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Verben im interaktiven Kontext

2017
978-3-8233-9105-0
Gunter Narr Verlag 
Arnulf Deppermann
Nadine Proske
Arne Zeschel

Der Band untersucht die Verwendung der Bewegungsverben kommen und gehen sowie der mentalen Verben wissen und denken im gesprochenen Deutsch. Anhand einer Kombination explorativer, mit der Schriftlichkeit vergleichender Korpus - untersuchungen und interaktionslinguistischer Analysen werden spezifisch mündliche Argumentrealisierungsmuster identifiziert und deren funktionale Motivationen beschrieben. Es zeigt sich, dass viele verbgebundene Konstruktionen diskursorganisatorische Funktionen erfüllen oder mündlichkeitsspezifische Bedeutungen haben und dass dabei reduzierte Formen besonders häufig sind.

Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel (Hrsg.) Verben im interaktiven Kontext Bewegungsverben und mentale Verben im gesprochenen Deutsch Deppermann / Proske / Zeschel (Hrsg.) Verben im interaktiven Kontext 74 STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Der Band untersucht die Verwendung der Bewegungsverben kommen und gehen sowie der mentalen Verben wissen und denken im gesprochenen Deutsch. Anhand einer Kombination explorativer, mit der Schriftlichkeit vergleichender Korpusuntersuchungen und interaktionslinguistischer Analysen werden spezifisch mündliche Argumentrealisierungsmuster identifiziert und deren funktionale Motivationen beschrieben. Es zeigt sich, dass viele verbgebundene Konstruktionen diskursorganisatorische Funktionen erfüllen oder mündlichkeitsspezifische Bedeutungen haben und dass dabei reduzierte Formen besonders häufig sind. STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 74 024317 SDS 74 - Deppermann.qxp_024317 T_SDS 74 - Deppermann 18.07.17 16: 33 Seite 1 Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Angelika Wöllstein Band 74 STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE 024317 SDS 74 - Deppermann.qxp_024317 T_SDS 74 - Deppermann 18.07.17 16: 33 Seite 2 Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel (Hrsg.) Verben im interaktiven Kontext Bewegungsverben und mentale Verben im gesprochenen Deutsch 024317 SDS 74 - Deppermann.qxp_024317 T_SDS 74 - Deppermann 18.07.17 16: 33 Seite 3 Redaktion: Mechthild Elstermann und Norbert Volz Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz und Layout: Norbert Volz Druck und Bindung: CPI buchbücher, Birkach Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-8105-1 024317 SDS 74 - Deppermann.qxp_024317 T_SDS 74 - Deppermann 18.07.17 16: 33 Seite 4 INHALT Arnulf Deppermann/ Nadine Proske/ Arne Zeschel Verben im interaktiven Kontext..............................................................................7 Arne Zeschel Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch....................................................41 Nadine Proske Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen in institutionellen und öffentlichen Interaktionen ..........117 Nadine Proske Perspektivierung von Handlungen und Zuschreibung von Intentionalität durch pseudokoordiniertes kommen.................................177 Arne Zeschel Denken und wissen im gesprochenen Deutsch ..................................................249 Arnulf Deppermann/ Silke Reineke Epistemische Praktiken und ihre feinen Unterschiede: Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache .................................337 Henrike Helmer/ Arnulf Deppermann/ Silke Reineke Antwort, epistemischer Marker oder Widerspruch? Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht .............377 Henrike Helmer Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive..............................407 Anhang I: Framesemantische Beschreibungen ...............................................451 Anhang II: Transkriptionskonventionen nach GAT 2 .....................................493 ARNULF DEPPERMANN / NADINE PROSKE / ARNE ZESCHEL VERBEN IM INTERAKTIVEN KONTEXT 1. Einleitung 1.1 Phänomenbereich Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge sind aus dem von 2012 bis 2016 am Institut für Deutsche Sprache (IDS) durchgeführten Projekt „Verbkomplemente im gesprochenen Deutsch“ hervorgegangen. 1 Sie vereint das Interesse, die Valenz von Verben im Hinblick auf ihre Besonderheiten in Sprache-in-Interaktion und deren funktionale Motivationen zu untersuchen. Dieser Phänomenbereich ist bisher selten Gegenstand der Gesprochene-Sprache- Forschung gewesen (vgl. die Übersicht unter 1.2). Der Fokus des Projekts lag darin, Zusammenhänge zwischen Formen der Argumentrealisierung - z.B. Art und Anzahl der Argumente, Weglassungen oder bestimmte lexikalische Füllungen - und semantisch-pragmatischen, interaktionalen und medialen Faktoren zu ergründen. Es interessiert also, ob ein gegebenes formales Argumentrealisierungsmuster 2 typisch oder spezifisch für eine Medialität (mündlich vs. schriftlich), eine Gattung, eine bestimmte verbale Handlung oder einen bestimmten sequenziellen Kontext ist. Diese Fragen wurden sowohl verbspezifisch als auch mit Blick auf allgemeinere, verbübergreifende Tendenzen der Argumentrealisierung untersucht. Bei der Ergründung der Faktoren, die Einfluss auf die Argumentrealisierung haben, müssen zwei Arten auseinandergehalten werden: Solche Faktoren, die in den Konstitutionsbedingungen mündlicher Interaktionen begründet sind, und solche, die in der (medialitäts)kontextübergreifenden Semantik von Verb-Argumentstrukturen liegen. Letztere müssen insbesondere bei polysemen Verben in die Analyse einbezogen werden. Verschiedene Bedeutungen eines Verbs sind häufig mit unterschiedlichen Valenzen verbunden, die Verben werden, je nachdem welche Semantik genutzt werden soll, in der Mündlichkeit ebenso wie in der Schriftlichkeit mit der entsprechenden Argumentstruktur gebraucht. Ein Beispiel ist die Bedeutung ‘jemand befindet sich irgendwie’ von gehen - eine von sehr vielen Bedeutungen dieses Verbs. Diese Bedeutung kommt nur zustande, wenn das Verb mit einer Dativ-NP und ei- 1 Das Projekt wurde mit Mitteln aus dem Leibniz-Wettbewerb 2012 der Leibniz-Gemeinschaft gefördert. 2 Zur Begriffsklärung von ‘Argument’, ‘Argumentstruktur’ und ‘Argumentrealisierung(smuster)’ vgl. 3. Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 8 nem Modaladverbial kombiniert wird. Zudem muss das Subjekt hier durch das Pronomen es realisiert sein (Der alten Dame geht es schlecht.). Eine solche Eins-zu-eins-Beziehung von Art der Argumentrealisierung und Bedeutung liegt nicht immer vor, steht jedoch immer - und medialitätsunabhängig - zur Verfügung. Die medialitäts-, gattungs- oder sequenzbedingten Faktoren kommen hinzu: In mündlichen Verwendungen von gehen in der Bedeutung ‘jemand befindet sich irgendwie’ sind vor allem pronominale Realisierungen der Dativ-NP zu erwarten, da die Bedeutung vor allem in Fragen (nach) und Schilderungen der Befindlichkeit der Gesprächsbeteiligten benutzt werden; außerdem kann es zu kontextuell oder stilistisch bedingten Weglassungen kommen (Und, wie geht es dir? - Ja, geht gut.). Die Realisierung der Argumente kann zudem vom Interaktionstyp, der Gattung oder der sequenziellen Position einer Äußerung beeinflusst werden. Ein v.a. in mündlichen Erzählungen anzutreffendes, verbübergreifendes, schematisches grammatisches Muster ist z.B. die „echte Verbspitzenstellung“ (Auer 1993), bei der alle Satzglieder im Mittelfeld stehen (Komm ich gestern Morgen ins Büro, sitzt da schon jemand auf meinem Platz). Schließlich finden sich abweichende Argumentrealisierungen in Phrasen, die der Verfestigung bis hin zur Grammatikalisierung unterliegen. Ehemals satzwertige Einheiten aus Verb und Argument(en) wie (ich) mein, (ich) glaub, weißte, (ich) weiß nicht oder komm wechseln die Kategorie (vgl. dazu auch 1.2), hin zur für die Mündlichkeit spezifischen Wortart der Gesprächspartikeln. Sie sind dann nicht mehr propositional, sondern dienen der Interaktionsorganisation und dem Ausdruck epistemischer Einstellungen. In diesen Partikeln geht die Variabilität der Argumentrealisierung verloren; es sind in der Regel Formen der ersten Person Singular Präsens oder Imperative, die sich solcherart verfestigen. Die Grammatikalisierung ist jedoch (zumindest heutzutage) nicht abgeschlossen. Es gibt sowohl formal gleiche Sätze, die auch dann, wenn die grammatikalisierte Variante usuell geworden ist, weiterhin möglich sind, als auch ambige Fälle, die sowohl als Partikel als auch als satzwertige Einheit interpretiert werden können. 1.2 Forschungsstand Die Gesprochene-Sprache-Forschung hat sich selten gezielt mit Verben beschäftigt. Zwar hat sich in den letzten 20 Jahren innerhalb der mit Gesprächsdaten arbeitenden Forschung der Fokus auf grammatische Gegenstände verstärkt - insbesondere mit dem Aufkommen der Interaktionalen Linguistik (vgl. Selting/ Couper-Kuhlen 2000), die sich die Untersuchung wiederkehrender formaler Strukturen (syntaktischer, lexikalischer und prosodischer Art) und deren funktionaler Motivation zum Ziel gesetzt hat. Die meisten ein- Verben im interaktiven Kontext 9 schlägigen Untersuchungen widmen sich jedoch entweder Modalpartikeln oder anderen, z.B. responsiven Gesprächspartikeln (vgl. Schwitalla 2002), Diskursmarkern (vgl. Auer/ Günthner 2005; Blühdorn et al. 2017) oder (nichtkanonischen) syntaktischen Strukturen wie Linksversetzungen und anderen Vor-Vorfeld-Einheiten (vgl. Auer 1997), Pseudoclefts und ähnlichen zweiteiligen Strukturen (vgl. z.B. Couper-Kuhlen/ Thompson 2006; Günthner 1999, 2008; Hopper/ Thompson 2008) sowie Selbstreparaturkonstruktionen (vgl. z.B. Pfeiffer 2015; Uhmann 2006). In der Literatur bisher beschriebene Besonderheiten des Gebrauchs von Argumentstrukturen in Sprache-in-Interaktion beziehen sich zum einen auf abstrakte, einzelsprachübergreifende Muster und zum anderen auf einzelsprachspezifische Phänomene. Letztere können entweder auch abstrakter Natur sein, d.h. verbunabhängige, schematische syntaktische Strukturen, oder aber verbgebunden und damit teilspezifisch. Zu den Untersuchungen verbgebundener Konstruktionen gehört die Arbeit von Imo (2007). Er untersucht Konstruktionen mit zehn deutschen matrixsatzfähigen Verben im Hinblick auf ihre pragmatischen Leistungen. Ein häufig vorkommendes Muster bei mehreren der untersuchten Verben ist zum Beispiel die Verwendung auf vorerwähnte Sachverhalte verweisender pronominaler oder elliptischer Objekte (z.B. das glaube ich nicht oder sag ich ja), die für Bewertungen von vom Interaktionspartner aufgestellten Behauptungen verwendet werden (vgl. Imo 2007, S. 70ff. und 202ff.). Bei einem weiteren verbreiteten Muster, der einem Verbzweitsatz vorangestellten, nachgestellten oder parenthetischen Redeindizierung durch sagen (er sagt, er kann das nicht; er kann das nicht, sagt er; aber das - sagt er - kann er nicht), führen die in den Daten anzutreffenden nicht-kanonischen Argumentrealisierungen Imo zu Überlegungen hinsichtlich der angemessenen Beschreibung der Valenz: Die wiedergegebenen Redeinhalte umfassen oft mehrere Teilsätze und beginnen häufig mit Partikeln, die auch der alleinige Redeinhalt sein können (Ich sage: Naja. (…)). In ersterem Fall liegt ein erweiterter Skopus vor und in letzterem Fall kein propositionswertiger Redeinhalt - also keine kanonischen Ergänzungen des Verbs. Imo (2007, S. 68) stellt als mögliche Konsequenzen aus diesem Befund die Annahme einer modifizierten Valenz (Objektleerstelle erlaubt syntaktische Kategorien aller Art und größeren Umfangs statt nur Komplementsätze und Akkusativ-NPn) der Annahme einer verringerten Valenz (Redeanführungskonstruktion nur mit Subjektleerstelle und Skopus über folgende Redewiedergabe) gegenüber. Die Entscheidung für eine Modellierung sei schwierig, da die Übergänge von syntaktischer zu pragmatischer Projektion fließend seien. Schließlich geht Imo auch auf verfestigte Verb-Argument- Kombinationen (z.B. ich mein, ich weiß nicht) ein, die als im Prozess der Grammatikalisierung hin zum Diskursmarker befindlich beschrieben werden Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 10 können (vgl. dazu auch Auer/ Günthner 2005; vgl. für das Englische Thompson/ Mulac 1991 und Thompson 2002). Imos Arbeit ist - neben der etwas anders ausgerichteten von Proske (2013) (vgl. dazu weiter unten) - die einzige bisherige größer angelegte Studie, die gezielt verschiedene deutsche Verben und ihre Argumentstrukturen als Ausgangspunkt für interaktional-linguistische Analysen nimmt und dabei auch auf Häufigkeiten eingeht. Eine verbunabhängige, einzelsprachspezifische Studie zu auf vorerwähnte Sachverhalte verweisenden Ellipsen ist die Untersuchung von Helmer (2016). Sie wählt nach Hoffmann (1999) den Terminus ‘Analepse’ (statt ‘Ellipse’): Diese sprachlichen Strukturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch den diskursiven Kontext, also nicht allein durch die gemeinsame Sprecher- und Hörerorientierung in der Situation (wie etwa bei Objektellipsen) zu verstehen sind. Helmer (2016) untersucht die selteneren, bisher wenig beachteten Analepsen mit realisiertem Verb und beschränkt ihre Untersuchung nicht auf spezifische Verben, sondern allgemein auf verbhaltige Analepsen, in denen Sprecher das Topik nicht explizieren, sondern sich auf Antezedenzien im vorausgehenden Kontext beziehen. Topik-Drop nutzen Sprecher aus informationsstrukturellen Gründen wie Redundanzvermeidung, aber auch aus anderen, rhetorischen Gründen. Ihren interaktionslinguistischen Ansatz ergänzt Helmer (2016) durch eine diskurssemantische Analyse der Relationen zwischen Analepsen und ihren Antezedenzien, die zeigt, dass es sich bei den Antezedenzien in nur einem Drittel der Fälle um NPn, VPn oder APn handelt; deutlich häufiger sind propositionswertige Bezüge. Mittels eines mixed-methods-Ansatzes vergleicht Helmer (2016) quantitativ und qualitativ die semantisch unterspezifizierten Analepsen mit semantisch ebenso unterspezifizierten Äußerungen mit der Anapher das als realisiertem Argument. Trotz des formal nur minimalen Unterschiedes offenbaren sich verwendungsspezifische Unterschiede zwischen diesen beiden Bezugnahmen auf den vorausgehenden Kontext. Analepsen werden gegenüber anaphorischen Äußerungen für spezifische Situationen, kontextuelle Bedingungen und kommunikative Handlungen von Sprechern präferiert. Während analeptische Äußerungen tendenziell stark kohäsiv an den Präkontext angebunden sind, d.h. eher kurz, wenig prominent und intonatorisch flach sind und dabei i.d.R. konditionell relevante, responsive Sprechhandlungen in der zweiten Sequenzposition vollziehen (wie etwa Antworten auf Fragen, Erst- oder Zweitbewertungen), sind anaphorische Äußerungen häufig weniger stark mit dem Präkontext verbunden. Diese sind prosodisch, lexikalisch, semantisch, sequenziell und pragmatisch deutlich variabler und eigenständiger. Der (minimale) Formunterschied zwischen den Äußerungstypen indiziert damit auch einen Funktionsunterschied, obwohl beide Formen die gleiche Semantik aufweisen. Verben im interaktiven Kontext 11 Abstrakte, einzelsprachübergreifend anzutreffende Tendenzen der Realisierungsform von Argumentstrukturen in der Spontansprache haben u.a. Chafe (2004), Du Bois (2007, 2003a, b) und Thompson/ Hopper (2001) beschrieben. Alle beziehen sich darauf, dass in mündlichen Korpora auftretende Sätze (i.S.v. clauses, also Teilsätze) zwar häufig mehr als ein Satzglied haben, jedoch in den meisten Fällen nur eins davon mit allen Merkmalen ausgestattet ist, die ein maximal „prominentes“ Satzglied haben kann. Spontan geäußerte Sätze entsprechen selten prototypischen transitiven Linguistensätzen wie Der Einbrecher zerschlägt das Fenster. Dies betrifft Merkmale verschiedener Ebenen (Wortart, Semantik, Informationsstruktur): Sätze mit einem voll agentiven Subjekt, das eine telische Handlung auf ein affiziertes, seinen Zustand veränderndes Objekt ausübt, sind genauso selten (vgl. Thompson/ Hopper 2001) wie Sätze mit mehr als einem neuen, nicht vorerwähnten Referenten oder Konzept (vgl. Chafe 2004, One New Idea Constraint). Letztere Beschränkung präzisiert Du Bois (1987, 2003a, b) im Rahmen seines Ansatzes einer Preferred Argument Structure. Dieser umfasst mehrere empirisch ermittelte Präferenzen bzw. statistische Tendenzen der Argumentrealisierung in der Mündlichkeit. Diesen zufolge wird nicht nur mehr als ein neuer Referent pro Teilsatz vermieden, sondern treten außerdem neue Referenten insbesondere nicht als Subjekte transitiver Sätze auf; sie werden stattdessen als Objekt, als Subjekt intransitiver Sätze oder in einer ganz anderen Satzgliedfunktion eingeführt. Weil neue Referenten in der Regel durch volle lexikalische Nominalphrasen eingeführt werden, ergibt sich die zusätzliche Tendenz, dass Subjekte transitiver Sätze meist Pronomen sind, 3 während andere Satzglieder deutlich häufiger als lexikalische Nominalphrasen realisiert werden, wobei insgesamt aber sehr viele Sätze in mündlichen Daten überhaupt nur pronominale Argumente haben. Die theoretische Modellierung und Erklärung dieser statistisch beobachtbaren Tendenzen fällt bei den verschiedenen Autoren unterschiedlich aus, es wird aber immer eine Verbindung zu den Konstitutionsbedingungen von Sprache-in-Interaktion hergestellt: Aufgrund der online stattfindenden Planung und Verarbeitung gibt es eine Tendenz zu einer stärkeren ‘Portionierung’ als man sie in der Schriftsprache findet. Die Notwendigkeit der Portionierung führt syntaktisch, grob gesagt, zu kürzeren Sätzen und zu weniger nicht-pronominalen Satzgliedern; wenn längere, komplexere syntaktische Strukturen auftreten, werden diese häufig prosodisch portioniert, d.h. auf mehrere Intonationsphrasen aufgespalten. 3 Die Tendenzen auf der Ebene der Realisierungsform und die Tendenzen auf der Ebene des Informationsstatus sind aber als teilweise unabhängig zu betrachten, da auch viele lexikalische NPn auf vorerwähnte Referenten verweisen. Deshalb wird in Studien, die sich an Du Bois’ Preferred Argument Structure anlehnen, die lexikalische Realisierungsform von Argumenten in der Regel unabhängig vom Informationsstatus bestimmt, d.h. es wird nicht einfach von lexikalischer Realisierung auf neuen Informationsstatus geschlossen (vgl. z.B. Proske 2013). Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 12 Eine differenzierte Untersuchung der einzelnen Fälle, in denen sich solche groben Tendenzen zeigen, führt auf die Ebene einzelner Verben und ihrer potenziell verschiedenen Argumentrealisierungsmuster zurück: Es werden z.B. nicht alle transitiven Verben gleichermaßen zur Einführung neuer Referenten in Objektfunktion eingesetzt - so haben beispielsweise verba dicendi und sentiendi, wie oben erwähnt, meist pronominale oder satzförmige Objekte, während ‘Passepartoutverben’ wie haben und machen deutlich häufiger mit neue Referenten einführenden lexikalischen Nominalphrasen in Objektfunktion auftreten (vgl. Proske 2013, Kap. 2 und 5, zu machen im gesprochenen Deutsch vgl. auch Kreß 2017). Ähnliches gilt für intransitive Verben: Bei manchen (z.B. kommen) ist das Subjekt häufig ein neuer Referent, bei anderen ist dies nicht der Fall (z.B. gehen) (vgl. Zeschel in diesem Band a), insbesondere dann, wenn sie eine weitere obligatorische Ergänzung, z.B. ein Präpositionalobjekt, haben (vgl. Proske 2013, Kap. 4). Darüber hinaus setzen sich auch die Tendenzen, die ein einzelnes Verb zeigt, aus dessen verschiedenen Argumentstrukturen und deren Realisierungsmustern zusammen: Während ein einstelliges kommen sehr häufig ein neues, lexikalisches Subjekt hat (jetzt kommt die nächste Aufgabe), ist dies bei zweistelligen Mustern desselben Verbs deutlich seltener der Fall; bei diesen ist häufig das Direktionaladverbial oder das Präpositionalobjekt (z.B. jetzt kommen wir zur nächsten Aufgabe) neu und lexikalisch (vgl. Proske in diesem Band a). Um Verwendungsunterschiede und spezifische pragmatische Funktionen verschiedener Verben mit vergleichbaren Argumentstrukturen erklären zu können, muss schließlich auf Semantik und sequenziellen Kontext rekurriert werden. Zum Beispiel setzt schon eine Bestimmung des Informationsstatus, die (auch) für eine Quantifizierung genutzt werden kann, immer eine qualitative Analyse größerer Transkriptabschnitte voraus. Die Klärung des Zusammenhangs von Argumentstrukturen mit dem vorangehenden Diskurskontext, der differenzierte Einbezug semantischer Aspekte dort, wo es notwendig ist, sowie eine stärkere Verknüpfung von Ergebnissen zu abstrakten Tendenzen und einzelphänomenspezifischen Erkenntnissen sind Desiderate, denen die Studien im vorliegenden Band nachkommen wollen. Im Weiteren werden die für den hier verfolgten Forschungsansatz relevanten theoretischen und methodologischen Hintergründe erläutert. Im folgenden Abschnitt (2) werden die Konzepte ‘Medialität’, ‘Gattung’ und ‘Sequenz’ eingeführt und deren Relevanz für die Untersuchungen in diesem Band herausgestellt. In Abschnitt 3 werden zentrale Ansätze zur grammatischen Beschreibung von Argumentstrukturen vorgestellt und im Hinblick auf ihre Tauglichkeit zur Erfassung der in diesem Band untersuchten Gebrauchsmuster ausgewertet. In Abschnitt 4 wird schließlich die Methodologie der in diesem Band vorgestellten Studien dargestellt. Abschließend wird unter 5 ein Überblick über die Kapitel des Buches gegeben. Verben im interaktiven Kontext 13 2. Medialität, Gattung, Sequenz und Handlung als varianzerzeugende Faktoren Während Argumentstrukturkonstruktionen und ihre Realisierungsform in der Schrift bereits eingehend, zunehmend auch korpusbasiert (vgl. z.B. Engelberg et al. 2011 für das Deutsche, Goldberg 2006 für das Englische), untersucht wurden, liegen für die gesprochene Sprache noch wenige Forschungen vor. Für das gesprochene Englisch untersuchten Biber et al. (1999; siehe auch Biber 2005) die registerabhängigen Argumentrealisierungen von Verben in der Mündlichkeit im Vergleich mit schriftlichen Gattungen. Als generelle Tendenz wurde das Vorherrschen intransitiver Strukturen und Argumentreduktion bei vielen transitiven Verben, bei denen schriftlich meist alle Ergänzungen realisiert werden, beobachtet (siehe auch Hopper/ Thompson 1980; Thompson/ Hopper 2001). Für das gesprochene Deutsch eingehend untersucht wurde - wie in Abschnitt 1.2 dargestellt - die Realisierung von Argumenten von matrixsatzfähigen verba dicendi/ sentiendi (ich meine, ich sage mal, ich glaube usw.) im Rahmen ‘bi-klausaler’ Strukturen (Matrixsatz mit subordiniertem Nebensatz, Matrixsatz mit abhängigem Hauptsatz) bzw. in (Vor-)Vorfeldposition (vgl. z.B. Auer 1998; Imo 2007). Hier zeigen sich für die gesprochene Sprache distinktive Realisierungsmuster, die vor allem erhöhte Stellungsvariabilität, morphophonetische Reduktionsprozesse und semantische Entleerung bzw. Pragmatikalisierung bis hin zur Wortartenkonversion (glaub als evidentielle Modalpartikel, ich mein als Diskursmarker) betreffen (vgl. Imo 2007; Knöbl 2011; Knöbl/ Nimz 2013; Thompson 2002). Hennig (2004a, b) befasst sich mit „nähe-sprachlichen“ Determinanten der Argumentrealisierung. Sie weist auf die Realisierung von Argumenten bei Abbrüchen und auf Realisierungen als Nachfeldbesetzung hin und stellt als verbunabhängige Tendenz die Tilgung von Argumenten in der Vorfeldposition („uneigentliche Verbspitzenstellung“, siehe unten) fest. Hennig und Schneider (2011) erklären solche Variationen durch Parameter der Mündlichkeit bzw. der „Sprache der Nähe“. Diese bestehen in den besonderen, sich von der Schrift unterscheidenden Konstitutionsbedingungen des Sprechens in Interaktionen (vgl. dazu Ágel/ Hennig 2006; Auer 2000; Chafe 1994; Deppermann 2007, Teil 1; Koch/ Oesterreicher 1985, 1994): Interaktivität, Flüchtigkeit, Online-Produktion, Verarbeitungsökonomie, informationsstrukturelle Optimalität, die multimodale Integration des Sprechens mit leiblich-visueller Kommunikation, die visuelle Verfügbarkeit von Redegegenständen sowie oftmals Vertrautheit und geteilte Wissensbestände der Interaktanten. 4 4 Dass solche Unterschiede zur Schrift wenigstens teilweise nicht ausschließlich an die mündliche Medialität gebunden, sondern nur prototypisch mit ihr assoziiert sind, erfassen Koch/ Oesterreicher (1986, 1994) mit dem Begriff der ‘konzeptionellen Mündlichkeit’, der mit seinem Widerpart, der ‘konzeptionellen Schriftlichkeit’, Pole eines Kontinuums bildet, auf dem unterschiedliche Genres, Textsorten und Interaktionssituationen anzusiedeln sind. Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 14 Um die Spezifik der mündlichen Muster und Verwendungsweisen zu identifizieren, haben wir in unseren Untersuchungen auch den Vergleich mit Schriftkorpora herangezogen. Eine medialitätskontrastive Untersuchung ist geboten, weil im Unterschied zu den üblicherweise in der Gesprochene-Sprache-Forschung und der Interaktionalen Linguistik untersuchten Phänomenen wie Gesprächspartikeln und syntaktischen Strukturen wie Links- und Rechtsversetzungen oder Apokoinu vielfach nicht von vornherein feststeht, ob bestimmte Argumentrealisierungsmuster spezifisch für die Mündlichkeit sind oder nicht. Bei mündlichkeitsspezifischen Argumentrealisierungsmustern handelt es sich sehr häufig um „kerngrammatische“ Phänomene (vgl. Fries 1987), die im Gegensatz zu anderen „randgrammatischen“ (ebd.) Erscheinungen der Mündlichkeit schriftgrammatischen Regeln und Normen keineswegs zuwider laufen. Es bedarf daher korpuslinguistischer Evidenz, um zu zeigen, dass bestimmte Muster tatsächlich signifikant an mündliche Verwendungskontexte gebunden sind; manche Muster können sogar erst aufgrund solcher Evidenz zu entdecken sein, da sie eventuell gar nicht von vornherein spezifisch mündlich erscheinen oder überhaupt noch nicht als eigenständige sprachliche Struktur aufgefallen sind. Eine rein medialitätsvergleichende Betrachtung greift jedoch zu kurz. Sollten nämlich Unterschiede zwischen mündlichen und schriftlichen Argumentrealisierungsmustern identifiziert werden, ist damit noch keinesfalls gesagt, dass die Medialität als solche der relevante Faktor ist. Darauf deuten auch schon die oben genannten speziellen Konstitutionsbedingungen der Mündlichkeit hin: Sie sind nicht uniform für alle mündlichen Interaktionen. So gibt es auch innerhalb der Mündlichkeit große Unterschiede in der Vertrautheit der Gesprächspartner (z.B. Familientischgespräch vs. institutionelle Interaktion unter Fremden), der visuellen Verfügbarkeit von Referenten (z.B. praktische Instruktionen am Objekt vs. Erzählungen über frühere Ereignisse) oder des Formalitätsniveaus der Interaktion (z.B. Gespräch unter Freunden vs. Prüfungsgespräch). Eine Pilotstudie zum Projekt (vgl. Deppermann/ Helmer 2013) konnte am Beispiel der Untersuchung des Vorkommens der „absoluten“ Verwendung von Modalverben (ohne infinites Vollverb) zeigen, dass zwar ein signifikanter Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bestand, dass dieser jedoch bei differenzierterer Betrachtung nahezu vollständig auf das viel häufigere Vorkommen der Absolutverwendungen in informellen mündlichen Genres der Alltagskommunikation zurückzuführen war, während sich die relativen Häufigkeiten zwischen Schriftlichkeit und formelleren Formen der Interaktion (TV-Diskussionen und Talkshows) nur geringfügig unterschieden. 5 Aus diesem Befund ist zu schließen, dass ein 5 Zu einer ausführlicheren Untersuchung der „absoluten“ Verwendung von Modalverben im gesprochenen Deutsch - auch im Vergleich zur Schriftlichkeit - vgl. auch Kaiser (2017). Verben im interaktiven Kontext 15 (wohl bestehender, genereller) Unterschied der Gebrauchsmuster in den beiden Medialitäten dazu verführen kann, voreilig nach einer medialitätsbezogenen Erklärung für Verteilungsunterschiede zu suchen, während aber der grobe Medialitätsunterschied durch spezifischere Faktoren begründet ist, die in spezielleren Bedingungen der jeweiligen Gattungen zu suchen sind. Die Frage ist also, inwieweit Unterschiede der Argumentrealisierung auf eine Spezifik des gesprochenen Deutsch als solchem in medialer bzw. in konzeptioneller Hinsicht hindeuten oder ob es sich vielmehr um Muster handelt, die auf spezifische textuelle bzw. interaktive Kontextparameter einzelner sprachlicher ‘Praktiken’ (vgl. Fiehler et al. 2004) 6 zurückzuführen sind. Argumentrealisierungsmuster, die zunächst „typisch mündlich“ zu sein scheinen, können an besondere Kontexte gebunden sein, die quer zur Dichotomie ‘mündlich vs. schriftlich’ liegen. Das heißt: Typisch mündliche Erscheinungen mögen nicht für die Mündlichkeit schlechthin gelten, sondern an sehr viel spezifischere Praktiken und Kontexte innerhalb dieser Bereiche gebunden sein. Für unsere Untersuchung ist also nicht in erster Linie die Medialität, sondern der Text-/ Interaktionstyp bzw. die ‘kommunikative Gattung’ relevant. Das Konzept der ‘kommunikativen Gattung’ meint „historisch und kulturell spezifische, gesellschaftlich verfestigte und formalisierte Lösungen kommunikativer Probleme“ (Günthner/ Knoblauch 1994, S. 699). Die Typen solcher verfestigten Muster können verschiedenen Umfangs sein (z.B. Prüfungsgespräch vs. Witzerzählung), 7 stellen aber tendenziell vollständige Interaktionen dar. Gattungen konstituieren sich auf drei Ebenen: Auf der Binnenebene finden sich Verfestigungen, die u.a. Syntax, Lexik, Prosodie, Gestik und Mimik betreffen. Auf der situativen Realisierungsebene finden sich Verfestigungen hin- 6 Unter Praktiken werden „präformierte Verfahrensweisen, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, wenn bestimmte rekurrente Ziele oder Zwecke kommunikativ realisiert werden sollen“ (Fiehler et al. 2004, S. 99) verstanden. Über diese allgemeine Bestimmung hinaus wird das Konzept der ‘Praktiken’ je nach theoretischem Ansatz unterschiedlich definiert bzw. ausdifferenziert (vgl. dazu im Überblick Deppermann/ Feilke/ Linke 2016). Die meisten Praktikenbegriffe umfassen ein sehr breites Spektrum, so dass Gattungen als eine Teilmenge der Praktiken zu verstehen sind; doch es gibt auch Praktiken, die ober- oder unterhalb der Ebene der Gattungen liegen (zum Verhältnis von Gattungen und Praktiken vgl. auch Günthner/ König 2016). 7 Als Voraussetzungen für Gattungsstatus nennen Günthner/ Knoblauch (1994, S. 703) Verfestigungen auf mehreren der o.g. Ebenen sowie einen hohen Komplexitätsgrad, d.h. ein sich über längere Sequenzen erstreckendes Handlungsmuster (siehe auch Günthner/ König 2016, S. 182). Weniger komplexe und/ oder weniger verfestigte Muster wie z.B. Vorwürfe werden als „kleine Gattungen“ oder „kommunikative Muster“ bezeichnet. Diese umfassen häufig einen bestimmten Handlungstyp, der bevorzugt durch ein bestimmtes syntaktisches Muster realisiert wird und entsprechen damit weitgehend den weiter unten in diesem Abschnitt diskutierten Social Action Formats. Wie diese können „kommunikative Muster“ nicht mit Konstruktionen im Sinne der Konstruktionsgrammatik gleichgesetzt werden, da es keine Eins-zu-eins- Beziehung von Form und Funktion gibt (vgl. Günthner 2006). Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 16 sichtlich der Sequenz- und Präferenzstrukturen. Auf der Ebene der Außenstruktur schließlich gibt es Assoziationen mit bestimmten sozialen Milieus, Institutionen, Netzwerken usw. Es wird also u.a. postuliert, dass auch bestimmte grammatische Konstruktionen (mit)konstitutiv für eine Gattung sein können bzw. dass bestimmte Gattungen und bestimmte Konstruktionen einander kontextualisieren (vgl. auch Günthner/ König 2016, S. 192ff.). Zur Möglichkeit der Operationalisierung des Gattungskonzepts für Korpusuntersuchungen siehe Abschnitt 4. Im Hinblick auf gattungsspezifische Argumentrealisierungsmuster gibt es bereits einige Erkenntnisse: Für einige schriftliche Gattungen wurde festgestellt, dass die Obligatorik von Ergänzungen textsortenspezifisch variieren kann. Schwitalla (1985) zeigt für Todesanzeigen, dass Zeit und Ortsangaben obligatorisch sind; Ruppenhofer/ Michaelis (2010) diskutieren Argumentweglassungen als typisch für Sportberichte (siehe auch Jürgens 1999 - hier meist Elision des Ausdrucks für das Spielgerät), Rezepte (Agenstilgung, siehe auch Culy 1986), Produktaufschriften (Agenstilgung), Redewiedergabeeinleitungen und Tagebucheinträge (Subjekttilgung, siehe auch Haegemann 1990). Letztere weisen Ähnlichkeiten zur in der Mündlichkeit häufig festzustellenden „uneigentlichen Verbspitzenstellung“ in Erzählungen (vgl. Sandig 2000) auf. Die Elision betrifft hier das Vorfeld. Die „uneigentliche Verbspitzenstellung“ findet sich aber auch häufig in responsiven Turns (vgl. Auer 1993), wo sie erhöhte Kohäsion zum Vorgängerbeitrag herstellt. Helmer (2016) weist auf, dass solche responsiven Topik-Drop-Analepsen oft nicht auf nominale Konstituenten koreferieren, sondern viel öfter komplexe Antezendentien haben und manchmal sogar nur indirekt, d.h. inferentiell mit Ankern im vorangehenden Diskurs verknüpft sind (vgl. auch 1.2). Die Untersuchungen von Auer und Helmer zeigen, dass neben der Gattung bzw. dem Interaktionstyp spezifische Sequenzkontexte, hier: responsive Handlungen, die ein Thema und eine Handlungssequenz fortsetzen, für die Spezifik von Argumentrealisierungen verantwortlich sein können. Schegloff (1996) spricht hier von einer „positionally sensitive grammar“, d.h. der Bindung von bestimmten grammatischen Formaten an bestimmte sequenzielle Positionen in der Interaktion, in der bestimmte Handlungen in grammatisch spezifischer Weise realisiert werden. Besonderheiten der Argumentrealisierung können aber auch an Handlungsklassen gebunden sein. Pro-drop-Konstruktionen (d.h. Objektellipsen) sind bspw. im Deutschen nur in Fragen der 2. Person Singular (hast heut Zeit? ), bevorzugt im süddeutschen Sprachraum als Resultat eines kontinuierlichen, verschiedene Klitisierungsgrade beinhaltenden morphophonetischen Reduktionsprozesses (hast du → hastu → haste → hast) zu beobachten. Ein weiteres Verben im interaktiven Kontext 17 Beispiel sind deontische Infinitive wie jetzt anrufen, zurücktreten bitte oder an der nächsten Kreuzung links abbiegen (vgl. Deppermann 2006, 2007, Teil 3; Uhmann 2010). Sie haben (in der Regel) kein Subjekt und häufig auch kein Objekt, dafür aber sehr oft ein Temporaladverbial. Sie werden für eine Reihe deontischer Handlungen (Instruktion, Aufforderung, Empfehlung, Vorschlag, Absichtsbekundung, Klage) benutzt, sind aber nicht an einen bestimmten Interaktionstyp gebunden. In der Schriftlichkeit kommen sie dagegen nur in bestimmten Gattungen (z.B. in Aufschriften, Werbung und Kochrezepten, vgl. Fries 1983) vor. Für einzelne Handlungen spezifisch sind dagegen Social Action Formats (vgl. Fox 2007; siehe auch Couper-Kuhlen 2014). Dies sind (meist lexikalisch teilspezifizierte) formale Muster, die bevorzugt für bestimmte verbale Handlungen eingesetzt werden. Zum Beispiel sind Kopulasätze mit Adjektiv (und Gradpartikel) ([NP sein (so/ sehr/ zu/ kaum/ …) AP]) ein Routineformat für die Produktion von Bewertungen. Dies zeigt sich zum einen daran, dass unter allen bewertenden Äußerungen solche Kopulasätze einen großen Anteil ausmachen, und zum anderen daran, dass solche Kopulasätze häufig für Bewertungen benutzt werden. 8 Allerdings ist unklar, wie stark diese Assoziation ist - es werden nicht alle Kopulakonstruktionen mit prädikativem Adjektiv (und Gradpartikel) für Bewertungen benutzt und umgekehrt können Bewertungen natürlich auch mit ganz anderen Mitteln vollzogen werden. Social Action Formats können als Resultate von Usualisierung verstanden werden: Der rekurrente Gebrauch bestimmter grammatischer Formate für bestimmte Handlungen sorgt für eine konnotative, soziale Prägung der Grammatik (vgl. Feilke 1996, 2004), so dass die betreffenden Muster als solche die üblicherweise mit ihnen vollzogenen Handlungen und die usuellen Verwendungskontexte, in denen sie angewandt werden, reflexiv kontextualisieren. Oft realisieren die als Social Action Format beschriebenen Muster allerdings keine so allgemeinen Handlungstypen wie ‘Bewertungen’, sondern sequenziell spezifischere Subtypen. 9 Linell (2009) schlägt hier vor, im Sinne der o.g. „positionally sensitive grammar“, Spezifikationen der „outer syntax“ in die Konstruktionsbeschreibung (im Sinne der Konstruktionsgrammatik, siehe Abschnitt 3) mit einzubeziehen, also Angaben darüber, unter welchen sequenziellen Bedingungen eine bestimmte formale Konstruktion angewendet werden kann. Zu solchen Bedingungen gehören nicht nur sprachliche, 8 In Artikeln, die die Verbindung von Kopulasätzen und Bewertungen als Social Action Formats ansprechen (Deppermann 2011b; Fox 2007), wird nur auf Literatur zum Englischen verwiesen, die diese Verbindung als häufig ausweist. Weder zum Englischen noch zum Deutschen liegt bisher eine statistische Untersuchung dieser Assoziation vor. Zur Verwendung und allgemeinen Häufigkeit von (verschiedenen Subtypen von) Kopulasätzen im gesprochenen Deutsch vgl. aber Proske (2013, Kap. 3). 