorten differenziert behandelt? 5. Werden interkulturelle Unterschiede in Bezug auf höflichkeitsrelevante (verbale, paraverbale und non-verbale) Verhaltenskonventionen verdeutlicht? 6. Wie sind Redemittellisten gestaltet? 6a Bieten sie ausreichend Variation? Verdeutlichen sie ggf. Unterschiede bei Varianten in Bezug auf den Grad der Höflichkeit? 6b Werden neben unmarkierten, höflichen Formen auch markierte, aus normal-höflicher Tonlage unhöfliche Formen aufgelistet? Analog dazu: Werden sowohl „gesichtsschonende“ Ausdrücke als auch direkt formulierte angeboten? Wenn ja, wird der Unterschied dieser Formen in Bezug auf den Grad der Höflichkeit (auch unter Berücksichtigung pragmatischer Aspekte sowie intra- und interkultureller Differenzen) bewusst gemacht? 6c Werden typische Gesprächssequenzen (Kontaktaufnahme - Kern - Gesprächsbeendigung) und Paarformeln (Frage - Antwort, Reklamation - Reaktion etc.) im Verbund aufgezeigt? 7. Welche Kompetenzen werden gefördert? (Mündlicher und schriftlicher Ausdruck, rezeptive und produktive Kompetenzen, metasprachliches Reflexionsvermögen etc.) 8. Werden höflichkeitsrelevante Aspekte der Intonation (Tonhöhe, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit) berücksichtigt? 9. Welche Übungsformen werden angeboten? 10. Ist eine Progression bei der Behandlung höflichkeitsrelevanter Formen und Aspekte im Laufe des Lehrwerkverbundes festzustellen? Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] 353 354 Ulrike Simon 3.2 studio [21] Dieses Lehrwerk kann als Vertreter einer jüngeren Lehrwerkgeneration gelten, da die im Folgenden analysierten Bände zwischen 2013 (A1) und 2015 (B1) erschienen sind. 7 Studio [21] präsentiert sich als Lehrwerkverbund, der neben unterschiedlichen Printmaterialien auch zahlreiche digitale Materialien (E-Book, Medienpaket, Online-Angebote, Vokabeltrainer-App etc.) umfasst. 8 Dieses Lehrwerk ist für Erwachsene ohne Deutsch-Vorkenntnisse konzipiert und eignet sich gleichermaßen für den DaFwie DaZ-Unterricht. 3.2.1 Gesamtband A1 In diesem Band wird Höflichkeit ausschließlich implizit-integrativ behandelt. Dabei werden Routineformeln an bestimmte (höflichkeitsrelevante) Sprachhandlungen ( ein Gespräch beginnen, sich und andere vorstellen, Begrüßung und Verabschiedung, sich entschuldigen, etwas ablehnen, sich bedanken etc.) angebunden. In Bezug auf einige wichtige kritische Kommunikationssituationen wie sich entschuldigen, um Hilfe bitten fällt allerdings auf, dass kaum alternative Sprachhandlungsmöglichkeiten angeboten werden. Positiv ist zu bemerken, dass Gesprächssequenzen und Paarformeln (fragen - antworten, danken - antworten, Anfrage - Reaktion) im Verbund behandelt werden. Als besonders anregend für eine Reflexion der Gebrauchsbedingungen von bestimmten höflichkeitsrelevanten Sprachhandlungen, aber auch hinsichtlich regionaler, nationaler (im Bereich DACH ) und interkultureller Differenzen, erweisen sich folgende Kurztexte zur Begrüßung, Anrede und Verabschiedung (vgl. Abb. 2). Hier wird zwar in Bezug auf die Anrede zunächst die Existenz von Gebrauchsregeln negiert („Es gibt keine Regeln.“), dann aber auf die die Kommunikationssituation konstituierenden Elemente und damit verbundenen Verwendungsbedingungen hingewiesen (formal vs. informal, Nähe-Distanz-Verhältnis der Gesprächspartner, interkulturelle Unterschiede). 7 Vgl. dazu die genauen Angaben in der Bibliographie. 8 Vgl. http: / / www.cornelsen.de/ studio_21/ 1.c.3128384.de (Stand 20. 12. 2016) Abb. 2: Texte zu höflichkeitssensiblen Sprachhandlungen (Funk / Kuhn 2013, 66) 3.2.2 Teilband A.2.1 Auch dieser Teilband von studio [21] behandelt Höflichkeit implizit-integrativ. Einige in A1 eingeführte, höflichkeitsrelevante Sprachhandlungen werden wiederholt und teilweise durch alternative Realisierungsformen ergänzt. Damit einhergehend ist eine steigende Varianz bei Redemitteln festzustellen, z. B. in Bezug auf die höflichkeitssensible Sprachhandlung einen Termin absagen (Tut mir leid! / Ich muss leider absagen./ Entschuldigung! ). Allerdings wird der Grad der Höflichkeit von Varianten nicht verdeutlicht, der vor allem bei potenziell gesichtsbedrohenden Sprachhandlungen wie reklamieren von besonderer Bedeutung ist. Positiv fällt auf, dass Paarformeln auch hier im Verbund aufgezeigt werden (reklamieren - reagieren, sich beschweren - sich entschuldigen). Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] 355 356 Ulrike Simon Interkulturelle Differenzen werden in diesem Teilband nicht angesprochen, und das ausgerechnet bei Themen wie Einladung und Geschenke , die als Hotspots in der Interkulturellen Kommunikation gelten. 9 Insgesamt treten wenige höflichkeitsrelevante Aspekte in diesem Teilband in Erscheinung, was sicherlich auch mit den im Vordergrund stehenden Lernzielen und Themen ( Sachtexte verstehen, über die Familie / eine Reise / Medien etc. sprechen usw.) zu begründen ist. 3.2.3 Teilband A.2.2 Ab diesem Teilband wird Höflichkeit explizit in studio [21] behandelt: Höflichkeit am Arbeitsplatz, interkulturell, in Verbindung mit bestimmten grammatischen Formen wie könnte / hätte u. v. a. m. Dabei wird auch die Bedeutung der Intonation hervorgehoben, wie in folgender Hörtextübung: Abb. 3: Hörtextübung zur Intonation auf Niveaustufe A2.2 (Funk / Kuhn / Winzer-Kiontke 2015, 164) Es handelt sich um Sprachhandlungen, die auf morphosyntaktischer und lexikalischer Ebene unterschiedlich realisiert sind (Konjunktiv, Indikativ, Aussage mit (rhetorischer) Feedback-Frage, Verwendung der Höflichkeitsformel bitte ). Die Beispiele sind jeweils in 2 Intonationsvarianten zu hören, die den Grad der Höflichkeit modifizieren. Dadurch wird die Rolle von Intonation im Hinblick auf Höflichkeit unterstrichen und aufgezeigt, inwiefern hier der Ton die Musik macht . Weiterführend wird in einem Lesetext (ebd.) explizit auf die Bedeutung anderer paraverbaler (Lautstärke, Tonhöhe) und nonverbale Faktoren (Körpersprache, Blickkontakt) hingewiesen, sowie auf kulturelle Unterschiede aufmerksam gemacht. Da die Beispiele jedoch ohne einen konkreten Kommunikationskon- 9 Als rich points oder Hotspots werden bekanntlich „heiße Stellen“, d. h. Situationen, Themen u. v. a. m. bezeichnet, die in der interkulturellen Interaktion anfällig für Konflikte sind (vgl. Heringer 2004, 162-173). text aufgelistet werden, besteht trotz der Verwendung einschränkender Formen („Leises Sprechen ist meistens höflicher als lautes Sprechen.“) (ebd.) die Gefahr der Generalisierung. Dies bestätigt sich in einem Übungsteil (ebd., 172), in dem der Lesetext und das damit verbundene Thema wieder aufgegriffen werden. Zunächst werden reine Textverständnisfragen angeboten, womit die Chance zu darüber hinaus gehenden interkulturellen Fragestellungen und metasprachlichen Reflexionen (auch unter Berücksichtigung pragmatischer Aspekte) verpasst wird. In einer darauffolgenden Fallbeispielanalyse eines Critical Incidents wird zwar auf den möglichen falschen Rückschluss hingewiesen, dass Direktheit mit lautem Sprechen gleichzusetzen sei, aber dadurch wird das Thema letztlich auf das Abprüfen des kulturspezifischen Wissens Leise sprechen gilt in Deutschland als höflich reduziert. Denn auch hier bleibt der Handlungskontext gänzlich unberücksichtigt, so dass der Gefahr der Generalisierung nicht entgegengesteuert wird. Interkulturelle Differenzen werden auch anhand verschiedener Hotspots aufgezeigt. Beispielsweise wird das bereits in Teilband A2.1 behandelte Thema Geschenke wieder aufgegriffen und explizit unter interkulturellem Gesichtspunkt vertieft. Verschiedene Übungen bieten vor allem mit Verweis auf die Herkunftskultur der Lernenden Anlass zur Reflexion kulturspezifischer Konventionen und Tabus, z. B. in Bezug auf Geldgeschenke. Aber auch hier kann es leicht zu pauschalen, generalisierenden Aussagen und Bewertungen kommen, da ein konkreter Handlungskontext fehlt bzw. nur ansatzweise durch Fragen wie „Was schenken Sie wem und wann? “ (ebd., 187) berücksichtigt wird. Auch in Bezug auf das Thema Emotionen ausdrücken wird für kulturspezifische Unterschiede sensibilisiert. In einem dazu angebotenen Lesetext heißt es u. a.: „In manchen Kulturen zeigt man mehr Emotionen mit dem Gesicht und in anderen weniger, weil das Zeigen von Gefühlen dort nicht höflich ist.“ (ebd., 199) Dadurch wird ein Bewusstsein für kulturdifferente Verhaltensweisen hinsichtlich nonverbaler höflichkeitsrelevanter Faktoren geschaffen. Unterschiede in Bezug auf den Grad der Höflichkeit von Sprachhandlungsalternativen werden in diesem Teilband im Rahmen verschiedener Übungen aufgezeigt. Dabei werden unmarkierte, höfliche Formen direkten, aus normalhöflicher Tonlage unhöflichen Formen gegenübergestellt und Lernende sollen in beide Richtungen umformulieren. Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] 357 358 Ulrike Simon Abb. 4: Übungen zur Verdeutlichung der (Un-)Markiertheit sprachlicher Formen (Funk / Kuhn / Winzer-Kiontke 2015, 164 / 172) Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Höflichkeit in diesem Teilband - wenn auch mit Schwachstellen - relativ ausführlich unter Berücksichtigung verbaler, paraverbaler und nonverbaler Faktoren behandelt wird. 3.2.4 Teilband B.1.1 Die bereits in A.2.2 geförderte Reflexion der Bedeutung von Intonation für den Grad der Höflichkeit einer Sprachhandlung wird auf dieser Niveaustufe fortgesetzt. Dazu wird eine Hörtextübung angeboten, bei der je eine auf morphosyntaktischer Ebene als höflicher einzustufende Form (Modalverb im Konjunktiv II ) und eine (scheinbar) markierte (Imperativ-)Form gegenübergestellt werden. Abb. 5: Hörtextübung zur Intonation auf Niveaustufe B1.1 (Funk / Kuhn / Nielsen / Winzer-Kiontke 2015, 36) Positiv ist hier zu verbuchen, dass überraschenderweise in zwei von drei Fällen die Imperativform höflicher klingt als die Konjunktivform, wodurch die entscheidende Rolle der Intonation verdeutlicht wird. Modalverben im Konjunktiv II werden hier und in folgenden Übungen thematisch an den Bereich Ratschläge geben angebunden. In einem Lesetext zu Freundschafts-„Netiketten“ 10 (ebd., 44) wird Generalisierungen vorgebeugt, indem man explizit auf die Bedeutung des Nähe-Distanz-Verhältnisses der Interaktanten hinweist. Dabei wird u. a. für Tabus in der Alltagskommunikation sensibilisiert und abschließend die Bedeutung von Höflichkeit unterstrichen: „Grundsätzlich gilt: Wenn Ihre Freundin Sie um einen Ratschlag zu Kind, Karriere oder anderen sehr privaten Dingen bittet, dann dürfen Sie ehrlich, aber höflich antworten.“ (ebd.) Die Vielschichtigkeit der Kommunikation wird anhand des rezipientenorientierten 4-Ohren-Modells nach Schulz von Thun aufgezeigt, nach dem die für das Sach-Ohr scheinbar neutrale Aussage „Da ist was Grünes in der Suppe“ für das Beziehungs-Ohr nach einer rüden Kritik („Du bist eine schlechte Köchin! “) klingt (vgl. Abb. 6). Dadurch wird der Interpretationsspielraum des Empfängers verdeutlicht und zu metasprachlicher Reflexion hinsichtlich der Komplexität von Kommunikation angeregt. 11 In Teilband B1.1 werden Lernende auch dazu angeleitet, ihre Meinung auszudrücken, wozu gesichtsbedrohende Sprachhandlungen wie jmdm. widersprechen gehören (ebd., 59). Bei der entsprechenden Redemittelliste sowie bei der dazu vorgesehenen Übung fällt allerdings auf, dass alle vorgegebenen Sprachhandlungen ziemlich direkt sind und auf den damit ggf. verbundenen Grad der (Un-)Höflichkeit, der gerade bei gesichtsbedrohenden Sprechakten wichtig ist, nicht hingewiesen wird. 10 Das Spiel mit dem hier verwendeten Begriff „Netikette“ dürfte Fremdsprachenlernende überfordern, da zu vermuten ist, dass sie ihn lediglich mit dem ihnen bekannten Wort nett in Verbindung bringen und kaum mit seiner eigentlichen Bedeutung als Bezeichnung für Verhaltensempfehlungen für die Kommunikation im Internet. Dies ist auch insofern zu befürchten, als im Lesetext kein Bezug auf internetgestützte Kommunikation hergestellt wird. Vgl. zu Netiquetten in Internetforen Ehrhardt (2009). 11 Vgl. zu kulturspezifischen Differenzen hinsichtlich möglicher Implikaturen bei Verweigerungen Bonacchi (2012). Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] 359 360 Ulrike Simon Abb. 6: Das 4-Ohren-Modell (Funk / Kuhn / Nielsen / Winzer-Kiontke 2015, 54) 3.2.5 Teilband B.1.2 Die in Band B1.1 erkennbare Progression, im Sinne einer vertiefenden Auseinandersetzung mit Höflichkeit , wird in Teilband B.1.2 fortgesetzt. Die dabei im Vordergrund stehenden Themen (Peinlichkeiten, Knigge etc.) und Aufgabenstellungen orientieren sich stark an dem Vorgängerlehrwerk studio d , das u. a. von Neuland (2010, 21) kritisch kommentiert wurde. 12 Ziel ist es zunächst, für kulturspezifische Verhaltenskonventionen in Deutschland, z. B. in Bezug auf den Umgang mit Handys im Restaurant, Essen in der U-Bahn oder das Beneh- 12 Die Kritik von Neuland (2010, 21) an studio d richtet sich u. a. darauf, dass die Darlegungen zur Ratgeberliteratur Knigge sich nur auf allgemeines Verhalten beziehen. Grundsätzlich bemängelt sie an dem interkulturellen Ansatz des Lehrwerks, dass den Texten, Übungen und Aufgabenstellungen noch ein Kulturkontrastmodell zu Grunde liegt, das leicht zu Generalisierungen führen kann. men am Arbeitsplatz zu sensibilisieren. Dazu wird u. a. ein Video-Clip mit einem Experten-Interview angeboten, in dem es aber lediglich zu oberflächlichen, allgemeinen Aussagen zu Orten kommt, an denen man nicht telefonieren sollte. Anreiz zur kritischen Reflexion, ob pauschale Verhaltensregeln, wie im Restaurant das Handy besser nicht auf den Tisch zu legen, uneingeschränkt gelten, bietet dagegen eine darauffolgende Lese- und Schreibübung. In einem der Kommentar hierzu heißt es z. B.: „Es kommt darauf an. Wenn ich einen wichtigen Anruf erwarte, ist das Handy - auch wenn Freunde dabei sind - auf dem Tisch ok. Aber ansonsten finde ich es total unhöflich.“ (Funk / Kuhn / Winzer-Kiontke 2015, 209). Derlei Verhaltensstandards im Alltag werden im Übungsteil durch Erfahrungsberichte aus dem Berufsleben ergänzt. Auch hier kommt die Einstellung der Personen in Bezug auf die Bedeutung von Höflichkeit zum Ausdruck: „Gutes Benehmen finde ich privat und im Beruf sehr wichtig. Deshalb bin ich immer höflich und aufmerksam.“ (ebd., 140) Darüber hinaus werden wichtige Themen wie die Anrede (duzen / siezen), Belästigung durch lautes Sprechen, die Bedeutung von Routineformeln (danke / bitte) etc. angesprochen. Die Auseinandersetzung mit interkulturellen Differenzen geht auch in diesem Teilband zunächst von einer Reflexion der eigenkulturellen Benimmregeln und Verhaltensmuster der Lernenden z. B. bei Erstbegegnungen oder Einladungen aus (ebd., 133). Weiterführend richtet sich der interkulturelle Blick dann auf andere Kulturkreise. In einem Hörtext zum Thema „Knigge international“ (ebd., 134) wird für Probleme bei Auslandserfahrungen sensibilisiert, die durch die Gebundenheit an das eigenkulturelle Orientierungssystem entstehen: „(…) im Ausland merke ich immer, wie deutsch ich bin, und habe auch oft Probleme, mich anzupassen.“ (ebd., Transkription, 251) Dieser Hörtext ist in mehrfacher Hinsicht für interkulturelles Lernen sehr sinnvoll: • Es wird auf die Wirkung aufmerksam gemacht, die fremdkulturelle Sprachhandlungskonventionen auslösen können. In Bezug auf die in den USA übliche Anrede mit Vornamen heißt es etwa: „Also, am Anfang fand ich das total unhöflich, aber dort ist das völlig normal.“ • Ein kritischer Umgang mit Ratgeberliteratur wird gefördert, indem z. B. auf nicht immer zutreffende Tischregeln in Japan hingewiesen wird: „Obwohl in vielen Knigge-Büchern steht, dass man Sushi mit den Händen essen darf, sollte man das nicht tun.“ • Die Komplexität der die Interaktionssituation bestimmenden Faktoren und die damit verbundenen Verhaltenskonventionen werden anhand des Beispiels der Visitenkarten in Japan verdeutlicht: „Das werde ich wohl nie verstehen, wer wem in welcher Situation die Karte geben darf.“ Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] 361 362 Ulrike Simon • Der Gefahr der Stereotypisierung durch vereinfachenden Kulturvergleich versucht man durch einen Kommentar zur vermeintlichen Unpünktlichkeit der Italiener entgegenzuwirken: „Es ist zum Beispiel ein Klischee, dass Italiener immer zu spät kommen. Ich habe einen Kunden in Rom besucht und alle Angestellten waren immer pünktlich.“ • Unterschiede hinsichtlich des Gesprächsverlaufs werden durch die im deutschen und italienischen Kulturkreis üblichen Bewertungen bzw. Funktionen des Unterbrechens verdeutlicht: „Bei uns ist es unhöflich, wenn man eine Person nicht zu Ende reden lässt, aber in Italien zeigt man dadurch Interesse am Inhalt. Man sollte also immer mal reinreden oder auch nachfragen.“ • Für unerwartete Settings bei Geschäftstreffen als Zeichen beziehungsorientierten Kommunikationsverhaltens sensibilisieren Beispiele aus dem italienischen bzw. russischen Kulturkreis, die der an Sachorientiertheit gewohnten deutschen Sprecherin auffallen: „Die Italiener […] besprechen Geschäftliches wirklich gern beim Essen. Das ist übrigens in Russland auch so.“ Interkulturelle Differenzen aufgrund von Beziehungs- und Sachorientiertheit werden weiterführend mittels des Arm-Zonen-Modells von Desmond Morris vertieft, wobei damit einhergehende Kommunikationskonventionen verdeutlicht werden. In Bezug auf die beziehungsorientierten „Ellenbogenländer“ wie Italien heißt es beispielsweise: „Alles Private ist deshalb ein passendes Smalltalk-Thema. Komplimente dürfen direkt und sehr persönlich sein.“ (ebd., 135) Demgegenüber wird zu sachorientierten „Fingerspitzenstaaten“ wie Deutschland und Japan angemerkt, dass „Gespräche über das Privatleben […] teilweise tabu“ seien (ebd.). 13 Abschließend wird auf kulturübergreifende Smalltalk- Themen für geschäftliche interkulturelle Interaktionssituationen (Interesse an der regionalen Küche, Wertschätzung lokaler Sehenswürdigkeiten und positive Äußerungen zum Wetter) hingewiesen. Dem Thema Smalltalk wird im erweiternden Lehrbuchteil Station 2 eine ganze Doppelseite gewidmet, wodurch dessen Bedeutung für die Kontakteröffnungsphase hervorgehoben wird. Auf eine Hörtextübung mit einem Critical Incident folgt ein handlungsorientiertes Training im Rollenspiel, wobei die den Gesprächsverlauf strukturierenden Sequenzen verdeutlicht und entsprechende Redemittel dazu angeboten werden (ebd., 202). 13 Anreiz zur kritischen Reflexion solcher generalisierenden Kulturmodelle bietet vor dem Hintergrund der Erfahrungswelt der Lernenden eine anschließende Übung mit dem Arbeitsauftrag: „Und Sie? In welcher Arm-Zone leben Sie? Stimmen die Aussagen? Diskutieren Sie.“ (ebd.) Abb. 7: Smalltalk-Themen (Funk / Kuhn / Winzer-Kiontke 2015, 202) Wie bei dieser Übung zum Thema Smalltalk ist man auch an anderer Stelle dieses Teilbands bemüht, interkulturelle Differenzen anhand von Critical Incidents aufzuzeigen, bei denen das Verhalten eines Interaktanten gegen kulturgebundene Konventionen verstößt und so einen Konflikt auslöst (vgl. ebd., 137 und 145). Grundsätzlich ist die Arbeit mit Fallbeispielen zwar zu begrüßen, das methodische Vorgehen stellt sich jedoch in mehrfacher Hinsicht als inadäquat heraus: Die dargestellten Interaktionssituationen wirken oft wenig authentisch, da es sich um zu offensichtliche und übertriebene Regelverstöße handelt, die zudem in sehr kondensierter Form präsentiert werden. 14 Dies soll es Lernenden 14 In der oben erwähnten Hörtextübung zum Smalltalk in einer Kantine (ebd., 202) drängt ein Mitarbeiter einem Kollegen seine Tischgesellschaft regelrecht auf („So ich setze mich mal zu Ihnen. Sie haben doch nichts dagegen? ! “ Ebd., Transkription, 259), um dann eine ganze Reihe an Regelverstößen zu begehen (Kritik an der Essenswahl des Gesprächspartners; ironische Kritik an dessen Kleidung; direkte Frage nach seiner vermeintlichen Gehaltserhöhung; Insistieren in Bezug auf das Tabu-Thema Geld, obwohl der Gesprächspartner signalisiert, in diesem Kontext nicht darüber sprechen zu wollen; Kritisieren des Chefs, also eines höhergestellten Dritten in dessen Abwesenheit; Abwertung des Gesprächspartners durch Ansprechen seines vermeintlich niedrigen Gehalts). Vgl. eine entsprechende Kritik in Bezug auf Materialien für den L1-Unterricht bei Grossmann (2011, 55). Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] 363 364 Ulrike Simon sicherlich erleichtern, das Fehlverhalten aufzudecken, das den Critical Incident auslöst. Entwickler von Lehrmaterialien sollten jedoch m. E. nicht vor der Komplexität authentischer Situationen, die durchaus schwieriger zu analysieren sind, zurückschrecken. Ganz im Gegenteil können Untersuchungen hybrider Fallbeispiele dabei helfen, Stereotype abzubauen (vgl. Simon 2009a). 15 Auch darf sich die Arbeit mit den Fallbeispielen nicht auf die Analyse des Fehlverhaltens beschränken. Es sollte vielmehr darüber hinaus dazu angeregt werden, über Handlungsalternativen (und / oder Reparaturhandlungen) nachzudenken. 16 4. Fazit Zusammenfassend lässt sich Folgendes in Bezug auf die Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] festhalten: Der Erwerb interkultureller Höflichkeitskompetenz wird progressiv unterstützt. Gemäß des GER wird Höflichkeit ab der Niveaustufe A1, z. B. durch das Einführen von Routineformeln, implizit-integrativ behandelt. Zusätzlich wird ab Teilband A.2.2 ein Bewusstsein über Höflichkeitskonventionen und deren Bedeutung für den Erfolg von (Sprach-)Handlungen gefördert. Höflichkeit kommt hier mehrfach explizit und teilweise im Rahmen eigenständiger Unterrichtseinheiten zur Sprache. Lernende werden bedingt auf ein adressatenorientiertes und situationsangemessenes (Sprach-)Handeln in interkulturellen Interaktionssituationen vorbereitet: Positiv fällt auf, dass alle Handlungsebenen (verbal, paraverbal, nonverbal) ins Spiel kommen und Lernende für kulturspezifische Differenzen und deren Bedeutung für adäquates (Sprach-)Handeln sensibilisiert werden. Dennoch bleiben folgende Defizite bestehen: Methodisch steht weiterhin das von Neuland (2010, S. 21 f.) in Bezug auf Vorgänger-Lehrwerke kritisierte „Vermeidungslernen“ im Vordergrund. Denn die Bearbeitung von Critical Incidents beschränkt sich - wie oben erwähnt - hauptsächlich auf das Aufzeigen des Fehlverhaltens von Interaktanten und hebt damit negative Höflichkeit besonders hervor. Der Schritt zur Entwicklung von Handlungsalternativen (und / oder Reparaturhandlungen) und ein damit einhergehendes Einüben von positiver Höflichkeit wird so oftmals verpasst. 17 15 Auch Pieklarz (2012, 352) plädiert für den Einsatz kontextgebundener, authentischer Materialien, da konstruierte Lehrwerkdialoge oft nicht aufzeigen, „wie Höflichkeit interaktiv aufgebaut wird.“ 16 Vgl. ein entsprechendes Analysemodell in Simon (2009b). 17 Vgl. zur Verwendung der Begriffe negative / positive Höflichkeit im Rahmen von Lehrwerkkritik Neuland (2010, 21 f.). In Bezug auf Redemittellisten ist festzustellen, dass diese mehrheitlich zu wenig Varianten anbieten, um Lernenden ausreichend Sprachhandlungsalternativen an die Hand zu reichen. Dazu kommt, dass Unterschiede in Bezug auf deren Höflichkeitsgrad nur selten verdeutlicht werden. Ferner werden die die Interaktionssituation konstituierenden Faktoren grundsätzlich vernachlässigt, wodurch es gerade im Bereich der interkulturellen Differenzen häufig zu plakativen, generalisierenden Aussagen kommt, die die Gefahr zur Stereotypisierung in sich bergen. Aus diesen Defiziten lassen sich abschließend folgende Desiderate ableiten: Formen positiver Höflichkeit sollten verstärkt durch das Aufzeigen und Reflektieren von Handlungsalternativen bei Critical Incidents verinnerlicht werden. Zur Erreichung des Lernziels „reflektierte Höflichkeit“ (Neuland 2010, 17 f.) ist es darüber hinaus wichtig, Lernenden ausreichend Redemittel zur Verfügung zu stellen, sie dazu anzuleiten, diese adressaten- und situationsgerecht anzuwenden, und sie ggf. auf Differenzen hinsichtlich des Grades von Höflichkeit hinzuweisen. Generalisierende und stereotypisierende Aussagen können durch eine intensivere Kontextualisierung der dargestellten Interaktionssituationen vermieden werden. Dies bestätigt insgesamt die Notwendigkeit, das Thema Höflichkeit stärker an pragmatische Fragestellungen anzubinden, und zwar nicht nur in wissenschaftstheoretischer Hinsicht (vgl. Ehrhardt 2014), sondern auch auf anwendungsorientierter Ebene im Bereich der Fremdsprachendidaktik und Lehrmaterialentwicklung. Literatur Bonacchi, Silvia (2012). Implikaturen höflicher Verweigerungen an deutschen, italienischen und polnischen Beispielen. In: Grucza, Franciszek (Hrsg.) Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Band 12. Frankfurt am Main: Peter Lang, 261-267. Cherubim, Dieter (2011). Höflichkeitskonstruktionen. Der Deutschunterricht 2: 11, 2-60. Ehrhardt Claus / Neuland, Eva (Hrsg.) (2009). Sprachliche Höflichkeit in interkultureller Kommunikation und im DaF-Unterricht. Frankfurt am Main: Peter Lang. Ehrhardt, Claus / Neuland, Eva (2009). Sprachliche Höflichkeit in interkultureller Kommunikation und im DaF-Unterricht: Zur Einführung. In: Ehrhardt, Claus / Neuland, Eva (Hrsg.), 7-24. 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Funk, Hermann / Kuhn, Christina / Nielsen, Laura / Winzer-Kiontke, Britta (2015). studio [21]. Das Deutschbuch. Teilband B1.1. Berlin: Cornelsen. Funk, Hermann / Kuhn, Christina / Winzer-Kiontke, Britta (2015). studio [21]. Das Deutschbuch. Teilband B1.2. Berlin: Cornelsen. Der Ton macht die Musik: Zur Behandlung von Höflichkeit im Lehrwerk studio [21] 367 Sprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik 369 Sprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik Joachim Gerdes This study will analyze a relatively recent type of text - the Internet book review written by amateurs and published on commercial websites - from a linguistic point of view with special regard to verbal expressions of politeness. Literary reviews have a long history of criticizing: traditional forms range from mild reproof, to moderate disdain, provocatory polemic, or even unconcealed hostility. We argue that the particularity of amateur book reviews on the Internet is their hybrid combination of features that are taken, on one hand, from the conventional genre of the book review and, on the other, from the standards of netiquette as commonly requested in Internet forums. This study will investigate how non-expert book reviews on the Internet express negative criticism - through specific linguistic means and speech acts - and show how (im)politeness is created within this textual genre and how it is adapted to this specific communication situation. 1. Einleitung Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung steht neben der sprachlichen Höflichkeit die im Wandel befindliche Gestalt der sehr alten Textgattung der Literaturkritik aufgrund der Demokratisierung und Vermassung der Publikationsmöglichkeiten schriftlicher Texte durch das interaktive Internet in Form der von Laien verfassten Internetrezension. 1 Dabei spielen Traditionen und Konventionen der Buchrezension eine Rolle, Ausdrucksformen der sogenannten Netiquette sowie die spezielle Situation der Mehrfachadressierung, die der Literaturrezension eigen ist und durch den großen Verbreitungsradius der Internetrezension potenziert wird. Ziel der Analyse wird es also sein, pragmatische Strategien der Höflichkeit in dieser Textsorte, deren deskriptive linguistische 1 Der Begriff „Rezension“ wird hier generell im Sinne einer Buchbesprechung angewandt, ohne „die für die Tätigkeit des Rezensierens vorausgesetzten charakteristischen Handlungen wie Professionalität bzw. Expertentum“ (Petkova-Kessanlis 2012: 225) als notwendiges Merkmal für die Definition des Terminus vorauszusetzen. 370 Joachim Gerdes Erfassung vor allem Petkova-Kessanlis zu danken ist (2012), im Konfliktfeld zwischen Konvention, Persuasion und Gesichtswahrung zu ermitteln. Die Untersuchung basiert auf einem kleineren Korpus aus 125 Laienliteraturkritiken, die auf den Webseiten von Bücherangeboten des Internetanbieters Amazon (www.amazon.de) publiziert wurden. Es handelt sich um ausschließlich negative Kritiken mit nur einem oder zwei von maximal fünf zu vergebenden Sternchen. Die rezensierten Texte sind Romane aus dem Zeitraum von 2010 bis 2015, die von der offiziellen Buchkritik positiv bewertet wurden, zum Teil renommierte Preise gewonnen haben und von Autorinnen und Autoren verfasst sind, die im Literaturbetrieb etablierte Größen darstellen. Die Großbuchstabenkürzel werden im Beitrag zwecks Bezugnahme auf den jeweiligen Text verwendet: • Zsuzsa Bánk ( Die hellen Tage , 2012, ZB ); • Wolfgang Herrndorf ( Sand , 2013, WH ); • Christian Kracht ( Imperium , 2012, CK ); • Sibylle Lewitscharoff ( Blumenberg , 2011, SL ); • Terézia Mora ( Das Ungeheuer , 2013, TM ); • Martin Mosebach ( Was davor geschah , 2010, MM ); • Melinda Nadj Abonji ( Tauben fliegen auf, 2010, MN ); • Lutz Seiler ( Kruso , 2014, LS ). 2. Die Textgattung der Literaturkritik Die Literaturkritik gehört zu den traditionsreichsten Textgenres unseres Kulturkreises und „hat in der abendländischen Kultur eine annähernd ebenso lange Tradition wie die literarische Kommunikation selbst“ (Bogner 2004, 14). In der literarischen Moderne etabliert sich die Literaturkritik vorrangig in spezifischen Literaturzeitschriften; in der Bundesrepublik sind es Feuilletons oder Literaturteile großer Tages- und Wochenzeitungen, die vorwiegend Rezensionen professioneller Literaturkritiker publizieren, darunter sogenannte „Großkritiker“ wie Marcel Reich-Ranicki, der sich nach eigener Aussage nicht mehr „vorrangig an den intellektuellen Leser“ wendet, sondern „an ein breiteres Publikum, dem eine ‚intelligente‘ Unterhaltungsliteratur […] anempfohlen wird“ (Pfohlmann 2004, 180). An der Konstituierung dieser Art der nicht akademischen Literaturanalyse als gattungsspezifischer Vorreiterin der Laienliteraturkritik hat insbesondere Reich-Ranicki maßgeblichen Anteil, wenn er im Zuge der Rekrutierung renommierter Literaturwissenschaftler für das Zeitungsfeuilleton deren „Zeitungstauglichkeit“ gewährleistet, indem er ihnen „die Produktion trockener Wissen- Sprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik 371 schaftsprosa austreibt und auf Verständlichkeit und Unterhaltsamkeit großen Wert legt“ (Pfohlmann 2004, 181). Die hier geforderte Orientierung an der Laienleserin / am Laienleser impliziert einen neuen Umgang mit sprachlichen Formen der Kritik, so weist Anz auf die „vielfältige, komplexe und heute weder in der Theorie noch in der Praxis befriedigend gelöste Problematik des argumentativen Umgangs mit Wertungsmaßstäben“ hin (Anz 2004, 213 f.). Für die inhaltliche und sprachliche Struktur der Literaturkritik gibt es eine Reihe von Ratgebern und Anleitungen zur Erstellung von Rezensionen, sowie Monographien zur Literaturkritik. An Empfehlungen oder Anweisungen zur sprachlichen Höflichkeit in Literaturrezensionen findet sich darin jedoch insgesamt wenig Eindeutiges, im Allgemeinen wird die weitgehende Freiheit der Rezensentinnen und Rezensenten in inhaltlicher wie sprachlicher Hinsicht unterstrichen. Anz verweist darauf, dass in der Literaturkritik „fast nichts verboten“ sei, was nicht das Recht auf Persönlichkeitsschutz verletze; d. h. falsche Tatsachenbehauptungen oder ehrverletzende sogenannte „Schmähkritik“ seien unzulässig (Anz 2004, 225). Im Übrigen konstatiert Anz, „rhetorische und literarische Mittel der polemischen Übertreibung, der Ironie, Parodie oder Satire“ seien legitim und warnt sogar unter Verweis auf die nationalsozialistische Kulturpolitik und deren gesetzliches Verbot der Kunstkritik vor „einem prinzipiellen Verzicht auf negative Wertung “ (Ebda., 229). Diesem nahezu expliziten Aufruf zur auch sprachlich akzentuierten Kritik steht in populären Ratgebern zum Verfassen von Rezensionen tendenziell eher eine gewisse Vorsicht gegenüber zu scharf formulierter Kritik entgegen. So raten etwa Hannig / Kümper dazu, „auf Spott, Polemik und boshafte Kommentare zu verzichten“ (2012, 119). Neuhaus stellt die Frage, ob man in den gelegentlichen Exzessen in den Auseinandersetzungen zwischen Literaten und deren Kritikern „einen Ausdruck von Streitkultur sehen möchte, die der deutschsprachige Raum anderen Ländern und Literaturen voraus hat, oder ob man eher geneigt ist, die Schärfe der Auseinandersetzungen als Verlust an Kultur zu beklagen“ (Neuhaus 2004, 129). Dem gegenüber postuliert etwa Schalkowski, die Leserin / der Leser einer Rezension habe mehr „von einer scharf durchdachten und pointiert formulierten Position“ als von einem „vorsichtigen Sowohl-als-Auch“ (Schalkowski 2005, 107). Reich- Ranicki thematisiert das Problem der sprachlichen Höflichkeit in den Vorbemerkungen zu Lauter Verrisse folgendermaßen eingehend: „Schwierig ist es […], ein Kritiker und zugleich ein Gentleman zu sein. Jeder Kritiker weiß aus Erfahrung, daß es zahllose Situationen gibt, in denen Höflichkeit dem Autor gegenüber nur auf Kosten der Klarheit möglich ist. Hinter einer solchen Unklarheit verbirgt sich aber immer eine gewisse Unaufrichtigkeit, die wiederum von der bewuß- 372 Joachim Gerdes ten Irreführung nur ein kleiner Schritt trennt. […] So wird oft für Höflichkeit oder Vornehmheit des Kritikers gehalten, was nichts anderes ist als Bequemlichkeit oder Kleinmut oder Unentschiedenheit, nichts anderes als Fahrlässigkeit denen gegenüber, für die er schreibt. […] Der Kritiker, […] der sich fürchtet, als unhöflich zu gelten, […] hat seinen Beruf verfehlt“. (Reich-Ranicki 1992, 37 ff.) Reich-Ranicki setzt in seinem Plädoyer für die literaturkritische Unhöflichkeit, die Höflichkeit mit „Unklarheit, Unaufrichtigkeit, bewusster Irreführung, Bequemlichkeit, Kleinmut, Unentschiedenheit, Fahrlässigkeit“ und insgesamt mit mangelnder Professionalität gleich. Während die journalistische Literaturkritik - angeführt von Marcel Reich-Ranicki, - den der Leserin / dem Leser und auch der Autorin / dem Autor geschuldeten Respekt in einer weitestgehenden Klarheit und Unverblümtheit sieht, scheint in Sekundärtexten zur Literaturrezension wie auch in Ratgebern für angehende Literaturkritiker ein Grundkonsens der moderaten Abgewogenheit vorzuherrschen. Beim Versuch, die Laienliteraturkritik in Online-Foren zwischen diesen zwei Polen zu verorten, zeigt sich bei einer ersten kursorischen Durchsicht, dass die Laienliteraturkritik sich offenbar eher der Forderung nach unverhüllter Deutlichkeit eines Reich-Ranicki annähert als etwa den Literaturkritik-Ratgebern oder gar Hermann Hesses Verdikt gegenüber den „verneinenden, tadelnden Urteilen“, die falsch würden, sobald man sie äußere (Hesse 1970, XV ). 3. Laienliteraturkritik online Die auf der Webseite von Amazon veröffentlichten Laienrezensionen unterliegen nur wenigen Einschränkungen, die in Richtlinien festgelegt sind. Hinsichtlich sprachlicher Höflichkeit gibt es verbindliche Vorgaben, die eingehalten werden müssen, um die Veröffentlichung der Rezension zu gewährleisten: • Rezensionen dürfen keine Obszönitäten, vulgäre Ausdrücke […] enthalten. • Wir erlauben keine Rezensionen, welche Intoleranz gegenüber Menschen bestimmter Identitätsgruppen ausdrücken […]. Kunden dürfen Produkte nur kommentieren und die Expertise von Autoren […] in Frage stellen, solange dies in einer nicht bedrohlichen Art und Weise geschieht. • Rezensionen dürfen keine rechtswidrigen Verhaltensweisen unterstützen oder dazu ermuntern. 2 Darüber hinaus wird folgende Empfehlung gegeben, die sich unmittelbar auf stilistische Aspekte der sprachlichen Höflichkeit beziehen lässt: 2 https: / / www.amazon.de/ gp/ help/ customer/ display.html/ ? ie=UTF8&nodeId=201731200 Sprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik 373 Seien Sie aufrichtig: Wir begrüßen Ihre ehrliche Meinung über das Produkt oder die Dienstleistung. Wir entfernen keine Rezensionen, weil sie kritisch sind, sondern glauben daran, dass jede hilfreiche Information unseren Kunden die Kaufentscheidung erleichtert. (Ebda.) Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit werden ähnlich wie bei Reich-Ranicki als rezensorische Tugenden präsentiert, weil sie hier allerdings „hilfreich für die Kaufentscheidung“ seien. Kritische Offenheit, die - sei sie auch im konventionellen Sinne unhöflich - bei Reich-Ranicki noch mit dem Respekt vor dem Autor begründet wird, findet hier ihre Motivation im Respekt vor der Leserin / dem Leser als Käufer und zahlkräftigem Kunden. Die Autorin / der Autor wird zum Dienstleister, der nur bedingt der Einhaltung von Höflichkeitskonventionen würdig ist, sofern er nicht mit seinem ‚Produkt‘ die Kundenerwartungen hinreichend befriedigt. Die Tatsache, dass es unmöglich erscheint, Bücher mit überwiegend negativen Rezensionen zu finden, spricht jedoch für ein funktionierendes Kalkül des Seitenbetreibers, der davon ausgehen kann, dass eine Anhäufung von negativen Kritiken nahezu mathematisch auszuschließen ist, so dass eine Kaufentscheidung fast durchweg vom Online-Rezensionsforum begünstigt werden dürfte. 