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Das Wort

2018
978-3-8233-9099-2
Gunter Narr Verlag 
Eric Fuß
Maria Geipel

Die kompetente Verwendung von Wörtern im Kontext einer Sprache stellt ein hochspezialisiertes Fähigkeitssystem dar, das wir unbewusst beherrschen. Ebenso verfügen wir über eine implizite Kenntnis der Regeln, die den inneren Aufbau von Wörtern bestimmen. Der unbewusste Charakter sprachlichen Wissens erschwert jedoch dessen Vermittlung in Schule und Universität. Der vorliegende Überblick über wesentliche morphologische Phänomene des Deutschen sowie einschlägige grammatische Begriffe und Analysemethoden berücksichtigt dieses Problem des Grammatikunterrichts und begegnet ihm mit einer Synthese von sprachwissenschaftlicher und sprachdidaktischer Perspektive.

I SBN 978-3-8233-8099-3 LinguS 1 Das Wort LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis ERIC FUS MARIA GEIPEL www.narr.de Die kompetente Verwendung von Wörtern im Kontext einer Sprache stellt ein hochspezialisiertes Fähigkeitssystem dar, das wir unbewusst beherrschen. Ebenso verfügen wir über eine implizite Kenntnis der Regeln, die den inneren Aufbau von Wörtern bestimmen. Der unbewusste Charakter sprachlichen Wissens erschwert jedoch dessen Vermittlung in Schule und Universität. Der vorliegende Überblick über wesentliche morphologische Phänomene des Deutschen sowie einschlägige grammatische Begriffe und Analysemethoden berücksichtigt dieses Problem des Grammatikunterrichts und begegnet ihm mit einer Synthese von sprachwissenschaftlicher und sprachdidaktischer Perspektive. LinguS 1 FUS / GEIPEL · Das Wort Das Wort LinguS 1 LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis Herausgegeben von Sandra Döring und Peter Gallmann Eric Fuß / Maria Geipel Das Wort Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 2566-8293 ISBN 978-3-8233-9099-2 5 Inhalt 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.1 Auf die Überzeugungen kommt es an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.2 Der Gegenstandsbereich des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1 Das Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.2 Wörter und Wortformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.3 Wortbausteine und andere Bildungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.3.1 Morph und Morphem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.3.2 Typen von Morphemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.3.3 Das Phänomen der Allomorphie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.4 Teilbereiche der Morphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.5 Was ist ein Wort? Annäherung an den Analysegegenstand . . . . . 27 2.6 Kurze Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Aufgaben zur Lernkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3 Wortarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.1 Lexemklasse vs. syntaktische Wortart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.2 Klassifikationskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.2.1 Morphologische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.2.2 Syntaktische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.3 Wortklassen-- eine Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.3.1 Verben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.3.2 Substantive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.3.3 Artikelwörter und Pronomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.3.4 Adjektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.3.5 Adverbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.3.6 Präpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.3.7 Konjunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.3.8 Partikeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.4 Hinter den Kulissen der Wortarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.4.1 Wortarten als Ordnungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.4.2 Das semantische Kriterium überwinden . . . . . . . . . . . . . . 61 3.4.3 Mit Fantasiewörtern alternative Zugänge entdecken . . . . 63 3.4.4 Alle Kriterien in einem System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 6 Inhalt 3.5 Kurze Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Aufgaben zur Lernkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4 Flexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.1 Ausdrucksmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.2 Verbale Flexion (Konjugation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.3 Nominale Flexion (Deklination) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.3.1 Substantive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4.3.2 Artikelwörter und Pronomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.3.3 Adjektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.4 Die Kasusbestimmung-- Über den Tellerrand der Frageprobe blicken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.5 Kurze Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Aufgaben zur Lernkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 5 Wortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.1.1 Anmerkungen zur Position des Wortakzents . . . . . . . . . . 97 5.2 Derivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5.3 Konversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 5.4 Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 5.4.1 Fugenelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 5.5 Ein Ausflug ins Wortinnere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5.5.1 Rezeptive und produktive Wortbildungskompetenz . . . . . 108 5.5.2 WhatsAppen und Gesetzigkeit-- Wortbildung in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 5.6 Kurze Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Aufgaben zur Lernkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6 Statt eines Fazits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 7 1.1 Auf die Überzeugungen kommt es an 1 Einleitung 1.1 Auf die Überzeugungen kommt es an 1 Dreh- und Angelpunkt des Unterrichts ist die Lehrperson, denn sie stellt Lernangebote bereit, die von Schülerinnen und Schülern genutzt werden. Um diese Herausforderung meistern und sich kritisch mit schulpraktischen Fragen auseinandersetzen zu können, sind neben fachlichem, fachdidaktischem und pädagogischem Wissen auch die eigenen Überzeugungen entscheidend. Sie beziehen sich ähnlich wie Wissensstrukturen z. B. auf Gegenstandsbereiche und Methoden des Unterrichtsfaches oder auch auf das Selbstbild als (zukünftige) Lehrperson. Überzeugungen, was guten oder schlechten Unterricht auszeichnet oder welche Schülerreaktionen zu bestimmten Themen zu erwarten sind, bilden sich jedoch nicht erst innerhalb des Studiums, sondern bereits während der eigenen Schulzeit heraus, denn zu kaum einem anderen Beruf konnte man so viele Eindrücke sammeln wie zu dem der Lehrperson. Im Gegensatz zum Wissen werden die eigenen Überzeugungen als subjektiv wahr und wertvoll eingestuft, auch wenn dies-- aus objektiver Perspektive-- nicht unbedingt zutreffen muss. Unabhängig von ihrem tatsächlichen Richtigkeits- und Wahrheitsgrad filtern sie die Aufnahme neuer Informationen: Das, was in Einklang zu den bereits vorhandenen Überzeugungen steht, wird leichter und vor allem nachhaltiger gespeichert. Überzeugungen können sich also-- ja nach Ausprägung-- positiv, aber auch negativ auf das Lernen, Denken und Handeln auswirken (vgl. u. a. Reusser / Pauli / Elmer 2011; Lohmann 2006). Besonders im Bereich der Grammatik ist die bewusste Beschäftigung mit den eigenen Überzeugungen unumgänglich, denn eine Vielzahl der künftigen und bereits berufstätigen Lehrpersonen verbinden mit Grammatikunterricht recht einseitige und vor allem negative Erfahrungen, wenn sie an ihre eigene Schulzeit zurückdenken: ▶ „[Den Grammatikunterricht habe ich während meiner eigenen Schulzeit] eher als stupide und langweilig empfunden. Da das Lehrpersonal von Jahr zu Jahr wechselte herrschte kein Konsens über die Anforderungen 1 In Anlehnung an den Titel des Beitrags von Lipowsky (2006): Auf den Lehrer kommt es an. 8 1 Einleitung im Bereich Grammatik. Vieles wurde nicht richtig verstanden und in der Oberstufe übergangen.“ (Proband ISW ) 2 ▶ „[Grammatikunterricht habe ich] nur sporadisch erhalten (u. a. durch einige Lehrerwechsel). Selbst die Lehrer_innen vermittelten den Eindruck, es sei ein ihnen unliebsames Thema.“ (Proband KSW ) ▶ „[Den Grammatikunterricht habe ich] wenig interessant gefunden. Stupides bearbeiten der Aufgaben, farbiges markieren von verschiedenen Wortarten. Immer gleich und langweilig. Auch unsere Lehrerin zeigte kein großes Interesse.“ (Proband IRW ) ▶ „Ganz ehrlich: es war doch nur ein auswendiglernen von Dingen, die uns von oben, also Merksätzen oder Lehrerin aufgedrückt wurden und wo wir nicht wussten, warum das jetzt eigentlich so ist. Transparenz null. Wir mussten es einfach irgendwie machen.“ (Proband PJK ) Positive Erinnerungen sind meist an gute Noten, motivierende Lehrerinnen und Lehrer oder einen abwechslungsreichen Unterricht geknüpft. Wird Grammatikunterricht als wenig kreativ und lästig verkauft, werden Schülerinnen und Schüler kaum eine entdeckende und positiv gestimmte Haltung dazu entwickeln. Für (angehende) Lehrpersonen ist es daher umso wichtiger, die eigenen Erinnerungen, Überzeugungen und mitunter auch Vorurteile kritisch zu hinterfragen und diese nicht auf potenzielle Schülerinnen und Schüler zu übertragen: ▶ „[Schülerinnen und Schüler finden Grammatikunterricht] wahrscheinlich ähnlich wie ich selbst eher langweilig (Proband ULW ); schwer, unnötig, überflüssig (Proband SUW ); eher langweilig und belastend, [denn es] gibt selten Schüler die es wirklich interessiert.“ (Proband MAW ) Befragt man Lernende 3 , zeigt sich ein deutlich differenzierteres Bild: 2 Die Zitate beruhen auf einer Studierendenbefragung, die in Seminaren an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und an der Universität Leipzig durchgeführt wurde. Die Überzeugungen der Studierenden wurden gemeinsam in den Seminaren analysiert und diskutiert, um den fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Lernprozess günstig zu beeinflussen. Die Auszüge sind unkorrigiert übernommen. 3 Die Zitate beruhen auf einer Befragung von Schülerinnen und Schülern aus einem Thüringer Gymnasium (9. Klasse) und einer Thüringer Realschule (8. Klasse). Die Auszüge sind unkorrigiert übernommen. 9 1.1 Auf die Überzeugungen kommt es an ▶ „Ich finde, dass Grammatik ein interessantes Thema ist, da mir das Thema einigermaßen liegt. Naja, er [der Grammatikunterricht] wird zu einseitig gestaltet und man muss immer auf die Leute warten, die es ewig nicht begreifen.“ (Proband G1) ▶ „Die Grammatik die zwar sinnvoll ist aber zu viele regeln hat und ein zu großer teil davon in Noten verlangt wird“ (Proband G9) ▶ „Eigentlich gern, aber manchmal nicht gern weil wenn die Lehrerin die ganze Zeit spricht und es Langweilig wird.“ (Proband R8) ▶ „Gern nur dann wenn wir auch drüber reden und nicht nur unterstreichen. Manchmal denke ich das ich auch recht habe und versteh nicht warum das jetzt falsch ist.“ (Proband R20) Nicht der Gegenstand an sich ist mit Langeweile, Abneigung oder Angst besetzt, sondern vielmehr beeinflusst die Art und Weise, wie die Lehrperson den Unterrichtsstoff aufbereitet und schließlich vor der Klasse auftritt, die Wahrnehmung, die Motivation und letztendlich das Lernen der Schülerinnen und Schüler. Schließlich „geht es im Grammatikunterricht nicht um ein ängstliches Befolgen von Regeln und Vermeiden von Fehlern, sondern um ein beobachtendes und spielerisches Entdecken der Sprache und der Muster, die sie zusammenhalten“ (Granzow-Emden 2013: 2). Um die bemängelten fachlichen Inkonsequenzen oder das stupide Abarbeiten von grammatischen Proben zu vermeiden und stattdessen solche Konzepte zu vermitteln, die Systemeinsichten und Sprachreflexion ermöglichen, braucht es Überzeugungen, die den Erwerb fachwissenschaftlichen Wissens unterstützen, denn ohne dieses Wissen können fachdidaktische Überlegungen kaum zielführend angestellt werden: Erst muss der Gegenstand durchdrungen werden, um dann die richtigen Fragen zur schulpraktischen Umsetzung stellen und diese auch angemessen beantworten zu können. Für die Lektüre des Bandes gilt es daher, ▶ sich die Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit bewusst zu machen ▶ Abstand von Vorurteilen zur Unterrichtsgestaltung und zu Schülerreaktionen zu nehmen ▶ den eigenen Einfluss auf den Lernerfolg und die Motivation der Schülerinnen und Schüler zu bedenken und vor allem ▶ sprachwissenschaftliche Konzepte als Ausgangspunkt für die Diskussion von sprachdidaktischen Gesichtspunkten anzuerkennen. 10 1 Einleitung In den sprachdidaktischen Abschnitten wird exemplarisch vorgeführt, worin der Mehrgewinn besteht, wenn bei schulpraktischen Überlegungen explizit auf Fachwissen Bezug genommen wird. Auch wenn nicht alle Themenbereiche aufgegriffen werden können, so lassen sich allgemein übertragbare Denkstrukturen und Herangehensweisen ableiten, die den eigenen Lernprozess unterstützen und auch das Unterrichten erleichtern. 1.2 Der Gegenstandsbereich des Bandes Wenn man danach fragt, woraus eine Sprache besteht, so lautet eine gängige Antwort: Aus Wörtern. Das mag daran liegen, dass Wörter die Bestandteile einer Sprache sind, die uns am ehesten zugänglich erscheinen. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, zeigt sich, wenn wir eine fremde Sprache hören, die wir nicht verstehen. In diesem Fall nehmen wir keine einzelnen Wörter wahr, sondern hören nur einen kontinuierlichen Lautstrom, der an- und abschwillt, hin und wieder seine Tonlage ändert und von einigen Pausen zum Luftholen durchzogen ist-- tatsächlich sind wir nur dann in der Lage, eine lautliche Äußerung in individuelle Wörter zu zerlegen, wenn wir über gewisse Kenntnisse in der betreffenden Sprache verfügen. Dies zeigt uns, dass die Wahrnehmung und Identifizierung von Wörtern wesentlich davon abhängt, dass wir die Bedeutung der Äußerung (zumindest teilweise) erkennen können. Bei Wörtern handelt es sich also um Informationseinheiten, die eine bestimmte Bedeutung mit einer lautlichen Repräsentation verknüpfen. Darüber hinaus enthalten Wörter Informationen über ihr syntaktisches Verhalten, d. h. über mögliche oder notwendige Kombinationen mit anderen Wörtern. So wird es den meisten Sprechern des Deutschen klar sein, dass ein Wort wie besteigt keine vollständige Äußerung darstellt, sondern noch mindestens zwei Ergänzungen benötigt (z. B. wie in [Leopold] besteigt [das Matterhorn]). Ebenso gilt, dass ein Artikel wie das zwar mit einem Substantiv wie Buch oder Pferd verknüpft werden kann, nicht aber mit einem Adjektiv wie satt. Eine nähere Betrachtung zeigt also, dass es sich bei den vermeintlich einfachsten Bestandteilen von Sprache um komplexe integrierte sprachliche Bausteine handelt, die auf kleinstem Raum drei verschiedene Arten von Informationen bündeln (Bedeutung, Lautgestalt und syntaktisches Verhalten). Die kompetente Verwendung von Wörtern im Kontext einer Sprache stellt ein hochspezialisiertes Fähigkeitssystem dar, das wir beherrschen, ohne uns seiner Funktionsweise bewusst zu sein. So ist jedem Sprecher des Deutschen klar, dass es sich bei Gurke und Wolke um Wörter des 11 1.2 Der Gegenstandsbereich des Bandes Deutschen handelt, die sich in Lautgestalt und Bedeutung unterscheiden. Baut man sie in syntaktische Strukturen wie Sätze ein, so unterscheiden sich auch die Sätze in Laut und Bedeutung: (1) a. Die Gurke ist grün. b. Die Wolke ist grün. Ebenso verfügen wir über eine implizite Kenntnis der Regeln, die den Aufbau von Wörtern bestimmen. So wissen wir, dass die Wörter Gurke und Wolke nicht nur in einer Form auftreten-- man kann sie in den Plural setzen, indem man ein -n anfügt. Die pluralischen Formen erfordern allerdings einen anderen syntaktischen Kontext, da die Form des Verbs mit dem geänderten Numeruswert des Nomens übereinstimmen muss (sog. Subjekt-Verb-Kongruenz). Das vorangestellte Sternchen / Asterisk (*) signalisiert, dass das Beispiel in (3) nicht wohlgeformt bzw. nicht akzeptabel ist. (2) Die Gurken / Wolken sind grün. (3) *Die Gurken / Wolken ist grün. Ein weiteres Beispiel für unser unbewusstes Wissen betrifft einen kreativen Aspekt von Sprache, nämlich die Bildung neuer Wörter aus vorhandenen Wörtern bzw. Wortbausteinen. So werden die meisten Sprecher erkennen können, dass ein Wort wie löwensicher (aus Löwe(n)+sicher) zwar kein gängiges, aber dennoch potentiell mögliches Wort des Deutschen ist, während dies für gurkensicher eher nicht zutrifft. Der zweifelhafte Status von gurkensicher ist auf eine semantische Unverträglichkeit zurückzuführen- - bei Bildungen der Art X+sicher muss X in der Regel etwas potentiell Gefährliches oder Bedrohliches bezeichnen. Während gurkensicher uns zwar seltsam, aber dennoch irgendwie formbar vorkommt (z. B. in einer Welt, in der von Gurken eine Bedrohung ausgeht), sind Neuschöpfungen wie *Gurk(e)keit (aus Gurke+keit) oder *ungurk(e) bar (aus un+Gurke+bar) völlig ausgeschlossen. Die fehlende Wohlgeformtheit solcher Bildungen ist darauf zurückzuführen, dass sie gegen grammatische Regeln verstoßen (z. B. kann -keit nur an ein Adjektiv, nicht aber an ein Substantiv herantreten, vgl. Kapitel 5 für Details). Der unbewusste Charakter dieser Form unseres sprachlichen Wissens erschwert- - aus fachdidaktischer Perspektive- - die Vermittlung entsprechender Kenntnisse in Schule und Universität. Der vorliegende Band begegnet dieser Problematik, indem er eine Synthese aus sprachwissenschaftlicher und sprachdidak- 12 1 Einleitung tischer Perspektive anstrebt, die spezifische Probleme des Grammatikunterrichts an der Schule berücksichtigt und als Grundlage für Studium, Referendariat und Lehrerfortbildung dienen kann. Inhaltlich gibt der Band einen Überblick über wesentliche einschlägige Phänomene des Deutschen und führt anhand dieser in zentrale Begriffe und Analysemethoden ein. Zu jedem Teilbereich werden nicht nur Empfehlungen zur weiterführenden Lektüre, sondern auch Aufgaben angeboten, die eine selbständige Lernkontrolle und Prüfungsvorbereitung ermöglichen. Zur Vertiefung der in dem vorliegenden Band verhandelten fachwissenschaftlichen Gegenstände eignen sich die Überblicksdarstellungen in der Dudengrammatik (Duden 2016) und in Eisenberg (2013). Eine empfehlenswerte populärwissenschaftliche Einführung in die wunderbare Welt der Wörter ist Miller (1993). Darüber hinaus gibt es eine Reihe nützlicher Online-Angebote zur deutschen Grammatik, die gegebenenfalls schneller zur Hand sind: ▶ ProGr@mm (die Propädeutische Grammatik), ein Lernsystem zur Grammatik des Deutschen, das ursprünglich für die universitäre Lehre konzipiert wurde: http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ programm/ index.html ▶ grammis 2.0, ein multimediales Informationssystem zur deutschen Grammatik: http: / / hypermedia.ids-mannheim.de ▶ canoonet, ein Online-Service, der Wörterbücher und Informationen zur Grammatik des Deutschen bereitstellt ▶ Ein ausführlicher Foliensatz zu einer stärker theoretisch orientierten Einführung in die Morphologie findet sich auf der Homepage von Fabian Heck (Universität Leipzig): http: / / home.uni-leipzig.de/ heck/ Wir möchten uns an dieser Stelle bei Sandra Döring und Peter Gallmann bedanken, deren Kommentare und Hinweise wesentlich zur Verbesserung des ursprünglichen Manuskripts beigetragen haben. Ferner gilt unser Dank unseren Kolleginnen und Kollegen sowie Studierenden des Lehramts Deutsch, die uns mit Rat und Tat unterstützt haben: Lisa Alert, Patrick Brandt, Lara Hann, Fabian Heck, Marek Konopka, Franziska Münzberg, Fabiana Netzband, Dominik Spott, Ulli Wassner, Angelika Wöllstein und Anne Wolter. Weiterhin möchten wir uns bei allen Studierenden, die im SoSe 2016 und 2017 das Seminar „Kritische Auseinandersetzung mit der Schulgrammatik“ (Universität Leipzig) besucht haben, bedanken, da sie uns mit ihren kritischen Fragen und ihren Eindrücken aus den Praktika wichtige Anhaltspunkte für die Konzeption des Buches gegeben haben. Alle verbleibenden Unzulänglichkeiten sind natürlich von uns zu verantworten. 13 2.1 Das Wort 2 Grundbegriffe 2.1 Das Wort Bei der grammatischen Beschreibung einer Sprache müssen lautliche, morphologische, syntaktische und semantische Aspekte berücksichtigt werden. Die lautlichen Eigenschaften einer Sprache sind Gegenstand von Phonetik und Phonologie. Die Phonetik befasst sich mit dem Inventar und den Eigenschaften von Sprachlauten, während die Phonologie das Lautsystem einer Sprache beschreibt-- wie z. B. die sprachspezifischen Regeln, nach denen Laute zu größeren Einheiten wie Silben verknüpft werden. Die Syntax legt die Regeln fest, wie die Wörter einer Sprache zur Bildung von größeren strukturierten Einheiten wie Wortgruppen (Phrasen) und Sätzen kombiniert werden können. Bedeutungsaspekte werden in der Semantik behandelt, die beschreibt, wie sich die Bedeutung eines Satzes aus den lexikalischen Bedeutungen von Wörtern und den speziellen strukturellen Beziehungen zwischen diesen ergibt. Gegenstand der Morphologie schließlich sind die universellen und sprachspezifischen Regularitäten, die die innere Struktur und den Aufbau von Wörtern betreffen. Wörter stellen für die meisten Sprecher wohl die offensichtlichsten Bestandteile von Sprache(n) dar. Dennoch stößt unser Wissen über Wörter schnell an seine Grenzen. So haben die wenigsten Sprecher eine Vorstellung davon, über wie viele Wörter sie verfügen. Dies liegt zum Teil daran, dass es nicht ganz klar ist, welche Einheiten in die Zählung eingehen. Soll man gehe, gehst, geht, gehen, ging etc. als eigenständige Wörter zählen, oder berücksichtigt man lediglich eine Grundform wie gehen? Zudem ist der Begriff des Wortschatzes mehrdeutig. Zum einen kann er sich auf die Anzahl der Wörter in einer Sprache beziehen. Für das Deutsche geht man von einem Gesamtwortschatz aus, der je nach Schätzung zwischen 300 000 und 500 000 Wörtern liegt. Nimmt man dazu noch das Vokabular spezieller Gebiete wie Fachsprachen hinzu, dürfte die Zahl der Wörter in die Millionen gehen. Zum anderen kann sich der Begriff des Wortschatzes aber auch auf die Zahl der Wörter beziehen, über die ein einzelner Sprecher verfügt. Hier kommen entsprechende Schätzungen auf Zahlen zwischen 30 000 bis 200 000 Wörtern, wobei es große Unterschiede geben kann abhängig von Faktoren wie Alter oder Bildungsgrad. 14 2 Grundbegriffe Man nimmt an, dass der Bestand an Wörtern, über die ein einzelner Sprecher verfügt, in einem mentalen Lexikon abgespeichert ist, das für jeden Lexikoneintrag Informationen wie Lautgestalt, Bedeutung und Wortart (Nomen, Verb, Adjektiv etc.) enthält. Allerdings enthält das mentale Lexikon nicht nur vollständige Wörter, sondern auch Wortbausteine wie un-, ver-, ent-,--bar,--lich, mit deren Hilfe komplexe Wörter gebildet werden können. Jeder kompetente Sprecher einer Sprache hat auch ohne Grammatikschulung ein intuitives Verständnis, was ein Wort ist und was nicht. So werden die meisten Sprecher des Deutschen darin übereinstimmen, dass Hund, aber oder Personenvereinzelungsanlage Wörter des Deutschen sind, während die oben genannten Wortbausteine un-, ver-, ent-,--bar,--lich es nicht sind. In der Folge wollen wir uns dennoch kurz mit der Frage befassen, wie diese Sprecherintuitionen in eine Definition des Wortbegriffs übersetzt werden können. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber recht bald, dass dieses Unterfangen keineswegs einfach ist. Tatsächlich gibt es im Gegensatz zu anderen sprachlichen Bausteinen wie Phonem oder Morphem (siehe dazu weiter unten) bislang keine allgemein akzeptierte formale Definition des Wortbegriffs. Ein Grund dafür ist sicherlich der bereits angesprochene Charakter von Wörtern als integrierte Bauteile, die als Schnittstelle zwischen verschiedenen Teilmodulen der Grammatik fungieren und einen Komplex aus lautlichen, morphologischen, syntaktischen und semantischen Eigenschaften bilden. Eine kritische Auseinandersetzung mit entsprechenden Definitionsversuchen kann aber dazu beitragen, unser intuitives Vorverständnis dessen, was ein Wort ist, zu schärfen. Unsere Wahrnehmung und unser Verständnis davon, was ein Wort ist, ist stark von der Schriftsprache geprägt. Es lässt sich jedoch leicht zeigen, dass ein rein orthografischer Wortbegriff auf der Basis von Getrenntvs. Zusammenschreibung zu Problemen führt: (4) a. Alt: irgend jemand; neu: irgendjemand b. Alt: wieviel vs. wie viele; neu: wie viel, wie viele Die Beispiele in (4) zeigen einige Unterschiede zwischen alter und neuer Rechtschreibung. Es ist offensichtlich, dass entsprechende Veränderungen lediglich das Resultat orthografischer Konventionen darstellen-- es ist nur schwer vorstellbar, dass sich der Wortstatus von wieviel oder irgend jemand mit dem Einsetzen der Rechtschreibreform quasi über Nacht geändert hat. Eine Definition des Wortbegriffs, der sich rein an der Schreibung orientiert, ist also wenig hilfreich. Vielversprechender sind daher Definitionsansätze, die sich auch auf 15 2.1 Das Wort Eigenschaften gesprochener Sprache anwenden lassen. Konzentriert man sich dabei auf lautliche Eigenschaften, dann können Wörter als Lautfolgen definiert werden, die aufgrund von unabhängigen phonetisch-phonologischen Kriterien als separate sprachliche Einheiten identifizierbar sind (relevant sind hier z. B. Grenzsignale wie Pausen oder die Beobachtung, dass Wörter in vielen Sprachen nur genau einen Hauptakzent tragen können). Allerdings lässt ein solcher phonologischer Wortbegriff die Tatsache außer Acht, dass es sich bei Wörtern-- im Gegensatz beispielsweise zu Silben-- nicht um rein phonologische Einheiten handelt; vielmehr stellt das Wort das zentrale Grundelement von Morphologie und Syntax dar. Vor dem Hintergrund eines grammatischen Wortbegriffs können Wörter als kleinste frei auftretende sprachliche Zeichen definiert werden, die mit bestimmten grammatischen Merkmalen (z. B. Wortklasse [Nomen, Verb etc.], Numerus [±Plural], Genus [±Feminin, ±Maskulin], Kasus, Tempus etc.) assoziiert sind und Gegenstand von syntaktischen Regeln sein können (vgl. auch Abschnitt 2.2 zum Begriff des syntaktischen Worts). So repräsentiert die Form habe im folgenden Beispiel zwei unterschiedliche grammatische bzw. syntaktische Wörter, die beide dem Grundwort hab-(en) zugehörig sind: (5) a. Ich habe Peter getroffen. b. Er sagt, er habe Peter getroffen. In (5a) ist die Form habe ein grammatisches Wort mit den Merkmalen [Verb, Präsens, Indikativ, 1. Person, Singular], während in (5b) ein anderes grammatisches Wort mit den Merkmalen [Verb, Präsens, Konjunktiv I, 3. Person, Singular] vorliegt. Ein morphologisches Kriterium besteht darin, dass Wörter eine komplexe innere Struktur aufweisen können, d. h. sie können aus mehreren Bausteinen zusammengesetzt sein, die selbst nicht frei vorkommen können wie un-, -bar etc. Diese atomaren Bauelemente der Morphologie nennt man Morpheme (vgl. Abschnitt 2.3). Der Wortbegriff lässt sich nun wie folgt fassen: Begriff des Worts: Wörter sind frei auftretende sprachliche Zeichen, die aus einer oder mehreren kleineren Einheiten (Morphemen) aufgebaut sind und Gegenstand von syntaktischen Regeln zur Erzeugung größerer Zeichenkomplexe wie Wortgruppen (Phrasen) oder Sätzen sein können. 16 2 Grundbegriffe Obwohl eine Definition des Wortbegriffs, die sich auf morphologische und syntaktische Kriterien stützt, auf den ersten Blick recht erfolgreich zu sein scheint, ist auch sie mit einer Reihe von Problemen konfrontiert, auf die wir an dieser Stelle nicht erschöpfend eingehen können. Schwierigkeiten macht z. B. das Verhalten von sog. Partikelverben (Verbindungen, die aus einem Verb und einer Partikel bestehen), die nicht immer als Einheit auftreten: (6) a. Lydia und Leopold schlafen während der Vorlesung ein. b. *Lydia und Leopold einschlafen während der Vorlesung. c. Lydia und Leopold könnten während der Vorlesung einschlafen. Obwohl die meisten Sprecher wohl sagen würden, dass das Verb schlafen und die Verbpartikel ein zusammen ein Wort bilden (nämlich einschlafen), scheint (6a-b) nahezulegen, dass es sich um zwei separate Wörter handelt: Offenbar kann schlafen, nicht aber einschlafen, von einer syntaktischen Regel (Voranstellung des finiten Verbbestandteils im Hauptsatz) erfasst werden. Darüber hinaus können syntaktische Tests auch widersprüchliche Ergebnisse liefern, da einschlafen auch als sprachliche Einheit auftreten kann, vgl. (6c). 2.2 Wörter und Wortformen Im Zusammenhang mit dem Begriff des grammatischen Worts haben wir bereits gesehen, dass in der Regel ein Unterschied gemacht wird zwischen einem (abstrakten) Grundwort, das in unserem mentalen Lexikon gespeichert ist, und den konkreten Realisierungsformen dieses Grundworts in bestimmten syntaktischen Umgebungen. Grundlage dieser Unterscheidung ist die Beobachtung, dass sich Wörter nicht nur hinsichtlich Lautgestalt und Bedeutung unterscheiden (wie z. B. Gurke und Wolke); wir können auch feststellen, dass ein und dasselbe Wort abhängig vom syntaktischen Kontext, in dem es auftritt, unterschiedliche Formen annimmt: (7) a. Lydias Bruder spielt gerne Fußball. b. Mit den Brüdern von Lydias Freundinnen verhält es sich ähnlich. c. Lydia teilt die Fußballeuphorie ihres Bruders. In (7) tritt das Wort Bruder in drei verschiedenen Formen auf, die unterschiedliche Werte für Kasus und Numerus signalisieren: Nominativ + Singular in (7a), Dativ + Plural in (7b) und Genitiv + Singular in (7c). Traditionell wird das Phäno- 17 2.2 Wörter und Wortformen men, dass ein Substantiv abhängig vom syntaktischen Kontext in verschiedenen Formen auftritt, als Deklination bezeichnet. So kann die Form Brüdern nur in Satz (7b), nicht aber anstelle von Bruder oder Bruders in (7a) oder (7c) stehen (umgekehrt gilt das natürlich genauso). Etwas allgemeiner spricht man bei der Anpassung eines Worts an den syntaktischen Kontext von Flexion („Beugung“). Die Gesamtmenge aller flektierten Formen eines Worts bzw. einer Klasse von lexikalischen Elementen bilden ein Paradigma. Paradigmen stellen bestimmte Flexionsmuster dar und werden in der Regel in Form einer Tabelle repräsentiert: Singular Plural Nominativ Bruder Brüder Akkusativ Bruder Brüder Dativ Bruder Brüder-n Genitiv Bruder-s Brüder Tabelle 1: Paradigma von Bruder Die in einem Paradigma zusammengefassten flektierten Wortformen haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten (wie hier z. B. Genus: Maskulin); sie unterscheiden sich aber auch hinsichtlich bestimmter Merkmalswerte (hier z. B. Kasus und Numerus). Die Idee, dass es sich bei Bruder, Bruders, Brüder und Brüdern um verschiedene (konkrete) Realisierungsformen eines zugrundeliegenden lexikalischen Worts handelt, lässt sich verdeutlichen, wenn man die Beziehung zwischen Wortform und lexikalischer Grundform etwas näher betrachtet. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Einsicht, dass nicht alle flektierten Varianten eines Worts notwendig im mentalen Lexikon abgelegt sind. So geht man davon aus, dass eine Wortform wie Bruders aus der Grundform Bruder durch eine morphologische Regel (vgl. Kapitel 4) erzeugt wird, welche die 3. Person Singular Genitiv für bestimmte Klassen von Substantiven bildet (die sog. starken Maskulina und Neutra). Dies hat den Vorzug, dass die einschlägigen Wortformen nicht für jedes einzelne Substantiv separat gelernt und abgespeichert werden müssen. Im mentalen Lexikon steht lediglich die lexikalische Grundform des Worts, die man auch als Lexem bezeichnet. Darüber hinaus enthält das Lexikon Informationen über unregelmäßige Formen, wie z. B. die Tatsache, dass bei der Pluralform von Bruder ein Vokalwechsel erfolgt (Umlaut: Brüder). Bei einem Lexem handelt es sich also um eine abstrakte sprachliche Einheit, welche die Eigenschaften eines Worts verzeichnet, die nicht durch Regeln vorhersagbar 18 2 Grundbegriffe sind (in einem Wörterbuch steht hier die sog. Nennform eines Worts; bei Substantiven entspricht diese im Deutschen dem Nominativ Singular). Lexem (lexikalisches Wort): Ein Lexem ist eine abstrakte lexikalische Basiseinheit, die Informationen über grundlegende Eigenschaften wie Lautgestalt, Kernbedeutung, Wortart und invariante morphosyntaktische Merkmale enthält (plus gegebenenfalls Angaben über flektierte Formen, deren Gestalt nicht über Regeln ableitbar ist). Wortform: Die lautliche Realisierung eines Lexems wird Wortform genannt. Wortformen sind in einem Paradigma organisiert, das alle Realisierungen eines Lexems enthält. Ein Blick auf Tabelle 1 zeigt uns, dass im Deutschen (wie in vielen anderen Sprachen) keine Eins-zu-eins-Beziehung von Wortform und grammatischer Funktion vorliegt. Das Paradigma weist insgesamt acht Zellen auf, die aber von lediglich vier verschiedenen Wortformen (Bruder, Bruder-s, Brüder, Brüder-n) besetzt werden. Einen solchen Zusammenfall verschiedener Wortformen bzw. Zellen eines Paradigmas bezeichnet man auch als Synkretismus. Synkretismen treten oft in bestimmten Mustern auf, die für das Flexionssystem einer Sprache charakteristisch sind (so fallen bei Substantiven im Deutschen systematisch im Plural Nominativ, Akkusativ und Genitiv zusammen, vgl. Kapitel 4 für weitere Details). Um dennoch zwischen Wörtern mit gleicher Form, aber unterschiedlichem Merkmalsgehalt unterscheiden zu können, wird der Begriff des syntaktischen Worts benötigt (vgl. auch Abschnitt 2.1): Syntaktisches Wort: Syntaktische Wörter sind konkret auftretende Wörter, wie sie in tatsächlichen Sätzen bzw. syntaktischen Strukturen vorkommen. Ein syntaktisches Wort besteht aus einer Wortform und Angaben zu den morphosyntaktischen Merkmalen / Kategorien, für die die Wortform steht. Der Satz in (8) besteht somit aus sieben verschiedenen syntaktischen Wörtern-- obwohl glaube und Glaube formgleich sind, werden sie als unterschiedliche syntaktische Wörter behandelt. Dies kann man durch Angabe der entsprechenden Merkmale / Kategorien wie in (9) explizit machen. (8) Ich glaube, der Glaube kann Berge versetzen. (http: / / www.medi-learn.de/ foren/ archive/ index.php/ t-7693.html, 22. 