9 Vgl. auch Deppermann/ Elstermann (2008) zu Konstruktionen mit nicht verstehen als Social Action Formats für Vorwürfe sowie Deppermann (2011b) zur begrifflichen Einordnung. Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 18 sondern auch leiblich-räumliche Gegebenheiten, wie z.B. bei Objekttilgungen in Fragen und Aufforderungen (gib her, kannst du herschieben? ), wenn das Objekt im gemeinsamen visuellen Aufmerksamkeitsfokus ist und (oft zusätzlich) gestisch indiziert wird (vgl. Zinken/ Deppermann i.Dr.). Da sich die in diesem Band vorgestellten Untersuchungen auf Audiokorpora stützen, wird in ihnen das leiblich-räumliche und kinesische Handeln jedoch nicht berücksichtigt. Zusammenfassend geht es uns darum, welche Eigenschaften von Argumentrealisierungsmustern auf welche kontextuellen Faktoren zurückzuführen sind: 1) auf die Konstitutionsbedingungen der Mündlichkeit im Allgemeinen (z.B. Planungs- und Verarbeitungsaufwand), 2) auf Präferenzen innerhalb bestimmter globaler Interaktionstypen (z.B. institutionell vs. privat; eher monologisch vs. eher interaktiv), 3) auf die Anforderungen und Kontextbedingungen bestimmter Sequenztypen oder kommunikativer Aufgaben (z.B. Erzählkontext, Reaktion auf einen vorangegangenen Partnerturn) sowie auf bestimmte Handlungstypen, für die sie benutzt werden (z.B. Aufforderung zum Themenwechsel, Bewertung, Anzeige einer Erwartungsdiskrepanz). Solche Sequenzen und Handlungen können für bestimmte Interaktions- und Texttypen typisch sein, oft aber auch in vielen unterschiedlichen Interaktions- und Texttypen vorkommen. 3. Argumentstrukturen in der Grammatiktheorie Die Beschreibung von Argumentstrukturen bildet einen Kernbereich aller modernen Grammatiktheorien, weil das Verb und die von ihm abhängigen Konstituenten zentrale Aspekte des Satzaufbaus bestimmen. Wie die Lexikoneinträge von Verben und deren Bezug zu realisierten Sätzen im Einzelnen modelliert werden, ist von Theorie zu Theorie verschieden; allen Ansätzen gemein ist aber, dass abhängig vom Grad ihrer Obligatorik mindestens zwei Arten von verbabhängigen Konstituenten unterschieden werden. Die von den Arbeiten Tesnières (z.B. 1980) ausgehende Valenztheorie teilt die vom Verb anhängigen Konstituenten in zwei Gruppen: Ergänzungen, die notwendig und damit nicht weglassbar sowie formal festgelegt sind (d.h. mit einem bestimmten Kasus oder einer bestimmten Präposition auftreten müssen), und Angaben, die frei hinzutreten und damit weglassbar sowie formal nicht festgelegt sind. Diese Unterscheidung und das Problem, dass sie anhand von Kriterien und Tests nicht immer eindeutig vorgenommen werden kann, ist in der valenztheoretischen Literatur viel diskutiert worden (vgl. z.B. Storrer 2003; Welke 2011). Dabei ist für Zweifelsfälle keine konsensfähige Lösung gefunden worden, da binäre Merkmale das graduelle, auf mehrere Ebenen bezoge- Verben im interaktiven Kontext 19 ne Phänomen der „Ergänzungsbedürftigkeit“ nur unzureichend erfassen können (vgl. auch Jacobs 1994, 2003, 2010). 10 Deshalb wird in neueren Arbeiten auch auf Ansätze wie die Prototypentheorie und die Konstruktionsgrammatik zurückgegriffen, um die Valenztheorie flexibler zu machen (vgl. z.B. Welke 2011, 2015). Diese ist aber abgesehen von derartigen Erweiterungen keine vollständige Grammatiktheorie, die alle Aspekte des Satzbaus (z.B. auch die Wortstellung) zu erklären sucht, sondern eine Theorie des Verblexikons. Die generative Grammatik hat, wie alle gängigen Grammatiktheorien, die Unterscheidung von zwei vom Verb abhängigen Konstituentenklassen übernommen. Ebenso wie in vielen Fassungen der Valenztheorie, die durch die Unterscheidung zwischen obligatorischen und fakultativen Ergänzungen eine dritte Klasse geschaffen hat, nimmt man auch hier an, dass Angaben (= Modifikatoren/ Adjunkte) immer weglassbar sind, Ergänzungen (= Argumente/ Komplemente) 11 aber obligatorisch oder fakultativ sein können (vgl. z.B. Ackema 2015; Hole 2015). Anders als in der Valenztheorie werden fakultative Ergänzungen allerdings nicht im Lexikoneintrag des Verbs als solche ausgezeichnet; Weglassungen von Ergänzungen gelten nicht als Gegenstand der Grammatiktheorie und werden der Pragmatik überlassen (vgl. z.B. Ackema 2015, S. 265). 10 Jacobs (1994) unterscheidet sieben Relationen der Valenz: Notwendigkeit (= Obligatorik), Beteiligtheit (= semantische Notwendigkeit für eine Situation/ einen Sachverhalt), Argumenthaftigkeit (= semantisches Auf-ein-Prädikat-Bezogensein), Exozentrizität (= keine untergeordnete Konstituente eines anderen Arguments), Formale Spezifizität (= Regiertheit), Inhaltliche Spezifizität (= Selektionsbedingungen) und Assoziiertheit (= graduelle Verbundenheit von Verb und Argumenten). In späteren Arbeiten (Jacobs 2003, 2010) modifiziert er sein Konzept. 11 Der Terminus Argument stammt aus der Logik. Er meint dort Variablen(werte), über die Funktionen (Begriffe bzw. Prädikate) operieren (vgl. Frege 1879). Er wird sowohl für die semantisch als auch die syntaktisch notwendigen Konstituenten des Verbs verwendet (mit teilweise verschiedenen Belegungen - manchmal nur für die semantische, manchmal nur für die syntaktische Ebene und manchmal für beide). Die Bezeichnung Komplement bezieht sich auf eine Position im generativgrammatischen Strukturbaum und eigentlich nicht auf den Status als obligatorische Ergänzung eines Verbs, denn auch in Spezifiziererposition finden sich Argumente. Den aktuellen Entwicklungen der generativen Grammatik zufolge stehen mittlerweile sogar die meisten Argumente nicht in Komplementsondern in Spezifiziererposition (vgl. Hole 2015, S. 1290). In der IDS-Grammatik (Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997), die alle (syntaktischen) Ergänzungen als Komplemente bezeichnet, wird für Nicht-Argumente statt Adjunkt der Terminus Supplement verwendet. Zu einem Überblick über terminologische Unterschiede vgl. Storrer (2003); Welke (2015). Zum Gebrauch in diesem Band siehe das Ende dieses Abschnitts. Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 20 Die Konstruktionsgrammatik 12 dagegen - vor allem die von Goldberg (1995, 2006) vertretene Variante - löst die Valenz teilweise von den lexikalischen Einheiten, indem sie diese nicht nur Verben, sondern auch abstrakten syntaktischen Mustern, sog. ‘schematischen Konstruktionen’, zuschreibt. Die Realisierung von Satzgliedern ergibt sich dieser Sicht zufolge durch die Kombination der von einem Verb und einer syntaktischen Konstruktion geforderten Konstituenten. Das Verb muss also nicht zahlreiche Valenzen (ggf. mit verschiedenen Bedeutungen) haben, wenn argumentiert werden kann, dass es in eine Konstruktion mit eigener Bedeutung und Valenz eintritt und dabei selbst nur seine Grundbedeutung und die damit verbundenen Argumente einbringt. Zum Beispiel kommen viele Verben in der Caused-motion-Konstruktion vor (Mina sent a book to Chicago, Pat kicked the football into the stadium, Pat sneezed the napkin off the table, vgl. Goldberg 1995, 2006), und nicht bei allen wäre es plausibel, von einer jeweils dreistelligen Variante des Verbs selbst auszugehen. Entsprechend dieser Sichtweise wird in der Konstruktionsgrammatik keine grundsätzliche Trennung von Lexikon und Syntax angenommen, sondern ein Kontinuum von lexikalisch spezifischen Einheiten, die auch variable Leerstellen haben können, bis hin zu rein schematischen Strukturen (vgl. im Überblick Broccias 2012). Alle Einheiten auf diesem Kontinuum werden als ‘Konstruktionen’ bezeichnet, d.h. es wird angenommen, dass das gesamte sprachliche Wissen in einem Netzwerk aus Konstruktionen organisiert ist (vgl. z.B. Croft 2001; Goldberg 1995). Auch die Rolle und Modellierung der Semantik unterscheidet sich in den verschiedenen Ansätzen: In der generativen Grammatik, die eine modulare Trennung von Syntax und Semantik annimmt, wird die inhaltliche Relation unter den Argumenten des Verbs anhand einer begrenzten Menge semantischer Rollen dargestellt. Diese sind nicht unmittelbar mit syntaktischen Formmerkmalen, z.B. Kasus, verbunden, sondern werden beim sogenannten ‘Mapping’ oder ‘Linking’ 13 an der Syntax-Semantik-Schnittstelle in hierarchischer Reihenfolge den syntaktischen Funktionen zugewiesen: Die hierarchiehöchste Rolle ist das Agens; vergibt das Verb ein solches, wird es dem Subjekt, der hierarchiehöchsten syntaktischen Funktion, zugewiesen. Die in der Hierarchie nachfolgenden Rollen werden dann entsprechend den in der Hierarchie folgenden syntaktischen Funktionen zugewiesen, z.B. das Patiens dem direkten Objekt. So kann zwar z.B. auch ein Subjekt eine Patiensrolle zugewiesen bekommen, wenn das Verb keine hierarchiehöhere Rolle vergibt, aber es werden zum einen keine weiteren semantischen Unterschiede zwischen verschiedenen Agens-Argumenten gemacht und zum anderen keine Gemeinsamkei- 12 Vgl. zur Konstruktionsgrammatik im Überblick z.B. Croft (2007); Hoffmann/ Trousdale (2013). 13 Vgl. zur Begriffsgeschichte und zu verschiedenen Ansätzen z.B. Butt (2006); Levin/ Rappaport Hovav (2005). Verben im interaktiven Kontext 21 ten zwischen verschiedenen Rollen erfasst. Aufgrund der Nichthaltbarkeit der Eins-zu-eins-Beziehung von semantischer Rolle und syntaktischer Funktion haben einige Ansätze - die im strengen Sinne nicht als generativ zu bezeichnen sind - anhand generalisierter Rollenkonzepte die Zusammenhänge zwischen semantischer Rolle, syntaktischer Funktion und Kasus präziser zu beschreiben versucht (vgl. Dowty 1991; Primus 1999). Durch semantische Dekomposition der zentralen Rollen Agens und Patiens in verschiedene, nicht notwendige Eigenschaften wie willentliche Beteiligung, perzeptuelle Beteiligung, Verursachung u.a. werden Proto-Rollen entworfen. Proto-Agens und Proto-Patiens umfassen damit auch untypische Fälle sowie andere Rollen wie Experiencer und Stimulus, weil diese einzelne Merkmale teilen. 14 In der Valenztheorie geht man von einer semantischen und einer syntaktischen Ebene der Valenz aus; semantische Selektionsrestriktionen zeigen sich z.B. darin, ob eine Ergänzung einen belebten Referenten haben muss. Sie hat aber das ursprünglich von Fillmore (1968) 15 stammende Konzept der semantischen Rollen bisher allgemein nicht aufgenommen. Vereinzelt wird aber auf die Kompatibilität und Notwendigkeit ihres Einbezugs verwiesen (vgl. Welke 2003, 2015). Welke (2015, S. 268) nimmt an, dass die Lexikoneinträge als „Verdoppelung der Verbsemantik“ für jedes Argument eine Rolle enthalten. Im Gegensatz zur generativen Grammatik gibt es hier kein Linking bzw. erfolgt die Verknüpfung von Form und Inhalt auf Lexikonebene. Außerdem werden den Verben selbst - zumindest in der Praxis an die Valenztheorie angelehnter Wörterbücher - Bedeutungen in Form von Paraphrasen zugewiesen, was in der generativen Grammatik nicht geschieht, weil die über die syntaktisch relevante Rollenverteilung sowie verbklassenspezifische abstrakte Merkmale wie ‘Ereignis/ Zustand’ oder ‘telisch’ hinausgehende lexikalische Semantik nicht in ihren Gegenstandsbereich fällt. In der Konstruktionsgrammatik geht man davon aus, dass jede Konstruktion ein Form-Bedeutungs-Paar ist, also jede Struktur, egal auf welcher Abstraktheitsbzw. Spezifizitätsebene, eine Bedeutungsseite hat. Entsprechend ist das Linking konstruktionsspezifisch (vgl. Goldberg 1995, S. 111ff.), das heißt, jede Konstruktion ist mit für ihre Semantik spezifischen Rollen versehen. Nur bei abstrakten Argumentstrukturkonstruktionen (z.B. der Ditransitivkonstruktion) sind die abstrakten Rollen (wie Agens, Rezipient usw.) im Lexikoneintrag mit den ihnen zugeordneten syntaktischen Relationen verbunden. Konkrete Verben, die als lexikalisch teilspezifizierte Konstrukti- 14 „Dowty’s generalized-role approach allows for a high number of specific roles to be subsumed under a small set of general roles. This reduces the inventory of superordinate role concepts dramatically without a neglect of finer distinctions.” (Primus 2015, S. 231). 15 Zur Geschichte von Fillmores Ansatz und seinem Einfluss auf verschiedene Grammatiktheorien vgl. Fillmore (2003). Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 22 onen gelten, sind in Goldbergs Version dagegen nur mit einem Frame (siehe unten) bzw. für diesen spezifischen Rollen ausgestattet; das Linking erfolgt bei der Fusion mit einer Argumentstrukturkonstruktion. Ein Verb wie load vergibt die konkreten Rollen loader, loaded-theme und container und die Caused-motion-Konstruktion vergibt die abstrakteren Rollen cause, theme und path/ location (vgl. Goldberg 2006, S. 41). Das Verb load kann in dieser Konstruktion verwendet werden (z.B. Pat loaded the hay onto the truck), weil seine spezifischeren Rollen mit den abstrakten Rollen der Konstruktion kompatibel sind bzw. sie als konkrete Instanziierung der abstrakteren Rollen verstanden werden können. Zentral für die Konstruktionsgrammatik ist auch, dass die Bedeutungsseite von Konstruktionen weit gefasst wird und auch pragmatische Aspekte enthält. 16 Anders als alle anderen Ansätze unterscheidet die ebenfalls auf Fillmore (1982) zurückgehende Framesemantik systematisch verschiedene Lesarten eines Verbs: Jede Bedeutung eines Verbs bildet mit dessen Formseite zusammen eine Lexical Unit (vgl. Fillmore/ Johnson/ Petruck 2003, S. 235). Die Inhaltsseite enthält einen Frame; Frames werden verstanden als „schematic representations of the conceptual structures and patterns of beliefs, practices, institutions, images, etc. that provide a foundation for meaningful interaction in a given speech community“ (Fillmore/ Johnson/ Petruck 2003, S. 235). Der Frame enthält den von einem Verb evozierten Sachverhalt und wird als Paraphrase formuliert, enthält aber dort, wo klassische Wörterbuchparaphrasen Indefinitpronomina wie jemand einsetzen, framespezifische semantische Rollen (Frame Elements). Diese sind teilweise differenzierter als die konstruktionsspezifischen Rollen bei Goldberg, aber teilweise auch abstrakter als deren verbspezifische Rollen. 17 Während lexikologisch ausgerichtete Vorhaben wie 16 Kritisiert worden ist an der Semantikkonzeption Goldbergs der Umgang mit Polysemie, und zwar sowohl was die Ebene verbübergreifender Konstruktionen (vgl. z.B. Engelberg et al. 2011) als auch was die Ebene einzelner Verben angeht (vgl. z.B. Boas 2011; Langacker 2009). Hinzu kommt, dass, obwohl programmatisch die Inhaltsseite von Konstruktionen nicht auf semantische oder informationsstrukturelle Eigenschaften beschränkt ist, interaktionale, pragmatische, rhetorische oder sequenzstrukturelle Gesichtspunkte in bisherigen Untersuchungen nur selten betrachtet worden sind (vgl. Deppermann 2011a). Dies geschah v.a. nur dann, wenn Konstruktionsgrammatik und Interaktionale Linguistik kombiniert wurden (vgl. Imo 2007; Deppermann/ Elstermann 2008). Das Verhältnis der Konzepte ‘Konstruktion’ und ‘Social Action Format’ (siehe oben, Abschnitt 2) ist dabei ebenfalls bisher nicht geklärt. 17 Alle Rollenkonzeptionen - ob (verschieden) granular wie in der Framesemantik oder der Konstruktionsgrammatik oder äußerst abstrakt wie in der Generativen Grammatik - haben letztendlich dasselbe Problem: Es gibt nur intuitive Beschreibungen, aber keine klaren begrifflichen Definitionen der Rollen, so dass ihre Abgrenzung von Autor zu Autor verschieden ausfällt. Auch die für unsere Korpusuntersuchungen (vgl. Zeschel in diesem Band a, b) angesetzten Frames zeichnen sich nicht durch einen voll systematischen Kriterienkatalog - wie ihn Dowty (1991) für zwei Rollen ansatzweise entworfen hat - aus, sondern dienen der prakti- Verben im interaktiven Kontext 23 das FrameNet-Projekt (vgl. Ruppenhofer et al. 2010) die möglichen syntaktischen Realisierungsformen eines Frames bzw. seiner Frameelements deskriptiv auflisten, weist Boas (2011) solchen Form-Bedeutungspaaren (d.h. Paaren aus dem Verb mit den realisierten Argumenten und einem Frame mit seinen Bestandteilen) den theoretischen Status von Konstruktionen zu. Seinen Vorschlag sieht er als kompatibel mit Goldbergs Ansatz an, da die von ihr vorzugsweise modellierten abstrakten Argumentstrukturkonstruktionen sich als Generalisierungen über die von ihm beschriebenen ‘Mini-Konstruktionen’ verstehen ließen (vgl. Boas 2011, S. 55). 18 Für den Zusammenhang von Argumentrealisierung und Semantik ist unabhängig vom theoretischen Ansatz folgender Aspekt relevant: Grundsätzlich und auch für die Korpusanalyse ist eine Differenzierung zwischen den für eine Bedeutung oder Konstruktion konstitutiven Adverbialen - also solchen mit Ergänzungsstatus (z.B. das Modaladverbial bei gehen in der Bedeutung ‘sich befinden’ - es geht ihm gut) - und solchen Adverbialen, die nicht bedeutungskonstitutiv sind - also solchen mit Angabenstatus, nötig. Die Unterscheidung ist nicht immer leicht zu treffen, insbesondere im Bereich der temporalen und lokalen Adverbiale, die mit bestimmten Argumentstrukturen eines Verbs besonders häufig auftreten. Zum Beispiel lässt sich das Temporaladverbial in jetzt kommt meine Frage als mitkonstitutiv für die Bedeutung ‘in einer der Reihe folgen’ identifizieren (vgl. Zeschel in diesem Band a), während das Lokaladverbial in hier geht es um eine andere Frage trotz seiner Häufigkeit im Kontext von es geht um (‘etwas ist relevant/ Thema’) nicht bedeutungskonstitutiv ist. Es kommt hinzu, dass für die hier eingenommene Perspektive auch solche nicht bedeutungskonstitutiven Satzglieder relevant sein können: Für eine Beschreibung wiederkehrender Muster, die bestimmte kommunikative Funktionen übernehmen und in ihrer Usualität Teil des sprachlichen Wissens sind, müssen auch nicht-bedeutungskonstitutive Konstituenten mit potenziell pragmatisch relevanten Funktionen (wie deiktische Verankerung oder Herstellung bestimmter Konstituentenabfolgen) berücksichtigt werden. Da es, wie dargestellt, auch innerhalb verwandter Ansätze viele verschiedene Auffassungen hinsichtlich der angemessensten Modellierung von Argumentstrukturen und der nötigen Granularität gibt und da außerdem nicht geklärt ist, welche davon für empirische Untersuchungen, die bisher nicht beschriebene Form-Funktions-Zusammenhänge aufdecken wollen, am geeignetsten schen und durch die jeweiligen Fragestellungen motivierten Unterscheidung von klar unterscheidbaren Lesarten. Dabei kommt man nicht umhin, je nach Erkenntnisinteresse teilweise verschiedene Granularitätsstufen anzusetzen. 18 Er geht davon aus, dass die Annahme redundanter Repräsentationen im als Konstruktionsnetzwerk modellierten sprachlichen Wissen ohnehin nötig ist, da sonst empirische Befunde - seien sie introspektiv oder korpuslinguistisch gewonnen - nicht vollständig erklärt werden können (vgl. Boas 2011, S. 39). Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 24 ist, ist die Anlage der Studien in diesem Band so theorieneutral wie möglich. Wir verwenden zum einen die in der germanistischen Linguistik vertretene Variante der Satzgliedlehre und der valenztheoretischen Terminologie. Es wird also keine binäre Klassifikation in Argumente und Adjunkte vorgenommen, da gerade im Deutschen im Bereich der Präpositionalobjekte und Adverbiale eine Abgrenzung häufig schwierig ist, sondern es wird zusätzlich zu Angaben und obligatorischen Ergänzungen auch die Kategorie der fakultativen Ergänzungen angesetzt (vgl. dazu und zur Operationalisierung für die Korpusauswertung Zeschel in diesem Band a). Das bedeutet also, dass die verbabhängigen Konstituenten als (fakultative oder obligatorische) Ergänzungen und Angaben bezeichnet werden. Es wird aber auch, sofern keine weitere Spezifizierung nötig ist, die allgemeine Bezeichnung ‘Argumente’ für die Ergänzungen des Verbs verwendet; es sind dann immer sowohl obligatorische als auch fakultative Ergänzungen gemeint. Dies ist in der modernen Valenztheorie üblich (vgl. dazu Welke 2015, S. 257). 19 Auch der Terminus ‘Argumentstruktur’ gilt als (mehr oder weniger) synonym mit ‘Valenz’ und kann theorieübergreifend gebraucht werden (vgl. auch Welke 2015, S. 256). Argumentstrukturen werden hier im Sinne Goldbergs (1995, 2006) weit gefasst und von Verben gelöst: Jedes Verb und jede schematische Konstruktion, in die ein Verb eingefügt werden muss (= eine Argumentstrukturkonstruktion), haben Leerstellen für Argumente (die bestimmte formale und semantische Bedingungen erfüllen müssen) und somit eine Argumentstruktur. Als ‘Argumentrealisierungsmuster’ bezeichnen wir Gebrauchs-Types verschiedener Art: Zum einen umfasst dies sich wiederholt zeigende Instanziierungen einer Argumentstruktur mit einer oder mehreren formalen Konstanten, also teilschematische Generalisierungen über Tokens, 20 für die Konstruktionsstatus diskutiert werden kann. Zum anderen fallen darunter nicht auf eine Argumentstruktur beschränkte, also argumentstrukturenübergreifende Muster. Unter ‘Argumentrealisierung’ fällt hierbei alles, was die Realisierungsform eines Arguments betrifft, z.B. elliptische, pronominale, lexikalische Realisierung und Wortstellung. 21 Ein Argumentrealisie- 19 Die semantischen Probleme, die Welke (2015, S. 263) mit Konnotationen des Argumentbegriffs im Hinblick auf Abstrakta sieht, halten wir für unbegründet, weil ‘Argument’ als Terminus unabhängig vom konkreten semantischen Typ allgemein in vielen Grammatiktheorieneben ohne solche Konnotationen gebraucht wird. 20 Engelberg et al. (2011) bezeichnen dies als ‘Argumentstrukturmuster’. 21 Damit ist unsere Konzeption von ‘Argumentrealisierung’ breiter als die in vielen theoretischen Ansätzen (vgl. z.B. Levin/ Rappaport Hovav (2005, S. 3), die zwar auch morphosyntaktische Realisierung und informationsstrukturelle Aspekte einbeziehen, aber argument realization (pattern) nicht auf empirische Verteilungsmuster sondern auf prinzipielle, grammatisch akzeptable Optionen der Realisierung der Argumentstrukturen von Verben beziehen; der Gebrauch der Bezeichnung ist dort also vergleichbar mit ‘Linking’. Verben im interaktiven Kontext 25 rungsmuster des zweiten Typs ist entsprechend beispielsweise die in Abschnitt 2 angesprochene empirische Tendenz zur Realisierung maximal eines lexikalischen Arguments pro Teilsatz. Zur Interpretation der gefundenen Muster werden in einigen Artikeln dieses Bandes (Helmer; Proske a, b; Zeschel a, b) insbesondere Konstruktionsgrammatik und Framesemantik als kompatible theoretische Ansätze diskutiert, weil diese aufgrund ihrer theoretischen Annahmen (vor allem des weiten Inhaltsbegriffs, der pragmatische Aspekte und ‘Weltwissen’ umfasst, und der generellen Gebrauchsbasiertheit) für empirische Arbeiten am vielversprechendsten erscheinen. 4. Datenbasis und Methode Gegenstand der im vorliegenden Band versammelten Studien ist die Beschreibung von Argumentrealisierungsmustern, die für die mündliche Medialität, eine bestimmte Gesprächsgattung oder eine bestimmte kommunikative Handlung innerhalb von Sequenzen spezifisch oder typisch sind. Dieses Ziel erfordert eine Kombination quantitativer und qualitativer Analysen. Im ersten Schritt sind entsprechende Muster zunächst einmal zu identifizieren. Dies geschieht im Rahmen von explorativen, medialitäts- und textbzw. gesprächstypkontrastiven Korpusstudien. Im zweiten Schritt gilt es dann, Spezifika und Gründe der Assoziation der ermittelten Muster mit der Mündlichkeit herauszuarbeiten. Dazu werden ihre pragmatischen und interaktionalen Funktionen im Rahmen exemplarischer interaktionslinguistischer Vertiefungsstudien untersucht. 22 Die dazu eingenommene Perspektive ist (mit Ausnahme des Beitrags von Helmer zu Analepsen) lexembasiert. Der nach wie vor eingeschränkte Umfang gesprochensprachlicher Korpora macht dabei einen Fokus auf Verben erforderlich, die in der Mündlichkeit besonders häufig verwendet werden. Neben methodischen Minimalanforderungen an den Umfang der Datenbasis sprechen dabei noch weitere Erwägungen für diese Auswahl: Hochfrequente Verben bieten ein besonders breites Spektrum an Gebrauchsmustern; sie sind typischerweise polysem und treten mit zahlreichen verschiedenen Argumentstrukturen auf. Sie bilden daher einen interessanten Ausgangspunkt für Untersuchungen zur Assoziation grammatischer Muster mit unterschiedli- 22 Auf eine inferenzstatistische Überprüfung der dabei erzielten Befunde (als systematisch angeschlossener dritter Schritt) musste aufgrund der knappen Datenlage in den mündlichen Teilkorpora verzichtet werden: Für manche Teilmuster bzw. funktionalen Varianten der untersuchten Strukturen lagen nur sehr wenige Belege in den untersuchten Stichproben vor, die z.T. auch jeweils von denselben Sprechern stammten. Unser Fokus liegt insofern auf der explorativen Identifikation relevanter Verteilungsunterschiede und anschließender Hypothesenbildung bezüglich ihrer funktionalen Motivation, nicht aber deren Testung. Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 26 chen Bedeutungen und pragmatischen Funktionen. Die in diesem Band versammelten Studien konzentrieren sich aus diesen Gründen auf Muster mit vier der zehn häufigsten Vollverben im hier untersuchten Gesprächskorpus, dem 2014er Release des Forschungs- und Lehrkorpus Gesprochenes Deutsch (FOLK, vgl. Schmidt 2014). Ausgewählt wurden dafür einerseits kommen und gehen als häufigste Vertreter der Klasse der ‘Bewegungsverben’. Diese Verben sind hier allerdings insbesondere in abgeleiteten Verwendungen von Interesse, die dieser semantischen Klasse gerade nicht mehr zugerechnet werden können (z.B. es geht um ‘zum Thema haben, relevant sein’, es kommt zu ‘sich ereignen, entstehen’ u.v.m.). Darunter finden sich zahlreiche pragmatisch spezialisierte, teilweise verfestigte Formate (z.B. geht gar nicht, vgl. Zeschel in diesem Band a). Des Weiteren wurden die mentalen Verben denken und wissen ausgewählt. Sie weisen ebenfalls eine Vielzahl verfestigter Gebrauchsmuster mit besonderen pragmatischen Funktionen auf (z.B. ich dachte + X, vgl. Deppermann/ Reineke in diesem Band; ich weiß nicht, vgl. Helmer/ Deppermann/ Reineke in diesem Band). Ihre qualitative Analyse gibt Aufschluss über die Bindung solcher spezialisierten Konstruktionen an Medialitäts-, Gattungs- und Sequenzmerkmale. Wie in Abschnitt 2 ausgeführt, ist einerseits die globale Dichotomie mündlichschriftlich nur bedingt aussagekräftig für die Identifikation relevanter kontextueller Verwendungsrestriktionen der untersuchten Zielstrukturen. Da andererseits aber auch offen ist, ob und wie das in Abschnitt 2 skizzierte Gattungskonzept für eine (exhaustive) Zuweisung von Interaktionen oder Interaktionsbestandteilen zu Gattungen operationalisiert werden kann, greifen wir für unseren Kontextvergleich auf eine Unterscheidung von insgesamt fünf Kategorien zurück, die sich an der Interaktivität und am Formalitätsgrad der jeweiligen Verwendungssituation orientiert: Untersucht werden einerseits private Alltagsgespräche und institutionelle mündliche Interaktionen aus dem Korpus FOLK sowie andererseits monologische schriftliche Texte aus den Strata ‘Belletristik’ und ‘Wissenschaft’ des DWDS-Kernkorpus (vgl. Geyken 2007). 23 Als medial schriftliche, jedoch konzeptionell mündliche Mischform dieser Kategorien werden zudem Daten aus einer speziell zusammengestellten Untermenge des Webkorpus DECOW2012 (vgl. Schäfer/ Bildhauer 2012) herangezogen, die sich durch eher unredigierten, „quasi-spontanen“ (vgl. Schäfer/ Sayatz 2014) Sprachgebrauch auszeichnet, wie man ihn insbesondere in informell geprägten Webforendiskussionen, Blogkommentarspalten etc., also in verschiedenen Genres des interaktionsorientierten Schreibens (vgl. 23 Das DWDS-Kernkorpus ist balanciert nach dem Veröffentlichungsjahr der berücksichtigten Quellen und strebt eine gleichmäßige Abdeckung aller zehn Dekaden des 20. Jahrhundert an. In unserer Studie wurden nur die jeweils jüngsten Belege der Zielverben bis Erreichen der jeweiligen Stichprobengröße berücksichtigt, vgl. Zeschel (in diesem Band a, b) für Details. Verben im interaktiven Kontext 27 Beißwenger/ Storrer 2012), findet. 24 Die Text- und Interaktionstypen, die diese fünf Teilkorpora bilden, stellen keine einzelnen ‘kommunikativen Gattungen’ (speech genres) im Sinne von Günthner/ Knoblauch (1994) dar, sondern übergeordnete Kommunikationsbereiche. Wenn sich im Rahmen der Analyse Assoziationen von Argumentrealisierungsmustern mit einem Teilkorpus zeigen, geht die anschließende qualitative Analyse darauf ein, inwiefern das Argumentrealisierungsmuster nicht einfach typisch für einen übergeordneten Text- oder Interaktionstyp als solchen ist, sondern mit einer darin häufig zu findenden Gattung, Sequenz oder verbalen Handlung verbunden ist. Zusammengefasst verfolgen wir also einen zweistufigen Ansatz. Im ersten Schritt werden im Rahmen einer vergleichenden Korpusstudie Gebrauchsmuster der Zielverben identifiziert, die distinktiv mit einer oder beiden der untersuchten mündlichen Kommunikationsbereiche (privat, institutionell) verbunden sind. Betrachtet werden dazu jeweils 400 Belege pro Verb und Kontextkategorie, d.h. insgesamt 2.000 Belege pro Verb. Diese Belege werden für eine breite Spanne struktureller und semantischer Eigenschaften sowie lexikalischer Kookkurrenzmerkmale ausgezeichnet. Statistisch ausgewertet werden die erhaltenen Verteilungsprofile im Rahmen von Korrespondenzanalysen (vgl. Greenacre 2007; Le Roux/ Rouanet 2010). Die Korrespondenzanalyse ist ein (potenziell multivariates) Verfahren zur Analyse nominal skalierter Daten, das ursprünglich in den Sozialwissenschaften entwickelt wurde und dort insbesondere durch die Arbeiten Pierre Bourdieus zu größerer Bekanntheit gelangte. Das Verfahren zielt auf die Entdeckung von Merkmalszusammenhängen in großen Kontingenztabellen durch intuitiv interpretierbare zwei- oder dreidimensionale Visualisierungen ab (für Details zur Auszeichnung und Auswertung der Daten vgl. Zeschel in diesem Band a, b). Die identifizierten Muster mit einer Affinität zur Mündlichkeit werden sodann im zweiten Schritt qualitativ-interaktionslinguistisch mit Blick auf pragmatische Eigenschaften und eine mögliche Gattungs-, Sequenz- und Handlungstypik untersucht. Die exemplarische Analyse je eines der so gefundenen Muster pro Verb in der untersuchten Stichprobe schließt sich jeweils direkt an die Korpusstudie an. Vier weitere Muster werden in den Vertiefungsstudien von Proske (in diesem Band a, b), Deppermann/ Reineke (in diesem Band) sowie Helmer/ Deppermann/ Reineke (in diesem Band) im Rahmen einer Analyse des gesamten FOLK-Korpus untersucht. 24 Dieses Subkorpus ist über eine einfache Heuristik zusammengestellt, die mindestens drei Vorkommen einer Kurzform des Indefinitartikels pro Dokument (wie z.B. nen statt einen) als Marker einer „quasi-spontanen“ Schriftlichkeit benutzt, über die es heißt: „Es ist davon auszugehen, dass quasi-spontane Texte Merkmale der gesprochenen Sprache enthalten, aber nicht mit dieser gleichzusetzen sind.“ (Schäfer/ Sayatz 2014, S. 228). Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 28 5. Die Beiträge dieses Bandes Die beiden Beiträge von Zeschel geben einen Überblick über die quantitativen, medialitätskontrastiven Untersuchungen zu den Bewegungsverben kommen und gehen sowie zu den mentalen Verben denken und wissen. Zudem wird je eine qualitative Vertiefungsstudie pro Verb präsentiert, die ein distinktiv mündliches Gebrauchsmuster auf seine pragmatisch-interaktiven Funktionen untersucht. Die Untersuchung zu kommen und gehen erweist, dass beide Verben präferiert in übertragenen Lesarten gebraucht werden, die keine konkrete Bewegung denotieren. Strukturell weisen Verwendungen in der Mündlichkeit insgesamt weniger realisierte Argumente als schriftliche Vorkommen auf. Im Fall von Ellipsen und Analepsen ist dies auf die Situiertheit der Gesprächsbelege zurückzuführen, in anderen Fällen auch auf argumentreduzierte Grammatikalisierungen mit besonderen Interaktionsfunktionen, die insbesondere in monologischen Schriftkontexten marginal sind (wie etwa die Diskurspartikel komm). Darüber hinaus sind distinktiv mündliche Konstruktionen mit kommen und gehen auch bei den vollrealisierten, nicht-elliptischen bzw. -analeptischen Mustern weniger komplex als typisch schriftliche. Beispielhaft dafür werden das Muster kommen +SUBJ (+TMP) folge (vgl. so jetzt kommt der Jan) sowie die Musterfamilie gehen + SUBJ machbarkeit/ akzeptabilität/ funktionieren (vgl. das geht) untersucht. Es wird gezeigt, dass beide Muster ausdrucksseitige Verknappungen leisten, die die Versprachlichung komplexer inferierbarer Sachverhalte ökonomisch und flexibel auf das je fokale Element des evozierten Frames reduzieren. Damit bieten sie kompakte Formate zur Bewältigung häufig wiederkehrender interaktiver Aufgaben wie etwa der Koordination von Themen-, Aktivitäts- und Sprecherwechseln (vgl. jetzt kommt NP) oder der Abgabe von Bewertungen (vgl. NP geht gar nicht). Verbübergreifend wird mit Blick auf Du Bois’ unter 1.2 erläuterten Ansatz einer Preferred Argument Structure gezeigt, dass die präferierte Argumentrealisierung (hier bezüglich pronominaler vs. lexikalischer Form des Subjekts) in intransitiven Argumentstrukturen auch bei so ähnlichen Verben wie kommen und gehen nicht verb- und konstruktionsunabhängig beschrieben werden kann. Auch in der Korpusstudie zu denken und wissen werden deutliche Unterschiede zwischen den untersuchten Verwendungskontexten gefunden. In beiden Medialitäten dominieren jeweils klar Verwendungen mit zwei realisierten Argumenten. Die in Mündlichkeit und Schriftlichkeit jeweils dahinterstehenden Konstruktionen unterscheiden sich jedoch: Das Verb denken wird sowohl in den Gesprächen als auch in den Webdaten fast ausschließlich zur Anzeige von epistemic stance (vgl. ich denke wir sollten gehen), zur Gedankenwiedergabe (vgl. ich dachte okay was solls) oder als Bestandteil verschiedener Diskursmarker verwendet (z.B. als Gliederungssignal), in literarischen und wissenschaft- Verben im interaktiven Kontext 29 lichen Texten geläufige Lesarten sind hier dagegen marginal. Charakteristisch für wissen ist in den Gesprächen die Markierung von Unklarheit bzw. Unentschlossenheit (anstelle der Bezeichnung einer Kenntnis), was auf besondere pragmatische Merkmale negierter Verwendungen des Verbs verweist (z.B. als Einleitung eines Widerspruchs). Für formelhafte Belege beider Verben wird der Frage nachgegangen, ob es sich dabei tatsächlich (noch) um Instanzen des jeweiligen Verbs oder aber um davon abgespaltene komplexe Diskursmarker handelt und wie diese Unterscheidung in quantitativen Studien am geeignetsten zu operationalisieren ist. Qualitative Vertiefungsstudien werden schließlich für Diskursmarkerverwendungen der Strukturen ich denk(e) und (was) weiß ich (+w-Element) präsentiert, deren attestierte Funktionsspektren in FOLK systematisiert und als zusammenhängende Konstruktionsverbünde analysiert werden. Die beiden Beiträge von Proske greifen zwei Muster mit kommen und gehen aus der stichprobenbasierten Korpusstudie heraus und untersuchen diese anhand einer größeren Kollektion bzw. anhand aller in FOLK auffindbaren Belege. Eins der Muster, die Verwendung von kommen und gehen mit Themenwechselbedeutung (Kommen wir zum nächsten Thema./ Gehen wir dann mal zum nächsten Thema.), hat sich in der Korpusstudie als spezifisch für institutionelle Interaktionen erwiesen. Die qualitative Untersuchung zeigt, dass es zwei Submuster gibt - die einen unmittelbaren Themenwechsel ankündigende und die einen Themenwechsel aufschiebende Verwendung -, die sich formal unterscheiden (eher lexikalische Realisierung des Zieladverbials im ersten Fall und eher pronominale Realisierung im zweiten Fall). Zudem lassen sich neben interaktionstypübergreifenden sequenziellen Mustern auch je nach Interaktionstyp (Prüfungsgespräch, Unterrichtsgespräch, öffentliches Schlichtungsgespräch) unterschiedliche sequenzielle Muster, in die das Format eingebettet ist, finden. Die Verwendung von kommen vs. gehen in vergleichbarem sequenziellem Kontext wird anhand der semantischen Unterschiede zwischen den Verben (Zielvs. Quellperspektive; Grad der Intentionalität) erklärt. Die Sprecher können über die Verbwahl die Perspektivierung eines Themenwechsels steuern, die Wahlfreiheit wird aber durch die Beteiligungsrollen teilweise eingeschränkt; in stark asymmetrischen Interaktionen verwenden nur die hierarchiehöheren Sprecher gehen. Im Hinblick auf die Ziele des Projekts zeigt der Beitrag, dass das Themenwechsel-Format aufgrund seiner Bindung an eine bestimmte verbale Handlung, die in bestimmten Interaktionstypen besonders häufig ist, in diesen deutlich häufiger vorkommt als in Alltagsinteraktionen. Es ist also weder an die Mündlichkeit an sich noch an Interaktionstypen als ganze gebunden, sondern seine Verwendung ist durch bestimmte sequenzielle Kontexte und kommunikative Aufgaben motiviert. Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 30 Das andere von Proske untersuchte Muster dagegen, die Pseudokoordination mit kommen (Und dann kam eine Kollegin und beschwerte sich.), ist aufgrund der geringen Belegmenge in der stichprobenbasierten Korpusstudie nicht als deutlich mit der Mündlichkeit assoziiert aufgefallen und ist außerdem, wie die Untersuchung der größeren Kollektion zeigt, weder typisch für bestimmte Interaktionstypen noch für spezifische sequenzielle Kontexte. Seine Verwendung ist zum einen semantisch motiviert - die Verwendung von kommen im ersten Teilsatz ermöglicht eine Zielperspektivierung des im zweiten Teilsatz verbalisierten Sachverhalts (des Zwecks der Ortsveränderung). Zum anderen ermöglicht die Pseudokoordination eine den Anforderungen der Zeitlichkeit des Sprechens in der Interaktion angepasste Informationsverteilung - im ersten Teilsatz kann mit einem unspezifischen Verb ein neuer Referent eingeführt werden, im zweiten Teilsatz wird dann die eigentlich relevante Prädikation über diesen, nun elliptisch realisierten Referenten angeschlossen. Obwohl sich keine sequenzielle Spezifik zeigt, ist dieses Muster also durch die Konstitutionsbedingungen der Mündlichkeit motiviert. Die Beiträge von Helmer/ Deppermann/ Reineke und von Deppermann/ Reineke schließen sich an die Korpusstudie zu den mentalen Verben an und untersuchen jeweils ein Format mit einem der Verben. Der Beitrag von Helmer/ Deppermann/ Reineke untersucht den Gebrauch von ich weiss nicht 25 im gesprochenen Deutsch. Es werden verschiedene interaktionale Gebrauchsarten von ich weiss nicht identifiziert und ihre Beziehung zur Variation in der Argumentrealisierung und Wortstellung (SV(O), (O)VS, V) und der Realisierung des Objektpronomens (es, das, Ø) besprochen. Nach ich weiss nicht mit voller Argumentrealisierung betonen Sprecher häufig ihr Nichtwissen oder zeigen Unwillen an, eine Antwort zu geben. Nach Varianten ohne Objekt mit SV-Wortstellung dagegen zeigen Sprecher eher Unsicherheit bezüglich der Wahrheit einer folgenden Proposition oder der Hinlänglichkeit ihrer Äußerung als Antwort an. Damit zusammenhängend neigen Realisierungen mit Subjekt und Objekt dazu, eine Sequenz zu beenden oder Nichtwissen anzuzeigen, während Äußerungen ohne Objekt eher als Heckenausdruck oder pragmatischer Marker fungieren, der den Folgesatz rahmt. Wenn ich weiss nicht als Reaktion auf eine Aussage geäußert wird, zeigt es (mit allen Argumentrealisierungsmustern) Widerspruch an. Der Beitrag von Deppermann/ Reineke untersucht Praktiken der Anzeige epistemischer Einstellungen mit ich dachte. In FOLK konnten sechs verschiedene Praktiken des Gebrauchs von ich dachte identifiziert werden. Es wird gezeigt, dass für das Englische I thought bereits identifizierte Praktiken im Deutschen ebenfalls routinemäßig eingesetzt werden (Äußerung einer diskrepanten An- 25 Die Schreibung mit Kapitälchen ( ICH WEISS NICHT ) verweist generisch auf alle Argumentrealisierungsmuster von nicht wissen in der 1. Person Singular. Verben im interaktiven Kontext 31 nahme, Anzeige evaluativer/ affektiver Einstellungen, Anzeige reduzierter Gewissheit). Daneben lassen sich jedoch weitere, in den Untersuchungen zum Englischen bislang nicht belegte Praktiken identifizieren (Begründung einer früheren, mittlerweile als unangemessen erwiesenen Handlung, Beanspruchung unabhängigen Wissens, Einbringen eines Alternativvorschlags). Der Hauptfokus der Untersuchung liegt auf der häufigsten Praktik, der Äußerung einer diskrepanten Annahme. Ein besonderes Augenmerk betrifft die Frage, wie kookkurrierende sprachliche Merkmale gemeinsam mit sequenziellen und pragmatischen Faktoren zur Disambiguierung der lokalen Interpretation von ich dachte beitragen. Der Beitrag von Helmer ist, anders als die anderen Beiträge, theoretisch ausgerichtet, bezieht sich dabei aber auf eigene empirische Ergebnisse. Helmer beschäftigt sich mit der Frage, wie Analepsen (Äußerungen, bei denen ein Argument nicht realisiert wird, weil der Referent in einer vorigen Äußerung enthalten ist) mit der Ablehnung von leeren Elementen in konstruktionsgrammatischen Ansätzen kompatibel sind und wie verschiedene konstruktionsgrammatische Ansätze versuchen, die referenzielle „Lücke“ zu schließen. Während einige Autoren davon ausgehen, dass die Nichtinstanziierungen durch Frames restringiert und entsprechend interpretiert werden können, nehmen andere Autoren an, dass Kontextinformationen wie Topikalität und Genre konstruktionsinhärent repräsentiert werden. Beide Versuche eröffnen jedoch Probleme für die Interpretation von Analepsen: Die Bedeutung jeder einzelnen Analepse hängt von ihrem diskursiven Kontext ab. Für viele Analepsen und spezifische Analepsentypen ist es nicht möglich, durchgängige semantische Merkmale der Antezedenzien zu finden, sondern sie sind nur rein situativ interpretierbar. Insgesamt demonstrieren die Beiträge, wie Untersuchungen zur Argumentrealisierung in der gesprochenen Sprache von der Kombination quantitativer und qualitativer Methoden profitieren können. Sie zeigen, warum Medialität, Gattung/ Interaktionstyp und Sequenz bzw. kommunikative Handlung/ Aufgabe als Bedingungsfaktoren für das häufige Vorkommen eines Argumentrealisierungsmusters in der Mündlichkeit voneinander getrennt werden müssen. Die einzelnen Faktoren erklären unterschiedliche Muster und pragmatisch-interaktive Funktionen. Wie die verschiedenen Faktoren bei der Motivation des Auftretens abstrakterer Argumentrealisierungsmuster jenseits der hier im Detail untersuchten Verben zusammenspielen, kann im Rahmen dieses Bandes nicht ausführlich reflektiert und theoretisiert werden - dies bleibt eine Aufgabe für die künftige Forschung. Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel 32 Dank Die Herausgeber danken Henrike Helmer für Kommentare zu allen Beiträgen des Bandes. Wir danken Elise Kärkkäinen für ihr wertvolles Feedback zu einer früheren Version des Artikels zu ich dachte. Wir danken Kristina Koblischke für die hilfreichen Vorarbeiten für und ihre Kommentare zu dem Beitrag zu ich wei ß nicht sowie für die redaktionelle Mithilfe am Beitrag zu ich dachte. Ebenfalls bedanken wir uns bei Sara Alotto, Sabrina Brunckhorst, Elena De Angelis, Juliane Elter, Melanie Jahn, Annika Knöpfle, Christina Mack, Roxana Müller, Isabell Neise und Martina Seidler für ihre Hilfe beim Kodieren der Daten. Lena Steinle danken wir für die Hilfe beim Transkribieren einiger Beispiele. Literatur Ackema, Peter (2015): Arguments and adjuncts. In: Kiss/ Alexiadou (Hg.), S. 246-274. Ágel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (Hg.) (2006): Grammatik aus Nähe und Distanz: Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650 - 2000. Tübingen: Niemeyer. Ágel, Vilmos/ Eichinger, Ludwig M./ Eroms, Hans-Werner/ Hellwig, Peter/ Heringer, Hans-Jürgen/ Lobin, Henning (Hg.) (2003): Dependenz und Valenz. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. 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Sie zählen außerdem zu den häufigsten Verben in der Mündlichkeit: Im 2014er Release des FOLK-Korpus (Schmidt 2014), das dieser Untersuchung zugrunde liegt, ist gehen (nach sagen und machen) das dritthäufigste und kommen (nach wissen) das fünfthäufigste lexikalische Verb. Legt man ihre Frequenzen auf die Dauer der zugrundeliegenden Gesprächsaufnahmen um, wird in diesem Korpus durchschnittlich alle 91 Sekunden das Wort gehen und alle 123 Sekunden das Wort kommen gebraucht. 1 Ziel dieses Beitrags ist die Identifikation und Analyse von Konstruktionen mit kommen und gehen, die distinktiv für den Gebrauch in der Mündlichkeit sind. Grundlage ist eine explorative Korpusstudie in fünf Verwendungskontexten: Alltagsgespräche, institutionelle Interaktionen, informelle internetbasierte Kommunikation, literarische Prosa und Wissenschaftstexte. Im Rahmen dieses Vergleichs werden für beide Verben Bedeutungen und damit verbundene Argumentrealisierungsmuster identifiziert, die charakteristisch gesprochensprachliche Verwendungen darstellen. Jeweils eine der dabei gefundenen Konstruktionen wird anschließend detailliert untersucht. Betrachtet werden dazu jeweils: - präferierte lexikogrammatischen Realisierungsmerkmale, - semantische Eigenschaften der zugrunde liegenden Konzeptualisierung, - pragmatische Merkmale und Interaktionsfunktionen, - Gründe für ihre besondere Assoziation mit der Mündlichkeit. 1 Diese Angaben sind nur ungefähr, da sie auf einer Zählung von Lemma-Tags beruhen. Dadurch beinhalten diese Vorkommen auch Belege, in denen die vermeintliche Form von kommen oder gehen entweder Bestandteil eines Partikelverbs in Distanzstellung oder komplexen Prädikates ist. Vorkommen als Bestandteile von Partikelverben finden sich allerdings auch für die beiden nächstfolgenden Verben auf der Liste, geben und sehen, deren tatsächliche Frequenz damit ebenfalls geringer sein dürfte. Das wiederum darauf nächstfolgende Verb glauben ist bereits deutlich weniger als halb so häufig wie gehen in den Daten, so dass sich an der Rangfolge der Verben vermutlich auch bei Herausrechnung von Partikelverben und komplexen Prädikate nichts ändern würde. Zur Frage, welche Formen in dieser Studie als Instanzen der Prädikate kommen und gehen betrachtet wurden, vgl. Abschnitt 3.1. Arne Zeschel 42 Ein zweites Ziel des Beitrags ist damit die methodische Veranschaulichung, wie solche Charakterisierungen Schritt für Schritt aus den Daten entwickelt und dabei korpus- und interaktionslinguistische Analysebestandteile gewinnbringend miteinander kombiniert werden können. Zur Einführung werden in Abschnitt 2 zunächst Schwerpunkte der bisherigen Forschung zu kommen und gehen skizziert und die Interessen des vorliegenden Beitrags davon abgesetzt. Abschnitt 3 erläutert Datenbasis und Methode. Den größten Raum nimmt Abschnitt 4 ein, in dem die empirischen Befunde dargestellt werden. Abschnitt 5 schließt mit einer zusammenfassenden Diskussion der Resultate. 2. Forschungsstand Die Verben kommen und gehen und ihre Äquivalente in anderen Sprachen sind prominente Gegenstände sowohl der Grammatikalisierungsforschung als auch in Untersuchungen zur lexikalischen Semantik und Pragmatik. Lexeme mit ihren Bedeutungen (d.h. den literalen Kernbedeutungen von kommen und gehen) entwickeln in vielen Sprachen grammatische Funktionen wie etwa die Kodierung von Tempusinformation. Häufig diskutiert werden auch die komplementären deiktischen Eigenschaften des Paars mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen in verschiedenen Sprachen. Drittens sind die beiden Verben aufgrund der Basalität der Erfahrung von Bewegung für die menschliche Kognition ein interessanter Gegenstand für Studien zu lexikalischer Polysemie und Metaphorik sowie mutmaßlich zugrundeliegender Prinzipien auf konzeptueller Ebene. Diese Bereiche greifen natürlich ineinander, so dass sich in vielen Studien Befunde aus allen drei Perspektiven versammelt finden, zumeist jedoch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Zentrale Vorarbeit speziell zum Deutschen ist Di Meolas (1994) Monographie Kommen und gehen: Eine kognitiv-linguistische Untersuchung der Polysemie deiktischer Bewegungsverben, die sich auf die beiden letztgenannten Fragenkreise konzentriert. Trotz ihrer Verschränkung mit synchroner Variation insbesondere in der Mündlichkeit stehen Fragen der Herausbildung neuer grammatischer Ressourcen in diesem Beitrag nicht im Zentrum des Interesses. Für die Grammatikalisierungsperspektive verweisen wir lediglich exemplarisch auf Lichtenberk (1991) sowie die im World Lexicon of Grammaticalization (Heine/ Kuteva 2002, S. 318-321) und der Monographie von Bybee/ Perkins/ Pagliuca (1994, S. 56f., 230, 266f. et passim) gelisteten Pfade von den Bedeutungen come und go in abstraktere Funktionsbereiche. Speziell zum Deutschen finden sich einige knappe Bemerkungen zu „venitivem“ kommen und „andativem“ gehen, die auch in unseren Daten auftreten, bei Lehmann (1991) - siehe dazu ausführlich Proske (in diesem Band). Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 43 Untersuchungen zu den deiktischen Eigenschaften der beiden Verben betrachten sie in der Regel als Minimalpaar. Im Vordergrund steht entweder die (Nicht-)Substituierbarkeit des einen Verbs durch das andere in bestimmten Verwendungsweisen innerhalb einer gegebenen Sprache oder aber ein sprachübergreifender Vergleich der dabei herausgearbeiteten Merkmale. Untersuchungen zur Deixis von kommen- und gehen-Verben knüpfen an Arbeiten Fillmores an, darunter insbesondere Fillmore (1997 [1971]). Dort wird der mit „±sprecherorientierte Bewegung“ (Annähern bzw. Entfernen) zu unscharf gefasste Kontrast um einige wichtige Ergänzungen modifiziert, die mögliche Verschiebungen der Origo betreffen. Gemäß Fillmores Analyse (ebd., S. 80f.) sind deiktische Verwendungen von come im Rahmen dieser möglichen Verschiebungen inhärent „zielorientiert“. 2 Rauh (1981, S. 60) ergänzt, dass anders als bei come im Fall des deutschen kommen das Merkmal der Zielorientierung auch schwerer wiegt als die von Fillmore identifizierten deiktischen Restriktionen, die es neutralisieren kann. 3 Di Meola (1994, S. 59ff.) stellt dieser Zielorientierung (bei ihm: „Endpunktfokussierung“) drei weitere Attribute zur Seite, mit deren Hilfe sich auch verschiedene nichtdeiktische Verwendungen von kommen und gehen semantisch differenzieren lassen: ±aktiv (die Bewegung erfolgt aus eigener Kraft oder nicht), ±intentional (die Bewegung ist willentlich initiiert oder nicht) und ±unbedingt (die Bewegung erfolgt ungehindert oder nicht). Nicht-deiktisches gehen 4 ist laut Di Meola stets +aktiv, +intentional und +unbedingt, kommen in der Kombination dieser Merkmale hingegen frei. 5 Ausschlaggebender Kontrast ist auch in seiner Analyse das Merkmal ±fokussiert (eine bestimmte Komponente des allgemeinen Bewegungsschemas source-path-goal 6 ist profiliert oder nicht): Während die Ausprägungen der anderen drei Merkmale in einer gegebenen Verwendung beider Verben übereinstimmen können oder auch nicht, sei gehen aber immer notwendig -fokussiert und kommen stets +fokussiert (und zwar auf den Endpunkt der bezeichneten konkreten oder abstrakten Bewegung). 2 Fillmore (1997 [1971]), S. 80) illustriert dies am Beispiel des Satzpaars He went home around midnight vs. He came home around midnight. Die Variante mit go bezeichnet den Zeitpunkt des Aufbruchs, die mit come den Zeitpunkt des Eintreffens am Zielort. 3 Ihr Beispiel ist der Satz Ich bin noch nie nach Japan gekommen. Solche Verwendungen sind im Deutschen möglich, auch wenn sich weder Sprecher noch Hörer zur Äußerungs- oder Referenzzeit am bezeichneten Zielort befinden und dieses Ziel auch nicht die homebase des Sprechers im Sinne Fillmores (1997 [1971]) ist. Vgl. dazu auch Di Meola (1994, S. 64). 4 Hierunter versteht DiMeola (1994, S. 50) Verwendungen, die „Bewegung in Bezug zu einem externen Koordinationsystem“ (Er geht aus dem Haus) bzw. „Bewegung ohne jegliches Koordinationsystem“ (Mit fünfzehn Monaten lernt ein Kind gehen; ebd., S. 56) bezeichnen. 5 Aus diesem Grund ist etwa ins Krankenhaus kommen ambig, ins Krankenhaus gehen jedoch nicht (vgl. Di Meola 1994, S. 70). 6 Vgl. Lakoff (1987, S. 275ff.). Arne Zeschel 44 Einen dritten Schwerpunkt der Beschäftigung mit kommen und gehen und ihren Äquivalenten in anderen Sprachen bilden Untersuchungen zu ihren zahlreichen figurativen Gebräuchen. Im Vordergrund steht hier das Interesse, die große Bedeutungsvielfalt beider Lexeme zu systematisieren und mit Blick auf allgemeine Prinzipien der Bedeutungsvariation und -extension zu motivieren. Solche Ansätze finden sich insbesondere in der Tradition kognitiv-linguistischer Untersuchungen zur Relevanz von Metapher und Metonymie für die sprachliche Kategorisierung (Lakoff 1993; Panther/ Radden 1999; Barcelona 2000). Ein Beispiel ist Radden (1996), der die allgemeine Metapher change is motion untersucht. Radden unterscheidet verschiedene Image Schemas (Hampe 2005), deren Struktur in unterschiedlicher Weise aus der Quelldomäne motion in die abstrakte Zieldomäne change projiziert wird. In dieser Analyse dienen spezifischere konzeptuelle Metaphern wie purposeful change is motion to a destination oder end of event is end of path dazu, semantische Merkmale sowohl deiktischer als auch nicht-deiktischer Verwendungen von come und go in abstraktere Bedeutungsbereiche zu übertragen. Eine umfassende Darstellung speziell für das Deutsche liefert wiederum Di Meola (1994), der konkrete wie abstrakte deiktische und nicht-deiktische Gebräuche von kommen und gehen in einem integrierten Netzwerkmodell ihres gesamten Polysemiespektrums erfasst und dabei auch die jeweils beteiligten metaphorischen und metonymischen Relationen diskutiert. Interessante Hinweise speziell zu idiomatischen Gebräuchen im Deutschen finden auch in Abschnitt II.5, „kommen und gehen“, des Einführungskapitels in Schemanns (2011, S. 66- 77) Deutscher Idiomatik. Der vorliegende Beitrag ist keinem der genannten Forschungsschwerpunkte zuzurechnen. Es geht nicht um Sprachwandel, nicht um den direkten Vergleich der beiden Lexeme kommen und gehen untereinander und auch nicht um allgemeine semantische Prinzipien, die ihre jeweilige Bedeutungsdiffusion erklären. Von Interesse sind stattdessen Besonderheiten ihres Gebrauchs in der Mündlichkeit, die sich aus ihrer insgesamt wenig spezifischen Bedeutung und, damit einhergehend, entsprechend breitgefächerten Anwendbarkeit in unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen ergeben. Die Studie ist damit ähnlich motiviert wie Langes (2007) Untersuchung zu kommen und gehen als so genannte „Passepartoutverben“ im Primärspracherwerb, verfolgt jedoch ein anderes Erkenntnisinteresse. Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 45 3. Daten und Methode 3.1 Datenbasis Die Untersuchung beruht auf 4.000 zufällig ausgewählten Belegen für die beiden Zielverben aus fünf verschiedenen Kommunikationsdomänen (400 Belege pro Verb und Kategorie): private Alltagsgespräche, institutionelle Interaktionen, literarische Texte, Wissenschaftstexte sowie konzeptionell-mündliche, aber medial schriftliche internetbasierte Kommunikation. Im Folgenden wird für diese Kategorien die Bezeichnung „Verwendungskontext“ gebraucht. Die gesprochensprachlichen Daten entstammen dem 2014er Release des Forschungs- und Lehrkorpus Gesprochenes Deutsch, FOLK (Schmidt 2014). 7 Literarische und Wissenschaftstexte sind dem DWDS-Kernkorpus entnommen (Geyken 2007). 8 Die Webdaten wurden aus einer Untermenge der Dokumente des Korpus DECOW2012 (Schäfer/ Bildhauer 2012) extrahiert, die sich durch eher unredigierten, „quasi-spontanen“ Sprachgebrauch auszeichnet, wie man ihn insbesondere in Forendiskussionen, Blogkommentarspalten etc. findet. 9 In Tabellen und Diagrammen werden für diese Verwendungskontexte die folgenden Bezeichnungen benutzt: „[M-A]“ (Mündliche Daten: Alltagsgespräche), „[M-I]“ (Mündliche Daten: Institutionelle Interaktionen), „[K-M]“ (konzeptionell mündliche / medial schriftliche Daten, d.h. die informellen Webtexte), „[S-L]“ (Schriftliche Daten: literarische Texte) und „[S-W]“ (Schriftliche Daten: Wissenschaftstexte). Gesucht wurde jeweils nach den Lemmata kommen und gehen. Treffer, in denen sich die gefundene Form als Bestandteil eines Partikelverbs in Distanzstellung erwies, wurden durch andere Belege ersetzt. Als irrelevante Partikelverben wurden dabei lediglich Bildungen mit Präpositionen der alten Schicht wie z.B. aufkommen, untergehen und vorkommen gewertet, nicht jedoch Kombinationen mit adverbialen Verbzusätzen wie etwa hin-, raus- und runter-. Auch andere Arten komplexer Prädikate, in denen beide Verben in großer Zahl auftreten, wurden mit erfasst (vgl. Abschnitt 3.2). Entfernt und ersetzt wurden hingegen 7 Äußerungen erkennbar nicht muttersprachlich kompetenter Sprecher (aus dem Teilkorpus „Polizeivernehmungen von Migranten“) wurden ausgeschlossen, ebenso vorgelesener Text aus dem Teilkorpus „Vorlesen für Kinder“. 8 Die Texte im DWDS-Kernkorpus sind so zusammengestellt, dass sie alle Dekaden des 20. Jahrhunderts gleichmäßig abdecken. Für die vorliegende Studie wurden nur Quellen aus den letzten beiden Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende berücksichtigt. 9 Dieses Subkorpus ist über eine einfache Heuristik zusammengestellt, die mindestens drei Vorkommen einer Kurzform des Indefinitartikels pro Dokument (wie z.B. nen statt einen) als Marker einer „quasi-spontanen“ Schriftlichkeit benutzt, über die es heißt: „Es ist davon auszugehen, dass quasi-spontane Texte Merkmale der gesprochenen Sprache enthalten, aber nicht mit dieser gleichzusetzen sind“ (Schäfer/ Sayatz 2014, S. 228). Arne Zeschel 46 Belege, die sich aus formalen (z.B. Konstruktionsabbruch vor eindeutiger Identifizierbarkeit der gewählten Struktur) oder semantischen Gründen (Nicht-Rekonstruierbarkeit der Bedeutung) der Auswertung entzogen. 3.2 Auszeichnung Im Sinne der explorativen Zielsetzung der Korpusstudie wurde jedes Vorkommen für eine möglichst breite Palette struktureller, semantischer und lexikalischer Kookurrenzmerkmale ausgezeichnet. Dabei wurde jeder Beleg in der Studie von zwei Personen unabhängig kodiert. Alle Abweichungen, die sich bei einem automatischen Abgleich der Auszeichnungen ergaben, wurden von einem dritten Bearbeiter aufgelöst und korrigiert. Die erfassten Merkmale werden in den folgenden Abschnitten kurz dargestellt. 3.2.1 Strukturelle Auszeichnung In formaler Hinsicht wurden in erster Linie Informationen über den Prädikatskomplex und die Ergänzungen des Verbs erfasst. Für das Prädikat waren dies: Part-of-Speech-Tag des Zielvorkommens (gemäß „Stuttgart-Tübingen Tagset“ (STTS), vgl. Schiller et al. 1999), Präsenz eines Modalverbs, Negation, Person, Numerus, Tempus, Modus, Genus sowie eventuelle weitere Prädikatsbestandteile wie Verbzusätze (sie geht weg), PPen in Funktionsverbgefügen (die Diskussion kam nicht in Gang) und „verbative“ Ergänzungen (ich geh einkaufen). Die Abgrenzung kompositioneller Verbindungen der Zielverben mit bestimmten Ergänzungen (jmd geht irgendwohin) von lexikalisierten und/ oder idiomatisierten Verbindungen, die eher synthetisch als komplexe Prädikate zu betrachten sind (etwas geht schief), war nicht immer einfach. Als komplexes Prädikat wurden sowohl Strukturen mit intransparenter Bedeutung (jmd kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen) als auch Verbindungen gewertet, die formale Idiosynkrasien wie etwa veränderte Negation aufweisen (*in keine Gänge kommen). Speziell bei den zahlreichen V+PP-Verbindungen in den Daten galt das auch für Einheiten, deren nominale Bestandteile nicht anaphorisch aufgegriffen werden können (Ihr Gewinn allerdings ging auf Kosten der Möglichkeit verbindlicher Sinnstiftung - *Sie waren hoch). Für die in manchen Fällen nicht minder schwierige Differenzierung von Ergänzungen/ Komplementen und Angaben/ Adjunkten steht kein verlässlicher formaler Test zur Verfügung (vgl. die Einleitung zu diesem Band). Als Ergänzungen wurden in dieser Studie Elemente gewertet, die in der jeweils evozierten Bedeutung „angelegt“ sind. Auch hierfür gibt es keine klare Diagnostik. Die Frage, welche Elemente und Spezifikationen Bestandteil einer gegebenen Bedeutung sind, hängt ihrerseits schlicht davon ab, wie genau diese Bedeutung definiert wird (vgl. Abschnitt 4.1.4 für eine Diskussion am Beispiel). Un- Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 47 ser allgemeiner theoretischer Bezugsrahmen für diese Festlegung ist die Framesemantik (Fillmore 1982, 1985; Ruppenhofer et al. 2010). Praktisch haben wir uns bei der Auszeichnung von der Zielsetzung leiten lassen, möglichst keine gegebenenfalls relevante Information unter den Tisch fallen zu lassen und den Ergänzungsbegriff somit eher großzügig auszulegen, so dass z.B. auch viele Konstituenten mit modaler, lokaler und temporaler Bedeutung erfasst wurden. Für Ergänzungen wurde erfasst: Präsenz des jeweiligen Ergänzungstyps (ja/ nein), phrasale Kategorie, lexikalischer Kopf und topologische Feldposition der Konstituente. Als (potenziell) zu erfassen galten dabei Subjekt und Kasusobjekte, Präpositionalobjekte, so genannte „freie Dative“ mit Ausnahme des Ethicus, prädikative Ergänzungen sowie Adverbiale der semantischen Subtypen Direktional, Lokal, Temporal, Modal, Kausal und Maßergänzung. In einigen wenigen Fällen, in denen die Zielverben als Bestandteil eines komplexen Prädikates fungierten, traten auch satzwertige Ergänzungen auf (jmd kommt nicht umhin, etw zu tun). Angaben wurden ebenfalls registriert, jedoch nur mit Blick auf ihre Präsenz und nicht auf konkrete Realisierungsmerkmale. Erfasst wurde weiterhin der Satztyp des relevanten Teilsatzes, die Verbstellung und die Anzahl der realisierten Ergänzungen. Für den Zugriff auf lexikalische Kookkurrenzinformation wurde zum einen das Kopflemma jeder erfassten Ergänzung ausgezeichnet (Meinem Hals geht es wieder ganz gut), bei PPen in Adverbial- und Objektfunktion, die weitere Phrasen einbetten, zusätzlich auch das Lemma der Kopftochter (und jetzt gehts ins Bett; wie der Pastor hinter die List kam). Lexikalisch erfasst wurden auch Negationselemente (in einem weiten Verständnis des Begriffs: wieso kommt er heute nicht; darum geht es weniger; vor allem sollen doch bei CPUs keine Shrinks auf 55nm kommen), das Lemma eventueller Modalverben sowie im relevanten Teilsatz auftretende Modalpartikeln. Insgesamt ergab sich so aus den erfassten funktionalen, kategorialen, topologischen und lexikalischen Merkmalen für jeden Beleg ein Vektor mit 92 Positionen. 3.2.2 Semantisch-funktionale Auszeichnung Als geeignete Bedeutungsrepräsentation sowohl für Verben als auch für Konstruktionen setzen wir mit Fillmore (1982, 1985) semantische Frames an. Ausgangspunkt unserer Systematisierung war ein Abgleich der angesetzten Lesarten für kommen und gehen in den beiden großen Bedeutungswörterbüchern Duden Universalwörterbuch (Dudenredaktion 2001) und Wahrig Deutsches Wörterbuch (Wahrig-Burfeind 2011) sowie dem Valenzwörterbuch VALBU (Schumacher et al. 2004). Teils inspiriert vom englischsprachigen Berkeley FrameNet 10 sowie auch von der deutschsprachigen Frame-Datenbank SALSA 10 https: / / framenet.icsi.berkeley.edu/ fndrupal/ Arne Zeschel 48 (Burchardt et al. 2009) wurde auf dieser Basis eine eigene framebasierte Klassifikation für kommen und gehen erarbeitet. Ziel der Beschreibung war jeweils die Erfassung, welche Art von Szene oder Konstellation mit welchen Beteiligten und weiteren Informationskomponenten das Zielverb in einem gegebenen Beleg aufruft. Hier zwei Beispiele für kommen mit je drei zugeordneten Belegen: (1) ereignen Ein ereignis vollzieht sich (zu einem zeitpunkt) (in einer domäne) (in einer art+weise). Kommutierende Prädikate: sich ereignen, geschehen, erfolgen, sich vollziehen, eintreten (2) a. Die Aufholjagd von Leverkusen kam zu spät. [K-M]: +SUBJ: ereignis +TMP: zeitpunkt b. In Goyas ‘Tantalo’ betiteltem Capricho 9 (Abb. 65) kommt es zu einer seltsamen Verquickung von christlicher Bildtradition und Mythos. [S-W]: +SUBJ: es +P.OBJ-zu: ereignis +LOK: domäne c. In nie dagewesener Art und Weise kommt es zu Integration und Umgestaltung alter Initialformen und Stilelemente. [S-W]: +SUBJ: es +P.OBJ-zu: ereignis +MOD: art+weise (3) äusserung Eine äusserung wird (von einem sprecher) (gegenüber einem hörer) (mit einer frequenz) (in einer bestimmten art+weise) vorgebracht. Für die äusserung kann metonymisch auch ihr inhalt stehen. Kommutierende Prädikate: geäußert/ vorgebracht/ mitgeteilt werden; anführen, vorbringen, mitteilen. (4) a. also da kommen gewöhnlich schon so bizarre Inhalte von denen sie sich aber sehr schnell auch wieder wegreden lässt [M-I]: +SUBJ: inhalt b. [kannst wahrschein]lich wetten abschließen wie oft äh keine Ahnung kommt oder so was sagt der immer [M-I]: +SUBJ: äusserung +TMP: frequenz c. ich kann denen ja nun kaum mit der so oft erwähnten widerrufsbelehrung kommen [K-M]: +SUBJ: sprecher +DAT: hörer +P.OBJ-mit: inhalt (1) und (3) enthalten neben den Framedefinitionen, die die jeweils angesetzten Partizipanten listen (fakultativ realisierte Elemente in Klammern) und die zwischen ihnen bestehende Relation kennzeichnen, auch jeweils eine Liste „kommutierender Prädikate“, die ebenfalls diesen Frame aufrufen und von Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 49 denen mindestens eines kommen bzw. gehen in der jeweiligen Verwendung ersetzen kann. Diese Angaben wurden benutzt, um feinere Bedeutungsdifferenzierungen abzubilden, die sich z.B. im Zusammenspiel mit der lexikalischen Semantik der Argumente ergeben, vgl. (5): (5) a. Die Aufholjagd von Leverkusen kam zu spät b. sobald der erste aufständische Gedanke kommt In beiden Belegen liegt die Bedeutung vor, dass sich etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt einstellt. Während sich kommen in (5.a) aber z.B. mit sich ereignen, geschehen oder erfolgen ersetzen ließe, ist dies in (5.b) nicht der Fall. 11 Hier wurde stattdessen der Frame in (6) angesetzt, dessen große semantische Nähe zu ereignen sich in der weitgehend deckungsgleichen Framebeschreibung niederschlägt: (6) entstehen Eine entität entsteht (zu einem zeitpunkt) (in einer domäne) (in einer art+weise). Kommutierende Prädikate: entstehen, sich bilden, aufkommen (7) a. ich bin jetzt grad in dem Alter dann kommt einmal das Wehwehchen +SUBJ: entität +TMP: zeitpunkt b. oh hier kommt ein Apple-Shop hin +SUBJ: entität +DIR: domäne c. Plötzlich kamen mir massive Bedenken +SUBJ: entität +DAT: domäne +MOD: art+weise Die Klassifikation zielte mithin primär auf die von den Belegen in ihrem jeweiligen Kontext evozierten Frames, zu deren Bestimmung auch die Semantik der jeweils kookkurrierenden Argumente mit herangezogen wurde. Wie in Abschnitt 3.2.1 dargelegt, ist ein von der konzeptuellen Struktur ausgehender Ansatz nicht zuletzt erforderlich, um zu entscheiden, welche Elemente in einem gegebenen Beleg überhaupt als Ergänzungen auszuzeichnen sind und welche nicht. Dennoch lassen sich die Daten in semantischer Hinsicht immer auch anders schneiden und die hier gewählte Klassifikationsperspektive ist weder alternativlos noch notwendigerweise für alle Fragen und Auswertungsinteressen optimal (vgl. Abschnitt 4.1.4). Unbeschadet dessen leistet sie 11 Hinter solchen Kontrasten steht ein Alltagsverständnis ontologischer Typen („Dinge“ - inklusive reifizierter Abstrakta - entstehen, Prozesse geschehen). Ein weiterer Grund, aus dem eine gegebene Paraphrase geeigneter erscheinen kann als eine andere, ist die Spezifik der Beschreibung. Wenn z.B. eine Kategorie äusserung mit der Paraphrase „geäußert/ vorgebracht/ mitgeteilt werden“ angesetzt wird, ist bei einem entstehen qua äusserung (damit mir später keine Vorhaltungen kommen) letztere Kategorie die näherliegende Wahl. Arne Zeschel 50 aber eine hinreichend trennscharfe Bedeutungsdifferenzierung und gibt Kriterien an die Hand, welche Elemente des syntagmatischen Kontexts eines Beleges Eingang in die Kodierung finden. Der Fokus dieses Beitrages liegt auf Gebräuchen beider Verben als einfache Verwendungen (d.h. nicht als Bestandteil komplexer Prädikate) speziell in nicht-literalen Lesarten mit ggf. spezialisierten Funktionen. Zwar sind Häufigkeit und Verteilung von Gebräuchen, die konkrete Fortbewegung im Raum bezeichnen, für den Vergleich der fünf Verwendungskontexte durchaus auch von Interesse, so dass entsprechende Belege in der Studie auch erfasst und ausgewertet wurden. Verzichtet wurde dabei allerdings auf eine genauere (in vielen Fällen auch problematische, da nicht trennscharf leistbare) Binnendifferenzierung dieser Verwendungen in Lesarten, die neben der konkreten Bewegungsbedeutung noch je spezifische weitere Implikationen aufweisen (z.B. ‘regelmäßiger Besuch einer Institution’, ‘Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses’, ‘Verrichtung einer spezifischen Tätigkeit am Zielort’ etc.). Stattdessen wurden alle Gebräuche, die zumindest auch die konkrete Bewegung einer Entität von einem Ort zum anderen bezeichnen, zu einer übergeordneten Kategorie bewegung zusammengefasst. Als Instanzen dieser literalen Bewegungsbedeutung wurden dabei auch Fälle gewertet, in denen zwar keine Fortbewegung des Agens selbst von A nach B vorlag, wohl aber die wahrnehmbare Bewegung eines Körperteils (Nur ein leises „Fauchen“ zu hören, wenn man aufs Gas geht; ich ging mit meinen Pupillen hin und her wie bei einem Tennisspiel) oder aber eines metonymischen Vertreters des Agens wie etwa eines Spielsteins (wenn ich eine Zwei habe dann gehe ich hierhin) oder Mauszeigers (und jetzt gehst du auf Spam Verdacht). Für Verwendungen von kommen und gehen außerhalb komplexer Prädikate ergab sich auf diese Weise ein Inventar von 31 Frames für kommen und 24 Frames für gehen. 3.3 Auswertung Die Auswertung der Daten erfolgte mithilfe von Korrespondenzanalysen (Greenacre 2007). Die Korrespondenzanalyse ist ein exploratives Verfahren, das die Entdeckung von Merkmalszusammenhängen in großen Kontingenztabellen (was taucht häufig womit auf? ) durch intuitiv interpretierbare zwei- oder dreidimensionale Visualisierungen ermöglicht bzw. erleichtert. Eine nähere Erläuterung des Aufbaus und der Interpretation der erhaltenen Plots wird in Abschnitt 4.1.2 gegeben, wenn die erste Auswertung präsentiert wird. Darüber hinaus ist es im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, eine Einführung in Grundzüge des Verfahrens selbst zu geben. Ein direkter Nachvollzug der diskutierten Ergebnisse im jeweiligen Diagramm ist jedoch auch für Leser Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 51 ohne Vorerfahrungen mit der Methode möglich. 12 Das Verfahren eignet sich sowohl für die Auswertung einfacher Kontingenztafeln, in denen nur zwei Variablen kreuztabelliert sind (binäre Korrespondenzanalyse), als auch für mehrfaktorielle Auswertungen mit mehr als zwei gekreuzten Variablen (multiple Korrespondenzanalyse). Beide Arten von Analysen kommen in diesem Beitrag zum Einsatz, jeweils durchgeführt mithilfe des R-Pakets factoMineR (Lê/ Josse/ Husson 2008). Auswertung und Präsentation der Ergebnisse sind in je vier Teilschritte gegliedert: Erstens wird ein knapper Überblick über die Verwendungen des jeweiligen Verbs als Teil komplexer Prädikate gegeben. Diese Verwendungen werden danach nicht weiter betrachtet. Darauf folgt eine Korrespondenzanalyse der Bedeutungen der verbleibenden Belege in den fünf untersuchten Verwendungskontexten. Im dritten Schritt werden zusätzlich die formalen Argumentrealisierungsmuster mit betrachtet, die diese Bedeutungen instanziieren, und die Verteilung dieser Form-Bedeutungspaare wiederum im Rahmen einer Korrespondenzanalyse untersucht. Viertens wird eine exemplarische Analyse jeweils eines der so gefundenen Muster auf konstruktionaler Ebene (im konstruktionsgrammatischen Sinn) vorgenommen (die verschiedene Argumentrealisierungsmuster subsumiert). Diese Vertiefungsanalysen haben jeweils eine quantitativ-korpuslinguistische und eine qualitativ-interaktionslinguistische Komponente: Im korpuslinguistischen Teil werden zunächst je konstruktionsspezifisch verschiedene weitere strukturelle, lexikalische und semantische Merkmale in die Untersuchung einbezogen und im Rahmen multipler Korrespondenzanalysen ausgewertet. 13 Im interaktionslinguistischen Teil werden die dabei ermittelten Auffälligkeiten dann qualitativ analysiert, indem die jeweils zugehörigen Vorkommen mit Blick auf Interaktionsfunktionen und typische Sequenzkontexte untersucht werden. 12 Die Präsentation sonstiger Ergebnisbestandteile ist im Interesse der Lesbarkeit im Haupttext möglichst knapp und untechnisch gehalten. Wo sie für einen klaren Nachvollzug des Vorgehens und der Ergebnisse erforderlich sind, werden methodische Detailangaben in Fußnoten berichtet, die je nach Interesse auch übersprungen werden können. 