4. Unhöfliche Rezensionen Negative Kritik in unabgemilderter Form unter weitgehendem Ausschluss höflicher Sprachmittel überwiegt deutlich, wofür im Folgenden einige Beispiele aufgeführt werden: 1. Zähe, langweilige Lektüre, hohl, ohne jeden Esprit, ohne großen Spannungsbogen, emotionslos, fade und schal, schwer, farblos, definitiv ungenießbar ( KH , A. Zanker) 2. Eine Tortur sich durch diesen Brei an Geschreibsel durchzukämpfen, ein Scheißroman ( TM , Heinz Bolognese) 3. entsetzliche Sauertöpfigkeit und vollständige Humorlosigkeit […]. (LS, Lothar Müller-Güldemeister) 4. Das Buch kann man ja nicht mal weiterverleihen, ab in die Tonne. ( WH , Markus) 5. Was für ein Dreck! Das Buch ist noch nichtmal das Papier wert auf das es gedruckt wurde! ( CK , Samoth666) Rezensionen, in denen die Leserinnen / Leser solcherart unmissverständlich ihrer Wut auf die Autorinnen / Autoren Ausdruck verleihen, sind durchaus nicht selten und zeigen, dass gewisse Grundsätze der Netiquette im Rahmen dieser 374 Joachim Gerdes Online-Textsorte nicht immer respektiert werden. Die von Brown / Levinson erarbeiteten Strategien zum Ausgleich der Gesichtsbedrohung, die Held als „System von Verhaltensstrategien […], die sich aufgrund der direkten Proportionalität von Konfliktminderung und Indirektheit in hierarchischer Ordnung klassifizieren lassen“ subsumiert (Held 1995, 75), erscheinen hier gegenstandslos. Denn aufgrund der spezifischen Kommunikationssituation einer sozialen Asymmetrie zwischen Autorin / Autor und nicht professionellem Kritiker spielen Strategien zur Gesichtswahrung eine untergeordnete Rolle. Hinzu kommt, dass Höflichkeit gegenüber der Autorin / dem Autor in der gegebenen Kommunikationssituation zweitrangig ist. Der völlige Verzicht auf Netiquette und die Inkaufnahme grober face threatening acts (Brown / Levinson 1987) lässt sich somit auf die asymmetrische Mehrfachadressierung zurückführen, auf die für die Internetkommunikation charakteristische und durch die Verwendung von Pseudonymen begünstigte Anonymität, sowie auf die unmittelbare kommerziellen Zwecken dienende Produktkritik, die nur mittelbar als Autorenkritik erscheint, ferner auch auf aktuelle Tendenzen einer allgemeinen sprachlichen Verrohung im Netz. 5. ‚Höfliche‘ Rezensionen Held hat 1992 darauf hingewiesen, dass der Sprechakt der Kritik in der Höflichkeitsforschung bis dato wenig Berücksichtigung gefunden hat (Held 1992, 116). Neuere Forschungen zur Höflichkeit der Kritik gibt es jedoch ebenfalls nur in begrenztem Umfang, abgesehen von einigen Aufsätzen, die sich mit dem Phänomen am Rande beschäftigen (z. B. in Neuland 2009). Zur Kritik konstatiert Held, diese sei: „ per se ein fundamental unhöflicher Sprechakt. In seiner Charakteristik als negative Bewertung, Mißbilligung oder Ablehnung von Handlungen, Charaktereigenschaften, Gütern oder Ansichten des Partners verletzt er offensichtlich dessen Würde und Selbstwert und stellt einen konfliktträchtigen FTA par excellence dar“. (Held 1992, 115) Höflicher Stil ist im speziellen Fall der Kritik für Held „ein komplexes verbales face-work , welches von den individuellen Sprechern als Summe kulturellen Wissens, sozialer Erziehung und subjektiver Einschätzung der ‚Gewichtigkeit‘ der Handlung im Zusammenhang mit bestimmten situativen Faktoren selektiert wird“ (1992, 117). Held ergänzt, dass „Je schwerwiegender, aber notwendiger die Kritik am Partner empfunden wird, umso höher […] der verbale Aufwand sein [wird], der zur Rettung beider faces betrieben werden muss.“ Sprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik 375 Vor allem die Entschärfungsstrategien „Kompromissvorschlag“ und „Konsensorientierung“ (Held 1992, 122) sind für die Online-Rezensionen in unterschiedlicher Gewichtung relevant. Auch die von Neuland genannte Entschärfungsstrategie des Witzes und der Ironie (2009, 156) spielt für die Online-Rezension eine nicht unerhebliche Rolle. Dabei sind unterschiedliche sprachliche Minimalisierungsstrategien in allen Kritikformen vertreten. Die anhand der 125 untersuchten Online-Rezension erkennbaren Tendenzen bei den Höflichkeitsstrategien lassen sich grob in die Hauptkategorien Vorschussargumentation, generalisierende Kritik, thematische Umleitung und Ironie unterteilen (vgl. Held 1922, 122; Neuland 2009, 156). 5.1. Vorschussargumentation: Vorschusslob Die am häufigsten auftretenden Höflichkeitsstrategien sind Formen der Vorschussargumentation, in der der in der nachfolgenden Kritik enthaltene gesichtsbedrohende Akt durch vorangestelltes Lob oder durch relativierende Selbstkritik abgemildert wird. In den folgenden Beispielen folgt auf das Vorschusslob die anschließende negative Kritik nach dem Pfeilsymbol ( →): 1. Genaue Beschreibung der Charaktere und ihrer Lebensumstände, detailgetreu. → Zu viel des Guten, sodass beim Lesen des Buches wenig Freude aufkommt. ( KH , Johannes Preßl) 2. Sprachlich furios geschrieben, mit überraschenden Bildern und Synästhesien. → Der lustlose Aufbau und die fehlende Spannung machen ihn mitunter zur mühsamen Kopfarbeit. Eine langweilige, gekünstelte Geschichte. ( SL , hjg) 3. Roman startet stark - mit bildhafter Sprache, wilden, atemberaubenden Szenenabfolgen. → Das Buch ist in keinster Weise empfehlenswert. Es ist eine einzige Enttäuschung. ( WH , cbfoerster) 4. Der deutschen Sprache mächtig, wenn nicht gar allmächtig, ist der Autor zweifellos. → Nur hat er leider nicht viel zu erzählen. ( LS , Krimimaus) 5. Ein ambitioniertes Romanprojekt voller geschliffener Sätze. → Doch als Plot, als Substanz, die mitzieht, die einen einsaugt, ist Seilers Roman ein totaler Rohrkrepierer. ( LS , film-o-meter) 6. Ungeachtet seiner hohen Ambitionen und seiner überdurchschnittlichen Sprache. → Am Ende aber vor allem: eine strapaziöse Lektüre. ( LS , Bücher- Bartleby) 7. Sprache ist zwar hochpoetisch, intelligent und außergewöhnlich. → Zu lange Sätze, die mich ermüdet haben. ( ZB , Manuela) 376 Joachim Gerdes 8. Verborgie, eine Beschreibungsexplosion, durchaus vorhandene lyrischmelancholisch-romantische Ideen und Wörter. → Aber in der Fülle ging es mir eher auf die Nerven. ( ZB , Apefred) 9. Hervorragend gut geschrieben, die Sprache hat eine eigene Note. → Es ist ein ewiges nostalgisch depressives Gesäusel, das sich wie Mehltau auf die gute Laune des Lesers zu legen vermag. ( ZB , Annemarie Gruber) Im Falle des Vorschusslobes wird in den meisten Fällen die sprachlich-formale Seite des Buches gepriesen, um unmittelbar danach in erster Linie die thematisch-inhaltliche Seite bzw. die Dominanz sprachschöpferischer Elemente über Gehalt und Aussagekraft des kritisierten Werkes zu bemängeln. Damit wird der gesichtsbedrohende Akt durch vorangestellte Reparaturen flankiert, um ein Gleichgewicht zu erzielen. Offenbar handelt es sich hier aber eher um eine Form der Scheinhöflichkeit, die keine wirkliche Reparatur des gesichtsbedrohenden Aktes bewirkt, sondern eher eine Art ‚vergiftetes Lob‘ darstellt, dass in erster Linie die Funktion hat, die Autorität des Kritikers unter Beweis zu stellen. Wenn Lüger konstatiert, dass es bei der Minimierung von Konfliktpotenzial grundsätzlich darum gehe, „klare Zuschreibungen von als negativ empfundenen Eigenschaften möglichst zu umgehen oder abzumildern“ (Lüger 2001, 18), dann trifft dies auf den vorliegenden Fall insofern nicht zu, als die nachfolgende Kritik keinesfalls konziliant formuliert wird und insgesamt nur sehr wenige rein sprachliche Minimalisierungsstrategien (Vgl. Held in Lüger 2001, 120 ff.) enthält. Zu nennen wären Verkleinerungen und Abschwächungen wie „wenig Freude“ (1), „mitunter“ (2), „eine Art“ (3), „eher“ (8), denen gegenüber aber explizite Negativbewertungen deutlich überwiegen: „eine langweilige […] Geschichte“ (1), „mühsame Kopfarbeit“ (2) „in keinster Weise empfehlenswert“, „eine einzige Enttäuschung“ (3), „ist schlichtweg unerträglich langweilig“ (9) etc. Hinzu kommt, dass die unabgemilderte Kritik durch das Vorschusslob nicht wirklich abgeschwächt wird, sondern die genannten Stärken der Bücher sich eigentlich ins Gegenteil verkehren, wenn formale und sprachgestalterisch-handwerkliche Fähigkeiten der Autorinnen / Autoren als Selbstzweck entlarvt werden und aufgrund des Mangels an Inhalt, Handlung, Spannung, Substanz etc. die Kritikwürdigkeit des Textes verstärken, statt auszugleichen, da sie die Lektüre „mühsam“ (2) oder „strapaziös“ (6) machen, die Leserin / den Leser „langweilen“ (2), „ermüden“ (7), ihm „auf die Nerven gehen“ (8), sich ihm „wie Mehltau auf die gute Laune legen“ (9) etc. Das Bild des „Rohrkrepierers“ des Rezensenten film-o-meter fasst diese Kritikerhaltung treffend in ein Wort (5). Darüber hinaus dient das Vorschusslob aber vor allem der Selbststilisierung, also der vorausgeschickten Gesichtswahrung des Rezensenten, der dadurch seine Kompetenz als Literaturkritiker von Anfang an außer Zweifel stellen will; denn wer die die literarische Sprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik 377 Sprache als „detailgetreu“ (1), „furios“ (2), „bildhaft“ (3), „geschliffen“ (5), „überdurchschnittlich“ (6), „hochpoetisch, intelligent, außergewöhnlich“ (7) etc. zu klassifizieren in der Lage ist, empfiehlt sich implizit als kompetenter Rezensent an und legitimiert damit vorauseilend seine nachfolgende harsche Kritik. Die Höflichkeit gegenüber der Autorin / dem Autor erscheint somit nur simuliert; vielmehr handelt es sich um eine funktionalisierte Scheinhöflichkeit, die der eigenen Gesichtswahrung im Hinblick auf den zu befürchtenden Vorwurf der Inkompetenz dient, der proportional zur Schärfe der Kritik droht. 5.2. Vorschussargumentation: Selbstkritik Im Gegensatz zur Selbststilisierung als kompetenter Kritiker steht die Strategie der Selbstinfragestellung oder „Reparatur[…] durch Verantwortungsübernahme und Selbsterkenntnis“ (Held 2001, 124). 1. Vielleicht aber doch eher ein Frauenbuch! ( ZB , Apefred) 2. Möglicherweise war ich zu ungeduldig. ( ZB , Alira) 3. Ich bin offenbar Einzelmeinung und ich würde meine Kritik nicht überbewerten. ( ZB , Dirk B.) 4. Vielleicht habe ich ja eine tolle Story verpasst? ? Dazu ist mir meine Zeit zu kostbar! ( ZB , tiha) 5. Nun sind ja Geschmäcker unterschiedlich, und man wird nicht gezwungen, das Buch zu lesen. ( LS , Henry) 6. Letztlich ist es wohl Geschmackssache. ( CK , Thomas) 7. Ich bin nicht „reingekommen“, bin ich zu alt? ? ( MM , Gerda Gens) 8. Auch wenn ich wahrscheinlich von vielen anderen gleich als Schmalspurleser gebranntmarkt [sic! ] werde. ( MM , Martin Schnackenberg) 9. Es ist sicher zu einem Teil Geschmackssache. ( MN , Ulrich von Engelberg) 10. Wahrscheinlich bin ich nicht intellektuell-philosophisch genug dafür. ( SL , A. E.) Die eigene Bewertungskompetenz wird auf unterschiedliche Weise in Frage gestellt: Als Gründe für eine befürchtete rezensorische Inkompetenz werden vor allem individueller Geschmack genannt (3, 5, 6, 9), aber auch Zeitmangel (4), Ungeduld (2), Geschlecht (1) und Alter (7). Weitere Gründe beziehen sich auf vermutete mangelnde intellektuelle Fähigkeiten (8, 10). Auf diese Weise wird durch einen bewusst eingesetzten, das eigene Gesicht bedrohenden, vor- oder nachgeschobenen selbstkritischen Sprechakt, die Schärfe und damit Unhöflichkeit der Kritik relativiert und individualisiert und die Leserin / der Leser wird offenbar vor einer Überbewertung der rezensorischen Information gewarnt. Aber dieser vermeintliche gesichtswahrende Höflichkeitsakt gegenüber der Au- 378 Joachim Gerdes torin / dem Autor erscheint bei genauerem Hinsehen auch eher als eine Strategie der falschen Bescheidenheit; denn auch hier finden sich viele Minimalisierungsstrategien, die in diesem Fall das selbstkritische Understatement abschwächen wie „vielleicht“ (1, 4), „möglicherweise“ (2), „offenbar“ (3), „letztlich […] wohl“ (6), „wahrscheinlich“ (8, 10), „sicher zu einem Teil“ (9). 