8. 2017) 19 2.3 Wortbausteine und andere Bildungsmittel (9) a. glaube (Verb), 1. Person Singular Präsens Indikativ b. Glaube (Nomen), Maskulin Singular Nominativ Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass man offenbar zwischen verschiedenen abstrakten und konkreten Wortbegriffen unterscheiden muss, erscheinen die Probleme, die uns bei der Definition eines allgemeinen Wortbegriffs begegnet sind, in einem anderen Licht: Möglicherweise fällt es uns deshalb schwer, eine geeignete Festlegung zu entwickeln, weil ein Wort stets in mehreren Erscheinungsformen auftritt, die sich im Rahmen einer allgemeinen Definition nur schwer unter einen Hut bringen lassen. 2.3 Wortbausteine und andere Bildungsmittel 2.3.1 Morph und Morphem Wir haben bereits gesehen, dass Wörter aus mehreren Bausteinen zusammengesetzt sein können. Diese Wortbausteine, die unterhalb der Wortebene auftreten können, nennt man Morpheme. Das Morphem ist die zentrale Analyseeinheit innerhalb der Morphologie. In Anlehnung an den Begriff des Phonems, das üblicherweise als kleinste bedeutungsdifferenzierende (lautliche) Einheit (im Deutschen z. B. / b/ vs. / p/ wie in Bein vs. Pein) definiert wird, wird das Morphem traditionell als die kleinste bedeutungstragende sprachliche Einheit charakterisiert, d. h. als ein sprachliches Element, das nicht mehr weiter in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und bestimmter Bedeutung zerlegt werden kann. Ein wesentlicher Aspekt dieser Definition besteht darin, dass die Bedeutung eines Morphems nicht aus den Bedeutungen der sprachlichen Einheiten abgeleitet werden kann, in die sich das Morphem zerlegen lässt. So besteht das deutsche Wort Wolke aus den beiden Silben wol- und -ke, aber es ist nicht möglich, die Bedeutung von Wolke auf etwaige Bedeutungen der Segmentfolgen wol- und -ke zurückzuführen. Wolke stellt also ein einfaches Morphem dar- - gleichzeitig ist es aber auch ein Wort. Eine bedeutungsbezogene Definition des Morphembegriffs kann zwar einen großen Bereich der in unserem mentalen Lexikon verzeichneten Wortbausteine korrekt erfassen. Probleme bereiten ihr aber Wörter und Wortbausteine, die man gerne als Morpheme bezeichnen würde, obwohl es schwerfällt, ihren Bedeutungsgehalt eindeutig zu charakterisieren. Auf den ersten Blick scheint dies für viele Wortbausteine wie ent-, ver-, -er, -lich, -ung etc. zu gelten. Bei näherer Betrachtung kann 20 2 Grundbegriffe man aber erkennen, dass viele dieser Elemente einen eindeutigen (wenn auch bisweilen etwas abstrakteren) semantischen Gehalt besitzen. So werden die meisten Sprecher dem Morphem -er in Kinder korrekterweise die Bedeutung ‚Plural‘ zuordnen. Und nach einigem Nachdenken wird man vielleicht darauf kommen, dass die Bedeutung eines adjektivbildenden Suffixes wie -lich sich in etwa durch ‚wie ein X‘ wiedergeben lässt (z. B. kind-lich). Anders gelagert ist der Fall aber bei einem Element wie -en, das in erster Linie eine grammatische Funktion erfüllt und u. a. dazu dient, den Infinitiv von Verben zu bilden. Hier scheint das Element, das wir gerne als Morphem einordnen würden, tatsächlich keinen eindeutigen semantischen Gehalt aufzuweisen. Schwierigkeiten dieser Art lassen sich durch eine weiter gefasste Definition des Morphembegriffs vermeiden, die nicht ausschließlich auf die Bedeutung eines Elements Bezug nimmt (vgl. Wurzel 1984): Morphembegriff: Morpheme sind minimale sprachliche Einheiten, die nicht mehr weiter in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und mindestens einer außerphonologischen Eigenschaft zerlegt werden können. Die außerphonologische Eigenschaft, auf die diese Definition Bezug nimmt, kann sich auf die Bedeutung beziehen, die mit einer bestimmten Segmentfolge verknüpft ist (z. B. bei Elementen wie Wolke, Gurke, grün, -lich etc.). Es kann sich jedoch auch um eine grammatische Eigenschaft handeln, die im Fall von -en eben darin besteht, die Infinitivform von Verben zu bilden. Ähnliches gilt für viele Flexionsendungen (z. B. Kasusmorpheme), aber auch für bestimmte Wörter / freie Morpheme wie den Infinitivmarkierer zu oder das semantisch neutrale sog. Vorfeld-es, dessen (syntaktische) Funktion lediglich darin besteht, in Sätzen wie Es wird gearbeitet die satzinitiale Position zu füllen. Die obige Definition erlaubt es auch, Interjektionen wie wow, pff, äh als Morpheme zu bestimmen, nur dass hier die relevante außerphonologische Eigenschaft einer bestimmten semantisch-pragmatischen Funktion entspricht (z. B. Ausdruck von Emotionen und Sprechereinstellungen wie Überraschung, Ablehnung etc.). Ein liberalerer Morphembegriff scheint also nötig zu sein, um auch sprachliche Einheiten als Morpheme identifizieren zu können, die durch das Raster einer rein bedeutungsbezogenen Definition fallen würden. Analog zur Unterscheidung zwischen Phon (lautliches Segment) und Phonem (bedeutungsveränderndes lautliches Segment) unterscheidet man in der Morphologie ferner zwischen Morphen und Morphemen. Ein Morph ist eine 21 2.3 Wortbausteine und andere Bildungsmittel Segmentfolge, die eine bestimmte Markierungsfunktion ausübt, ohne dass diese näher spezifiziert wird. So kann man Bretter und später morphologisch jeweils als eine Kombination aus zwei Morphen (Brett / spät + -er) analysieren. In einem zweiten Analyseschritt werden die Morphe dann klassifiziert, d. h. sie werden als bestimmte Morpheme identifiziert, die im vorliegenden Beispiel zufällig gleichlautend sind (Pluralsuffix--er vs. Komparativsuffix -er). Es bleibt noch zu klären, wie sich der Begriff des Morphems relativ zu anderen grundlegenden grammatischen Analyseeinheiten wie Wort und Silbe verhält. Wir haben bereits am Beispiel von Wolke gesehen, dass Wörter und Morpheme zusammenfallen können. Wörter, die nicht mehr in kleinere morphologische Einheiten zerlegbar sind, bezeichnet man auch als einfache Wörter oder Simplizia (Vogel, Nest, Gold, Kind, grün, blau, aus, ein, Bau, etc.). Besteht ein Wort aus mehreren Morphemen, spricht man auch von einem komplexen Wort (Vogel+nest, Gold+kind, grün+blau, Aus+bau, Ein+bau, ein+bau+en, Kind+er, kind+lich, Kind+lich+keit etc.) Ähnlich wie bei der Relation zwischen Wort und Morphem können auch Morphem- und Silbengrenzen zusammenfallen (wie etwa in Ein-bau oder Gold-kind). Das Verhältnis von Morphem und Silbe wird aber dadurch verkompliziert, dass die Grenzen der beiden Analyseeinheiten oft nicht nur nicht-identisch sind, sondern sich auch überschneiden können. So besteht etwa steh-st (2. Person Singular von stehen) aus einer Silbe, aber zwei Morphemen, während die morphologische Struktur von Kinder (Kind+er) andere Grenzen aufweist als die Silbenstruktur (Kin-der). 2.3.2 Typen von Morphemen Um die Bestandteile und den inneren Aufbau von Wörtern präzise beschreiben zu können, sind weitere begriffliche Unterscheidungen zwischen verschiedenen Typen von Morphemen notwendig. Wir haben bereits gesehen, dass bestimmte Morpheme auch gleichzeitig eigenständige Wörter sein können. In diesem Fall spricht man von freien Morphemen. Wortbausteine wie -en, -er,--lich,--keit, die nicht selbständig auftreten können, bezeichnet man hingegen als gebundene Morpheme. Gebundene Morpheme, die an ein lexikalisches Trägerelement bzw. eine lexikalische Basis herantreten, werden in der Sprachwissenschaft unter dem Oberbegriff Affix zusammengefasst. Abhängig von ihrer Position relativ zur Basis unterscheidet man zwischen Präfixen (z. B. ver-, ent-, be-) und Suffixen (-ung, -s, -er). Das Deutsche verfügt überdies über einige wenige 22 2 Grundbegriffe Zirkumfixe, bei denen ein bestimmtes Merkmal durch eine Kombination aus Prä- und Suffix signalisiert wird wie im Falle des Partizip Perfekt / Partizip II : (10) ge+V+t (schwache Verben) ge-kauf-t, ge-sag-t, ge-lieb-t, ge-mach-t, ge-lach-t, ge-räucher-t etc. (11) ge+V+en (starke Verben) ge-sung-en, ge-seh-en, ge-ruf-en, ge-ronn-en, ge-rat-en, gefror-en etc. Einige der Partizipien in (10) und (11) enthalten eine lexikalische Basis wie sung oder ronn, die nicht ohne Weiteres als freies Morphem auftreten kann. Offenbar können also auch lexikalische Elemente in gebundener Form, d. h. unterhalb der Wortebene auftreten. Abhängig davon, ob die lexikalische Basis eines Wortes einfach oder (potentiell) komplex ist, unterscheidet man zwischen Wurzeln und Stämmen (Fuß 2012: 52): Wurzel: Wurzeln sind die einfachste, atomare Form lexikalischer Morpheme. Sie enthalten keinerlei Affixe und bilden den lexikalischen Kern von Wörtern. Stamm: Ein Stamm ist ein (potentiell komplexer) Teil eines Worts, der noch nicht Gegenstand von Flexionsprozessen gewesen ist. Die Unterscheidung zwischen Stamm und Wurzel ist unter anderem dadurch motiviert, dass in vielen Sprachen Stämme mithilfe morphologischer Prozesse aus lexikalischen Wurzeln abgeleitet werden. 4 Stämme können also morphologisch komplex sein und eine Kombination aus einer Wurzel und weiteren Wortbausteinen darstellen. Die begriffliche Trennung von Stamm und Wurzel ist im Deutschen allerdings weniger leicht nachvollziehbar, da Wurzeln und Stämme 4 So können im Lateinischen adjektivische Stämme durch die Kombination von Wurzeln mit dem stammbildenden Element -id gebildet werden (vgl. Matthews 1991: 64). Ein vollständiges Wort kommt dadurch zustande, dass der Stamm mit Flexionsmorphemen verknüpft wird, die grammatische Kategorien wie Kasus, Numerus, Person, Genus etc. ausdrücken, vgl. luc-id-us ‚hell-nom.sg.mask.‘ Die Wurzel lucbildet auch den lexikalischen Kern von anderen Wörtern bzw. Stämmen, vgl. lucere ‚leuchten‘, lux ‚Licht, Glanz, Helligkeit‘ (Genitiv luc-is). Allerdings liegt hier nicht immer ein sichtbares stammbildendes Element vor. 23 2.3 Wortbausteine und andere Bildungsmittel oft zusammenfallen und auch frei auftreten können. Substantive wie Reim, Kauf, Rausch, Adjektive wie blau, gut, schön oder Adverbien wie oft, selten, gern sind gleichzeitig Wurzeln, Stämme und Wörter. Während Substantive und Adjektive Flexionsmorpheme tragen können (Reim-e, der blau-e Fisch) und somit Eigenschaften von Stämmen zeigen, treten Adverbien generell unflektiert auf. Die Unterscheidung zwischen Stamm und Wurzel lässt sich aber auch für das Deutsche motivieren, und zwar an Vokalwechseln, die die Klasse der sog. starken Verben betreffen. Hier können wir beobachten, dass unterschiedliche Tempus- und Modusformen des Verbs nicht nur durch Affixe, sondern durch Veränderungen des Stammvokals markiert werden, die bestimmten Mustern folgen. Dieses Phänomen nennt man Ablaut; die bei den Vokalwechseln auftretenden Muster werden als Ablautreihen oder Ablautgruppen bezeichnet (vgl. die erste Spalte in Tabelle 2): 5 Vokalalternation Präsens Präteritum Partizip Perfekt i-a-u findfand- (ge)-fund-(en) e / i-a-e geb-, gibgab- (ge)-geb-(en) i-a-o rinnrann- (ge)-ronn-(en) ie-o-o frierfror- (ge)-fror-(en) ei-ie-ie scheinschien- (ge)-schien-(en) Tabelle 2: Beispiele für Ablautreihen im Deutschen Die in einer Zeile stehenden Verbformen sind jeweils verschiedene Stämme einer zugrundeliegenden Wurzel, die noch flektiert werden können. Ein Verbstamm lässt sich also durch die Faustregel „flektierte Verbform minus Flexionsendung-= Stamm“ ermitteln. Die Wurzel, aus der die verschiedenen Stämme per Ablaut abgeleitet werden können (die sog. Nenn- oder Zitierform), entspricht im Deutschen dem Stamm, der im Infinitiv bzw. der 2. Person Plural Präsens Indikativ erscheint (ihr findet-- finden). Da die Unterscheidung zwischen Stamm und Wurzel aber in vielen Fällen keine Rolle spielt, werden im Folgenden meist die Begriffe „Stamm“ oder „Basis“ verwendet. 5 Die Ablautreihen des Deutschen sind ein Überbleibsel aus den frühen indoeuropäischen Sprachen (aus denen auch das Deutsche hervorgegangen ist), in denen Tempus und Aspekt durch Stammvokaländerungen angezeigt wurden. 24 2 Grundbegriffe 2.3.3 Das Phänomen der Allomorphie Eine andere Art von Morphemalternation zeigt sich bei der Pluralbildung (vgl. 4.1 für die Unterscheidung zwischen Ablaut und Umlaut): Pluralendung Beispiele -e Tag, Tag-e -e (mit Umlaut) Gast, Gäst-e (fem.: Laus, Läus-e) -(e)n Bett, Bett-en; Hantel, Hantel-n -er Brett, Brett-er -er (mit Umlaut) Haus, Häus-er -Ø (endungslos) Engel, Engel-Ø -Ø (endungslos mit Umlaut) Tochter, Töchter-Ø -s Auto, Auto-s Tabelle 3: Pluralendungen im Deutschen Nach gängiger Auffassung kann der Plural von Substantiven im Deutschen auf insgesamt acht verschiedene Weisen gebildet werden. Entscheidend ist dabei, dass die Varianten dazu dienen, ein- und dieselbe grammatische Eigenschaft zu kodieren (den Wert „Plural“ des Merkmals Numerus), während durch Ablautreihen Varianten lexikalischer Stämme erzeugt werden, die eine jeweils unterschiedliche morphosyntaktische Funktion besitzen (z. B. Imperativ: Gib mir das Buch vs. Präteritum: Sie gab mir das Buch). In Anlehnung an die phonologische Unterscheidung zwischen Allophonen und Phonemen 6 spricht man in diesem Zusammenhang auch von Allomorphen eines Morphems. 7 Allomorphie: Allomorphe sind Varianten eines Morphems, die in einem bestimmten lautlichen, morphologischen oder lexikalischen Kontext auftreten. 6 Allophone sind (kontextuell bedingte) lautliche Varianten eines Phonems, die nicht bedeutungsverändernd sind (z. B. der ich-Laut [ç] vs. der ach-Laut [x] im Deutschen). 7 In der theoretischen Morphologie wird das Phänomen der Allomorphie oft so gedeutet, dass es sich bei den verschiedenen Markierungsvarianten um kontextabhängige lautliche Realisierungen eines abstrakten zugrundeliegenden Morphems handelt, das lediglich ein grammatisches Merkmal (bzw. einen Merkmalswert) darstellt (im vorliegenden Fall Numerus: Plural), vgl. z. B. Matthews (1991). 25 2.4 Teilbereiche der Morphologie Dass die Wahl von Allomorphen von der Umgebung bestimmt ist, in der ein Morphem auftritt, lässt sich ebenfalls anhand der Pluralbildung im Deutschen anschaulich machen (vgl. Duden 2016: 181 ff.). Ein wesentlicher morphologischer Faktor für die Verteilung der Pluralallomorphe ist das Genus des Substantivs. So lautet eine Grundregel, dass der Plural von Feminina mit -en oder -n gebildet wird. Die Wahl zwischen -en und -n ist aber phonologisch gesteuert: Enthält die vorangehende Silbe den sog. Schwa-Laut [ə], so muss -n gewählt werden (Regel → Regel-n, *Regel-en). In allen anderen Fällen wird der Plural mit -en gebildet (Form → Form-en, *Form-n). 8 Schließlich kann die Wahl der Pluralendung auch von rein lexikalischen Faktoren abhängig sein. So gibt es zu der erwähnten Grundregel für die Pluralbildung von Feminina lexikalisch bedingte Ausnahmen. Etwa ein Viertel der zum Grundwortschatz gehörenden Feminina bilden den Plural durch eine Kombination aus -e und Umlaut (z. B. Maus → Mäuse, Hand → Hände, Nuss → Nüsse). Darüber hinaus findet sich die (e)n-Endung auch noch bei einigen Maskulina (Staat → Staaten) und Neutra (Bett → Betten). Diese spezifische Eigenart der betroffenen Substantive muss ebenfalls während des Spracherwerbs auswendig gelernt werden (vgl. Abschnitt 4.3.1 für weitere Diskussion). 2.4 Teilbereiche der Morphologie Der Teil der Grammatik, der sich mit dem Aufbau von Wörtern befasst, lässt sich in verschiedene Teilbereiche gliedern, die sich hinsichtlich Bildungsmitteln, Funktionen und Produkten unterscheiden. Wir haben dies bereits durch die Verwendung von Begriffen wie „Flexion“, „Stamm“ und „Wurzel“ angedeutet. In der Folge wollen wir die damit assoziierten Teilbereiche der Morphologie systematisch voneinander abgrenzen. 8 Der phonologische Charakter dieser Regel lässt sich daran erkennen, dass sie nicht auf die Pluralbildung beschränkt ist, sondern immer dann greift, wenn der entsprechende lautliche Kontext vorliegt. So tritt das gleiche Muster auch bei der Infinitivendung -en auf (segel-n, *segel-en; fühl-en, *fühl-n). Es gibt allerdings auch einige wortartbedingte Abweichungen und Ausnahmen. So findet sich bei Adjektiven wie dunkel > dunklen und simpel > simplen eine alternative Strategie, die aber mit der Regel kompatibel ist. Hier wird die Verwendung der langen Endung -en dadurch ermöglicht, dass der Schwa-Laut in der vorangehenden Silbe getilgt wird. 26 2 Grundbegriffe Traditionell unterteilt man die Morphologie in die Bereiche der Flexion (Formenlehre) und Wortbildung, wobei Letztere sowohl Derivation als auch Komposition umfasst: 23 Kombination aus -e und Umlaut (z.B. Maus → Mäuse, Hand → Hände, Nuss → Nüsse). Darüber hinaus findet sich die (e)n-Endung auch noch bei einigen Maskulina (Staat → Staaten) und Neutra (Bett → Betten). Diese spezifische Eigenart der betroffenen Substantive muss ebenfalls während des Spracherwerbs auswendig gelernt werden (vgl. Abschnitt 4.3.1 für weitere Diskussion). 2.4 Teilbereiche der Morphologie Der Teil der Grammatik, der sich mit dem Aufbau von Wörtern befasst, lässt sich in verschiedene Teilbereiche gliedern, die sich hinsichtlich Bildungsmitteln, Funktionen und Produkten unterscheiden. Wir haben dies bereits durch die Verwendung der Begriffe „Flexion“ und „Derivation“ angedeutet, aber es bislang versäumt, die damit assoziierten Teilbereiche der Morphologie systematisch voneinander abzugrenzen. Dies soll nun chgeholt erden. Die Unterscheidung zwischen Flexion 9 und Derivation entspricht der traditionellen Einteilung der Morphologie in die Teilbereiche der Formenlehre und Wortbildungslehre, wobei letztere auch noch die Komposition umfasst: Morphologie Flexion Wortbildung Konjugation Deklination Derivation Komposition Abbildung 1: Teilbereiche der Morphologie Wie bereits erwähnt, bezeichnet der Begriff der Flexion die regelgeleitete Bildung verschiedener Wortformen in Abhängigkeit von grammatischen Kategorien wie Numerus, Genus, Person, Kasus, Tempus, Modus oder Komparativ: (12) a. geht- → geht+st [2sg Präsens Indikativ] (Konjugation: Verben) b. Bruder → Brüder-n [Dativ Plural] (Deklination: Nomen) c. schön → schön+er+e [Komp. Nominativ Pl.] (Deklination: Adjektive) 9 Neben Konjugation und Deklination wird auch die Bildung der Steigerungsformen von Adjektiven (Komparation) zur Flexion gezählt. Abbildung 1 : Teilbereiche der Morphologie Wie bereits erwähnt, bezeichnet der Begriff der Flexion die regelgeleitete Bildung verschiedener Wortformen in Abhängigkeit von grammatischen Kategorien wie Numerus, Genus, Person, Kasus, Tempus, Modus oder Komparativ: 9 (12) a. geh- → geh+st [2sg Präsens Indikativ] (Konjugation: Verben) b. Bruder → Brüder-n [Dativ Plural] (Deklination: Substantive) c. schön → schön+er+e [Komp. Nominativ Pl.] (Deklination: Adjektive) Aufgrund von Unterschieden hinsichtlich der beteiligten Merkmale und Trägerelemente scheidet man ferner die verbale Flexion (traditionell auch Konjugation genannt, vgl. (12a)) von der nominalen Flexion (traditionell auch Deklination genannt, vgl. (12b-c)), wobei Letztere neben den Substantiven auch die Bildung flektierter Adjektive, Pronomen und Artikel umfasst. Während die Flexion also Wortformen eines Lexems / Stamms erzeugt, ist die Bildung komplexer Wörter durch die Kombination von Wörtern und Wortbausteinen Gegenstand der Wortbildung. Die Verküpfung von mehreren lexikalischen Elementen (Wurzeln / Stämmen) wird als Komposition bezeichnet (Gurken+gewürz, Rot+wein, Kalt+licht+reflektor+stift+sockel+lampe [= Halogenlampe]), während bei Derivation eine Kombination aus einer lexikalischen Basis und einem (oder mehreren) Derivationsaffix vorliegt (Ver-sicher-ung, Un-sicher-heit, sicher-lich). Flexion und Wortbildung unterscheiden sich ferner dadurch, dass Letztere wortartverändernd wirken kann (vgl. Verbstamm glaub- → Adjektiv unglaublich 9 Neben Konjugation und Deklination wird meist auch die Bildung der Steigerungsformen von Adjektiven (Komparation) zur Flexion gezählt. 27 2.5 Was ist ein Wort? Annäherung an den Analysegegenstand → Substantiv Unglaublichkeit), während bei Flexionsprozessen die Wortart in der Regel erhalten bleibt. 10 Generell gilt, dass Flexionsprozesse eine geschlossene Klasse von gebundenen Morphemen involvieren, die eine beschränkte Zahl grammatischer Funktionen kodieren, während die Wortbildung für die Kreativität der morphologischen Komponente der Grammatik verantwortlich ist, indem sie aus einer endlichen Menge von Wortbausteinen eine potentiell unendlich große Zahl von Neubildungen erzeugen kann, vgl. Kapitel 4 und 5 für eine detailliertere Darstellung. 2.5 Was ist ein Wort? Annäherung an den Analysegegenstand Ein Blick in gängige Lehrwerke zeigt, dass die Bestimmung von Wortarten recht unvermittelt beginnt. Nicht selten finden sich Überschriften wie „Wörter untersuchen“, „Wörter erforschen“ oder „Wortarten bestimmen“. Was jedoch unter Wort zu verstehen ist, wird nicht thematisiert. Stattdessen steht ohne Kontextualisierung die erste Wortart wie z. B. Verb oder Substantiv im Fokus des Unterrichts. Dieses Vorgehen scheint auf der Annahme zu beruhen, dass Schülerinnen und Schüler bereits wissen müssten, was Wörter als Bausteine ihrer Sprache eigentlich sind. Schließlich besitzen die Lernenden die Fähigkeit, sich mündlich und im Laufe der Schulzeit auch zunehmend schriftlich standardsprachlich korrekt auszudrücken. Sie nutzen zwar Wörter, um sich mitzuteilen, ein Begriffsverständnis geht damit aber nicht automatisch einher. Vielmehr muss das Einnehmen der Metaebene-- also das Sprechen oder Nachdenken über Sprache-- gezielt angestoßen und begleitet werden. Noch bevor Wortarten eine Rolle spielen, ist es also ratsam, den Gegenstand, der untersucht und kategorisiert werden soll, gemeinsam mit den Lernenden zu erarbeiten und schließlich zu konzeptualisieren. Stellt das unterrichtsbegleitende Lehrwerk keine Vorschläge bereit, dann fällt es in den Aufgabenbereich der Lehrperson, geeignete Materialien zusammenzustellen. Ausgangspunkt der didaktischen Strukturierung bildet-- gemäß dem Modell der didaktischen Rekonstruktion (vgl. Kattmann / Duit / Gropengießer / Komorek 1997)- - das Wechselspiel zwischen Schüler- und Fachperspektive. Die Lernenden sind 10 Eine mögliche Ausnahme sind z. B. Partizipien wie ge-sung-en (Partizip II ) oder singend (Partizip I). Nach gängiger Auffassung handelt es sich hierbei um Flexionsprozesse (vgl. Abschnitt 4.2). Gleichzeitig liegt aber auch ein Wortartwechsel vor, da beide Partizipialformen adjektivisch gebraucht werden können (ein singender Student, ein gesungenes Lied). 28 2 Grundbegriffe kein leeres Blatt, sondern sie bringen unterschiedlich geartete (Alltags-)Vorstellungen und Vorwissensbestände mit, auf die es im Unterricht-- unabhängig von ihrer fachwissenschaftlichen Korrektheit oder Plausibilität- - Bezug zu nehmen gilt: 25 Kontextualisierung die erste Wortart wie z. B. Verb oder Substantiv im Fokus des Unterrichts. Dieses Vorgehen scheint auf der Annahme zu beruhen, dass Schülerinnen und Schüler bereits wissen müssten, was Wörter als Bausteine ihrer Sprache eigentlich sind. Schließlich besitzen die Lernenden die Fähigkeit, sich mündlich und im Laufe der Schulzeit auch zunehmend schriftlich standardsprachlich korrekt auszudrücken. Sie nutzen zwar Wörter, um sich mitzuteilen, ein Begriffsverständnis geht damit aber nicht automatisch einher. Vielmehr muss das Einnehmen der Metaebene - also das Sprechen oder Nachdenken über Sprache - gezielt angestoßen und begleitet werden. Noch bevor Wortarten eine Rolle spielen, ist es also ratsam, den Gegenstand, der untersucht und kategorisiert werden soll, gemeinsam mit den Lernenden zu erarbeiten und schließlich zu konzeptualisieren. Stellt das unterrichtsbegleitende Lehrwerk keine Vorschläge bereit, dann fällt es in den Aufgabenbereich der Lehrperson, geeignete Materialien zusammenzustellen. Ausgangspunkt der didaktischen Strukturierung bildet - gemäß dem Modell der didaktischen Rekonstruktion (vgl. Kattmann/ Duit/ Gropengießer / Komorek 1997) - das Wechselspiel zwischen Schüler- und Fachperspektive. Die Lernenden sind kein leeres Blatt, sondern sie bringen unterschiedlich geartete (Alltags-)Vorstellungen und Vorwissensbestände mit, auf die es im Unterricht - unabhängig von ihrer fachwissenschaftlichen Korrektheit oder Plausibilität - Bezug zu nehmen gilt: Abbildung 2: Modell der didaktischen Rekonstruktion (Komorek/ Fischer/ Moschner 2013) Abbildung 2 : Modell der didaktischen Rekonstruktion (Komorek / Fischer / Moschner 2013 ) Die Lehrperson bereitet den fachlichen Gegenstand nicht einfach aus ihrer eigenen Sichtweise heraus auf und reduziert all das, was sie nicht als wichtig oder schülergerecht empfindet, sondern sie rekonstruiert den Unterrichtsstoff gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern. Indem direkt an den bestehenden Konzepten gearbeitet wird, können unscharfe oder fehlerhafte Vorstellungen nachhaltig erweitert bzw. korrigiert werden. Fragt man Schülerinnen und Schüler 11 , was sie unter dem Begriff „Wort“ verstehen, begegnet einem zunächst Unsicherheit. 11 Die Zitate sind unkorrigiert übernommen. Sie stammen von Schülerinnen und Schülern der 8. und 9. Klasse eines Thüringer Gymnasiums. 29 2.5 Was ist ein Wort? Annäherung an den Analysegegenstand (13) a. „Wort, gute Frage! “ (S1) b. „Ich weiß was es ist, aber kann es nicht so richtig erklären.“ (S2) c. „Schwer zu sagen. Ich nutze sie gerade.“ (S3) Offenbar sind Konzepte vorhanden, diese können jedoch nicht ohne Weiteres verbalisiert werden. Die nachträglich angeführten Erklärungen beziehen sich auf die lautliche Struktur bzw. innere Gliederung eines Wortes, aber vor allem auf dessen Funktion im kommunikativen Handeln 12 . (14) a. „Also Wörter sind aneinander gereihte Buchstaben die unsere Sprache lebendig machen, so können wir komunizieren und uns gegenseitig verstehen.“ (S1) b. „Ein Begriff für die einzelnen Teile unserer Sprache. Wir unterhalten uns mit ihnen, oder schreiben damit.“ (S2) c. „Aneinandergereihte Buchstaben und Silben, die Dinge oder Handlungen beschreiben.“ (S3) d. „Wörter sind alles, ohne sie kann man nicht kommunizieren.“ (S4) Um die Verbalisierung bestehender Konzepte zu erleichtern und deren Erweiterung vorzunehmen, eignen sich solche Übungen, die von den Schülerinnen und Schülern eine zu begründende Entscheidung verlangen und zugleich Konfliktpotenzial bereitstellen. (15) Wie viele Wörter zählst du in den folgenden Sätzen? Begründe deine Entscheidung. a. Dort steht ein Haus. b. Marius schlief spät ein. c. Machste keine Pause? Die konkrete Umsetzung der Übung kann unterschiedlich erfolgen. Wichtig ist jedoch, dass die Entscheidungen visualisiert und somit für alle erkennbar sind: 12 Die kommunikative Funktion von Wörtern sollte ebenso Gegenstandsbereich des Deutschunterrichts sein. (Kinder-)Bücher wie „Die große Wörterfabrik“ von Agnès de Lestrade und Valeria Docampo oder „Zusammen: Die Geschichte von den Bilder- und den Wortmenschen“ von Rainer Oberthür und Barbara Nascimbeni greifen diese Thematik auf und bieten Anknüpfungspunkte für einen integrativen Grammatikunterricht. 30 2 Grundbegriffe ▶ Alle Schülerinnen und Schüler stellen sich in einer Linie auf. Bei jedem gezählten Wort gehen die Lernenden einen Schritt nach vorn. ▶ Die Schülerinnen und Schüler halten Zettel mit der Anzahl der identifizierten Wörter hoch oder befestigen sie an der Tafel. ▶ Die Ecken des Klassenraums werden durchnummeriert. Die Schülerinnen und Schüler signalisieren durch die ausgewählte Ecke, wie viele Wörter sie innerhalb des Satzes zählen. Die wohlüberlegte Auswahl von Beispielsätzen nimmt entscheidend Einfluss auf den Lernerfolg. Während Satz a) kaum Konfliktpotenzial bietet, lässt sich mit den Sätzen b) und c) der orthografische und der phonologische Ansatz hinterfragen: Sind schläft-… ein und machste als ein Wort oder als zwei Wörter zu zählen? Da beide Antwortmöglichkeiten denkbar sind, entsteht eine Form der Anschlusskommunikation, in der verschiedene Konzepte gegenübergestellt und abgewogen werden, ohne jedoch zwangsläufig auf Fachtermini zurückgreifen zu müssen. Vor allem erfahren die Schülerinnen und Schüler, dass im Grammatikunterricht ebenso wie im Literaturunterricht Diskussionen jenseits der Pole richtig und falsch geführt werden können und müssen. Um zur Unterscheidung von syntaktischem Wort und lexikalischem Wort überzuleiten, bietet es sich ebenso an, mit konkreten Beispielen zu arbeiten. Auch bei der folgenden Übung besteht der Vorteil darin, dass die Lernenden in ihren eigenen Worten beschreiben können, was sie vorfinden und wie sie zu ihrer Entscheidung gekommen sind. (16) Wie viele unterstrichene Wörter zählst du insgesamt in den nachfolgenden Sätzen? Begründe deine Entscheidung. a. Das Fell des Tigers glänzt. b. Tiger leben nicht in Deutschland. c. Nachts hörten sie das Gebrüll von Tigern. d. Der Tierpfleger gibt dem Tiger Wasser. e. Der Tiger ist ein gefährliches Raubtier. f. Ben fürchtet sich vor dem Tiger im Käfig. 13 13 Das Beispiel ist angelehnt an den Schülerduden (2017), Randnummer 24. 31 2.5 Was ist ein Wort? Annäherung an den Analysegegenstand Die Bandbreite an möglichen Antworten ist groß. Es handelt sich um ▶ ein einziges Wort: Tiger. ▶ sechs Wörter, da sie immer in einem neuen Satz stehen. ▶ drei Wörter, die sich in ihrem Aussehen unterscheiden: Tigers, Tiger, Tigern ▶ fünf Wörter mit unterschiedlichen Eigenschaften: a: Genitiv Singular; b: Nominativ Plural; c: Dativ Plural; d und f: Dativ Singular; e: Nominativ Singular. Keine Option ist falsch, lediglich unterschiedliche Konzepte tragen dazu bei, dass die Zählung anders ausfällt. Dieses Bewusstsein gilt es auch bei den Schülerinnen und Schülern zu schärfen: Die Perspektive bestimmt die Antwort. Um das Anspruchsniveau zu erhöhen, eignet sich ein Satz mit dem Verb tigern. Hinsichtlich des Aussehens unterscheidet es sich im Vergleich zu Satz (16c) nur durch die Großbzw. Kleinschreibung des Anfangsbuchstabens. Betrachtet man allerdings die grammatischen Eigenschaften, zeigt sich ein deutlicher Kontrast, der zu den Wortarten überleiten könnte. Der Mehrgewinn, den die konzeptuelle Unterscheidung von syntaktischem Wort und lexikalischem Wort mit sich bringt, lässt sich an zwei Szenarien zeigen. (17) Das Laufen fällt ihm nach dem Sturz noch schwer. Schülerinnen und Schülern, die das unterstrichene Wort als Substantiv bestimmen, ist genauso zuzustimmen wie Lernenden, die es der Wortart Verb zuordnen. Auch hier ist wieder die eingenommene Perspektive entscheidend. Dient das Lexem, also das „Ursprungswort“, als Anker für die Bestimmung oder die Wortform, also das syntaktische Wort, wie es im konkreten Satz erscheint? Nur eine Variante als richtig anzuerkennen, würde nicht nur unnötig den Antwortradius, sondern auch die Schülerinnen und Schüler in ihrem forschenden Denken über Sprache einengen. Substantivierungen oder auch adjektivisch gebrauchte Partizipien (das rennende Kind) eignen sich bestens, um zu zeigen, dass sich die Wortart nach dem jeweiligen Wortkonzept richtet. Die Erkenntnis, dass sich die konkrete Wortform und das Lexem voneinander unterscheiden können, hilft darüber hinaus bei der Recherche in Nachschlagewerken, in denen die Nennformen der Wörter aufgelistet sind. Ein gezieltes und effizientes Nachschlagen setzt voraus, dass die Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, das Lexem korrekt zu bilden. 