13 Diese Detailanalysen sind unabhängig von der globalen Analyse des gesamten Verwendungsspektrums, d.h. keine „Subset-Analysen“ im Sinne von Greenacre (2007, Kap. 21): Die Vergleichsbasis stellen hier alle Vorkommen von kommen bzw. gehen in der jeweiligen Zielkonstruktion, nicht die Daten für das jeweilige Verb insgesamt. Arne Zeschel 52 4. Ergebnisse 4.1 kommen 4.1.1 Komplexe Prädikate In den 2.000 Belegen für kommen fungiert das Verb in 22% der Fälle als Teil eines komplexen Prädikats. Die größte Untergruppe bilden Verbindungen mit einem direktionalen Adverb (36%) wie (he-)rauskommen, zurückkommen und hinzukommen. Etwa gleich häufig sind Kombinationen mit einer Präpositionalphrase (35%), bei denen Verbindungen mit zu (zu Ohren / zum Vorschein / zur Sprache kommen) und in (in Frage / in Fahrt / ins Gespräch kommen) dominieren. Weniger prominent sind auf (auf keinen grünen Zweig kommen) und an (an die Reihe kommen), marginal PPen mit aus, außer, durch, über, unter und von. Dritte größere Gruppe sind lexikalisierte Verbindungen mit sonstigen Adverbien (15%) wie wiederkommen oder zusammenkommen. Selten sind Verbindungen mit Adjektivphrasen in Resultativkonstruktionen (5%) wie <jemand> kommt <mit etwas> klar, <jemand/ etwas> kommt <jemandem/ etwas> nahe/ näher oder <etwas> kommt <etwas> gleich. Etwa gleich selten sind Kombinationen mit dem Partizip Perfekt eines Bewegungsverbs, das die Art und Weise einer Fortbewegung enkodiert (gelaufen/ angeflogen/ getrippelt kommen). Marginal sind Verbindungen mit einem reinen Infinitiv und dessen Ergänzungen (<jemand> kommt [<jemanden> besuchen]) sowie satzwertige Mehrwortausdrücke (wo kommen wir denn da hin). Deutlich am seltensten sind mehrteilige Prädikate in den Alltagsgesprächen (7%), klar am häufigsten in den Wissenschaftstexten (33%). Die restlichen Kontexte haben mit 19-22% jeweils etwa gleiche hohe Anteile. Die folgende Auswertung konzentriert sich auf die 1.558 Belege in den Daten, in denen kommen nicht als Teil eines komplexen Prädikats verwendet wird. 4.1.2 Bedeutungen Wir beginnen die Untersuchung mit einem Blick auf die Verteilung der angesetzten Bedeutungskategorien über die fünf untersuchten Verwendungskontexte. Abbildung 1 zeigt das Ergebnis einer Korrespondenzanalyse. 14 Das Diagramm zeigt an, wie Verwendungskontexte und Bedeutungen miteinander assoziiert sind. Es ist folgendermaßen zu lesen: Der Schnittpunkt der Achsen markiert den Durchschnitt der Verteilung. Ein genau hier platzierter Datenpunkt wäre gemessen an den beobachteten Häufigkeiten aller anderen Punk- 14 φ 2 =.50, χ 2 (56, N=1468)= 727.14, p<.001**. Aktive Punkte sind alle Bedeutungen mit einer Häufigkeit von mindestens zehn Vorkommen insgesamt. Visualisiert sind die 15 Bedeutungen mit den größten Beiträgen zur Konstruktion der dargestellten ersten beiden Dimensionen. Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 53 te seiner Art exakt durchschnittlich über die jeweils andere Variable verteilt. Am nächsten kommt dem unter den fünf untersuchten Verwendungskontexten in Abbildung 1 die Kategorie [M-I] (Institutionelle Interaktionen), die die unauffälligste Bedeutungsverteilung aufweist und nah am Diagrammursprung platziert wird. Zweitens teilen die Achsen das Diagramm zur leichteren Lesbarkeit in Quadranten. Die Tatsache, dass zum Beispiel die beiden Gesprächskategorien [M-A] und [M-I] in dieselbe Richtung vom Ursprung verschoben sind und sich beide im unteren linken Quadranten finden, zeigt an, dass sie in ähnlicher Weise vom Durchschnittsprofil der fünf Verwendungskontexte abweichen: Tendenziell sind in diesen beiden Kontexten dieselben Lesarten von kommen überbzw. unterrepräsentiert. Drittens zeigt die Distanz zum Ursprung das Ausmaß der ermittelten Abweichung an: 15 Während z.B. [M-A] und [M-I] in ähnlicher Hinsicht von der durchschnittlichen Bedeutungsverteilung abweichen, ist diese Tendenz bei Kategorie [M-A] deutlich ausgeprägter als bei Kategorie [M-I]. Weit außen im Diagramm platzierte Kategorien sind Ausreißer, die sich stark vom durchschnittlichen Profil der jeweiligen Variable unterscheiden. Viertens ist die räumliche Nähe zwischen zwei Punkten ein Indikator ihrer Assoziation: Datenpunkte für Variable A, die ihren Platz in der Nähe eines Datenpunkts für Variable B finden, sind mit dieser Ausprägung von B assoziiert. Finden sie ihren Platz im Diagramm aus Sicht der anderen Ausprägungen von Variable B jenseits des betrachteten Punktes, sind sie mit dieser Kategorie distinktiv assoziiert. Demzufolge ist ge- 15 Abzüglich der Information, die bei der Reduktion der Punktewolke auf nur zwei dargestellte Dimensionen verlorengegangen ist (d.h. dem Wert, der den addierten Varianzanteilen der ersten beiden Dimensionen auf 100% fehlt), gibt die räumliche Entfernung zweier Punkte desselben Typs (also z.B. zweier Verwendungskontexte) bzw. eines Punkts zum Ursprung exakt die (euklidisch transformierte) Chi-Quadrat-Distanz zwischen den Profilen dieser Kategorien wieder. Anders verhält es sich bei der in Abbildung 1 gewählten Darstellungsart allerdings beim Verhältnis von Datenpunkten unterschiedlicher Variablen - und damit z.B. der Frage, wie „nah“ sich Verwendungskontext X und Bedeutung Y sind, d.h. welche Affinität zwischen ihnen besteht. Hier entspricht die genaue Distanz zweier einzelner Punkte im Diagramm keinem direkt interpretierbaren Wert, der sich unmittelbar aus dem Diagramm ablesen ließe. Der Grund dafür ist, dass in einer so genannten „symmetrischen“ Map wie Abbildung 1 zwei unterschiedliche Diagramme zusammengeführt sind: die visualisierten Distanzen der Verwendungskontexte von ihrem Durchschnittsprofil sowie dieselbe Visualisierung für die Bedeutungskategorien von deren Durchschnittsprofil. Betrachtet man diese Distanzen separat in so genannten asymmetrischen Maps für beide Variablen, ändert sich zwar nichts an der prinzipiellen Verteilung - also etwa daran, dass z.B. ein bestimmter Punkt in den standardmäßig dargestellten ersten beiden Dimensionen etwa im rechten oberen Quadranten des Diagramms landet und andere im linken unteren - die Skalierung der Achsen ist bei separaten asymmetrischen Maps aber jeweils unterschiedlich. Das führt dazu, dass bei der reskalierten und „überblendeten“ Darstellung beider Konstellationen in einer symmetrischen Map zwar übereinstimmende Abweichungen in dieselbe Richtung vom jeweiligen Durchschnittsprofil erkennbar sind, die messbaren Distanzen zwischen Punkten verschiedener Variablen aber nicht direkt interpretierbar sind, da sie unterschiedlichen Räumen entstammen. Arne Zeschel 54 mäß Abbildung 1 beispielsweise die Diskurspartikelverwendung „dp“ distinktiv mit den Alltagsgesprächen [M-A] verbunden. 16 Abb. 1: Bedeutungen: kommen Die Herausforderung bei der Analyse eines solchen Plots besteht darin, die dargestellten Achsen zu interpretieren - d.h. die Gemeinsamkeiten und Kontraste zu benennen, die den beiden dargestellten Streuungsdimensionen jeweils zugrunde liegen. In Abbildung 1 ist in der Horizontalen zunächst auffällig, dass der informellste Texttyp ganz links erscheint und der formellste ganz rechts. Die formelleren institutionellen Interaktionen liegen im selben Quadranten wie die Alltagsgespräche, allerdings bereits nahe bei der Achse. Unerwartet in dieser Hinsicht ist die Positionierung der literarischen Texte 16 Neben diesen grundlegenden Aspekten der Darstellung und ihrer Interpretation sei noch auf zwei weitere Punkte hingewiesen: Zum einen ist in der zweidimensionalen Darstellung in Abbildung 1 nicht die gesamte Streuung in den Daten visualisiert. Dargestellt werden standardmäßig die beiden wichtigsten Dimensionen, in die sich die Gesamtvarianz zerlegen lässt. Der Hauptkontrast ist stets in der Horizontalen abgetragen, die Dimension mit dem zweithöchsten Beitrag zur Varianzaufklärung wird in der Vertikalen dargestellt. Die genauen Beiträge beider Dimensionen zur gesamten Varianzaufklärung sind jeweils unter der Achse als Prozentwert vermerkt. In Abbildung 1 visualisieren die ersten beiden Dimensionen zusammengenommen also ca. 70% der gesamten Streuung in den Daten. Zweiter wichtiger Punkt ist, dass es sich bei den hier gezeigten Plots um rein deskriptive Statistiken handelt: Die Diagramme bieten lediglich eine intuitive Visualisierung von Verteilungsdaten, die das Aufdecken von Zusammenhängen erleichtert, nicht aber deren mögliche Signifikanz erweist. Zumindest so, wie sie in diesem Beitrag eingesetzt wird, ist die Korrespondenzanalyse ein nützliches exploratives Werkzeug für die Entwicklung von Hypothesen, nicht aber für ihre inferenzielle Überprüfung. −1.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 Dim 1 (47.94%) Dim 2 (21.64%) [K−M] [M−A] [M−I] [S−L] [S−W] Bewegung Ereignen Folge DP Herkunft Erscheinen Hinzutreten Entstehen Geraten Verursachung Erlangen Themenwechsel Einfallen Äußerung Skala Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 55 sowie der Webtexte, die man mit Blick auf die Formalitätsdimension in vertauschter Reihenfolge erwarten würde. Ein Blick auf die Daten erweist, dass dafür sehr wahrscheinlich die literale Bewegungsbedeutung verantwortlich ist: Nach Zusammenfassung aller Lesarten, die zumindest auch räumliche Fortbewegung implizieren, deckt diese aggregierte Kategorie 52% der Daten ab ([M-A]: 59%, [M-I]: 48% der Belege). Bei den literarischen Texten entfallen sogar ganze 75% der Belege auf diese Kategorie, in den Internetdaten (41%) und vor allem den wissenschaftlichen Texten (32%) ist sie dagegen deutlich weniger prominent. Es steht daher zu vermuten, dass der besonders „schwere“ Punkt bewegung die Kategorie [S-L] in Abbildung 1 in Richtung der mündlichen Kategorien „gezogen“ hat. Genau das zeigt sich, wenn man die Kategorie bewegung in der Analyse inaktiv setzt und nur die nicht-literalen Verwendungen allein auswertet: 17 Abb. 2: Bedeutungen: kommen (ohne bewegung ) Nun ähneln die literarischen Texte den Gesprächen nicht mehr stark; sie rücken stattdessen an die Wissenschaftstexte heran und sind jetzt am zweitweitesten rechts im Diagramm platziert. Die horizontale Dimension hat bei den nicht-literalen Lesarten in Abbildung 2 somit sowohl mit Formalität als auch mit Medialität zu tun: links finden sich die Gespräche, dabei ganz links die 17 φ 2 =.83, χ 2 (52, N=657)= 543.1, p<.001**. Aktive Punkte sind alle Bedeutungen mit einer Häufigkeit von mindestens zehn Vorkommen insgesamt (ohne die Kategorie bewegung). Visualisiert sind die 15 Bedeutungen mit den größten Beiträgen zur Konstruktion der dargestellten ersten beiden Dimensionen. −2.0 −1.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 Dim 1 (51.13%) Dim 2 (22.66%) [K−M] [M−A] [M−I] [S−L] [S−W] Ereignen Folge DP Herkunft Erscheinen Hinzutreten Entstehen Geraten Verursachung Erlangen Themenwechsel Einfallen Äußerung Skala Arne Zeschel 56 informellste Kategorie [M-A]. Die ebenfalls informellen, aber medial schriftlichen Forendiskussionen werden im rechten Teil des Diagramms platziert. Weiter rechts folgen die literarischen Texte und schließlich ganz rechts die maximal formellen Wissenschaftstexte. Drei Beispiele für Bedeutungen links der Achse liefert (8): (8) a. äh komm Nina du bist dran [M-A]: diskurspartikel b. ich habe ja nicht gesagt die kommen zum Schluss für andere die kommen zum Schluss für mich [M-A]: folge c. da geht es ja nachher auch noch mal drum da kommen wir noch mal drauf [M-I]: themenwechsel Typische Bedeutungen auf der rechten Seite veranschaulichen dagegen Belege wie die folgenden: (9) a. Zur Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien kann es daher nur in hinreichend großen, komplexen Gesellschaften kommen. [S-W]: ereignen b. Keine Frage, die Künstler konnten in Kenntnis dieser Mechanismen, die sie, wie wir gesehen haben, auch experimentell vertieften, zu einer verfeinerten Form der Betrachteransprache kommen. [S-W]: erlangen c. Auf ein gelesenes Gedicht kamen mindestens zwei, wenn nicht drei geschriebene. [S-L]: entfallen Der Eindruck, dass die Beispiele in (8) eher informeller und die in (9) eher formeller Natur sind, hängt natürlich mit verschiedenen weiteren Eigenschaften der Syntax und Lexis dieser Belege zusammen. Die Analyse zeigt aber, dass bestimmte Bedeutungen/ Funktionen von kommen mit eben diesen Umgebungen assoziiert sind. Die Herausnahme der Kategorie bewegung aus der Analyse in Abbildung 2 lässt sich inhaltlich rechtfertigen, wenn der Fokus der Untersuchung allein auf rein nicht-literalen Gebräuchen von kommen liegt. Steht hingegen das volle Verwendungsspektrum des Verbs im Vordergrund, ist bewegung als deutlich prominenteste Kategorie in den Daten natürlich mit auszuwerten. Kehrt man daher wieder zu der umfassenderen Analyse in Abbildung 1 zurück, erscheint noch eine weitere Interpretation der Horizontalen möglich, die im Vergleich der Texttypen einen anderen Aspekt als die Formalität in den Vordergrund stellt: Links im Plot befinden sich Gebräuche, die eine besonders starke Verankerung der Äußerung in der gegenwärtigen Sprechsituation in- Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 57 volvieren, so dass sie als notwendig situationsgebundene Verwendungen charakterisiert werden können. Am weitesten links befindet sich die Diskurspartikelverwendung, deren Funktion Proske (2014) als „Aufforderung zum Aktivitätswechsel mit Appell an den common ground“ charakterisiert. Sie dient der Interaktionskoordination mit einem Partner und ist in der je spezifischen Konkretisierung ihrer abstrakten Kernbedeutung (wozu genau wird aufgefordert? ) so eng an den jeweiligen Verwendungskontext gebunden, dass sie ohne Kenntnis dieser Umstände, d.h. rein dekontexualisiert nicht interpretierbar ist. An zweiter Position liegt die Bedeutung folge, auf die in Abschnitt 4.1.4 noch näher eingegangen wird. Für den Moment genügt es festzuhalten, dass es sich hier um eine temporaldeiktische Verwendung handelt, die inhärent auf die temporale Origo der je aktuellen Sprechsituation bezogen ist (ggf. regulär verschoben). An dritter Stelle finden sich die Bewegungsverwendungen, die nicht systematisch in deiktische vs. nicht-deiktische Gebräuche geschieden wurden. Dennoch ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass sich in der großen Menge der Belege mit Bewegungslesart speziell in den mündlichen Kategorien [M-A] und [M-I] eine gegenüber den Kategorien dp und folge noch wesentlich größere Anzahl konkret raumdeiktischer Verwendungen findet. Letzter Datenpunkt im unteren linken Teil des Diagramms ist die Bedeutung themenwechsel, auf die aus interaktionslinguistischer Sicht in Proske (in diesem Band) näher eingegangen wird. Mit dieser Verwendung können Sprecher in Gesprächen mit einer vorgegebenen thematischen Agenda einen Übergang zu einem neuen Gesprächsgegenstand initiieren. Dafür ist geteiltes Wissen über die spezifische Agenda des jeweiligen Gespräches erforderlich, wodurch sich auch diese Bedeutung als intrinsisch kontextverankert erweist. Die einzige Kategorie, die in dieser Hinsicht nicht ins Bild passt, ist die Bedeutung äusserung (etwas kommt von jemandem, jemand kommt jemandem mit etwas), die keine inhärente Situationsbindung aufweist. Es handelt sich dabei um ein informelles Gebrauchsmuster, das primär in den mündlichen und in den Webdaten auftritt und insofern seinen Platz links im Diagramm zwischen diesen Kategorien findet. Dieser Datenpunkt ist die einzige der aktiven Bedeutungskategorien auf der linken Seite, die im oberen Quadranten platziert wird und sich dadurch auch von den vorgenannten vier Bedeutungen abhebt. Es liegt auf der Hand, dass die beiden möglichen Interpretationen des in der Horizontale dargestellten Kontrasts als ±formell bzw. ±situationsgebunden einander nicht ausschließen, sondern eher unterschiedliche Aspekte der mehrdimensionalen Opposition mündlich-schriftlich hervorheben. In Anknüpfung an Koch/ Oesterreicher (1985) kann ihr Zusammenwirken daher im Begriff ±nähesprachlich zusammengefasst werden, der in der Horizontalen abgetragen ist. Arne Zeschel 58 Die vertikale Achse ist auf den ersten Blick schwieriger zu interpretieren. Unter den Verwendungskontexten wird diese Dimension mit Beiträgen von 73% bzw. 21% quasi allein von den Webdaten und den Wissenschaftstexten aufgespannt; die mündlichen Kategorien und die literarischen Texte liegen in der Vertikalen nahe am Durchschnittsprofil. Im Fall von Kategorie [S-W], die sich vor allem aus geistes- und sozialwissenschaftlichen Texten zusammensetzt, ist die Assoziation mit Bedeutungen wie ereignen und entstehen nicht verwunderlich: In diesen Texten wird häufig dargestellt, wie sich bestimmte Sachverhalte zugetragen oder herausgebildet haben. Die größten Beiträge zur Konstruktion der Dimension unter den Bedeutungskategorien haben allerdings die distinktiv mit den Webdaten verbundenen Kategorien erscheinen (56%, vgl. 10.a) und skala (9%, vgl. 10.b): (10) a. und dann meldet blizzard, dass sc2 kommt und man hört, dass man gebäude in teams legen kann (mehrere) und wesentlich größere teams haben wird (manche sagen ja sogar keine teambegrenzung) [K-M]: erscheinen b. Was mich dabei sehr gewundert hat: die X600 kommt in diesem Test gerade mal auf 650 Punkte : rolleyes: ? [K-M]: skala Vielleicht zunächst weniger ersichtlich als bei den Wissenschaftstexten lässt sich auch hier eine Verbindung über prominente Diskurstopiks herstellen: In den Internettexten nehmen Diskussionen über Medien- und Technikthemen breiten Raum ein, und es wird viel erörtert, wann, ob und wo bestimmte Produkte oder Inhalte verfügbar werden (erscheinen). Dabei ist auch häufig von quantifizierten Eigenschaften der Gesprächsgegenstände (wie etwa Leistungsdaten) die Rede (skala). Ohne unabhängige Befunde zur Prominenz bestimmter Themen in den untersuchten Korpora (und deren Zusammenhang mit bestimmten Verwendungen von kommen) lassen sich hierzu jedoch keine gesicherten Aussagen machen. Deutlich ist aber, dass natürlich auch kontingente außersprachliche Faktoren (sowie auch mögliche Artefakte, die sich aus der Zusammenstellung der benutzten Korpora ergeben) in Rechnung zu stellen sind, wenn es um die Prominenz bestimmter Bedeutungen in den verschiedenen Teildatensätzen geht. Im nächsten Schritt werden nun die verschiedenen Argumentrealisierungsmuster in die Analyse mit einbezogen, die die genannten Bedeutungen manifestieren. Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 59 4.1.3 Argumentrealisierungsmuster Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Anzahl der realisierten Ergänzungen („E“) von kommen im Vergleich der fünf Verwendungskontexte: E [M-A] [M-I] [K-M] [S-L] [S-W] Gesamt 2 183 (49,9%) 165 (52,2%) 203 (67%) 195 (61,5%) 144 (56,5%) 890 (57,1%) 1 116 (31,6%) 102 (32,3%) 66 (21,8%) 94 (29,7%) 23 (9%) 401 (25,7%) 3 7 (1,9%) 37 (11,7%) 32 (10,6%) 24 (7,6%) 83 (32,5%) 183 (11,7%) 0 60 (16,3%) 11 (3,5%) 1 (0,3%) 4 (1,3%) - 76 (4,9%) 4 1 (0,3%) 1 (0,3%) 1 (0,3%) - 5 (2%) 8 (0,5%) Σ 367 (100%) 316 (100%) 303 (100%) 317 (100%) 255 (100%) 1558 (100%) Tab. 1: Realisierte Ergänzungen: kommen Am häufigsten ist der Gebrauch mit zwei Ergänzungen, und zwar in allen fünf Verwendungskontexten. Ansonsten sind die Rangfolgen unterschiedlich. In den Alltagsgesprächen sind Verwendungen mit nur einer oder gar keiner Ergänzung gebräuchlich (zusammen 48%), mehr als zwei Ergänzungen gibt es nur extrem selten (2%). Genau komplementär sieht es bei den Wissenschaftstexten aus, in denen häufig drei oder sogar vier Frame-Elemente zugleich realisiert sind (35%), weniger als zwei aber kaum einmal (9%). In den verbleibenden Kategorien (eine, null und vier Ergänzungen) ist die Rangfolge jeweils identisch: Einstellige Verwendungen sind die mit deutlichem Abstand zweithäufigste Kategorie, für die Extreme mit null oder vier Ergänzungen gibt es wenig bis gar keine Belege. Nimmt man die jeweils realisierten Bedeutungen hinzu, ergeben sich insgesamt 114 verschiedene Form-Bedeutungsmuster 18 in den Daten. Nicht zuletzt aufgrund der komplexen Labels ergibt sich damit ein nur schwer lesbarer Plot. Wir betrachten die Resultate der Korrespondenzanalyse daher Schritt für Schritt und blenden jeweils nur Verwendungen mit einer bestimmten Anzahl realisierter Ergänzungen ein. Verwendungen mit null und vier Ergänzungen werden nicht gesondert betrachtet. 19 Abbildung 3 zeigt den Ausschnitt der Resultate für Verwendungen mit einer Ergänzung: 18 Gemeint ist damit die Verbindung einer der angesetzten Bedeutungen mit einem formalen Argumentrealisierungsmuster, d.h. einer bestimmten Konfiguration realisierter Satzglieder (unter Ausblendung weiterer Formmerkmale wie etwa ihrer Serialisierung). In diesem Sinne sind z.B. +SUBJ # bewegung, +SUBJ +DIR ziel # bewegung und +SUBJ +DIR quelle +DIR ziel # bewegung allesamt unterschiedliche Form-Bedeutungsmuster, obwohl sie Instanzen derselben zugrundeliegenden grammatischen Konstruktion sind (intransitive Bewegungskonstruktion). 19 Bei den Verwendungen ohne Ergänzung handelt es sich überwiegend um den bereits oben genannten Diskurspartikelgebrauch (88%), die wenigen verbleibenden Fälle sind Subjektellipsen oder Imperative mit Bewegungsbedeutung. Verwendungen mit vier Ergänzungen sind äußerst marginal. Bei der Bewegungslesart gibt es für das voll realisierte Bewegungsschema source-path-goal plus Bewegungsträger z.B. nur einen einzigen Beleg in den Daten. Arne Zeschel 60 Abb. 3: Argumentrealisierungsmuster: kommen (eine Ergänzung) 20 Es fällt auf, dass sich die Platzierung der fünf Verwendungskontexte im Plot kaum von dem Resultat der rein semantischen Analyse unterscheidet. Das bedeutet zum einen, dass die oben vorgenommene Interpretation der Achsen auch für eine Analyse unter Einbezug der formalen Argumentrealisierungsmuster übernommen werden kann. Zum anderen wird damit angezeigt, dass nur wenige der angesetzten Bedeutungen sehr unterschiedlich verteilte formale Muster umfassen (was sich als Indiz dafür werten lässt, dass die prinzipiell beliebig schematisch ansetzbaren Bedeutungskategorien zumindest nicht zu abstrakt gewählt wurden). 21 Insgesamt konzentrieren sich die einstelligen Gebräuche im „nähesprachlichen“ linken Teil von Abbildung 3. In den Gesprächen dominiert bei den Verwendungen mit nur einem Argument allerdings stark die literale Bewegungslesart (87% in beiden Fällen), so dass sich für unsere Zwecke hier wenig Interessantes zeigt. In Abbildung 4 sind Realisierungen mit zwei Argumenten eingeblendet: 20 φ 2 =.75, χ 2 (168, N=1418)= 1066.51, p<.001**. Aktive Punkte in der Analyse sind alle Form-Bedeutungsmuster mit einer Häufigkeit von mindestens fünf Vorkommen. Visualisiert sind in Abbildungen 3 und 5 alle einbzw. dreistelligen Muster unter den aktiven Kategorien und in Abbildung 4 die fünfzehn zweistelligen Muster mit den höchsten Beiträgen zur Konstruktion der dargestellten ersten beiden Dimensionen. Die restlichen aktiven Punkte sind jeweils ausgegraut und werden ohne Labels dargestellt. 21 Eines der wenigen Beispiele dafür ist etwa das Muster +SUBJ # ereignen in Abbildung 3 (wenn mal eine unbekannte Situation kommt wie ein Unfall oder so etwas, [M-I]): Insgesamt ist die Bedeutung ereignen stark mit den Wissenschaftstexten verbunden (So kommt es zur Emergenz von Gesellschaft, [S-W]), die einstellige Realisierung mit dem ereignis als Subjekt hingegen nicht. −2 −1 0 1 2 3 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 Dim 1 (48.30%) Dim 2 (23.33%) [K−M] [M−A] [M−I] [S−L] [S−W] +SUBJ # Bewegung +DIR # Bewegung +SUBJ # Erscheinen +SUBJ # Ereignen +SUBJ # Orgasmus +SUBJ # Folge Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 61 Abb. 4: Argumentrealisierungsmuster: kommen (zwei Ergänzungen) Distinktiv mit der Mündlichkeit verbunden (und in beiden Unterkategorien etwa gleich prominent) ist hier einzig das Muster +SUBJ +TMP # folge. Wir merken dieses Muster vor und betrachten es gemeinsam mit weiteren Realisierungen der folge-Bedeutung in Abschnitt 4.1.4 genauer. Zuvor bietet Abbildung 5 noch einen Überblick über Verwendungen mit drei Argumenten. Distinktiv für die mündlichen Daten ist hier die ebenfalls bereits angesprochene themenwechsel-Bedeutung, die typischerweise mit dem Argumentrealisierungsmuster +SUBJ +DIR +TMP verknüpft ist, wobei das Direktionaladverbial das ziel der metaphorischen Bewegung bezeichnet (so wir kommen dann zu dem vierten Punkt Spannungssignal, [M-I]). Wir kennzeichnen diese Bedeutung wie folgt: (11) themenwechsel „zu sprechen kommen auf, thematisch übergehen zu“ Ein oder mehrere kommunikatoren wenden sich (zu einem zeitpunkt) einem neuen thema zu. Damit sind die in Abbildung 1 ausgewiesenen Bedeutungen mit Affinität zur Mündlichkeit ihren typischen formalen Realisierungsmustern zugeordnet: Bei Verwendungen ohne Ergänzung handelt es sich fast ausschließlich um den Partikelgebrauch dp. Einstellige Verwendungen realisieren typischerweise das Subjekt und haben konkrete Bewegungsbedeutung. Distinktiv für −2 −1 0 1 2 3 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 Dim 1 (48.30%) Dim 2 (23.33%) [K−M] [M−A] [M−I] [S−L] [S−W] +SUBJ +TMP # Folge +SUBJ +DIR # Herkunft +SUBJ +P−OBJ: zu # Hinzutreten +SUBJ +TMP # Ereignen +SUBJ +P−OBJ: zu # Ereignen +SUBJ +P−OBJ: auf # Einfallen +SUBJ +P−OBJ: zu # Erlangen +SUBJ +KAU # Verursachung +SUBJ +TMP # Erscheinen +SUBJ +LOK # Erscheinen +SUBJ +DIR # Erscheinen +SUBJ +MOD # Ausgehen +SUBJ +DIR # Äußerung +SUBJ +P−OBJ: zu # Entstehen Arne Zeschel 62 −2 −1 0 1 2 3 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 Dim 1 (48.30%) Dim 2 (23.33%) [K−M] [M−A] [M−I] [S−L] [S−W] +SUBJ +P−OBJ: zu +TMP # Ereignen +SUBJ +DIR +DIR # Bewegung +SUBJ +DIR +TMP # Themenwechsel +SUBJ +P−OBJ: zu +LOK # Ereignen +SUBJ +DIR +TMP # Geraten +SUBJ +P−OBJ: zu +MOD # Verursachung +SUBJ +TMP +LOK # Erscheinen Abb. 5: Argumentrealisierungsmuster: kommen (drei Ergänzungen) zweistellige Verwendungen in der Mündlichkeit ist das Muster +SUBJ +TMP mit der Bedeutung folge. Bei Verwendungen mit drei Argumenten ist die Bedeutung themenwechsel in Verbindung mit dem Muster +SUBJ +DIR.goal +TMP 22 auffällig. Nach dieser Übersicht über das gesamte Verwendungsspektrum von kommen in den untersuchten Daten nehmen wir nun exemplarisch die distinktiv mündliche Verwendung mit der Bedeutung folge in den Blick. 4.1.4 kommen +SUBJ +TMP # folge 4.1.4.1 Formale Realisierung und Semantik folge (bzw. ‘folgen’) ist eine Bedeutung von kommen, die in den konsultierten Wörterbüchern recht unterschiedlich gefasst und generell schwer von anderen Lesarten abzugrenzen ist. In VALBU (Schumacher et al. 2004, S. 492) z.B. finden sich zwei entsprechende Lesarten: kommen 9 „irgendwo in einer Reihenfolge seinen Platz haben“ (mit Subjekt und obligatorischem Lokaladverbial: Kurz vor der Brücke kommt eine Tankstelle) und kommen 10 „irgendwann in einer Abfolge stattfinden“ (mit Subjekt und fakultativem Temporaladverbial: Nach den Nachrichten kommt der Wetterbericht). Zur erstgenannten Lesart wird zu- 22 Als „Nennform“auf struktureller Seite wird hier (wie auch in den folgenden Detailanalysen) das häufigste formale Realisierungsmuster der jeweiligen Konstruktion verwendet (in diesem Fall inklusive Temporaladverbial, das allerdings fakultativ ist). Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 63 dem vermerkt: „Bei dem Ortspunkt handelt es sich häufig um einen Punkt auf einer Werteskala“ (ebd.), was in der begleitenden Online-Ressource E-VALBU 23 mit dem Beispielssatz Für ihn kommt erst der Beruf, dann die Freunde und zum Schluss seine Familie veranschaulicht wird. Wir werden diese Bedeutungen in der unten präsentierten Analyse zusammenführen. Zunächst jedoch sind einige Erläuterungen zur Rechtfertigung und Abgrenzung einer eigenständigen folge-Bedeutung von anderen kommen-Lesarten erforderlich, da durch die VALBU-Definition(en) eine grundsätzliche Frage aufgeworfen wird: Sofern die Ab- oder Reihenfolgebedeutung nämlich dadurch gekennzeichnet wird, dass konkrete Entitäten (wie Orte), abstrakte Entitäten (wie Prioritäten) oder auch Ereignisse in einer bestimmten räumlichen, zeitlichen oder anderweitig abstrakten Konfiguration angeordnet sind (d.h. darin „ihren Platz haben“), ist diese Charakterisierung so allgemein, dass sie zunächst wenig hilfreich erscheint. Beispielsweise steht jedes beliebige Ereignis notwendig im Kontext weiterer Ereignisse, so dass es in temporaler Hinsicht immer Bestandteil einer „Folge“ ist, was insbesondere die Abgrenzung von folge und ereignen kompliziert. Wie in Abschnitt 3.2 ausgeführt, wurden in der vorliegenden Studie Paraphrasentests mit kommutierenden Prädikaten benutzt, um Ambiguitäten zwischen den angesetzten Lesarten im je konkreten Beispiel aufzulösen. Eine große Rolle spielt dabei naturgemäß die Semantik der gemeinsam mit dem Verb realisierten Frame-Elemente. So kommt etwa in dem oben genannten VALBU-Beispiel den Temporaladverbialen erst, dann und zum Schluss sicher entscheidende Bedeutung für die Entstehung der „Folge“-Bedeutung zu. Ähnliches gilt für viele Belege in unseren Daten, in denen sich kommen ebenfalls mit „folgen“ paraphrasieren lässt: (12) a. Dann kamen ein Autounfall, Trauma, Verlust, Neuanfang. [K-M] b. aber dennoch kamen jetzt die suizidalen Gedanken [M-I] c. Das war klar. Das mußte noch kommen. Sie hätten mir sicher auch seine Zielstrebigkeit und so vorgehalten, aber zum Glück blockte das meine Mutter ab. [S-L] Die grundlegendere Frage ist allerdings, was überhaupt als eigenständiger Frame anzusetzen sowie demzufolge in einer gegeben Verwendung als dessen Frame-Element zu werten ist. Wird ein eigener folge-Frame für Beispiele wie (12) überhaupt benötigt, wenn diese Bedeutung mutmaßlich über die jeweiligen Temporaladverbiale evoziert wird? Alternativ könnte auch argu- 23 http: / / hypermedia.ids-mannheim.de/ evalbu/ index.html Arne Zeschel 64 mentiert werden, dass es sich um Instanzen der Bedeutungen ereignen, entstehen und äusserung handelt, deren „Folge“-Implikation ein bloßes Epiphänomen der Kombination von kommen mit einer Temporalangabe darstellt. Tatsächlich erscheint es kontraintuitiv, bei einem Wegfall der Temporalspezifikationen in (12) eine grundsätzliche Bedeutungsänderung für kommen anzusetzen, was für ihre Wertung als Instanzen von ereignen, entstehen und äusserung sprechen würde. Evidenz für einen unabhängig benötigten folge- Frame liefern andererseits aber Belege wie die in (13): (13) a. so jetzt kommt der Jan [M-A] b. jetzt pass auf jetzt kommen voll die bomben [M-A] c. Dem Begriff R. lag ursprünglich die Zeitalterlehre zugrunde, nach der auf die Antike mit ihrer guten Kunst ein kunstloses MA kam, das in Italien seit Giotto überwunden und von einer Neuzeit mit einer ebenso guten Kunst, wie sie die Antike besaß, abgelöst wurde (Petrarca, F. Villani, C. Cennini, L. Ghiberti). [S-W] Hier gibt es keine unabhängig motivierten Kategorien, die diese Belege aufnehmen könnten. In (13.a) und (13.b) bezeichnen die Subjekte konkrete Entitäten, für die die ereignen-, entstehen- oder äusserung-Paraphrasen nicht in Frage kommen. Ähnliches gilt für das Subjekt in (13.c), das ein Zeitintervall bezeichnet, das nicht als kohärentes „Ereignis“ verstanden werden kann. In der semantischen Klassifikation der Korpusbelege wurde daher zwar auch eine Kategorie folge angesetzt, zunächst jedoch sehr eng gefasst: (14) folge ‘folgen, als nächstes an der Reihe sein’ Eine entität oder ein zeitintervall folgt (in einer domäne) (zu einem zeitpunkt) (auf eine andere entität / ein anderes zeitintervall). Di Meola (1994) zieht die Linie dagegen anders. Mit Blick auf ihre unterschiedliche metaphorische Konzeptualisierung werden zunächst Verwendungen unterschieden, die gemäß unserer Klassifikation beide eine ereignen- Bedeutung evozieren: (15) a. Es kommt zu Totgeburten, behinderten Mäuschen und kleinwüchsigen Tieren, die meistens schon sehr früh aus unerkennbaren Gründen sterben. [K-M] b. Die Dorfbewohner leben mit seinen Anfällen wie mit einem Gewitter, das kommt und geht. [S-L] Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 65 Gebräuche innerhalb der Konstruktion kommen +SUBJ: es +P.OBJ-zu (15.a) kennzeichnet er als Instanzen der Metaphern events are moving objects und progress of external events is motion, bei denen eine nichtdeiktische Verwendung von kommen mit Endpunktfokussierung vorliege (Di Meola 1994, S. 138, 155f.). In seinen Worten bezeichnet die Konstruktion es kommt zu NP „eine Entwicklung, die einen besonders markanten Punkt erreicht hat“ (ebd., S. 156). Bei Beispielen des Typs kommen +SUBJ +TMP (15.b) liege dagegen eine andere Konzeptualisierung vor, die er durch die so genannte moving world- Metapher motiviert sieht: „Der Mensch wird [...] als unbeweglicher Betrachter dargestellt, der sich in der Gegenwart befindet und der die Zukunft herannahen sieht“ (Di Meola 1994, S. 88). Ähnlich an späterer Stelle: „Indem er sich als unbewegliche Origo darstellt, übernimmt er die Rolle des Landmarks. Die Szene wird nun so beschrieben, als bewegten sich die Gegenstände in Richtung Betrachter“ (ebd., S. 169). Mit diesem alternativen Kriterium werden nun andererseits aber auch Belege zusammensortiert, die bei uns getrennt sind - z.B. die angesprochenen Fälle mit einer Ambiguität zwischen ereignen und folge in (12). Obwohl er selbst den Begriff nicht verwendet, ist Di Meolas Unterscheidung letztlich konstruktionsbasiert (vermittelt über die jeweils unterschiedlichen Konzeptualisierungen, mit denen die formalen Muster verbunden sind). Soweit sich diese Ebenen überhaupt trennen lassen, stellt unsere framesemantische Klassifikation dagegen zunächst auf eine primär lexikalisch-semantische Systematisierung ab, um so z.B. auch unterschiedliche Konstruktionsmuster für gleiche bzw. hinreichend ähnliche Bedeutungen von kommen zu ermitteln. Aus konstruktionsgrammatischer Perspektive können aber natürlich auch die Argumentstrukturkonstruktionen, in denen Verben auftreten, eigene Bedeutungsanteile in die Semantik einer Äußerung einbringen. Im Fall der [es kommt zu NP]-Konstruktion etwa bezeichnet der erreichte „markante Punkt“ im Sinne Di Meolas konventionellerweise eine Ausprägung, die als negativ bzw. in einer bestimmten Hinsicht problematisch erachtet wird (vgl. Di Meola 1994, S. 157). Realisierungen der Bedeutungen ereignen und entstehen im Rahmen des Musters kommen +SUBJ +TMP geht dieses Merkmal dagegen ab. Die Frage, ob hier dennoch „dieselbe“ Bedeutung von kommen vorliegt oder nicht, ist somit zudem eine Frage der Granularität. Auch in unserem Ansatz spricht jedoch nichts dagegen, nach Einbezug auch der formalen Muster in die Analyse konstruktionale Bedeutungsanteile (wie die von Di Meola genannte negative Konnotation des eintretenden Ereignisses) mit zu berücksichtigen und damit z.B. die +SUBJ +P.OBJ-zu-Verwendungen von den +SUBJ +TMP-Gebräuchen zu separieren. Abstrahiert man zudem von den in Abschnitt 3.2.2 erörterten Unterschieden zwischen Lesarten wie ereignen, entstehen und äusserung bzw. priorisiert ihnen gegenüber die Arne Zeschel 66 abstrakte Gemeinsamkeit zumindest ihrer +SUBJ +TMP-Instanzen (als temporaldeiktische Gebräuche auf Basis der Metapher moving world), lässt sich die Kategorie folge auch umfassender als bisher definieren: (16) folge (revidiert) ‘folgen, als nächstes an der Reihe sein’ Ein ereignis, eine entität oder ein zeitintervall folgt aus Sicht der temporalen Origo (zu einem zeitpunkt) (als ein sequenzelement) (in einer domäne) (in einer art+weise) (auf ein/ e andere/ s ereignis/ entität/ zeitintervall). Der Anteil der folge-Bedeutung an den Gesamtdaten für einfaches kommen (ohne komplexe Prädikate) erhöht sich damit auf 10% (151 Belege), entsprechend der zweithäufigsten Bedeutungskategorie nach der Bewegungslesart. Zur näheren Erläuterung der Frame-Elemente in der revidierten Definition betrachten wir zunächst einige der gefundenen Argumentrealisierungsmuster: (17) a. Dann kam die erste Angriffswelle. [S-L]: +SUBJ: ereignis +TMP: zeitpunkt b. jetzt kommst Du Jason kannst Du das noch mal wiederholen [M-I]: +SUBJ: entität +TMP: zeitpunkt c. Dann kam die 15-monatige Wehrpflicht. [M-I]: +SUBJ: zeitintervall +TMP: zeitpunkt d. war mir klar dass dis kommt [M-I]: +SUBJ: ereignis e. „Der XX. Parteitag kam für mich aus heiterem Himmel“, erinnerte sich der 1906 geborene Musikwissenschaftler Georg Knepler. [S-L]: +SUBJ: ereignis +MOD: art+weise f. und da kommt das was er auch gesagt hat [M-I]: +SUBJ: entität +LOK: domäne g. Als Antwort auf die Email kam nur die Preisliste, in der Südkorea nicht als Ausgangsland erwähnt wird. [K-M]: +SUBJ: entität +PRD: sequenzelement h. Ich habe 2 sehr gute Freunde bei der Polizei und jetzt kommt es: Beide waren früher leidenschaftliche Punks, deswegen vertraue ich ihrer Meinung wenn sie sagen, das es erschreckend ist, das so gut wie jeder Kriminalfall in Bremen mit direkter Beteiligung eines Menschen mit Integrationshintergrundes ist und es nicht nur ein Klischee wäre das aufkommt, wenn man die Nachrichten sieht oder die Zeitungen liest. [K-M]: +SUBJ: es +TMP: zeitpunkt Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 67 Typischerweise ergibt sich die folge-Semantik aus der Kombination von kommen mit einem Temporaladverbial (74% der Belege, 17.a-c). Die temporaldeiktische Bedeutung findet sich jedoch auch bei Alleinrealisierung des Subjekts (17.d) oder in Kombination mit einem Modaladverbial (17.e). Angaben der domäne, in der etwas auf etwas folgt, sind selten und ggf. auch eher temporal zu interpretieren (fünf von sechs Fällen mit Adverb da, vgl. 17.f). Einzelbelege gibt es für Muster mit PPen (jmd/ etw kommt für jmdn/ etw) und prädikativen Konjunktionalphrasen (17.g), die das Subjekt explizit als Element in einer Sequenz zusammengehöriger Entitäten markieren. Eine metakommunikative Verwendung ist die Floskel und jetzt kommt es in (17.h), die zur Ankündigung einer Klimax eingesetzt wird. Für eine genauere funktionale Erkundung beschränken wir uns auf das typische Realisierungsmuster +SUBJ +TMP (72% der Belege). Gibt es, abgesehen von der Distinktivität dieses Gebrauchsmusters von kommen für die Mündlichkeit insgesamt, Besonderheiten seiner gesprochensprachlichen Verwendung? Wir betrachten dazu zunächst semantische Merkmale der beiden Argumente. Für die Subjektfunktion sieht unsere Bedeutungscharakterisierung entweder ein ereignis, eine entität oder ein zeitintervall vor. Wir vereinfachen das zu den semantischen Kategorien „+Ereignis“ und „-Ereignis“. Die Temporalergänzung ist am häufigsten durch die Adverbien jetzt (27% der Fälle) und dann realisiert (20%). Für eine umfassende Klassifikation der temporalen Bezüge setzen wir die Kategorien „Vorzeitigkeit zu einem Referenzpunkt“ (18.a), „Origo“ (18.b), „Nachzeitigkeit zu einem Referenzpunkt“ (18.c), „Zeitpunkt“ (18.d) und „Frequenz“ (18.e) an: (18) a. ja Stadt Y aber dann da kommt erst noch Stadt X [M-A]: Vorzeitigkeit b. so und jetzt kommt meine Frage [M-I]: Origo c. und das stand ja immer irgendwie im zweiten oder im ersten Hof und das kommt ja alles erst danach [M-A]: Nachzeitigkeit d. 1999 Agathe (Inszenierung Peter Konwitschny) in Hamburg, 2000 kam als erste Wagner-Partie die Eva in Amsterdam (hier ebenfalls 2000 Gräfin in Capriccio). [S-W]: Zeitpunkt e. das kommt immer wieder [M-I]: Frequenz Arne Zeschel 68 Abbildung 6 zeigt das Ergebnis einer multiplen Korrespondenzanalyse für die drei Variablen: 24 Abb. 6: folge : Verwendungskontext, Subjekttyp und Zeitbezug Links finden sich die Gespräche, rechts die schriftsprachlichen Daten. Sowohl die literarischen als auch die Wissenschaftstexte sind als seltene Ausreißer in der Verteilung der Konstruktion weit draußen auf der Hauptachse platziert. Links finden sich auch die Kategorien „-Ereignis“ für das Subjekt (etwa gleich weit entfernt von [M-A] und [M-I] in beiden dargestellten Dimensionen) und „Origo“ für die Temporalergänzung (deutlich mit den institutionellen Gesprächen assoziiert). Verwendungen mit einem Temporaladverbial, das Nachzeitigkeit anzeigt (typischerweise dann kommt/ kam X), sind am unspezifischsten verteilt. Verwendungen mit Subjekten, die ein Ereignis bezeichnen, dessen Eintreten nicht deiktisch-relativ, sondern an einem genau bezeichneten Zeitpunkt verortet wird, sind den Gesprächen am fernsten (2005 kam der Zusammenschluss von Bandai und Namco, [K-M]). Interessant ist, dass Di Meolas Charakterisierung der temporaldeiktischen Verwendung (metaphorisches Herannahen „der Zukunft“, d.h. zukünftig eintretender Ereignisse) auf die spezifisch mündlichen Gebräuche damit gerade nicht zuzutreffen scheint: Typischerweise treten hier als Subjekt keine Ereignisse, sondern Entitäten auf. Diese Entitäten sind ihrerseits allerdings Argumente eines nicht selbst versprachlichten Ereignisses. Dabei können sehr unterschiedli- 24 In den Kategorien „Vorzeitigkeit“ und „Frequenz“ gab es lediglich drei bzw. vier Belege. Sie wurden entfernt, um den Plot nicht zu verzerren. Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 69 che Frame-Elemente bzw. semantische Rollen dieses Ereignisses in Subjektfunktion realisiert werden. Wir betrachten zunächst drei Beispiele im Kontext: (19) FOLK_E_00049_SE_01_T_02, c9 Studentisches Alltagsgespräch [M-A] 01 PH nö NÖ; 02 aber ich mein er kam zuERSCHT kam halt [der; ] 03 AM [ja, ] 04 WIE hieß_er; 05 der politiker_a 06 der bundestagsabgeordnete irgendwie hier aus_m KREIS; 07 PH °h 08 AM ʔ_HM. 09 PH keine AHnung; 10 dann kam der BÜRgermeischter, 11 und dann kam halt der zu GUTtenberg; 12 °h da hascht halt schon wirklich dis niVEAU- 13 den unterschied geMERKT ja. Sprecher PH berichtet vom Besuch einer politischen Veranstaltung, in deren Rahmen nacheinander verschiedene Redner auftreten - zunächst ein lokaler Bundestagsabgeordneter, dann der Bürgermeister der Stadt und drittens der Politiker zu Guttenberg. Bei den in einer Reihenfolgebeziehung stehenden Ereignissen handelt es sich um die Redebeiträge der Vortragenden, und das mit kommen gebrauchte Subjekt „der zu GUTtenberg“ ist agens des thematischen 25 Prozesses „Sprechen auf der besuchten Veranstaltung“. Beispiel (20) entstammt einer Spielinteraktion: (20) FOLK_E_00011_SE_01, c548 Spielinteraktion mit Kindern [M-A] 01 VK du hast doch EH hier ganz viel; 02 und hier ZWEIhunderter kriegst_e AUCH wieder, 03 °h sabine du bist DRAN; 04 °h und wenn du jetz DRÜberkommst-= 05 =über LOS- 06 dann haste_n TEMpowürfel; 25 Beschreibungsansätze zur Informationsstruktur auf Diskursebene benutzen hier den Begriff der „question under discussion“ (Roberts 2012). Wir sprechen vom „thematischen“ Bezugselement in der Diskursrepräsentation. Arne Zeschel 70 07 ne, 08 dann darfst_e gleich [nochMAL würfeln; ] 09 SK [ja: , ] 10 (1.47) 11 VK °h (.) SIEben. 12 h° 13 SK eins zwei DREI, 14 vier FÜNF- 15 sek; 16 VK °h [SIEben; ] 17 SK [SIEben; ] 18 VK <<all> na ja und> die ZWEIhundert d[ie de; ] 19 SK [ich krieg] den TEMpowürfel; 20 VK [°h ]die zwEIhundert die de geKRIEGT hast; = 21 SK [h° ] 22 VK =die kannst_e gleich EINkommensteu[er zahlen] ne, 23 SK [ja; ] 25 VK müss_mer GAR nichts machen; 26 (0.48) 27 VK °h jetz kommt der TEMpowürfel; 28 h° 29 (0.43) 30 VK also; 31 du darfst jetz gleich nochMAL würfeln. 32 (0.26) Das Gespräch findet statt, während ein Vater und seine zwei jungen Töchter Monopoly spielen. Zur Ausstattung des Spiels gehört neben zwei gewöhnlichen Würfeln ein sogenannter „Tempowürfel“ mit besonderer Spielfunktion. Der Vater koordiniert das Geschehen, indem er spielbegleitend die in den Regeln festgelegte Abfolge der Handlungsschritte verkündet. Die Folge besteht hier entsprechend aus dem Wurf der verschiedenen Würfel, dem Ziehen der Spielsteine und gegebenenfalls dem Bezahlen eines Geldbetrags. Das Subjekt von kommen in (20), „der TEMpowürfel“, ist patiens der Teilhandlung „den Tempowürfel werfen“. Wir betrachten noch ein drittes Beispiel im Transkriptkontext. In (21) unterhalten sich zwei Schwestern über die verschiedenen Telefone, die es im Haushalt der Familie im Laufe der Jahre gab: Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 71 (21) FOLK_E_00018_SE_01, c765 Gespräch in der Familie [M-A] 01 EM °h dis Erste <<all> was Ich mich noch dran erinnern kann> war dieses WEIße; 02 (.) potthässliche DING; 03 (0.37) 04 HM genau; 05 EM [dieses rIEsEn TEIL.] 06 HM [ dis war das ERs]te; 07 (0.21) 08 EM ah [daran fand ich die anTENne voll cool; ] 09 HM [un daNACH kam dieses ähm- ] 10 kam dieses WAN; 11 (0.26) dieses grOße wEIße HANdy . 12 (2.06) 13 EM hä, 14 [nee dis mein ICH ja] grade; 15 HM [mit diesem DING; ] 16 ach SO nee; 17 ich (.) wir hatten vorher n WEIßes mit ner WÄHLscheibe; 18 (0.96) Die Folge ist hier eine zeitliche Abfolge des Besitzes, und das Subjekt „dieses grOße wEIße HANdy“ insofern ein possessum innerhalb der thematischen Besitzrelation. Einige weitere Varianten ohne Kontext: (22) a. äh wir standen da eine eine Stunde oder fünfzig Minuten an dem Scheiß Tisch und auf einmal kam voll laute Musik äh the final Countdown du ich habe fascht ohrenkrebs bekommen [M-A]: stimulus b. am Platz A wenn Du die Straße B ein Stück weitergehst kommt links so eine äh Eisdiele die heißt äh Eisdiele A [M-A]: ort c. ist schon die Zeit gekommen den Schober für achthunderttausend zu holen [M-A]: zeitpunkt Alle genannten Beispiele haben temporaldeiktische Bedeutung. Es geht jeweils um die Progression zum nächsten Element einer bestimmten Ereignisfolge. In den beiden ersten Transkriptausschnitten ergibt sich der Zusammen- Arne Zeschel 72 hang der einzelnen Ereignisse als Teil einer Reihenfolge aus dem Weltwissen: Veranstaltungen im öffentlichen Raum umfassen häufig mehrere Programmpunkte, die in einer bestimmten Abfolge angesetzt sind, und bei Gesellschaftsspielen geben Spielregeln vor, welche Handlungen von den Teilnehmern in welcher Reihenfolge vorzunehmen sind. Im dritten Beispiel ergibt sich der Zusammenhang der einzelnen Etappen nur im persönlichen common ground der Partner. Der Zusammenhang kann drittens auch rein situativ gestiftet sein. In Beispiel (23) durchblättert Sprecherin HM eine Kiste mit Urlaubsfotos und sucht dabei ein bestimmtes Bild: (23) FOLK_E_00143_SE_01_T_02, c16 Tischgespräch [M-A] 01 HM ja JA. 02 (0.79) 03 HM des 04 (.) was is_n DES? 05 (1.87) 06 HM aleXANdria; 07 (2.2) 08 GI das is ja äGYPte; 09 (0.67) 10 HM des is äGYPte, 11 da mÜSS_[mer jo][(xxxx); ][bei ] 12 GI [ganz ][Obe is ][des; ] 13 (0.55) 14 GI am 15 (0.33) 16 HM °h ach d 17 isch glab do KUMMT_S; 18 GI am äh 19 HM des sind 20 °h des sind die 21 (.) [°hh ] 22 GI [MITtelmeer; ] 23 HM des äh des is da wo die 24 °h 25 (0.89) Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 73 Die folge-Relation ergibt sich hier allein aus der Anordnung der Bilder in einem Stapel, der der Reihe nach durchgegangen wird. Neben dem Subjektpronomen ist in (23) das polyseme Adverb da realisiert, das hier aber ebenfalls temporal verstanden werden muss (jetzt/ gleich kommt es). Dies ist auch bei Instanzen der in VALBU separat angesetzten lokalen Lesart der Fall (Kurz vor der Brücke kommt eine Tankstelle). Auch hierzu ein Beispiel mit etwas mehr Kontext. Sprecherin US erzählt von den räumlichen Verhältnissen in der Wohnung einer Mitbewohnerin in ihrer Hausgemeinschaft: (24) FOLK_E_00055_SE_01, c621 Tischgespräch [M-A] 01 US dis is [ganz LUStig; ] 02 NH [ich WAR noch gar] [nich so weit Oben; ] 03 US [ weil die is ja] alLEIne; 04 also die hat praktisch so_n DACHzimmer, 05 AM ja; 06 (0.48) 07 US und dis is wAhnSINN- 08 wie da jEder platz AUSgenutzt; 09 da kommt ma REIN, 10 dann kommt ma in n relativ schÖnes grOßes ZIMmer, 11 AM ʔm_HM, 12 US (0.34) 13 und dann ʔ sin da lInks und rEchts von dem gang halt nur noch die DACHschrägen. 15 [°h als]o ma dEnkt da KOMMT nichts; 16 NH [ʔm: . ] 17 US dann macht ma die LINke dachschräge,= 18 =muss ma sich so RUNterbücken, 19 kommt ma <<lachend> in so_n kleines KLO? > 20 °h [und RECHTS in ] so_n (0.33) BAD mit KÜche irgendwie integriert; 21 NH [((Lachansatz))] 22 US zuSAMmen; 23 [also is] gAnz WITzig; = 24 NH [ah JA, ] 25 [((Lachansatz)) ] 26 US [=aber es is echt] AUSgeklügelt; 27 wie der PLATZ ausgenutzt is. Arne Zeschel 74 Ähnlich wie in Wegbeschreibungen (vgl. auch 22.b) liegt hier „Deixis am Phantasma“ im Sinne Bühlers (1999 [1934]) vor: Der Folge-Zusammenhang ergibt sich aus den Stationen einer virtuellen Bewegung durch einen imaginierten Raum („scheinbare Bewegung“ bei Di Meola 1994). Die als Subjekt realisierte Entität ist entweder als (Zwischen-)ziel der virtuellen Bewegung oder als stimulus zu verstehen, der bei Erreichen eines bestimmten Punktes innerhalb der imaginierten Topographie wahrnehmbar wird. In unserer Analyse ist es mithin nicht der Ort bzw. sind es nicht „die Gegenstände, die in Bewegung sind und sich dem Betrachter nähern“ (Di Meola 1994, S. 168), sondern es liegt eine temporale Abfolge imaginierter Ereignisse vor, die diese Gegenstände involvieren. Zusammenfassend lässt sich zur Subjektrealisierung festhalten, dass die jeweils aktivierte Reihenfolgebeziehung in allen Fällen zwischen Ereignissen besteht (bzw. allgemeiner Sachverhalten, was etwa auch die stative Besitzrelation in (21) umfasst), nicht zwischen Entitäten. Syntaktisch realisiert ist in den distinktiv mündlichen Gebräuchen allerdings nur ein bestimmter Partizipant bzw. situativer Umstand des Geschehens, der metonymisch für das thematische Ereignis steht (<jemand> hält eine Rede, jemand wirft <einen Würfel>, jemand besitzt <ein Telefon> etc.). Die zweite Besonderheit der mündlichen Verwendungen besteht in der Realisierung des Temporaladverbials. In den Alltagsgesprächen wird in 26% der Fälle Bezug auf den Sprechzeitpunkt genommen, in den institutionellen Gesprächen sogar in mehr als der Hälfte der Verwendungen (51%, fast ausschließlich mit jetzt, bei verschobener temporaler Origo auch einmal mit sofort). Die Erklärung dieser Auffälligkeit bedarf einer Erweiterung der Analyse um die interaktionslinguistische Ebene. 4.1.4.2 Pragmatik und Interaktion 26 Wie ausgeführt bezeichnet die abstrakte folge-Bedeutung den Übergang von einem Ereignis zum nächsten im Zuge einer gegebenen Anordnung. Die „gegebene Anordnung“ kann sich dabei sowohl auf die semantisch-propositionale Ebene beziehen (die temporale Struktur eines bezeichneten Gegenstands bzw. seiner Behandlung) als auch auf die pragmatisch-interaktionale Ebene (die temporale Struktur des Gesprächs). Betrachtet man die mit der jeweiligen Äußerung vollzogene Handlung, fallen 78% der 96 mündlichen folge-Belege in den „semantischen“ Bereich, d.h. es wird eine Ablaufbeschreibung gegeben. 26 Im folgenden Abschnitt berichtete Zahlenwerte beziehen sich auf die analysierte Stichprobe. Illustrierende Beispiele der diskutierten Verwendungen können sowohl der Stichprobe als auch dem größeren FOLK-Gesamtkorpus entstammen. Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 75 Dabei kann zum einen der thematisierte Gegenstand selbst zeitlich verfasst sein und entsprechend in bestimmte Abschnitte zerfallen: (25) FOLK_E_00061_SE_01_T_01, c330 Prüfungsgespräch [M-I] 01 KW °h also wir finden am Anfang diese: (.) vier DEUtschen ähm- 02 °h STROphen, 03 (0.3) 04 GC ʔm_HM, 05 KW u: nd ähm 06 in DEnen wird- 07 °h ((schmatzt)) fordert marIa zum beispiel auch die an äh 08 [die äh ] 09 XM [((räuspert sich)] 10 KW das 11 XM ((räuspert sich)) 12 KW also sie ʔ (.) sprIcht auch d die ZUschauer; 13 das PUblikum in denen (.) dIrekt AN; = 14 =und fordert diese auch zur comPAssio auf? 15 (0.77) ((schmatzt)) °hh ähm (.) dann kommt so_n 16 °h kurzes ZWIschenstück dann auch nochmal- 17 wo jü ʔ ähm joHANnes sie versucht zu TRÖSten, 18 °h u: nd ähm 19 dann kommt erst dis fiDEles- 20 (.) ähm, 21 (1.24) 22 KW flete fidEles Anime; 23 (0.49) ä: hm- 24 (0.4) u: nd- 25 (.) am Ende dann das (0.49) plAnctus ante (.) NEScia. 26 GC NEscia; 27 hm_HM, Typischerweise wird kommen in solchen Verwendungen turnmedial innerhalb eines komplexen Multi-Unit-Turns gebraucht, um gemeinsam mit den Temporaladverbialen (am Anfang...und dann....und dann...und am Ende in (25)) die Progression von einem bezeichneten Teilaspekt des beschriebenen Geschehens zum nächsten zu markieren. In diese Kategorie gehören auch die Arne Zeschel 76 narrativen Gebräuche der Konstruktion aus den Alltagsgesprächen wie etwa Beispiel (19), in denen der Sprecher einen Erlebnisbericht gibt (dann kam halt der zu Guttenberg). Ablaufbeschreibungen liegen aber nicht nur dann vor, wenn die Entfaltung eines Geschehens in der Zeit beschrieben wird. Alternativ kann sich die Schilderung auch auf die Abfolge der Wahrnehmung verschiedener Komponenten eines thematisierten Gegenstands beziehen: (26) FOLK_E_00015_SE_01_T_01, c363 Prüfungsgespräch [M-I] 01 FR [also zum BEIspiel-] 02 CH [und wie und wie ] kann ich die unterSCHEIden. 03 (1.03) 04 FR °h <<all> na ja> also man man SIEHT das doch; 05 wenn dann in ʔ 06 neben nach dem EL zum beispiel ein geDANkenstrich kommt, 08 weiß ich dis is ne intermediÄRphrasengrenze. 09 (0.21) Von diesen auf semantisch-propositionaler Ebene operierenden Beschreibungen zu unterscheiden sind Verwendungen, in denen sich die bezeichnete Abfolge nicht auf Merkmale des behandelten Gegenstands bezieht, sondern auf der interaktionalen Ebene Beziehungen zwischen Bestandteilen des Gesprächs bzw. des gemeinsam bearbeiteten Handlungszusammenhangs knüpft. Dies ist in 22% der Belege der Fall. Die Funktion der kommen-Äußerung lässt sich hier als Vollzug einer Ankündigung kennzeichnen, mit der ein neu zu behandelnder Gesprächsgegenstand eingeführt wird. Beispiel (27) entstammt einem Unterrichtsgespräch an einer Berufsschule, Sprecher LB ist der Lehrer: (27) FOLK_E_00001_SE_01_T_02, c111 Unterrichtsstunde in der Berufsschule [M-I] 01 LB was hat er VORhin gsagt? 02 es GIBT, 03 (0.92) 04 ML kein sig[NAL.] 05 LB [kein] sigNAL. 06 (.) also; 07 (0.39) klar; 08 (.) RISCHtich; 09 sie habm ja RESCHT gehabt; Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 77 10 aber im ENDeffekt, 11 (0.2) wenn ma DIEse- 12 (1.68) diesen algoRISmus ananander ordnet, 13 dann kriegt man n RECHTSecksignal. 14 (0.35) 15 LB ja, 16 (.) gut. 17 (0.56) 18 LB subber. 19 ham_er ja scho mol (.) geMACHT jetzt. 20 (0.41) 21 LB so; 22 jEtzt kommen aber die (.) PRÜFbedingungen. 23 (4.23) 24 LB was BRAUche mer? 25 XM ((räuspert sich)) Nachdem LB ein zuvor behandeltes Teilthema als abgeschlossen markiert („ja (.) gut“) und diesen Abschluss metakommunikativ bewertet hat („subber ham_er ja scho mol (.) geMACHT jetzt“), bringt er das neue Gesprächsthema „PRÜFbedingungen“ auf. Einleitend wird dazu die transitionsmarkierende Diskurspartikel so eingesetzt, direkt gefolgt von der Zielkonstruktion, die den neuen Referenten einführt. Nach einer längeren Pause beginnt der neue Teilabschnitt des Unterrichtsgesprächs dann mit der ersten Lehrerfrage zum neuen Thema („was BRAUche mer? “), mit der LB seinen Turn beendet. Da vorangegangene Stationen der evozierten folge nicht erst durch Vorgängerbeiträge etabliert werden, sondern aus dem Kontext gegeben sind, können Ankündigungs-Verwendungen der Konstruktion auch allein den gesamten Turn eines Sprechers bilden. Das folgende Beispiel stammt aus einer Spielinteraktion. Die Teilnehmer ersteigern dabei im Rahmen eines Fußballmanagerspiels den Kader ihrer jeweiligen Mannschaften: (28) FOLK_E_00021_SE_01_T_15, c436, Spielinteraktion zwischen Erwachsenen [M-I] 02 SK WER war dis eben gerade, 03 (0.82) 04 MT SCHÄf[er.] 05 JZ [ich] hab den SCHÄfer; 07 (.) vier milLIOnen; Arne Zeschel 78 08 (0.42) 09 SK schäfer w stand WO? 10 (0.64) 11 JZ drei komma SECHS. 12 (0.3) 13 JZ abwehr. 14 (2.18) 15 SK un du hast den für VIER gekriegt. 16 JZ ʔm_HM, 17 (2.28) 18 SK jan 19 (6.45) 20 SK und jEtz kommt dEr- 21 (1.17) 22 CH SCH[Ober, ] 23 SK [der SCH]Ober. 24 (1.82) 25 SK der herr SCHOber; 26 (2.1) 27 SK TOR oder wat? 28 (0.31) 29 JZ ja; 30 SK [der]SCHOber der spielt 31 JZ [ja.] 32 CH TORwart ja; Pragmatisch erfüllt diese Verwendung dieselbe Funktion wie die in Proske (in diesem Band) behandelte themenwechsel-Konstruktion, semantisch involviert sie allerdings eine andere Konzeptualisierung. Die Ankündigungsfunktion ist häufiger in den institutionellen Gesprächen (57% der Belege) und tritt bis auf einen einzigen Beleg stets mit dem Temporaladverbial jetzt auf. Diese Verwendung ist es, die für die distinktive Assoziation der Konstruktion mit dem Zeitbezug „Origo“ in der Mündlichkeit (und hier speziell den institutionellen Gesprächen) verantwortlich ist. Ein spezieller Subtyp der Ankündigungsfunktion ist seine Verbindung mit einer Aufforderung. Solche Verwendungen finden sich in Mehrparteieninteraktionen, in denen die kommen-Äußerung unterschiedliche Adressaten hat: einen direkt Angesprochenen, der zum Vollzug einer kontextuell gegeben Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 79 Handlung aufgefordert wird, und alle weiteren Beteiligten, die mit der Äußerung gleichzeitig informiert werden, mit wessen Beitrag es nun weitergeht. 27 Gemäß dieser Charakterisierung ist dieser Gebrauch Sprechern vorbehalten, die die Gesprächsführung innehaben. Wir betrachten dazu einen weiteren Fall aus den Unterrichtsgesprächen an der Berufsschule. Sprecher LB ist derselbe Lehrer wie in Beispiel (27), Sprecher MS ist ein Schüler mit dem Pseudonym „Manuel Scherer“: (29) FOLK_E_00005_SE_01_T_02, c841 Unterrichtsstunde in der Berufsschule [M-I] 01 LB gut vielen DANK, 02 (0.73) 03 ((Schreibgeräusche an der Tafel, 3.8s)) 04 LB oh was SCHREIB isch, 05 JL STEUergerät austauschen ne, 06 (0.28) 07 JM nee; 08 LB jEtz kommt der scherer 09 (0.36) 10 LB halt; 11 (.) jEtz kommt der scherer 12 (0.28) 13 LB herr scherer 14 MS ZÜndschaltgerät deFEKT; 15 (0.36) 16 MS TAUschen (.) oder; 17 (.) ZÜndschaltgerät austauschen; Die hier implizierte Reihenfolge ist die Sequenz der Beiträge zum Unterrichtsgespräch. Aufgabe des Lehrers ist es, diese Abfolge zu koordinieren und dabei auch das Rederecht zu erteilen. In Zeile 10 blockt LB eine aus dem Transkript nicht erschließbare Alternative bezüglich des weiteren Verlaufs ab (halt) und legt stattdessen fest, dass als nächstes Element der Sequenz ein Beitrag von Herrn Scherer zu erbringen ist (dem Agens der eingeforderten Wortmeldung), der nach einer kurzen Pause nochmals direkt angesprochen wird (Zeile 13) und die Aufforderung dann mit einer Antwort aufgreift. Das jetzt steht bei diesen Verwendungen ausnahmslos im VF. Erfolgt die Aufforderung am Ende eines längeren Turns, geht ihr wie bei den anderen Ankündigungen 27 Ich danke Arnulf Deppermann für diesen Hinweis. Arne Zeschel 80 häufig die Partikel so voraus. Auch hier trifft Di Meolas an schriftsprachlichen Verwendungen orientierte Charakterisierung des Subjektarguments der temporaldeiktischen Verwendung als „herannahende Zukunft“ bzw. irgendwann eintretendes Ereignis nicht zu. Stattdessen wird die Konstruktion für die unmittelbar gegenwärtige Interaktionskoordination benutzt: Da allen Beteiligten aus dem Weltwissen klar ist, auf welche implizite Reihenfolge hier Bezug genommen wird und welcher Art die in ihr verknüpften Ereignisse sind, genügt die Nennung des Agens, um zur Realisierung der gewünschten Handlung aufzufordern. Zwischen Belegen mit stimulus-Subjekt (Ankündigungen) und solchen mit agens-Subjekt (Aufforderungen) liegen die Beispiele mit patiens-Subjekt. Sie sind weniger direkt als Konstruktionen mit agentivem Subjekt. Beispiel (20) oben (jetzt kommt der Tempowürfel) illustriert jedoch, dass sie ebenfalls Aufforderungscharakter haben: Nachdem die implizite Aufforderung nicht entsprechend aufgegriffen wird, schiebt der Sprecher unmittelbar eine zweite (abermals indirekte) Aufforderung hinterher, diesmal zumindest mit direkter Ansprache des intendierten Agens (also du darfst jetzt gleich nochmal würfeln). Wie in der Mehrzahl der Belege mit Ankündigungsfunktion findet sich die Konstruktion hier in der vorletzten Turnkonstruktionseinheit des aktuellen Sprecherbeitrags, der daraufhin mit einer expliziten Frage zum neuen Thema bzw. einer explizite(re)n Aufforderung zum Aktivitätswechsel beendet wird. Zusammenfassend zeigt die Analyse, dass die Konstruktion kommen +SUBJ +TMP # folge nicht nur insgesamt distinktiv für die Mündlichkeit ist, sondern sich auch innerhalb ihrer Instanzen nochmals charakteristisch mündliche Verwendungspräferenzen herausarbeiten lassen. Ihre abstrakte, Passepartout-artige Bedeutung kann neben der Beschreibung von Sequenzen auf semantischer Ebene (typischerweise: dann kommt/ kam X) auch zu ihrer gesprächskoordinierenden Herstellung auf interaktionaler Ebene eingesetzt werden ((so) und jetzt kommt X), was ihre besondere Prominenz in den mündlichen Daten erklärt. 4.2 gehen 4.2.1 Komplexe Prädikate In den Daten für gehen liegt der Anteil komplexer Prädikate mit 24% in etwa gleich hoch wie bei kommen. Den größten Anteil haben Verbindungen mit Richtungsadverbien (32%) wie zurückgehen, hervorgehen und vorangehen. 24% entfallen auf Kombinationen mit Präpositionalphrasen, zumeist mit in (ins Bett / in Rente / in Erfüllung gehen), auf (auf die Nerven / aufs Klo / auf Distanz gehen) und zu (zu Boden / zur Neige / zur Sache gehen). Seltener sind Verbindungen Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 81 mit an-, aus-, durch-, über- und unter-PPen. Kombinationen mit weiteren Adverbien sind bis auf weitergehen und einhergehen marginal. Gebräuchlicher als bei kommen sind resultative Verbindungen wie z.B. kaputtgehen, schiefgehen und pleitegehen (14%). Weitere 12% entfallen auf serielle Verbkonstruktionen wie schlafen/ essen/ einkaufen gehen. Im Gegensatz zu kommen gibt es schließlich auch einige wenige feste Verbindungen mit Nominalphrasen (Streife gehen, Gassi gehen, Hand in Hand gehen) und eine kleine Klasse sonstiger Mehrworteinheiten (vor sich gehen). Auch bei gehen finden sich komplexe Prädikate insbesondere in den Wissenschaftstexten, aus denen ein Drittel dieser Verwendungen stammen. Die Anteile aller anderen Kontexte liegen zwischen 14% und 20%. 4.2.2 Bedeutungen Wir betrachten die Bedeutungsverteilung wieder einmal inklusive der Kategorie bewegung und einmal allein für die nicht-literalen Lesarten. Wir beginnen mit letzteren. Abbildung 7 zeigt das Ergebnis der Korrespondenzanalyse: 28 Abb. 7: Bedeutungen: gehen (ohne bewegung ) 28 φ 2 =.26, χ 2 =(44, N=826)= 241.09, p<.001**. Aktive Punkte sind alle Bedeutungen mit einer Häufigkeit von mindestens zehn Vorkommen insgesamt (ohne die Kategorie bewegung). Visualisiert sind die 15 Bedeutungen mit den größten Beiträgen zur Konstruktion der dargestellten ersten beiden Dimensionen. Die restlichen aktiven Punkte sind jeweils ausgegraut und werden ohne Labels dargestellt. −2 −1 0 1 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 Dim 1 (62.50%) Dim 2 (17.21%) [K−M] [M−A] [M−I] [S−L] [S−W] Thema Machbarkeit Akzeptabilität Befinden Erstrecken Dauern Funktionieren Skala Wahl Forcieren Ausrichtung Themenwechsel Arne Zeschel 82 Auch hier stehen sich in der Horizontalen die maximal formellen Wissenschaftstexte links und die minimal formellen Alltagsgespräche rechts gegenüber. Da sich auch alle anderen Verwendungskontexte im rechten Quadranten befinden, besteht der Hauptkontrast hier zwischen Kategorie [S-W] und allen anderen Kontexten. Beispiele für die Kategorien links gibt (30): (30) a. Das Interesse geht ausschließlich darauf, zu beobachten, was sie beobachten; und das schließt in vielen Fällen ein: zu beobachten, was sie nicht beobachten. [S-W]: ausrichtung b. Ihr Begründer, der Magister Carl Christoph Reiche, ging nicht den Weg der Konfrontation mit dem etablierten Buchhandel wie Klopstock. [S-W]: wahl c. Die französischen Materialisten des fortgeschrittenen 18. Jahrhunderts schließlich gehen so weit, das Christentum als Krankheit des Geistes zu diskreditieren, als Ausgeburt verwirrter Leidenschaften: Glaube wird zur Form der Neurose. [S-W]: forcieren d. Zunächst geht es um die Sozialdimension, das heißt um die Unterscheidung von Ego und Alter. [S-W]: thema e. Die Kapazität von Großrechnern kann bis in den Gigabyte-Bereich gehen (GByte = Gigabyte = 230 = 1 Milliarde Byte). [S-W]: erstrecken Es fällt auf, dass diese Bedeutungen neben dem Bewegungsträger sämtlich einen zusätzlichen Referenzpunkt involvieren: Mit Ausnahme der Konstruktion gehen +SUBJ: es +P.OBJ-um # thema handelt es sich dabei jeweils um ein abstraktes ziel, auf das die Verbhandlung gerichtet ist (ein anvisiertes Objekt, ein erlangter Zustand, eine im Rahmen eines Prozesses erreichte Ausprägung etc.). Häufig handelt es sich bei diesem ziel um einen Gegenstand der Kognition oder der Kommunikation (Absichten, Entscheidungen, Überzeugungen, Themen). Mit Ausnahme der in der Horizontalen zentral platzierten Kategorie themenwechsel trifft das auf die verbleibenden Bedeutungen in Abbildung 7 nicht zu. 29 Die starke Assoziation der Wissenschaftstexte mit solchen Lesarten ist nicht verwunderlich, aber auch die institutionellen Gespräche liegen in dieser Hinsicht nicht weit entfernt (hier ist thema mit 25% der Belege die zweithäufigste Bedeutung nach der Bewegungslesart, die auf 32% kommt). Lassen sich auch weitere Zusammenhänge zwischen den rechts platzierten 29 Auch bei dauern und skala ist die Angabe eines ziels möglich (Es ging bis halb elf Abends; da gehe ich mal auf siebzehn), aber nicht notwendig. Häufiger sind Pfadbzw. Maßergänzungen, vgl. die Beispiele in (31). Das Ergebnis der Korrespondenzanalyse zeigt nicht, was belegt ist und was nicht, sondern nur welche Ausprägungen relativ häufiger als welche anderen Ausprägungen sind. Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 83 Kategorien charakterisieren? Hier zunächst jeweils ein Beispiel für diese Bedeutungen: (31) a. das soll ohne Schere gehen [M-I]: machbarkeit b. hingefahren anderthalb Stunden ungefähr das geht noch [M-I]: akzeptabilität c. auf jeden Fall irgendwann nachdem ich komisch ausgsehe habe habe ich das Ding dann weggeworfe das ging Gott sei Dank noch [K-M]: funktionieren d. Meinem Hals geht es wieder ganz gut, merke fast gar nichts mehr. [K-M]: befinden e. was glaabscht wie dem soin Blutdruck hochging [M-A]: skala f. ich glaube das geht eine Stunde oder so [M-A]: dauern g. äh wenn ich nach der Rechnung gehe ja [M-I]: massgabe Die ersten drei Kategorien lassen sich als modale Bedeutungen charakterisieren, und zwar im Sinne Palmers (2001) als Varianten „dynamischer“ Modalität, bei der es um Fragen von „Vermögen“ und „Bereitschaft“ geht. In Anknüpfung an Talmys (1988) und Sweetsers (1990, Kap. 3) kognitiv-linguistische Analysen der englischen Modalverben lässt sich ihr Zusammenhang wie folgt darstellen: Die Bedeutung machbarkeit bringt zum Ausdruck, dass es keine Barrieren gibt, die der Ausführung eines Prozesses im Wege stehen. Enkodiert wird damit das Vermögen eines Agens, diesen Prozess zu realisieren. Die Bedeutung akzeptabilität hat sich vermutlich daraus entwickelt. Hier besteht die mögliche Barriere nicht in vorgegebenen Kräften oder Zwängen, sondern in der Haltung eines Beurteilers, der die gegebene Realisierung eines Sachverhalts für akzeptabel erachtet oder nicht. Insbesondere wenn der Beurteiler gleichzeitig Agens des bezeichneten Prozesses ist, zeigt sich eine weiterhin enge Verflechtung mit der Quellbedeutung machbarkeit: (32) Alexandra grillt wieder, und ohne Bier gehts nicht. [S-L]: akzeptabilität Auch bei faktischer Möglichkeit, den gegebenen Prozess anderweitig zu realisieren, ist sein tatsächliches Zustandekommen letztlich an die Bereitschaft des Agens gebunden, entsprechend zu verfahren. Auch die Bedeutung funktionieren gehört hierhin: in dieser Variante ist der Subjektreferent eine Entität Arne Zeschel 84 mit einer klar definierten Funktion (häufig ein technisches Gerät), für deren ordnungsgemäße Verwendung keine Hindernisse bestehen. Obwohl die Existenz einer (potenziellen) Barriere in dieser Analyse zentraler Bestandteil des Image Schemas der Modalsemantik ist, wird die Barriere selbst in den relevanten Verwendungen von gehen nicht verbalisiert: Semantisch profiliert und syntaktisch realisiert sind die machbare Handlung, der akzeptanzfähige Sachverhalt oder das funktionierende Artefakt. Obwohl auch weitere Frame- Elemente wie etwa die art und weise oder das mittel der Realisierung bzw. des Prozessvollzugs erscheinen können, gibt es in diesen Verwendungen kein ziel: Die figurative Bewegung ist kontinuierlich und atelisch. Eben dies trifft auch auf die weiteren Kategorien rechts in Abbildung 8 zu: spezifiziert werden neben der metaphorischen Bewegung selbst teils Frame-Elemente mit modaler Bedeutung (Dir geht es zu gut), teils figurative quellen (wenn es nach ihm ginge könnten alle Wasser vertrocknen) oder pfade (es geht doch um steigern und wie hoch es geht bestimmt) bzw. deren Distanz (So ging es fünfzehn Runden lang), typischerweise aber nicht das ziel der figurativen Bewegung. Abb. 8: Bedeutungen: gehen Wie bei kommen gibt es einen großen Anteil von Belegen mit literaler Bedeutung (43%), und entsprechend deutlich ist der Effekt, wenn diese Kategorie wie in der Analyse in Abbildung 7 inaktiv gesetzt wird. Abbildung 8 zeigt das Ergebnis der Auswertung mit aktiv gesetzter Kategorie bewegung: 30 30 φ 2 =.28, χ 2 =(48, N=1477)= 407.21, p<.001**. Aktive Punkte sind alle Bedeutungen mit einer Häu- −1.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 Dim 1 (45.62%) Dim 2 (36.63%) [K−M] [M−A] [M−I] [S−L] [S−W] Bewegung Thema Machbarkeit Akzeptabilität Befinden Erstrecken Dauern Funktionieren Skala Wahl Forcieren Ausrichtung Themenwechsel Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 85 Gegenüber Abbildung 7 ist das gesamte Diagramm rotiert. Der Hauptkontrast besteht jetzt zwischen Kontexten, in denen die Bewegungslesart überrepräsentiert ist ([S-L] und [M-A]) und solchen, wo dies nicht der Fall ist. Gegenüber Abbildung 7 entfällt zudem ein beinahe doppelt so großer Anteil der visualisierten Streuung auf die Vertikale, deren Beitrag sich der Horizontalen annähert. Hier finden sich nun einerseits die literarischen Texte und Alltagsgespräche sowie andererseits die Wissenschaftstexte und die verbleibenden beiden Kategorien auseinandergespreizt. 4.2.3 Argumentrealisierungsmuster Die Übersicht über die Anzahl realisierter Ergänzungen ähnelt der von kommen stark: 31 E [M-A] [M-I] [K-M] [S-L] [S-W] Gesamt 2 169 (55,8%) 190 (57,4%) 173 (55,3%) 225 (67,4%) 157 (64,6%) 914 (60%) 1 98 (32,3%) 74 (22,4%) 69 (22%) 71 (21,3%) 19 (7,8%) 331 (21,7%) 3 28 (9,2%) 54 (16,3%) 59 (18,8%) 36 (10,8%) 65 (26,7%) 242 (15,9%) 0 8 (2,6%) 10 (3%) 8 (2,6%) 2 (0,6%) 1 (0,4%) 29 (1,9%) 4 - 3 (0,9%) 4 (1,3%) - 1 (0,4%) 8 (0,5%) Σ 303 (100%) 331 (100%) 313 (100%) 334 (100%) 243 (100%) 1524 (100%) Tab. 2: Realisierte Ergänzungen: gehen Die häufigsten Realisierungen sind auch hier Verwendungen mit zwei, einer und drei Ergänzungen (in dieser Reihenfolge), wobei die zweistelligen Verwendungen in allen Texttypen deutlich am häufigsten sind. Verwendungen ganz ohne oder mit vier Ergänzungen sind marginal bzw. in einigen Teildatensätzen gar nicht vertreten. Die Rangfolge ist überall identisch, lediglich die Wissenschaftstexte scheren wieder in dieselbe Richtung aus: Gebräuche mit drei Ergänzungen sind hier mehr als dreimal so prominent wie solche mit nur einer Ergänzung. Wie oben betrachten wir die ein-, zwei- und dreistelligen Muster in den Resultaten separat. Abbildung 9 zeigt die Muster mit nur einer Ergänzung: 32 figkeit von mindestens zehn Vorkommen insgesamt. Visualisiert sind die 15 Bedeutungen mit den größten Beiträgen zur Konstruktion der dargestellten ersten beiden Dimensionen. 31 Ein deutlicher Kontrast zeigt sich allerdings bezüglich Verwendungen ganz ohne Ergänzungen, da es bei gehen keinen vergleichbar häufigen Partikelgebrauch in den Daten gibt. 32 φ 2 =.37, χ 2 =(116, N=1418)= 527.51, p<.001**. Aktive Punkte in der Analyse sind alle Form-Bedeutungsmuster mit einer Häufigkeit von mindestens fünf Vorkommen. Visualisiert sind in Abbildung 9 alle einstelligen Muster unter den aktiven Kategorien und in Abbildungen 10 und 11 jeweils die fünfzehn zweibzw. dreistelligen Muster mit den höchsten Beiträgen zur Konstruktion der dargestellten ersten beiden Dimensionen. Arne Zeschel 86 Abb. 9: Argumentrealisierungsmuster: gehen (eine Ergänzung) Gegenüber der rein semantischen Betrachtung rücken die institutionellen Gespräche nun näher an die Alltagsgespräche heran, ansonsten ändert sich wie im Fall von kommen nur wenig. Literarische und wissenschaftliche Texte finden sich nach wie vor im unteren linken bzw. rechten Quadranten. In der Vertikalen sind ihre Koordinaten nahezu identisch. Oben finden sich die Gespräche und die Forendiskussionen, die sich ebenfalls hinsichtlich ihrer Platzierung in der Vertikalen kaum unterscheiden. Typische Verwendungen von gehen mit einem Argument sind gemäß der Analyse: (33) a. Als jedoch niemand ging, rief Döskopp: „Das war‘s.“ [S-L]: +SUBJ: agens # bewegung b. geh zum Bäcker und kauf einen [M-I]: +DIR: ziel # bewegung c. das geht nicht nein das geht nicht da musst Du außen rum gehen [M-A]: +SUBJ: prozess # machbarkeit d. also das das geht nicht da wäre ich total sauer auf mich selbst [M-A]: +SUBJ: sachverhalt # akzeptabilität e. Das alte geht nicht, ebenso typische Default-Passwörter. [K-M]: +SUBJ: entität # funktionieren −1.