5.3. Generalisierung und konstruktive Kritik Eine weitere Variante der Laienkritik, die Elemente der zwei bereits beschriebenen Höflichkeitsstrategien verbindet, ist die Einbringung von Verbesserungsvorschlägen. Die Rezensentin / der Rezensent empfiehlt sich auch hier als kompetenter Kritiker an, wenn er zum Beispiel die Eignung literarischer Stoffe für unterschiedliche Genres beurteilen zu können beansprucht: 1. Die Handlung […] hätte man auf ca. 200 Seiten wiedergeben können und ich denke eine gestrafftere Erzählart hätte dem Buch gut getan. ( ZB , Manuela) 2. Vielleicht kann man das Ganze als Hörbuch besser aushalten? ( ZB , Claudia) 3. 100 Seiten weniger und ein richtiger Schluss und nicht nur so ein Auströpfeln wäre toll gewesen… ( ZB , Martin Morgenstern) 4. 400 Seiten weniger und das Buch könnte richtig gut sein. (ZB, Annett Wiese) 5. Die ganze Geschichte ist völlig realitätsfremd, es werden ca. 90 % der Realität einfach ausgeblendet. ( ZB , Reinhard Wenzel) 6. Denn es gibt nur sehr, sehr wenige Lyriker, die das Genre der Prosa beherrschen. ( LS , Frau Warnke) 7. Mir fehlte Destillation des Stoffs, der Blick von außen. […] Wie wär’s als Gedicht. auf 3 Seiten? ( LS , bean) 8. Jedoch fehlt ihm die Spannung, Kürze und Würze […]. ( WH , Nina Crettaz) 9. Eignet sich für eine Tarantino-Verfilmung. ( WH , petitpuce) 10. Ein routiniert runtergeschriebener Politthriller mit einem gewissen Kinopotential. ( WH , W. Öschelbrunn) Die Ratschläge beziehen sich auf die Länge des Romans (1, 3, 4, 7), auf das Medium Buch im Gegensatz zu Hörbuch oder Film (2, 9, 10), auf die Eignung des Prosagenres für den Romanstoff (6, 7), mangelnde Realitätsnähe (5) oder Spannung (8). Ratschläge und Vorschläge gehören zu den indirekten Sprechakten, die das negative Gesicht des Adressaten bedrohen (vgl. Kotorova 2011, 81); sie werden daher routinemäßig durch unterschiedliche sprachliche Mittel - vor allem hypothetische Konjunktivformen - abgeschwächt, wie aus den Beispielen hervorgeht: „hätte […] gut getan“ (1), „vielleicht“ (2), „wäre toll / könnte richtig gut sein“ (3, 4), „Wie wär’s als Gedicht […]? “ (7) etc. Der Grad der Höflichkeit steht dabei im reziproken Verhältnis zum Umfang der vorgeschlagenen Modifizierun- Sprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik 379 gen: Wenn z. B. einem Autor geraten wird, seinen Roman von 480 auf 3 Seiten zu kürzen (7), einem anderen von 540 auf 440 (3), oszilliert der Höflichkeitspegel hier zwischen offenem Sarkasmus und ernst zu nehmender konstruktiver Kritik. Insgesamt erscheint diese Art der Kritik jedoch vergleichsweise höflicher, da sie dem rezensierten Werk eine lobenswerte Grundsubstanz zugesteht, die nur durch mehr oder weniger gravierende formale Mängel beeinträchtigt sei. 5.4. Thematische Umleitung Eine weitere verbreitete Form der indirekten Kritik ist die Übertragung der Kritik am rezensierten Werk auf Instanzen, die außerhalb des Textes selbst liegen: 1. Muss des Kaisers-neue-Kleider-Syndrom sein. Ich gebe jetzt auf. ( ZB , kassandra) 2. Ein cleverer Schachzug der Autorin. Sie hat aus überwiegend mäßigem Material ein Großwerk zusammengebastelt, jedenfalls in Augen der Buchpreis- Jury. Aus Minus und Minus wurde hier ein fettes Plus - auf dem Honorarkonto der Autorin. ( TM , Bücher-Bartleby) 3. Ich weiß nicht was vor der Buchmesse die Bewertungsjury geraucht oder geschnupft hat, wer kann denn dieser Frau, mein Gott ich will nicht unverschämt werden, ihre Leistung in allen Ehren, diesen Roman als Roman des Jahres bewerten. ( TM , Heinz Bolognese) 4. Der Autor des Buches hat das (neue) Rezept der Vermarktung verstanden: Je rätselhafter und abgedrehter desto aufgeregter die Presse. Hauptsache die Kasse klingelt. ( LS , Schluckebier) 5. Da wissen nun ostdeutsche Schriftsteller, was sie zu tun haben, wenn […] ein Buchpreis mit einem Mauerjubiläum zusammenfällt. Einen Extra-Stern gibt es […] für diesen […] Offenbarungseid der deutschen Buchbranche. ( LS , A. Limited) 6. Die Jury des Grauens hat wieder einmal zugeschlagen und ganz tief ins Klo gegriffen. […] Das ist das Skandalöse […]: dass der deutsche völlig verkommene Kulturbetrieb den […] Schrott dieser Dame mit Literatur verwechselt. ( SL , Lothar Müller-Güldemeister) Es handelt sich in den meisten Fällen um Kritik am Literaturbetrieb allgemein und speziell am Literaturprämierungswesen, das kommerziellen Interessen untergeordnet sei. Durch eine solche „Ausweichstrategie“ (Held 2001), wird der Fokus von der Autorin / vom Autor selbst auf das gesamte gesellschaftliche Umfeld der Literaturbranche und der Literaturvermarktung abgelenkt, so dass die Autorin / der Autor nicht mehr unmittelbar als inkompetent kritisiert wird, sondern vielmehr als ausgefuchster Geschäftemacher oder wandlungsfähiger 380 Joachim Gerdes Proselyt des Zeitgeistes, der seine literarischen Talente den wechselnden Moden des Literaturbetriebs anpasse. In dieser Form der indirekten Kritik werden die Autorinnen / Autoren für ihre Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit an Marktmechanismen gelobt, denen sie aber ihre schriftstellerische Freiheit vermeintlich unterordneten. Dahinter verbirgt sich eine subtile Taktik der wechselseitigen Gesichtswahrung: Die Rezensentin / der Rezensent präsentiert sich als Sachkenner, der den Verzicht der Autorin / des Autors auf den Einsatz seiner Begabung zugunsten übergeordneter politisch-kommerzieller Notwendigkeiten zu deuten weiß. Gleichzeitig wird der Autorin / dem Autor nicht seine Kompetenz abgesprochen, sondern ihm werden darüber hinaus Fähigkeiten jenseits traditioneller Vorstellungen vom weltfremden Literaten zugesprochen. Hinsichtlich der sprachlichen Höflichkeit wird hier ein Maximum an gegenseitiger Gesichtswahrung erreicht, wenn auch die Autorin / der Autor augenzwinkernd eines literarischen Kavaliersdeliktes überführt wird. Besonders konzis bringt dies die Rezensentin kassandra auf den Punkt, wenn sie ihre negative Leseerfahrung auf ein „des Kaisers-neue-Kleider-Syndrom“ zurückführt, demzufolge sie als einzige ‚Klarsichtige‘ die von der Literaturbranche initiierte massenhafte Irreführung einer gutgläubigen Leserschaft durchschaue und ausspreche. 5.5. Ironie Eine wichtige Strategie zur Formulierung indirekter Kritik, ist schließlich die Ironie. Bereits Brown / Levinson thematisieren die Anwendbarkeit der Ironie zum Zwecke eines „off record FTA “ (1987, 211): Ironie wird von ihnen geradezu als Paradebeispiel für Strategien der indirekten Kritik bezeichnet. Das notorische Element des Paradoxen, das der ironischen Kritik innewohnt erklären Ehrhardt / Heringer folgendermaßen: „Indem man Kritik nicht so direkt vorbringt, macht man sie sanfter, bringt etwas Luft, etwas Distanz hinein. Ironische Kritik hat etwas Paradoxes an sich wie wohl Ironie generell: Man sagt es, man sagt es aber auch nicht“. (Ehrhardt / Heringer 2011, 17) Das gleichzeitige Sagen und Nichtsagen erweist sich in der Tat als ideale sprachliche Strategie für einen indirekten kritischen Sprechakt: 1. Ich jedenfalls kann es nicht im Liegen lesen, weil ich nach spätestens drei Seiten einnicke. ( ZB , Claudia) 2. Denn wenn Ziggi noch einmal ein Kunststück vorgeführt hätte, Evi barfuß eine Kuchen gebacken hätte und ich noch ein einziges Mal die Beschreibung der Rosentapete hätte lesen müssen, wäre ich durchgedreht. ( ZB , Martina R.) Sprachliche Höflichkeit in der Laienliteraturkritik 381 3. […] erklang schöner alter DDR -Pop, […]dann mahnte die Stimme von Nina Hagen streng: „Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael! “ Dieses möchte ich […] auch dem farblosen Romancier […] zurufen… ( LS , Frau Warnke) 4. Einen Punkt hat sich das Buch verdient - ich freue mich jetzt auf das nächste Buch, welches ich lesen werde, es kann nur unterhaltsamer sein! ( LS , Henry) Die Beispiele zeigen einige Techniken der ironischen Kritik in Online-Rezensionen, wie etwa hyperbolische Darstellung von körperlichen Reaktionen auf die Lektüre (1, 2), Verwendung von Romanmotiven zur Veranschaulichung von Kritik (3), als Lob verkleidete Fundamentalkritik (4). Solcherart ironische Kritik kann zwar in der Sache ebenso ätzend sein wie Kritik, die auf sprachliche Abmilderungsstrategien verzichtet, ist aber in der Form „sanfter“, distanzierter. Der Zugewinn an Höflichkeit und Gesichtswahrung gegenüber der Autorin / dem Autor wird in erster Linie durch den humoristischen Aspekt der uneigentlichen Rede erzielt; darüber hinaus schwächt die Ironie die Apodiktizität des kritischen Urteils deutlich ab, da die ironisch formulierte Aussage zumindest theoretisch wörtlich verstanden werden kann so dass in (1) zumindest die Möglichkeit eingeräumt wird, das Buch mit Gewinn im Sitzen zu lesen oder in (2) die Anzahl der Wiederholungen noch knapp unter der Schwelle zur Unerträglichkeit geblieben sein könnte. Allerdings stellt sich auch die Frage, ob Ironie überhaupt Aspekte der sprachlichen Höflichkeit enthält oder vielmehr eine besonders subtile und verletzende Form der Unhöflichkeit darstellt. Die in den zitierten Aussagen enthaltene positive Kritik ist gewissermaßen wertlos, weil sie implizit das Gegenteil des Gemeinten unterstreicht. Die abmildernde Funktion verpufft weitgehend durch den Habitus der spöttischen Herablassung, der dieser Art von Kritik innewohnt. 6. Fazit Da der Webseitenbetreiber im Interesse der Kundeninformation zu Offenheit aufruft, die ja auch traditionell als Qualitätsmerkmal von Rezensionen gilt, ist die Tendenz zum Verzicht auf Höflichkeitsformen groß; denn Explizitheit und Schärfe gegenüber der Autorin / dem Autor und seinem Werk werden als höfliches Entgegenkommen gegenüber der Leserin / dem Leser der Rezension gedeutet. Die gezeigten Höflichkeitsstrategien haben daher zumeist weniger den Zweck, unhöfliche Sprechhandlungen gegenüber der / dem betroffenen Autorin / Autor abzumildern: Wenn die Rezensentin / der Rezensent sich als Sachkenner literarischer Normen inszeniert, als vermeintlich unbefangene(r), ‚naive(r)‘ Leserin / Leser, als Insiderin / Insider der Buch- und Literaturbranche oder als 382 Joachim Gerdes geistvolle(r) Intellektuelle / Intellektueller, dient diese Selbstdarstellung vielmehr grundsätzlich der Untermauerung der eigenen Kritikerkompetenz, also der Informationspflicht gegenüber der Leserin / dem Leser, als der Höflichkeit gegenüber der Autorin / dem Autor. Gesichtsbedrohende Sprechakte ( FTA ) werden durch diese Strategien generell eher gerechtfertigt als entschärft. Die hybride Stellung der Online-Laienrezension zwischen textsortenspezifischer Konvention und netzspezifischer Äußerungsfreiheit und Anonymität führt zu einer bemerkenswerten Komplexität dieser Texttypologie im Hinblick auf sich überlagernde illokutionäre Sprechakte. Die Analyse von Laienrezensionen im Internet kann daher interessante Aufschlüsse über Dynamiken der Höflichkeitsstrategien bei Mehrfachadressierung und in komplexen Online- Kommunikationssituationen geben. Literatur Anz, Thomas / Baasner, Rainer (Hrsg.) (2004). Literaturkritik: Geschichte - Theorie - Praxis. München: Beck. Bánk, Zuzsa (2012). Die hellen Tage. Frankfurt am Main: Fischer. Bogner, Ralf Georg (2004). Die Formationsphase der deutschsprachigen Literaturkritik. In: Anz, Thomas / Baasner, Rainer (Hrsg.), 14-22. Brown, Penelope / Stephen C. Levinson (1987). Politeness. Some universals in language usage. Cambridge: Cambridge University Press. Ehrhardt, Claus / Heringer, Hans Jürgen (2011). Pragmatik. 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The role of the politically (in)correct and the (im)politeness, regarded as communicative complexity-reducing rituals partly based on euphemisms and dysphemisms, is illustrated by selected exemples coming from different text types in the field of the business communication and the communication economic policy communication. 1. Einleitung Abschwächend-beschönigende, verhüllende, stigmatisierungsvermeidende Äußerungen und andererseits solche, die formal und funktional in die relativ weite Sphäre des „politisch Inkorrekten“ fallen, scheinen die metasprachliche Expertensowie Laienreflexion zunehmend zu beschäftigen. 