32 2 Grundbegriffe Auch fernab des Lehrwerks ist es also möglich, grammatische (Grundlagen-) Konzepte zu entwickeln und zu schärfen. Dafür ist es allerdings erforderlich, ▶ solche Übungen zu gestalten, die die Vorstellungen und Vorwissensbestände der Lernenden sichtbar werden lassen, um direkt an und mit ihnen zu arbeiten. ▶ solche Beispiele zu wählen, die Konfliktpotenzial bieten und damit die Basis für Diskussionen bilden. ▶ den Schülerinnen und Schülern zu demonstrieren, dass sich Grammatikunterricht nicht im Schwarz-Weiß-Denken erschöpft. 2.6 Kurze Zusammenfassung Schülerinnen und Schüler drücken sich-- wie jeder andere auch-- mit Wörtern aus; auch analysieren sie Wörter hinsichtlich ihrer Eigenschaften und ordnen sie Wortarten zu. Was jedoch unter Wort zu verstehen ist, wird im Unterricht meist ausgespart. Dies sollte mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet werden, um den Untersuchungsgegenstand zu fassen. Hierzu eignen sich Aufgaben, in denen die Lernenden dazu angeleitet werden, verschiedene Perspektiven einzunehmen und nicht nur mechanisch Prozeduren abzuarbeiten. Mit Blick auf den Grammatikunterricht sollte schließlich die Unterscheidung von lexikalischem Wort (Ursprungswort) und syntaktischem Wort im Mittelpunkt stehen. Hierbei kommt es allerdings nicht darauf an, die korrekten fachwissenschaftlichen Termini zu beherrschen. Vielmehr steht der grundlegende Konzepterwerb, der die Basis für einen systematischen und transparenten Grammatikunterricht legt, im Vordergrund. Schließlich hilft die gewonnene Einsicht nicht nur bei der Wortartenbestimmung, v. a. bei Nominalisierungen und adjektivisch gebrauchten Partizipien, sondern auch bei Fragen in der Rechtschreibung. Für einen schulnahen Überblick über grammatische Wissensbestände ist der Schülerduden (2017) zu empfehlen. In diesem Kapitel haben wir zunächst grundlegende Begrifflichkeiten eingeführt, die man für die Beschreibung und linguistische Analyse von Wörtern und Wortbausteinen benötigt (Wort- und Morphembegriff, Lexem vs. Wortform vs. syntaktisches Wort, Allomorphie, Morphemtypen, Affixe, Präfixe, Suffixe usw.). Darüber hinaus haben wir eine Reihe weiterführender Begriffe diskutiert, mit denen systematische grammatische Beziehungen zwischen Wortformen erfasst werden können. Wir haben z. B. gesehen, dass die Wortformen eines Lexems 33 2.6 Kurze Zusammenfassung in einem Paradigma organisiert sind, in dem nicht selten Formen zusammenfallen und systematische Muster von Synkretismen bilden. Zudem wurde ein Überblick über die wesentlichen Teilbereiche der Morphologie und ihre charakteristischen Eigenschaften gegeben. Zur Vertiefung der hier verhandelten Aspekte empfehlen sich neben der bereits zitierten Literatur die aktuelle Ausgabe der Dudengrammatik (Duden 2016) sowie der etwas spezifischere Überblick in Eisenberg (2013). Aufgaben zur Lernkontrolle 1. Sind die folgenden Wörter jeweils Wortformen desselben Lexems? a. Dorf, Dörfer, Dorfes, Dörfern b. Mann, Hausmann, Wassermann, Milchmann c. singen, singst, sang, gesungen, singend d. ändern, verändern, Veränderung, veränderlich 2. Aufgrund welcher außerphonologischen Eigenschaft können die folgenden Elemente als Morpheme identifiziert werden? a. -em (in mit groß-em Erfolg) b. uff! c. auf (in Lydia wartet auf ihren Bruder) 3. Erläutern Sie das Phänomen der Allomorphie. Nehmen Sie dabei Bezug auf die Alternation zwischen -en und -n bei der Bildung von Infinitiven. 4. Wie unterscheiden sich die Prozesse der Flexion und der Wortbildung? 5. Lernende erhalten die folgende Aufgabe: Bestimme die Wortart des unterstrichenen Wortes. Die knarrende Tür macht mir Angst. Schüler A: Das unterstrichene Wort ist ein Verb. Schüler B: Das unterstrichene Wort ist ein Adjektiv. Schüler C: Das unterstrichene Wort ist ein Partizip. Schüler D: Das unterstrichene Wort ist ein Attribut. a. Erklären Sie, wie die Schülerantworten zustande kommen. b. Entscheiden Sie, welche Antwort(en) Sie als falsch einstufen würden. Begründen Sie Ihre Entscheidung. 35 3.1 Lexemklasse vs. syntaktische Wortart 3 Wortarten 3.1 Lexemklasse vs. syntaktische Wortart In diesem Kapitel wollen wir uns mit der Frage befassen, wie der Wortschatz des Deutschen in verschiedene Klassen von Elementen unterteilt werden kann. Eine wichtige Rolle spielt dabei die in Abschnitt 2.2 eingeführte Unterscheidung zwischen lexikalischem Wort (Lexem) und syntaktischem Wort, da mit diesen beiden Wortbegriffen auch unterschiedliche Wortartbegriffe verknüpft sind: Zu lexikalischen Wortarten / Lexemklassen gelangt man, wenn man die Eigenschaften und Gemeinsamkeiten von Lexemen betrachtet, während die Bestimmung syntaktischer Wortarten auf den tatsächlichen syntaktischen Gebrauch von Wortformen bzw. syntaktischen Wörtern zurückgeht. Wir haben bereits gesagt, dass der Bestand an Wörtern (und Wortbausteinen), über die ein einzelner Sprecher verfügt, in einem mentalen Lexikon abgespeichert ist. Jeder Lexikoneintrag enthält die für ein Element charakteristischen grammatischen und semantischen Eigenschaften. In der Linguistik werden diese Eigenschaften über den Begriff des Merkmals erfasst. Dabei unterscheidet man gängigerweise zwischen Merkmalen, die ein Element hat, und den Werten, die diese Merkmale annehmen. So sagt man z. B., dass Substantive ein Genusmerkmal besitzen, das im Fall von Mond den Wert [Maskulin] besitzt. Für die Trennung von Merkmal und Merkmalswert spricht z. B., dass man nur anhand des Vorliegens oder Nicht-Vorliegens eines Merkmals (unabhängig vom Merkmalswert) den Wortschatz in verschiedene Klassen von Wörtern aufteilen kann. Wörter (oder Wortbausteine), die Merkmale gemeinsam haben, bilden Gruppen innerhalb des Lexikons. Ein typisches Beispiel für solche lexikalischen Klassen sind die traditionellen Wortarten wie Substantive, Verben, Adjektive usw. So zeichnet es die Gruppe der Substantive aus, dass nur Substantive über ein lexikalisches Genusmerkmal verfügen, dessen Wert für jedes Element separat gelernt und im Lexikon gespeichert werden muss. Die Einteilung in Klassen mit jeweils charakteristischen grammatischen Merkmalen ist dadurch motiviert, dass sich syntaktische und morphologische Regeln nicht auf einzelne Wörter / Lexeme, sondern auf größere Klassen von lexikalischen Elementen mit identischen Eigenschaften beziehen. Dies hat den Vorteil, dass die Zahl entsprechender Regeln stark reduziert werden kann. So 36 3 Wortarten muss die Regel, die bestimmt, dass ein finites Verb mit dem Subjekt in seinen Merkmalen übereinstimmt (ich sing-e, du sing-st, er sing-t), nur einmal für alle Verbstämme formuliert werden. Aus dieser Sicht handelt es sich bei Wortarten um Lexemklassen. Mit anderen Worten, die Wortart ist eine lexikalische Eigenschaft von Stämmen, die im mentalen Lexikon zusammen mit dem entsprechenden Lexem abgespeichert ist (ähnlich wie die Information zur Wortart in einem Wörterbucheintrag). Dieser lexikalische Wortartbegriff kann wie folgt definiert werden: Wortart: Bei einer Wortart handelt es sich um eine für einen Stamm (bzw. ein Lexem) im Lexikon festgelegte grammatische Klasse, die sein morphologisches und syntaktisches Verhalten (bzw. das Verhalten seiner Wortformen) bestimmt. Die Wortart eines Lexems lässt sich in der Regel über seine prototypischen Gebrauchsweisen und möglichen Flexionsformen bestimmen. Diese beiden Klassifikationskriterien lassen sich in Form der folgenden Fragen präzisieren: ▶ In welchen syntaktischen Kontexten können die Formen des Lexems typischerweise auftreten? ▶ Nach welchen morphosyntaktischen Merkmalen können die Formen des Lexems flektiert werden? Da aber in Sätzen keine Lexeme, sondern nur Wortformen bzw. syntaktische Wörter auftreten, benötigen wir darüber hinaus einen syntaktischen Wortartbegriff, der sich auf die Wortklasse konkreter Realisierungsformen von Lexemen bezieht. Statt „syntaktischer Wortart“ wird hier üblicherweise die Bezeichnung syntaktische Kategorie verwendet. Die syntaktische Kategorie einer Wortform kann über den syntaktischen Kontext, in dem sie auftritt, sowie über die tatsächlich vorliegenden Ausprägungen ihrer morphosyntaktischen Merkmale ermittelt werden: Syntaktische Kategorie: Klasse von konkret auftretenden sprachlichen Elementen (Wortformen bzw. syntaktischen Wörtern), die gleiche morphosyntaktische Eigenschaften aufweisen. Die syntaktische Kategorie eines Elements kann sich durchaus von der Wortart des zugrundeliegenden Lexems unterscheiden. Außerdem gehören formgleiche Wörter nicht immer der gleichen syntaktischen Kategorie an (dies haben wir 37 3.2 Klassifikationskriterien bereits im Zusammenhang mit dem syntaktischen Wort gesehen, vgl. Abschnitt 2.2). Entscheidend ist, in welchem syntaktischen Kontext die fraglichen Elemente auftreten: (18) a. Lydia liebt es zu wandern. b. Leopold fällt heute das Wandern schwer. In (18) tritt zweimal das Element wandern auf. Beiden Formen liegt das Lexem wanderzugrunde, das aufgrund seiner lexikalischen Eigenschaften (z. B. +konjugierbar) der Wortart „Verb“ zugeordnet werden kann. Bei dem entsprechenden syntaktischen Wort in (18a) handelt es sich ebenfalls um eine verbale Kategorie (den Infinitiv), was man daran erkennen kann, dass wandern der Infinitivmarker zu vorangeht. In (18b) hat das Element jedoch substantivischen Charakter, da in der Regel nur Substantive mit dem Artikel (hier: das) verknüpft werden können. Die Orthografie reflektiert die syntaktische Kategorie des Worts (sog. syntaktische Großschreibung). Man spricht in solchen Fällen auch von Substantivierungen. 3.2 Klassifikationskriterien Traditionell wird die Einteilung in verschiedene Wortklassen im Grammatikunterricht oft auf der Basis von Bedeutungsunterschieden motiviert und durchgeführt. Haupt-, Ding- oder Gegenstandswörter bezeichnen typischerweise Gegenstände oder Personen, Tätigkeitswörter bezeichnen Vorgänge oder Handlungen, Eigenschaftswörter bezeichnen Eigenschaften usw. Man muss jedoch nicht besonders spitzfindig sein, um erkennen zu können, dass eine semantisch basierte Wortklassenbildung mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert ist, die ihre Brauchbarkeit stark beeinträchtigen. So gibt es eine Vielzahl von Wörtern wie Liebe, Hass, Murks, Sinn usw., die keine konkreten Gegenstände (oder Personen) bezeichnen, die wir aber dennoch eindeutig (z. B. aufgrund ihrer grammatischen Eigenschaften) als Substantive erkennen können. Weiterhin ist es unklar, inwiefern die Verben scheinen und bleiben in (19) in irgendeiner näher zu bestimmenden Weise einen Vorgang, eine Handlung oder eine Tätigkeit beschreiben, während gerade diese Bedeutung für die Substantive in (20) vorzuliegen scheint: (19) a. Es scheint ein schöner Tag zu werden. b. Es bleibt schwierig. 38 3 Wortarten (20) Explosion, Sprung, Pfiff, Lauf, Geschrei Als besonders problembehaftet stellt sich der Begriff des Eigenschaftsworts heraus. Zwar scheint es zunächst klar zu sein, dass Wörter wie rot, schön oder findig Eigenschaften bezeichnen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass dies kein exklusives Charakteristikum von Adjektiven ist. Auch Substantive und Verben können Eigenschaften ausdrücken wie in (21). (21) a. Peter ist Lehrer / Doktor / ein Experte für Abwasserwirtschaft. ‚Peter hat die Eigenschaft, Lehrer / Doktor-… zu sein‘ b. Die Suppe duftet herrlich. c. Peter errötet. ‚Peter wird rot.‘ Darüber hinaus gibt es Adjektive wie ehemalig oder vermeintlich, die ausschließlich attributiv gebraucht werden können und für die es nicht ganz klar ist, welche Eigenschaft sie eigentlich bezeichnen (ein vermeintlicher Polizist aber *der Polizist war vermeintlich). Zusammenfassend können wir also festhalten, dass eine Einteilung in Wortarten, die ausschließlich auf Bedeutungsaspekte Bezug nimmt, recht schnell an ihre Grenzen stößt. In der Folge wollen wir einen alternativen Klassifikationsansatz skizzieren, der grammatische Eigenschaften von Wörtern in den Vordergrund stellt. 3.2.1 Morphologische Eigenschaften Wir haben bereits gesehen, dass Lexeme in Abhängigkeit von Merkmalen wie Kasus, Numerus oder Genus in unterschiedlichen Formen auftreten. Diese Tatsache kann man für die Klassifikation von Lexemen nutzbar machen. Zunächst kann man eine grobe Einteilung vornehmen in flektierbare Wortarten und solche Elemente, deren Form invariant ist. Anschließend kann man die Klasse der flektierbaren Elemente noch weiter einteilen abhängig von den Merkmalen, die ihre Realisierungsform beeinflussen. Die traditionelle Unterscheidung zwischen der nominalen (Deklination) und der verbalen Flexion (Konjugation) entspricht in der folgenden Abbildung der Unterscheidung zwischen den Merkmalen Tempus und Kasus (vgl. Duden 2016: 141): 39 3.2 Klassifikationskriterien Wortart + flektierbar - flektierbar nach Tempus nach Kasus festes Genus veränderliches Genus - Komparation + Komparation Verb Nomen Artikelwort Adjektiv nichtflektierbare Pronomen Wortarten Personalpronomen Präposition Reflexivpronomen Adverb Possessivum Konjunktion Demonstrativum Partikel definiter Artikel indefiniter Artikel Relativum Interrogativum Indefinitum Abbildung 3: Wortklassen im Deutschen Abbildung 3 : Wortklassen im Deutschen Auf diese Weise ergeben sich fünf Lexemklassen (in Abbildung 3 durch Fettdruck gekennzeichnet). Da die nichtflektierbaren Elemente nur aufgrund ihres syntaktischen Verhaltens (d. h. nach den syntaktischen Kontexten, in denen sie auftreten) weiter unterteilt werden können, werden die entsprechenden Teilklassen auch als syntaktische Wortarten bezeichnet (vgl. z. B. Duden 2016: 140 f.). Die Flexionsformen deklinierbarer Lexeme können die Merkmale Kasus, Genus und Numerus signalisieren. Dazu gehören im Deutschen Substantive, Adjektive, Artikel und Pronomen. Bei Wörtern, die Markierungen für Tempus, Modus, Person, Numerus (oder Genus verbi wie Passiv / Aktiv) tragen können, handelt es sich um Verben. Abhängig davon, welche Teilmenge dieser Merkmale für die Bildung von Wortformen relevant ist (bzw. welche zusätzlichen Merkmale markiert werden), lassen sich noch feinere Einteilungen vornehmen. Dabei ist es auch von Bedeutung, ob die Merkmale einen lexikalisch-invarianten Charakter haben. Bei Substantiven muss der Wert für das Merkmal Genus für jedes Wort gelernt und separat im mentalen Lexikon abgespeichert werden (Mond: 40 3 Wortarten Mask., Gurke: Fem., Pferd: Neut.). Bei Adjektiven hingegen ist der Wert des Genusmerkmals nicht lexikalisch vorgegeben, sondern wird in Abhängigkeit vom syntaktischen Kontext (durch entsprechende Kongruenzregeln) bestimmt (ein schön-er Mond, eine schön-e Gurke, ein schön-es Pferd). Die entsprechenden Unterschiede sind in Tabelle 4 aufgelistet. Wortart Flexionsmerkmale Verb Person, Numerus, Tempus, Modus 14 Substantiv Numerus, Kasus (lexikalisch festgelegt: Genus) Artikelwörter und Pronomen 15 Numerus, Genus, Kasus Adjektiv Numerus, Genus, Kasus, Komparation Tabelle 4: Wortarten und Flexionsmerkmale im Deutschen Grundsätzlich kann man sagen, dass Wortformen, die im gleichen Paradigma auftreten, also für die gleichen Merkmale sensitiv sind, zur gleichen (syntaktischen) Wortart gehören. Dabei ist es unerheblich, ob die relevanten Merkmalswerte durch die gleichen morphologischen Mittel markiert werden. So wird bei sog. stark flektierenden Substantiven der Genitiv Singular durch -(e)s markiert (des Hund-es, des Guru-s), während der Genitiv schwach flektierender Substantive durch Hinzufügung von -(e)n signalisiert wird (des Hase-n, des Bär-en). Entscheidend ist lediglich, dass die gleichen Merkmale bzw. Merkmalswerte markiert werden (vgl. auch 2.3.3 zur Pluralbildung im Deutschen). Unterschiede im Formeninventar können aber genutzt werden, um Flexionsklassen zu bilden (z. B. starke vs. schwache Verben, vgl. 4.2 für Details). Morphologische Kriterien allein sind allerdings nicht ausreichend, um den Wortschatz des Deutschen vollständig zu klassifizieren. Dies leuchtet unmittelbar ein, wenn man versucht, Elemente wie Präpositionen und Adverbien aufgrund ihrer morphologischen Eigenschaften zu unterscheiden. Da sie stets unveränderlich sind, bringt uns die Morphologie hier nicht weiter. Eine weitere 14 Diese Aufstellung enthält nicht die Kategorie Genus Verbi (lat. ‚Geschlecht des Verbs‘, z. B. Aktiv vs. Passiv), da sie im Deutschen wie die zusammengesetzten Tempusformen nicht durch morphologische Mittel gebildet wird. 15 Darüber hinaus signalisieren Personalpronomen, Reflexivpronomen und Possessiva zusätzlich verschiedene Werte für das Merkmal Person (1., 2., 3. Person). Siehe 3.3.3 für Details. 41 3.2 Klassifikationskriterien Unterteilung der Lexemklasse, die nicht-flektierbare Elemente umfasst, kann daher nur auf der Basis syntaktischer Unterschiede erfolgen. 3.2.2 Syntaktische Eigenschaften Wir haben bereits festgestellt, dass man Wörter u. a. deshalb klassifiziert, weil sich syntaktische Regeln auf größere Klassen von Wörtern mit gleichen grammatischen Eigenschaften beziehen. Umgekehrt kann man nun das syntaktische Verhalten von Wörtern auch als Kriterium für ihre Wortklassenzugehörigkeit einsetzen. Entscheidend ist dabei die Beobachtung, dass verschiedene Arten von Wörtern nicht in den gleichen syntaktischen Umgebungen auftreten können: So kann in einem einfachen Aussagesatz der Art Leopold kennt X die Position von X nur durch einen substantivischen / nominalen Ausdruck (N für „Nomen“), nicht aber durch ein Adjektiv (=-A), eine Präposition (=-P) oder ein Verb (=-V) besetzt werden: (22) a. Leopold kennt [ N Lydia / Gurken / die Dame von gegenüber]. b. *Leopold kennt [ A schön / krumm / schief]. c. *Leopold kennt [ P auf / nach / bei]. d. *Leopold kennt [ V schläft / niest / murrt]. Zwischen Artikelwörtern wie ein und einem Substantiv kann nur ein Adjektiv auftreten; Präpositionen, Verben und andere Substantive sind hier nicht zulässig: (23) a. *ein [ N Lydia] Buch b. ein [ A schönes] Buch c. *ein [ P auf] Buch d. *ein [ V liest] Buch In einem einfachen Aussagesatz kann die zweite Satzposition nur von einem finiten Verb (d. h. einem Verb mit Tempus- und Person / Numerus-Eigenschaften) besetzt werden. N, P und A können hier nicht erscheinen: (24) a. *Leopold [ N Bücher] liest. b. *Leopold [ A dicke] liest Bücher. c. *Leopold [ P auf] steht Bücher. d. Leopold [ V liest] Bücher. 42 3 Wortarten Die Grundidee ist nun, dass Wörter, die in den gleichen Umgebungen auftreten können (d. h. die gleiche syntaktische Distribution besitzen), zur gleichen Wortklasse gehören. Um zu überprüfen, ob zwei Wortformen im gleichen syntaktischen Kontext auftreten können, muss man sie lediglich füreinander ersetzen, wie wir dies bereits auch in (22)-(24) getan haben. Ersetzungstest: Elemente, die (in prototypischen Kontexten) füreinander ersetzt werden können, gehören der gleichen syntaktischen Kategorie an. Der Ersetzungstest sollte allerdings mit Bedacht angewendet werden, da er sonst zu kontraintuitiven oder gar falschen Ergebnissen führen kann. So darf die Tatsache, dass sowohl gerne als auch auf die Reporter in (25) nach schimpft auftreten können, nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass beide Elemente die gleichen Wortarteigenschaften haben. (25) a. Der Präsident schimpft [gerne]. b. Der Präsident schimpft [auf die Reporter]. Gerne ist ein Modaladverb, während auf die Reporter eine Präpositionalgruppe darstellt (d. h. eine Wortgruppe, deren lexikalischer Kern die Präposition auf ist). Der Eindruck der Ersetzbarkeit entsteht dadurch, dass Adverbien wie gerne optionale Elemente sind, die stets zu einem Verb (bzw. einer verbalen Wortgruppe) hinzugefügt werden können. Betrachtet man jedoch weitere Kontexte, so wird man schnell feststellen, dass Ersetzbarkeit nicht immer gegeben ist. In (26a) treten beide Elemente gemeinsam auf; in (26b) kann nur gerne, nicht aber auf die Reporter erscheinen. (26) a. Der Präsident schimpft [gerne] [auf die Reporter]. b. Der Präsident inszeniert sich [gerne]/ *[auf die Reporter]. Besonders relevant sind syntaktische Kriterien zur Wortartbestimmung für Wörter, die nicht flektierbar sind und daher nicht aufgrund ihrer morphologischen Eigenschaften einer Wortart zugeordnet werden können. So lässt sich anhand syntaktischer Kontraste eine Unterscheidung zwischen nebenordnenden und unterordnenden / subordinierenden Konjunktionen motivieren: (27) a. Lydia und Leopold gehen ins Kino. b. *Lydia weil Leopold gehen ins Kino. 43 3.2 Klassifikationskriterien (28) a. *Lydia geht ins Kino, und Leopold ihr den Film empfohlen hat. b. Lydia geht ins Kino, weil Leopold ihr den Film empfohlen hat. Die Beispiele (27) und (28) zeigen, dass die beiden nicht-flektierbaren Elemente und und weil eine unterschiedliche syntaktische Verteilung aufweisen. (27) zeigt, dass und genutzt werden kann, um zwei nominale Ausdrücke miteinander zu verbinden, während weil in diesem Kontext nicht auftreten kann. (28) macht deutlich, dass weil einen Nebensatz mit Verbletztstellung einleiten kann, während und dazu nicht in der Lage ist. Dass diese Unterschiede tatsächlich relevant für die Einteilung in Wortklassen sind, kann man z. B. daran erkennen, dass und in (27a) durch andere nebenordnende Konjunktionen wie z. B. oder ersetzt werden kann, während anstelle von weil in (28b) andere Nebensatzeinleiter wie z. B. obwohl stehen können. Syntaktische Kriterien sind auch dann von Nutzen, wenn man nachweisen möchte, dass zwei Wortformen, die oberflächlich identisch sind, tatsächlich unterschiedlichen syntaktischen Wortarten zugehörig sind. Ein bekanntes Problem betrifft die Unterscheidung zwischen Infinitiven (die einen verbalen Charakter haben und kleingeschrieben werden) und substantivierten Infinitiven. Ausgehend von der Beobachtung, dass rechts von Artikelwörtern wie der / die / das, ein / eine stets ein Substantiv steht (bzw. ein komplexerer nominaler Ausdruck wie in das + lustige Wandern), muss es sich bei Wandern in (29a) um eine substantivierte Form handeln, die großgeschrieben wird. In (29b) hingegen signalisiert der Infinitivmarker zu, dass eine infinitivische Verbform vorliegt, die kleingeschrieben werden muss. (29) a. Das Wandern ist des Müllers Lust. b. Frau Müller hat keine Lust zu wandern. (30) zeigt nun aber, dass die Dinge nicht immer so einfach liegen. Hier können wir uns weder an einem Artikel noch am Element zu orientieren. Es gibt allerdings noch andere syntaktische Anhaltspunkte, die wir zur Wortartbestimmung heranziehen können. (30) a. Wandern hat noch keinem geschadet. b. Frau Müller soll auch wandern. Eine Anwendung des Ersetzungstests zeigt uns beispielsweise, dass wir Wandern in (30a) durch ein anderes Substantiv (bzw. einen anderen nominalen 44 3 Wortarten Ausdruck) wie Gesang oder die gute Luft ersetzen können. Ebenso könnten wir argumentieren, dass in (30a) Wandern das einzige Element ist, das als Subjekt des Satzes in Frage kommt (hat-… geschadet sind Verben, noch ist ein Adverb und keinem ist ein Indefinitpronomen im Dativ, das als indirektes Objekt fungiert). Wir können daher schließen, dass es sich bei Wandern im Kontext von (30a) tatsächlich um ein Substantiv handelt, das formgleich ist mit dem Infinitiv wandern. 16 Der Ersetzungstest kann auch genutzt werden, um den verbalen Charakter von wandern in (30b) zu belegen. So kann wandern hier durch andere verbale Ausdrücke ersetzt werden, während die Ersetzung durch nominale Ausdrücke zu einem nicht-wohlgeformten Satz führt: (31) a. Frau Müller soll auch (ein Lied) singen. b. *Frau Müller soll auch Gesang. Mithilfe syntaktischer Tests lässt sich auch zeigen, dass in (32a) und (32b-c) zwei verschiedene Arten von während vorliegen, die deswegen formidentisch sind, weil die Verwendung als subordinierende Konjunktion historisch aus dem Gebrauch als Präposition hervorgegangen ist. In (32a) stellt während eine Präposition dar, die typischerweise eine nominale / substantivische Ergänzung zu sich nimmt, die der Präposition nachfolgt. In (32b-c) fungiert während als subordinierende Konjunktion, die einen Adverbialsatz einleitet (temporal in (32b, adversativ, d. h. einen Gegensatz ausdrückend, in (32c)). (32) a. Leopold schlief [ PP während der Werbepause] ein. b. Leopold schlief ein [ S während die Werbung lief]. c. [ S Während Leo seinen Job langweilig findet], arbeitet Lydia gerne. Im Folgenden geben wir vor dem Hintergrund der bislang vorgestellten Tests einen Überblick über die zentralen Wortarten des Deutschen. Wir gehen dabei etwas ausführlicher auf Aspekte der Wortartenunterscheidung ein, die potentiell Probleme bereiten. Darunter fallen z. B. die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Typen von Artikeln und Pronomen sowie die Abgrenzung von unterschiedlichen Typen von nicht-flektierbaren Kategorien (Konjunktionen vs. Subjunktionen vs. Adverbien vs. Partikeln). Neben grammatischen 16 Man beachte, dass beiden Formen von wandern / Wandern das verbale Lexem wanderzugrundeliegt. Mit anderen Worten, Wandern ist zwar syntaktisch ein substantivisches Element, gehört aber zur Lexemklasse der Verben. 45 3.3 Wortklassen - eine Übersicht Kriterien kommen einleitend jeweils auch (prototypische) Bedeutungsaspekte zur Sprache. Nach der vorangegangenen Diskussion sollte jedoch klar sein, dass Letztere nur sehr bedingt zur Klassifikation des Wortschatzes geeignet sind. 3.3 Wortklassen - eine Übersicht Der Wortschatz des Deutschen lässt sich zunächst in die fünf Lexemklassen Verb, Substantiv, Adjektiv, Artikelwörter / Pronomen und nicht-flektierbare Wörter unterteilen. Die Klassen der Artikelwörter / Pronomen und nicht-flektierbaren Elemente können aufgrund ihres tatsächlichen syntaktischen Gebrauchs ferner in weitere syntaktische Wortklassen zerlegt werden. 17 3.3.1 Verben Verben bezeichnen prototypisch Tätigkeiten (arbeiten, schimpfen, lachen, rennen usw.)- - aber eben nicht ausschließlich (duften, (er)scheinen, verwelken usw.). Daher lassen sie sich besser anhand ihrer besonderen grammatischen Eigenschaften erkennen. Für die Zuordnung zur Lexemklasse der Verben sind im Deutschen vor allem flexionsmorphologische Eigenschaften besonders aufschlussreich: Nur Verben können in verschiedenen Wortformen auftreten, die neben Tempus- (Präsens sie geht vs. Präteritum sie ging) und Modusunterscheidungen (Präsens Indikativ sie geht vs. Konjunktiv I sie gehe) auch Werte für Person und Numerus signalisieren (Letztere reflektieren Eigenschaften des Subjekts, vgl. 3. Person Singular sie geht vs. 2. Person Singular du gehst). Verben, die Merkmale für Tempus, Person und Numerus aufweisen, nennt man auch finite Verben. Finitheit ist somit eine Eigenschaft, die nur Verben zukommt. Die spezifischen Flexionseigenschaften von finiten Verben sind in der Regel auch ausreichend, um ihre syntaktische Kategorie im konkreten Satzkontext zu erkennen. Weniger klar ist der Fall bei nicht-finiten Verbformen wie Infinitiv (gehen) und Partizipien (gehend / gegangen). Diese lassen sich zwar ohne Wei- 17 Ein weiterer möglicher Klassifikationsansatz basiert auf der Unterscheidung zwischen Inhaltswörtern und Funktionswörtern. Inhaltswörter wie Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien haben einen mehr oder weniger konkreten Bedeutungsgehalt und bilden eine offene Klasse, die jederzeit durch neue Elemente angereichert werden kann. Funktionswörter wie Artikel, Pronomen, Konjunktionen oder Auxiliare drücken in erster Linie grammatische Beziehungen oder Funktionen aus und gehören typischerweise einer geschlossenen Klasse an, die nur eine begrenzte Anzahl von Elementen umfasst. 46 3 Wortarten teres ebenfalls der Lexemklasse Verb zuordnen; die Kategorie entsprechender syntaktischer Wörter kann aber nicht aufgrund ihrer Flexionsmerkmale ermittelt werden. Hier kann eine Bestimmung nur über den syntaktischen Kontext erfolgen, in dem nicht-finite Formen auftreten. Die zentrale syntaktische Eigenschaft von Verben ist es, dass sie wesentlicher Bestandteil des Prädikats sind. Dabei kann das Prädikat einfach oder komplex sein (d. h. aus mehreren Verbformen bestehen), vgl. (33a) vs. (33b, c): (33) a. Leopold vergisst stets sein Schulbrot. b. Leopold hat heute wieder einmal sein Schulbrot vergessen. c. Lydia kann das nicht verstehen. Wie sich an (33b) erkennen lässt, kann das Prädikat finite und nicht-finite Bestandteile haben, wobei das nicht-finite Verb den lexikalischen Kern des komplexen Prädikats bildet. Eine für das Deutsche charakteristische syntaktische Eigenschaft besteht darin, dass in einem einfachen Aussagesatz das finite Verb die zweite Satzposition einnimmt (vgl. (33) und (22) oben). Der Infinitiv lässt sich daran erkennen, dass er in bestimmten Konstruktionen von dem Infinitivmarker zu begleitet wird (dies ist allerdings nicht immer der Fall, vgl. (33c)). (34) Leopold versucht immer, den Zug rechtzeitig zu erreichen. Verben zeichnen sich ferner dadurch aus, dass sie von Adverbien modifiziert werden können (wie immer und rechtzeitig in (34)). Eine weitere Unterteilung der Klasse der Verben ergibt sich abhängig davon, wie semantische Eigenschaften des Verbs in der Syntax abgebildet werden. Vollverben haben eine mehr oder weniger konkrete Bedeutung und können Ergänzungen zu sich nehmen, deren Anzahl, Kategorie und Form (z. B. Kasus bei nominalen Ergänzungen) sie bestimmen. So verlangt ein einstelliges (intransitives) Verb wie schlafen nur eine Ergänzung (Leopold schläft), während ein zweistelliges (transitives) Verb wie küssen zwei Ergänzungen verlangt (Lydia küsst den Frosch). Dreistellige (bitransitive) Verben verlangen drei Ergänzungen (Leopold stellt eine Vase auf den Tisch). Hilfsverben (Auxiliare) haben einen geringen semantischen Gehalt und verlangen keine Ergänzungen. Ihre Funktion besteht vor allem darin, grammatische Merkmale wie Tempus, Modus oder Genus Verbi auszudrücken. Für das Deutsche sind hier vor allem haben, sein und werden zu nennen, die u. a. in den zusammengesetzten Zeitformen (haben / sein: Perfekt und Plusquamperfekt; werden: Futur), beim Passiv (werden / sein), zur Modusmarkierung (haben / sein: 47 3.3 Wortklassen - eine Übersicht Konjunktiv I + II ) und als Kopula (sein / werden) Verwendung finden (vgl. Duden 2016: 424 f. für eine Übersicht). Zwischen Vollverben und Hilfsverben bewegen sich Modalverben wie dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen, die Bedeutungsaspekte wie Notwendigkeit oder Möglichkeit ausdrücken. 3.3.2 Substantive Ähnlich wie bei Verben ist eine semantisch basierte Definition von Substantiven problematisch, da sie sich nicht nur auf konkrete Objekte und Personen (Gurke, Hut, Ei, Schuh, Präsident usw.), sondern auch auf abstrakte Begriffe beziehen können (Idee, Gedanke, Umstand usw.). 18 Auch hier sind grammatische Kriterien wesentlich ergiebiger. Dabei ist vor allem die Tatsache zu nennen, dass nur Substantive ein festes lexikalisches Genusmerkmal tragen (der Mond vs. das Buch vs. die Gurke). Substantive treten in unterschiedlichen Wortformen abhängig von Numerus und Kasus (Hut vs. Hüte, der Hut vs. des Huts) auf und können durch Artikel oder Adjektive modifiziert werden (der alte Hut). Ein weiteres syntaktisches Kriterium (das aber nicht nur Substantive, sondern auch Pronomen erfüllen) lässt sich daraus ableiten, dass das Subjekt eines Satzes typischerweise durch einen nominalen Ausdruck gebildet wird: (35) a. Leopold / der Präsident / der Hamster schläft. b. *Auf die Reporter / gerne / schimpft schläft. Substantive stellen (wie Verben, Adjektive oder Adverbien) eine offene Klasse dar, die potentiell unendlich ist, da Neubildungen (über Wortbildungsregeln, Entlehnungen usw.) jederzeit möglich sind. Abhängig von ihren Bedeutungseigenschaften kann man weitere Teilklassen von Substantiven unterscheiden. So zerfallen die Substantive in Eigennamen (Leopold, Lydia, Frankfurt, Donau, Rolls-Royce usw.) und Gattungsbezeichnungen / Appellative (Stute, Gaststätte, Rausch), wobei Letztere in zählbare (Tisch, Stuhl, Katze) und nicht-zählbare Begriffe (Wasser, Fleisch, Mehl, Gold) unterteilt werden können. 18 Der Tradition der Schulgrammatik folgend verwenden wir die Begriffe Nomen und Substantiv als Synonyme (im Gegensatz zur klassischen Lateingrammatik, in der Nomen den Oberbegriff für Substantive, Pronomen, Artikel und Adjektive darstellt). 