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 Dim 1 (39.13%) Dim 2 (33.32%) [K−M] [M−A] [M−I] [S−L] [S−W] +SUBJ # Bewegung +SUBJ # Machbarkeit +SUBJ # Akzeptabilität +DIR # Bewegung +SUBJ # Funktionieren Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 87 Bei nur einer Ergänzung und Bewegungsbedeutung ist in den literarischen Texten typischerweise das Subjekt realisiert (dann mit der spezifischeren Bedeutung ‘aufbrechen’), in den Gesprächen findet man in dieser Kategorie eher Imperative mit Direktionaladverbial. Die eng verwandten typisch mündlich Bedeutungen machbarkeit und akzeptabilität weisen zumindest in (33.c,d) auch ähnliche lexikalische Realisierungsbzw. Kookkurrenzmerkmale auf. In den Webdaten realisieren Verwendungen mit nur einem Argument typischerweise die Bedeutung funktionieren. Zu den Wissenschaftstexten wird keines der einstelligen Muster sortiert. Abbildung 10 zeigt Muster mit zwei Ergänzungen: Abb. 10: Argumentrealisierungsmuster: gehen (zwei Ergänzungen) Deutlich mit der Mündlichkeit (inklusive der nur konzeptionellen) verbunden sind erneut die modalen Kategorien machbarkeit, akzeptabilität und funktionieren sowie skala und dauer. Im selben Quadranten wie die institutionellen Interaktionen und die Webtexte wird zudem das Muster gehen +SUBJ +P.OBJ-um # thema platziert, das in den institutionellen Gesprächen das zweithäufigste Muster überhaupt darstellt (18% aller Belege). Abschließend hier noch ein Blick auf die Gebräuche mit drei Ergänzungen: −1.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 Dim 1 (39.13%) Dim 2 (33.32%) [K−M] [M−A] [M−I] [S−L] [S−W] +SUBJ +DIR # Bewegung +SUBJ +P−OBJ: um # Thema +SUBJ +MOD # Machbarkeit +SUBJ +DIR # Erstrecken +SUBJ +TMP # Dauern +SUBJ +DIR # Skala +SUBJ +MOD # Akzeptabilität +SUBJ +A.OBJ # Wahl +SUBJ +TMP # Akzeptabilität +SUBJ +LOK # Machbarkeit +SUBJ +DIR # Zuteilung +SUBJ +TMP # Machbarkeit +SUBJ +DIR # Ausrichtung +SUBJ +MOD # Funktionieren +SUBJ +MSS # Erstrecken Arne Zeschel 88 Abb. 11: Argumentrealisierungsmuster: gehen (drei Ergänzungen) Auffällig mit den mündlichen Daten verbunden sind hier die Muster +SUBJ +DAT +MOD # befinden (es geht jemandem irgendwie) sowie das bereits in Abschnitt 4.1.4.2 in Verbindung mit kommen beschriebene Muster +SUBJ +DIR +TMP # themenwechsel (vgl. Proske (in diesem Band) zur Wahl des Verbs in dieser Konstruktion). Für die weiterführende Analyse bei gehen wählen wir auf Basis dieser Resultate die typischerweise einstelligen Muster mit den Bedeutungen machbarkeit, akzeptabilität und funktionieren aus, die aufgrund ihrer großen formalen und semantischen Ähnlichkeit gemeinsam analysiert werden. 4.2.4 gehen +SUBJ # modal 4.2.4.1 Formale Realisierung und Semantik Zusammengenommen decken die drei verwandten modalen Bedeutungen über 20% der Belege von gehen ab, in denen kein komplexes Prädikat vorliegt (315 Belege in der Stichprobe). Wie im Fall von kommen # folge handelt es sich damit um die zweithäufigste Bedeutung in den Daten (nach der Bewegungslesart). Im Folgenden wird dafür argumentiert, dass es sich bei den entsprechenden Belegen um Instanzen ein- und derselben Konstruktion handelt, deren schematische Bedeutung sowohl durch den lexikogrammatischen als auch durch den medialen und situativen Kontext in Richtung eines der drei unterschiedenen Subtypen moduliert werden kann. Dabei kann es je nach −1.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 Dim 1 (39.13%) Dim 2 (33.32%) [K−M] [M−A] [M−I] [S−L] [S−W] +SUBJ +P−OBJ: um +LOK # Thema +SUBJ +DAT +MOD # Befinden +SUBJ +DAT +P−OBJ: um # Thema +SUBJ +DIR +DIR # Bewegung +SUBJ +DIR +TMP # Themenwechsel +SUBJ +DIR +DIR # Erstrecken Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 89 Kontext einer Verwendung zu Ambiguitäten kommen oder von vorneherein nur eine der unterschiedenen Lesarten salient werden. Für eine gemeinsame Behandlung der relevanten Verwendungen von gehen spricht zunächst ihre große formale und semantische Ähnlichkeit. Die bedeutungsseitigen Gemeinsamkeiten sind bereits angesprochen worden. In formaler Hinsicht können z.B. alle drei Varianten sowohl nur mit Subjekt allein als auch mit einem zusätzlichen Adverbial realisiert werden: (34) a. bei GT3 zum beispiel konnte ich jedes auto das ich hatte ne hubraum vergrößerung machen und auch in saugmotoren turbos einbaun warum geht das bei GT4 nich mehr? [K-M]: +SUBJ: prozess +LOK: domäne #machbarkeit b. ach das geht ja noch [M-A]: +SUBJ: prozess +TMP: fortdauer #akzeptabilität c. Ein bekannter hat einen 500erter SL R230 und ich bin auch schon ein paar mal gefahren und kenne sehr wohl die Möglichkeiten des Autos und ein Rennwagen ist es sicher nicht, klar geht er besser als ein GTI aber wenn man dem GTI wirklich ernsthaft davonfahren will hilft auch nur kickdown und alles was geht. [K-M]: +SUBJ: entität +MOD: art+weise # funktionieren Auch die konkrete Realisierung der einzigen obligatorischen Ergänzung (+SUBJ) kann in allen drei Fällen gleich sein, z.B. in Gestalt des Pronomens es: (35) a. ja natürlich geht es nicht anders [M-I]: +SUBJ: prozess +MOD: art+weise # machbarkeit b. „Der erste Schluck schmeckt etwas streng“, meinte sie, „aber dann geht es“. [S-L]: +SUBJ: sachverhalt +TMP: zeitpunkt # akzeptabilität c. Habe zu letzt den asus treiber installiert und siehe da es geht. [K-M]: +SUBJ: entität # funktionieren Eine genauere Analyse erweist jedoch, dass eben diese Merkmale - Präsenz eines bestimmten Adverbialtyps und Art der Subjektrealisierung, sowie desweiteren Negation - für die Desambiguierung der unterschiedenen Lesarten bedeutsam sind. Wir beginnen die nähere Betrachtung der modal-Bedeutungen mit einer vergleichenden Analyse der genannten Merkmale. Das erste ist der Typ des Subjektarguments: Hier unterscheiden wir zunächst lexikalische Realisierungen („lex“) von pronominalen, und bei letzteren weiterhin zwischen es („p-es“), das („p-das“) und allen sonstigen Pronomen (alles, mehr, was etc.: „p-son“). 33 Zweitens unterscheiden wir Belege mit Negationselementen wie nicht, kaum, nie etc. sowie mit negativen Indefinitpronomina 33 Bei Belegen, in denen ein Subjekt-es lediglich als Korrelat fungiert, erfolgt trotz Auftreten des Pronomens eine lexikalische Spezifikation des Subjektarguments (mit ISCSI geht es wesentlich schneller externe Platten anzukoppeln, [K-M]). Solche Fälle wurden daher als „lex“ gewertet. Arne Zeschel 90 als Subjekt (Zug total überfüllt, es ging garnichts mehr, [K-M]) von Belegen mit positiver Polarität („neg“ vs. „pos“). Drittens berücksichtigen wir, ob neben dem Subjekt noch ein Adverbial realisiert ist, und falls ja, welcher Art es ist („+MOD“, „+LOK“ oder „+TMP“, ansonsten: „-ADV“). Als letztes kommen natürlich auch noch die drei Bedeutungskategorien hinzu (im Plot repräsentiert als „#MA“, „#AK“ und „#FU“). Für die multiple Korrespondenzanalyse werden alle Belege mit realisiertem Subjekt und nicht mehr als höchstens einer adverbialen Ergänzung berücksichtigt (entsprechend 91% der 315 Fälle). Abbildung 12 zeigt das Ergebnis der Auswertung: Abb. 12: gehen # modal : Lesart, Negation, Adverbialpräsenz und Subjektrealisierung Im linken unteren Quadranten überlappen sich einige Labels, was die Lesbarkeit erschwert. Es handelt sich dabei um die Kategorien „#MA“ (machbarkeit), „pos“ (positive Polarität), „p-es“ (Subjekt: es) und „+MOD“ (mit Modaladverbial). Das Ergebnis lässt sich gut interpretieren: Am unspezifischsten über die untersuchten Merkmale verteilt ist die Bedeutung machbarkeit (unten links nah am Ursprung). Verglichen mit den anderen beiden Bedeutungen tritt sie aber relativ häufiger mit positiver Polarität und einem zusätzlichen Adverbial auf. Starke Indikatoren für diese Bedeutung sind ein realisiertes Modal- oder Lokaladverbial (mit Angabe der Domäne, in der etwas „machbar“ ist) in Verbindung mit dem pronominalen Subjekt es. Die anderen beiden Bedeutungen treten relativ häufiger negiert auf und realisieren typischerweise allein das Subjekt. Im Fall von akzeptabilität tritt alternativ auch relativ Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 91 häufiger als bei den anderen Kategorien ein Temporaladverbial hinzu. Als Subjekt erscheint in der Akzeptabilitätslesart typischerweise das Demonstrativum das, in der Bedeutung funktionieren eine lexikalischen Nominalphrase. Klar differenzierte Belege, in denen es zu keiner Ambiguität zwischen den unterschiedlichen Lesarten kommt, sind mithin etwa die in (36): (36) a. geht es noch ein bisschen genauer [M-I]: +SUBJ: prozess +MOD: art+weise # machbarkeit b. zweihundert das geht ja noch [M-A]: +SUBJ: sachverhalt +TMP: fortdauer # akzeptabilität c. Will ich einen See über mehrere Städte machen nur wenn ich auf eine andere Stadt gehe geht das Anpassungswerkzeug nicht. [K-M]: +SUBJ: entität # funktionieren Tabelle 3 zeigt die Verteilung der drei Lesarten über die Verwendungskontexte (die Prozentwerte bezeichnen den Anteil an den Gesamtdaten für den jeweiligen Kontext): M-A M-I K-M S-L S-W machbarkeit 55 (18,2%) 54 (16,3%) 76 (24,3%) 23 (6,9%) 15 (6,2%) akzeptabilität 25 (8,3%) 19 (5,7%) 14 (4,5%) 8 (2,4%) - funktionieren 3 (1%) 6 (1,8%) 16 (5,1%) 1 (0,3%) - Σ 83 (27,4%) 79 (23,9%) 106 (33,9%) 32 (9,6%) 15 (6,2%) Tab. 3: Lesartenvarianten von gehen # modal In den interaktiven Daten machen die drei modalen Lesarten zusammengenommen jeweils etwa ein Viertel bis ein Drittel der Gesamtdaten aus, in den nicht-interaktiven Schriftdaten sind sie deutlich seltener. Auch im Vergleich der Varianten untereinander sind klare Häufigkeitsunterschiede zu beobachten und fast überall ähnlich ausgeprägt: In den Wissenschaftstexten ist überhaupt nur die Lesart machbarkeit vertreten, die in allen anderen Verwendungskontexten jeweils klar dominant ist. Umgekehrt ist die Lesart funktionieren insgesamt rar. Sie taucht fast ausschließlich in den Internetdaten auf und ist über die bereits gegebene Charakterisierung hinaus für uns nicht weiter von Interesse. Verwendungen mit der Bedeutung akzeptabilität sind bis auf die Webdaten überall am zweithäufigsten und in der Mündlichkeit am deutlichsten überrepräsentiert. Die zentrale Variante unter den drei modalen Bedeutungen ist mithin eindeutig machbarkeit. 34 Sie wird sowohl in VALBU gelistet (gehen 14 : „irgendwie realisierbar oder machbar sein“; Schumacher et al. 2004, S. 412) als auch im 34 Diese Lesart ist die häufigste und vermutlich auch semantisch grundlegende. Auch ohne Überprüfung an diachronen Daten erscheint eine semantische Extension von dynamisch-mo- Arne Zeschel 92 Duden-Universalwörterbuch (gehen 10.a : „sich machen lassen, möglich sein“; Dudenredaktion 2001, S. 619). Wir charakterisieren sie wie folgt: (37) machbarkeit ‘machbar, realisierbar sein’ Ein prozess ist (in einer art+weise) (mit einem mittel) (mit partizipanten) (mit anhaltender / nicht anhaltender fortdauer) (in einer domäne) machbar. Prädiziert wird mithin über einen Prozess, der zwar auch direkt als Subjekt realisiert werden kann (38.a), typischerweise aber dort nur anaphorisch aufgegriffen wird (38.b - in 92% der Belege mit realisiertem Subjekt ist das Argument pronominal): (38) a. Ein- und Ausblenden geht auch über Javascript (visibility = hidden/ visible) oder auch mit einer Interpreter Sprache. [K-M]: +SUBJ: prozess +MOD: mittel b. Ich versuchte, den Gedanken zu unterdrücken, aber es ging nicht. [S-L]: +SUBJ: prozess In vielen Fällen ist das Bezugselement aber auch im Vorkontext überhaupt nicht explizit bezeichnet, sondern muss inferiert werden oder bleibt vage: (39) Ich kann nicht mehr, Fee. Es wird mir alles zu viel. Die Band, meine Kinder. Ich werde mit Louis reden, so bald ich aus Australien zurück bin. Es geht nicht mehr. [K-M]: +SUBJ: prozess +TMP: fortdauerl (40) bringt Beispiele für weitere Argumentrealisierungsmuster: (40) a. Beim Rollenspiel spielt man meist Gefährten; das geht einfacher, wenn man befreundet ist. [K-M]: +SUBJ: prozess +MOD: art+weise # machbarkeit b. Der GRund, warum es bei mir geht und bei Dir nicht, dürfte am „verfügbaren Betrag“, den Consors auf dem Verrechnungskonto eingestellt hat, liegen. [K-M]: +SUBJ: prozess +LOK: domäne # machbarkeit c. klar weil man halt denkt mit zweienzwanzig denkt man ach ja ach ja das geht mit achtenzwanzig auch noch und dann irgendwann mit dreißig zwackt es vielleicht irgendwo ein bisschen [M-A]: +SUBJ: prozess +TMP: fortdauer # machbarkeit d. Für mich würde ein Welpe nie in Frage kommen, da meine Hunde doch einige Stunden alleine bleiben müssen und das geht mit einem so jungen Hund gar nicht. [K-M]: +SUBJ: prozess +MOD: partizipant # machbarkeit daler (machbarkeit) zu evaluativer Bedeutung (akzeptabilität) plausibler als andersherum. Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 93 Dabei kann auch mehr als eines der adverbial realisierten Frame-Elemente gleichzeitig auftreten. Ein ebenfalls unter machbarkeit subsumierter Sonderfall ist die verfestigte Floskel geht’s noch? ! zum Ausdruck von Entrüstung. 35 Konstruktionsmischung liegt bei Kombination mit einem Iudicantis vor (den wir ebenfalls als eine schematische Argumentstrukturkonstruktion betrachten; vgl. Smirnova/ Diewald 2014): (41) Auf einmal kann es dem Herrn nicht schnell genug gehen. [S-L]: +SUBJ: prozess +DAT: beurteiler +MOD: art+weise Neben diesen zwar variabel realisierten, semantisch jedoch homogenen Gebräuchen gibt es auch inferenzielle Verwendungen, in denen nicht wie sonst das prozess-Argument selbst als Subjekt erscheint, sondern ein bestimmter Umstand (d.h. ein Frame-Element) des Ereignisses, auf das Bezug genommen wird. Dies ist eine interessante Parallele zu der in Abschnitt 4.1.4 diskutierten folge-Verwendung von kommen. In Beispiel (42) ist das als Subjekt realisierte Frame-Element ein mittel zur Realisierung des vorgenannten Prozesses: (42) FOLK_E_00055_SE_01_T_06, c261 Tischgespräch [M-A] 01 US ʔmh; 02 AM ich versuch AUCH immer fahrrad zu fahren; 03 wenn_s nich REgnet; 04 und wenn_s nich zu früh MORgens_s; = 05 =so weil ich WEISS; 06 [wenn ich um n]eun uhr n semiNAR hab; 07 US [ʔm. ] 08 AM SCHAFF ich dis nich mim fahrrad zu fahren; = 09 US [((Lachansatz)) ] [°h ] echt,= 10 AM [=weil ich viel zu kaPUTT ][bin; ] 11 NH [a ]ber- 12 [A: ber, ] 13 US [=aber FAHR]rad geht SCHNELler hier. „Machbar“ ist hier nicht das Fahrrad, sondern (metonymisch verschoben) die schnellere Bewältigung des Wegs zur Uni - mit dem Fahrrad. Dank der unmittelbaren Adjazenz zur Nennung des Prozesses lässt sich die Äußerung von US als partielle Konstruktionsübernahme charakterisieren, bei der neben 35 Alternativ könnte hier auch eine konventionalisierte Ellipse der Lesart befinden vorliegen: geht’s [dir] noch [ganz gut]? Mit nur vier Belegen in den Daten fällt die Frage ihrer Wertung allerdings nicht ins Gewicht. Arne Zeschel 94 dem kontextuell gegebenen Prädikat auch die eingebettete PP entfällt, an deren Stelle das bloße Lemma Fahrrad realisiert wird. Solche Verwendungen finden sich auch in den Internetdaten. In (43) ließe sich das Subjektargument entweder als ziel der im vorangegangenen Satz gewählten Formulierung des Prozesses (die Umstellung in X) oder allgemeiner auch als patiens eines im größeren Kontext thematischen Prozesses werten (Abschluss eines Mobilfunkvertrags): (43) 10 Minuten später hatte ich eine freundliche Dame am Tel., die mir von sich aus die Umstellung in den Genion S angeboten hat. Auf Nachfrage ging dann auch der Card S, Kostenpunkt 25, meine ordentliche Kündigung (zu 07/ 2008) würde allerdings zurückgenommen werden (nun gut, das ist mir beim Card S recht egal). [K-M]: machbarkeit In den Gesprächen können sich Rückverweise auf vorgenannte „machbare“ Prozesse aber auch über so große Distanzen erstrecken, dass eine Ellipsenanalyse im Sinne partieller Strukturübernahme nicht plausibel ist (vgl. Helmer 2016). Im folgenden Beispiel diskutieren Mitarbeiter einer sozialen Einrichtung einen geplanten Ausflug mit betreuten Kindern. Nachdem das Thema eingeführt ist (diese woche wollten wir eigentlich n ausflug machen) und sich das Gespräch zunächst um diverse andere Aspekte dreht, wird über 150 Transkriptzeilen später die Frage nach einem geeigneten Termin aufgeworfen. Das thematische Ereignis muss nicht erneut versprachlicht werden, als Subjekt der gehen-Konstruktion erscheint allein der zeitpunkt: (44) FOLK_E_00024_SE_01_T_06, c58 Meeting in einer sozialen Einrichtung [M-I] 01 SZ ja. 02 [WELcher t]ag würde da GEHN , 03 HM [hm. ] 04 SZ dass dann auch genügend DA sin? 05 (0.4) 06 AW ä: h es würde GEHN - 07 hhh° (0.24) der DONnerstag ? 08 (0.86) 09 MS ((räuspert sich)) 10 AW (0.22) es ge: ht der MITTwoch , 11 (0.26) es gEht der Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 95 Rückbezüge der Zielkonstruktion auf vorgenannte Elemente wie in (44) gehen häufig weit über das enge Kontextfenster hinaus, das für die Korpusstudie exportiert und ausgewertet wurde. 36 Bevor wir diesen Faden im nächsten Abschnitt wieder aufgreifen und eine interaktionslinguistische Perspektive einnehmen, soll zunächst auch die am stärksten an die Mündlichkeit gebundene Verwendung, akzeptabilität, mit Blick auf Bedeutung und formale Realisierungspräferenzen näher untersucht werden. Wir charakterisieren sie wie folgt: (45) akzeptabilität ‘akzeptabel sein’ Ein sachverhalt ist (in einer bestimmten realisierung) (mit anhaltender / nicht mehr anhaltender fortdauer) (in einer domäne) akzeptabel. Bewertet wird entweder ein Sachverhalt bzw. eine Entität als solche(r) (nur mit Subjekt, 46.a) oder in einer bestimmten Realisierung (mit Subjekt und Modaladverbial, 46.b). Auffällig häufig sind Spezifikationen des zeitpunkts der Beurteilung (bzw. genauer: einer anhaltenden oder nicht mehr anhaltenden fortdauer der Gültigkeit des Urteils unter bestimmten Umständen, siehe unten), die einen Beitrag zur spezifischen Semantik der Konstruktion leisten und daher als Ergänzungen gewertet wurden (46.c). Selten sind Einschränkungen der Domäne, innerhalb derer etwas akzeptabel ist (mit Subjekt und Lokaladverbial, 46.d). Der konzeptuell implizierte bewerter wird sprachlich nicht realisiert. (46) a. das geht natürlich auch [M-I]: +SUBJ: sachverhalt b. nein so geht das nicht [M-A]: +SUBJ: sachverhalt +MOD: realisierung c. das geht ja noch hätte ich nicht gedacht dass es so wenig ist [M-A]: +SUBJ: sachverhalt +TMP: fortdauer d. äh nein das geht nicht bei Männern da wird es mir übel [M-A]: +SUBJ: sachverhalt +LOK: domäne Semantisch lässt sich die Verwendung als zusätzliche metonymische Verschiebung der metaphorischen Bedeutung machbarkeit charakterisieren: Vergleichbar mit ähnlich motivierten Ausdrücken wie das kann man machen oder so lässt sich’s leben/ aushalten wird mit das geht eine Brücke von dynami- 36 Bei den mündlichen Daten waren dies zwei FOLK-„Beiträge“ (vgl. Schmidt 2008) vor und nach dem Beitrag mit dem Zielvorkommen. Wo die syntaktisch-semantische Klassifikation eines Belegs auf dieser Basis nicht möglich war, wurde der Treffer im ursprünglichen Transkriptkontext betrachtet. Arne Zeschel 96 scher Modalität (‘etwas vermögen’) zu positiver Bewertung geschlagen (‘etwas für erstrebenswert halten’). Wie die Auswertung der Kookkurrenzmerkmale zeigt, wird diese Lesart aber vergleichsweise häufiger als die anderen in Verbindung mit Negation gebraucht (47% der Fälle). Zusätzlich erscheint die Lesart relativ häufiger mit einer temporalen Spezifikation, die bis auf einen einzigen Fall ausnahmslos durch noch 37 realisiert ist. Das Duden-Wörterbuch kennzeichnet die dort mit dem Beispiel das geht noch veranschaulichte Lesart von noch mit der Paraphrase „drückt aus, dass der Endpunkt einer Entwicklung nicht erreicht ist, dass sich etwas im Rahmen des Akzeptablen, Möglichen o. Ä. hält, obwohl zum Gegenteil nur wenig fehlt“ (Dudenredaktion 2001, S. 1141). Rechnet man diese Verwendungen zu den negierten hinzu, formulieren etwa zwei Drittel der Belege somit also gerade keine genuin positive Bewertung. Stattdessen wird die Einschätzung zum Ausdruck gebracht, dass ein Sachverhalt von der durch den Bewerter etablierten Barriere in der metaphorischen Konzeptualisierung aus dem Bereich des Akzeptablen ausgeschlossen oder nur mit Einschränkung dort zugelassen wird. Zusammenfassend zeigt die Analyse, dass die charakteristisch mündliche Konstruktion gehen +SUBJ # modal in verschiedene Teilmuster zerfällt, die die abstrakte Modalbedeutung in je unterschiedlicher Weise elaborieren. Die verschiedenen Funktionen sind jeweils an typische lexikogrammatische Realisierungsmuster geknüpft, so dass zumindest in diesen Fällen eine kontextgesteuerte Disambiguierung ermöglicht wird. Mehrdeutigkeiten sind dennoch häufig und äußern sich nicht nur in Übergängen zwischen den unterschiedenen Lesarten, sondern zeigen sich auch bezüglich der Referenz des typischerweise pronominal realisierten Subjekts. Semantisch zeichnet sich die Kon- 37 Die Charakterisierung von noch in das geht noch als Temporalergänzung ist erläuterungsbedürftig, da hier pragmatisch eher eine Interpretation als Fokuspartikel salient ist (ich danke Arnulf Deppermann für diese Anregung): akzeptabel ist der gegebene Sachverhalt in einem bestimmten Maße, nämlich gerade noch im Sinne von „nur eingeschränkt“. Die Tatsache, dass gerade noch hier aber überhaupt als „nur eingeschränkt“ interpretiert werden kann, verweist ihrerseits auf eine dynamisch-temporale Konzeptualisierung (vgl. dazu den ersten Teil der Paraphrase des Duden-Wörterbuchs zur relevanten Lesart von noch: „drückt aus, dass der Endpunkt einer Entwicklung nicht erreicht ist, obwohl....“): Die Fokuspartikel-Interpretation „nur eingeschränkt“ ergibt sich auf Konzeptualisierungsebene aus einer imaginierten Bewegung entlang einer Skala von akzeptabel zu inakzeptabel, in deren Verlauf sie einen Grenzpunkt kurz vor Erreichen der Schwelle zum Bereich des nicht mehr Akzeptablen markiert. Vor diesem Hintergrund bringt noch auf der „semantischen“ Ebene eine temporale Bedeutung in die Konzeptualisierung von noch gehen ein, auch wenn seine „pragmatische“ Funktion in einer Graduierung der Akzeptabilitätseinschätzung besteht. Da Fokuspartikeln im Rahmen der Datenkodierung nicht systematisch erfasst wurden, stellte sich die Frage nach der geeigneteren Wertungsoption hier aber nicht, so dass das noch in solchen Belegen „semantisch“ als auf der Konzeptualisierungsebene operierende Temporalspezifikation erfasst wurde. Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 97 struktion somit durch eine ausgeprägte Vagheit aus. Aufbauend auf diese strukturelle und semantische Charakterisierung werfen wir im nächsten Abschnitt einen genaueren Blick auf die Verwendung der am distinktivsten mit der Mündlichkeit verbundenen Lesart akzeptabilität in der mündlichen Interaktion. 38 4.2.4.2 Pragmatik und Interaktion In pragmatischer Hinsicht ist zunächst eine auffällige Asymmetrie der negierten und nicht-negierten Gebräuche bezüglich Intensität und Involviertheit festzuhalten. Wir beginnen die Analyse mit den positiv polaren Fällen (26 von 44 Belegen bzw. 59%). Beispiel (47) entstammt einer Rettungsübung in einer Hilfsorganisation, bei der das Verhalten von Nothelfern in einer Unfallsituation geprobt wird. Semantisch betrachtet lässt sich von einer ‘positiven Bewertung’ im Fall des Zielvorkommens in Zeile 8 allenfalls in äußerst verhaltener Ausprägung sprechen. Pragmatisch realisiert die Konstruktion in dieser responsiven Verwendung eine abgeschwächte Zustimmung (zusätzlich markiert durch das äh als Vorlauf einer dispräferierten Reaktion), die vorgreifend auf ein bestehendes Problem hindeutet (das in Zeile 11 dann auch expliziert wird): (47) FOLK_E_00140_SE_01_T_01, c187 Training in einer Hilfsorganisation [M-I] 01 NH2 dann müssen wa davon ausgehen dass da vielleicht was kapUTT is,= 02 =un dann gehen wa lieber kein RIsiko ein. 03 (0.2) 04 NH7 ja. 05 (2.2) 06 NH2 kriegen sie gut LUFT? 07 NH7 ähm; 08 es GEHT so. 09 (0.52) 10 NH2 GEHT so? 11 NH7 s DRÜCKT; 12 da. 13 ((Aufreißen eines Klettverschlusses)) 38 Alle im Folgenden genannten Zahlen beziehen sich ausschließlich auf die mündlichen Belege. Arne Zeschel 98 14 NH2 STICHT_S irgendw[o; ] 15 NH7 [ʔj]a. 16 (0.63) Beinahe die Hälfte der grammatisch positiv polaren Verwendungen (42%) tritt mit noch auf. Diese Verwendungen enthalten bis auf einen einzigen Beleg sämtlich auch die Modalpartikel ja, die als geteilt unterstellte Wissensbestände markiert (Reineke 2016): (48) FOLK_E_00066_SE_01_T_03, c829 Gespräch unter Freunden [M-A] 01 JO °h wenn DIE sagen die wollen da jetz neunhundert EUro von mir,= 02 =dann weiß ich aber in freiburg BESSre ecken wo ich wohnen kann; 03 AL ja aber die straße_a DA, 04 die GEHT ja noch; 05 he die beim felix da is ja rIchtig bruTAL ne? 06 JO ah JO-= 07 =aber TROTZdem; 08 PA [ah hier ischs net viel BESser.] 09 JO [de TUNnel fängtno NET an. ] 10 (0.41) Sprecher AL widerspricht seinem Vorgänger teilweise (ja aber), sichert seine abweichende Bewertung die geht ja noch mit der Partikel ja allerdings in einem unterstellten common ground ab, der sich aus einer Kontrastierung der in Frage stehenden Straße mit einer anderen ergibt. Generell sind mit noch gehen vorgenommene Akzeptabilitätsurteile inhärent relational bzw. kontrastiv (akzeptabel im Vergleich zu denkbaren noch schlechteren Ausprägungen, vgl. Fußnote 37). Für die kontrastierende Bewertung „die beim felix da is ja rIchtig bruTAL“ fordert AL mit der äußerungsfinalen Partikel ne zudem ein Akzeptanzsignal ein, so dass mit ja und ne hier gleich zwei interpersonelle Absicherungen vorgenommen werden, dass sich der bewertete Gegenstand tatsächlich noch (vergleichsweise) im Bereich des Akzeptablen befindet. Rückversicherungen mit ne finden sich im direkten Anschluss an die Zielkonstruktion auch bei herabgestuften Zustimmungen: (49) FOLK_E_00055_SE_01_T_03, c87 Tischgespräch [M-A] 01 NH und s[o_n (.) FESTgelegtes] gericht? 02 US [im (.) mensa_b nur ] Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 99 03 NH was kostet DAS dann immer so, 04 US [°hh ]oh GOTT ich ha, 05 NH [ungeFÄHR,] 06 (0.2) 07 US ich hab_s relativ <<lachend> selten> geGESsen; = 08 NH ja. 09 US =muss ich ZUgeben; 10 ähm 11 ((lacht)) 12 NH ((Lachansatz)) 13 LM ((lacht)) 14 US °h <<lachend> weil ich doch immer ans bufFET geh; > 15 °hh ähm ich GLAUB so zwei; 16 (0.38) 17 zwei ACHzig [oder was,] 18 NH [das GEHT ] [ja noch. ] 19 US [oder zwei] [FÜNFzig; ] 20 NH [ja. ] 21 also is rElativ GÜNstig dann. 22 NH ja. 23 (0.71) Sequenziell tritt die positive polare Verwendung typischerweise (50%) in zweiter Position auf. Sie wird dabei gebraucht als Antwort auf eine Frage oder auch als Kommentar zu einem Vorschlag oder einer Aufforderung: (50) FOLK_E_00011_SE_01_T_03, c1023 Spielinteraktion mit Kindern [M-A] 01 VK °h (.) EINS zwei drei vier fünf- 02 (.) SECHS- 03 (.) SIEben. 04 (.) nina ich krieg AUCH zweihundert. 05 (0.5) 06 VK v[on DIR. ] 07 NK [zwei ]HUNdert; 08 dis [GEHT ja n]och. 09 VK [ʔM_HM, ] Arne Zeschel 100 Zweithäufigstes Sequenzmuster sind Verwendungen in dritter Position (27%), die mit einer Bewertung an ein Frage-Antwort-Paar anschließen: (51) FOLK_E_00055_SE_01_T_09, c548 Tischgespräch [M-A] 01 AM wann bist du AUFgestanden; 02 (.) loredana 03 (0.2) 04 NH hm? 05 AM wann bist du AUFgestanden heut morgen; 06 (0.74) 07 LM o: h- 08 um äh alb NEUN; 09 (0.23) 10 AM okay di[s GEHT.] 11 NH [nee. ] 12 (.) da hab ich NICH[TS von mitbekommen.] 13 AM [((lacht)) ] 14 NH ich hab (.) ich hab bis nAch ZEHN geschlafen. Gebräuche in erster Position (23%) sind bis auf einen Fall sämtlich Fragen in empraktischen Kontexten, in denen sich das pronominale Subjekt auf einen Sachverhalt aus dem Situationsbzw. Handlungskontext bezieht: (52) FOLK_E_00136_SE_01_T_01, c207 Training in einer Hilfsorganisation [M-I] 01 NH10 es BRENNT? 02 wo BRENNT_S; 03 NH3 hinne im RÜcke, 04 (0.37) 05 NH10 ja, 06 (0.31) 07 NH3 brennt mer_s ohne ENde; 08 (1.87) 09 NH10 oKAY, 10 NH3 und 11 (0.97) 12 NH10 GEHT dis so mi_m [kOpf? ] Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 101 13 NH3 [is ] 14 is 15 ja- 16 dis is oKAY; 17 NH10 alles KLAR; In allen drei Positionen wird die positiv polare Verwendung typischerweise turnwertig gebraucht: In 81% der Belege macht sie den kompletten Beitrag des Sprechers aus (ggf. in Kombination mit Partikeln oder linksversetzten Wiederholungen des vorgenannten Bewertungsgegenstandes, vgl. (50)). Demgegenüber sind die negierten Fälle in ihrer Wertung häufig besonders emphatisch. In vielen Fällen weisen sie Modalpartikeln und verstärkende Modifizierer wie überhaupt, echt und gar auf: (53) FOLK_E_00161_SE_01_T_03, c264 Gespräch in der Familie [M-A] 01 TU und ähm- 02 (.) DAS is einfach so- 03 wenn ich dann ʔ 04 gehört hab wie die dann am PLATT schnacken sin; 05 wo ich dann manchmal wirklich geDACHT hab so- 06 °hh o: ch; 07 (.) nee; 08 damit kann ich mich NICH iden[tifiZIERN; =] 09 FK [hm, ] 10 TU =auch wenn die vom ort_f [kommen] [oder so; =] 11 FK [ja. ] 12 [ja. ] 13 TU [ =das geht ] GAR nich, 14 FK [hm- ] 15 hm- Auch sequenziell finden sich die negierten Gebräuche in anderen Kontexten. Etwa die Hälfte der Vorkommen treten turnfinal oder -medial im Rahmen eines Multi-Unit-Turns auf (44%). Im Vorlauf der gehen-Äußerung schildert der Sprecher einen bestimmten Sachverhalt, der abschließend einer ablehnenden Bewertung unterzogen wird: Arne Zeschel 102 (54) FOLK_E_00047_SE_01_T_02, c398 Tischgespräch [M-A] 01 AM °h da hat ja meine schwester dann auch erZÄHLT dass der samuel 02 °h dann am 03 (0.38) a: n EIM tag, 04 PB h° 05 (0.88) 06 AM da war sie KRANK, 07 (.) und da wOllte er nich zu IHR kommen, 08 weil er lieber (0.28) am wochenende in stadt_j bleiben wollte; 10 weil er mit seinen freunden PARty machen wollte. 11 (0.86) 12 AM also so was find ich geht GAR nich. 13 (1.25) 14 AM was denkst DU so bei sowas? 15 (0.26) 16 PB hm? 17 (.) a ja wenn_se 18 (0.27) weiß ich NET; 19 (0.91) Die ablehnende Bewertung projiziert eine Zustimmung durch den Adressaten, die bei Ausbleiben wie in (54) ggf. auch explizit eingefordert wird (zur Präferenz für gleichlaufende Bewertungen vgl. Auer/ Uhmann 1982). Es sind speziell diese Verwendungen von negierten gehen-Bewertungen, bei denen Partikelhäufungen zu beobachten sind: Der Bewertungsgegenstand entspricht nicht den persönlichen moralischen, ästhetischen, handlungspraktischen etc. Erwartungen und Maßstäben des Sprechers, was sich in gesteigerter affektiver Aufladung und persönlicher Involviertheit der Bewertung niederschlägt. Gleichzeitig wird diese Setzung durch die unpersönliche Formulierung jedoch in einen Zusammenhang mit allgemeinen Regularitäten und Prinzipien gerückt, um das gefällte Urteil zu legitimieren. Zweiter prominenter Kontext (28%) sind Verwendungen in zweiter Position, mit denen der Sprecher auf einen Vorschlag reagiert: (55) FOLK_E_00010_SE_01_T_02, c583 Spielinteraktion mit Kindern [M-A] 01 NK °h sabine (.) waRUM; 02 waRUM; = Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 103 03 =kaufst du mir DEN nich DEN nich ab. 04 SK weil_s dann EIns zu VIEL is; 05 (1.14) 06 NK dann tu doch DES da in stall. 07 (1.51) 08 SK DES gEht nich; 09 da muss ich was beZAHLen. 10 (0.35) Hier tritt die gehen-Konstruktion ausnahmslos turninitial auf (ggf. in Kombination mit einer Partikel) und wird in allen Beispielen von einem Account begleitet, der die Zurückweisung des Vorschlags durch den Sprecher begründet. Ebenfalls in zweiter Position stehen Reaktionen auf Partnerschilderungen und -bewertungen mit einer Zweitbewertung (17%): (56) FOLK_E_00022_SE_01_T_02, c801 Meeting in einer sozialen Einrichtung [M-I] 01 AW ʔm von WO. 02 sie will ihn (.) HIER abholen,= 03 =und zur hauser [bringen,=] 04 HM [nee ][wir sollen_n se zur hauser ] bringe; 05 AW [=oder sie holt_n bei der haus] 06 HM und sie mag_n dann bei der hauser ABhole, 07 °hh awwer dann ham_mer den drEI tag [die woch NET; ] 08 SZ [haJA. ] 09 HM [dis is mer ] zu WEnich. 10 AW [dis GEHT net.] 11 ʔ_ʔ 12 SZ ja und minischtranten AU noch un so; Da in Beispiel (56) bereits die Erstbewertung negativ ist (das ist mir zu wenig), bedarf die zustimmende Zweitbewertung das geht nicht keiner gesonderten Rechtfertigung. 39 Von solchen Fällen abgesehen gibt es nur einen einzigen weiteren Beleg in den Daten, in dem kein Account für die ablehnende gehen-Bewertung geliefert wird. Hierbei handelt es sich um eine Verwendung aus den 39 Wie die Überlappung im Transkript anzeigt, setzen HM und AW in (56) zwar gleichzeitig zur Formulierung ihrer Bewertungen an, die ablehnende Bewertung HMs ist aber bereits durch das aber in Zeile 7 antizipierbar. Arne Zeschel 104 Fußballmanager-Daten, in der mit dem Subjektpronomen metakommunikativ auf einen größeren vorangegangenen Interaktionsverlauf Bezug genommen wird. Spieler PL wirft anderen Mitspielern verbotene Absprachen vor: (57) FOLK_E_00021_SE_01_T_01, c991 Spielinteraktion zwischen Erwachsenen [M-A] 01 PL ja nee KOMM; 02 aso [sO geht_s NICH ] dass ihr [hier privAt; ] 03 XM1 [((unverständlich))] 04 JZ [wird hier wieder ge]MAUschelt da[hInten; ] 05 PL [ja Ebe ]n; 06 MT j[a. ] 07 PL [das i]s hier nor[MAL,] 08 XM1 ((lacht)) 09 XM2 [xx ]x [xxxx ] 10 SK [ham wir ge]MAUschelt? 11 DK DREI leute meinten; 12 [wir schlaf]en WEIter; 13 XM1 [nee: . ] 14 PL aso dass [ihr hier pri][vAt] [euc]h die SPIEler zu[schustert; ] 15 XM1 [ höhö ] 16 [ja: ] [a ] 17 [nö. ] Ein Account ist hier nicht nötig, da die Unzulässigkeit des Vorgehens allen Spielern aus den Regeln wohlbekannt ist (was sich auch in weiteren Kommentaren wie „wird ja wieder geMAUschelt dahinten“ sowie dem Lachen der Angesprochenen dokumentiert). Außerhalb solch uneigentlicher Kontexte, in denen die bewertete Position / das bewertete Vorgehen vom Partner gar nicht ernsthaft vertreten wird, treten Dissensmarkierungen mit das geht nicht / so geht das nicht in der Stichprobe ausnahmslos in Kombination mit Begründungen der vorgebrachten Ablehnung auf. Zusammenfassend deuten diese Befunde darauf hin, dass negierte Bewertungen mit gehen aufgrund ihrer modalen Quellbedeutung besonders stark sind: Dem abgelehnten Gegenstand wird die Relevanz oder gar Existenzberechtigung abgesprochen. Im Fall von selbstinitiierten Werturteilen wird durch die modale Barrieren-Konzeptualisierung signalisiert, dass für den Bewerter die Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 105 Grenze desjenigen überschritten ist, was er als zulässig oder vertretbar erachtet. Bei Reaktionen auf Aufforderungen und Vorschläge wird zum Ausdruck gebracht, dass die angeregte Handlungsoption im Kontext weiterer relevanter Erwägungen nicht praktikabel ist und daher ausscheidet. Zur Abfederung ihrer potenziell gesichtsbedrohenden Zurückweisung als „unmöglich“ bedarf es einer Rechtfertigung. Drittens lassen auch positiv polare Fälle zumeist eher auf Vorbehalte als auf eine tatsächlich genuin positive Einschätzung des Sprecher schließen. Wird trotz interpersonell erwartbarer Ablehnung ein Gegenstand als „gerade noch akzeptabel“ bewertet, stützt sich diese Beurteilung häufig auf konsensheischende oder explizit akzeptanzeinfordernde Partikeln. Außerhalb von Fragen, die mit dem Einholen eines Einverständnisses semantisch zwischen machbarkeit und akzpetabilität oszilliieren (geht das so? ), kann die syntaktisch-semantische Affinität der Konstruktion zu negativer Polarität daher umfassender als Reflex einer pragmatischen Spezialisierung auf (mindestens partielle) Ablehnungen gekennzeichnet werden. Sie bietet damit ein Format zur Bearbeitung einer geläufigen kommunikativen Erfordernis insbesondere in den Alltagsgesprächen, was neben ihrer stilistischen Markiertheit (affektiv, involviert, informell-nähesprachlich) ihre besondere Prominenz in diesem Teildatensatz erklärt. 4.3 Verbübergreifende Befunde Nach diesen schrittweisen Annäherungen an je eine distinktiv mündliche Konstruktion mit beiden Verben wenden wir uns abschließend der Frage zu, wie sich die Ergebnisse der Korpusstudie zu allgemeinen Annahmen über Argumentrealisierungspräferenzen in der Mündlichkeit verhalten. Wir betrachten dazu einen bekannten Ansatz, der sich mit pragmatischen Restriktionen der Argumentrealisierung beschäftigt - Du Bois’ (2003a, 2003b) Theorie einer Preferred Argument Structure (PAS). Ihr Ausgangspunkt ist zunächst eine deskriptive Generalisierung über die lexikalische Realisierung verbaler Argumente in der Mündlichkeit, hinter der Du Bois auf der kognitiven Ebene jedoch eine Art pragmatisch-syntaktisches Scharnier vermutet, das Sprecher bei der online-Produktion von Äußerungen entlastet. 