1 Vom Einzelsprachen übergreifenden sprachwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Interesse an der politischen Korrektheit (im Folgenden PK ) zeugt eine Reihe einschlägiger Publikationen (vgl. z. B. Gallina 2016, Pirazzini 2016, Reutner / Schafroth, Hg. 2012, Forster 2010, Germann 2007, Kilian 2003). Der ideologisch polyseme, mehrdimensionale Begriff, der im politischen Diskurs einerseits als diskreditierende Fremdbezeichnung, andererseits auch als Selbstbezeichnung einer sich als progressistisch verstehenden Sprachkritik verwendet wird (Meiners 2005, 93, Wierlemann 2002, 15), scheint sich einer eindeutigen sprachwissenschaftlichen Definition zu entziehen. Im Folgenden wird er im Sinne einer stigmatisierungsvermeidenden Grundhaltung bzw. Sprachverhaltensdisposition verwendet, die als solche zugleich Sagbarkeitsnormen für den Sprachgebrauch festlegt, stig- 1 Der vorliegende Aufsatz entstand im Rahmen des von der Universität Triest finanzierten Projekts der Autorin mit dem Titel „Eufemismi e disfemismi nel discorso economico e politico tedesco dalla caduta del Muro a oggi“ (Universita degli Studi di Trieste - Finanziamento di Ateneo per progetti di ricerca scientifica - FRA 2014, 1.1. 15-31. 12. 16). 386 Goranka Rocco matisierende oder diskriminierende Sprachpraktiken und gruppenbezogene Dysphemismen indiziert, Ersatzwörter bildet und einführt. Im Sinne dieser sprachlenkenden Komponente kann PK auch als eine Spielart der Tabuisierung (Reutner / Schafroth 2012, 12) betrachtet werden. Das Konfliktpotenzial des Begriffspaars „politisch korrekt / inkorrekt“, das sich z. T. auch aus dessen manichäischer Natur (Meiners 2005, 96) und Wahrnehmung ergibt, zeigt sich nicht nur auf der metasprachlichen Diskursebene: Auf der Sprachgebrauchsebene scheint die zunehmende Befolgung der PK -Normen zugleich die sprachliche Gegenreaktion zu verstärken, die sich in einem bewusst Dysphemismen-durchsetzten, stigmatisierenden Sprachgebrauch manifestieren kann; der „Kampf um Wörter“ gestaltet sich dabei teilweise als komplexitätsreduzierendes, Enthropie-erhöhendes gegenseitiges Überbieten zwischen dem hochgradig politisch Korrekten auf der einen Seite und dem ebenso hochgradig politisch Inkorrekten auf der anderen. Die Normierung der Alltagsinteraktion durch PK und die Verstöße gegen dieselbe deutet der Philosoph Žižek (2016) als zwei Seiten einer Medaille: Beide sind an der Desintegration der ethischen Substanz (im Sinne von Hegels Sittlichkeit) beteiligt und zugleich Symptome dessen, was passiert, wenn ungeschriebene Normen des sozialen Miteinanders die Kommunikation nicht mehr zu regulieren vermögen. Im Zusammenhang mit der sprachsozialen Normsetzung und -verletzung kann in der jüngsten Zeit der zunehmende Erfolg der Politikexponenten betrachtet werden, deren Sprachverhalten im Wesentlichen (sprach- und länderübergreifend) folgende Elemente vereint: mit der politischen Inkorrektheit - als spezielle Erscheinungsform der sprachlichen Unhöflichkeit - assoziierbare Tabubrüche, tendenziell nähesprachlicher Stil, z.T. Humor. Auch einige weitere Aspekte verbinden politisch korrektes Sprachverhalten und sprachliche Höflichkeit - oder andererseits politische Inkorrektheit und Unhöflichkeit: PK ist wie auch Höflichkeit ein ausgeprägt dynamisches soziales Konstrukt und eine relatierte Größe (Ehrhardt / Neuland 2009, 11, Held 2009, 42), die stets mit Blick auf sprachsoziale Normen gedeutet und umgedeutet wird. Die Verwendung von Redemitteln, die im gegebenen Kontext eine euphemistische oder dysphemistische Funktion (Rocco 2015a, 259) haben können, spielt sowohl bei der politischen (In)Korrektheit als auch bei der sprachlichen (Un)Höflichkeit eine gewichtige Rolle. 2 Speziell auf die Euphemismen bezogen, bestehen Parallelen auch im Hinblick auf die zugrunde liegende Intention einer gesichtswahrenden 2 Dabei ist weder politische (In)Korrektheit noch sprachliche (Un)Höflichkeit mit der Tendenz zum Euphemismenbzw. Dysphemismengebrauch geichzusetzen. So ist z.B. bei der PK neben Euphemismen noch eine Reihe anderer Spracherscheinungen bzw. -tendenzen von Relevanz, z.B. der Gebrauch von generischen Maskulina, feminisierenden Berufsbezeichnungen, Exonymen und Ethnonymen sowie die Frage der Distanzierung von Dys- Politische Korrektheit und sprachliche Höflichkeit als komplexitätsreduzierende Rituale 387 und auf die Menschenwürde bedachten Stigmatisierungsvermeidung (Mumm 2005, 4, Allan / Burridge 1991, 14 3 ), die im Sinne der Zustimmungsmaxime (Leech 1983, 135 f.), d. h. der Minimierung der Geringschätzung und Maximierung der Wertschätzung, interpretiert werden kann. Allerdings betrifft dabei die PK als sprachliche Grundhaltung und Verhaltensdisposition vorrangig sozial und politisch relevante Aspekte der Kommunikation (z. B. die Benennung der durch psychische, physische, phylogenetische, soziale Stigmata markierten Personen und Gruppen) und spielt als solche im öffentlich-medialen Kommunikationsbereich und dem entsprechenden Metadiskurs eine zunehmend wichtige Rolle. Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der PK konzentriert sich tendenziell auf die mehrfachadressierte (Burger 2005, 16) öffentliche und / oder mediale Kommunikation und z. T. auf den Sprachgebrauch politisch oder gesellschaftlich exponierter Akteure. Vergleichsweise seltener fokussiert sie bislang alltägliche face-to-face -Interaktionen, in denen Beziehungen und Äußerungen ausgehandelt werden und das Verständnis dessen, was höflicher (oder auch politisch korrekter) Umgang ist, wesentlich von Situationen und Rezipienten abhängt (Ehrhardt 2009, 177). Außerdem ist PK , wie schon oben angedeutet, besonders in laienlinguistischen Diskussionen ein kontroverser, oft mit negativen Einstellungen verknüpfter Begriff (Reutner 2012) mit Schlagwortcharakter; und gerade die jeweiligen Zuschreibungen machen ihn interessant für diskurslinguistische, politolinguistische, soziolinguistische usw. Forschung. Was die Attraktivität der PK betrifft, so ist politisch korrektes wie auch generell höfliches Verhalten im Vergleich zum politisch inkorrekten bzw. unhöflichen in höherem Maße sprachlich kodiert (Bonacchi 2013, 79), normiert, vorhersagbar und somit auch wenig geeignet für die mediale Erschaffung charismatischer Einschaltquoten- und Social-Network-Stars oder auch einer ostentativ elitenfeindlichen neuen kulturpolitischen Elite, die sich auch sprachlich jenseits eines wie auch immer definierten Establishments zu positionieren versucht. Die vergleichsweise stärkere Anziehungskraft eines tabubrechenden, gegen ungeschriebene PK - und Höflichkeitsnormen verstoßenden Sprachverhaltens kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, etwa im Zusammenhang mit der affektiven Ambivalenz des Tabus (Freud 1913), mit der Tendenz zur Schaffung sprachlicher Nähe im öffentlichen Diskurs oder aber dem Streben nach „Deregulierung“ der als übertrieben verhüllend, verschleiernd, repressiv usw. empfundenen Sprach- und Verhaltenskodizes. In den metadiskursiven Äußerungen lässt sich dabei zuweilen eine komplexitätsphemismen-verdächtigen Begriffen durch metasprachliche Signale (z. B. die sogenannten „Wirtschaftsmigranten“ ). 3 Laut Allan / Burridge (1991, 14) sind Euphemismen „alternatives to dispreferred expressions (…) used to avoid possible loss of face“. 388 Goranka Rocco reduzierende Gleichsetzung von Stil und Substanz beobachten, etwa im Sinne der Analogiebildung zwischen den konzeptuellen Oppositionen Nähe / Distanz, unhöflich / höflich, politisch inkorrekt / korrekt einerseits und andererseits demokratisch / undemokratisch, Wahrheit / Lüge und den daraus resultierenden antagonistischen Äquivalenzketten 4 (nähesprachlich ≈ unhöflich ≈ politisch inkorrekt ≈ wahr / ehrlich ≈ demokratisch vs. distanzsprachlich ≈ höflich ≈ politisch korrekt ≈ unehrlich / gelogen ≈ undemokratisch) . Über die vergleichsweise höhere Vorhersehbarkeit und geringere mediale Attraktivität hinaus dürfte die Problematik der PK damit zusammenhängen, dass komplexitätsreduktionistisch und z. T. sprachdeterministisch inspirierte Versuche, konzeptuelle Tabus durch Verdrängung der verbalen aus der Welt zu schaffen, i. d. R. wenig erfolgreich sind. Diachronisch manifestiert sich dies in dem bereits in der frühen Sprachwandelforschung (Bréal 1987) behandelten, u. a. „Tabu-Euphemismus-Zyklus“ (Schröder 1999, 7 f.) und „Euphemismus- Tretmühle“ (Pinker 1994) genannten Mechanismus der Bildung ständig neuer Euphemismen, die ihre Wirkung mit der Zeit einbüßen und die Sinnelemente der ursprünglich ersetzten Ausdrücke annehmen, u. U. also selbst zu Dysphemismen werden können (z. B. Migrationshintergrund ). Die z. T. damit verbundene Skepsis gegenüber dem euphemistischen Sprechen, der PK und der Höflichkeit, die sich im metalinguistischem Diskurs immer wieder und in verschiedensten Formen manifestiert, 5 ist auch im Zusammenhang mit der potenziellen ideologischen Polysemie - oder vielleicht hier treffender: Polyfunktionalität - der entsprechenden Redestrategien zu betrachten. Diese spiegelt sich in der Vielschichtigkeit der Höflichkeits- und Unhöflichkeitsstrategien und deren illokutionären und perlokutionären Effekten wider. 6 Im Rahmen der linguistischen Euphemismendiskussion reflektiert sich die Polyfunktionalität in den Begriffen Pseudoeuphemismus und -dysphemismus (euphemistische Formulierungen mit dysphemistischer Funktion bzw. mit der Banter-Funktion vergleichbare dysphemistische Formulierungen zum Ausdruck der 4 Die Bezeichnung „antagonistische Äquivalenzketten“ wird hier etwa im Unterschied zur Verwendung des Syntagmas in Marchart (2013, 149, 170) und Rocco (2015, 90) nicht im Sinne der diskursanalytisch ermittelten Schlüsselwörter, sondern eher im Sinne der mentalen Assoziationen zwischen Stil, moralischen / politischen Eigenschaften und Botschaften verstanden. 5 Von dieser Skepsis zeugen auch literarische Zitate (z. B. „Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist“ in Goethes Faust), Begriffe (z. B. Orwells newspeak ) und Figuren; so sind Molières Précieuses , Thomas Mortons Mrs. Grundy oder Thomas Manns Felix Krull als Personifizierungen für übersteigert euphemistische Sprache oder für die jeweils epochenspezifische Vorstellung von Anstand und „Kultiviertheit“ in die europäische Kulturgeschichte eingegangen. 6 Für einen Überblick vgl. Bonacchi (2013, 81-89). Politische Korrektheit und sprachliche Höflichkeit als komplexitätsreduzierende Rituale 389 Nähe, Sympathie usw, vgl. Ullman 1964, 90 f.); die Frage nach dem ideologischen und / oder manipulativen Charakter wird insbesondere im Zusammenhang mit dem Begriffspaar „verhüllend / verschleiernd“ gestellt (Bohlen 1994, 33, 169 f., Luchtenberg 1985, 24, Zöllner 1997, 159, Rada 2001, 64 f.). Die Grundfrage, die v. a. für Euphemismen in der politischen und sozioökonomischen Sphäre aufgeworfen wird, kann wie folgt formuliert werden: Inwieweit handelt es sich bei einzelnen euphemistischen Formulierungen um höfliche Verhüllung unangenehmer, tabuisierter Sachverhalte aus Rücksicht, Taktgefühl, Respekt vor sprachsozialen Normen, inwieweit um bewusstes Verschleiern von Tatsachen, das v. a. den Sprecherinteressen dient? Nutzt der Sprecher seinen Informationsvorsprung manipulativ, indem er die Informationen den Adressaten bewusst vorenthält bzw. sie aus einer für ihn günstigen Perspektive darstellt (Forster 2009, 47 f.) oder geschieht der Perspektivwechsel bzw. die Tilgung der Elemente des jeweiligen Sinnhorizonts (Wengeler 1992, 65) im gegenseitigen Einvernehmen und im Einklang mit der Zustimmungsmaxime? Inwieweit tragen Euphemismen zur Höflichkeit und PK bei und inwieweit zu höflich und / oder politisch korrekt realisierten Diskreditierungsbzw. Stigmatisierungsintentionen? Im Folgenden sollen diese Fragen ausgehend von mehreren Beispielen erörtert werden, die verschiedene Facetten der Euphemisierung illustrieren. 2. Zwischen Verhüllung und Verschleierung In der Euphemismenforschung hat sich die Unterscheidung zwischen verhüllender und verschleiernder Funktion der euphemistischen Formulierungen zwar weitgehend durchgesetzt; eine klare Differenzierung ist dabei allerdings oft nicht möglich. Von der Schwierigkeit einer Grenzziehung zwischen Verhüllung und Verschleierung zeugen u. a. aufwertende Berufsbezeichnungen, auch „Renommiereuphemismen“ (Rada 2001, 77) und „eufemismos de megalomanía“ (Casas Gómez 2012, 72) genannt. Das komplexitätsreduzierende Highlighting and Hiding 7 besteht hier i. d. R. in der Betonung der Bedeutungselemente, die höhere berufliche Kompetenz und / oder Stellung suggerieren, bei gleichzeitiger Unterdrückung der negativ konnotierten bzw. sozial stigmatisierten Elemente. Wie die folgenden Beispiele illustrieren, werden bei dieser Art von Perspektivwechsel oft Passepartout-Begriffe eingesetzt, darunter auch Syntagmen mit dem Bestandteil Manager (Bsp. 2), Assistent, Techniker, Operateur, z. B. ital. operatore ecologico für netturbino / spazzino, span. assistente administrativa für secretaria 7 Der von Lakoff/ Johnson (1980, 10-13) im Zusammenhang mit Metaphern verwendete Begriff bezieht sich hier generell auf das strategische Spiel mit Semen im Rahmen der diskursiven Bedeutungsfixierung. 