48 3 Wortarten 3.3.3 Artikelwörter und Pronomen In der Lateingrammatik werden Artikel und Pronomen als eine Wortklasse gefasst und traditionell einfach als „Pronomen“ bezeichnet. Da es außerdem mitunter schwierig ist, zwischen Artikeln und Pronomen systematisch zu unterscheiden, wollen wir sie auch hier als eine Lexemklasse betrachten (vgl. Abbildung 3 und Duden 2016: 247 ff.). Dies ist u. a. dadurch gerechtfertigt, dass alle Artikel und Pronomen nach Kasus, Numerus und Genus flektiert werden können. Im Gegensatz zu den Substantiven ist der Wert des Genusmerkmals bei Artikeln und Pronomen variabel: (36) a. der alte Hut, der viele Löcher hat b. die Gurke, die zu lange im Kühlschrank lag c. das Glück, das ich hatte Artikel und Pronomen weisen ein reicheres Formeninventar als Substantive auf (vgl. Abschnitt 4.3 für Details). So spielen Artikel eine wichtige Rolle bei der Markierung von Kasusmerkmalen, da diese am Substantiv bis auf wenige Ausnahmen (Genitiv -s, Dativ Plural -n) nicht angezeigt werden. Zudem signalisieren Artikel und Pronomen auch einige zusätzliche Merkmalsunterscheidungen. So variiert die Form von Personal-, Reflexiv- und Possessivpronomen abhängig von Werten für das Merkmal Person (vgl. z. B. im Nominativ Singular: 1. Person ich, 2. du, 3. er / sie / es). Eine wesentliche grammatische Funktion von Artikeln besteht im Deutschen darin, Definitheit (der, die, das usw.) bzw. Indefinitheit (ein, eine usw.) eines nominalen Ausdrucks zu kennzeichnen. Dies unterscheidet sie von Substantiven, nicht jedoch von Pronomen (Personalpronomen wie ich, du, er und auch Possessivpronomen wie mein, dein, sein sind stets +definit; andere pronominale Elemente wie (irgend)was, eine(r / s), jemand, niemand usw. drücken Indefinitheit aus). Für eine feinkörnigere Klassifizierung sind daher insbesondere syntaktische Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilklassen ausschlaggebend. Dementsprechend handelt es sich bei Personalpronomen, Artikeln, Demonstrativpronomen etc. nicht um separate Lexemklassen, sondern um unterschiedliche syntaktische Kategorien. Dies lässt sich z. B. daran illustrieren, dass das Lexem der als Artikel (der alte Hut), (Demonstrativ-)Pronomen (Der hat uns noch gefehlt.) oder Relativpronomen (ein Hut, der alt ist) auftreten kann. Ein wesentlicher syntaktischer Unterschied zwischen Artikeln und Pronomen besteht darin, dass Artikel und Artikelwörter ein Substantiv oder einen 49 3.3 Wortklassen - eine Übersicht komplexeren substantivischen Ausdruck modifizieren. Pronomen hingegen haben keine modifizierende Funktion, sondern fungieren sozusagen als Stellvertreter einer kompletten Nominalgruppe: 19 (37) Die Gurke liegt seit einer Woche im Kühlschrank. Sie sollte bald gegessen werden. Artikelwörter weisen im Deutschen zudem eine charakteristische syntaktische Distribution auf: Sie stehen- - wie in (38) schematisch gezeigt- - prototypisch am linken Rand einer Nominalgruppe vor Adjektiven und dem lexikalischen Kern der Nominalgruppe (hier vertreten durch das Kürzel „N“ für „Nomen“; vgl. Duden 2016: 249. Geklammerte Elemente sind nur optional vorhanden): (38) Artikelwort-- (adjektivische Attribute)-- N - (weitere Attribute) Im Gegensatz zu Substantiven handelt es sich bei Artikeln und Pronomen um eine geschlossene Klasse, d. h. um eine relativ kleine Menge von Elementen, die kaum Neubildungen zulässt. Üblicherweise unterscheidet man für das Deutsche die unten aufgelisteten syntaktischen Kategorien als Teilklassen von Artikelwörtern und Pronomen (vgl. Duden 2016: 251 ff.): ▶ Personalpronomen wie ich / mich / mir, du / dich / dir etc. tragen neben Kasus-, Numerus- und Genusauch Personmerkmale. ▶ Reflexivpronomen wie mich, dich usw. beziehen sich auf ein Satzglied im gleichen Satz (Ich wasche mich). Einander ist ein sog. Reziprokpronomen, das Gegenseitigkeit ausdrückt (Die Kinder helfen einander.). ▶ Possessiva wie mein, dein usw. drücken im weitesten Sinne Besitzrelationen aus und können sowohl als modifizierendes Artikelwort (mein Hut) als auch als echtes Pronomen verwendet werden (Das ist meins.) ▶ Demonstrativa haben eine zeigende bzw. hinweisende Funktion. Sie treten ebenfalls sowohl modifizierend (dieser / jener / derselbe Hut; Mit den Typen 19 Als Nominalgruppe (oder Nominalphrase) bezeichnet man eine Wortgruppe, deren lexikalischer Kern ein Substantiv (Nomen), eine Substantivierung (Nominalisierung) oder ein Pronomen ist, z. B.: (i) Die alte Gurke liegt seit einer Woche im Kühlschrank. (ii) Etwas Grünes liegt seit einer Woche im Kühlschrank. (iii) Was liegt seit einer Woche im Kühlschrank? (Vgl. auch LinguS Band 5: Der einfache Satz.) Der lexikalische Kern bestimmt wesentliche Eigenschaften der gesamten Nominalgruppe wie Genus und Numerus. 50 3 Wortarten werdet ihr das Spiel kaum gewinnen.) als auch als echte Pronomen auf (Das / Dies hat mir gut gefallen, jenes weniger.) ▶ Relativa leiten attributive (das Glück, das (welches) ich hatte; alles, was ich mag) und sog. freie Relativsätze ohne Bezugselement ein (Wer wagt, gewinnt.). Sie werden überwiegend in pronominaler Funktion verwendet. Allerdings können genitivische Formen von der / die auch vor Substantiven stehen (ein Mann, dessen Frau ein Genie ist). ▶ Interrogativformen wie wer, was, welche leiten Ergänzungsfragen ein. Als Artikelwort treten Formen von welcher sowie was für ein auf (Welchen Hut soll ich tragen? Was für ein Auto willst du kaufen? ). ▶ Indefinitpronomen wie man, (irgend)ein, (irgend)jemand, etwas, (irgend) wer / was, jeder, alle, keiner, niemand drücken aus, dass ein Element oder eine Bezugsgröße nicht näher bestimmbar ist. Indefinita können z.T. auch als indefinites Artikelwort verwendet werden: Könnte ich noch etwas Soße bekommen? Da kommt nichts Gescheites dabei heraus. ▶ Der definite / bestimmte Artikel wird nur als Artikelwort verwendet (der Hut, die Gurke, das Pferd). ▶ Der indefinite / unbestimmte Artikel wird ebenfalls nur als Artikelwort verwendet (ein Hut, eine Gurke, ein Pferd). Ein kurzer Blick auf die vorangehende Liste macht deutlich, dass es nicht immer möglich ist, einen bestimmten Typ von Pronomen / Artikelwort nur aufgrund seiner Form eindeutig zu identifizieren. So kann es sich bei der Form was abhängig vom Verwendungskontext um ein Interrogativpronomen, Relativpronomen oder Indefinitum handeln. Dies unterstreicht die Feststellung (s. o.), dass der Einteilung in verschiedene Artikel- und Pronomenunterarten ein syntaktisches (und nicht ein lexikalisches) Wortartkonzept zugrundeliegt. 3.3.4 Adjektive Nach traditioneller Auffassung drücken Adjektive Eigenschaften aus (alt, gut, sauer, schnell etc.). Dies ist zwar weitgehend zutreffend, trifft aber auch auf andere Wortarten zu (vgl. 3.2 für Details). Wesentlich eindeutiger lassen sich Adjektive anhand ihrer morphologischen Eigenschaften als eigenständige Lexemklasse identifizieren. Im Deutschen stimmen attributiv gebrauchte Adjektive im Genus, Numerus und Kasus mit dem Nomen überein, das sie modifizieren (ein alter Hut, eine alte Gurke, ein altes Pferd, einem alten Hut, 51 3.3 Wortklassen - eine Übersicht alte Hüte usw.). Aufgrund der Tatsache, dass Adjektive die gleichen Merkmale wie Substantive tragen, werden sie traditionell auch als deklinierbare Elemente bezeichnet. Adjektive unterscheiden sich von Substantiven aber in einer Reihe von Eigenschaften. So ist der Wert des Genusmerkmals bei ihnen nicht lexikalisch festgelegt, sondern abhängig von morphosyntaktischen Kongruenzregeln. Im Gegensatz zu anderen deklinierbaren Elementen können typische Adjektive gesteigert werden (schnell-- schneller-- am schnellsten). Sie zeigen zudem eine charakteristische Alternation zwischen starker (ein alter Hut) und schwacher Flexion (der alte Hut), abhängig davon, ob die entsprechenden Merkmalswerte bereits durch das Artikelwort ausgedrückt werden. Adjektive können in verschiedenen syntaktischen Kontexten auftreten. Neben dem bereits genannten attributiven Gebrauch, vgl. (39), sind hier die Verwendung als Prädikativ und Adverbial zu nennen: (39) attributiver Gebrauch: die glücklich-e Kuh (40) prädikativer Gebrauch: a. Die Kuh ist glücklich. (Subjektbezug, mit Kopulaverb) b. Die Musik macht Lydia glücklich. (Objektbezug, resultativ) c. Lydia kam glücklich nach Hause. (Subjektbezug, freies Prädikativ) (41) adverbialer Gebrauch: a. Die Kuh muht schön. (Bezug auf ein Verb) b. eine ganz schön schnelle Kuh (Bezug auf ein anderes Adjektiv) Die Verfügbarkeit flektierter Formen ist auf attributiv gebrauchte Adjektive beschränkt; 20 in prädikativer und adverbialer Verwendung bleiben Adjektive unflektiert (*Die Kuh ist / muht schön-e). Um zu testen, ob prädikativer oder adverbialer Gebrauch vorliegt, kann man den Satz in eine Konstruktion mit Kopula umformen: 20 Man beachte aber, dass substantivisch gebrauchte Formen adjektivischer Lexeme wesentliche Kennzeichen der adjektivischen Flexion beibehalten, vgl. die Alternation zwischen starker und schwacher Flexion bei syntaktischen Substantivierungen: a. Ein Gutes hat die Sache. b. Das Gute an der Sache ist-… 52 3 Wortarten (42) a. Die Musik macht Lydia glücklich. → Lydia ist glücklich. b. Die Kuh muht schön. → Das Muhen ist schön. (nicht: Die Kuh ist schön) Bei attributivem Gebrauch lassen sich Adjektive daran erkennen, dass sie zwischen Artikelwort und Nomen erscheinen (der alte Hut vs. *alte der Hut). 3.3.5 Adverbien Wie bereits erwähnt, lässt sich die Lexemklasse der nicht-flektierbaren Elemente nur aufgrund syntaktischer Kriterien weiter in Unterarten zerlegen, die dann aber keine Lexemklassen, sondern syntaktische Kategorien darstellen. Adverbien modifizieren Verben, Adjektive oder andere Adverbien und bezeichnen z. B. die näheren Umstände einer Handlung / eines Geschehens (Maria küsst erfreulicherweise / heute / oft / gerne Frösche) oder den Grad, zu dem ein Adjektiv oder Adverb zutrifft (ein echt / ziemlich alter Hut, Maria küsst tatsächlich gerne Frösche). Allerdings handelt es sich dabei um eine äußerst heterogene Klasse, die sich schwer fassen lässt (so können Adverbien unter Umständen auch Substantive modifizieren wie in das Pferd dort). Adverbien nehmen unter den nicht-flektierbaren Elementen eine Sonderstellung ein, da sie eindeutig Satzgliedstatus haben und auch im sog. Vorfeld, d. h. der ersten Satzposition in einem einfachen Aussagesatz (vor dem finiten Verb) stehen können: (43) Heute will Leopold ins Kino gehen. Abhängig von ihrer Bedeutung bzw. kommunikativen Funktion lassen sich verschiedene Subtypen von Adverbien identifizieren (vgl. Duden 2016: 584 ff. für eine ausführlichere Darstellung): Lokaladverbien situieren eine Handlung oder ein Objekt im Raum (Ortsadverbien: hier / da / dort / oben / gegenüber. Richtungsadverbien: hin / heim / fort / weg). Temporaladverbien spezifizieren zeitliche Aspekte eines Geschehens wie Zeitpunkt (jetzt, heute, gestern usw.), Zeitdauer (immer, bisher, jahrelang usw.), Häufigkeit (manchmal, oft, meistens usw.) oder die Beziehung zu einem anderen Zeitpunkt (dann, da, danach, seitdem, vorher usw.). Modaladverbien geben die näheren Umstände einer Handlung / eines Geschehens an wie Art und Weise ((genau)so, anders, gern, nebenbei, schnellstens, bestens) oder Menge und Ausmaß (sehr, scharenweise, größtenteils, einigermaßen, halbwegs). Kausaladverbien spezifizieren den Grund für eine Handlung / einen Sachverhalt (z. B. meinetwegen, krankheits-/ umständehalber). 53 3.3 Wortklassen - eine Übersicht Bei Interrogativadverbien handelt es sich um sog. W-Wörter, die Fragesätze einleiten können (wann, wo, wie, warum). Die gleichen Formen (mit Ausnahme von wann) können auch zur Einleitung von Relativsätzen genutzt werden (die Art, wie Lydia gewonnen hat; der Grund, weshalb Lydia gewonnen hat; die Stadt, wo Lydia gewonnen hat). Konnektoradverbien wie anschließend / trotzdem / deshalb sind adverbiale Elemente, die zur Verbindung von (unabhängigen) Sätzen genutzt werden. Satzadverbien drücken die Einstellung des Sprechers zu dem im Satz versprachlichten Sachverhalt aus (z. B. erfreulicherweise, hoffentlich, immerhin, möglicherweise, vielleicht). Unabhängig von ihrer syntaktischen Funktion können einige Adverbien auch aufgrund ihrer spezifischen Formeigenschaften zusammengefasst werden. Dies betrifft vor allem die sog. Präpositionaladverbien, die sich aus einem Adverb und einer (einfachen) Präposition zusammensetzen (da / hier / wo + an / auf / aus / bei / für / in / ein / mit / nach / über / um usw.). Aufgrund ihres pronominalen Charakters werden sie auch Pronominaladverbien genannt. Präpositionaladverbien können verschiedene Funktionen annehmen. So kann ein Präpositionaladverb wie womit als Interrogativadverb (Womit hat er nicht gerechnet? ) oder als Relativum verwendet werden (etwas, womit er nicht gerechnet hat). 3.3.6 Präpositionen Präpositionen verbinden Wörter und Wortgruppen und drücken ähnlich wie Konjunktionen ein Verhältnis zwischen den verknüpften Elementen aus (vgl. auch die deutsche Bezeichnung „Verhältniswort“). Neben räumlichen Beziehungen (unter dem Hut, auf den Tisch) sind hier zeitliche (nach Weihnachten, vor Semesterende usw.), kausale (wegen des Regens) oder konzessive Relationen (trotz des Regens) zu nennen. Präpositionen sind wie Adverbien und Konjunktionen nicht flektierbar. 21 Sie unterscheiden sich von anderen nicht-flektierbaren Kategorien aber darin, dass sie in der Regel eine nominale Ergänzung verlangen, deren Kasus sie bestimmen (in der traditionellen Lateingrammatik spricht man hier auch von „Rektion“): (44) a. Edmund Hillary stieg [mit dem Sherpa Tenzing Norgay] [auf den Mount Everest]. 21 Formen wie zum, zur, im, ins usw. stellen keine flektierten Präpositionen dar, sondern resultieren aus der Verschmelzung von Präposition und nachfolgendem Artikel. 54 3 Wortarten b. [Wegen des großen Erfolgs] wurde er [in den Adelsstand] erhoben. Abhängig von ihrer Position relativ zur Ergänzung unterscheidet man zwischen Präpositionen und Postpositionen. Das Deutsche zeigt fast ausschließlich Präpositionen, enthält aber auch einen Restbestand an Postpositionen, die ihrer Ergänzung nachgestellt werden. Bei Letzteren kann die Position auch variieren (wegen des schlechten Wetters / des schlechten Wetters wegen). Sehr selten treten auch Zirkumpositionen auf, die ihre Ergänzung einrahmen (um des lieben Friedens willen). Man unterscheidet ferner zwischen morphologisch einfachen Präpositionen wie in, mit, von, an, auf, zu, bei, um etc. und komplexen Bildungen wie mithilfe, zuliebe, zufolge, anstatt etc. Während einfache Präpositionen eine geschlossene Klasse darstellen, können komplexe Formen durch Neubildungen angereichert werden. Präpositionen können durch Adjektive, Adverbien und bestimmte akkusativische Nominalgruppen modifiziert werden, die direkt vor der Präposition erscheinen (direkt / genau / mitten auf die Nase, einen Zentimeter unterhalb der Nase). 3.3.7 Konjunktionen Konjunktionen verbinden Sätze, Satzglieder und Satzgliedteile. Abhängig von dem hierarchischen Verhältnis, das zwischen den verknüpften Elementen vorliegt, unterscheidet man zwischen nebenbzw. beiordnenden Konjunktionen und unterordnenden bzw. subordinierenden Konjunktionen. Letztere werden auch Subjunktionen genannt. Beiordnende Konjunktionen verknüpfen syntaktisch gleichrangige Elemente wie zwei unabhängige Aussagesätze, zwei Satzglieder oder zwei Bestandteile eines Satzglieds: (45) a. [Leopold geht ins Kino] und [Lydia geht ins Café]. b. [Leopold] und [Lydia] gehen ins Kino. c. Im Kino werden [alte] und [neue] Filme gezeigt. Subjunktionen werden verwendet, um einen Satz einzuleiten, der Bestandteil eines anderen Satzes bzw. einer anderen syntaktischen Einheit ist. In (46a) ist der geklammerte Nebensatz ein Satzglied des übergeordneten Satzes Lydia glaubt…; in (46b) ist der Satz Teil der Nominalgruppe die Frage…-(46c) zeigt, dass es sich bei dem untergeordneten Element auch um eine Infinitivkonstruktion handeln kann (hier um einen durch um eingeleiteten Finalsatz): 55 3.3 Wortklassen - eine Übersicht (46) a. Lydia glaubt [ S dass Leopold schläft]. b. Lydia beschäftigt [ NP die Frage [ S ob Leopold schläft]]. c. Lydia dreht die Musik auf, [ S um Leopold zu wecken]. Subordinierende Konjunktionen leiten stets Nebensätze ein, in denen das finite Verb die finale Position besetzt (sog. Verbletztstellung). 22 Im Gegensatz dazu können beiordnende Konjunktionen auch zwei Hauptsätze verbinden. Es liegt dann wie in (45a) Zweitstellung des finiten Verbs vor. Für alle Konjunktionen gilt, dass sie wie Präpositionen, Adverbien und Partikeln nicht flektierbar sind. Potentiell problematisch ist insbesondere die Abgrenzung von Konnektoradverbien, die ebenfalls Sätze miteinander verbinden (also eine ähnliche Funktion wie Konjunktionen haben), sowie von bestimmten Präpositionen, zu denen gleichlautende Konjunktionen existieren (z. B. bis, seit, um, während). Konjunktionen und Konnektoradverbien unterscheiden sich vor allem in ihren Stellungseigenschaften. Konnektoradverbien können in einfachen Aussagesätzen allein vor dem finiten Verb stehen, vgl. (47a). Diese Position (das sog. Vorfeld) kann in der Regel nur von Satzgliedern eingenommen werden (vgl. LinguS Band 5: Der einfache Satz). Alternativ können sie auch inmitten des Satzes erscheinen, vgl. (47b). Beiordnende Konjunktionen können hingegen in einem einfachen Satz die Position vor dem finiten Verb nicht allein besetzen, vgl. (48b). Ihnen kommt also kein Satzgliedstatus zu. Sie stehen sozusagen außerhalb der Elemente, die sie miteinander verknüpfen (vgl. auch die Klammerung in (45)). Wie (49) zeigt, erscheinen Subjunktionen stets am linken Rand des Satzes, den sie einleiten. Im Gegensatz zu Konnektoradverbien lösen sie Letztstellung des Verbs aus, vgl. (47c) vs. (49a). (47) Konnektoradverb: a. Lydia mag keine Actionfilme. Deshalb geht Lydia ins Café. b. Lydia mag keine Actionfilme. Lydia geht deshalb ins Café. c. *Lydia mag keine Actionfilme. Deshalb Lydia ins Café geht. (48) Beiordnende Konjunktion: a. Leopold geht ins Kino und Lydia geht ins Café. b. *Leopold geht ins Kino und geht Lydia ins Café. 22 Eine Ausnahme ist die Zweitstellung des Verbs in Nebensätzen, die von als (in der Bedeutung von als ob/ wie wenn) eingeleitet werden (Leopold tut so, als habe er alles verstanden.). 56 3 Wortarten c. *Leopold geht ins Kino und Lydia ins Café geht. (49) Subordinierende Konjunktion: a. Lydia sagt, dass sie lieber ins Café geht. b. *Lydia sagt, dass sie geht lieber ins Café. c. *Lydia sagt, dass geht sie lieber ins Café. Präpositionen unterscheiden sich von Konjunktionen vor allem darin, dass sie einen substantivischen Ausdruck als Ergänzung zu sich nehmen (dessen Kasus sie bestimmen, vgl. 3.2.2, Bsp. (32) für entsprechende Kontraste zwischen der Präposition während und der formgleichen Subjunktion). Abhängig von ihren Form- und Funktionseigenschaften lassen sich Konjunktionen weiter unterteilen. Auf der Formseite unterscheidet man zwischen morphologisch einfachen (und, oder, dass, ob etc.) und komplexen Konjunktionen (damit, obwohl, wenngleich, seitdem etc.). Eine Konjunktion kann auch aus mehreren Wörtern bestehen (ohne dass, als ob, auch wenn). Bei der Unterteilung in verschiedene Funktionstypen sind vor allem die folgenden Teilklassen zu nennen (vgl. Duden 2016: 633 ff. für eine detailliertere Darstellung): Beiordnende Konjunktionen Funktionstyp Beispiele anreihend und, (so)wie, sowohl - als auch, weder - noch Einführung von Alternativen oder, entweder - oder, beziehungsweise (bzw.) adversativ (entgegensetzend), konzessiv (einräumend) aber, doch, jedoch, indessen, sondern, wenn auch, nicht nur - sondern auch, nur, bloß, allein spezifizierend außer, beziehungsweise (bzw.) kausal denn vergleichend wie, als Tabelle 5a: Typen von beiordnenden Konjunktionen im Deutschen 57 3.3 Wortklassen - eine Übersicht Nebensatzeinleitende Konjunktionen (Subjunktionen) Funktionstyp Beispiele neutral (reine Subordinierer) dass, ob temporal während, nachdem, bevor konditional wenn, falls adversativ, konzessiv während, wohingegen; obwohl, auch wenn, trotzdem einschränkend soviel, außer, nur dass modal-instrumental indem, ohne dass vergleichend als, (so) - wie, als (ob), je nachdem, ob / wie / wo / wer / was kausal weil, wo, da konsekutiv sodass final um, damit Tabelle 5b: Typen von Subjunktionen im Deutschen 3.3.8 Partikeln Partikeln stellen eine recht heterogene Teilklasse der nicht-flektierbaren Elemente dar. Sie haben vielfältige kommunikative Funktionen, die hier aber nicht detailliert behandelt werden können (vgl. z. B. Duden 2016: 600 ff.). Bestimmte Typen von Partikeln wie Interjektionen und Modalpartikeln treten besonders häufig in der gesprochenen Sprache auf. Im Gegensatz zu Adverbien können Partikeln in der Regel nicht im Vorfeld stehen, vgl. (50). Sie besitzen ähnlich wie Konjunktionen keinen Satzgliedstatus, unterscheiden sich aber von Letzteren, da sie keine verknüpfende oder satzeinleitende Funktion haben. (50) a. Gestern / erfreulicherweise hat Leopold recht gehabt. b. *Halt / wohl / ja hat Leopold recht gehabt. c. *Äh / wow / oje / au / igitt / ach hat Leopold recht gehabt ▶ Gradpartikeln wie sehr, ganz, überaus, zu drücken aus, wie stark eine bestimmte Eigenschaft (oder ein Sachverhalt) ausgeprägt ist. Vor allem in der Umgangs- und Jugendsprache werden auch unflektierte Adjektive in ähnlicher Weise verwendet (extrem, total, wahnsinnig, irre, krass, brutal). 58 3 Wortarten ▶ Fokuspartikeln wie nur, ausgerechnet, sogar, insbesondere dienen zur Hervorhebung einzelner Satzglieder. Sie kennzeichnen z. B. die wichtigste Information innerhalb eines Satzes (Insbesondere auf die Rechtschreibung sollst du achten! ) oder greifen ein Element aus einer Menge von Alternativen heraus (Nur Leopold hat die Prüfung bestanden). 23 ▶ Die Infinitivpartikel zu markiert den Infinitiv. 24 ▶ Die Negationspartikel nicht dient zur Verneinung von Sätzen. Abhängig von Betonungs- und Stellungseigenschaften kann sich die Negation aber auch nur auf einen Teil des Satzes beziehen (den Mathe-Test in (51b); vgl. Duden 2016, Randnummern 1429-1431 für Details): (51) a. Leopold hat den Mathe-Test nicht bestanden. b. Leopold hat [nicht den Mathe-Test] nicht bestanden (, sondern…) ▶ Modalpartikeln (Abtönungspartikeln) wie halt, ja, denn, eben, wohl, ruhig, bloß haben eine z.T. sehr komplexe Bedeutung. Im weitesten Sinne werden Modalpartikeln genutzt, um Einstellungen, Erwartungen oder Bewertungen des Sprechers hinsichtlich seiner Äußerung auszudrücken: (52) a. Er hat halt die Wahl gewonnen. („da ist nichts zu machen“) b. Er hat ja die Wahl gewonnen. („wie du weißt“) ▶ Antwortpartikeln (auch Responsivpartikeln genannt) wie ja, nein, doch, genau, eben (nicht), natürlich, vielleicht, leider (ja / nein), möglicherweise werden als Reaktion auf eine Frage oder Aussage verwendet und drücken Zustimmung oder Ablehnung aus. ▶ Interjektionen (Ausdruckspartikel) wie äh, au, puh, igitt, bäh, pff, wow können genutzt werden, um Empfindungen oder Bewertungen auszudrücken (oft als Reaktion auf eine andere Äußerung). Sie sind vor allem ein Charakteristikum der gesprochenen Sprache. 23 Formen wie insbesondere können allerdings auch als Adverb verwendet werden (Insbesondere sollst du auf die Rechtschreibung achten.) 24 Allerdings kann der Infinitiv auch ohne zu auftreten. Der sog. reine Infinitiv steht z. B. nach Modalverben: Er muss / kann / darf arbeiten. 59 3.4 Hinter den Kulissen der Wortarten 3.4 Hinter den Kulissen der Wortarten 3.4.1 Wortarten als Ordnungsprinzip In zahlreichen Materialien macht es den Anschein, als wären die Wortarten einfach so da und würden direkt in den Wörtern stecken. Dieses statische Bild entspricht jedoch nicht der Idee, die sich hinter der Wortartenklassifikation verbirgt. Vielmehr handelt es sich bei Wortarten um ein von Sprachwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen erdachtes Beschreibungs- und Klassifikationsinstrument, weshalb auch verschiedene Ansätze zur Verfügung stehen, um Wörter zu sortieren. Diesen Prozess des Ordnens mit Schülerinnen und Schülern nachzuvollziehen, trägt dazu bei, die Wortartenbestimmung zu rahmen. Beschränkt man sich lediglich darauf, die einzelnen Wortarten zerstückelt zu behandeln, können keine Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie Grammatik als (sprach-)wissenschaftliche Disziplin funktioniert und was sie eigentlich leistet. Ziel ist es daher, die Lernenden in die Rolle von Sprachforscherinnen und -forschern schlüpfen und analytische Denklinien erproben zu lassen. So können unter Anleitung, aber dennoch eigentätig Einsichten in den Bau der deutschen Sprache gewonnen werden. Der Auftrag, eine Sammlung von Wörtern „aufzuräumen“, bietet eine erste Annäherung. Dabei sind die Beispiele so zu wählen, dass verschiedene Ordnungsprinzipien zum Tragen kommen. Hiermit lässt sich zeigen, dass wir Wörter aus mehreren Blickwinkeln betrachten können und es nicht nur die eine richtige Herangehensweise gibt. Zur Einstimmung ist es empfehlenswert, auf bekannte (Alltags-)Szenarien wie beispielsweise die Ordnung in einem Kleiderschrank zurückzugreifen: Bei manchen Schülerinnen und Schülern sind z. B. Hosen in der einen und Pullover in der anderen Schublade. Vielleicht werden kurze von langen Hosen getrennt oder die Farben spielen eine Rolle. Jeder hat-- auch wenn es so etwas wie einen Grundkonsens gibt-- unterschiedliche Prinzipien. Diese Überlegungen lassen sich nun auf die nachstehende Aufgabe übertragen. (53) Sortiere die Wörter. Beschreibe dein Vorgehen. 25 Hand, Katze, Kopf, helfen, krank, Kamel, finden, Hund, kochen, hübsch, kalt 25 Um die Übung auch visuell und haptisch zu unterstützen, können die Wörter als verschiebbare Schilder, die in Kästchen einsortiert werden, zur Verfügung gestellt werden. So lassen sich problemlos verschiedene Ideen erproben. 60 3 Wortarten Die folgenden Ansätze sind zu erwarten: ▶ Großschreibung: Hand, Katze, Kopf, Kamel, Hund; Kleinschreibung: helfen, krank, finden, kochen, hübsch, kalt ▶ Wörter mit dem Anfangsbuchstaben H: Hand, helfen, Hund, hübsch; Wörter mit dem Anfangsbuchstaben K: Katze usw. ▶ Wörter mit vier Buchstaben: Hand, kalt, Hund, Kopf; Wörter mit fünf Buchstaben: Katze, krank, Kamel usw. ▶ Wörter, die eine Tätigkeit ausdrücken: helfen, finden, kochen; Wörter, die eine Eigenschaft ausdrücken: krank, hübsch, kalt; Wörter, die ein Lebewesen / Tier ausdrücken: Katze, Kamel, Hund; Wörter, die Körperteile ausdrücken: Hand, Kopf ▶ Wörter, die man in die Mehrzahl setzen kann: Hand, Katze, Kopf, Kamel, Hund; Wörter, die man steigern kann: krank, hübsch, kalt; Wörter, die man in eine andere Zeitform setzen kann: helfen, finden, kochen 26 ▶ … Auch wenn wir gezielt fragen können, wie die Wörter aussehen oder was wir mit ihnen machen und wie wir sie verändern können, ist es an dieser Stelle nicht erforderlich, dass die Lernenden bereits mit grammatischen Termini operieren. Es geht nicht um das- - von Schülerinnen und Schülern als wahllos empfundene und zu Recht beklagte- - Auswendiglernen von Vokabular, sondern vielmehr darum, ein Gefühl für das prinzipiengeleitete Sortieren der Wörter zu entwickeln. Schließlich sind auch Wortarten nichts anderes als ein grammatisches Ordnungssystem und dieses gilt es in seiner Grundkonzeption gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern zu erarbeiten. Allerdings darf die Bestimmung von Wortarten nicht in eine Fließbandarbeit ausarten, bei der eine Wortart nach der anderen mehr oder weniger zusammenhangslos abgehakt wird. Vielmehr sollten die unterschiedlichen Kriterien, die zur Festlegung von Wortarten herangezogen werden, offengelegt und kritisch diskutiert werden, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass alles vorgegeben und intransparent sei (vgl. auch Kapitel 1). Stattdessen sollte den Schülerinnen und Schülern das Gefühl gegeben werden, an dem Prozess der Systematisierung teilzuhaben. Die 26 Eine weitere Ausdifferenzierung ist möglich, indem beispielsweise die einzelnen Prinzipien miteinander kombiniert werden. Da die Kategorie „Wörter mit fünf Buchstaben“ recht viele Beispiele beinhaltet, könnte die Untersuchung der Groß- und Kleinschreibung oder auch der Anfangsbuchstaben genutzt werden, um weitere Untergruppen festzulegen. 61 3.4 Hinter den Kulissen der Wortarten drei Kriterien zur Einteilung der Wortarten (Semantik, Flexionsmorphologie und Syntax) bilden hierbei den Rahmen. 3.4.2 Das semantische Kriterium überwinden Das semantische Kriterium erweist sich bei der Einteilung von Wortarten als problematisch. Dennoch hat es sowohl im Grundschulunterricht als auch in den weiterführenden Schulen einen festen Platz. Dass sich das semantische Kriterium besonders fest in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler verankert, ist allerdings nicht verwunderlich. Schließlich nimmt es auf etwas Bezug, das uns als Sprachnutzerinnen und -nutzern vertraut ist: die Bedeutung, die hinter den Wörtern steckt. Beispiel (54) 27 zeigt, wie selbst bei Fragen der Großschreibung das semantische Kriterium den Entscheidungsprozess bestimmt. (54) Stefan, der die 7. Klasse besucht, wird zu seinen Schreibungen befragt. Studentin: -[…] Gut: „Der Mann folgte ihm und hörte das Weinen des Jungen.“-[…] Das Weinen hast du kleingeschrieben: weinen, ne? Stefan: Das tut man ja (..) kann man nicht anfassen. Studentin: Das tut man ja (.), aha. Stefan: Man kann Tränen anfassen, aber weinen (.) das Weinen nicht. Die Regel, dass man Substantive großschreibt, scheint Stefan im Hinterkopf zu haben. Wenn das Wortartenkonzept jedoch lediglich auf dem semantischen Kriterium beruht, fallen Substantivierungen oder Abstrakta zwangsläufig aus diesem Raster. Um Schülerinnen und Schüler zu sensibilisieren, dass die Bedeutung kein treffendes Kriterium für die Einteilung der Wortarten darstellt, müssen Lernszenarien geschaffen werden, in denen sie die Grenzen und Problembereiche selbst erkunden können. So wird nicht nur ermöglicht, dass die Lernenden, wie es die Bildungsstandards verlangen, Sprache untersuchen, sondern es wird darüber hinaus die Bereitschaft erhöht, sich weiteren neuen Ansätzen zuzuwenden. Eine solche progressive Unterrichtsgestaltung gelingt jedoch nur, wenn die Lehrperson fähig und gewillt ist, Materialien aus Lehrwerken oder aus dem Internet kritisch zu hinterfragen. 27 Das Beispiel ist entnommen aus Müller (2014: 8). 62 3 Wortarten Vollziehen wir den Gedankengang am Beispiel der Wortart Verb nach. Nahezu überall findet sich diese oder eine ähnliche Definition: (55) Verben sind Tunwörter / Tätigkeitswörter. Sie drücken Tätigkeiten oder Vorgänge aus. Du kannst fragen: Was tut man? Für den Kernbereich mag dieser Zugang auch stimmen: lachen, schwimmen, winken etc. Würden wir nur mit diesen Prototypen arbeiten, würden keine Schwierigkeiten bei der Zuordnung der Wörter auftreten. Häufig finden sich jedoch bereits in den angeführten Beispielen und später auch in den Übungen solche Wörter, die sich unter Beachtung der rein semantisch geprägten Definition nur schwer als Verb klassifizieren ließen. (56) a. Ich heiße Lars. b. Es herrscht Chaos. c. Ich faulenze. d. Die Hose ist schwarz. Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Von Tätigkeiten oder Vorgängen kann nicht gesprochen werden. Wenn ich faulenze, tue ich ja nichts. Wir könnten ergänzen, dass neben Tätigkeiten und Vorgängen auch Zustände durch Verben ausgedrückt werden. Allerdings finden sich auch hier Gegenbeispiele: (57) a. Ich bin glücklich. (glücklich-= Verb? ) b. Ich habe Hunger. (Hunger haben-= Verb? ) Der folgende Auszug gibt Einblicke in das Denken eines Schulkindes. Im Gespräch mit seinem Vater wird mithilfe des semantischen Kriteriums überprüft, welche Wörter Tätigkeiten ausdrücken und sich somit als Verb bestimmen lassen. Doch selbst Beispiele, die uns aus Lehrendenperspektive plausibel erscheinen, können zu Verständnisschwierigkeiten aufseiten der Lernenden führen. (58) Ich: Ja. Und ist Unfug ein Tuwort? Sie: Nee. Ich: Aber es ist doch etwas, was man machen kann. Sie: Ja, aber es ist kein Tuwort. Ich: Also gibt es Wörter, die etwas bezeichnen, das man „machen“ kann, die aber keine Tuwörter sind, und Wörter, die Tuwörter sind, die aber etwas bezeichnen, was man nicht machen kann. 63 3.4 Hinter den Kulissen der Wortarten Sie: Ja, zum Beispiel auch fliegen. (Hm. Hat sie mich vielleicht falsch verstanden? ) Ich: Wieso fliegen? Sie: Ja, weil wenn man sagt „Ich fliege nach Amerika“, dann fliegt man ja nicht selber. Das Flugzeug fliegt. (http: / / www.sprachlog.de/ 2009/ 03/ 31/ wortarten-teil-1-tuworter/ ) Wird das angedeutete Schwierigkeitspotenzial von der Lehrperson nicht erkannt, sind Irritationen aufseiten der Lernenden zu erwarten, denn das vorher Erarbeitete lässt sich nicht mehr anwenden. Die (Verlegenheits-)Begründung „Das ist eine Ausnahme.