40 40 „From a functional perspective, Preferred Argument Structure can be seen to carry implictions for, among other things, strategies for information management ... What Preferred Argument Structure shows in some detail is how particular cognitive-pragmatic functions are regularly associated with certain syntactic roles, to the exclusion of others“ (Du Bois 2003b, S. 40). Über Sätze, die das Prinzip verletzen, wird dagegen spekuliert: „the rarity, but not impossibility, of such clauses is explained by the fact that they push, but do not necessarily break, the limits of routine on-line cognitive processing capacity“ (ebd., S. 41). Arne Zeschel 106 Die Generalisierung besagt, dass (Teil-)Sätze in der Mündlichkeit präferenziell nicht mehr als ein neues Kernargument („core argument“, Du Bois 2003b, S. 34) des Prädikats realisieren, und dass dieses neue Argument in transitiven Konstruktionen zweitens nicht die Subjektfunktion innehat. Aufgrund des statistischen Zusammenhangs von neuer/ gegebener Information und lexikalischer/ pronominaler Realisierung 41 wird diese Vorhersage auf kategorialer Ebene zudem dahingehend erweitert, dass (Teil-)Sätze in der Mündlichkeit üblicherweise nur ein lexikalisches Argument aufweisen, das in transitiven Konstruktionen zudem nicht das Subjekt ist. Formuliert ist der Zusammenhang zunächst über grammatische Relationen in Sätzen, und zwar die typologischen Kategorien ‘A’ (Subjekt eines transitiven Satzes), ‘O’ (Objekt eines transitiven Satzes) und ‘S’ (Subjekt eines intransitiven Satzes). Du Bois ergänzt jedoch, dass sich die Generalisierung ebenso gut über Klassen von Prädikaten (intransitive, transitive und ditransitive Verben) oder schematische Argumentstrukturkonstruktionen (intransitive, transitive und ditransitive Konstruktion) formulieren ließe. In konstruktionsgrammatischer Modellierung sind die Realisierungspräferenzen direkt mit den einzelnen Strukturpositionen der jeweiligen Konstruktion assoziiert, und in der Konstruktion verwendete Verben erben deren „cognitive-pragmatic properties“ (Du Bois 2003b, S. 43). Vorhergesagt wird eine „konsistente statistische Tendenz“ (ebd.), d.h. eine stabile Gebrauchspräferenz und keine harte Beschränkung, deren Verletzung zu Ungrammatikalität führte. Die Robustheit der Generalisierung hat sich in einer Vielzahl von Studien zu verschiedenen Sprachen erwiesen (vgl. Du Bois/ Kumpf/ Ashby 2003; für das Deutsche vgl. Proske 2013). Bei unseren Zielverben handelt es sich um Intransitiva, und abgesehen von der marginalen Verwendung von gehen mit dem „inneren“/ kognaten Objekt Weg, dessen Status umstritten ist, handelt es sich auch bei den angetroffenen Argumentrealisierungsmustern mit mehr als einem realisierten Frame-Element sämtlich um (komplex) intransitive Konstruktionen. Zu den Subjekten eines intransitiven Verbs bzw. einer intransitiven Konstruktion bemerkt Du Bois (2003b, S. 38): „they are the least constrained, because the quantity constraint on new arguments does not affect them. This gives them special importance as a site for the introduction of new information“. Sofern also bezüglich intransitiver Verben überhaupt merkliche Kontraste zu verzeichnen sind, würde man mit einem zur ‘A’-Position komplementären Überhang lexikalischer Subjekte rechnen. 41 Dieser Zusammenhang ist nur eine Tendenz. Nicht jede lexikalische Nominalphrase führt einen neuen Referenten in den Diskurs ein, und nicht jedes Pronomen dient der anaphorischen Aufnahme voreingeführter Referenten (s.u.). Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 107 In unseren Daten haben von den 1.313 mündlichen Belegen, in denen die beiden Verben nicht Teil eines komplexen Prädikates sind, 1.188 ein realisiertes Subjekt (90%; der Rest verteilt sich auf Imperative, Partikeln, Ellipsen und Analepsen). Die Opposition Pronomen vs. lexikalische NP wurde für die Auszählung zu ±pronominal vereinfacht, um auch satzförmige Subjekte einzubeziehen. Tabelle 4 zeigt die Verteilung der Realisierungsvarianten: Subjekt kommen gehen Gesamt pronominal 200 (33,6%) 45 (7,6%) 245 (20,6%) pronominal 396 (66,4%) 547 (92,4%) 943 (79,4%) Gesamt 596 (100%) 592 (100%) 1188 (100%) Tab. 4 Subjektrealisierung bei kommen und gehen Pronominale Subjekte sind bei beiden Verben deutlich häufiger als lexikalische. Gleichzeitig besteht ein auffälliger Kontrast in der Stärke dieser Präferenz: Bei kommen sind lexikalische Subjekte zwar ebenfalls seltener als pronominale, im Verhältnis aber deutlich häufiger als bei gehen, χ 2 (1, N=1188)=120.65, p<.001. Aus Sicht des PAS-Prinzips ist dieses Ergebnis unerwartet, insbesondere was den Kontrast zwischen den beiden Verben betrifft, die mutmaßlich dasselbe Profil aufweisen oder erben sollten. Obwohl eine universelle Gültigkeit der Generalisierung auf der schematischen ‘A’vs. ‘O’vs. ‘S’-Ebene reklamiert wird (d.h. verb-, konstruktions- und sprachübergreifend; Du Bois’ (2003b, S. 33) bezeichnet das Prinzip als „discourse universal“), weist Du Bois doch gleichzeitig darauf hin, dass der Begriff der „Verbklasse“ vermutlich enger gefasst werden müsse, als es eine grobe Unterteilung in intransitive vs. transitive Verben nahelegt. 42 Nun besteht im Fall von kommen und gehen auch bereits in einem recht spezifischen semantischen Sinn die Berechtigung, von Angehörigen derselben Verbklasse zu sprechen. Abgesehen davon werden in der Gesamtauswertung in Tabelle in 4 aber auch Fälle aggregiert, auf die der veranschlagte Zusammenhang von pronominaler Realisierung und bekannter Information, auf den Du Bois’ Generalisierung abzielt, nicht in derselben Weise zutrifft. So gibt es z.B. viele Belege für Konstruktionen mit leerem Subjekt es (es kommt zu X, es geht um X), die den „ pronominal“-Wert in die Höhe treiben, ohne dass ein referenzieller Gebrauch des Pronomens vorliegt. 43 Will man also differenzierter nur diejeni- 42 „As an empirical generalization about discourse data, Preferred Argument Structure identifies what we might call the “discourse profile” of verb classes at the broadest level of valence classes ... But if we take seriously the notion of verb classes or verb clusters (Goldberg 1995, S. 135), there is good reason to pursue a finer-grained discourse profile of particular subsets of transitive or intransitive verbs than that currently offered by the broad-brush version of Preferred Argument Structure“ (Du Bois 2003b, S. 43). 43 In VALBU sind „kommen“ und „kommen, es“ bzw. „gehen“ und „gehen, es“ gleich ganz separat mit getrennten Verbeinträgen geführt. Arne Zeschel 108 gen Verwendungen der Verben miteinander vergleichen, bei denen tatsächlich ähnliche Bedingungen für und Anforderungen an das information management der Sprecher besteht, bietet sich dafür eine spezifischere Ebene an. Wir vergleichen daher sowohl kommen-/ gehen-Konstruktionen mit Bewegungsbedeutung als auch die beiden exemplarisch untersuchten Konstruktionen aus Abschnitt 4.1.4 und 4.2.4, zwischen denen wir bestimmte Parallelen aufgewiesen haben. Tabelle 5 fasst das Ergebnis für kommen-/ gehen-Konstruktionen mit Bewegungsbedeutung zusammen: Subjekt kommen gehen Gesamt pronominal 103 (29,1%) 21 (9,6%) 124 (21,6%) pronominal 251 (70,9%) 198 (90,4%) 449 (78,4%) Gesamt 354 (100%) 219 (100%) 573 (100%) Tab. 5: Subjektrealisierung bei kommen und gehen # bewegung Das Resultat ist sehr ähnlich. Auch hier besteht ein deutliches Übergewicht pronominaler Subjekte, wobei sich die Stärke der Präferenz unterscheidet, χ 2 (1, N=573)=29.22, p<.001. Tabelle 6 zeigt die Gegenüberstellung für die beiden „inferenziellen“ kommen- und gehen-Konstruktionen mit den Bedeutungen folge und machbarkeit: Subjekt kommen gehen Gesamt pronominal 42 (67,7%) 6 (6,4%) 48 (30,8%) pronominal 20 (32,3%) 88 (93,6%) 108 (69,2%) Gesamt 62 (100%) 94 (100%) 156 (100%) Tab. 6 Subjektrealisierung bei kommen +SUBJ +TMP # folge und gehen +SUBJ # machbarkeit Auch hier verhalten sich die Verben unterschiedlich, χ 2 (1, N=156)=63.18, p<.001. Interessanterweise sind in der Konstruktion mit kommen die lexikalischen Subjekte mit über zwei Dritteln der Belege nun aber auch häufiger als die pronominalen. Damit besteht nicht nur ein Kontrast zu gehen, sondern auch zu anderen Verwendungen von kommen wie etwa den Bewegungskonstruktionen. Inhaltlich ist das nicht überraschend: Die Konstruktion dient dazu, ein neues, als nächstes relevantes Element der jeweils implizierten folge aufzurufen, bei dem es sich in vielen Fällen um einen neuen, nicht-voreingeführten Referenten handelt. Zusammenfassend deuten diese Befunde darauf hin, dass sich Argumentrealisierungspräferenzen auf der Ebene spezifischer Konstruktionen unterscheiden können. Wenn dem so ist, erscheint es wenig aussagekräftig, globale Realisierungspräferenzen an einem übergeordneten Lemma festzumachen, oder gar an einer nochmals übergreifenden Kategorie wie „typischerweise intransitiv gebrauchtes Prädikat“. Gegenstand von Du Bois’ Generalisierung ist das besondere Verhalten von ‘A’, dem transitiven Subjekt, demgegenüber die Ka- Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 109 tegorien ‘S’ und ‘O’ nicht vergleichbar festgelegt sind. Prinzipiell ist aber auch für Kategorie ‘A’ denkbar, dass es unbeschadet der allgemeinen PAS-Tendenz auch transitive Muster mit konstruktionsspezifischen Unterschieden der Argumentrealisierung (im Sinne bestimmter Lexikalisierungspräferenzen) geben könnte, deren Divergenzen auf der Ebene der aufaddierten Gesamttendenz ausgeblendet werden (vgl. dazu auch Proske 2013). Falls dem so ist, stellt sich die Frage, auf welcher Ebene die veranschlagten „cognitive-pragmatic properties“ des PAS-Prinzips anzusiedeln sind und ihre Wirksamkeit entfalten, wenn konfligierende Präferenzen zu vermitteln sind. Diese Frage ist allerdings nicht Gegenstand unseres Beitrags. Wir brechen unseren kurzen Exkurs in Sachen PAS daher an dieser Stelle ab und wenden uns der Schlussbetrachtung zu. 5. Diskussion Fassen wir zum Einstieg in die Diskussion zunächst die wichtigsten Ergebnisse der Korpusstudie knapp zusammen: Beide Verben treten sehr häufig als Teil komplexer Prädikate auf (jeweils fast ein Viertel der Belege), und zwar insbesondere im formellsten Kontext der Wissenschaftstexte. Semantisch ist bemerkenswert, dass auch nach Zusammenfassung aller zumindest nicht rein figurativen Lesarten (unter denen viele sind, bei denen die Bewegungsimplikation zumindest nicht im Vordergrund steht) zu einer aggregierten Kategorie bewegung diese Bedeutung bei beiden Verben nur etwa die Hälfte aller nach Abzug der komplexen Prädikate verbleibenden Belege abdeckt. Rechnet man die zahlreichen komplexen Prädikate mit hinzu, die beide Verben bilden, sind die rein abstrakten Bedeutungen sowohl von kommen als auch von gehen mithin klar dominant. Wie erwartet gibt es in dieser Hinsicht allerdings deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Verwendungskontexten. Strukturell ist speziell mit Blick auf die mündlichen Gebräuche festzuhalten, dass verbübergreifend eine Tendenz zu weniger komplexen Argumentrealisierungen besteht als in den schriftlichen Kontexten. Bei gemeinsamer Betrachtung von Form- und Bedeutungsmerkmalen haben sich für beide Verben auf konstruktionaler Ebene verschiedene Muster ermitteln lassen, die distinktiv mit der Mündlichkeit verbunden sind. Verbübergreifend haben sich dabei sowohl einige Ähnlichkeiten zwischen den beiden in Abschnitt 4.1.4 bzw. 4.2.4 detaillierter betrachteten Konstruktionen abgezeichnet als auch Unterschiede in ihren Argumentrealisierungspräferenzen herausgestellt (4.3). Der Befund zur Anzahl realisierter Argumente ist auf den ersten Blick weniger eindeutig als man vielleicht erwartet hätte. Er ist aber auch differenzierter zu interpretieren, als es die Frage nach einem globalen Komplexitätsunterschied nahelegt. Mit einem großzügig ausgelegten Ergänzungsbegriff, der vielfach Arne Zeschel 110 auch modale, lokale und temporale Elemente einschließt, sind zunächst einmal bei beiden Verben in allen Verwendungskontexten Gebräuche mit zwei Ergänzungen dominant. Erst wenn man die weiteren Muster mit hinzunimmt, zeigt sich, dass in der Mündlichkeit typischerweise maximal zwei Ergänzungen verwendet werden, in den (auch konzeptionell) schriftlichen, nicht-interaktiven Gebräuchen dagegen minimal zwei Ergänzungen üblich sind: In den Alltagsgesprächen etwa haben 48% der Belege von kommen und 35% der Belege von gehen nur eine oder gar keine Ergänzung, mehr als zwei Ergänzungen hingegen nur 2% bzw. 8% der Daten. Das Gegenbild zeigt sich bei den Wissenschaftstexten: 35% der Verwendungen von kommen und 27% der Belege von gehen haben drei oder vier Ergänzungen, null oder eine Ergänzung dagegen nur 9% bzw. 8%. Als naheliegende Erklärung dieser Diskrepanz drängt sich die Situiertheit der mündlichen Verwendungen auf. Koch/ Oesterreicher (1985, S. 22) formulieren den zugrunde liegenden Kontrast wie folgt: „Aus der relativen Situationsentbindung und dem dadurch erforderlichen (und möglichen) Planungsaufwand erklärt sich die Kompaktheit, Komplexität und Informationsdichte von distanzsprachlichen Äußerungen (Texten). Diese integrative Elaboriertheit steht im Gegensatz zu der - durch Situationshilfen, etc. ermöglichten - sparsamen oder aber - wegen geringerer Planung und Prozeßhaftigkeit - extensiven, weniger integrierten Versprachlichung im Nähe-Diskurs“. Offensichtliche Beispiele für eine solche „Sparsamkeit“ liefern Ellipse (58) und Analepse (59): (58) FOLK_E_00020_SE_01_T_02, c525 Tischgespräch [M-A] 01 HM aber ich bin ni[ch DA; ] 02 SM [ach SO.] 03 (0.75) 04 SM waRU[M nich. ] 05 HM [kann höchsten]s daNACH kommen; 06 CM hh° 07 HM und DANN essen. 08 hh° °h (59) FOLK_E_00039_SE_01_T_02, c1281 Paargespräch [M-A] 01 (0.91) 02 EL k_hab mich so jeFREUT wie se jesacht hat; 03 (0.2) dass_se ne ne HOCHzeitzeitung macht, Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 111 04 de ((lacht)) 05 NO ((lacht)) 06 EL °h fand ick TOLL. 07 (3.11) 08 NO ((schmatzt)) kommt OOCH in die kiste. (58) und (59) sind in ihrer pragmatisch lizensierten Aussparung des Subjektarguments sicherlich charakteristisch mündlich (vgl. Helmer 2016), und solche Fälle fehlen in keiner einführenden Darstellung zum Thema Verbvalenz, wenn es um die Problematik des Kriteriums der „Weglassbarkeit“ für die Bestimmung „obligatorischer“ Verbergänzungen geht. Die Tendenz zu weniger komplexen Argumentstrukturen in der Mündlichkeit allein auf die Aussparung bestimmter kontextuell gegebener Argumente zurückzuführen, greift jedoch zu kurz. Beispielsweise treten Subjektellipsen oder -analepsen wie (58) und (59) bei kommen in lediglich 2% der Belege aus den Alltagsgesprächen und weniger als 1% der Belege aus den institutionellen Interaktionen auf, bei gehen sind es 3% in Kategorie [M-A] und 4% in Kategorie [M-I]. Woher speist sich der beobachtete Kontrast dann noch? Um das zu klären, ist zum einen eine Beachtung der je konkreten Konstruktionskontexte erforderlich. Die vergleichsweise große Prominenz nullstelliger Treffer für kommen z.B. erklärt sich in erster Linie aus der syntaktisch rekategorisierten Verwendung als Diskurspartikel. Wie in Abschnitt 4.1.3 dargestellt, ist zwar auch dieser charakteristisch mündliche Gebrauch intrinsisch situationsgebunden, basiert aber nicht auf einer „Aussparung“ kontextuell gegebener, dabei jedoch potenziell realisierbarer Argumente. 44 Zum anderen ist bei derart vielschichtigen Explanantien wie dem Begriff der „Situationsbindung“ zu erwarten, dass sich ihre Effekte in mehr als einer Weise zeigen. Nötig ist also eine Betrachtung, die sich - in framesemantischer Begrifflichkeit gesprochen - nicht allein in der Zählung von „definite null instantiations“ 45 eines Frame-Elements erschöpft. 44 Unter Verweis auf die erwähnte Rekategorisierung könnte eingewendet werden, dass entsprechende Belege von komm in der Studie nicht hätten berücksichtigt werden sollen, da es sich dabei eben nicht (länger) um eine verbale Verwendung handelt. Abgesehen davon, dass es sich beim Übergang von imperativischen Gebräuchen zur Partikelverwendung um ein Kontinuum handelt, ist das Ziel unserer Studie aber gerade, auch solche spezialisierten Gebräuche der beiden Lemmata zu identifizieren und ihre Verteilung über die verschiedenen Verwendungskontexte zu untersuchen. Es bietet sich also nicht an, entsprechende Treffer der Suchterme a priori zu entfernen und damit ggf. gerade diejenigen Erscheinungen zu eliminieren, um die es uns vornehmlich geht. 45 „Cases of definite null instantiation are those in which the missing element must be something that is already understood in the linguistic or discourse context“ (Ruppenhofer et al. 2010). Arne Zeschel 112 Neben der Diskurspartikelverwendung rücken damit auch die in den Abschnitten 4.1.4 und 4.2.4 detailliert betrachteten Muster kommen + SUBJ +TMP # folge und gehen +SUBJ # modal in den Blick. So unterschiedlich sowohl ihre zugrundeliegende metaphorische Motivation als auch ihre je spezifischen Funktionen sind, weisen diese Konstruktionen doch eine interessante Parallele auf: Auch sie sind gegenüber „situationsentbundenen“, typisch schriftsprachlichen Verwendungen verknappt, indem sie implizit auf einen kontextuell gegebenen Sachverhaltskomplex verweisen, der nicht bzw. nur sehr ausschnitthaft versprachlicht wird. Realisiert wird jeweils nicht der gesamte thematische Prozess (z.B. ‘jemand kommt als nächster mit einem Wortbeitrag zum Unterrichtsgespräch an die Reihe’, ‘jemand gelangt in einer bestimmten Weise / mit einem bestimmten Verkehrsmittel zur Uni’), sondern lediglich ein einzelnes, aus diesem Zusammenhang herausgegriffenes Frame-Element (jetzt kommt der Scherer, Fahrrad geht schneller). Entsprechende Äußerungen sind notwendig vager als eine voll ausbuchstabierte Explikation, da der Bezug zwischen dem realisierten Argument und der konzeptuellen Bezugsstruktur vom Partner herzustellen ist. Die beiden Konstruktionen lassen sich daher als besonders inferenzlastige Verwendungen der Zielverben kennzeichnen. Wie in Abschnitt 4.1.4 am Beispiel von kommen +SUBJ +TMP # folge dargestellt, können die dabei interpretationsnotwendigen Wissensbestände aus unterschiedlichen Aspekten des Kontexts stammen (sprachlicher Präkontext, geteiltes Weltwissen der Beteiligten, persönlicher common ground und partnerspezifische Interaktionsgeschichte sowie auch rein situative Umstände). Zumindest im Fall von Verwendungen, die entweder auf den sprachlichen Präkontext oder auf als geteilt unterstellbares allgemeines Weltwissen zurückgreifen, sind beide Konstruktionen daher auch „situationsentbunden“ zu verwenden. Tatsächlich treten beide Konstruktionen zwar auch relativ häufiger in der Mündlichkeit auf, sind prinzipiell jedoch in allen fünf Verwendungskontexten belegt. Die in diesem Fall zur Interpretation der Ergebnisse herangezogene stärkere Situationsbindung ist allerdings nur einer der Faktoren, die hinter den insgesamt beobachteten Verteilungsunterschieden stehen. Bei manchen Kontrasten spielen auch stilistische Formalität (gehen +SUBJ # akzeptabilität) oder schlicht inhaltliche Präferenzen bzw. Restriktionen der Verwendungskontexte eine Rolle, zum Beispiel im Zusammenhang mit Tabuthemen (kommen +SUBJ # orgasmus). Allgemeiner formuliert sind neben Erklärungen, die die Konstitutionsbedingungen des Sprechens in Interaktionen insgesamt berühren (wie etwa seine generelle Situationsbindung) natürlich auch solche relevant, die spezifische Merkmale der konkret betrachteten Kommunikationssituationen betreffen. So erklärt sich die Assoziation von gehen +SUBJ # akzeptabilität mit den Gesprächen aus der sicher größeren Prominenz affek- Kommen und gehen im gesprochenen Deutsch 113 tiv aufgeladener Bewertungshandlungen in diesen Kommunikationszusammenhängen als etwa in den Wissenschaftstexten. Ebenso verweist die Prominenz von kommen/ gehen +SUBJ +DIR +TMP # themenwechsel in den institutionellen Gesprächen auf ihre Themengebundenheit, innerhalb derer es häufig eine bestimmte Agenda zu behandelnder Teilthemen gibt. In Abschnitt 4.3 schließlich hat sich gezeigt, dass bei der Interpretation globaler, korpuslinguistisch ermittelter Tendenzen nicht nur bezüglich der Anzahl, sondern auch der Art der realisierten Argumente in der Mündlichkeit dennoch die Spezifika der subsumierten Muster mit im Blick behalten werden müssen. Auszählung und Interpretation der besonderen Subjektrealisierung in der Konstruktion kommen +SUBJ +TMP # folge sind natürlich nur möglich, wenn diese Konstruktion überhaupt als eigenständige Kategorie angesetzt wird und nicht unterschiedslos über alle Belege des Verbs gemeinsam quantifiziert wird. Ohnehin erfordert die Erkundung der charakteristischen Gebrauchsmuster der hier ermittelten verwendungsauffälligen Konstruktionen in der Mündlichkeit einen Wechsel ins Terrain der Interaktionslinguistik: Fragen nach den sozialen Handlungen, die mit bestimmten sprachlichen Ressourcen vollzogen werden können, sowie auch der sequenziellen Einbindung entsprechender Äußerungen in ihren interaktiven Kontext liegen außerhalb der Reichweite traditionell korpuslinguistischer Zugänge, die sich in der Regel mit klarer operationalisierbaren und damit auch leichter quantifizierbaren Merkmalen befassen, die innerhalb sehr eng begrenzter Ausschnitte erfassbar sind. Eine gewinnbringende Verbindung beider Untersuchungsperspektiven ist aber durchaus möglich, wie die exemplarischen Vertiefungsanalysen für kommen und gehen in 4.1.4 und 4.2.4 illustrieren: Im Anschluss an eine explorative Erstannäherung an die Daten ermöglicht eine solche Verbindung die Formulierung hinreichend präziser Verwendungshypothesen zum jeweils ausgewählten Untersuchungsgegenstand, die sich - bei geeigneter Datenlage - in einem dritten Schritt auch inferenzstatistisch an neuen Daten überprüfen ließen. Ein solches Design eröffnet die Möglichkeit, eine datengetriebene, „entdeckende“ Phänomenauswahl mit der gebotenen interaktionslinguistischen Analysesensibilität und Kontextsensitivität zu kombinieren sowie im Anschluss an die Analyse auch Aussagen zur Generalisierbarkeit der erzielten Befunde zu formulieren. Auch wenn der dritte Schritt in dieser Untersuchung ausgespart blieb und es in beiden Forschungstraditionen Vorbehalte gegen eine stärkere Einbeziehung der jeweils anderen Perspektive geben mag, sei als methodisches Fazit dieses Beitrags daher festgehalten, dass die empirische Analyse von Sprache in Interaktion von einer solchen Verbindung unserer Ansicht nach nur profitieren kann. Arne Zeschel 114 Literatur Auer, Peter/ Uhmann, Susanne (1982): Aspekte der konversationellen Organisation von Bewertungen. In: Deutsche Sprache 1, S. 1-32. Barcelona, Antonio (Hg.) (2000): Metaphor and metonymy at the crossroads: a cognitive perspective. Berlin/ New York: de Gruyter Mouton. Bühler, Karl (1999 [1934]): Sprachtheorie: Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart: Lucius und Lucius. Burchardt, Aljoscha/ Erk, Katrin/ Frank, Anette/ Kowalski, Andrea/ Pado, Sebastian/ Pinkal, Manfred (2009): FrameNet for the semantic analysis of German: annotation, representation, and automation. 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NADINE PROSKE ANKÜNDIGUNGEN UND THEMATISIERUNGEN VON THEMEN - WECHSELN MIT KOMMEN UND GEHEN IN INSTITUTIONELLEN UND ÖFFENTLICHEN INTERAKTIONEN 1. Einleitung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Verwendungen von kommen und gehen zur Thematisierung von Themenwechseln in der Interaktion (Dann kommen wir jetzt zu X.). Diese metakommunikativen Verwendungen haben sich im Rahmen der die beiden Verben in Mündlichkeit und Schriftlichkeit vergleichenden Korpusstudie (vgl. Zeschel in diesem Band a, Zeschel/ Proske 2015) als mit institutionellen Interaktionen assoziiert gezeigt. Hier soll nun auf der Grundlage einer erweiterten Datenbasis analysiert werden, in welchen verschiedenen sequenziellen Kontexten sie vorkommen und welche Funktionen sie dort übernehmen. Auf diese Weise kann gezeigt werden, dass die untersuchten Verwendungen von kommen/ gehen mit zu-/ in-/ auf-PP in metaphorischer Bewegungslesart nicht für die Mündlichkeit oder institutionelle Interaktionen als solche spezifisch sind, sondern mit bestimmten kommunikativen Handlungen assoziiert sind, die in thematisch strukturierten Interaktionen häufig wiederkehren. Nach einem Überblick über die formalen und semantischen Eigenschaften des Formats und den entsprechenden Forschungshintergrund (2.) wird die empirische Untersuchung vorgestellt (3.), die neben einigen quantitativen Aspekten vor allem Sequenzanalysen zu typischen Beispielen aus den drei Interaktionstypen umfasst, in denen das Format am häufigsten vorkommt. Es wird gezeigt, dass es in allen zwei Gruppen von Verwendungen gibt: Ankündigungen unmittelbar vollzogener Themenwechsel und Thematisierungen vergangener oder künftiger Themenwechsel. Anschließend werden kurz einige verwandte Formate analysiert und die Möglichkeiten der theoretischen Einordnung des themenwechsel-Formats als Konstruktion oder Social Action Format sowie die Klassifikation der PP als Präpositionalobjekt oder Adverbial diskutiert (4.), bevor auf allgemeine theoretische Implikationen hinsichtlich Metakommunikation, inkrementellem Turn-Aufbau und Preferred Argument Structure eingegangen wird (5.). Nadine Proske 118 2. Themenwechsel mit kommen/ gehen zu/ auf/ in Die Bedeutung der im vorliegenden Beitrag untersuchten metakommunikativen Verwendungen der Bewegungsverben lässt sich folgendermaßen paraphrasieren: ‘Ein oder mehrere kommunikatoren wenden sich (zu einem zeitpunkt) einem neuen thema zu’. 1 In der von Zeschel (in diesem Band a) dargestellten vergleichenden Korpusstudie zu kommen und gehen in Mündlichkeit und Schriftlichkeit hat sich der Frame themenwechsel für beide Verben unabhängig voneinander als mit institutionellen Interaktionen assoziiert gezeigt. Darüber hinaus zeigt sich dort, dass dieser Frame meist mit einem dreiwertigen Argumentrealisierungsmuster einhergeht bzw. dass neben Subjekt und Zieladverbial meist auch noch ein Temporaladverbial realisiert ist. Eine erste qualitative Analyse der in der Stichprobe enthaltenen Belege (vgl. Zeschel/ Proske 2015) hat ergeben, dass dieses Form-Bedeutungsmuster außerdem mit bestimmten sequenziellen Kontexten einhergeht, in denen es jeweils bestimmte weitere wiederkehrende formale Merkmale aufweist: In turninitialer Position werden von Dozenten in Prüfungen durch V1-Formate Aufforderungen zum Themenwechsel produziert bzw. durch V2-Formate Ankündigungen von unmittelbar vollzogenen Themenwechseln vorgenommen, während in turnmedialer Position sowohl von Prüfern als auch von Prüflingen durch V2-Formate Thematisierungen von nicht aktuellen Themenwechseln vorgenommen werden. Um diese vorläufigen Befunde zu untermauern und auf mögliche weitere sequenzielle Kontexte und Interaktionstypen auszuweiten, wurde für den vorliegenden Artikel eine exhaustive grammatische und funktionale Analyse aller in FOLK auffindbaren Belege für das Form-Bedeutungsmuster vorgenommen. 2.1 Grammatisches Format Die formale Realisierung der themenwechsel-Bedeutung umfasst obligatorisch ein Subjekt und ein Direktionaladverbial. Empirisch zeigt sich, dass das Direktionaladverbial meist durch eine PP mit zu, auf oder in als Kopf realisiert wird, auch die entsprechenden Pronominaladverbien kommen vor (darauf, dazu). Welche weiteren Realisierungsformen möglich sind, wird unter 3.2 diskutiert. Dort wird auch darauf eingegangen, welche weiteren formalen Tendenzen es gibt. 1 In welchem Sinne das Thema als neu zu verstehen ist, wird unter 3.3.1.1 gezeigt. Teilweise ist das Thema nicht neu im informationsstrukturellen Sinne von ‘nicht vorerwähnt’, sondern nur aktuell ‘inaktiv’ oder ‘semi-aktiv’ (vgl. Chafe 1994) bzw. zuvor nicht relevant gesetzt. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 119 Die Verbindung des grammatischen Formats mit dem Frame themenwechsel lässt sich vorläufig als Form-Bedeutungsmuster (vgl. die Einleitung zu dieser Bezeichnung) bezeichnen; ob diesem auch Konstruktions- oder Social-Action- Format-Status zukommt, soll unter 4.2 diskutiert werden. Als in Bezug auf diesen Status neutrale Bezeichnung wird im Folgenden ‘themenwechsel-Format’ verwendet. 2.2 Forschungshintergrund Außer den einleitend genannten Arbeiten zu den Befunden der Korpusstudie, die im Rahmen des „Verbkomplemente“-Projekts durchgeführt wurde, gibt es keine Literatur, die sich speziell mit den hier beschriebenen oder vergleichbaren metakommunikativen Verwendungen von kommen und gehen beschäftigt (vgl. aber Proske (2016) zu verschiedenen metaphorischen Verwendungen von kommen und gehen in Prüfungsgesprächen sowie Fandrych (2014) zu Metakommentierungen in wissenschaftlichen Vorträgen, unter denen auch Verwendungen von kommen sind). Die themenwechsel-Lesart wird für kommen immerhin in einigen Wörterbüchern genannt, z.B. im Valenzwörterbuch deutscher Verben (VALBU) (Schumacher et a. 2004, S. 494): ‘jemand beginnt bei einer Veranstaltung oder Darstellung mit etwas [Handlung/ [indirekt abstr. Objekt]]’. Diese Paraphrase ist breiter gefasst als der themenwechsel-Frame, es fallen auch Fälle von Aktivitätswechsel (vgl. 3.4.1) darunter. 2 Für gehen gibt es keine derartigen Angaben, was aufgrund der in den hier untersuchten Daten im Vergleich zu kommen deutlich selteneren einschlägigen Verwendung nicht verwunderlich ist. Eine weitere Erwähnung der Verwendung findet sich bei Di Meola (1994, S. 140, 142f.), der sie unter die metaphorischen Lesarten der zielgerichteten Bewegung subsumiert. Diese Konzeptualisierung als „abstrakte Entwicklung“ beschreibt er wie folgt: „Ein mündlicher Vortrag oder eine schriftliche Abhandlung können als Wegstrecke gesehen werden, die der Redner bzw. der Autor zurücklegt. Die Ankunft an einem Zwischen- oder Endziel wird durch das Verb kommen ausgedrückt.“ (Di Meola 1994, S. 142) Der „planmäßige Übergang von einer Phase zur anderen“ dagegen könne durch gehen ausgedrückt werden (vgl. Di Meola 1994, S. 128). Während für kommen unter den vom Autor angeführten Beispielsätzen auch Korpusbelege sind, die auf eine produktive Kombination mit lexikalisch verschieden gefüllten zu- und auf- 2 Entsprechend divers sind die Beispiele, was die lexikalische Füllung bzw. Semantik des Zieladverbials angeht: [...] wir kommen nun zur Verlosung des Hauptgewinns; [...] und kommen zur Literatur; als der Vorsitzende zum letzten Punkt der Tagesordnung kam, [...]; Im Kapitel [...] kommt die Autorin zum heikelsten Thema (vgl. Schumacher et al. 2004, S. 494). In Wahrig-Buhrfeind (2012, S. 750) findet sich eine auf kommunikative Themenwechsel beschränkte Paraphrase für auf etwas (zu sprechen) kommen: ‘von etwas zu sprechen anfangen’. Nadine Proske 120 PPn schließen lassen, werden für gehen nur die zwei verfestigten Wortverbindungen ins Detail gehen und in die Einzelheiten gehen genannt. Die Arbeit von Di Meola ist außerdem deshalb für die vorliegende Untersuchung relevant, weil er semantische Merkmale herausarbeitet, die sowohl konkrete als auch abstrakte Lesarten von kommen und gehen voneinander unterscheiden und die auch helfen, die Wahl eines der beiden Verben in einer vergleichbaren Lesart bzw. einem vergleichbaren Kontext zu erklären. So sei gehen grundsätzlich durch die Merkmalsausprägungen [+aktiv], [+intentional] und [+unbedingt] gekennzeichnet, bei kommen dagegen seien diese optional - was bedeutet, dass auf eine konkrete oder abstrakte Bewegung, bei der eins der Merkmale einen negativen Wert hat, durch kommen verwiesen werden muss (vgl. Di Meola 1994, S. 63). 3 Die themenwechsel-Lesart von kommen habe aber positive Werte für alle drei Merkmale. Von vergleichbaren abstrakten Lesarten von gehen unterscheide sie sich durch die Merkmalsausprägung [+fokussiert], d.h. durch die gehen fehlende „Endpunktfokussierung“ (vgl. Di Meola 1994, S. 140, 142f.). Schließlich werden für die Analyse auch die komplementären deiktischen Perspektiven der beiden Verben relevant werden. Dabei wird nach Fillmore (1966, 1972, 1973) auch auf deren informationsstrukturelle Konsequenzen eingegangen: Da kommen eine (abstrakte) Bewegung auf das deiktische Zentrum zu ausdrückt, ist für den Beobachter, der sich dort befindet, das Ziel gegeben (d.h. keine neue Information); 4 kommen ist also „ziel-orientiert“ (Fillmore 1972, S. 369). Im Gegensatz dazu ist gehen durch die ausgedrückte (abstrakte) Bewegung vom deiktischen Zentrum weg „quell-orientiert“ oder „neutral“ (ebd.); anders als die Quelle muss das Ziel hier also nicht gegeben sein. 3. Empirische Untersuchung Die Grundlage der Untersuchung bildet wie bei den anderen Studien dieses Bandes das Forschungs- und Lehrkorpus gesprochenes Deutsch (FOLK) (vgl. Schmidt 2014). Genutzt wurde die im April 2016 veröffentlichte Version, die einen Umfang von rund 170 Stunden hat. 3 So liegt z.B. bei den in der Korpusstudie als erlangen und überstehen bezeichneten Frames die Merkmalsausprägung [-unbedingt] vor, d.h. der metaphorische Weg wird als nicht ohne Hindernisse konzeptualisiert: Wie kommt man an Karten für das ausverkaufte Konzert? - Das Auto wird schon noch durch den TÜV kommen. 4 Aus diesem Grund wird bei Bewegungsbedeutung in deiktischer Verwendung auch häufig kein Zieladverbial realisiert (und auch in einigen diskursdeiktischen abstrakten Lesarten, vgl. dazu die von Zeschel (in diesem Band a) diskutierte folge-Konstruktion). Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 121 3.1 Daten Die Belege wurden über die Suchoberfläche der Datenbank für gesprochenes Deutsch (DGD) gewonnen. Gesucht wurde nach dem Lemma kommen mit bestimmten Präpositionen (zu, auf, in, nach) und Pronominaladverbien (dazu, dahin, darauf) im rechten und linken Kontext (mit einem Abstand von bis zu zehn Tokens). Aus den so gefundenen Treffern wurden manuell die tatsächlich das Zielformat enthaltenden Belege herausgefiltert. So ergab sich eine Kollektion von 197 Fällen (aus 151 Belegen mit kommen und 46 Belegen mit gehen). 3.2 Quantitative Tendenzen Die Präposition (der Präpositionalphrase oder des Pronominaladverbs) ist in den meisten Fällen zu (n=135, 69%), auch für beide Verben unabhängig betrachtet. 5 Deutlich seltener kommen auf (n=38, 19%) und in (n=17, 9%) vor, dabei außerdem mit sehr unterschiedlicher Häufigkeit je nach Verb: In Verbindung mit gehen ist in deutlich häufiger als mit kommen, und mit kommen tritt auf häufiger auf als mit gehen. 6 Während die Belege mit gehen fast immer ein lexikalisch realisiertes Direktionaladverbial haben, sind bei kommen auch anaphorische Verweise nicht selten: In 25% der Fälle ist das Direktionaladverbial ein Pronominaladverb (z.B. dazu), eine PP mit pronominaler NP (z.B. zu dem) oder elliptisch realisiert (z.B. komm ich gleich zu); in den meisten Fällen ist aber ebenfalls eine lexikalische NP in die PP eingebettet (n=111). Dies korrespondiert mit dem Ergebnis (vgl. die Analysen unter 3.3.1.1, 3.3.2.1 und 3.3.3.1), dass das themenwechsel-Format mit kommen sowohl retrospektive als auch prospektive Funktionen hat, während es mit gehen auf prospektive Funktionen beschränkt ist. Das Subjekt ist in der großen Mehrheit (96%) 7 der Fälle eins der ersten Person, d.h. wir (57% für beide Verben zusammen) oder ich (29%). Dies verweist auf den fast immer deiktischen und metakommunikativen, auf die aktuelle Interaktion bezogenen Gebrauch des Formats. Entsprechend steht das Verb fast 5 Bei den Belegen mit kommen ist zu in 74% der Fälle (n=111) die Präposition, bei gehen in 52% der Fälle (n=24). 6 Von allen gehen-Belegen haben 35% (n=16) in als Präposition (davon entfallen sechs auf die idiomatischen Wendungen ins Detail/ die Details gehen und in die Einzelheiten gehen), von allen kommen-Belegen nur knapp 1% (n=1). Von den Belegen mit kommen haben dagegen 22% (n=34) auf als Präposition, von den Belegen mit gehen immerhin 9% (n=4). Weitere Präpositionen sind äußerst selten (an: n=3, nach: n=1). 7 Die Belege mit einem Subjekt der ersten Person setzten sich wie folgt zusammen: Sätze mit kommen haben in 54% (n=81) wir als Subjekt, Sätze mit gehen in 67% (n=31) der Fälle. 36% (n= 54) der kommen-Sätze haben ich als Subjekt, in gehen-Sätzen sind es 9% (n=4). Nadine Proske 122 immer im Präsens, wobei temporale Adverbiale (gleich, später) aber teilweise auch einen Verweis auf vergangene oder zukünftige Zeitpunkte der laufenden Interaktion herstellen. 8 Ein Temporaladverbial ist in 77% der Fälle (n=152) vorhanden. Besonders häufig kommen jetzt (n=50) und dann (n=37) vor, 9 wobei bei letzterem zu beachten ist, dass es nicht immer temporal verwendet wird; in einigen der untersuchten Fälle ist es (nur oder zugleich) konklusiv, zeigt also eine Schlussfolgerung an (vgl. 3.3.1.1). 