390 Goranka Rocco (vgl. auch Reutner 2011, 60, 2009, 196 f., Rodríguez Pedreira 2016). Zur Bedeutungsvagheit trägt insbesondere auch der Anglizismengebrauch bei. 1. Reinigungsfachfrau / Raumpflegerin Sie sind zuverlässig und flexibel, haben Erfahrung im Bereich Reinigung und können sich in Deutsch verständigen. Zu Ihren Aufgaben gehören: Reinigung Ausstellungsräume und Büros sowie Toilettenreinigung (Männer + Frauen). 2. Facility Manager (w / m) Als Facility Manager sind Sie für die Verfügbarkeit und Funktionalität der gebäudetechnischen und infrastrukturellen Einrichtungen […] verantwortlich. […] Kleinreparaturen, Unterhaltsarbeiten sowie umweltgerechte Abfallentsorgung, periodische Reinigungsarbeiten im Innen- und Außenbereich gehören zu Ihren Aufgaben. 8 Ob nun die verbale Aufwertung in den zitierten Stellenanzeigen die Natur einer wenig qualifizierten oder sozial niedrig angesehenen (ggf. auch gering bezahlten, prekären usw.) Tätigkeit bewusst verschleiern soll, sozioökonomische Tabus in beidseitigem Einvernehmen höflich und respektvoll zu verhüllen sucht oder aber beides der Fall ist, lässt sich kaum mit Sicherheit bestimmen, schließlich hängen die Möglichkeiten und Grenzen der Euphemismendeutung u. a. auch mit dem (fach)sprachlichen und sprachexternen Wissen der Adressaten zusammen. Anzunehmen ist jedoch, dass sich Verhüllen und Verschleiern - insbesondere bei dem durch primär ökonomische Interessen gesteuerten wirtschaftlichen (Sprach-)Handeln - in einem Punkt einander bedeutend annähern. Sowohl im Falle der Verhüllungsals auch der Verschleierungshypothese ist davon auszugehen, dass die Selbstbild-Pflege eine der zentralen Textfunktionen ist: Sei es etwa, weil Raumpflegerin, Facility Manager 9 usw. das Bild einer auf das Adressaten-Gesicht bedachten, politisch korrekten, (sprach)trendbewussten und also in den Gepflogenheiten der Wirtschaftskommunikation fest verankerten Sprecher-/ Textproduzenteninstanz vermitteln oder weil die Aufwertung der Berufsbezeichnung die Tätigkeit an sich und somit auch das auftraggebende Unternehmen aufwerten soll. Dieser autoreferenzielle Aspekt der Höflichkeit und PK lässt sich auch in Unternehmenstexten beobachten, die die Beschäftigungspolitik und besonders die Stellenstreichung thematisieren (vgl. Rocco / Canavese 2016). Die Euphemisierung erfolgt hier sowohl auf lexikalischer Ebene, durch bedeutungsextensive, 8 Quellen: http: / / ch.jobomas.com/ reinigungsfachfrau-raumpflegerin_iid_69829139 (1), http: / / www.mbmicrotec.com/ wp-content/ uploads/ Facility-Manager.pdf (2) (Zugriff: 13. 12. 2016). 9 Im untersuchten Kontext wird das Syntagma im Sinne von „Hausmeister“ verwendet; laut Iris Forster (2010) gehört es „[z]um guten Ton (…), die Putzfrau als Raumpflegerin , den Toilettenmann als facility manager zu bezeichnen.“ Politische Korrektheit und sprachliche Höflichkeit als komplexitätsreduzierende Rituale 391 generalisierende, auch hier oft aus dem Englischen entlehnte Ausdrücke (Umstrukturierung, Restrukturierung, Outsourcing, Smartsourcing 10 ) , als auch durch syntaktische oder kasussemantische Veränderung ( Trennung, wegfallende Stellen, Austritte, siehe unten, Bsp. 3) bei der Versprachlichung der Stellenreduktion. Es ist dabei oft nicht eindeutig zu bestimmen, wessen Gesichtswahrung im Vordergrund steht und ob Vagheit, Deagentivierung, Rollenwechsel usw. (A entlässt B vs. B tritt aus, A und B trennen sich, die Stelle von B fällt weg) im Sinne des Prinzips des positiven, höflichen, gesichtswahrenden Formulierens verhüllen oder vielmehr verschleiern sollen. Besonderes euphemistisches Potenzial haben die buzz words (Dardano 2011, 158-162) im Sinne der Termini, die aus bestimmten Bereichen übernommen werden und im Zielbereich eine Bedeutungserweiterung bzw. -generalisierung erfahren. In diesem Sinne betont auch Bak (2012, 214), dass der Fachwortschatz an sich zwar nicht euphemistisch ist, allerdings exzerpierte Fachwörter euphemistisch verwendet werden können (z. B. Restrukturierung ), was die Grenzziehung zwischen Verhüllungs- und Verschleierungsintentionen auch in konkreten Textbeispielen erschweren kann. Von besonderem Interesse sind in dieser Hinsicht unterschiedliche (Teil-) Textsorten, die Personalreduktion bzw. -entlassung thematisieren, von Personalmanager-Ratgebern über Geschäftsberichte bis hin zu betriebswirtschaftlichen und fachjournalistischen Aufsätzen und Vorträgen. Hier haben die in mehreren Sprachen auftretenden personalpolitischen Begriffe Trennung und Trennungsmanagement (eng. separation management ) Hochkonjunktur. Für den fachjournalistischen Gebrauch des Begriffs Trennung / separation / séparation usw. sei exemplarisch der Aufsatz „Quo Vadis Trennungskultur? “ genannt (Siemann, 2011), der mit der Frage eingeleitet wird, ob die Trennungskultur bzw. Trennungsinstrumente in wirtschaftlich guten Zeiten für Arbeitgeber überhaupt noch Nutzen hätten - eine Frage, die dieser Artikel positiv beantwortet, da „Outplacement (…) unabhängig von der Wirtschaftslage (…) ein wichtiges Instrument für atmende Unternehmen“ bleibe und Arbeitgeber „permanent Mitarbeiter austauschen“ müssten, „wenn sie sich innovativ und wettbewerbsgerecht weiterentwickeln wollen“ (2011, 50). Etabliert hat sich der Ausdruck auch in Ratgebertexten und -aussagen zum Trennungsmanagement , die Personalmanagern den Weg zu einer möglichst „schmerzfreien“ und kostensparenden Trennung von Mitarbeitern aufzuzeigen versuchen. Hier einige Passagen aus dem Artikel „Sieben Gedanken zum erfolgreichen Trennungsmanagement“, der das Interview mit einem Trennungsbzw. Kündigungscoach wiedergibt. 10 Für französische Beispiele vgl. Mattioda (2009). 392 Goranka Rocco 3. Wir haben Dagmar Walker gebeten, sich für uns ein paar Gedanken zum Trennungsmanagement zu machen. Hier sind sieben Punkte, die Personalern als Inspiration dienen sollen. • Erfolgreiche Trennungsprozesse haben ein A und ein Z (…) Besser als Aktionismus ist ein gut durchdachter Trennungsprozess . Er kostet zwar etwas Zeit, spart Ihnen aber eine Menge Ärger und auch Kosten. • Wechseln Sie die Perspektive Fragen Sie sich immer: Was könnte den Mitarbeiter zum Austritt bewegen? (…) • Der Mitarbeiter und sein Austrittspaket (…) Dagmar Walker (…) berät als Kündigungs-Coach Unternehmen rund um die faire und wirtschaftliche Trennung von Mitarbeitern. 11 Trennung fungiert hier als polyfunktionaler Ausdruck, der sowohl eine Trennung auf Wunsch beider Seiten oder des Mitarbeiters als auch eine vom Arbeitgeber initiierte Trennung, d. h. eine Stellenstreichung oder Entlassung, bezeichnen kann. Diese Bedeutungsvagheit wirkt euphemistisch in den obigen Formulierungen, die eher Entlassung versprachlichen, in denen jedoch zugleich die Reziprozität oder Symmetrie präsupponierende Lexikonbedeutung des Verbs mitschwingt. Innerhalb der diskursiven Bedeutungsfixierung kommt es also zur Verschleifung des „kleinen“ Unterschieds, sodass an mehreren Stellen über den Handlungsverursacher nur spekuliert werden kann. Unterstützend im Sinne eines solchen komplexitätsreduzierenden Reframings wirkt das Foto zum zitierten Artikel (Abb. 1), auf dem der Gesichtsausdruck des ausscheidenden Mitarbeiters und damit evtl. visuelle Hinweise auf die Art der Trennung ausgespart bleiben. In diesem Sinne ist die gewählte Einstellung als visueller Euphemismus deutbar, der als solcher die erwähnte Doppelbödigkeit der verbalen Euphemismen reflektiert. Wird nun das Ganze vor dem Hintergrund der Opposition verhüllend / verschleiernd betrachtet, so lässt sich Trennung verstehen als 1) bewusste Unterdrückung von Bedeutungskomponenten, die auf Entlassung schließen lassen, wobei die Aussparung des Gesichtsausdrucks als visuelle Umsetzung der informationstilgenden Strategie anzusehen ist, aber auch als 2) gesichtswahrender und / oder politisch korrekter Ersatzausdruck für Entlassung, der im Einvernehmen zwischen Textproduzenten und -rezipienten verwendet wird und auf visueller Ebene mit einer höflichen Verhüllung des Gesichtsausdrucks bzw. der Gefühle des Betroffenen korrespondiert. Das (in Filmen und Erzählwerken wiederkehrende) Motiv des „Kartons unter dem Arm“ könnte einerseits als Hinweis auf eine nicht ganz einvernehmliche Trennung interpretierbar sein, andererseits lässt die Tilgung der Information „Gesichts- 11 Quelle: vgl. Anm. 12. Hervorhebung von mir. Politische Korrektheit und sprachliche Höflichkeit als komplexitätsreduzierende Rituale 393 ausdruck“ theoretisch auch die Möglichkeit eines hoffnungsvoll-zufriedenen Blicks nach einer für beide Seiten günstigen Trennung zu. Abb. 1: „Sieben Gedanken zum Trennungsmanagement“, Human Resources Manager, 12. 08. 2014 12 Nicht unberücksichtigt kann hier die Tatsache bleiben, dass sowohl personalpolitisches Wording als auch die veranschaulichte verbale Berufsaufwertung oft Anlass zu spielerisch-ironischer Nachbildung geben (z. B. sie ist gegangen worden), was nicht zuletzt vom kritischen Bewusstsein der Sprecher zeugt. Die ironisch-satirische Absicht der übersteigerten Euphemismen (Casas Gómez 2012, 71-76, Reutner 2009, 196 f.), die die jeweiligen sozioökonomischen Stigmata und die korrespondierenden Tabus und Konventionen enthüllen, widerspricht der bei Verschleierungshypothesen manchmal unterstellten Sprechernaivität. 13 So baut z. B. das parodistische Unterfangen der Nonsense-Enzyklopädie Stupidedia , „politisch korrekte“ Texte zu verfassen, gerade auf dem sprachkritischen Bewusstsein potenzieller Leser auf: „Die sinnfreie Enzyklopädie“ 14 , die Klischees, Sozialstereotypen und Topoi jeglicher Art ad absurdum führt (Logo: Wissen Sie Bescheid? Nein? Wir auch nicht! ), unternimmt beim Eintrag „politische Korrektheit“ eine Hin- und Rückverwandlung von „normalen“ Texten in „politisch korrekte“ Texte. Karikiert wird dabei u. a. das Gebot der Neutralität im Hinblick auf Geschlecht, Alter, Herkunft, sexuelle Orientierung und Berufssituation, was 12 Abrufbar unter: https: / / www.humanresourcesmanager.de/ ressorts/ artikel/ sieben-gedan ken-zum-trennungsmanagement-9148 (Stand 13. 12. 2016). 13 Zur Kritik an „Enthüllung“ und dem damit verbundenen Problem der unterstellten Naivität der Sprecher vgl. Heringer / Wimmer (2015: 104 f.). 14 Vgl. http: / / www.stupidedia.org/ stupi/ Stupidedia: Hauptseite (Zugriff 29. 11. 16). 394 Goranka Rocco in extreme Bedeutungsvagheit ausufert und im Endeffekt den Informationsgehalt des Gesamttextes kompromittiert. 4. Der Dachdeckermeister fuhr mit seinem Transporter in die Einfahrt von Frau Kürgü. Frau Kürgü war froh, dass der Dachdeckermeister kam, denn ihr ging es beschissen. (…) („Politische Korrektheit“, Kap. Umwandlung von Texten). Der / Die ArbeiterIn / AkademikerIn / Arbeitslose fuhr mit ihrem / seinem TransporterIn / BenzIn / Straßenbahn / Straßenbähnin in der / die Einfahrt von Frau / Herr Mustermann. Herr / Frau Mustermann war froh, dass die / der ArbeiterIn / AkademikerIn / Arbeitslose kam, denn ihm / ihr ging es doppelplusungut. (…) („Politische Korrektheit“, Kap. Umwandlung von Texten, 4. Schritt) Die hier parodierte und in verschiedenen Sprachen feststellbare Tendenz zu vagen Berufsbezeichnungen (ArbeiterIn / AkademikerIn / Arbeitslose) betrachtet Maria Margherita Mattioda (2009, 78) im Zusammenhang mit der Deregulierung der Arbeit, da diese zu vielen intermediären Positionen führt und für einige zu einem Dauerzustand zwischen arbeitsuchend, volontierend und prekär beschäftigt. Zum Abschluss dieses Kapitels noch ein weiteres Beispiel für die potenzielle Ambivalenz von PK und Höflichkeit, das im Gegensatz zu den bisherigen aus der Sphäre der wirtschaftspolitischen Reformreden stammt. Der Ausschnitt ist der Rede des Altkanzlers Gerhard Schröder zur Agenda 2010 entnommen, die (u. a.) arbeitsrecht- und arbeitsmarktliberalisierende Reformen einleiten sollte. 5. Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können, zum Sozialamt gehen müssen, während andere , die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen. […] Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe - auch das gilt es auszusprechen -, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird. Wir kommen gleichzeitig den Menschen entgegen, denen wir mehr abverlangen müssen. […] Ich denke, wir setzen damit ein eindeutiges Signal für diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die länger als zwölf Monate arbeitslos sind . Niemandem aber wird künftig gestattet sein sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. (Schröder, Rede zur Agenda 2010) Die Prämissen sind die folgenden: Einerseits ist der Topos vom Leistungsmissbrauch oder allgemeiner vom sozialen Schmarotzertum ein bewährtes Instrument in der diskursiven Durchsetzung von Reformen, die in das Arbeits- und Sozialrecht kürzend eingreifen. Andererseits gilt die Arbeitslosen-Stigmatisierung weder als politisch korrekt (wie eben die illustrierte Stupidedia-„Zensur“ Politische Korrektheit und sprachliche Höflichkeit als komplexitätsreduzierende Rituale 395 zeigt) noch als strategisch gewinnversprechend, wenn man sich gerade an der Spitze einer Partei befindet, die die Interessen der sozial Schwächeren nach einem zum Zeitpunkt der Rede (2003) noch relativ verankerten Selbstverständnis der Sozialdemokratie eher schützt. Die diskursive Konfliktüberbrückung erfolgt hier durch den Einsatz einiger ostentativ euphemistischer syntaktischer und textgrammatischer Strukturen („Menschen, die arbeiten wollen“ vs. das schonend-generalisierende „andere“, abstraktes Subjekt des „sich zulasten der Gemeinschaft zurücklehnen“, das jedoch im Textzusammenhang auf „andere“, etwa arbeitsunwillige Leistungsempfänger beziehbar ist). Sie vermitteln das positive Bild eines nach Höflichkeitsmaximen handelnden Redners, und zugleich ist ihr Gesamteffekt trotz oder sogar dank diesem „Höflichkeitsüberschuss“ stigmatisierend. Aus höflichkeitstheoretischer Perspektive könnte diese formale Gesichtswahrung mit dem perlokutionären Effekt der Gesichtsbedrohung als besonderer Fall der off-record impoliteness gedeutet werden (Culpeper 1996, 356 f.). 3. Ausblick Mit den obigen Beispielen sollte veranschaulicht werden, wie verschwommen die Grenze zwischen Verhüllung und Verschleierung und zwischen fachsprachlichem Gebrauch und Euphemisierung sein kann. Der perlokutionäre Aspekt des euphemistischen bzw. „euphemismenverdächtigen“ Sprechens kann allen Kotext- und Kontextinformationen, dem Textsorten- und Weltwissen zum Trotz unbestimmt bleiben und Spielraum für wohlwollende, enthüllende, diskreditierende und andere Interpretationen lassen. Es ist nicht auszuschließen, dass ein und dieselbe Aussage in einer gegebenen Situation je nach Informationsstand, Gruppenzugehörigkeit und Fach(sprachen)wissen der Adressaten eine eher verhüllende oder verschleiernde Wirkung erzielt oder aber keinerlei euphemistischen Effekt hat. Aus dem relationalen Charakter der Euphemismen (Rada 2004, 174), ihrer Relativität, Instabilität und essenziellen Abhängigkeit vom gegebenen Mitteilungsrahmen ergibt sich die Notwendigkeit, sie immer als Resultanten des Zusammenspiels zwischen den Elementen dreier Ebenen zu betrachten: der Ebene der Akteure, der textuellen und der transtextuellen Ebene. 15 Besonders in ihrer Eigenschaft als Sprachmittel und -strategien, die zum Ausdruck der PK und der sprachlichen Höflichkeit eingesetzt werden können, sind sie primär als diskursive Phänomene anzusehen. 15 Die drei Aspekte entsprechen den drei Hauptkomponenten von DIMEAN (Spitzmüller / Warnke 2011, 172-186). 396 Goranka Rocco Vor allem für die Sphären Politik, Wirtschaft und Soziales, für die besonders komplexe Beziehungskonstellationen und grundsätzliche Interessenkonflikte anzunehmen sind, scheint es sinnvoll, die Begriffe verhüllend und verschleiernd nicht im Sinne einer Entweder-oder-Logik zu deuten, sondern als idealtypische Funktionen zu behandeln. Dem Aspekt der positiven Selbstdarstellung (im Sinne der Imagebildung durch gesichtswahrende Sprachhandlungen), die sowohl bei Verhüllung als auch bei Verschleierung von Relevanz sein kann, sollte dabei die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden. Abschließend und mit Blick auf die o. g. Sphären sei noch einmal das Verhältnis zwischen PK und Höflichkeit angesprochen: Vergleichbar mit der Höflichkeit kann auch PK als komplexitätsreduzierendes Ritual verstanden werden, wobei das Ausblenden der einzelnen Bedeutungskomponenten nicht nur bzw. nicht primär im Sinne der Erleichterung kognitiver Verarbeitungsprozesse zu verstehen ist, sondern durchaus auch durch Kooperations- und Selbstdarstellungsbedürfnisse oder Ideologien 16 begründet sein kann. So liegen bei den illustrierten „politisch korrekten“ oder „euphemistischen“ Berufsbezeichnungen sprachliche Strategien vor, die auch als Höflichkeit im Rahmen öffentlicher Kommunikation interpretiert werden können. Die desavouierende Deutung der Höflichkeit und der PK , der man immer wieder und auf verschiedenen Ebenen begegnet, hat einiges gemeinsam mit der Euphemismenkritik (Krieg-Planque 2004, 2, Bak 2012, 240-244). Metalinguistische Aussagen im Sinne der Euphemismen-, Höflichkeits- und PK -Kritik können in gewisser Hinsicht als ineinandergreifende Elemente der Sprachkritik und -reflexion angesehen werden. Sie lassen das Bedürfnis der Sprecher erkennen, das Verhältnis zwischen Sprache, Moral und Ethik, aber auch die Dynamik, mit der sich das Verhältnis zwischen Sprache, Sprechern und der außersprachlichen Welt verändert, stets zu hinterfragen. Literatur Allan, Keith / Burridge, Kate (1991). Euphemism and Dysphemism. Language used as shield and weapon. New York: Allerbeck. Bak, Pawel (2012). Euphemismen des Wirtschaftsdeutschen aus Sicht der anthropozentrischen Linguistik. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Bohlen, Andreas (1994). Die sanfte Offensive. 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Dr. Dieter Cherubim Universität Göttingen Arbeitsschwerpunkte: Historische Sprachwissenschaft, Pragmatik, Geschichte der Sprachwissenschaft E-Mail: dietercherubim@web.de Prof. Dr. Peter Colliander Universität Kopenhagen Arbeitsschwerpunkte: Valenzgrammatik, Sprachhandlungstheorie, Kontrastive Linguistik E-Mail: colliander@hum.ku.dk Prof. Dr. Josefa Contreras-Fernández Polytechnische Universität València Arbeitsschwerpunkte: Höflichkeit, Abschwächungsmechanismen, Didaktik E-Mail: jcontre@idm.upv.es Prof. Dr. Yadigar Eğit Ege Universität Izmir Arbeitsschwerpunkte: Soziolinguistik, Pragmatik, Übersetzungswissenschaft E-Mail: yadigaregit@gmail.com Prof. Dr. Claus Ehrhardt Universität Urbino „Carlo Bo“ Arbeitsschwerpunkte: Linguistische Pragmatik, Höflichkeitsforschung, Phraseologie E-Mail: claus.ehrhardt@uniurb.it Dr. Joachim Gerdes, Ricercatore / Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität Genua Arbeitsschwerpunkte: Fachsprachen, Jugendsprache(n), DaF-Didaktik E-Mail: joachim.gerdes@unige.it 402 Autorenverzeichnis Prof. Dr. Gudrun Held Universität Salzburg Arbeitsschwerpunkte: romanische Sprachwissenschaft - darin: Sozio- und Text- Pragmatik (synchron und diachron); Text- und Medienlinguistik; Interaktions- und Modalitätsforschung, Kommunikationstheorie E-Mail: Gudrun.Bachleitner-Held@sbg.ac.at Prof. em. Dr. Hans-Jürgen Heringer Universität Augsburg Arbeitsschwerpunkte: Interkulturelle Kommunikation, Semantik, Sprachphilosophie E-Mail: hans-juergen@heringer.net Prof. em. Dr. Irma Hyvärinen Universität Helsinki Arbeitsschwerpunkte: Kontrastivik (Deutsch u. Finnisch im Vergleich), Lexikologie und Phraseologie, Syntax E-Mail: ikhyvari@mappi.helsinki.fi Oksana Khrystenko, PhD Sumy State Pedagogical University (Ukraine) Arbeitsschwerpunkte: Soziolinguistik, Lexikologie, kognitive Linguistik E-Mail: Oksana.Khrystenko@gmx.net Benjamin Könning, Wissenschaftlicher Mitarbeiter / Doktorand Bergische Universität Wuppertal Arbeitsschwerpunkte: Gesprächsforschung, Jugendsprachforschung E-Mail: koenning@uni-wuppertal.de Prof. Dr. Helga Kotthoff Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Arbeitsschwerpunkte: Interaktionale Soziolinguistik, Deutsch als Fremdsprache, Gesprächsforschung E-Mail: helga.kotthoff@germanistik.uni-freiburg.de Dr. Svetlana Kraeva Staatliche Universität Tscheljabinsk Arbeitsschwerpunkte: Linguistische Pragmatik, Diskursforschung, Höflichkeitsforschung E-Mail: kraeva.svetlana@gmail.com Autorenverzeichnis 403 Prof. Dr. Frank Liedtke Universität Leipzig Arbeitsschwerpunkte: Pragmatik; Sprache und Kultur; Sprache in Politik und Öffentlichkeit; Sprachphilosophie E-Mail: liedtke@uni-leipzig.de Prof. Dr. Miriam A. Locher University of Basel Arbeitsschwerpunkte: Höflichkeitsforschung; Kommunikation im Gesundheitswesen; Internetkommunikation E-Mail: miriam.locher@unibas.ch Prof. em. Dr. Heinz-Helmut Lüger Universität Koblenz-Landau Arbeitsschwerpunkte: Text- und Medienlinguistik, Phraseologie, Gesprächsanalyse E-Mail: heinz-helmut.lueger@t-online.de Prof. em. Dr. Bernd Müller-Jacquier Universität Bayreuth Arbeitsschwerpunkte: Gesprächslinguistik, interkulturelle Kommunikation, Pragmatik E-Mail: mue-jac@uni-bayreuth.de Prof. em. Dr. Eva Neuland Bergische Universität Wuppertal Arbeitsschwerpunkte: Soziolinguistik, Gesprächs- und Textlinguistik, Interkulturelle Kommunikation E-Mail: neuland@uni-wuppertal.de Dr. Goranka Rocco Universität Triest Arbeitsschwerpunkte: E-Mail: grocco@units.it Dr. Jürgen Roth Schriftsteller und Publizist, Frankfurt am Main Arbeitsschwerpunkte: Sprachkritik und politische Rhetorik E-Mail: j-roth-frankfurt@t-online.de 404 Autorenverzeichnis Virginia Schulte, M. A., Doktorandin Universität Warschau Arbeitsschwerpunkte: Übersetzungswissenschaft, Interkulturelle Kommunikation, Höflichkeitsforschung E-Mail: schultevirginia1@gmail.com Prof. agg. Ulrike Simon Universität Bari Aldo Moro Arbeitsschwerpunkte: Interkulturelle Kommunikation, Deutsch als Fremdsprache und Phraseologie E-Mail: ulrikerosemarie.simon@uniba.it Andrea Taczman, Doktorandin Eötvös-Loránd-Universität Budapest Arbeitsschwerpunkte: Deutsch als Fremdsprache, Sprachliche Höflichkeit und Lehrersprache E-Mail: andrea.taczman@gmail.com Ass.-Prof. Dr. Nahla Tawfik Ain Shams Universität Kairo Arbeitsschwerpunkte: Übersetzungsdidaktik, Interkulturelle Kommunikation, Übersetzungsgeschichte E-Mail: nahlanagi@hotmail.com Elisa Wessels, M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin / Doktorandin Bergische Universität Wuppertal Arbeitsschwerpunkte: Jugendsprache, Konversationsanalyse / Interaktionale Linguistik, (Un)Höflichkeit E-Mail: wessels@uni-wuppertal.de Prof. Hitoshi Yamashita Osaka Universität Arbeitsschwerpunkte: Germanistische Soziolinguistik, Höflichkeit, Kommunikative Kompetenz E-Mail: yamasita@lang.osaka-u.ac.jp Prof. Dr. Tatjana Yudina Lomonossov-Universität Moskau Arbeitsschwerpunkte: Deutsch als Wissenschaftssprache, Translationstheorie, Geschichte der russischen Germanistik E-Mail: twyudina@rambler.ru Sprachliche Höflichkeit ist ein breit diskutiertes Thema in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Oft wird ein Mangel an Höflichkeit oder gar deren Verfall beklagt. Neue Medien und die zunehmende Interkulturalität scheinen das Problem zu verschärfen. In der Sprachwissenschaft greifen zahlreiche Ansätze solche Fragen auf und versuchen eine wissenschaftliche Klärung und Einordnung in neuere theoretische und methodische Entwicklungen. Der Band dokumentiert ausgewählte Beiträge einer internationalen Fachkonferenz. Er präsentiert aktuelle Entwicklungen in der deutschen Sprache und neue Ansätze in der Höflichkeitsforschung, auch in kontrastiver Perspektive und in verschiedenen Anwendungsfeldern. Kulturhistorische Einschätzungen über Ursprung und Entwicklung von Höflichkeitskonventionen sowie Ausblicke auf künftige Herausforderungen runden den Band ab. ISBN 978-3-8233-8094-8 Ehrhardt / Neuland (Hrsg.) Sprachliche Höflichkeit Claus Ehrhardt / Eva Neuland (Hrsg.) Sprachliche Höflichkeit Historische, aktuelle und künftige Perspektiven