“ würde zwar dazu führen, dass nicht weiter nachgehakt wird, sie verstärkt aber zugleich den Eindruck, dass in der Grammatik ohnehin alles willkürlich sei und man sich an nichts orientieren könne (vgl. Kapitel 1). Irritationen sind allerdings nicht per se schlecht oder hemmend. Zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, tragen sie sogar maßgeblich zum Kompetenzerwerb bei: 1. Im Erwerbsprozess steht das Verstehen des neu Gelernten im Mittelpunkt. Die Lehrperson wählt also solche Beispiele aus, die der Definition entsprechen, und stellt somit sicher, dass Merksatz und Veranschaulichung bzw. Übung zusammenpassen. 2. Danach kann die Lehrperson gezielt Irritationspotenzial schaffen, um zu zeigen, dass die Definition oder der verfolgte Ansatz überdacht, korrigiert oder erweitert werden muss (vgl. Bsp. (56) und (57)). Das semantische Kriterium muss also nicht aus dem Grammatikunterricht verbannt werden. Schließlich bietet es vor allem jüngeren Schülerinnen und Schülern einen ersten intuitiven Zugang zur Einteilung von Wörtern. Entscheidend ist jedoch, nicht darauf stehen zu bleiben und stattdessen den Analyseradius zu vergrößern. Nicht der Inhalt des Unterrichts an sich, sondern der reflektierte Umgang damit macht den Lernerfolg aus. 3.4.3 Mit Fantasiewörtern alternative Zugänge entdecken Wir nutzen tagtäglich Wörter, um zu kommunizieren. Ganz selbstverständlich konstruieren wir Sätze und passen die Wortformen an die vorliegende Struktur an. Das „Verhalten“ und das „Aussehen“ der Wörter können wir uns 64 3 Wortarten für die Einteilung der Wortarten zunutze machen. Dafür müssen diejenigen flexionsmorphologischen und syntaktischen Eigenschaften der Wörter sichtbar gemacht werden, die wir sonst aufgrund unserer Erfahrungen als geübte Sprachanwenderinnen und -anwender intuitiv umsetzen. Es gilt: Das Implizite explizit machen. Besonders geeignet ist die Arbeit mit Fantasiewörtern. Von Vorteil ist, dass semantische Aspekte- - aufgrund der nicht zu realisierenden Bedeutungszuschreibung- - in den Hintergrund und stattdessen morphosyntaktische Merkmale in den Vordergrund treten. Um dennoch Erkenntnisse über die „eigene“ Sprache gewinnen zu können, müssen die folgenden Bedingungen erfüllt sein: 1. Die Flexionsmorpheme müssen denen der deutschen Sprache entsprechen. 2. Die syntaktische Struktur folgt den Regularitäten eines deutschen Satzes. D.h. die Fantasiewörter übernehmen dieselben syntaktischen Funktionen und Positionen. 3. Nicht der gesamte Satz oder Text enthält Fantasiewörter. Vielmehr sind diese so zu wählen, dass sich ein bis zwei Wortarten thematisieren lassen. Die restlichen Wörter sind bekannt und dienen als Anker für die Untersuchung des übrigen Sprachmaterials. In Beispiel (59) sind die Fantasiewörter als Adjektive und Substantive zu bestimmen, obwohl wir uns weder an ihrer Bedeutung noch an der Großschreibung orientieren können. (59) a. Das belule knolp tanzt im schraten lorm. b. Die beluleren knolpe stehen in der trulken posme. c. Wegen des knolps konnte ich nicht schlafen. 28 Allein die Betrachtung der flexionsmorphologischen und der syntaktischen Merkmale reicht aus: ▶ Die Substantive werden begleitet (von einem Artikel). Sie können im Plural stehen und noch ein weiteres Wort (ein Adjektiv) an sich binden. 28 Für eine unterrichtspraktische Umsetzung sind deutlich mehr Beispiele bereitzustellen. Der Lernstand der Schülerinnen und Schüler bestimmt, wie viele Wortarten und wie viele bzw. welche morphosyntaktischen Merkmale zu untersuchen sind. 65 3.4 Hinter den Kulissen der Wortarten ▶ Adjektive können zwischen Artikel und Substantiv stehen, sie können eine Steigerungsform ausbilden. Über die Wortarten hinaus können auch die grammatischen Eigenschaften der Fantasiewörter bestimmt werden. ▶ Anhand der Präposition wegen sowie der Deklinationsendung -s kann knolps als Genitivform identifiziert werden. ▶ Das Adjektiv beluleren ist kompariert. Das Morphem--erverweist auf den Komparativ. Außerdem weist es eine bestimmte Deklinationsendung auf, denn es richtet sich im Genus, Kasus und Numerus nach dem Bezugssubstantiv (die) knolpe: Neutrum (das knolp), Nominativ, Plural. Auch in Lehrwerken wird diese Idee aufgegriffen. Besonders prominent ist das Gedicht „Gruselett“ von Christian Morgenstern, in dem alle Substantive und Verben Fantasiewörter sind. Während Erstere bereits durch die Großschreibung deutlich zu identifizieren sind, ist bei den Verben eine Betrachtung der morphosyntaktischen Merkmale erforderlich. Ganz im Sinne eines integrativen Grammatikunterrichts sind die Möglichkeiten, mit dem Gedicht weiterzuarbeiten, vielfältig: Warum haben wir trotz der Fantasiewörter einen Zugang zum Gedicht? Was kommt uns bekannt vor, was nicht? Welche Stimmung wird transportiert? Wie könnte eine weitere Strophe aussehen? 3.4.4 Alle Kriterien in einem System Konzentriert man sich ausschließlich auf eines der genannten Kriterien, lassen sich manche Wörter nur schwer einer Wortart zuordnen. So müssten beispielsweise alle nicht veränderbaren Wörter in einer Kiste landen, wenn man nur das morphologische Kriterium heranziehen würde. Die heterogene Wortartenklassifikation bezieht daher-- im Gegensatz zur homogenen Wortartenklassifikation-- mehrere Kriterien ein, die allerdings nicht gleich gewichtet sein müssen (vgl. die Dudengrammatik und den Schülerduden). 1. Morphologisches Kriterium: Kann sich das Wort verändern? Wenn ja: Welche flexionsmorphologischen Änderungen liegen vor? 66 3 Wortarten 2. Syntaktisches Kriterium: Welche Aufgabe übernimmt das Wort im Satz? In welcher syntaktischen Umgebung tritt es auf ? 29 3. Semantisches Kriterium: Welche Bedeutung steckt in dem Wort? Auch wenn Schülerinnen und Schülern die Termini nicht zugemutet werden sollten, kann ein solches schrittweises Vorgehen Struktur in die Bestimmung der Wortarten bringen und Zusammenhänge verdeutlichen. Erproben wir das Schema anhand eines Beispiels: (60) Ich gehe zeitig ins Bett, denn ich fahre morgen in den Urlaub. Die Untersuchung der morphologischen Eigenschaften ergibt nur, dass sich das Wort nicht verändert. Daher müssen die syntaktischen Merkmale genauer betrachtet werden: Denn verbindet zwei gleichrangige Teilsätze miteinander und kann daher als beiordnende Konjunktion bestimmt werden. Aus semantischer Perspektive liegt eine kausale (begründende) Konjunktion vor. Über den Kernbereich hinaus können mithilfe des vorgestellten Systems auch Nominalisierungen oder adjektivisch gebrauchte Partizipien in den Blick genommen werden. Indem man fragt, was das lexikalische Wort (das Ursprungswort) prototypisch „kann“ und was die konkrete Wortform tatsächlich „leistet“, können zwei Wortarten ermittelt werden: die Wortart des lexikalischen Ausgangspunktes (also des Urspungswortes) und die Wortart der konkret auftretenden Wortform (also des syntaktischen Wortes). (61) Die kreischenden Fans sind außer sich vor Freude. Lexikalische Wortart: Verb (Es kann prototypisch konjugiert werden.) Syntaktische Wortart: Adjektiv (Es wird tatsächlich dekliniert und steht zwischen Artikel und Substantiv.) Dass manche Wörter die Wortart in Abhängigkeit von ihrer Verwendung im Satz ändern, ist ein Thema, das auch in höheren Klassenstufen zum Nachdenken über Sprache anregen kann. So bietet beispielsweise die Frage, inwieweit auch Adjektive einen Wortartenwechsel vollziehen, wenn sie sich auf ein 29 Flexionsmorphologie und Syntax stehen in einem engen Verhältnis zueinander, denn die syntaktische Struktur grenzt ein, welche Formen ausgebildet werden können, und umgedreht geben die Flexionsformen Hinweise darauf, welche syntaktischen Strukturen vorliegen. Daher spricht man auch von morphosyntaktischen Merkmalen. 67 3.4 Hinter den Kulissen der Wortarten Verb beziehen, genügend Diskussionspotenzial. Ist schnell in Beispiel (62) ein Adjektiv oder ein Adverb? (62) Das Kind rennt schnell. Fachliche Argumente lassen sich sowohl für die eine als auch für die andere Variante finden. 1. Man geht davon aus, dass aufgrund des geänderten syntaktischen Rahmens, der deklinierte Formen verbietet, ein Adverb vorliegt. 2. Es handelt sich um ein Adjektiv, das zwar in dem konkreten Fall eine nicht flektierte Form ausbildet, aber dennoch dekliniert, also attributiv verwendet werden kann. Fächerübergreifend bietet sich ein Vergleich zum Englischen an, denn Adverbien werden- - anders als im Deutschen- - durch das Suffix -ly formal von Adjektiven unterschieden. (63) a. He is a quick runner. b. He runs quickly. Auch in Lehrwerken bilden meist mehrere Kriterien die Grundlage, um die einzelnen Wortarten voneinander abzugrenzen. Allerdings stehen diese oft unverbunden in den Merkkästen nebeneinander; auf die Einordnung in ein Gesamtsystem wird verzichtet. Da nicht transparent gemacht wird, in welchem Zusammenhang die Kriterien stehen, wird es den Schülerinnen und Schülern erschwert, ein in sich geschlossenes Konzept zu entwickeln. Vielmehr entsteht ein Inselwissen: Die einzelnen Merkmale werden pro Wortart gelernt und anschließend wird deren Bestimmung geübt. Dass sich Grammatikunterricht nicht darin erschöpfen muss, zeigt jedoch das Lehrwerk „Die Sprachstarken“ (Lötscher et al. 2008). 30 Im Rahmen eines Entscheidungsbaums, der als „Wörtersortiermaschine“ (S. 70 f.) bezeichnet wird, kommen ausschließlich flexionsmorphologische und syntaktische Merkmale zum Tragen (vgl. Abbildung 4). 30 Auch in deutsch.kompetent für Klassenstufe 8 findet eine Gesamtschau statt. Das Schema, das geboten wird, ähnelt dem in diesem Kapitel präsentierten. 68 3 Wortarten 64 Abbildung 4: Schematische Darstellung der Wörtersortiermaschine (entnommen aus: Lindauer/ Nänny (2003: 31)) Die Lernenden durchlaufen mit dem zu untersuchenden Wort mehrere Rohre, in denen sie immer wieder entscheiden müssen, ob das Merkmal zutrifft. Dabei werden konkrete Proben angeboten. Beispielsweise ist zu analysieren, ob das Wort attributiv gestellt werden kann (der ... Flops) oder ob es dazu fähig ist, eine Personalform auszubilden (ich, du, er ... ? ). So werden die Lernenden dazu angehalten, mit dem Wort zu arbeiten und es hinsichtlich seiner Merkmale in konkreten syntaktischen Zusammenhängen zu befragen. 29 Unabhängig davon, welche Systematisierung gewählt wird, ist darauf zu achten, dass die zu bestimmenden Wörter nicht ohne syntaktischen Kontext präsentiert werden. Schließlich gilt es die Wörter miteinander zu vergleichen 29 Für die Umsetzung im Unterricht ist z. B. zu überprüfen, inwieweit die Pronomen (und Artikelwörter) über eine auswendig zu lernende Liste zu definieren oder die nicht veränderbaren Wörter als Partikeln zu bezeichnen sind. Abbildung 4 : Schematische Darstellung der Wörtersortiermaschine (entnommen aus: Lindauer / Nänny 2003 : 31 ) 31 Die Lernenden durchlaufen mit dem zu untersuchenden Wort mehrere Rohre, in denen sie immer wieder entscheiden müssen, ob das Merkmal zutrifft. Dabei werden konkrete Proben angeboten. Beispielsweise ist zu analysieren, ob das Wort attributiv gestellt werden kann (der-… Flops) oder ob es dazu fähig ist, eine Personalform auszubilden (ich, du, er-…? ). So werden die Lernenden dazu angehalten, mit dem Wort zu arbeiten und es hinsichtlich seiner Merkmale in konkreten syntaktischen Zusammenhängen zu befragen. 32 Unabhängig davon, welche Systematisierung gewählt wird, ist darauf zu achten, dass die zu bestimmenden Wörter nicht ohne syntaktischen Kon- 31 Im Lehrwerk wird die Wörtersortiermaschine auf einer Doppelseite auch tatsächlich grafisch als Maschine aufbereitet. Mit Blick auf die Leserfreundlichkeit findet sich hier eine schematische Darstellung. 32 Für die Umsetzung im Unterricht ist z. B. zu überprüfen, inwieweit die Pronomen (und Artikelwörter) über eine auswendig zu lernende Liste zu definieren oder die nicht veränderbaren Wörter als Partikeln zu bezeichnen sind. 69 3.5 Kurze Zusammenfassung text präsentiert werden. Schließlich gilt es die Wörter miteinander zu vergleichen und die Beziehungen zwischen ihnen zu untersuchen: Was können die einen Wörter, was die anderen nicht können? Welche Wörter finden sich häufig zusammen in einem Satz oder in einer Wortgruppe? Auch wenn in der Erwerbsphase die Wahl auf Beispiele aus dem Kernbereich fallen sollte, darf der Grenzbereich nicht ausgespart werden (z. B. nicht komparierbare Adjektive, aber komparierbare Adverbien). Häufig erwecken die Hilfestellungen zur Wortartenbestimmung den Eindruck, indiskutable Gesetzmäßigkeiten zu sein, doch Sprache lässt sich nicht in eine Corsage zwängen, immerhin ist sie ein lebendiges und dynamisches Gebilde. Ein Nachdenken über Sprache bedeutet, verschiedene Blickrichtungen einzunehmen, zu zweifeln und sich argumentativ zu positionieren. 3.5 Kurze Zusammenfassung Schülerinnen und Schüler erleben die Wortartenlehre als etwas, das ihnen von oben „aufgedrückt“ wird; ein Merksatz folgt dem anderen. Um zu verstehen, was Wortarten sind und wie sie zustandekommen, sollten die Lernenden das Prinzip dahinter verstehen: Wortarten sind ein Ordnungsprinzip. Man vergleicht Wörter hinsichtlich ihrer Eigenschaften und gruppiert Wörter mit den gleichen oder ähnlichen Eigenschaften. Das semantische Kriterium eignet sich jedoch nicht, um Wortarten- - im grammatischen Sinne- - festzulegen. Stattdessen gilt es den Analyseradius auf syntaktische und flexionsmorphologische Eigenschaften auszuweiten. Man fragt danach, ob und (wenn ja) wie sich Wörter verändern, in welchen syntaktischen Umgebungen sie stehen können und welche Funktionen sie im Satz übernehmen. Um vom semantischen Kriterium Abstand zu nehmen, ist die Arbeit mit Fantasiewörtern empfehlenswert, da sie keine Bedeutung besitzen und stattdessen ihre grammatischen Eigenschaften im Mittelpunkt stehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass das semantische Kriterium aus dem Unterricht zu verbannen ist. Es kann den Ausgangspunkt bilden, um sich kritisch mit Analysen auseinanderzusetzen und die Notwendigkeit anderer Kriterien zu erarbeiten und auch zu akzeptieren. Auf der Basis einer kritischen Auseinandersetzung mit bedeutungsbezogenen Ansätzen der Wortschatzklassifikation haben wir in diesem Kapitel zunächst dafür plädiert, entsprechende semantische Kriterien durch geeignete grammatische Kriterien zu ersetzen bzw. zu ergänzen. Wir haben dabei die zentrale Unterscheidung zwischen Merkmalen und den Werten, die diese Merkmale 70 3 Wortarten annehmen können, eingeführt und eine Reihe von morphologischen und syntaktischen Tests diskutiert, die zur Wortartenbestimmung herangezogen werden können. Im Anschluss haben wir einen Überblick über die wesentlichen Wortklassen des Deutschen gegeben und gezeigt, wie sprachliche Einheiten aufgrund ihrer morphologischen und syntaktischen Eigenschaften Wortklassen zugeordnet werden können. Detailliertere Darstellungen (sowohl was einschlägige Tests betrifft als auch hinsichtlich einer feinkörnigeren Unterscheidung verschiedener Teilklassen der hier diskutierten Wortarten) finden sich in den in Kapitel 1 erwähnten Überblicksdarstellungen. Ein interessanter alternativer Ansatz zur Wortklassifikation, der auf der Basis eines Entscheidungsbaums operiert, wird in Schäfer (2016) verfolgt. Aufgaben zur Lernkontrolle 1. Diskutieren Sie anhand geeigneter Beispiele die Notwendigkeit syntaktischer Kriterien bei der Wortartbestimmung. 2. Ermitteln Sie mithilfe geeigneter Tests die Wortart der unterstrichenen Elemente in den folgenden Sätzen: a. Ich liebe den Sport. b. Liebe macht blind. c. Die liebe Oma kommt zu Besuch. 3. Stellen Sie sich vor, Ihnen wird die nachstehende Übung empfohlen, um das Wissen zu den Wortarten zu wiederholen. Erläutern Sie fachwissenschaftliche Probleme. Welches Wort passt nicht in die Reihe? Streiche es jeweils heraus. a. POLIZIST SUCHE KINDER NOTIZ b. WÄHREND AUF DASS NEBEN 71 3.5 Kurze Zusammenfassung 4 Flexion Die Flexion stellt den Bereich der Morphologie dar, der am engsten mit der Syntax verzahnt ist. Die Flexionseigenschaften eines Wortes sind abhängig von der syntaktischen Umgebung, in der es auftritt. Durch Flexion wird die Rolle signalisiert, die ein Element in einem bestimmten syntaktischen Kontext spielt (z. B. Subjekt vs. Objekt vs. Attribut). Darüber hinaus werden Beziehungen markiert, die zwischen dem flektierten Wort und anderen Elementen im Satz (bzw. in der Wortgruppe) bestehen (z. B. durch Kongruenzregeln), und es werden grammatische Bedeutungen wie Tempus (z. B. Gegenwart vs. Vergangenheit), Modus (Indikativ vs. Konjunktiv) oder Aspekt (z. B. Abgeschlossenheit vs. Nicht-Abgeschlossenheit eines Vorgangs) ausgedrückt. Die Auswahl der Merkmale, die durch das Mittel der Flexion markiert werden, ist von Sprache zu Sprache verschieden. Für das Flexionssystem des Deutschen sind die folgenden grammatischen Merkmale relevant: Merkmal Merkmalswerte Person 1. Person, 2. Person, 3. Person Numerus Singular, Plural Genus Maskulinum, Femininum, Neutrum Kasus Nominativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv Komparation Positiv, Komparativ, Superlativ Modus Indikativ, Konjunktiv, Imperativ Tempus Präsens, Präteritum 33 Tabelle 6: Grammatische Merkmale und Merkmalswerte im Deutschen (Duden 2016: 138) Abhängig von der Zahl der Merkmale, die für die Bildung flektierter Formen relevant sind, kann das Paradigma eines Lexems sehr umfangreich werden. So geht beispielsweise im Russischen die Zahl der Wortformen, die aus einem einzigen Verbstamm abgeleitet werden können, in die Hunderte. Generell gilt dabei-- für das Russische wie für das Deutsche--, dass die verschiedenen 33 Die zusammengesetzten Tempusformen Perfekt, Plusquamperfekt, Futur (I + II) werden im Deutschen nicht durch morphologische, sondern durch syntaktische Mittel gebildet (d. h. durch eine Kombination aus finitem Auxiliar und nicht-finiter Verbform). 72 4 Flexion Wortformen nicht für jedes Lexem separat auswendig gelernt werden müssen. Vielmehr müssen Kinder nur einmal die relevante morphologische Regel erwerben, die im Anschluss dann auf alle Lexeme angewendet wird, die unter die Regel fallen. So kann die Verteilung des Präteritalsuffixes -te durch eine Regel beschrieben werden, die verlangt, dass bei schwachen Verben das Suffix -te an den Verbstamm herantritt, wenn in der Syntax der Wert ‚Präteritum‘ für das Merkmal ‚Tempus‘ vorliegt. Flexionsmorphologische Regeln geben also Informationen über die Form (hier: -te) und die Funktion (hier: Markierung von Präteritum) eines Flexivs und den Kontext (hier: schwache Verben), in dem es angewendet wird. Dabei kann es im Spracherwerb mitunter auch zu Übergeneralisierungen kommen, d. h. das Kind wendet die Regel probeweise auch auf Elemente an, die nicht unter die Regel fallen, z. B. wenn es die ‚regelmäßige‘ Form geh-te statt der zielsprachlich korrekten ‚unregelmäßigen‘ Form ging produziert. Für unregelmäßige Flexionsformen gilt, dass sie zusammen mit dem entsprechenden Lexem gelernt und separat im Lexikon abgespeichert werden müssen. 4.1 Ausdrucksmittel Sprachen variieren nicht nur hinsichtlich der Flexionskategorien, die sie markieren, sondern auch hinsichtlich der Mittel, die sie zu diesem Zweck einsetzen. Das Deutsche macht hier vor allem von Suffixen Gebrauch. So werden Kasus, Numerus, Tempus, Kongruenz (an Verben und Adjektiven) sowie die Steigerungsformen von Adjektiven primär durch die Hinzufügung von Flexionsendungen markiert. Ein präfigales Bildungselement (ge-) tritt beim Partizip II (Partizip Perfekt) auf, allerdings nur im Zusammenhang mit den Suffixen -t (schwache Verben, ge-kauf-t) und -en (starke Verben, ge-sung-en). 34 Neben Affixen werden im Deutschen auch Veränderungen des Wortstamms zur Markierung von Flexionseigenschaften eingesetzt. Dabei sind zunächst Änderungen des Stammvokals zu nennen, wobei man zwischen Ablaut und Umlaut unterscheiden muss. Der Begriff Ablaut bezeichnet eine Stammalternation, die bei sog. starken Verben (vgl. 4.2) auftritt. Dabei wird ein Grundvokal nach bestimmten Ablautreihen (vgl. 2.3.2) durch einen anderen Grundvokal 34 Die Verwendung des unbetonten Präfixes gezur Bildung des Partizips II unterliegt einer morphophonologischen Bedingung: Bei Verben, die bereits eine unbetonte Anfangssilbe aufweisen, kann genicht stehen: bewiesen, erobert, überredet, verschlissen, zerstört usw. 73 4.2 Verbale Flexion (Konjugation) ersetzt (ich spreche-- ich sprach-- ich habe gesprochen). Unter Umlaut versteht man einen Vokalwechsel, dem in der Schreibung der Wechsel von a, o, u, au → ä, ö, ü, äu entspricht. Dabei wird der Stammvokal durch einen entsprechenden Vordervokal ersetzt; Vokale wie e oder i, die bereits im vorderen Mundraum artikuliert werden, sind vom Umlaut nicht betroffen. Seltener sind Veränderungen, die die Konsonantenstruktur des Stamms betreffen (ich denke, ich dachte; ich esse, ich habe ge-gess-en; ich habe, ich hatte). Bei sog. Suppletivformen bestehen noch weniger phonologische Gemeinsamkeiten zwischen den flektierten Formen; es findet ein vollständiger Austausch des Stamms statt (ich bin, ich war), der historisch darauf zurückzuführen ist, dass die Wortformen aus dem Zusammenfall der Flexionsparadigmen von zwei (oder mehr) Stämmen hervorgegangen sind. 4.2 Verbale Flexion (Konjugation) Finite Verben signalisieren im Deutschen die Merkmale Person, Numerus, Modus und Tempus: 69 unterscheiden muss. Der Begriff Ablaut bezeichnet eine Stammalternation, die bei sog. starken Verben (vgl. 4.2) auftritt. Dabei wird ein Grundvokal nach bestimmten Ablautreihen (vgl. 2.3.2) durch einen anderen Grundvokal ersetzt (ich spreche - ich sprach - ich habe gesprochen). Beim Umlaut wird der Stammvokal durch einen entsprechenden Vordervokal ersetzt (a → ä: der Nagel, die Nägel; o → ö: die Not, die Nöte; u → ü: der Zug, die Züge; au → äu: die Laus, die Läuse). Vokale wie e oder i, die bereits im vorderen Mundraum artikuliert werden, sind vom Umlaut nicht betroffen: 32 Seltener sind Veränderungen, die die Konsonantenstruktur des Stamms betreffen (ich denke, ich dachte; ich esse, ich habe ge-gess-en; ich habe, ich hatte). Bei sog. Suppletivformen bestehen keinerlei phonologische Gemeinsamkeiten zwischen den flektierten Formen; es findet ein vollständiger Austausch des Stamms statt (ich bin, ich war), der historisch darauf zurückzuführen ist, dass die Wortformen aus dem Zusammenfall der Flexionsparadigmen von zwei (oder mehr) Stämmen hervorgegangen sind. 4.2 Verbale Flexion (Konjugation) Finite Verben signalisieren im Deutschen die Merkmale Person, Numerus, Modus und Tempus: +finit Person Numerus Modus Tempus 1. 2. 3. Singular Plural Indikativ Konjunktiv Imperativ Präsens Präteritum Abbildung 5: Merkmale finiter Verben im Deutschen Verbformen, die keine Markierungen für Person, Numerus, Modus und Tempus aufweisen, werden als nicht-finite oder infinite Verbformen bezeichnet. Dazu gehören im Deutschen der Infinitiv (singen), das Partizip I (singend) und 32 Der Ausdruck Umlaut bezeichnet nicht nur den besprochenen Vokalwechsel, sondern auch die entsprechende Vokalklasse (d.h., ä, ö, ü, äu). Historisch geht der Umlaut auf eine phonologische Regel zurück, die einen Stammvokal an einen Vordervokal in der Folgesilbe anpasste und noch im Althochdeutschen wirksam war (gast ‚Fremder.sg’ → gesti ‚Fremder.pl’) Abbildung 5 : Merkmale finiter Verben im Deutschen Verbformen, die keine Markierungen für Person, Numerus, Modus und Tempus aufweisen, werden als nicht-finite oder infinite Verbformen bezeichnet. Dazu gehören im Deutschen der Infinitiv (singen), das Partizip I (singend) und das Partizip II (gesungen). Die Infinitivendung- -en und die Partizipmorphologie (ge- + -en/ -t) müssen aber dennoch als Flexionsendungen betrachtet werden, da sie wie andere Flexionselemente vollständig systematisch sind (so kann von jedem Verb ein Infinitiv oder ein Partizip gebildet werden) und in komplementärer Verteilung mit anderen Flexionsendungen stehen (z. B. können die Konjugationssuffixe nicht an -en angehängt werden). Es ist also wichtig, dass man den Begriff der „finiten“ Verbform nicht mit dem Begriff der „flektierten“ Verbform verwechselt, da auch der Infinitiv und die Partizipien durch Flexions- 74 4 Flexion mittel gebildet werden. Die nicht-finiten Verbformen werden im Deutschen zusammen mit flektierten Formen von Hilfsverben wie haben, sein und werden zur Bildung der zusammengesetzten sog. analytischen Tempus- und Modusformen wie Perfekt (ich habe gesungen), Futur (ich werde singen) oder Konjunktiv II (ich würde singen) verwendet. Finite Verben treten im Deutschen in den durch Mittel der Flexion gebildeten synthetischen Tempusformen Präsens und Präteritum auf und werden primär durch die Verkettung von Verbstämmen mit Flexionssuffixen gebildet. Dabei lässt sich eine klare lineare Reihenfolge erkennen. Wie in (65) illustriert, wird zunächst die Tempusmarkierung an den Stamm angefügt, bevor anschließend die Kongruenzendung hinzutritt (die Person und Numerus des Subjekts signalisiert): (65) Verbstamm+Tempus+Kongruenz: (du) sag+te+st Außerdem können Tempus, Modus und Partizipstatus durch Veränderung des Verbstamms signalisiert werden. Hier ist vor allem der Wechsel des Grundvokals im Zusammenhang mit Ablautreihen zu nennen (singen-- sang-- gesungen). Abhängig von den morphologischen Mitteln, die zur Bildung von Tempus, Modus und Partizip Perfekt herangezogen werden, lassen sich die Verben des Deutschen in schwache Verben und starke Verben unterteilen (vgl. z. B. Duden 2016 für eine detailliertere Übersicht, die weitere Teilklassen berücksichtigt). Ein Spezialfall (unregelmäßiger) starker Verben sind sog. Suppletivformen, wie sie beispielsweise bei dem Hilfsverb sein auftreten: Schwache Verben: lieben Starke Verben singen Suppletion: sein Präs. Indik./ Konj.I Prät. Indik./ Konj. II Präs. Indik./ Konj.I Prät. Indik./ Konj. II Präs. Indik./ Konj.I Prät. Indik./ Konj. II 1sg liebe liebte singe sang/ sänge bin / sei war / wäre 2sg liebst/ liebest liebtest singst/ singest sangst/ sängest bist/ sei(e)st war-st/ wär(e)st 3sg liebt/ liebe liebte singt/ singe sang/ sänge ist / sei war / wäre 75 4.2 Verbale Flexion (Konjugation) Schwache Verben: lieben Starke Verben singen Suppletion: sein Präs. Indik./ Konj.I Prät. Indik./ Konj. II Präs. Indik./ Konj.I Prät. Indik./ Konj. II Präs. Indik./ Konj.I Prät. Indik./ Konj. II 1pl lieben liebten singen sangen/ sängen sind/ seien waren/ wären 2pl liebt / liebet liebtet singt/ singet sangt/ sänget seid/ seiet wart/ wär(e)t 3pl lieben liebten singen sangen/ sängen sind/ seien waren/ wären Partizip Präsens liebend singend seiend Partizip Perfekt geliebt gesungen gewesen Tabelle 7: Konjugationsklassen im Deutschen Die starken Verben markieren im Gegensatz zu den schwachen Verben Flexionsunterschiede durch Stammvokaländerung. Im Präteritum ersetzt der Ablaut die Präteritumendung -t(e), die für schwache Verben charakteristisch ist; bei starken Verben stellt er in der 1sg / 3sg Präteritum Indikativ das einzige Mittel zum Ausdruck der Flexionseigenschaften dar. Ferner unterscheiden sich schwache und starke Verben hinsichtlich des Inventars an synthetisch gebildeten Konjunktivformen. Während starke Verben noch weitgehend Präteritum (Indikativ) und Konjunktiv II unterscheiden, 35 fallen bei den schwachen Verben die entsprechenden Formen zusammen. Allerdings gibt es eine generelle Tendenz in der deutschen Gegenwartssprache, anstatt der synthetischen Konjunktivformen analytische Bildungen mit würde zu verwenden (Duden 2016: 550 ff.). Tabelle 8 fasst die Unterschiede zwischen starken und schwachen Verben zusammen. 36 35 Eine Ausnahme bilden starke Verben, deren Präteritumformen mit dem Stammvokal i / ie gebildet werden (lassen-- ließen, schneiden-- schnitten). 36 Auch einige schwache Verben zeigen Stammalternationen. So treten bei bringen und denken im Präteritum (das wie bei anderen schwachen Verben mit -te gebildet wird) und Partizip II sowohl Vokalals auch Konsonantenwechsel auf (brachte, gebracht; dachte, gedacht). Bei rennen, kennen, nennen, brennen ändert sich ebenfalls der Stammvokal im Präteritum und Partizip II (rennen, rannte, gerannt). Dieses Phänomen wird Rückumlaut genannt und geht historisch auf einen phonologischen Prozess zurück, der in den Präsensformen den Stammvokal an einen nachfolgenden Vordervokal (i / j) anpasste. 76 4 Flexion Ablaut Präteritum mittels -te Partizip II : ge-V-en Partizip II : ge-V-t Präteritum Indik. = Konj. II starke Verben ✓ ✕ ✓ ✕ ✕ schwache Verben ✕ ✓ ✕ ✓ ✓ Tabelle 8: Starke vs. schwache Verben im Deutschen Im Gegenwartsdeutschen ist nur noch das schwache Bildungsmuster produktiv, d. h. Neubildungen zeigen stets die charakteristischen Eigenschaften der schwachen Verben (vgl. ich sims-e, ich sims-te, ich habe ge-sims-t). Es gibt aber noch ca. 170 starke Verben, von denen viele zum Grundwortschatz gehören und daher besonders häufig verwendet werden. Neben den erwähnten Unterschieden zwischen schwachen und starken Verben lassen sich allerdings auch einige verbklassenübergreifenden Gemeinsamkeiten beobachten. Diese betreffen vor allem den systematischen Zusammenfall bestimmter Flexionsformen (vgl. Tabelle 7). Die resultierenden Synkretismus- Muster sind für das verbale Flexionssystem des Deutschen charakteristisch: ▶ In allen Tempora und Modi fallen die Formen für 1pl und 3pl zusammen. Es werden also Unterschiede hinsichtlich des Merkmals Person neutralisiert; die Endung--en zeigt lediglich Plural an. ▶ Im Präteritum fallen 1sg und 3sg zusammen. Auch hier wird also ein Kontrast zwischen verschiedenen Werten für das Merkmal Person kontextbedingt aufgehoben. ▶ 3sg und 2pl sind im Präsens Indikativ oft identisch (er / sie / es legt, ihr legt; er / sie / es singt, ihr singt). Dieser Effekt ist aber nicht vollständig systematisch (vgl. sein: 3sg ist, 2pl seid; laufen: 3sg läuft, 2pl lauft; schlafen: 3sg schläft, 2pl schlaft). Wenn man den Zusammenfall von Formen theoretisch erfassen möchte, muss man erklären, wie es dazu kommt, dass ein Flexionselement mit mehreren konfligierenden Merkmalswerten kompatibel ist. Dabei wird oft angenommen, dass die betreffende Form für bestimmte morphosyntaktische Merkmale unterspezifiziert ist (also keine entsprechenden Merkmalwerte signalisiert). So wird die Tatsache, dass die Pluralendung -en sowohl mit der 1. als auch mit der 3. Person auftritt, in der Regel darauf zurückgeführt, dass -en für das Merkmal 77 4.3 Nominale Flexion (Deklination) Person unterspezifiziert ist. Der Begriff der Unterspezifikation drückt ferner aus, dass es sich bei Synkretismen um eine fehlende Übereinstimmung (engl. mismatch) zwischen Syntax und Morphologie handelt, die dadurch zustandekommt, dass die Morphologie nur eine Teilmenge der Merkmalsunterscheidungen reflektiert, die in der Syntax repräsentiert sind. 37 4.3 Nominale Flexion (Deklination) Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Merkmale, die im Deutschen für die Deklination relevant sind. Lediglich Numerus und Kasus spielen für alle Typen eine Rolle. Genus (maskulin, feminin, neutral) wird nur bei Pronomen und Adjektiven sichtbar markiert. Personunterscheidungen (1., 2., 3.) finden sich nur bei Personal-, Reflexiv- und Possessivpronomen (es handelt sich aber dabei weniger um Flexionsmerkmale, sondern vielmehr um lexikalische Eigenschaften der entsprechenden Pronomen). Steigerungsformen (Komparativ, Superlativ) existieren nur für Adjektive. Numerus Kasus Genus Person Komparation Substantive ✓ ✓ ✕ ✕ ✕ Artikelwörter und Pronomen ✓ ✓ ✓ ( ✓ ) ✕ Adjektive ✓ ✓ ✓ ✕ ✓ Tabelle 9: Verteilung nominaler Flexionsmerkmale im Deutschen Dabei muss man unterscheiden zwischen lexikalischen Merkmalen der jeweiligen Elemente und solchen, die durch Flexionsmittel markiert werden. So handelt es sich bei Genus um eine lexikalisch festgelegte Eigenschaft von Substantiven (mask./ fem./ neut.), die jedoch nicht am Substantiv selbst markiert wird. Der entsprechende Merkmalswert tritt nur dann in Erscheinung, wenn er an anderen Elementen wie Artikeln als Resultat von Kongruenzprozessen markiert wird (der Mond [Genus: mask.]). Generell gilt, dass Artikelwörter, Pronominalformen und stark flektierende Adjektive recht viele Merkmals- 37 Dieser Ansatz setzt voraus, dass man zwischen syntaktischen Wörtern (stets voll spezifiziert, vgl. Abschnitt 2.2) und Wortformen (potentiell unterspezifiziert) unterscheiden muss. 78 4 Flexion unterscheidungen signalisieren, während Substantive und schwach flektierende Adjektive ein stark reduziertes Formeninventar aufweisen. 4.3.1 Substantive Ähnlich wie bei den finiten Verben lassen sich auch bei Substantiven verschiedene Flexionsmuster erkennen, nach denen sich eine Einteilung in verschiedene Flexionsklassen bzw. Deklinationsklassen vornehmen lässt. Abhängig von der Zahl und Art der auftretenden Flexionsendungen lassen sich vier Hauptklassen der Substantivflexion im Deutschen unterscheiden (Wiese 2013): Ia stark, Normalplural: N [+fem.] : -(e)n sonst: -(e) Ib stark, Umlautplural: N [+neut.] : -er+Umlaut sonst: -(e)+Umlaut Ic stark, Sonderplural: -s II schwach, Plural: -en (= Sing. Akk / Dat / Gen) Sg Pl Sg Pl Sg Pl Sg Pl Nom Berg Berge Baum Bäume Snob Snobs Bär Bären Akk Berg Bergen Baum Bäume Snob Snobs Bären Bären Dat Berg(e) Berge Baum(e) Bäumen Snob Snobs Bären Bären Gen Berg(e)s Berge Baum(e)s Bäume Snobs Snobs Bären Bären Nom Frau Frauen Hand Hände Auto Autos Hase Hasen Akk Frau Frauen Hand Hände Auto Autos Hasen Hasen Dat Frau Frauen Hand Händen Auto Autos Hasen Hasen Gen Frau Frauen Hand Hände Autos Autos Hasen Hasen Nom Segel Segel Haus Häuser Anna Annas Klient Klienten Akk Segel Segel Haus Häuser Anna Annas Klienten Klienten Dat Segel Segeln Haus Häusern Anna Annas Klienten Klienten Gen Segels Segel Hauses Häuser Annas Annas Klienten Klienten Tabelle 10: Deklinationsklassen (Substantivflexion) des Deutschen 79 4.3 Nominale Flexion (Deklination) Wie aus Tabelle 10 ersichtlich, umfasst die Substantivflexion des Deutschen lediglich vier ‚echte‘ Kasusendungen: ▶ Genitiv Singular -(e)s (Maskulina, Neutra, Eigennamen) 38 ▶ Dativ -e (Maskulina / Neutra, im Schwinden begriffen) ▶ Dativ Plural -n ▶ ein unspezifisches Kasus-Numerus-Allgemeinflektiv -(e)n, das überall, außer im Nominativ Singular, erscheinen kann Hinzu kommt eine Auswahl an Pluralendungen, deren Wahl wesentlich vom lexikalischen Genus des Substantivs bestimmt wird (s. u.). Die Pluralendungen signalisieren allerdings keinen Kasus. In Anlehnung an Wiese (2013) lässt sich das System der Substantivflexion am ökonomischsten beschreiben, wenn man zunächst eine grundsätzliche Einteilung in stark und schwach flektierende Substantive vornimmt und anschließend die Klasse der starken Nomen anhand der Unterschiede bei der Pluralbildung weiter untergliedert. 39 Für jedes Substantiv gibt es eine unflektierte Stammform, die im Nominativ Singluar verwendet wird. Darüber hinaus kann an jedes Substantiv eine Numerusendung herantreten, an die ggf. noch eine Kasusmarkierung affigiert werden kann. Bei schwachen Substantiven sind die Singularformen (mit Ausnahme des Nominativs) mit der Pluralform identisch. Dabei tritt nur das relativ unspezifische allgemeine Kasus-Numerusflexiv -(e)n 38 Die Markierung des Genitivs an Substantiven unterliegt Schwankungen, die z.T. auch zu Unsicherheiten bei Sprechern führen (vgl. Duden 2016, Randnummern 307-316). Als normgerecht eingestuft wird üblicherweise die Variation zwischen der langen Genitivendung -es und der kurzen Genitivendung -s bei bestimmten starken Substantiven (des Verstand-s vs. des Verstand-es) sowie die Variation zwischen -s und Nullmarkierung bei bestimmten Fremdwörtern und Eigennamen (des alten Europas vs. des alten Europa). Die Verteilung der Varianten ist dabei jeweils von einer Vielzahl von phonologischen, morphologischen und lexikalischen Faktoren abhängig, die wir aber an dieser Stelle nicht ausführlich diskutieren können (vgl. Konopka / Fuß 2016 für Details). Ein Beispiel für eine nicht-normgerechte Markierung des Genitivs ist die Ausbreitung der s-Endung auf bestimmte schwache Maskulina, die den Genitiv Singular auf -en bilden (des Menschen-s, des Bären-s, des Hasen-s usw.). 39 Man beachte, dass die vorliegende Beschreibung mittels Deklinationklassen von der Darstellung in der Dudengrammatik abweicht, welche die Kasusflexion von der Pluralflexion (die als eigene Flexionsklasse betrachtet wird) abtrennt und für den Substantivbestand des Deutschen von Flexionsklassen mit einem jeweils homogenen Inventar von Kasusflexiven ausgeht. Eine ausführliche Diskussion der Vor- und Nachteile dieser unterschiedlichen Beschreibungsansätze kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. 80 4 Flexion auf. Ansonsten finden sich keine weiteren Kasusmarkierungen. Damit ähnelt die Flexion der schwachen Substantive der schwachen Adjektivflexion (vgl. Abschnitt 4.3.3). 40 Bei den schwachen Substantiven handelt es sich durchweg um Maskulina. Die Klasse der starken Substantive zeichnet sich dadurch aus, dass (i) Singular- und Pluralformen in der Regel distinkt sind und (ii) dass neben der Pluralmarkierung noch Kasusflexive auftreten können. Dabei handelt es sich- - wenn man vom aussterbenden Dativ Singular -e abstrahiert- - um das Flexiv -(e)s, das bei Maskulina, Neutra und Eigennamen Genitiv Singular signalisiert, 41 und das Flexiv -n im Dativ Plural. Wie bereits erwähnt, kann die Klasse der starken Substantive auf der Basis der verwendeten Pluralflexive weiter unterteilt werden. Die größte Teilklasse aller starken Substantive (ca. 75 % aller Lexeme) bildet den Plural mithilfe der Flexive -(e) und -(e)n. Dabei erscheint -(e)n in der Regel bei Feminina (Frau-en). Enthält die finale Silbe der Stammform ein Schwa (d. h. den Laut [ə]), so wird die verkürzte Endung -n verwendet (Schachtel-n, vgl. auch Fn. 40). 42 Bei Maskulina und Neutra erscheint hingegen die minimale Flexionsendung -(e), die auch ganz wegfallen kann, wenn die finale Silbe bereits ein Schwa enthält (das Segel, die Segel). Aufgrund der Häufigkeit dieser Bildungsvarianten kann man auch vom „Normalplural“ sprechen (Klasse Ia in Tabelle 10). Vor allem im Bereich des Grundwortschatzes findet sich eine aufwendigere Pluralisierungsstrategie, in der zusätzlich zur Pluralendung noch eine Umlautung des Stammvokals erfolgt (Klasse Ib in Tabelle 10). Der Stammvokalwechsel 40 Die Variation zwischen -en und -n kann wiederum auf eine phonologische Regularität zurückgeführt werden, die verhindert, dass ein Schwa-haltiges Flexiv an eine Silbe affigiert wird, die ebenfalls ein Schwa enthält (Hase-n, Bär-en). Aufgrund des sog. ‚Geminatenverbots‘, das im Deutschen Konsonantenverdoppelungen bei Endungen ausschließt, ist ferner die Affigierung von -(e)n an Substantive blockiert, die bereits auf -en enden (*Wagen-n). 41 Aufgrund dieser Beschränkung der Genitivendung bleiben feminine Substantive im Genitiv Singular endungslos. Das Genitiv-s steht aber bei femininen Eigennamen (Anna-s, Klara-s etc.) und Verwandtschaftsbezeichnungen in eigennamenähnlicher Verwendung (Mutter-s). 42 Es gibt allerdings auch einige starke Maskulina (Strahl, Staat) oder Neutra (Ende, Bett), die den -(e)n-Plural nehmen. Diese müssen als lexikalische Ausnahmen separat gelernt werden (traditionell spricht man dabei auch von „gemischter“ Flexion, da hier neben der „schwachen“ Pluralendung auch das für starke Substantive charakteristische Genitiv-s auftritt). 81 4.3 Nominale Flexion (Deklination) ist aber im Gegenwartsdeutschen nicht mehr produktiv. Im Zusammenhang mit dem Umlautplural tritt neben der minimalen Schwa-Endung (Bäume, Hände) das Suffix--er auf, das typischerweise mit Neutra verwendet wird (Häuser, Kinder), aber ausnahmehaft auch bei einigen Maskulina auftritt (Wälder, Männer). Bei Substantiven wie Kinder, die bereits einen vorderen Stammvokal aufweisen, kann die Umlautregel nach Affigierung von -er nicht greifen (vgl. auch 4.1). Ferner gilt, dass bei (starken) Substantiven, die bereits im Singular auf -er enden, keine „doppelte“ Suffigierung von -er stattfindet, sondern ggf. nur der Umlaut auftritt (die Mutter, die Mütter; das Muster, die Muster). Die Wahl des Pluralsuffixes wird aber nicht nur von der Stark / schwach- Unterscheidung und dem Genus des Substantivs beeinflusst. Ein weiterer Faktor ist die Integration des Lemmas in das Flexionssystem. So wird der Plural von Substantiven, die im weitesten Sinne einen Sonderstatus besitzen wie Fremdwörter (Autos), Eigennamen (Annas) oder Abkürzungen ( CD s), in der Regel durch Hinzufügung eines -s gebildet. 43 Im Gegensatz zum Umlautplural ist diese Bildungsvariante voll produktiv, aber in der Regel auf neue bzw. entlehnte Substantive beschränkt. Auffällig ist, dass mit -s gebildete Pluralformen im Gegensatz zu anderen starken Substantiven kein weiteres Kasusflexiv mehr tragen können (*Autosn). Wie ein Blick auf Tabelle 10 zeigt, sind die Substantivparadigmen des Deutschen von einem massivem Zusammenfall der Formen gekennzeichnet. So sind-- abgesehen vom Singular der schwachen Nomen-- die Formen für Nominativ und Akkusativ in der Regel identisch; bei den meisten Feminina wird lediglich zwischen Singular und Plural unterschieden, d. h. es sind überhaupt keine Kasusunterscheidungen mehr sichtbar. Eine eindeutigere Markierung von Kasusmerkmalen ist im Deutschen aber dennoch durch das Zusammenspiel der Flexion an Artikeln, Adjektiven und Substantiven möglich (sog. Wortgruppenflexion, vgl. 4.3.2 und 4.3.3). 43 Auch hier gibt es Ausnahmen. So kann bei Computer die letzte Silbe -er offenbar auch als Pluralmarkierung fungieren (die Computer, *die Computers). Bei anderen Entlehnungen wie Token tritt sowohl die Tokens als auch die Token als Pluralvariante auf. 82 4 Flexion 4.3.2 Artikelwörter und Pronomen Wir haben bereits angedeutet, dass Pronomen mehr Flexionsunterscheidungen signalisieren als Substantive. Dies wird in Tabelle 10 am Beispiel des Formeninventars der Personalpronomen illustriert. Das Paradigma ist nicht nur durch ein wesentlich ausgeprägteres System an Kasusunterscheidungen charakterisiert (so werden in der 1. und 2. Person Singular sowie in der 3. Person Maskulin Singular alle vier Kasus unterschieden), sondern zeigt darüber hinaus unterschiedliche Formen abhängig von den Merkmalen Person (1., 2., 3.) und Genus (in der 3. Person Singular: Maskulin, Feminin, Neutrum). Die Formen der 3. Plural finden zusätzlich noch als höfliche Anrede Verwendung. 44 Singular Plural 1. Person 2. Person 3. Person 1. Person 2. Person 3. Person Mask. Fem. Neut. Nom. ich du er sie es wir ihr sie Akk. mich dich ihn sie es uns euch sie Dat. mir dir ihm ihr ihm uns euch ihnen Gen. meiner deiner seiner ihrer seiner uns(er) er eu(r)er ihrer Tabelle 11: Personalpronomen des Deutschen Auch das relativ reiche System der Personalpronomen weist eine Reihe von Synkretismen auf. Generell gilt, dass in der 3. Pers. Sing. (mit Ausnahme der mask. Formen) und im Plural weniger Unterscheidungen signalisiert werden: ▶ In der 3. Person Singular Feminin / Neutrum und 3. Person Plural fallen die Formen für Nominativ und Akkusativ zusammen. ▶ In der 1. und 2. Person Plural wird die Unterscheidung zwischen Akkusativ und Dativ neutralisiert. ▶ Im Plural werden generell keine Genusmerkmale kodiert. 44 Wie in Tabelle 11 gezeigt treten im Genitiv der 1. und 2. Person Plural neben unser und euer auch die erweiterten Formen unserer und eurer auf. Diese werden in einigen Grammatiken abgelehnt, sind aber heute in der Standardsprache durchaus geläufig. 83 4.3 Nominale Flexion (Deklination) Eine ähnlich reiche Flexion findet sich bei Artikelwörtern und anderen Pronomen. Etwas vereinfachend spricht man hierbei auch von der sog. pronominalen Flexion, die sich durch das folgende Grundmuster auszeichnet: Singular Plural Maskulin Neutrum Feminin Nom. -er -es -e -e Akk. -en Dat. -em -er -en Gen. -es -er Tabelle 12: Pronominale Flexion im Deutschen, Grundmuster Das Paradigma in Tabelle 12 gilt für die Demonstrativpronomen dies-, jen- und solch-, die Possessivformen (mit Abweichungen für den Gebrauch als Artikelwort, vgl. dein Mann / Auto ohne Nom./ Akk.-Endung), das W-Pronomen welch-, das Indefinitpronomen ein- und das quantifizierende Pronomen kein-. Auffällig ist dabei zum einen, dass bei der pronominalen Flexion die gleichen Synkretismen auftreten, die uns auch bereits bei den Personalpronomen begegnet sind (vgl. Tabelle 11; in der pronominalen Flexion fallen zusätzlich Dativ und Genitiv Sing. Fem. zusammen). Zum anderen ist zu beachten, dass das Paradigma bei näherer Betrachtung weniger reich ist, als es zunächst wirken mag: Insgesamt treten nur fünf Endungen auf (-e, -er, -en, -em, -es), die sich auf 16 Zellen im Paradigma verteilen. Die Verteilung der Endungen ist dabei nicht zufällig, sondern folgt bestimmten Mustern, die Rückschlüsse auf den Merkmalsgehalt der einzelnen Endungen zulassen. So tritt -e nur im Nominativ / Akkusativ auf, während -em auf Mask./ Neut. Sing. beschränkt ist und eindeutig Dativ signalisiert. Auch hier lässt sich der Zusammenfall der Formen durch das Instrument der Unterspezifikation beschreiben. So kann die Verteilung der Endung -e erfasst werden, wenn man annimmt, dass -e sowohl für den Unterschied Nom. vs. Akk. als auch für Numerus unterspezifiziert ist. Eine genauere Betrachtung der Synkretismen kann aber an dieser Stelle nicht geleistet werden (vgl. Duden 2016, Randnummer 355 für weitere Details). Bei einigen Pronominaltypen finden sich abweichende Formeninventare. So liegt bei den einfachen (interrogativen) W-Pronomen lediglich eine binäre Genusunterscheidung vor (wer vs. was), wobei der Merkmalswert Maskulin impliziert, dass der Referent belebt bzw. menschlich ist. Ferner zeichnen sich 84 4 Flexion einfache W-Pronomen im Deutschen dadurch aus, dass sie keine Numerusunterscheidungen signalisieren und dass die Form was als Dativ des Neutrums nur bedingt genutzt werden kann, vgl. (66). Maskulin (+belebt) Neutrum (-belebt) Nom. wer was Akk. wen was Dat. wem (was) Gen. wessen wessen Tabelle 13: Einfache W-Pronomen im Deutschen (66) a. *Was hat Peter die Kinder ausgesetzt? b. Mit was hat Peter nicht gerechnet? (schriftsprachlich: Womit…? ) Das Formeninventar von demonstrativen Artikelwörtern und Pronomen (sog. D-Pronomen) ähnelt sehr stark dem Grundmuster in Tabelle 12. Abweichungen gibt es aber bei pronominalem Gebrauch (als Demonstrativ- oder Relativpronomen). Hier treten im Genitiv und Dativ Plural Langformen auf (Form des Artikels + -en bzw. -er). Im Genitiv Sing. Fem. und Genitiv Plural existieren dabei zwei konkurrierende Formen (vgl. Duden 2016: 281 ff. für Details). Singular Plural Maskulin Neutrum Feminin Nom. der Mann das Kind die Frau die Kinder Akk. den Mann das Kind die Frau die Kinder Dat. dem Mann dem Kind der Frau den Kindern Gen. des Mannes des Kindes der Frau der Kinder Nom. der das die die Akk. den das die die Dat. dem dem der denen Gen. dessen dessen deren / derer deren / derer Tabelle 14: Definite Artikel und demonstrative D-Pronomen 85 4.3 Nominale Flexion (Deklination) Dadurch, dass Artikelwörter und Pronominalformen relativ viele Unterscheidungen signalisieren, kann das Fehlen distinktiver Kasusendungen bei Substantiven im Rahmen der sog. Wortgruppenflexion im Deutschen kompensiert werden. Dabei werden Kasus, Numerus und Genus durch das Zusammenspiel mehrerer Flexive innerhalb der Nominalgruppe signalisiert (vgl. Duden 2016: 953 ff.). In (67a) markiert der Artikel eindeutig Dativ Singular; der Genus-Wert [Neutrum] wird durch das Substantiv beigesteuert (aber nicht sichtbar am Substantiv markiert). In (67b) sind die Endungen -e (am Demonstrativum) und -en (am Adjektiv) beide relativ unspezifisch und mit unterschiedlichen Kontexten kompatibel; miteinander kombiniert signalisieren sie aber Nom./ Akk. Plural (wobei Plural zusätzlich noch am Substantiv kodiert wird). (67) a. dem Kind b. dies-e alt-en Bäum-e (67b) zeigt zudem, dass die Flexionsendungen an Adjektiven nicht mit der pronominalen Flexion identisch sind, vgl. den folgenden Abschnitt für Details. 4.3.3 Adjektive Die Flexion des Adjektivs richtet sich nach zwei Arten von Merkmalen. Zum einen können typische Adjektive gesteigert werden. 45 Das Merkmal Komparation kann die Werte Positiv (ungesteigerte Form), Komparativ (Adjektiv+-er-) und Superlativ (Adjektiv+(e)st-) annehmen. Zum anderen stimmen attributiv gebrauchte Adjektive in Kasus, Numerus und Genus mit dem Substantiv überein, das sie modifizieren; 46 prädikativ gebrauchte Adjektive bleiben unflektiert (mit groß-em Vergnügen vs. Das Vergnügen war groß). Da für attributive Adjektive die gleichen Merkmale relevant sind wie für nominale Kategorien, wird die adjektivische Flexion der Deklination / nominalen Flexion zugerechnet. Die ad- 45 Zu den Ausnahmen gehören Adjektive, die etwas Einzigartiges oder ein Höchstmaß ausdrücken (einzig, maximal), oder eine Eigenschaft bezeichnen, die nicht zu unterschiedlichen Graden vorliegen kann (vermeintlich, ehemalig). Morphologisch begründet ist das Fehlen von Steigerungsformen bei zusammengesetzten Adjektiven wie betriebsblind, steindumm, uralt (vgl. Duden 2016, Randnummer 508). 46 Substantivierte Adjektive (das Gute / ein Gutes) werden ebenfalls wie attributive Adjektive dekliniert (und nicht wie andere Substantive). Die Art der Deklination ist also abhängig von der Lexemklasse eines Elements (und nicht von seiner syntaktischen Kategorie / Wortart). 86 4 Flexion jektivische Flexion zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie eine Stark / schwach- Alternation zeigt, die vom syntaktischen Kontext abhängig ist. Dabei gilt die folgende Grundregel (Duden 2016: 368): Starke vs. schwache Flexion von Adjektiven: Wenn dem Adjektiv ein flektiertes Artikelwort vorangeht, wird das Adjektiv schwach flektiert, sonst stark. Die starke Adjektivflexion tritt z. B. dann auf, wenn das Adjektiv direkt einer Präposition folgt (mit großem Vergnügen). Das Inventar der starken Endungen ist in Tabelle 15 wiedergegeben. Singular Plural Maskulin Neutrum Feminin Nom. gut-er Wein gut-es Bier gut-e Suppe gut-e Freunde Akk. gut-en Wein gut-en Bier gut-e Suppe gut-e Freunde Dat. gut-em Wein gut-em Bier gut-er Suppe gut-en Freunden Gen. gut-en Weins gut-en Biers gut-er Suppe gut-er Freunde Tabelle 15: Adjektivflexion, starke Endungen (am Beispiel von gut) Die starke Adjektivflexion stimmt in wesentlichen Zügen mit dem Grundmuster der pronominalen Flexion überein. Die einzige Ausnahme besteht darin, dass die adjektivische Flexion im Genitiv Singular Maskulin / Neutrum nicht -es, sondern -en aufweist. Ein stark reduziertes Muster tritt zutage, wenn dem Adjektiv ein flektiertes Artikelwort vorangeht. Das Inventar der schwachen Endungen umfasst nur zwei (stark unterspezifizierte) Formen (-en, -e): Singular Plural Maskulin Neutrum Feminin Nom. der gut-e Wein das gut-e Bier die gut-e Suppe die gut-en Freunde Akk. den gut-en Wein das gut-e Bier die gut-e Suppe die gut-en Freunde Dat. dem gut-en Wein dem gut-en Bier der gut-en Suppe den gut-en Freunden Gen. des gut-en Weins des gut-en Biers der gut-en Suppe der gut-en Freunde Tabelle 16: Adjektivflexion, schwache Endungen 87 4.4 Die Kasusbestimmung - Über den Tellerrand der Frageprobe blicken In Kombination mit bestimmten Artikelwörtern wie ein, mein, kein, die im Nom. Sing. Mask. und Nom./ Akk. Sing. Neut. unflektiert bleiben, tritt am Adjektiv eine Mischung aus starker und schwacher Flexion auf, je nachdem, ob die Flexion bereits am Artikelwort markiert ist oder nicht (kein gut-er Wein, aber kein-em gut-en Wein). Ferner gibt es Kontexte, in denen die Wahl zwischen starker und schwacher Adjektivflexion Schwankungen unterliegt. Probleme bereiten z. B. Adjektivreihungen im Dativ Sing. (vor allem Mask./ Neut.) wie mit großem nachhaltig-em Erfolg vs. mit großem nachhaltig-en Erfolg (erwartet wäre hier die starke Form; vgl. Duden 2016, Randnummern 1526-1529). 4.4 Die Kasusbestimmung - Über den Tellerrand der Frageprobe blicken Grammatische Proben nehmen im Unterricht einen festen Platz ein. Sie sind als eine Art Werkzeug 47 zu verstehen, mit dem wir sprachliche Erscheinungen noch deutlicher hervortreten lassen können. Mit dem Sprachmaterial wird gearbeitet, indem gezielt etwas weggelassen, ergänzt oder ersetzt wird. Für die Ermittlung des Kasus wird in nahezu jedem Lehrwerk die Frageprobe vorgeschlagen: Frageprobe: Der zu untersuchende nominale Ausdruck wird durch ein Interrogativpronomen ersetzt, sodass ein Fragesatz ensteht. An dem herangezogenen Pronomen lässt sich schließlich der Kasus ablesen (wer / was = Nominativ; wessen = Genitiv usw.). (68) Der Schlüssel liegt auf dem Tisch. → Wer / Was liegt auf dem Tisch? Der Schlüssel steht im Nominativ. Wie in der sprachdidaktischen Literatur vielfach herausgearbeitet und an Beispielen vorgeführt wurde (vgl. z. B. Granzow-Emden 2006), weist die Frageprobe jedoch einige Tücken auf: Neben Fragen, die dem Sprachgefühl entgegenlaufen (Auf wem oder was liegt der Schlüssel? ), und der fehlenden Klarheit, die mit dem für Neutra geltenden Fragewort was (Nominativ oder Akkusativ? ) einhergeht, stellen adverbiale Bestimmungen deutliche Grenzen dar, denn diese lassen sich mit Interrogativpronomen gar nicht erfragen. Häufig wird den 47 Dieser Gedanke findet in der Grammatikwerkstatt von Menzel (2008) besondere Beachtung. Die Schülerinnen und Schüler werden dazu angeregt, mit der Sprache zu experimentieren. 88 4 Flexion Schülerinnen und Schülern deshalb beigebracht, dass die Frage Wo? mit dem Dativ und Wohin? mit dem Akkusativ verbunden sei. Das trifft jedoch nur auf Ortsangaben mit Wechselpräpositionen zu: (69) a. Der Schlüssel liegt auf dem Tisch. → Wo? Dativ b. Ich lege den Schlüssel auf den Tisch. → Wohin? Akkusativ c. Ich fahre zum Bahnhof. → Wohin? Dativ Eine Alternative stellt die Maskulinprobe (vgl. Sterba 2017) dar. Wie bei der Frageprobe auch werden Ersatz- und Listenprobe miteinander kombiniert. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass kein Fragesatz gebildet wird. Maskulinprobe: Die nominale Gruppe wird durch ein Maskulinum im Singular ersetzt und anhand der Form des gewählten Begleiters der Kasus abgelesen. Bei der Probe macht man sich zunutze, dass das Artikelwort im Singular Maskulinum- - im Gegensatz zu den anderen Genera und zum Plural- - für jeden Kasus eine eigene, unverwechselbare Form ausbildet (der / jeder, des / jedes, dem / jedem, den / jeden). Zu empfehlen ist jedoch, dass keine Artikelwörter genutzt werden, deren Stamm auf -n auslautet (z. B. ein, kein, mein), denn Assimilationsprozesse können zu fehlerhaften Formen führen und so die Kasusbestimmung behindern (z. B. einen → ein). Beim Ersetzen darf sich die Bedeutung des Satzes zwar ändern, jedoch nicht seine syntaktische Struktur, da diese die vorliegenden Kasus maßgeblich bestimmt. Da es nicht auf den Inhalt, sondern allein auf die Struktur ankommt, können sogar Fantasiewörter eingesetzt werden. Stellen wir nun anhand des nachstehenden Beispiels die Frage- und die Maskulinprobe gegenüber. (70) Jede Woche kocht Paula Nudeln. Die semantisch und syntaktisch passenden Fragen mit wann oder wie oft führen im Rahmen der Frageprobe zu keinem Ergebnis und können daher nicht zurate gezogen werden. Auch mit den Interrogativpronomen gelangt man nicht zum Ziel: Wen / was / wem / wessen/ wer kocht Paula Nudeln? Egal welches Pronomen wir testen, es entsteht keine passende Frage, um den Kasus zu ermitteln. Schülerinnen und Schüler wählen daher meist die Taktik, nicht alle Elemente in den Satz einzubeziehen, sodass sie zwar richtigerweise den Akkusativ identifizieren, aber eigentlich nach der Nominalgruppe Nudeln fragen: Wen oder was kocht 89 4.5 Kurze Zusammenfassung Paula? Setzt man im Sinne der Maskulinprobe z. B. das Substantiv Tag ein, kann an der Endung des Begleiters eindeutig der Kasus abgelesen werden. (71) Jeden Tag / Jeden Mittwoch / Jeden Klonk kocht Paula Nudeln. → Akkusativ Voraussetzung für das Gelingen der Probe ist, dass die Lernenden sicher im Umgang mit der deutschen Sprache sind und das Ersatznomen mit seinem Begleiter formal korrekt in die vorliegende syntaktische Struktur eingliedern. Zu beachten ist jedoch, dass die Maskulinprobe bei Reflexivpronomen echt reflexiver Verben nicht angewendet werden kann, denn das Reflexivpronomen besitzt keinen außersprachlichen Bezugspunkt und lässt sich daher nicht durch ein Nomen ersetzen. 48 Auch wenn die Maskulinprobe- - wie jede andere Probe auch- - Grenzen aufweist, ist sie in der Lage, die Schwachstellen der Frageprobe zu umgehen und eine größere Bandbreite an Konstruktionen abzudecken. Dieses Potenzial wird in den gängigen Lehrwerken allerdings kaum ausgeschöpft. Zwar finden sich häufig Tabellen mit Maskulina im Singular, doch diesen werden lediglich Interrogativpronomen zugeordnet, um zur Frageprobe überzuleiten. Die Beobachtung, dass sich die Deklinationsformen unterscheiden, wird durch keine Aufgabenstellung angeregt. Folglich liegt es allein an der Lehrperson, den Bogen zur Maskulinprobe zu spannen und den Schülerinnen und Schülern einen alternativen Zugang zur Kasusermittlung zu bieten. 4.5 Kurze Zusammenfassung Analysiert man die grammatischen Eigenschaften von Wörtern, kommen häufig Proben zum Einsatz. Sie stellen jedoch keine Garantie dar, alle Konstruktionen auch bestimmen zu können. Vielmehr sind sie ein von außen auf sprachliche Strukturen gerichtetes Hilfsmittel, um bestimmte Eigenschaften sichtbarer zu machen. Da Sprache allerdings lebendig ist und auch Unterschiede zwischen den Traditionen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit bestehen, können Proben keine hundertprozentige Treffsicherheit besitzen. Allerdings 48 Abhilfe schafft eine andere Art der Ersatzprobe. Er schämt sich. Die Form des Reflexivpronomens kann sowohl dem Akkusativ als auch dem Dativ zugeordnet werden. In der 1. und in der 2. Person Singular weisen Akkusativ und Dativ hingegen eindeutige Formen auf (mich / mir; dich / dir). Also ersetzen wir das Subjekt des Satzes, sodass das Reflexivpronomen eine dieser beiden Formen aufweist: Ich schäme mich. → Akkusativ. 90 4 Flexion stellt dieser Umstand weder eine Schwäche der Probe noch der Sprache an sich dar. Dies lässt sich zeigen, indem die Chancen und die Grenzen von grammatischen Proben (z. B. die Frageprobe zur Ermittlung des Kasus) erarbeitet und zugleich Alternativen (z. B. die Maskulinprobe) getestet werden. Ziel ist nicht, dass die Schülerinnen und Schüler die Proben stur anwenden. Vielmehr soll ihnen bewusst werden, auf welcher Basis sie funktionieren und worüber sie Aufschluss geben. Zur vertiefenden Beschäftigung mit den Wortarten sowie deren grammatischen Eigenschaften sei auf Granzow-Emden (2013) verwiesen. Im fachwissenschaftlichen Teil dieses Kapitels haben wir uns mit den Regularitäten und Prozessen auseinandergesetzt, die im Deutschen bei der Anpassung von flektierten Wortformen an den jeweiligen syntaktischen Kontext wirksam sind. Dabei haben wir zunächst einen Überblick über einschlägige morphologische Bildungsmittel wie Affigierung, Ablaut, Umlaut und Suppletion gegeben. Darauf aufbauend haben wir im Anschluss die Eigenschaften der verbalen und nominalen Flexion vorgestellt, wobei Letztere nicht nur Substantive, sondern auch Artikelwörter, Pronomina und Adjektive umfasst. Wir haben dabei einen Überblick über die jeweiligen Formeninventare gegeben und die für das Deutsche charakteristischen Muster von Synkretismen herausgearbeitet. Zusätzlich haben wir in Grundzügen Aspekte der Interaktion von Syntax und Morphologie in der nominalen Flexion diskutiert, wie die Stark / schwach-Alternation bei der adjektivischen Flexion sowie das Phänomen der Wortgruppenflexion. Zur Vertiefung seien zum einen wiederum die Überblicksdarstellungen in der Dudengrammatik sowie Eisenberg (2013) empfohlen, die allerdings in Teilen von der vorliegenden Darstellung abweichen können (z. B. bei der Behandlung der Flexion von Substantiven, die wir hier im Anschluss an Wiese 2013 mithilfe von Deklinationsklassen beschrieben haben). Stärker theoretisch orientierte Arbeiten zur Flexionsmorphologie sind z. B. Bierwisch (1967), Wiese (1999) zur pronominalen Flexion sowie Wiese (1994), Müller (2006) zur Verbflexion. Eine theoretische Arbeit, die auch Tendenzen im Sprachwandel berücksichtigt, ist Wurzel (1984). 91 4.5 Kurze Zusammenfassung Aufgaben zur Lernkontrolle 1. Bestimmen Sie die Verbklassenzugehörigkeit (stark, schwach usw.) der folgenden Verben: brennen, werden, vergären 2. Bestimmen Sie die Deklinationsklasse der folgenden Substantive: Bär, Tochter, Boot, Euro 3. Vergleichen Sie die starke und schwache Adjektivflexion im Deutschen: In welchen Kontexten tritt -en in der starken und schwachen Flexion auf ? Welche Merkmalswerte werden von -en signalisiert? 4. a. Erläutern Sie, worin die Schwierigkeiten bestehen, wenn Lernende mit der Frageprobe die Kasus der Substantive in den nachstehenden Sätzen bestimmen. b. Bestimmen Sie die Kasus der Substantive anhand der Maskulinprobe. 1. Meinen Eltern schenkte ich letztes Jahr eine Katze. 2. Paula läuft immer allein zur Bushaltestelle. 93 5.1 Einleitung 5 Wortbildung 5.1 Einleitung In jeder Sprache ist der Bestand an Wörtern einem ständigen Wandel unterworfen. Wörter kommen aus der Mode und verschwinden, oft weil sich die technischen oder gesellschaftlichen Voraussetzungen ändern. So können jüngere Sprecher des Deutschen mit Begriffen wie Wählscheibe, Bandsalat, Karzer, Schnurre oder Vatermörder in der Regel nichts mehr anfangen. 49 Auf der anderen Seite werden aber auch dauernd neue Wörter gebildet, die das Lexikon einer Sprache erweitern und es uns erlauben, technische, wissenschaftliche oder gesellschaftliche Neuerungen und Veränderungen sprachlich zu fassen. Entsprechende Neuschöpfungen oder Neologismen können auf unterschiedliche Arten zustande kommen: ▶ Entlehnungen nennt man Wörter, die aus anderen Sprachen übernommen werden (engl. Wellness, Computer; frz. Portemonnaie; indones. Amok etc.); ▶ Urschöpfungen entstehen durch neue Zuordnungen von Lautkombinationen und Bedeutung wie Wookie oder Hobbit; ▶ Neubildungen entstehen durch die Kombination von bereits existierenden Wörtern und Wortbausteinen. Im Rahmen dieses Kapitels wollen wir uns mit den Mechanismen und Regularitäten befassen, die es uns erlauben, aus einer endlichen Zahl von Wörtern und Wortbausteinen immer neue Wörter zu erzeugen. Diesen Bereich der Morphologie nennt man Wortbildung. Die Wortbildung ist die kreative Komponente der Morphologie. Ihre schöpferische Kraft ist enorm und versetzt uns in die Lage, eine prinzipiell unendliche Zahl von (neuen) Wörtern zu formen. Daraus folgt auch, dass wir nicht alle Wörter im Gehirn z. B. als eine Art Liste gespeichert haben können- - dies kann man sich leicht vergegenwärtigen, wenn man sich 49 Eine Wählscheibe wurde bei älteren Telefonen genutzt, um die Zahlenfolgen einzugeben. Bandsalat beschreibt das Resultat eines Unfalls mit Tonbandgeräten und Audiokassetten. Der Karzer war früher das Universitäts- oder Schulgefängnis. Eine Schnurre hat nichts mit Katzen zu tun, sondern ist eine humoristische Kurzgeschichte. Der Vatermörder muss sich nicht vor Gericht verantworten, sondern bezeichnet einen hohen, spitzen Stehkragen eines Herrenoberhemdes, der vor allem in der Biedermeierzeit populär war. 94 5 Wortbildung fragt, für welche ganzen Zahlen diese Liste wohl die Bezeichnungen enthält (sicherlich für die Zahlen von 1 bis 20 oder 1 bis 100; sicherlich nicht für die Zahl dreiundachtzigtausendfünfhunderteinundzwanzig). Vielmehr müssen wir über ein unbewusstes Instrumentarium an Regeln verfügen, mit denen wir Wörter bilden können. Für die Existenz solcher unbewusster Regeln spricht auch, dass wir in der Lage sind, zwischen tatsächlichen, möglichen und unmöglichen Wörtern zu unterscheiden. Tatsächliche Wörter sind uns im Laufe unseres Lebens schon einmal begegnet, und in der Regel haben wir sie am Stück in unserem mentalen Lexikon abgelegt. Dabei kann es sich um Simplizia wie Stein, Gurke oder Wolke handeln oder um komplexe Wörter wie veranschaulichen oder Fußballweltmeisterschaft. Mögliche Wörter sind solche, die wir bilden und interpretieren können, auch wenn sie uns auf den ersten Blick etwas seltsam vorkommen mögen. Dazu gehören Monsterkomposita wie Kaltlichtreflektorstiftsockellampe (‚Halogenglühbirne‘) oder Neubildungen wie entsuchen (‚einen Namen oder Begriff bei / für Internetsuchmaschinen unauffindbar machen‘). Unmögliche Wörter sind Bildungen, die nicht ableitbar sind, weil sie gegen bestimmte Erzeugungsregeln (oder Regeln der Lexikonorganisation) verstoßen. In diesem Zusammenhang kommt es oft zu kuriosen lexikalischen Lücken. So können im Deutschen Adjektive üblicherweise gesteigert werden; komplexe Adjektive wie steinreich sträuben sich aber gegen die Steigerungsform (Leopold ist *steinreicher als Lydia / Leopold ist am *steinreichsten). Weitere entsprechende Fragen, mit denen sich die (Wortbildungs-) Morphologie auseinandersetzt, sind z. B.: ▶ Warum können wir aus dem Nomen Zement das Verb zementieren ableiten, nicht aber *bauzementieren aus Bauzement? ▶ Warum kann die Regel, mit der wir mittels der Endung -er aus Verben agentivische Substantive ableiten (Schwimm-er, Läuf-er, Erbau-er etc.), manchmal nicht angewendet werden (*Stehl-er in der Bedeutung ‚Dieb‘)? Solche „Nichtwörter“ sind für die morphologische Theorie von besonderem Interesse, da sie uns etwas über die Grenzen unserer Wortbildungskapazität und über die Eigenschaften der Regeln, die sie konstituieren, verraten. Entsprechende Regelverstöße können aber auch bewusst genutzt werden, um einen kommunikativen Effekt zu erzielen. Einschlägige Beispiele kommen vor allem aus der Werbesprache. Ein recht beliebtes Mittel sind z. B. mehrfache Komparative wie attraktiverer (Werbung für eine Fluggesellschaft), sicherererer (Werbung für einen Online-Zahlungsservice) oder Ketterer sind netterer (Werbeslogan für eine Brauerei). Einige dieser nicht-regelkonformen Neuschöpfungen haben 95 5.1 Einleitung sich etabliert und sind heute auch außerhalb der Werbung gebräuchlich. Ein bekanntes Beispiel ist das Adjektiv unkaputtbar, mit dem Anfang der 1990er Jahre ein großer Getränkehersteller für die Einführung von PET -Mehrzweckflaschen warb. Das Wort wird mittlerweile auch im (Online-) Duden geführt; eine Google-Recherche am 21. 4. 2017 brachte es auf immerhin 281 000 Vorkommnisse (zum Vergleich: Ein einigermaßen geläufiges Wort wie Gewitterwolke bringt es lediglich auf 182 000 Belege). Trotz seiner recht weiten Verbreitung ist das Wort unkaputtbar vielen Sprechern und Sprecherinnen nicht ganz geheuer. Dies liegt darin, dass sie intuitiv erkennen können, dass unkaputtbar kein vollständig wohlgeformtes Wort des Deutschen darstellt. Welches Problem liegt nun aber bei unkaputtbar vor? Um das erkennen zu können, muss man das Wort in seine Bestandteile zerlegen: (72) [un + [kaputt -bar]] Präfix: Neg. Basis: Adj. Suffix: V→Adj. Wie in (72) gezeigt, besteht unkaputtbar aus drei Wortbausteinen. Die Basis des Worts ist das Adjektiv kaputt, das auch die Kernbedeutung beisteuert. An die Basis tritt zunächst das Derivationssuffix -bar, mit dem aus (zumeist transitiven) Verben Adjektive abgeleitet werden können (vgl. ess-bar, (un)zerstörbar, bedien-bar usw.). Diesem komplexen Ausdruck wird das Derivationspräfix unhinzugefügt, das eine Negation zum Ausdruck bringt. Der etwas dubiose Status von unkaputtbar ist dabei auf eine „unsachgemäße“ Verwendung des adjektivableitenden Elements -bar zurückzuführen, das im vorliegenden Fall fälschlicherweise an ein Element-- kaputt-- angefügt wurde, das bereits ein Adjektiv ist. Interessanterweise können wir trotz dieses Regelverstoßes unkaputtbar eine Bedeutung zuschreiben, die sich aus der Kombination der jeweiligen Bedeutungen seiner Bestandteile einigermaßen transparent ergibt. Beispiele wie unkaputtbar demonstrieren nicht nur die Kreativität der Wortbildung, sondern belegen auch die Existenz von morphologischen Bausteinen unterhalb der Wortebene sowie die Existenz vom Bildungsregeln, mit deren Hilfe wir diese Bausteine zu neuen Wörtern verknüpfen können. Darüber hinaus wird deutlich, dass wir über ein unbewusstes Wissen über die Beschränkungen verfügen, denen diese Prozesse unterliegen. Und schließlich zeigt (72), wie durch einen bewussten Verstoß gegen diese Beschränkungen ein kommunikativer Effekt erzielt werden kann. Im Deutschen lassen sich die folgenden grundlegenden Wortbildungsmechanismen unterscheiden, die wir in der Folge kurz vorstellen wollen: 96 5 Wortbildung ▶ Derivation: Bildung von Wörtern durch die Kombination von Stämmen mit gebundenen Derivationsmorphemen wie z. B. in Sinn+lich+keit; ▶ Konversion: Wortartwechsel ohne sichtbares Derivationsmorphem (z. B. blau [Adj.] → Blau [Nomen], Elend [Nomen] → elend [Adj.]); ▶ Komposition: Bildung von Wörtern durch die Verknüpfung von Stämmen / Wörtern (z. B. Hausmeister, Kaltlichtreflektorstiftsockellampe); Darüber hinaus gibt es auch Wortbildungsprozesse, die im Lauf der historischen Entwicklung einer Sprache wirken. Hier sind z. B. Fälle zu nennen, bei denen sich eine syntaktische Fügung oder Wortgruppe nach und nach zu einem Wort verdichtet. Das Resultat ähnelt dabei oft einem Kompositum (Gernegroß, teilnehmen, Vergissmeinnicht, Stelldichein usw.); einschlägige Beispiele aus den Bereichen der Adverbien (derart, heutzutage) und satzeinleitenden Elemente (demgegenüber, insofern, stattdessen, währenddessen, nichtsdestotrotz usw.) lassen sich jedoch nicht ohne Weiteres als Komposita analysieren. Entsprechende Phänomene werden in der Literatur als Zusammenrückungen oder Univerbierungen bezeichnet, wobei die Abgrenzung zwischen diesen Begriffen Probleme bereitet. Ein weiterer historischer Wortbildungsprozess ist die sog. Rückbildung. Bei Rückbildungen entsteht ein neues Wort dadurch, dass zu einem bestehenden komplexen Wort (per Analogieschluss) ein verwandtes Wort gebildet wird, das einer anderen Wortklasse zugehörig ist (Notlandung → notlanden, Staubsauger → staubsaugen, neugierig → Neugier). Dieser Prozess beinhaltet oft den Verlust (bzw. Austausch) eines wortartdefinierenden Suffixes (Notland-ung, Staubsaug-er, neugier-ig). Die Bildung neuer Wörter mittels Wortkürzung ist darüber hinaus bei einer Reihe von Phänomenen zu beobachten, die an der Grenze zwischen historischen und gegenwartssprachlichen Wortbildungsmechanismen stehen wie Akronyme, die sich aus den Wortanfängen von Bestandteilen einer komplexen Wortgruppe oder eines komplexen Wortes zusammensetzen (KaDeWe ← Kaufhaus des Westens, En EV ← Energieeinsparverordnung, lol ← laugh out loud), Kurzwörter (Uni ← Uni(versität), Fax ← (Tele)fax) und Abkürzungen, die allerdings in erster Linie in der Schriftsprache auftreten (hrsg., Dr., ca., usw.). 97 5.1 Einleitung 5.1.1 Anmerkungen zur Position des Wortakzents Bei der Artikulation eines Wortes wird in der Regel eine Silbe lautlich gegenüber anderen Silben hervorgehoben. Diese prominente Silbe trägt den Wortakzent. Die Hervorhebung wird in der Regel durch das Zusammenwirken unterschiedlicher lautlicher Merkmale erreicht (u. a. größere Lautstärke, Dehnung, Tonhöhenänderung und generell präzisere Artikulation). Die Silbe, die den Hauptakzent trägt, wird im weiteren Verlauf durch Unterstreichung gekennzeichnet. Bei Simplizia gibt es genau eine Akzentsilbe. Komplexe Wörter haben eine Hauptakzentsilbe sowie einen (oder gar mehrere) Nebenakzente, auf deren Markierung wir hier jedoch verzichten (vgl. z. B. Hoffmann 1995 für weitere Details). Darüber hinaus konzentrieren wir uns auf die Akzentverhältnisse, wie sie vorliegen, wenn ein Wort in Isolation gesprochen wird. Wir abstrahieren davon, dass sich die Position des Wortakzents verändern kann, wenn das Wort in einen bestimmten syntaktischen Kontext eingebettet wird (vgl. grellrot vs. ein grellrotes Auto). Im Deutschen variiert die Position des Wortakzents abhängig von Faktoren wie der inneren Struktur des Worts, der potentiellen Betonbarkeit von Wortbausteinen sowie der Frage, ob es sich um ein natives Wort handelt oder um ein Wort, das aus einer anderen Sprache entlehnt worden ist. Dabei lassen sich jedoch einigermaßen klare Regeln erkennen. Im Kernwortschatz, d. h. bei häufig gebrauchten oder gängigen Wörtern, die sich mehr oder weniger regelkonform verhalten, fällt der Wortakzent in der Regel auf die erste Silbe des Wortstamms. Diese Akzentverteilung bleibt in der Regel auch dann konstant, wenn der Stamm durch weitere Flexions- oder Derivationsaffixe erweitert wird: (73) a. Stein b. Stein-e c. ver-stein-ern Das Deutsche ist somit durch einen sog. metrischen Akzent gekennzeichnet, bei dem die Akzentverteilung durch eine grammatische Regel festgelegt ist und systematisch auf eine bestimmte Silbe innerhalb des Wortes fällt. Muss die Akzentposition für ein Wort separat gelernt werden, spricht man von einem lexikalischen Akzent. In Sprachen wie dem Russischen gilt dies für alle Wörter. Allerdings weist auch das Akzentsystem des Deutschen einige Ausnahmen auf. So fällt bei einigen dreisilbigen Simpliza wie Hornisse, Holunder oder Forelle der Akzent auf die vorletzte Silbe. Bei Wörtern, die aus anderen Sprachen entlehnt wurden, gibt es eine Tendenz, den ursprünglichen Wortakzent (soweit bekannt) 98 5 Wortbildung beizubehalten. (insbesondere bei Eigennamen, z. B. Letztsilbenbetonung: Bolschoi-Theater; Akzent auf der vor-vorletzten Silbe: Jerusalem). Bei entlehnten Simplizia fällt der Wortakent zudem oft auf die vorletzte Silbe (Computer, Mediziner, Diagnose, Bologna). Bei Komposita, also bei Wörtern, die mehrere Stämme enthalten, sind die Akzentverhältnisse komplizierter und vom Bildungstyp bzw. von der Struktur des Kompositums abhängig, vgl. 5.4 für Details. 5.2 Derivation In dem Bereich der Wortbildung, der traditionell als Derivation bezeichnet wird, werden neue Wörter dadurch geformt, dass vorhandene Stämme mit einer geschlossenen Klasse von Derivationsaffixen (d. h. gebundenen Morphemen wie -lich, -bar, -haft, -ung, -heit, ent-, ver-, be-, um-, aufetc.) zu neuen Stämmen kombiniert werden. Das Derivationssuffix bewirkt dabei oft eine Änderung der Wortart (z. B. von Nomen zu Adjektiv: Kind + -lich = kindlich). Der Stamm, an den das Derivationsaffix herantritt, kann dabei selbst komplex sein und bereits andere Derivationsmorpheme enthalten ([Kind+lich]+keit). Derivation: Bildung neuer Wörter / Stämme durch die Kombination von Derivationsaffixen und existierenden Stämmen. Derivationsprozesse mit Suffixen wirken oft wortartverändernd. Für alle Derivationsaffixe gilt, dass sie die Bedeutung der Basis, an die sie angehängt werden, (mehr oder weniger systematisch) verändern. So bewirkt die Suffigierung von -heit oder -keit nicht nur eine Änderung der Wortart (von Adjektiv zu Substantiv); die resultierenden Substantive haben überdies gemein, dass sie einen abstrakten Begriff bezeichnen und feminin sind (Einfachheit oder Heiterkeit). Im Gegensatz zu Derivationssuffixen lassen Derivationspräfixe grundlegende grammatische Eigenschaften des Stamms wie Wortart und Genus (bei Substantiven) unberührt. 50 Letzteres haben wir bereits am Beispiel des negativen Präfixes ungesehen, das an Substantive und Adjektive herantreten kann (un+kaputtbar, vgl. auch Un+glück, Un+wort, un+schön, un+glaublich). 50 Das unterschiedliche Verhalten von Derivationspräfixen und Derivationssuffixen kann durch die Annahme erfasst werden, dass im Deutschen das wortartbestimmende Element (der Kopf) stets am rechten Rand eines komplexen Wortes stehen muss (sog. Right-Hand-Head-Rule). 99 5.2 Derivation Wie viele andere Derivationsaffixe kann unaber nicht an jedes Substantiv oder Adjektiv angebaut werden; es gibt eine Reihe von Ausnahmen und Lücken. Man sagt dann auch, dass der relevante Derivationsprozess nicht voll produktiv ist. Produktivität: Eine grammatische Regel (oder ein grammatischer Prozess) ist (voll) produktiv, wenn sie im Prinzip auf alle Kontexte angewendet werden kann, die ihren Anwendungsbedingungen entsprechen. Bei unist vor allem die Verwendung mit Substantiven stark eingeschränkt (vgl. *Unsocke, *Untisch, *Unverzehr, *Unaufgebot usw.). Im Zusammenhang mit Adjektiven kann man beobachten, dass Bildungen mit unhäufiger mit komplexen Adjektiven auftreten, während Kombinationen mit Simplizia stärkeren Beschränkungen unterliegen (unleidlich, unfassbar, unvermeidlich vs. *unhoch, *ungrün *unschlecht). Viele Bildungen mit unsind in der Gegenwartssprache lexikalisiert, d. h. als Lexeme im mentalen Lexikon enthalten. Dies kann man daran erkennen, dass ihre Bedeutung nicht mehr transparent aus den Bedeutungen ihrer Bestandteile abgeleitet werden kann (Unfall) und dass in einigen Fällen die Bestandteile nicht mehr als eigenständige Wörter auftreten können (unwirsch, *wirsch). Im Folgenden geben wir einen Überblick über die Bildungselemente, die im Deutschen bei der Derivation beteiligt sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit; unberücksichtigt bleiben z. B. nicht-native Elemente wie anti-, ex-,--iker,--ismus etc.). Die Affixe sind klassifiziert nach dem Effekt, den sie auf die Wortart des Derivationsprodukts haben (z. B. V→N ‚Wortklassenwechsel von Verb zu Nomen / Substantiv‘, angegeben in der jeweils ersten Spalte der Tabelle). Betrachten wir zunächst das Inventar an Derivationspräfixen: Typ Präfixe Beispiele (Auswahl) V → V ge-, er-, ver-, be-, ent-, ant-, zerge-winnen, er-warten, verraten, be-raten, ent-kleiden, zer-streuen N → N un-, ge-, be- Un-glück, Un-endlichkeit, Geflügel, Be-hörde A → A un-, geun-schön, un-endlich, gemein Tabelle 17: Echte Derivationspräfixe (nativ) des Deutschen 100 5 Wortbildung Die Klasse der echten Derivationspräfixe ist im Deutschen recht klein. Verbale Präfixe zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass sie keinen Wortakzent tragen können. Bei Präfixen, die eine nominale oder adjektivische Basis verlangen, sind die Akzentverhältnisse gemischt: ge- und bemüssen unbetont bleiben; unzieht den Akzent auf sich, wenn es an ein einfaches Adjektiv herantritt (un-schön). Bei einer komplexen Basis verschiebt sich der Wortakzent nach rechts auf die erste betonbare Silbe (un-fassbar, aber un-vertretbar). Die verschiedenen Präfixe unterscheiden sich stark hinsichtlich ihrer Produktivität. So sind Neubildungen mit dem negativen Präfix unrecht verbreitet (uncool, unkaputtbar etc.). Umgekehrt können wir beobachten, dass es im Gegenwartsdeutschen praktisch keine substantivischen Neubildungen mit be- (wie in Be-hörde) gibt. Kaum produktiv sind auch Bildungen mit ge-. Diese Klasse weist zwar mehr Mitglieder auf als die Klasse der Be-Substantive (vgl. Substantive wie Gebirge, Gebälk, Gebüsch; Verben wie gelingen, gefallen, gedenken und Adjektive wie gesund, geheim, geheuer), wird aber in der Gegenwartssprache kaum noch durch Neubildungen angereichert. 51 Verbale Präfixbildungen weisen einige besondere Eigenschaften auf. So zeichnen sie sich dadurch aus, dass ihr Partizip II nicht mit dem Präfix gegebildet werden kann (zerstören, zerstört; *gezerstört, *zergestört, vgl. auch Fn. 34). Viele Präfixbildungen sind hochgradig lexikalisiert, sodass die semantische Funktion des Präfixes bzw. die morphologische Struktur des komplexen Wortes nicht mehr völlig transparent ist. So stellen Verben wie beginnen, vernichten, entfernen, entschließen im Gegenwartsdeutschen wohl eher Simplizia (mit einer idiomatisierten, d. h. unregelmäßigen Bedeutung) dar. Neben den „echten“ Präfixen gibt es im Deutschen eine Reihe präfixartiger Elemente, die formgleich mit Präpositionen oder Adjektiven sind (P: um-, auf-, unter-, über-, ab-, ein-, aususw.; A: fest-, frei-, hochusw.) und sich mit einer verbalen Basis verbinden (auf-/ ab-/ an-/ über-/ nach-/ hoch-bauen). Diese Elemente werden als Verbpartikeln bezeichnet; die entsprechenden Verben nennt man Partikelverben. Man unterscheidet dabei zwei Arten von Partikeln, abhängig davon, ob sie den Wortakzent auf sich ziehen oder nicht (vgl. Wahrig 2009: 274 ff. für weitere Beispiele). Die Varianten unterscheiden sich nicht nur 51 Eine Ausnahme stellt das produktive Muster ge-+Verb (+-e) = Substantiv dar (Geplapper, Gehampel, Gebell; mit finalem -e: Gebrülle, Gebelle, Gehopse usw.). Auffällig ist ferner, dass das Präfix in diesen Fällen ausnahmsweise wortartverändernd zu wirken scheint. 101 5.2 Derivation in ihrem Betonungsmuster, sondern auch in ihrer Bedeutung und ihren morphosyntaktischen Eigenschaften. (74) a. übersetzen: Bedeutung: ‚von einem Ufer zum anderen fahren‘ Bildung des Partizip II mit ge-: übergesetzt Partikel durch syntaktische Prozesse abtrennbar: Der Fährmann setzte uns über. b. übersetzen: Bedeutung: ‚von einer Sprache in die andere übertragen‘ Bildung des Partizip II ohne ge-: übersetzt Partikel durch syntaktische Prozesse nicht abtrennbar: Die Professorin übersetzte das Buch. Die nicht-abtrennbaren Partikeln verhalten sich somit wie Präfixe, die ebenfalls unbetont bleiben und nicht abgetrennt werden können. Die entsprechenden Verben werden daher auch Partikelpräfixverben genannt. Derivationsprozesse, die auf der Basis von Suffigierung operieren, sind im Deutschen weit verbreitet. Im Vergleich zu Präfixen gibt es eine wesentlich größere Anzahl von Bildungstypen, von denen einige äußerst produktiv sind. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu Derivationspräfixen besteht darin, dass Derivationssuffixe die Wortart verändern können. Dies ist allerdings nicht notwendig der Fall, wie die unteren drei Zeilen von Tabelle 18 zeigen. Typ Suffixe Beispiele (Auswahl) N / V/ A → V -er-(n), -el-(n), -ig-(en), -ier- (en), -isier-(en), -ifizier-(en) mild-ern, blöd-eln, fest-igen, buchstab-ieren, tabu-isieren, klass-ifizieren V → N -e, -ei, -el, -er/ -ler/ -ner, -nis, -schaft, -sal/ -sel, -t, -ung Bleib-e, Heuchel-ei, Deck-el, Läuf-er/ Heuch-ler / Lüg-ner, Ärger-nis, Machen-schaft, Rinn-sal/ Füll-sel, Fahr-t, Les-ung A → N -heit/ -keit/ -igkeit, -nis, -ling, -i Heiter-keit/ Falsch-heit/ Genauigkeit, Finster-nis, Finster-ling, Soft-i N → A -haft, -ig, -isch, -en/ -ern, -lich, -los, -mäßig meister-haft, stein-ig, spielerisch, gold-en / blei-ern, kindlich, glück-los, sau-mäßig 102 5 Wortbildung Typ Suffixe Beispiele (Auswahl) V → A -bar, -lich, -sam lös-bar, lös-lich, beug-sam A → Adv -ens, -lings, -weise, -s best-ens, blind-lings, lächerlicher-weise, bereit-s N → Adv -weise, -wärts schritt-weise, seit-wärts V → V -el-(n), -er-(n) dräng-eln, blink-ern A → A -haft, -lich, -ig, -isch, -sam krank-haft, klein-lich, faul-ig, genial-isch, satt-sam N → N -chen, -lein, -in, -er/ -ler/ -ner, -heit, -ling, -nis, -schaft, -tum, -i Kind-chen, Männ-lein, Malerin, Kutsch-er / Wissenschaftler / Pfört-ner, Kind-heit, Schreiber-ling, Bild-nis, Ärzteschaft, Beamten-tum, Gruft-i Tabelle 18: Derivationssuffixe des Deutschen Auch hier gilt wieder, dass die verschiedenen Derivationsaffixe in der Gegenwartssprache nicht in gleicher Weise produktiv sind. Sehr systematisch sind beispielsweise Diminutivbildungen auf der Basis von -chen, verbbasierte Nominalisierungen mithilfe des Suffixes -er, das zur Ableitung agentivischer Substantive (Säuf-er, Denk-er, Mal-er etc.) bzw. Nomen instrumenti (Weck-er, Kleb-er, Stap-ler etc.) genutzt werden kann, oder Neubildungen auf der Basis von -ung (Konkreta wie Kupp-lung oder Abstrakta wie Offenbar-ung). Weniger oder kaum noch produktiv sind Bildungselemente wie -ei, -tum oder -sal/ -sel. Gänzlich unproduktiv ist das Suffix -t, das nur noch in „fossilierter“ Form in Wörtern wie Fahr-t auftritt. Im Gegensatz zu Präfixen bestimmen Derivationssuffixe grammatische Eigenschaften wie Wortart oder (bei substantivischen Bildungen) Genus eines komplexen Wortes. Dies weist darauf hin, dass entsprechenden Ableitungen eine Struktur zugrundeliegt, in der das Suffix den Kopf bzw. Kern des Wortes bildet. Der Kopf legt wesentliche syntaktische, morphologische und semantische Eigenschaften des komplexen Wortes fest. In einer Bildung wie [schreib+er] bestimmt die Endung -er, dass es sich bei dem Produkt um ein agentivisches maskulines Nomen handelt. Im Prinzip kann das Produkt eines Derivationsprozesses auch wieder die Ausgangsbasis für weitere Derivationsprozesse sein. Auf diese Weise können recht komplexe Wortstrukturen entstehen, die mehrere Affigierungsschritte 103 5.3 Konversion involvieren. Bei der Analyse entsprechender Beispiele kann man erkennen, dass bestimmte Bestandteile enger zusammengehören als andere. Bei einem komplexen Wort wie Veränderlichkeit bildet [lich+keit] sicherlich keine Teilkonstituente des Wortes; ebenso wenig scheint es sich bei den potentiellen Bestandteilen änderlich bzw. Änderlichkeit um wohlgeformte Wörter des Deutschen zu handeln. Diese Einsichten lassen sich durch eine Klammerstruktur wie in (75) darstellen, die die Ableitung des komplexen Worts Veränderlichkeit repräsentiert. (75) [[[ver+änder]+lich]+keit] (75) repäsentiert die Tatsache, dass zunächst die verbale Basis änder mit dem Präfix ververknüpft wird. Anschließend tritt das Suffix -lich heran, mit dem aus verbalen Basen Adjektive gebildet werden können. Schließlich bilden wir durch die Hinzufügung von -keit ein abstraktes Nomen. Die resultierende Struktur zeigt, dass in jeder Teilstruktur der Kopf jeweils rechts steht. Der hierarchisch höchste rechte Kopf bestimmt die Wortart des gesamten komplexen Worts. Die Anwendung von Derivationsprozessen unterliegt einer Reihe von Restriktionen, die verhindern, dass man auf diese Weise endlos lange Wörter bilden kann. Dabei spielen semantische Aspekte eine Rolle (so fällt es uns schwer, einer Bildung wie Schönheitlichkeit eine sinnvolle Bedeutung zuzuschreiben). Morphologische Beschränkungen betreffen z. B. den möglichen Komplexitätsgrad der Basis. So kann das verbableitende Suffix -ier zwar an einfache Nomen wie Zement herantreten; Bildungen aus Komposita sind aber nicht ohne Weiteres möglich (*bauzementieren). Potentiell mögliche Bildungen sind ferner oft nicht akzeptabel, wenn das Lexikon bereits ein Wort mit gleicher Bedeutung enthält. So kann das Fehlen von Ableitungen wie *Stehler, *besenen, *unlinks, *Großheit auf die Existenz von Wörtern wie Dieb, fegen, rechts, Größe zurückgeführt werden. Dieser Effekt wird auch als morphologische Blockierung bezeichnet, da das Vorliegen einer lexikalisierten Form offenbar eine Neubildung mit gleicher Bedeutung verhindert. 5.3 Konversion Charakteristisch für Konversionsprozesse ist es, dass ein Wortartwechsel erfolgt, ohne dass ein sichtbares Derivationsmorphem vorhanden ist (die Infinitivendung -en wird allgemein als Flexionsform aufgefasst und kann daher nicht die Wortart in Formen wie fisch-en bestimmen): 104 5 Wortbildung (76) N → V: Fisch, fisch-en; Nerv, nerv-en; Job, jobb-en V → N: laufen, Lauf; kicken, Kick; stauen, Stau N → A: Schmuck, schmuck; Klasse, klasse; Elend, elend A → N: blau, (das) Blau; sein, (das) Sein; deutsch (das) Deutsch Abhängig von den Eigenschaften des Konversionsprodukts unterscheidet man zwischen syntaktischer Konversion und morphologischer Konversion. Bei morphologischer Konversion treten segmental identische Stämme in verschiedenen Wortarten auf und werden der Zielwortart entsprechend flektiert (z. B. schlafen → Schlaf, Fisch → fischen etc.). Im Gegensatz dazu ändert sich bei syntaktischer Konversion die syntaktische Distribution eines Elements, während morphologische Eigenschaften der Basis beibehalten werden können. So weisen substantivierte Adjektive wie (das) Wahre, Schöne, Gute zum einen die für Substantive charakteristischen syntaktischen Eigenschaften auf (z. B. die Präsenz eines Artikels). Zum anderen zeigen sie aber auch die für Adjektive charakteristische Stark / schwach-Alternation (das Gute vs. ein Gutes). 5.4 Komposition Wörter, die mehrere Wurzeln bzw. Stämme enthalten, werden als Komposita bezeichnet. Ihre Bestandteile nennt man Glieder oder Konstituenten des Kompositums. Wortart und Genus werden durch das letzte Teilglied bestimmt, das somit den Kopf des komplexen Wortes darstellt (vgl. Rotwein vs. weinrot). Die Komposition ist vor allem bei Substantiven und Adjektiven ein besonders produktiver Wortbildungstyp im Deutschen: (77) N+N: Bauch+weh, Reis+kocher, Feind+bild, Segel+boot A+N: Grün-span, Klein+geist, Blau+topf, Kalt+wasser V+N: Ess-besteck, Web+stuhl, Spring+brunnen (78) A+A: schwarz+weiß, alt+klug, fein+körnig N+A: erdbeben+sicher, spinne+feind, maul+faul V+A: ess+bereit, rutsch+fest, sing+müde Echte verbale Komposita sind hingegen selten. Bei Bildungen wie preiskegeln, bausparen oder bauchtanzen handelt es sich um Rückbildungen. Formen wie kennenlernen (auch: kennen lernen) stellen Zusammenrückungen dar. Genuine V+V Komposita wie press+bohren, schwing+schleifen oder brat+rühren sind oft auf fachsprachliche Texte beschränkt und ansonsten recht marginal. 105 5.4 Komposition Auf den ersten Blick scheint es sich bei Komposita um Kombinationen von Wörtern zu handeln. Die Erstglieder in Bildungen wie Ess-besteck, Springbrunnen, Fahr-schule, Web-stuhl oder Sing-vogel zeigen jedoch, dass die entsprechenden Bausteine auch kleiner als ein Wort sein können: Bei ess, spring, fahr, web und sing handelt es sich nicht um eigenständige Wörter, sondern um Stämme. Das wird besonders klar bei ess, da hier die Stammform von der (unflektierten) Imperativform iss abweicht. Wir können also den Wortbildungstyp der Komposition wie folgt definieren: Komposition: Wortbildungstyp, bei dem zwei Stämme zu einem komplexen Wort verknüpft werden. Dabei können die Stämme selbst wieder komplex sein. Die Wortart des Kompositums wird durch das finale Element bestimmt. Die Gesamtbedeutung ist abhängig von beiden Gliedern. Im Gegensatz zu derivationellen Bildungen kann das Resultat eines Kompositionsprozesses stets wieder Ausgangspunkt für eine neue Anwendung des Regeltyps Komposition sein. Es handelt sich also um einen Prozess, der es im Prinzip ermöglicht, endlos lange Wörter zu erzeugen. Diesen Umstand machen sich auch einige Sprachspiele zunutze (Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän…). Den inneren Aufbau eines Kompositums kann man mithilfe einer Klammerstruktur darstellen. Wenn ein Kompositum mit mehreren Strukturen kompatibel ist, können sich Ambiguitäten ergeben. So kann ein Kompositum wie Kindergartenfest abhängig von seiner internen Struktur entweder als ‚Fest im Kindergarten‘ ([[Kinder+garten]+fest]) oder ‚Gartenfest für Kinder‘ ([Kinder+[garten+fest]]) interpretiert werden. Man beachte allerdings, dass bei letzterer Struktur (und Interpretation) der Hauptakzent auf die erste Silbe von Garten fällt. Für gängige Bildungen wie Hausmeister oder Bauarbeiter nimmt man an, dass sie vollständig im mentalen Lexikon gespeichert sind. Nicht selten weisen vollständig lexikalisierte Komposita eine spezielle Bedeutung auf, die sich nicht transparent aus den Bedeutungen der Bestandteile ergibt (Haus+Meister- = ‚vom Hauseigentümer eingesetzte Person, die Aufgaben der Hausverwaltung wahrnimmt und sich um den Zustand eines Hauses kümmert‘). Durch die Lexikalisierung von Komposita kann es vorkommen, dass bestimmte sprachliche Elemente nur als Bestandteil von Komposita überleben. So können bei Bildungen wie Brom+beere, Him+beere, Bräuti+gam oder Schorn+stein bestimmte Konstituenten wie brom-, him-, -gam oder schornnicht mehr als 106 5 Wortbildung eigenständige Wörter auftreten. Solche Relikte bezeichnet man auch als unikale Morpheme (brom von mhd. bram(o) ‚Dornstrauch, Ginster‘; himvon mhd. hinde ‚Hirschkuh‘; -gam von ahd. gomo ‚Mann‘, Schornvon ahd. scorren ‚schroff emporragen‘). Abhängig von der syntaktischen Kategorie der kombinierten Elemente und der (semantischen bzw. syntaktischen) Beziehung lassen sich verschiedene Typen von Komposita unterscheiden. Der im Deutschen gängigste Kompositionstyp sind sog. Determinativkomposita. Bei einem Determinativkompositum legt das Zweitglied die Grundbedeutung des Kompositums fest, die dann durch das Erstglied näher bestimmt und modifiziert wird. So handelt es sich bei Apfelwein um eine spezielle Art von Wein, bei Gurkensalat um eine bestimmte Art von Salat, bei Mausefalle um eine bestimmte Art von Falle usw. In der Regel ergibt sich die Bedeutung (einigermaßen) transparent aus der Bedeutung der verknüpften Elemente. Es treten aber auch Bildungen auf, deren Bedeutung sich nicht ohne Weiteres aus der Verknüpfung der entsprechenden Teilbedeutungen ergibt. So bezeichnen Wörter wie Bandsalat oder Stimmensalat keine Salate im eigentlichen Sinn. Darüber hinaus gibt es Fälle, wo das semantische Verhältnis zwischen Erst- und Zweitglied vom Sprecher erschlossen bzw. separat gelernt werden muss. So bezeichnet Sonnenschutz ein Mittel, das vor der Sonne schützt, während das Wort Versicherungsschutz keinen Schutz vor Versicherungen bezeichnet. Bei Determinativkomposita fällt der Wortakzent in der Regel auf die Hauptakzentstelle des Erstglieds: Fuß+Ball = Fußball. Der Hauptakzent kann allerdings auch auf das Zweitglied fallen, wenn das Zweitglied selbst wiederum komplex ist (d. h. in zwei Stämme zerlegt werden kann): Fußball +Weltmeisterschaft = Fußballweltmeisterschaft. Rektionskomposita wie Seifenverkäufer, Arbeitssuche oder Gitarrenbauer sind eine Teilklasse der Determinativkomposita. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass das semantische Verhältnis zwischen Erst- und Zweitglied dem syntaktisch-semantischen Verhältnis entspricht, das zwischen einem Verb und seinem Objekt herrscht (Seifenverkäufer = ‚jemand, der Seifen verkauft‘). Eine weitere Teilklasse der Determinativkomposita sind sog. Possessivkomposita, deren Besonderheit darin besteht, dass sie insbesondere Pflanzen, Tiere und Menschen nach einer charakteristischen (oft sichtbaren) Eigenschaft benennen (Blauwal, Weißkohl, Grünfink, Rotkehlchen, Langohr). Nicht selten liegt dabei auch eine metaphorische Bedeutungsübertragung vor (Eierkopf ‚Intellektueller‘, Langfinger ‚Dieb‘, Hasenfuß ‚ängstlicher Mensch‘). 107 5.4 Komposition Neben Determinativkomposita existieren noch einige andere Typen von Komposita, die allerdings in der Regel wesentlich seltener auftreten: ▶ Bei Kopulativkomposita stehen Erst- und Zweitglied nicht in einer Modifizierer-Grundwort-Beziehung. Vielmehr tragen beide Bestandteile gleichberechtigt zur Gesamtbedeutung des Kompositums bei (schwarzweiß, süßsauer, Spielertrainer, Dichterkomponist). ▶ Phrasenkomposita wie Rundum-Sorglos-Paket oder Alles-was-das-Herzbegehrt-Shop scheinen aus Elementen zu bestehen, die selbst syntaktisch komplex sind. ▶ Steigerungsbildungen bestehen aus einem Grundwort, das in seiner Bedeutung durch das Erstglied gesteigert bzw. verstärkt wird. Im Gegensatz zu anderen Komposita trägt das Zweitglied einen stärkeren Akzent als das Erstglied (Affen+hitze, sturz+betrunken, tief+blau, Stink+wut, spei-übel). ▶ Als Pseudokomposita werden komplexe Verben wie notlanden, bausparen, bauchtanzen oder seiltanzen bezeichnet. Dies bringt zum Ausdruck, dass diese Formen entgegen dem ersten Anschein keine echten verbalen Komposita sind, sondern vielmehr als Rückbildungen betrachtet werden, bei denen aus einem nominalen Kompositum per Analogieschluss ein passendes Verb gebildet wurde (Not+landung → notlanden). 5.4.1 Fugenelemente Im Deutschen erscheint mitunter (laut Duden 2016: 724 bei ca. 30 % aller Komposita) zwischen den unmittelbaren Bestandteilen (Konstituenten) eines Kompositums ein sog. Fugenelement, das eine lautliche Verbindung zwischen Erst- und Zweitglied herstellt. In der Forschung wird üblicherweise angenommen, dass Fugenelemente die Aussprache und Verarbeitung komplexer Wörter erleichtern, indem sie die Nahtstelle zwischen den unmittelbaren Konstituenten eines Kompositums markieren. Fugenelemente kommen insbesondere bei (Determinativ-) Komposita vom Typ N+N zum Einsatz. Hier gibt es auch die größte Vielfalt an Formvarianten, vgl. (79). Nach verbalen Erstgliedern erscheint nur -e (Schweb-e-bahn; häufiger sind jedoch Bildungen ohne Fuge wie Fahrbahn), mit adjektivischen und nicht-flektierbaren Erstgliedern tritt kein Fugenelement auf (Kaltwasser, Unterdruck). 108 5 Wortbildung (79) a. -e Hund-e-halsband b. -(e)s Vielseitigkeit-s-reiter, Tag-es-tour c. -(e)n Tomate-n-salat, Frau-en-quote d. -er Rind-er-kraftbrühe e. -ens Schmerz-ens-geld Nach gängiger Auffassung sind Fugenelemente keine Flexive (vgl. Gallmann 1998). So signalisiert das Element--en in Schanzenrekord keine Mehrzahl (die Rekordweite wurde auf einer und nicht auf mehreren Schanzen erzielt; vgl. auch Bildungen wie Rufnummernmitnahme, Hühnerei oder Männerkopf). Zudem gibt es viele Fälle, in denen das Fugenelement gar nicht im Flexionsparadigma des Erstglieds auftritt. So kann das -s in Vielseitigkeit-s-reiter nicht auf den Genitiv Singular des Femininums Vielseitigkeit zurückgeführt werden (vgl. der Vielseitigkeit). Die Wahl und Setzung von Fugenelementen wird von einer Reihe von Faktoren beeinflusst, die wir hier nicht näher betrachten können (vgl. Duden 2016: 723 ff.). Der Gebrauch von Fugenmorphemen unterliegt überdies regionaler Variation. So finden sich vor allem regional bedingt koexistierende Varianten mit verschiedenen Fugenelementen bzw. ohne Fugenelement (Schwein-e-braten vs. Schwein-s-braten, Merkmal-s-bündel vs. Merkmal-bündel, Zugunglück vs. Zug-s-unglück [in österreichischen Varietäten]). 5.5 Ein Ausflug ins Wortinnere 5.5.1 Rezeptive und produktive Wortbildungskompetenz Unsere Sprache befindet sich in einem stetigen Wandelprozess. Warum dies so ist, welchen Einfluss wir als Sprachnutzerinnen und -nutzer darauf ausüben und welche Möglichkeiten ergriffen wurden und werden, um neue Wörter zu erschaffen, sind Fragen, die innerhalb des Themengebiets Wortbildung zur Sprachreflexion anregen können. Winfried Ulrich (2001: 31) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen rezeptiver und produktiver Wortbildungskompetenz: Wer gelernt hat, viele komplexe Wörter in ihrer morphologischen und semantischen Struktur zu durchschauen, verfügt über Analogien, die ihm auch das Verstehen neuer Wortbildungen erleichtern. Mehr noch: Wer seinen Blick für die Regeln und Formen der Wortbildung rezeptiv geschärft hat, neigt auch zu eigenen Wortbildungen, zu 109 5.5 Ein Ausflug ins Wortinnere situativen ad-hoc-Bildungen, die aus dem Kontext und vor dem Hintergrund von Analogiebildungen verständlich werden. Eine gut entwickelte ,produktive Wortbildungskompetenz‘ erweitert das Ausdruckspotenzial der Sprecher und Schreiber. Im Sinne der rezeptiven Wortbildungskompetenz gilt es zunächst den Aufbau der Wörter zu untersuchen und Vergleiche anzustellen. Auf der analytischen Ebene sind daher zwei grundlegende Ziele anzustreben. Die Schülerinnen und Schüler 1. erkennen, dass neue Wörter gebildet werden können, indem bereits bestehendes Wortmaterial miteinander verknüpft wird. 2. verstehen, dass Wortbildung und Flexion nicht gleichzusetzen sind, sondern verschiedene Veränderungsprozesse darstellen. Für die Betrachtung des Wortaufbaus sind- - in Anlehnung an das Schweizer Lehrwerk „Die Sprachstarken 5“ (Lötscher et al. 2008)-- drei Bestandteile zentral: Stammmorphem, Vormorphem (Präfix) und Nachmorphem (Suffix), wobei einfache Wörter lediglich aus dem Stammmorphem bestehen. Im Gegensatz zu den tradierten Termini „Nachsilbe“ und „Vorsilbe“ erweist sich die vorgeschlagene Variante als unverfänglicher und nachvollziehbarer. Da Morpheme und Silben „zwei vollständig verschiedene Typen von Bausteinen sind“ (Lindauer & Senn 2009: 111), sollten diese auch terminologisch strikt voneinander getrennt werden, um Verwirrungen und Konzeptverwischungen zu vermeiden. Was an Wortstämmen geändert werden kann, lässt sich am besten an einem Beispiel zeigen, das sowohl Zusammensetzungen (Komposita) als auch Ableitungen ermöglicht. Visualisierungen mit Verästelungen (z. B. Wortnetz oder Wortstern) tragen dazu bei, die vielfältigen Möglichkeiten hervorzuheben, die durch Wortbildungsprozesse gegeben sind. Anschließend können die Lernenden überprüfen, inwieweit ihre Erkenntnisse auf andere Stämme übertragen werden können. Betrachten wir den Wortstamm lauf. ▶ Durch Ableitung können verschiedene Verben gebildet werden, indem Vormorpheme angeheftet werden: weg-laufen, umher-laufen, ver-laufen, zer-laufen ▶ Ebenso durch Ableitung können Substantive gebildet werden. Zum Teil ändert sich das Stammmorphem: Läuf-er, Ver-lauf ▶ Auch eine Vielzahl an Zusammensetzungen, also die Verknüpfung von zwei oder mehreren Wortstämmen, ist möglich: Lauf-laden, Lauf-ladenmitarbeiter, Lauf-schuhe 110 5 Wortbildung Durch das Hinzukommen bzw. die Kombination von Wortmaterial ändern sich die Bedeutungsnuancen. Bei Zusammensetzungen / Komposita ist der erste Teil das Bestimmungswort, das den letzten Teil, also das Grundwort bzw. den Kern, näher beschreibt. Die Art und Weise, wie die Beschreibung vonstatten geht, kann allerdings verschieden sein. Hilfe bietet eine Umformungsprobe: Das Bestimmungswort wird aus der Zusammensetzung herausgelöst und in eine eigenständige Fügung umgewandelt (vgl. Schülerduden 2017, Randnummer 392). (80) Laufschuhe: Schuhe, die zum Laufen genutzt werden → Zweck Dass diese Probe jedoch nicht für alle Zusammensetzungen herangezogen werden kann, lässt sich gemeinsam im Unterricht erarbeiten. Ist mit Junggeselle heute noch ein junger Geselle gemeint? Was bedeutet him und brom in Himbeere und Brombeere? Anhand von derartigen Beispielen, die die Lernenden auch selbst heraussuchen können, wird deutlich, dass sich im Laufe der Sprachgeschichte Bedeutungen gewandelt haben. Aber auch bei recht jungen Lexemen ist Vorsicht bei der Anwendung der Umformungsprobe geboten. (81) a. Hähnchenschnitzel, Schweineschnitzel: Schnitzel, das aus Hähnchen / Schwein besteht → Stoff b. Kinderschnitzel: Schnitzel, das aus Kindern besteht? Schnitzel, das für Kinder gedacht ist → Adressat 52 Die Schülerinnen und Schüler können so erkennen, dass die Umformungsprobe nicht mechanisch auf alle Wörter übertragen werden kann. Stattdessen muss stets neu überprüft werden, welche Beziehung die zusammengesetzten Wörter aufweisen und was eigentlich ausgedrückt werden soll. Besonders mit Blick auf Lexeme wie verlaufen (den Weg nicht mehr finden- - Fortgang eines Geschehens) oder Läufer (rennende Person-- Teppich) bietet es sich an, über Polysemie zu sprechen. Indem sich die Lernenden konkrete Sätze überlegen, wird die Einsicht gewonnen, dass der Kontext bestimmt, wie das Wort zu verstehen ist. Daher sollten Wortbildung und Bedeutung im Unterricht Hand in Hand gehen. Ulrich (2001, S. 32) schlägt vor, mit „sprachspielerische[n] Texte[n], die entweder das Mittel der Wortbildung in stark übertriebener Weise einsetzen oder absichtlich gegen Regeln der Wortbildung verstoßen“, zu arbeiten. Um den komischen Effekt oder den Verfremdungseffekt auflösen zu können, müssen 52 Analog dazu: Vollmilchschokolade, Kinderschokolade. 111 5.5 Ein Ausflug ins Wortinnere sich die Schüler intensiv mit dem Wortmaterial auseinandersetzen. Hat Walnuss etwas mit Wal zu tun? Warum heißen Wachsmalstifte so, obwohl sie gar nicht wachsen? 53 Wie das Bestimmungswort übernimmt auch der Kern einer Zusammensetzung eine bestimmte Aufgabe. Er legt die grammatischen Merkmale des Wortes fest (vgl. Schülerduden 2017, Randnummer 391). So steht das Wort Laufschuhe im Plural und nicht im Singular; Anlaufstelle ist ein Femininum und nicht etwa wegen der Anlauf ein Maskulinum. Sind die Grundlagen gelegt, können komplexere Wörter, bei denen die Verfahren der Wortbildung miteinander kombiniert werden, untersucht, aber auch selbst gebildet werden: z. B. An-lauf-schwierig-keit(en). Hat man gelernt, die Wörter in die einzelnen Morpheme zu zerlegen und die Einzelbedeutungen herauszufiltern, kann schrittweise die Gesamtbedeutung identifiziert werden. Diese Technik hilft maßgeblich dabei, Fremdwörter, wie sie beispielsweise in Fachtexten vorkommen, zu erschließen. Allerdings ist darauf zu achten, dass Morpheme nicht mit Silben gleichgesetzt werden, denn Morpheme „tragen in einem weiten Sinn etwas Eigenes zur Bedeutung des ganzen Wortes bei“ (Lindauer & Senn 2009: 110). Da der Zusammensetzung von Wortstämmen kaum Grenzen gesetzt sind, können von den Lernenden sogenannte „Bandwurmwörter“ (z. B. Laufladendekorationsfachgeschäft) gebildet werden. Die Schülerinnen und Schüler wenden dabei die kennengelernten Wortbildungsmuster an und erweitern ihre Erfahrungen, indem sie einen Rollenwechsel vom Rezipienten zum Produzenten vollziehen. Wer schafft die längste Zusammensetzung? Wie ist diese aufgebaut? Was bedeutet sie? Gibt es das Wort tatsächlich? Mit Blick auf die Sprachpraxis lässt sich diskutieren, inwieweit solche komplexen Zusammensetzungen sinnvoll sind. Unter Beachtung von Texten aus Verwaltung und Recht kann zusammengetragen werden, welchen Zweck Bandwurmwörter erfüllen. Am Beispiel des Wortstamms lauf lässt sich weiterhin die Konversion als besondere Form der Ableitung thematisieren. (82) laufen-- der Lauf Ohne Präfigierung und Suffigierung entsteht ein neues Wort, das zudem eine andere Wortart aufweist. Zu beachten ist, dass die Infinitivendung nicht als 53 Im Beitrag „Formen und Funktionen der Wortbildung“ (Ulrich 2001) werden verschiedene Cartoons zur Verfügung gestellt. 112 5 Wortbildung Wortbildungs-, sondern als Flexionsmorphem zu verstehen ist. An dieser Stelle bietet es sich an, auf das Wissen zu den Wortarten zurückzugreifen, um den Wortbildungsprozess in seinem Ergebnis kontextualisieren zu können. Wenden wir uns nun dem zweiten Ziel zu. Bereits in der Grundschule wird erarbeitet, dass verschiedene Flexionsformen durch bestimmte Affixe angezeigt werden: die Schuhe des Läufers, er läuft, du läufst. Nicht nur bei der Wortbildung, sondern auch bei der Flexion ändert sich etwas an dem Wortstamm. Im Unterricht gilt es jedoch zu erkunden, dass beide Prozesse unterschiedlich motiviert sind und nicht zu denselben Ergebnissen führen. Während durch Wortbildung neue Lexeme hervorgebracht werden und somit eine Wortschatzerweiterung stattfindet, führt die Flexion zur Entstehung grammatischer Formen. Zwar unterscheiden sich beide Prozesse deutlich voneinander, sie lassen sich allerdings miteinander kombinieren, denn Zusammensetzungen und Ableitungen können-- je nach Wortart-- wiederum flektiert werden. Die Einsicht, dass Wörter auf verschiedenen Ebenen verändert werden können, trägt dazu bei, Sprache als System, aber auch als lebendiges Gebilde wahrzunehmen. Wie sowohl die rezeptive als auch die produktive Wortbildungskompetenz gestärkt werden kann, zeigt das Lehrwerk „Die Sprachstarken 5“ (Lötscher et al. 2008: 74 f.). In der Wörterwerkstatt werden verschiedene Wörter nicht nur in ihre Bestandeile zerlegt, sondern es findet auch die Analyse von Bedeutungen Berücksichtigung. Indem Wörter, die es eigentlich nicht gibt (z. B. Blumenangst), von den Schülerinnen und Schülern erklärt und auch selbst gebildet werden sollen, wird die Produktivität der Sprache betont und die Kreativität der Lernenden gefördert. Besonders wertvoll ist der Hinweis, nicht nur das Wörterbuch zurate zu ziehen, um über die Existenz eines Wortes zu entscheiden, sondern auch im Internet zu recherchieren (Lindauer & Senn 2009: 111). Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der Kenntnisse im Bereich der Wortbildung für die Rechtschreibung. Bestimmte Nachmorpheme (-ung, -keit) gehen mit Großschreibung einher; die Betrachtung des Stamms hilft dabei, Ableitungen oder Zusammensetzungen korrekt zu schreiben: Läufer oder Leufer? Beiläufig oder beileufig? Im Sinne der Schemakonstanz bzw. des Stammprinzips werden Wörter innerhalb einer Wortfamilie gleich oder zumindest ähnlich geschrieben. 113 5.5 Ein Ausflug ins Wortinnere Die in diesem Kapitel gezeigten Verknüpfungen der Wortbildung zu anderen linguistischen Disziplinen wie der Grammatik, der Semantik oder der Rechtschreibung gilt es im Unterricht deutlich zu machen und gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern zu erproben. Damit wird dem Trugschluss entgegengewirkt, dass die einzelnen Bereiche nichts miteinander zu tun hätten und- - wie es oftmals in Lehrwerken suggeriert wird- - unverbunden nebeneinander stehen würden. Die einzelnen Disziplinen legen zwar unterschiedliche Schwerpunkte, diese lassen sich jedoch an vielen Stellen aufeinander beziehen. 5.5.2 WhatsAppen und Gesetzigkeit - Wortbildung in der Gegenwart Schlagen wir die Zeitung auf oder surfen wir im Internet, stolpern wir nicht selten über neue Wörter wie Flashmob, Upgrade, Bufdi oder Abwrackprämie. Dass gesellschaftliche und technologische Entwicklungen auch mit neuen Begrifflichkeiten einhergehen, kann den Ausgangspunkt bilden, um einerseits die Produktivität der Sprache nachzuvollziehen und andererseits über Sprachverfallsklagen zu diskutieren. Für die Erweiterung des Wortschatzes stehen drei grundlegende Möglichkeiten zur Verfügung, die sich die Lernenden anhand von geeigneten Beispielen selbst erarbeiten können: 1. die Übernahme von Fremdwörtern: Flashmob, Flipchart, Update, Upgrade-… 2. die Erweiterung bereits bestehender Bedeutungen von Wörtern: Bass (Männerstimme, Musikinstrument), Maus (Tier, PC -Zubehör)-… 3. die Veränderung bereits vorhandener Wörter durch Ableitungen, Zusammensetzungen und Kurzformen: barrierefrei, Abwrackprämie, Enkeltrick, Lügenpresse, Körperscanner, Herdprämie, SMS (Short-Message-Service), Azubi (Auszubildender) Hat man die grundlegenden Mechanismen durchschaut, lohnt sich ein Blick in PR -Texte, Werbetexte oder Texte aus der Politik, um Gelegenheitsbildungen hinsichtlich ihres Aufbaus, aber auch ihrer Funktion und Bedeutung zu untersuchen (vgl. Wachtel 2005: 120). (83) unkaputtbar, kussfrisch, aprilfrisch, Fleckenteufel, durchschnupfsicher 114 5 Wortbildung Bei solchen kreativen Wortspielen werden die Muster der Wortbildung oder auch grammatische Normen bewusst außer Kraft gesetzt, um die Einprägsamkeit zu erhöhen und die Originalität des Produkts oder des Gedankens hervorzuheben. Solche Einsichten auf Ebene der Sprachreflexion sind jedoch erst möglich, wenn das Prinzip der Wortbildung durchdrungen wurde. Besonders spannend und motivierend dürften Beispiele aus der unmittelbaren Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler sein. Noch vor wenigen Jahren hat jeder gesimst, also SMS geschrieben. Heute kommunziert eine Vielzahl der Handynutzerinnen und -nutzer per WhatsApp. Allein der Name lädt ein, um über Wortneuschöpfungen zu sprechen. Er kombiniert die Frage What’s up? mit dem, was es ist: eine App (Application als Anwendung auf dem Smartphone). Wenn der Nachrichtendienst so beliebt ist, müsste es doch einen Namen für seine Anwenderinnen und Anwender und ein passendes Verb dazu geben. Diese Frage kann zunächst im Plenum und anschließend mithilfe der Quellen (84) und (85) diskutiert werden. (84) „der Prepaid Tarif perfekt für WhatsApper so flexibel wie kein Anderer Nutze Deine WhatsApp SIM wie Du willst und wir richten uns nach Dir. Kein Festlegen, keine Bindung, einfach telefonieren, whatsappen und surfen.“ (https: / / www.whatsappsim.de/ tarif, 15. 04. 2017) Im Werbetext werden traditionelle Wortbildungsmechanismen genutzt: Whats- Apper, whatsappen (Konversion). Eine andere Variante wird im folgenden Text vorgeschlagen. 115 5.5 Ein Ausflug ins Wortinnere (85) Echt jetzt. Kann doch nicht sein. Jetzt einmal abgesehen davon, dass es die Macher von WhatsApp offensichtlich versäumt haben, über ein Verb nachzudenken, das das beschreibt, was man mit ihrer Anwendung macht. Aber diese ewigen Krücken wie „Kann ich dir eine SMS in WhatsApp schicken? “, „Sollen wir Nachrichten in WhatsApp austauschen? “, „Dann sende ich dir eine WhatsApp-Nachricht! “ oder „Sollen wir WhatsAppen? “-- das ist doch auf Dauer kein Zustand für die wunderbare deutsche Sprache! Hiermit schlage ich als Verb für die Benutzung von WhatsApp offiziell den Begriff „whatsen“ vor. (https: / / hinterlektuelles.wordpress.com/ 2013/ 12/ 14/ ein-verbfur-whatsapp/ ,15.04.2017) Die Schülerinnen und Schüler können Probleme benennen und die verschiedenen Ansätze abwägen. Ziel ist jedoch nicht zwangsläufig, sich für eine Variante zu entscheiden. Vielmehr geht es darum, die Muster der Wortbildung auf sprachpraktische Situationen zu übertragen und sie als Ausgangspunkt für kritische Reflexionsprozesse zu nutzen. Sind die zwei Quellen ein Beispiel für den Verfall unserer Sprache? Oder sollte man eine differenziertere Haltung einnehmen und zwischen konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit unterscheiden? Es gilt das Bewusstsein dahingehend zu schärfen, dass nicht in jeder Kommunikationssituation die gleichen Ansprüche zu stellen sind und die Produktivität von Sprache nicht mit Verfall gleichzusetzen ist. Besonders diskutabel ist in diesem Zusammenhang der aktuelle Trend, die Regeln der Rechtschreibung, der Grammatik und der Wortbildung in verschiedenen Internetportalen zu vernachlässigen: von wird zu vong, ein Hund zu 1 Hund usw. (86) Polizei Frankfurt am Main: -[…] so vong gesetzigkeit her. (https: / / www.facebook.com/ VongMir/ , 15. 04. 2017) Können die User und selbst die Polizei nicht mehr korrekt schreiben oder liegt hier ein bewusstes Spielen mit der Sprache vor? Wie sind die Abweichungen motiviert und welche Muster lassen sich dahinter erkennen? In Beispiel (86) wird das Nachmorphem -igkeit, das Substantive, die von Adjektiven abgeleitet werden (z. B. Achtlosigkeit), hervorbringt, an ein bereits bestehendes Nomen geheftet. Auch wird es genutzt, um englische Wörter „einzudeutschen“: niceigkeit. Die Lernenden können mit ihrem Systemwissen die Mechanismen hinter 116 5 Wortbildung den Normabweichungen analysieren. Sind die „Spielregeln“ umrissen, können sie selbst kreativ werden und bewusst mit den Konventionen brechen. Darüber hinaus bietet es sich an, verschiedene Kommentare zu diesem Internethype hinsichtlich ihrer Argumentationsstruktur zu untersuchen und eine eigene Position, die sich auf Wissen und nicht auf persönliche Befindlichkeiten stützt, zu entwickeln. 5.6 Kurze Zusammenfassung Im Deutschen gibt es vielfältige Möglichkeiten, neue Wörter zu bilden. Ziel des Unterrichts sollte es sein, sowohl die rezeptive als auch die produktive Wortbildungskompetenz zu fördern. Wissen die Lernenden, wie die Wortbildungsmechanismen funktionieren, können sie sich fremde Wörter erschließen, Unsicherheiten in der Rechtschreibung auflösen und selbst die Muster der Wortbildung anwenden. Mit Blick auf Werbeslogans oder aktuelle Internethypes kann diskutiert werden, wie die gängigen Muster außer Kraft gesetzt werden und welche Effekte dadurch provoziert werden. Mit diesem Wissen kann schließlich aus einer reflektierten Position heraus argumentiert werden, inwieweit Sprachverfallsklagen ihre Berechtigung besitzen. Weitere unterrichtsrelevante Ansätze zur Wortbildung bietet die Zeitschrift Praxis Deutsch (2006). In diesem Kapitel haben wir die wesentlichen Wortbildungsmechanismen des Deutschen vorgestellt. Dabei haben wir zunächst kurz die Regularitäten behandelt, die die Position des Wortakzents im Deutschen betreffen. Im Anschluss haben wir die Ableitung neuer Wörter bzw. Stämme durch gebundene Derivationsmorpheme besprochen und in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung zwischen Verbpräfixen und Verbpartikeln motiviert. Ferner wurde der Prozess der Konversion thematisiert, bei dem ein Wortartwechsel ohne sichtbare Affigierung erfolgt. Schließlich haben wir den im Deutschen außerordentlich produktiven Prozess der Komposition / Zusammensetzung diskutiert, bei dem neue Wörter / Stämme durch die Kombination von vorhandenen Stämme gebildet werden. Für eine detailliertere Darstellung und Diskussion der Wortbildungsmittel im Deutschen verweisen wir auf LinguS Band 9 zur Lexikologie sowie auf Fleischer / Barz (1995), Altmann / Kemmerling (2000) und Erben (2006). 117 5.6 Kurze Zusammenfassung Aufgaben zur Lernkontrolle 1. Betrachten Sie anhand der folgenden Beispiele die Verteilung von -heit und -keit in Kombination mit adjektivischen Basen. Welche Regularität könnte der Verteilung der beiden Bildungslemente zugrundeliegen? (Behandeln Sie dabei Beispiele wie Sicher-heit oder Dunkel-heit als Ausnahmen.) a. *Möglich-heit, *Wahr-keit, *Ganz-keit, *Sauber-heit, *Menschlichheit, *Riskant-keit, *Feuchtig-heit b. Möglich-keit, Wahr-heit, Ganz-heit, Sauber-keit, Menschlich-keit, Riskant-heit, Feuchtig-keit 2. Geben Sie für das komplexe Wort Lichtbogenüberschlagschutz eine Klammer- oder Baumstruktur an. Beantworten Sie außerdem die folgenden Fragen: a. Um welche Art von Kompositum handelt es sich? Welche Gesamtbedeutung ist am wahrscheinlichsten? b. Welche Silbe trägt den Hauptakzent? 3. Nach gängiger Auffassung applizieren Wortbildungsprozesse vor Flexionsprozessen. Diskutieren Sie, ob Bildungen wie Verschlechterung ein Problem für diese Hypothese darstellen. 4. Bearbeiten Sie die nachstehende Aufgabe und beschreiben Sie, zu welchen Erkenntnissen die Schülerinnen und Schüler kommen sollen. „Heute schon geschweppt? “ ist ein Werbespruch der Getränkemarke Schweppes. Erkläre den Werbespruch, indem du analysierst, wie geschweppt zustandekommt und was es bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern bewirken soll. 119 5.6 Kurze Zusammenfassung 6 Statt eines Fazits Wir haben in dem Band gesehen, dass das fachliche Wissen einer Lehrperson über das hinausgehen muss, was die Schülerinnen und Schüler lernen und verstehen sollen. Fachwissenschaftliches Hintergrundwissen ist nötig, um ▶ prototypische grammatische Erscheinungen vom Grenzbereich abzutrennen, ▶ Merksätze und Übungen trotz aller Verknappungen fachlich korrekt zu gestalten, ▶ Schwierigkeitspotenziale und fachliche Stolpersteine sowohl in Lernals auch in Leistungssituationen zu identifizieren und zu entscheiden, inwieweit diese für die Lernenden geeignet sind, ▶ Systemeinsichten sinnvoll mit der sprachlichen Realität zu verknüpfen. Dabei sollte es stets Motivation und Ziel sein, die Grammatik aus ihrer „verstaubten“ Ecke herauszuholen und die Lernenden aktiv in den Entdeckungsprozess einzubeziehen. Zwar gilt es, Einsichten in den Bau der Sprache zu gewinnen, doch dabei sollte man nicht stehen bleiben. Vielmehr dienen die Systemeinsichten dazu, mit Schülerinnen und Schülern über Sprache zu sprechen und auch das kommunikative Handeln nicht aus den Augen zu verlieren. Lernende aller Altersstufen besitzen aufgrund ihrer Erfahrungen als Sprachnutzerinnen und -nutzer Konzepte zu den Eigenschaften von Wörtern und ihren Veränderungsmöglichkeiten. Aufgaben, in denen sie angeleitet werden, diese impliziten Wissensbestände zu explizieren, bilden den Ausgangspunkt, um mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam das zu erkunden, was unsere Sprache auszeichnet: systematische Lebendigkeit und Flexibilität, die wir beobachten und beschreiben können. Damit beschränkt sich der Grammatikunterricht nicht mehr auf das bloße Abarbeiten von Routinen, sondern er gewinnt an Lebensnähe und Funktionalität, indem er jenseits von den Polen richtig oder falsch zum Experimentieren und Argumentieren einlädt. Der Beitrag der Fachwissenschaft besteht darin, den Sprecherinnen und Sprechern die grammatischen Regularitäten der Sprache bewusst zu machen und ihnen Beschreibungs- und Analyseinstrumente an die Hand zu geben, um zu einem besseren Verständnis sprachlicher Phänomene zu gelangen. Dabei gilt es, systematische Eigenschaften der Grammatik in Form von Regeln zu rekonstruieren, die dazu beitragen, den Studierenden ihr unbewusstes sprachliches 120 6 Statt eines Fazits Wissen offenzulegen und ihnen Wege in ein faszinierendes und hochspezialisiertes kognitives Fähigkeitssystem zu eröffnen. Das Wissen um sprachliche Regeln und Regularitäten ist eine wesentliche Voraussetzung für die Sprachreflexion und die kritische Einschätzung des Verhältnisses von grammatischen Normen und tatsächlichem Sprachgebrauch- - nur wer die Regeln kennt, ist auch in der Lage, potentielle Regelverstöße einzuordnen und zu erkennen, ob es sich möglicherweise um korrekturbedürftige Fehler oder um bewusste Regelverstöße handelt, mit denen ein bestimmter kommunikativer Zweck verfolgt wird. Literaturverzeichnis Altmann, Hans / Kemmerling, Silke (2000): Wortbildung fürs Examen. Wiesbaden. Bierwisch, Manfred (1967): „Syntactic features in morphology: General problems of socalled pronominal inflection in German.“ In: To Honor Roman Jakobson: Essays on the Occasion of His Seventieth Birthday. Den Haag, S. 239-270. Duden 2016-= Wöllstein, Angelika und die Dudenredaktion (2016): Die Grammatik (9. Aufl.). Berlin: Dudenverlag. Eisenberg, Peter (2013): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort (4. 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Lösungsvorschläge zu den Aufgaben Kapitel 2 1. Die Wörter in a. gehören zum Paradigma des Lexems Dorf, während in b. durch Komposition neue Lexeme entstanden sind. In c. liegen Wortformen des Lexems singen vor (da das Partizip Präsens singend auch als Adjektiv gebraucht werden kann, muss man evtl. davon ausgehen, dass ein Flexionsprozess [Partizipbildung] ausnahmsweise wortartverändernd wirkt). In d. hat man es mit Formen zu tun, die mittels Derivation aus der verbalen Basis änderabgeleitet worden sind. 2. a.: Bei der außerphonologischen Eigenschaft handelt es sich um die Flexionsmerkmale Dativ Singular Mask./ Neut. (=--Fem.). b.: Die außerphonologische Eigenschaft ist semantisch-pragmatischer Natur (Ausdruck von Erleichterung, Erschöpfung, Erstaunen o. ä.). c.: Die außerphonologische Eigenschaft ist syntaktischer Natur und besteht darin, die Ergänzung des Verbs einzuführen und ihr Kasus zuzuweisen. 3. Allomorphie: Abhängig von Eigenschaften der unmittelbaren Umgebung wird eine bestimmte Bedeutung oder Funktion durch unterschiedliche Formen eines Morphems kodiert. So wird der Infinitiv im Deutschen in der Regel dadurch gebildet, dass das Flexiv--en an den Verbstamm angefügt wird (mach-en). Enthält die finale Silbe des Stamms aber einen Schwa- Laut, dann muss das Allomorph -n gewählt werden (sammel-n). 4. Flexion: Wortart bleibt (in der Regel) erhalten, Verknüpfung von Stämmen mit gebundenen Morphemen, die grammatische Funktionen kennzeichnen, Flexion appliziert (in der Regel) nach Wortbildung. Wortbildung: kann wortartverändernd wirken, Bildung einer potentiell offenen Klasse von Stämmen durch die Prozesse der Derivation und Komposition, Wortbildung erfolgt (in der Regel) vor Flexion. 5. a) Schüler A ist von dem lexikalischen Wort (knarren) ausgegangen. Schüler B ist von der konkreten Wortform ausgegangen. Schüler C bezieht sich auf die Form des Wortes. Schüler D bestimmt die syntaktische Funktion, die das Wort übernimmt. b) Mit Blick auf die Aufgabenstellung ist die Antwort von Schüler C als falsch einzustufen. Zwar hat er die Form des Wortes korrekt bestimmt, aber die Aufgabenstellung fragt explizit nach der Wortart. Ähnlich verhält 125 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben es sich bei Schüler D, der zwar die syntaktische Funktion richtig ermittelt, aber dabei nicht die Fragestellung beachtet. Die Antwort von Schüler A ist nicht falsch, sondern zeigt lediglich im Vergleich zu Schüler B eine andere Perspektive. Kapitel 3 1. Bei unflektierbaren Elementen kann die (syntaktische) Wortart lediglich über das syntaktische Verhalten ermittelt werden. Beispiel: In während des Spiels handelt es sich um eine Präposition, die eine nominale Ergänzung verlangt (des Spiels), der sie einen Kasus (Genitiv) zuweist. In während er schlief liegt eine (temporale oder adversative) Subjunktion vor, die einen finiten Nebensatz einleitet und keine nominale Ergänzung aufweist. 2. In a. liegt ein (finites) Verb vor, das mit dem Subjekt in Person und Numerus kongruiert (Du liebst den Sport, Die Frauen lieben den Sport) und in verschiedene Tempusformen gesetzt werden kann (Ich liebte den Sport). In b. stellt Liebe ein Substantiv dar. Es kann mit anderen Substantiven koordiniert werden (Liebe und Methylalkohol macht blind) und zusammen mit einem Artikel und modifizierenden Adjektiven auftreten (Die gute alte Liebe macht blind). In morphologischer Hinsicht verhält sich Liebe aber nicht typisch substantivisch, da es sich schlecht in den Plural setzen lässt. In c. liegt ein Adjektiv vor. Es kongruiert in Genus, Numerus und Kasus mit seinem Bezugselement (ein lieber Kerl), lässt sich steigern und erscheint in der für attributive Adjektive typischen Position zwischen Artikel und Bezugsnomen. 3. Das Ziel der Aufgabe besteht darin, die Merkmale der Wortarten zu nutzen, um die angeführten Wörter miteinander zu vergleichen. Problematisch ist jedoch, dass keine syntaktischen Kontexte gegeben sind, sondern lediglich einzelne Wörter angeführt werden. Daher kommen bei SUCHE zwei Wortarten in Betracht: Nomen (die Suche) oder Verb (ich suche). Da die Aufgabenstellung nicht explizit vorgibt, sich an den Wortarten zu orientieren, könnten die Lernenden andere Kriterien heranziehen, um ein Wort auszuwählen. So könnte Kinder gestrichen werden, weil es das einzige Wort ist, das eine Pluralendung aufweist, oder Polizist, da es im Gegensatz zu den übrigen Wörtern drei- und nicht zweisilbig ist. Ähnlich verhält es sich bei b). Offensichtlich soll zwischen Subjunktion und Prä- 126 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben position unterschieden werden. Dass kann problemlos als Subjunktion bestimmt werden und auf sowie neben sind typische Präpositionen. Während kann ohne syntaktischen Rahmen hingegen nicht eindeutig einer Wortart zugeordnet werden: Während (Subjunktion) ich lerne, höre ich Musik. Während (Präposition) des Unterrichts schneite es. Kapitel 4 1. brennen gehört zur Klasse der schwachen Verben, da es das Präteritum mit -te bildet. Bei dem Wechsel des Grundvokals (brennen, brannte, gebrannt) handelt es sich nicht um Ablaut, sondern um einen sog. Rückumlaut. Bei werden handelt es sich um ein stark flektierendes Verb, das aufgrund seines speziellen Flexionsverhaltens mitunter einer separaten Klasse unregelmäßiger Verben zugeschlagen wird (zusammen mit haben und sein). Werden kann ein Voll- oder ein Hilfsverb sein (davon abhängig treten Unterschiede im Formeninventar auf: Partizip II des Vollverbs: geworden, Partizip II des Passivhilfsverbs: worden). Im Gegenwartsdeutschen schwankt das Verb vergären zwischen starker und schwacher Flexion: Neben starken Formen mit Ablaut wie (Prät.) vergor und (Partizip II ) vergoren finden sich auch die schwachen Varianten vergärte und vergärt. 2. Bär: Kl. II (schwaches Maskulinum) (Plural & Genitiv Singular auf -en) Tochter: Kl. Ib (starkes Femininum) (Plural auf -er, Dativ Plural auf -n) Boot: Kl. Ia (starkes Neutrum) (Pl. auf -e, Gen. Sg. auf -s, Dat. Pl. auf--n) Euro: Kl. Ic (starkes Maskulinum, Sonderplural) (Pl. und Gen. Sg. auf -s) 3. Starke Flexion: Schwache Flexion: (i) Akkusativ Singular Mask. (i) Akkusativ Singular Mask. (ii) Genitiv Singular Mask./ Neut. (ii) Dativ / Genitiv Singular (iii) Dativ Plural (iii) Plural Starke Flexion: -en signalisiert keine Werte für Numerus, da es sowohl im Singular als auch im Plural auftritt; es tritt in allen Kasus außer Nominativ auf. Es ist beschränkt auf Mask./ Neut. Mögliche Spezifikation: -Nominativ, -Fem. Schwache Flexion: -en tritt in allen Genera, Kasus und Numeri auf. Es signalisiert somit weder Genus noch Kasus noch Numerus. 127 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben 4. a. Eltern: Die Lernenden könnten aufgrund der Endung dazu verleitet werden, mit Wen? zu fragen. Allerdings markiert die Endung den Plural (Dativ). Jahr: Mithilfe der Frageprobe lassen sich adverbiale Bestimmungen nicht oder nur schlecht erfragen. Katze: Sowohl Nominativ Singular als auch Akkusativ Singular kommen in Betracht. Die Lernenden könnten sich für Ersteres entscheiden, da sie das eher unscheinbare Personalpronomen ich nicht als Subjekt erkennen und sich stattdessen von der Form der Nominalgruppe leiten lassen. Bushaltestelle: Wenn die Lernenden mit Wohin? fragen, werden sie zum falschen Kasus gelenkt, da hier keine Wechselpräposition vorliegt. Aus der Frage Zu wem? resultiert zwar der korrekte Kasus, allerdings führt die Frageprobe hier zu einer Konstruktion, die dem sprachlichen Handeln zuwiderläuft. b. Eltern → Meinem Mann → Dativ Jahr → jeden Tag → Akkusativ Katze → einen Tiger → Akkusativ Paula → Der Mann → Nominativ Bushaltestelle → zum (zu dem) Bäcker → Dativ Kapitel 5 1. -heit tritt an einsilbige Adjektive und an mehrsilbige Adjektive mit Endbetonung. -keit steht demnach nie nach betonten Silben und damit zumeist nach Adjektiven, die auf -ig, -lich, -er usw. enden: -heit: wahr, ganz, riskant -keit: möglich, sauber, menschlich, feucht-ig 2. Es handelt sich um ein Determinativkompositum mit der Bedeutung ‚Schutz gegen Lichtbogenüberschlag‘, das auf der ersten Silbe betont wird (Struktur: [[[Licht+bogen]+überschlag]+schutz]). Alternativ könnte man dem Wort auch die (freilich weniger plausible) Bedeutung ‚Überschlagschutz für Lichtbogen‘ zuschreiben, die mit der folgenden Struktur und Akzentverteilung einhergeht: [[Licht+bogen]+[überschlag+schutz]]. 3. Bei Verschlechterung (Verschlimmerung, Verschönerung usw.) scheint es sich um das Resultat eines Derivationsprozesses zu handeln, der allerdings nur eingeschränkt produktiv ist (*Verhöherung, *Veraufwendigerung usw.) 128 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben und vor allem bei einigen häufigen Adjektiven anzutreffen ist. Eine mögliche Lösung des Problems könnte darin bestehen, anzunehmen, dass die Komparativformen häufiger Adjektive fertig flektiert im Lexikon stehen und daher wieder Gegenstand von Wortbildungsprozessen sein können. 4. Die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass in Werbeslogans bewusst mit den Mechanismen der Wortbildung gespielt wird, um die Aufmerksamkeit der Verbraucherinnen und Verbraucher auf das Produkt zu lenken. Mithilfe ihrer Kenntnisse zur Wortbildung können sie die Wortneuschöpfung beschreiben und den Bezug zur Marke herstellen: Geschweppt ist die Partizip II Form des Verbs schweppen, das von der Marke Schweppes abgeleitet wurde. I SBN 978-3-8233-8099-3 LinguS 1 Das Wort LINGUISTIK UND SCHULE Von der Sprachtheorie zur Unterrichtspraxis ERIC FUS MARIA GEIPEL www.narr.de Die kompetente Verwendung von Wörtern im Kontext einer Sprache stellt ein hochspezialisiertes Fähigkeitssystem dar, das wir unbewusst beherrschen. Ebenso verfügen wir über eine implizite Kenntnis der Regeln, die den inneren Aufbau von Wörtern bestimmen. Der unbewusste Charakter sprachlichen Wissens erschwert jedoch dessen Vermittlung in Schule und Universität. Der vorliegende Überblick über wesentliche morphologische Phänomene des Deutschen sowie einschlägige grammatische Begriffe und Analysemethoden berücksichtigt dieses Problem des Grammatikunterrichts und begegnet ihm mit einer Synthese von sprachwissenschaftlicher und sprachdidaktischer Perspektive. LinguS 1 FUS / GEIPEL · Das Wort