3.3 Sequenzielle Kontexte Die Untersuchung bestätigt die in der Korpusstichprobe zu findende Assoziation des themenwechsel-Formats mit institutionellen Interaktionen: Es kommt im gesamten Korpus FOLK fast ausschließlich in Interaktionen vor, die im institutionellen oder öffentlichen Rahmen stattfinden. Zudem sind es immer Interaktionen, die eine (mehr oder weniger) festgelegte Tagesordnung haben, d.h. in denen es eine vorab bestimmte Menge von Themen gibt, mit deren Bearbeitung alle Beteiligten rechnen können bzw. zu deren Bearbeitung alle verpflichtet sind. Solche Interaktionen haben außerdem oft deutlich voneinander abgegrenzte Themen, anders als Alltagsinteraktionen, in denen ein gradueller Übergang zwischen Themen üblich ist (vgl. Sacks 1995, S. 566 zur ‘stepwise topic transition’). Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Menge der Belege pro Interaktionstyp. Interaktionstyp kommen gehen insgesamt Prüfung 18 (12%) 9 (20%) 27 (14%) Unterricht 12 (8%) 18 (39%) 30 (15%) Schlichtung 96 (64%) 14 (30%) 110 (56%) sonstige 9 25 (16%) 5 (11%) 30 (15%) insgesamt 151 (100%) 46 (100%) 197 (100%) Tab. 1. Vorkommenshäufigkeit des themenwechsel -Formats nach Interaktionstyp 8 Das Format enthält die von Fandrych (2014, S. 98f.) als typisch ausgemachten Bestandteile von Metakommentierungen in wissenschaftlichen Vorträgen (deiktische Elemente - lokale/ temporale und personale -, Sprechhandlungsverben sowie Nennung des Themas). Inwiefern diese Bestandteile auch einer statistischen Überprüfung der Formelhaftigkeit standhalten, untersucht Meißner (2017). 9 Die Zusammensetzung nach Verben getrennt ist folgende: dann - 25-mal mit kommen 12-mal mit gehen, jetzt - 40-mal mit kommen, 10-mal mit gehen. Weitere häufige Temporaladverbien sind noch (19-mal mit kommen, einmal mit gehen), gleich (19-mal mit kommen), nachher (10-mal mit kommen), nun (7-mal mit kommen) und nochmal 11-mal mit kommen, fünfmal mit gehen). 10 Unter den sonstigen machen nur die sprachbiographischen Interviews eine größere Gruppe (zwölf Vorkommen für beide Verben zusammen) aus; weitere Interaktionstypen sind u.a. Arbeitsbesprechungen, Podiumsdiskussionen und eine Radiosendung. Aus nicht-institutionellen Gesprächen stammen nur zwei Belege. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 123 In universitären Prüfungen und in Unterrichtsgesprächen kommt das themenwechsel-Format mit vergleichbarer Häufigkeit vor - jeweils rund 15% aller 197 Belege entfallen auf diese Interaktionstypen. Der größte Teil (56%) stammt jedoch aus den öffentlichen Schlichtungsgesprächen zum Infrastrukturprojekt Stuttgart 21, 11 was zwar teilweise daran liegen mag, dass diese sich durch eine noch größere Dichte an Tagesordnungspunkten und Themen sowie eine größere Menge an beteiligten Sprechern mit langen Turns (bis hin zu Vorträgen) auszeichnen als die institutionellen Interaktionen, zu einem großen Teil aber auch dadurch bedingt ist, dass dieser Interaktionstyp einen größeren Anteil am Korpus ausmacht - FOLK enthält 10,5 Stunden Prüfungsgespräche und 14,5 Stunden Unterrichtsgespräche, die Schlichtungsgespräche machen dagegen 23,5 Stunden aus. 12 Im Folgenden werden die drei Interaktionstypen, in denen das themenwechsel-Format am häufigsten vorkommt, einzeln betrachtet, um zu zeigen, dass das Format nicht an einen bestimmten Sequenztyp gebunden ist, der in allen tagesordnungsgebundenen Interaktionstypen in gleicher Form vorkommt, sondern dass es unterschiedliche sequenzielle Kontexte für das Format gibt, die zudem in den unterschiedlichen Interaktionstypen leicht verschieden ausgeprägt sind - je nach sequenzieller Strukturierung und Beteiligungsrollen der Interagierenden. Was über alle sequenziellen Kontexte und Interaktionstypen hinweg stabil bleibt, ist die kommunikative Aufgabe des Formats: grob gesagt die Thematisierung von die aktuelle Interaktion betreffenden Themenwechseln. Dabei finden sich in allen Interaktionstypen zum einen Fälle, die einen aktuell zugleich vollzogenen Themenwechsel thematisieren bzw. ankündigen, und zum anderen Fälle, die auf vergangene oder künftige, aktuell aufgeschobene Themenwechsel verweisen, wobei zurückliegende Themenwechsel deutlich seltener thematisiert werden. 13 11 FOLK enthält vier ‘Schlichtungsrunden’, das sind vier Tage von insgesamt neun, die stattgefunden haben (vgl. zu den Hintergründen und der Gattungsspezifik der öffentlichen Schlichtungsgespräche zu S21 Reineke 2016, S. 65-75). 12 Erstaunlich ist, dass in den in FOLK enthaltenen immerhin 7,5 Stunden Arbeitsbesprechungen in einer sozialen Einrichtung nur ein Beleg für das themenwechsel-Format vorkommt, obwohl es in diesen Interaktionen Hinweise auf eine schriftlich vorliegende Tagesordnung gibt. Anscheinend werden hier bevorzugt andere Formate für metakommunikative Thematisierungen von Themenwechseln verwendet (vgl. Kreß 2017 zu entsprechenden Verwendungen von machen). 13 In Fandrychs (2013, S. 24f., 2014, S. 102f.) Typologie der Metakommentierungen in wissenschaftlichen Vorträgen gehören die Ankündigungen unmittelbar vollzogener Themenwechsel zur „Qualifizierung von Sprechhandlungen im unmittelbaren Kontext“ und die Thematisierungen künftiger Themenwechsel zu den „Advance Organizers“, die auf die Makrostruktur verweisen. Für beide führt Fandrych Belege mit kommen an. Nadine Proske 124 3.3.1 Universitäre Prüfungsgespräche In universitären Prüfungsgesprächen gestalten sich die zwei Gruppen wiederkehrender sequenzieller Kontexte des themenwechsel-Formats folgendermaßen: Häufig ist die Ankündigung eines Themenwechsels durch den Prüfer, die einer Aufforderung zum Beantworten einer Frage vorausgeht (3.3.1.1). Außerdem finden sich Thematisierungen eines Themenwechsels, der zuvor stattgefunden hat oder der später stattfinden soll, durch den Prüfer oder den Prüfling (3.3.1.2). 3.3.1.1 Ankündigung eines Themenwechsels In den meisten Fällen hat das themenwechsel-Format selbst nicht die Form und Funktion einer Aufforderung zum Antworten bzw. zum Sprechen über das eingeführte Thema, sondern diese ergibt sich aus den immer nachfolgenden näheren Ausführungen zum Thema, die auch konkretes Frage- oder Aufforderungsformat haben können. In Zeschel/ Proske (2015) wird das inhärent auffordernde V1bzw. Adhortativformat (vgl. die Beispiele (1) und (2)) als typisch für das themenwechsel-Format insgesamt dargestellt - dies muss auf der erweiterten Datenbasis relativiert werden: Insgesamt kommt es nur 18mal vor, je neunmal mit kommen (davon zweimal in den Prüfungsgesprächen, einmal in den Unterrichtsgesprächen und dreimal in den Schlichtungsgesprächen), und gehen (einmal in den Prüfungsgesprächen, fünfmal in den Unterrichtsgesprächen und zweimal in den Schlichtungsgesprächen); viel häufiger tritt es in V2-Sätzen auf, auch unter den in diesem Abschnitt behandelten Themenankündigungsfällen (nicht nur bei den Fällen ohne Aufforderungskontext im folgenden Abschnitt 3.3.1.2). 14 (1) gut. kommen wir zur KLAge; sie ham ja schon die- (.) inwiefern kann man sagen dass diese KLAgen, [...] (FOLK_E_00061_SE_01_T_01, c457) (2) GEHen wir dann ma: l, (.) ü über saussure in den prager linGUIStenkreis. °h äh wo haben die alle nun profiTIERT. (FOLK_E_00028_SE_01_T_01_DF_01, c130) Zudem reicht auch ein Adhortativ wie in (1) und (2) allein nicht als Aufforderung zum Sprechen über ein Thema aus, sondern fungiert zunächst als Aufforderung zum mentalen Hinwenden zu einem Thema. Dennoch ist das anschließende Darüber-Reden impliziert, eben weil das themenwechsel-Format 14 Bei Verwendung von wir als Subjekt ist prinzipiell schwer zwischen V1 und V2 sowie Ankündigung und Aufforderung zu trennen, weil dann auch V1-Formaten (Adhortativen und Imperativen) vorangestellt sein kann, vgl.: Kommen wir zum nächsten Thema - Dann kommen wir zum nächsten Thema; Komm bitte zum Schluss - Dann komm bitte zum Schluss. Sätze mit temporalem Adverbial vor dem Verb und mit wir im Mittelfeld wurden hier als V2-Sätze gewertet. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 125 nicht allein stehen bleiben kann, wenn es eine Aufforderung zum Thematisieren ankündigt; es ist eine weitere Präzisierung nötig. Es kommen keine Fälle vor, in denen ein Prüfling bereits nach Produktion des themenwechsel-Formats durch den Prüfer mit seiner Antwort beginnt. 15 Insofern kann man das Format in diesen Kontexten durchaus als projizierend bezeichnen, auch wenn es anders als die üblicherweise als „Projektorkonstruktionen“ (Günthner 2008) bezeichneten Formate syntaktisch und meist auch prosodisch abgeschlossen ist und auch die propositionale Semantik vollständig ist; es ist aber pragmatisch ergänzungsbedürftig. Was die rein formale sequenzielle Einbettung betrifft, unterscheiden sich Themenwechselankündigungen mit kommen nicht von solchen mit gehen. Es lassen sich aber zumindest tendenziell einige semantische und informationsstrukturelle Unterschiede zwischen der Verwendung der beiden Verben in demselben Kontext ausmachen, wie die folgenden Beispiele zeigen werden. In (3) findet sich eine Themenwechselankündigung mit kommen. Das Beispiel stammt aus einem Prüfungsgespräch zum Thema Mariendichtung mit dem Schwerpunkt auf Passionsspielen. (3) FOLK_E_00061_SE_01_T_01_DF_01, c164 01 KW genau. 02 (.) un dann ging das 03 °h ähm mit dem laTEInischen wa: r- 04 so 05 °h dreizehntes bis FÜNFzehntes jahrhundert die blütezeit- 06 und 07 °h zweite: s hälfte vom fünfzehnten bis zum SECHzehnten jahrhundert- 08 °h ging_s dann auch mit den DEUTSCHsprachigen- 09 (0.33) ähm passionsspielen LOS- 10 <<all> und dazwischen gibt_s auch n gewissen> äh gem geMISCHTsprachlichen- 11 °h äh pasSIONSspiele- 12 wie zum beispiel auch MEIN beispiel- 13 dis benedikt[BEUrer; ] 14 GC [ʔm_HM. ] 15 (1.49) 15 Auch in den Unterrichts- und den Schlichtungsgesprächen kommt dies nur sehr vereinzelt vor und ist an die Bedingung geknüpft, dass die genaue Frage bzw. Aufgabenstellung aus dem common ground inferiert werden kann (vgl. Beispiel (15) unter 3.3.3.1). Nadine Proske 126 16 KW das is ja auch ähm zwölfhundertfümmunZWANzig entstanden; 17 un da sieht man auch diese 18 (0.69) das is halt relativ ZEItig noch- 19 aber halt die Ersten ähm dEUtschen 20 °h ähm Ansätze auch (0.34) AUFweist. 21 (1.27) 22 KW genau. 23 (0.26) un 24 (0.21) das: 25 GC dAnn kommen wir zu dem 26 (0.35) zu IHrem <<lachend> [passionsspiel; >] 27 KW [<<lachend> ja.>] 28 GC dem benedikt BEUrer. 29 °h können sie uns kurz den INhalt des passionsspiels skizzieren; 30 KW [ja. ] 31 GC [<<all> und schnell etwas] über> LOkalisierung DAtierung etCEtera sagen. 32 KW °h also an sich is en (0.33) relativ äh KURzes- 33 ähm (0.21) pasSIONSspiel- 34 <<all> also ich hab auch noch andere geSEHN-> Der Ausschnitt beginnt mit dem Ende einer langen, intern strukturierten Antwort 16 der Studentin (KW) auf die allgemeine Frage des Prüfers (GC) nach der (Entstehungs-)Geschichte der Passionsspiele im deutschsprachigen Raum. KW signalisiert nach einer langen Pause (Z. 21) durch genau in Z. 22, dass sie das Thema - oder zumindest das zuletzt behandelte Teilthema ‘zeitliche Einordnung der Sprachen‘ - für abgeschlossen hält, setzt aber nach zunächst ausbleibender Reaktion von GC noch einmal mit und das an (Z. 23-24). In diesem Moment übernimmt jedoch GC den Turn durch einen V2-Satz mit kommen und einem bestimmten Passionsspiel als Zieladverbial (Z. 26 und 28). Dieser fungiert als Ankündigung eines Themenwechsels und vollzieht diesen damit zugleich. Dass KW ihn auch als Aufforderung zum Themenwechsel versteht, zeigt sich darin, dass sie in Überlappung ein Responsiv (Z. 27) produziert, also noch bevor GC die genaue Frage zum neuen Thema (Z. 29 und 31) geäu- 16 Die Ausführungen der Studentin gehen über zwei Minuten und beginnen inhaltlich mit der allgemeinen zeitlichen Einordnung sowie den Gründen für die Entstehung der Passionsspiele und für den Wechsel vom Lateinischen zum Deutschen, bevor sie zur zeitlichen Einordnung des sprachlichen Wechsels kommt. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 127 ßert hat. Erst diese stellt jedoch die eigentliche Aufforderung zum Sprechen über das Thema dar, der KW dann mit ihrer Antwort (ab Z. 32) nachkommt. In diesem Fall findet also durch den Prüfer keine explizite Beendigung des vorausgehenden Themas - z.B. durch eine Partikel wie gut oder hm_hm - statt (vgl. das allgemeine Ablaufschema am Ende dieses Abschnitts). Umso mehr fungiert das themenwechsel-Format nicht nur als Aufforderung, sich einem neuen Thema zuzuwenden, sondern zugleich als Abschluss des vorausgehenden. Das Thema ist außerdem vorerwähnt, die Studentin hat das von ihr als Schwerpunkt gewählte Benedikt-Beurer-Passionsspiel bereits als Beispiel für gemischtsprachliche Passionsspiele angeführt (Z. 12-13) und etwas über seine zeitliche und sprachliche Einordnung gesagt (Z. 16-20). Damit ist sie schon dabei, vom Allgemeinen aufs Spezifischere zu kommen und hat den Wechsel zum nächsten in der Prüfungsgliederung anstehenden Thema bereits vollzogen. Dieser Wechsel muss jedoch vom Prüfer als Leiter des Gesprächs ratifiziert werden. Insofern ermöglicht das themenwechsel-Format nicht nur eine Themensetzung und -einführung, sondern auch die Auswahl unter bereits angesprochenen Themen und die Steuerung der genauen Inhalte. Die Rahmung des vorherigen Themas als abgeschlossen und des neuen Themas als logischer nächster Schritt wird in (3) durch die Verwendung von dann im Vorfeld verstärkt. Deppermann/ Helmer (2013) beschreiben die vorliegende als eine von mehreren Funktionen von turninitialem, konklusivem dann. Durch dieses behandelt ein Sprecher den vorausgehenden Partnerturn oder Inferenzen aus diesem als Protasis (hier sinngemäß: ‘wenn die Frage damit beantwortet ist’ oder auch ‘wenn wir nun schon das nächste Thema angesprochen haben’), zu dem nur die Apodosis bzw. eine Handlungskonsequenz formuliert wird (‘dann kommen wir zu ...’). Zwar wird hier wie bei allen konklusiven dann-Anschlüssen eine unilaterale Inferenz angezeigt, 17 was dem Vorrecht des Prüfers, die Themenwahl vorzugeben, geschuldet ist, die Progression zu einem neuen Handlungs- oder Themenkomplex ist jedoch für den Prüfling erwartbar (wenn auch nicht im genauen Inhalt voraussagbar, vgl. auch Deppermann/ Helmer 2013, S. 27). 18 Die Verwendung von initialem dann tritt gleichermaßen bei themenwechseln mit kommen und gehen auf (vgl. auch das nächste Beispiel, (4)), ist also ein von den weiter unten analysierten Unterschieden der Verben im Hinblick auf die Kohärenz-Anzeige unabhängiges Mittel zur Anzeige von Kohärenz bzw. logischer Handlungsprogression. 17 „d.h., die Inferenz wird als nicht vom Partner gemeint, sondern als subjektiv, einseitig vom Sprecher gezogen, eingeführt.“ (Deppermann/ Helmer 2013, S. 3). 18 „Mit dem dann-Anschluss werden diese folgenden Handlungen so gerahmt, als handele es sich um einen handlungslogisch konsequenten nächsten Schritt, der sich aus dem bis dahin erreichten Stand des Gesprächs ergebe.“ (Deppermann/ Helmer 2013, S. 22) Nadine Proske 128 Beispiel (4) stammt aus einem Prüfungsgespräch zur Didaktik des Deutschunterrichts und zeigt die Verwendung von gehen im themenwechsel-Format. (4) FOLK_E_00038_SE_01_T_01_DF_01, c768 01 BÄ was besagt denn dann die KOGnitive wende; 02 (1.51) 03 BÄ oder was MÖCHte die kognitive wende. 04 (0.69) 05 LM hh° 06 (2.77) 07 LM ((stöhnt)) 08 (7.69) 09 LM ʔm: 10 (1.95) 11 LM ich könnt jetz mir irgendwas AUSdenken, 12 [aber es] wär halt glaub [ich nich ] 13 BÄ [hm; ] 14 [dann gehen wir] vielleicht lieber [zur ] gramMAtikdidaktik, 15 LM [ja: -] 16 (0.47) 17 LM ʔm_HM, 18 BÄ ja. 19 (0.98) 20 BÄ ((schluckt)) 21 °h (0.74) man sAgt ja dass sp 22 <<all> die förderung von> SPRACHbewusstheit ein ganz wichtiges (.) ziel des gramMAtikunterric[hts s]ei, 23 LM [ʔM_m,] 24 BÄ °h was HEIßT denn das, 25 und wozu ist d äh diese sprachbewusstheit eigentlich GUT. 26 (2.16) 27 LM ((schluckt)) ʔm_HM, 28 °h ähm 29 (0.71) na einmal mUss ma 30 (0.29) 31 also kAnn man (.) unterschEIden dass jEder eigentlich n Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 129 32 (0.28) °hh sozusagen n 33 (0.97) im: plizi 34 (0.38) heiß 35 (.) Implizites grammAtisches WISsen hat, Die Prüferin (BÄ) fragt die Studentin (LM) nach einem weiteren Paradigmenwechseln der Deutschdidaktik, der kognitiven Wende (Z. 01) und ihren Zielen, nachdem diese schon auf die vorausgehende Frage nach der kommunikativen Wende sehr zögerlich und vage geantwortet hatte. Nun kann sie gar nicht (Z. 05-12) antworten. In Überlappung mit dem zweiten Teilsatz ihrer entsprechenden metakommunikativen Äußerung „ich könnt jetz mir irgendwas AUSdenken, aber es wär halt glaub ich nich“ (Z. 11-12) beginnt die Prüferin, mit einem V2-Satz mit gehen und dem Zieladverbial „zur gramMAtikdidaktik“ zu einem neuen Thema überzuleiten. Wie im vorigen Beispiel reagiert die Studentin auf diese Ankündigung bzw. diesen Vollzug eines Themenwechsels mit Responsiven (Z. 15 und 17), noch bevor die durch das themenwechsel-Format projizierte Aufforderung zum Antworten von der Prüferin (Z. 21-25) produziert wird. 19 Im Unterschied zum vorigen Beispiel ist das neue Thema hier nicht vorerwähnt und auch kein unmittelbar logischer nächster Punkt im Prüfungsverlauf. Der Ausschnitt stammt aus dem letzten Abschnitt zum zweiten von drei Themenbereichen, die die Studentin für die Prüfung gewählt hat, ‘Mündlichkeit und Schriftlichkeit’. Innerhalb dieses Bereichs sind die zwei von der Prüferin erfragten Paradigmenwechsel miteinander verwandte Themen, die jedoch nichts mit Grammatikdidaktik zu tun haben. 20 Zudem ist das vorherige Thema nicht inhaltlich abgeschlossen, die konditionelle Relevanz der Fragen wurde von der Studentin nur formell erfüllt. Die Prüferin beharrt aber nicht auf einer Antwort und gibt auch keinen Exkurs, mit dem sie die Frage selbst beantwortet, wie es andere Prüfer häufiger tun. Es ist typisch für die von Prüfern vorgenommenen Themenwechsel mit gehen, dass zu einem Thema übergegangen wird, das zwar zu den obligatorischen oder fakultativen ‘Tagesordnungspunkten’ gehört, das sich zum aktuellen 19 Diese responsiven Äußerungen sind aber nicht fester Teil des sequenziellen Musters (vgl. das Schema ganz am Ende dieses Abschnitts); häufig treten sie nicht auf. Sie sind hier aber - anders als beim vergleichbaren Gebrauch durch Lehrer im Unterricht von Schülerseite aus (vgl. 3.3.2.1) - möglich. 20 Die Prüferin bringt mit letzterer sogar ein Thema zur Sprache, das nur indirekt zum aktuellen Themenbereich gehört und auf das die Studentin möglicherweise nicht vorbereitet ist, das der Auffassung der Prüferin zufolge aber zum allgemeinen didaktischen Wissen gehört. Die Prüferin BÄ stellt in allen Prüfungsgesprächen, die FOLK enthält, auch Fragen zu einem von ihr sogenannten ‘allgemeinen Teil’. Nadine Proske 130 Zeitpunkt des Gesprächs aber nicht ‘aufdrängt’, sich also nicht als Unterpunkt oder weiterführender Punkt eines gerade besprochenen Themas als nächster Schritt ergibt. Gehen wird also häufig (aber nicht ausschließlich) im Kontext größerer inhaltlicher Distanzen bis hin zu thematischen Brüchen verwendet. Auch kommen kann solche Wechsel einleiten, wird jedoch häufiger für kohärentere Themenwechsel eingesetzt. Solche umfassen vorerwähnte und ‘aktive’ (vgl. Chafe 1994) Themen wie in (3), aber auch nicht vorerwähnte, die der logischen Progression des Prüfungsgesprächs entsprechen. Vorerwähntheit allein ist also keine notwendige Bedingung für die Verwendung von kommen. Beispiel (5) mit gehen zeigt, dass sie auch keine hinreichende Bedingung ist und nicht einmal die zeitliche Distanz zur letzten Erwähnung ausschlaggebend ist. Entscheidend für die Wahl des Verbs ist die lokale Relevanz des vorerwähnten oder nicht vorerwähnten Themas und die Kohärenz zu vorausgehenden Themen. (5) stammt aus dem ‘allgemeinen Teil’ einer weiteren Deutschdidaktik-Prüfung. (5) FOLK_E_00034_SE_01_T_01_DF_01, 750 01 BÄ ich könnt auch ANders fragen; 02 KS [((lacht kurz)) ] 03 BÄ [worin liegen die] größten SCHWIErigkeiten der schüler beim tExtschreiben häufig. 04 KS °h na zum BEIspiel- 05 ich könnt mir vorstellen schreibANlässe, 06 ähm gramMAtik- 07 äh also AUSdrucks: feh[ler]- 08 BÄ [ te]xtstrukTUR. 09 (0.51) 10 KS ʔm_HM. 11 BÄ °h wir können jetz aber noch zur gramMAtik gehen, 12 wo sie_s eben [erWÄHNten,] 13 KS [((lacht)) ] 14 BÄ ja, 15 °hh welche ZIEle hat denn grammAtikunterricht. 16 (0.81) 17 KS gramMAtikunterricht- 18 jA den öhm 19 (0.67)verMITtlung der- 20 (0.99) der regularitÄten (.) der SCHREIbung. 21 BÄ nein. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 131 Auf die Frage der Prüferin (BÄ) nach den „größten SCHWIErigkeiten der schüler beim tExtschreiben“ (Z. 03) gibt die Studentin (KS) eine durch „ich könnt mir vorstellen“ (Z. 05) als unsicheres Wissen gerahmte Antwort, die aus dem Beginn einer Aufzählung („schreibANlässe, ähm gramMAtik- äh also AUSdrucks: fehler-“, Z. 05-07) 21 besteht, die von der Prüferin durch die korrekte Antwort („textstrukTUR.“, Z. 08) unterbrochen wird. Zu dieser gibt die Studentin eine Rückmeldung („ʔm_HM.“, Z. 10), bevor die Prüferin einen Wechsel zum Thema Grammatik ankündigt (Z. 11). Obwohl dieses kurz zuvor im Rahmen der Aufzählung der Studentin erwähnt worden ist - worauf die Prüferin auch metakommunikativ verweist (Z. 12) -, wird gehen verwendet. Dies ist dennoch mit der These der größeren inhaltlichen Distanz von gehenim Vergleich zu kommen-Themenwechseln kompatibel. Die vorerwähnte Grammatik war gerade keine korrekte Antwort auf die vorausgehende Frage, d.h. eigentlich wäre eine Thematisierung dieser an diesem Punkt des Prüfungsgesprächs nicht vorgesehen und wäre somit auch kein unmittelbar als nächstes zu behandelnder Aspekt gewesen. Die Thematisierung als eigener ‘Tagesordnungspunkt’ - nicht im Rahmen einer bloßen Zwischen- oder Rückfrage - ist überhaupt nur möglich, weil im ‘allgemeinen Teil’ der Prüfung mit Fragen nicht nur zum vom Prüfling gewählten Spezialthema gerechnet werden muss, sondern auch mit solchen zu allgemein wichtigen Gebieten der Deutschdidaktik. Die Prüferin stellt zwar einerseits durch ihre metakommunikative Parenthese Kohärenz zur falschen Antwort der Studentin her, perspektiviert den Themenwechsel durch ihre Wahl von gehen jedoch zugleich als nicht direkt kohärent bzw. als thematischen Bruch, da der Wechsel sich nicht inhaltlich aus dem Vorhergesagten ergibt, sondern nur formal (durch Vorerwähntheit des Wortes Grammatik), so dass der Wechsel intentional angesteuert werden muss. Obwohl kommen und gehen in vergleichbaren sequenziellen Kontexten gebraucht werden, hat ihre Verwendung also unterschiedliche Konsequenzen für die Perspektivierung eines Themenwechsels als kohärent oder nicht kohärent. Diese Perspektivunterschiede werden ermöglicht durch die komplementäre deiktische Perspektive und die dem jeweiligen Verb inhärenten semantischen Merkmale (vgl. 2.2): Kommen ist ‘zielorientiert’, wird also gebraucht, wenn das Ziel bzw. das nächste zu besprechende Thema bereits vorgegeben ist - also nicht einfach gegeben i.S.v. vorerwähnt, sondern von den Interagierenden als inhaltlich logisch folgend verstanden wird. Deshalb kann es auch in Fällen gebraucht werden, in denen eins der semantischen Merkmale 21 Wenn man „äh also AUSdrucks: fehler-“ als Korrektur zu „ähm gramMAtik-“ interpretiert, dann fehlt das notwendige dritte Listenelement (vgl. Jefferson 1990; Selting 2004). Nadine Proske 132 ‘aktiv’, ‘intentional’ und ‘unbedingt’ nicht vorliegt; 22 wenn ein Thema bereits ‘im Raum steht’, ist keine intentionale Auswahl dieses Themas mehr nötig, man ‘bewegt sich’ automatisch auf dieses zu. Die Verwendung von gehen dagegen signalisiert immer eine gezielte Wahl unter Alternativen, weil die Merkmalsausprägung [+intentional] obligatorisch ist. Außerdem ist gehen ‘quellorientiert’, d.h. die Quelle ist im Gegensatz zum Ziel bekannt und die (thematische) Fortbewegung wird von ihr aus perspektiviert, so dass das ‘Verlassen’, bzw. die Beendigung des alten Themas hervorgehoben wird. Damit wird ein stärkerer Bruch zwischen zwei Themen konstruiert, während ein Übergang mit kommen thematische Nähe oder Kohärenz nahelegt (eine aktive Beendigung des alten Themas ist nicht nötig, da der Übergang fließend ist). Deshalb findet man gehen häufiger in Kontexten, in denen ein Thema nicht in präferierter Form beendet wird, wie in den Beispielen, in denen ein Prüfling keine ausreichende Antwort geben kann. Wenn dagegen ein Thema unmittelbar gegeben und relevant ist oder als solches dargestellt werden soll, wird in der Regel kommen verwendet. Das heißt: Zwar sind die Verben im Kontext der Ankündigung eines Themenwechsels (durch eine(n) Prüfer(in)) insofern austauschbar, als beide grammatisch und semantisch interpretierbare Äußerungen erzeugen, die semantischpragmatischen Implikationen sind aber verschieden. Der Sprecher kann durch seine Verbwahl einen Themenwechsel als mehr oder weniger kohärent darstellen. Diese Perspektive muss nicht der Wahrnehmung der anderen Beteiligten entsprechen. Für Ankündigungen eines Themenwechsels mit anschließender Aufforderung zum Antworten in Prüfungsgesprächen lässt sich das folgende grundlegende sequenzielle Muster abstrahieren; der zweite Aspekt (Signalisierung der Beendigung) ist dabei optional: 23 22 Es kann allerdings auch für Fälle, in denen diese Merkmale vorliegen, gebraucht werden, ist also anders als gehen weniger eingeschränkt, weshalb sich auch nicht jede in der Kollektion vorliegende Wahl von kommen allein durch klar vorhersagbare Themenwechsel erklären lässt. 23 Das heißt: Die explizite Signalisierung durch eine Partikel oder metakommunikative Äußerung sowie die implizite Signalisierung durch Abbrüche ist optional. Dass das Thema als beendet behandelbar ist oder behandelt wird, kann sich auch durch noch implizitere Aspekte zeigen (z.B. Schweigen oder Blickverhalten, Gesten und andere nonverbale Mittel) oder aber durch die Progression zum nächsten Thema an sich. Insofern ist nicht die Übereinkunft über die Beendigung optional, sondern die mehr oder weniger explizite Signalisierung. Die Verwendung des themenwechsel-Formats zur Ankündigung bzw. Projektion von Antwortaufforderungen ist vergleichbar mit pre-pres im Sinne Schegloffs (1980). Für die Verwendung zur Thematisierung aufgeschobener Themenwechsel gilt das nicht. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 133 - Ausführungen des Prüfers oder des Prüflings zu einem Thema  Antwort des Prüflings auf eine vorausgehende Frage oder  Exkurs/ Präzisierung des Prüfers zu einer Antwort des Prüflings - Signalisierung der Beendigung des Themas durch  Abschluss anzeigende Partikeln (z.B. gut, okay, genau, so) des Ausfüh- renden (Prüfer oder Prüfling) oder  Hörerrückmeldungen oder Responsive (z.B. ja, gut, genau, okay, hm_ hm) 24 durch den Nicht-Ausführenden (Prüfer oder Prüfling) oder  Abbrüche oder metakommunikative Äußerungen (z.B. kann ich jetz nich antworten) (Prüfer oder Prüfling) - Turnfortführung oder -übernahme durch den Prüfer  Einführung des nächsten (Teil-)Themas durch das themenwechsel- Format (Prüfer) und  weitere Ausführungen zum Thema  Begründung der Themenwahl/ Relevanz und/ oder  Rückbezug zu bereits zum Thema Gesagtem und/ oder  nähere Eingrenzung des Themas und/ (oder)  konkrete Frage zum Thema bzw. Aufforderung zum Antworten In dieser Verwendung ist das themenwechsel-Format also dann turninitial, 25 wenn der Prüfer es in direktem Anschluss an die Antwort eines Prüflings gebraucht. Es kann aber auch turnintern vorkommen, wenn der Prüfer seine eigene Korrektur oder seinen Exkurs abgeschlossen hat dann zum nächsten Thema übergeht. In einer Interaktion mit weniger asymmetrischer Rollenverteilung wäre nach den Ausführungen des Prüfers zum bisherigen Thema eine übergaberelevante Stelle erreicht, so dass bei Wiederübernahme des Turns durch denselben Sprecher das themenwechsel-Format auch als initial gewertet werden könnte. 24 Die eine Ausführung abschließenden, vom selben Sprecher verwendeten Partikeln sind zu einem großen Teil dieselben wie die als Reaktion auf die Ausführung eines anderen verwendeten, da Responsive wie gut, okay, ja oder genau teilweise auch selbstbezüglich verwendet werden. Hm_hm wird in den untersuchten Daten nicht so verwendet, sondern nur responsiv. Die einzige in der Kollektion vorkommende Partikel, die nicht responsiv vewendet wird, sondern nur der ersten Gruppe angehört, ist so. In 47 Fällen, also bei etwa einem Viertel der Belege, geht dem Themenwechsel-Format eine Partikel - desselben oder eines anderen Sprechers - voraus. 25 Turninitial meint hier: als erster Satz bzw. propositionswertige Einheit in einem Turn; es können Partikeln vorausgehen, die dann strenggenommen die eigentlich turninitialen Elemente sind. Nadine Proske 134 3.3.1.2 Thematisierung eines Themenwechsels Während die im vorausgehenden Abschnitt betrachteten Ankündigungen eines dann auch unmittelbar vollzogenen Themenwechsels mit beiden Verben möglich sind, finden sich die in diesem Abschnitt betrachteten Thematisierungen von zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt der laufenden Interaktion stattfindenden Themenwechseln nicht mit gehen, sondern nur mit kommen. Sie sind dagegen vielfältiger, was ihren sequenziellen Kontext und die Realisierungsform des Direktionaladverbials angeht: Anders als die Fälle unter 3.3.1.1 treten sie nicht nur mit lexikalisch realisierten Zieladverbialen auf, sondern auch mit pronominalen, also anaphorischen (und kataphorischen). Da diese sowohl auf den vorausgehenden Turn eines anderen (vgl. (8) unten) als auch auf ein im eigenen Turn genanntes Thema verweisen können (vgl. (9) unten), ergeben sich verschiedene sequenzielle Muster, die hier nicht schematisch aufgelistet werden sollen. Sie sind in den Prüfungsgesprächen jeweils nicht frequent genug, um robuste Aussagen über sie machen zu können; erst zusammen mit vergleichbaren Belegen aus den anderen Interaktionstypen können Aussagen zu wiederkehrenden Aspekten der sequenziellen Muster gemacht werden. Die Verwendungen durch den Prüfer lassen sich grob in drei Gruppen einteilen: a) regulierende, ein Thema aufschiebende Verwendungen (für diese wird hier kein Beispiel gegeben, da sie mit dem Gebrauch durch Lehrer und durch den Schlichter in den S21-Verhandlungen vergleichbar sind, die unter 3.3.2.2 und 3.3.3.2 diskutiert werden), b) eine vorangegangene Thematisierung kommentierende wie in (6) und c) das bisherige Ausbleiben einer Thematisierung kommentierende wie in (7). (6) FOLK_E_00059_SE_01_T_01_DF_01, c737 01 MF °h un das ä: h zeigt sich ja dann auch in: ihren beiden äh bänden dann WIEder; 02 dass sie da so ʔm (.) die identitäten dann DURCHspielt- 03 und auch die geSCHLECHter äh- 04 °h so n bisschen MISCHT manchmal (irgendwie); 05 ja; 06 HN jetz ganz am ende sind sie genau auf dEn begriff geKOMmen- 07 auf den ich so ein bIsschen versucht habe sie zu orienTIERN, 08 °h nämich diese beschäftigung mit geschlechtsidentiTÄten. 09 °h geNAU das isses geWEsen, Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 135 (7) FOLK_E_00033_SE_01_T_01, c388 01 ST man kann subjektive deutungen auch VORnehmen. 02 BÄ hm JA, 03 gibt von daher viel mehr ((schnalzt)) SPIELraum. 04 (1.25) 05 BÄ ʔm_m. 06 (0.41) 07 BÄ °hh (1.05) jetzt h° 08 sind wir auf den kompeTENZbegriff- 09 (0.66) noch GAR nicht- 10 geKOMmen, 11 da müssen wir aber kurz noch HIN? 12 °h der bei spinner is UNklar; 13 das: nehmen wir mal gegeben HIN. 14 (0.27) 15 ST ja; 16 also weil (.) SPINner- 17 (0.33) also was MIR sofort AUFgefallen is; Auf ausführliche Analysen dieser eher seltenen Verwendungen wird hier verzichtet, es soll nur folgende kurze Funktionsbeschreibung gegeben werden: Alle Prüfer-Verwendungen treten wie die unter 3.3.1.1 diskutierten Fälle meist in turninitialer Position auf (oder turnmedial, nach einer thematischen Zäsur). Die eine vorausgehende Thematisierung kommentierende Verwendung in (6) wird als Bewertung der Antwort des Prüflings und zugleich als Account für vorausgehende Prüfer-Fragen eingesetzt. Die negierte Form in (7) dagegen bildet den Vorlauf zu einer Ankündigung eines Themenwechsels, hier durch Modalverb mit Direktionaladverbial realisiert (vgl. Kaiser 2017). Prüfer verwenden das themenwechsel-Format also insgesamt ihrer Rolle entsprechend vor allem zur Steuerung der Redebeiträge des Prüflings und weniger zur internen Strukturierung ihrer eigenen Beiträge. Interessant ist nun, dass kommen zur Thematisierung von zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt der laufenden Interaktion stattfindenden Themenwechseln - anders als die unter 3.3.1.1 diskutierten Ankündigungen - nicht auf Prüfer beschränkt ist, sondern auch von den Prüflingen genutzt wird. Es finden sich im Wesentlichen zwei Verwendungen: a) der responsive Gebrauch, der die Beantwortung einer vom Prüfer gestellten Frage zu einem späteren Nadine Proske 136 Zeitpunkt ankündigt (vgl. (8)) und b) der turninterne Gebrauch, der die spätere Thematisierung eines nur erwähnten Themas ankündigt (vgl. (9)). 26 (8) FOLK_E_00034_SE_01_T_01_DF_01, c50 01 KS unter anderem das in den siebziger jahren etablierte GATtungstheo 02 der GATtungstheoretische ansatz, 03 °h der darauf abzielte die SCHÜler, 04 (0.86) ((schnalzt)) ähm mit den dramAtischen kategoRIEN- ((Auslassung, ca. 1 Sekunde)) 05 verTRAUT zu machen- 06 und DArüber- 07 °h ähm ein ein bewUsstsein für die spezifik des DRAmas zu schaffen. 08 °h [und] 07 BÄ [und] dieser ansatz is jetz überHOLT. 08 (0.92) 09 KS äh ʔ 10 (0.26) nein, 11 <<lachend> KOMM_ich noch zu. > ((lacht)) 12 BÄ ja. 13 (0.25) 14 KS °hh ähm- 15 und zEItgleich stand aber auch immer im RAUM, 16 ob DRAmenunterricht auch die: - 17 lektüre des gAnzen gesAmten dramatischen WERkes immer- 18 °h beinhalten MUSS, (9) FOLK_E_00059_SE_01_T_01_DF_01, c728 01 MF sie hat dann auch mit den geschlechtern geSPIELT; 02 sowOhl in der literaTUR, 03 als auch mit (.) in der realiTÄT- 04 [und hat sich] 05 HN [ich glaube ] jetz wird es präZIser. 26 Auch diese Thematisierungen stellen also Ankündigungen dar. Die hier verwendete Bezeichnungen ‘Ankündigung’ vs. ‘Thematisierung’ sind als verkürzte Verweise auf die ausführlichen Bezeichnungen ‘Ankündigungen unmittelbar vollzogener Themenwechsel’ vs. ‘Thematisierung von für später geplanten Themenwechseln’ zu verstehen. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 137 06 MF ʔH_m. 07 °h also sie hat sich dann 08 °h (.) äh 09 (0.6) <<all> da KOMM_wa bestimmt nachher noch drAUf-> 10 (0.29) äh wie ʔ 11 sehr orienTAlisch gekleidet- 12 zum BEIspiel auch; Die Beispiele (8) und (9) sollen nicht ausführlich sequenziell analysiert werden, es sei aber darauf verwiesen, dass sie in Kontexten vorkommen, in denen der Prüfling aufgrund seiner Vorbereitung und Gliederung zumindest teilweise epistemische Autorität beanspruchen oder zumindest behaupten kann: innerhalb seiner Antworten auf Prüfungsfragen (in (8) nach einer Unterbrechung durch die Prüferin), als Account für das Ausbleiben einer Thematisierung, die der Prüfer erwarten könnte. Zunächst soll ein anderes Beispiel für den Gebrauch des themenwechsel-Formats durch einen Prüfling innerhalb eines Multi-Unit-Turns näher betrachtet werden. Beispiel (10) stammt aus demselben Prüfungsgespräch wie (3) und liegt zeitlich vor diesem. Bevor das von der Studentin (KW) gewählte Spezialthema Passionsspiel, das ein Beispiel für Mariendichtung ist, besprochen wird, fragt der Prüfer (GC) hier zunächst nach einem allgemeinen Überblick über alle Formen von Mariendichtung in deutscher Sprache (Z. 01-03). (10) FOLK_E_00061_SE_01_T_01_DF_01, c104 01 GC °h welche gattungen und formen von mariendichtungen KENnen wir denn im deutsch[sprach ] 02 KW [also ich] 03 GC [in deutscher SPRAche.] 04 KW [ich würde beHAUPten- ] 05 ʔ dass es im prinzip ALle in dEm sinne- 06 also ʔ LYrik, 07 Epik, 08 °h und 09 <<all> al zur dramatik KOMM ich gleich mal-> 10 ʔ beDIENT werden, 11 also in der Epik finden wir dann; 12 °h marienLEben und marienleGENden, 13 GC [ʔm_HM,] 14 KW [ähm ] wohingegen die legEnden da halt sehr viel auf Nadine Proske 138 dieses WUNDderhafte: wErt legen. 15 °h und die lYrik is sozusagen die doMÄne de: r- 16 ähm maRIendichtung, 17 also da finden wir SEHR viele Untergruppen; 18 °h wie die marienGRÜße- 19 mariengeBEte- 20 marienLEICH- 21 °h ä: hm- 22 marienLIEder- 23 marienSPRÜche, 24 (0.21)°h und ähm- 25 (.) zur draMAtik- 26 <<all> was ja dann auch> später mein ähm- 27 (.) speZIALthema <<all> sozusagen sein soll>- 28 finden wir die marienKLAgen- 29 <<all> die an sich jetz natürlich kein dramatisches WERK sin; 30 also s_sin ja auch 31 °h strophenföre förmig und LYrisch; 32 aber man findet sie halt> 33 °h sozusagen in der draMAtik- 34 in dem passiOnsspiel ZUgeordnet. KW beginnt ihre Antwort damit, dass es in allen literarischen Gattungen Mariendichtungen gebe (Z. 04-10). Dabei bleibt die Aufzählung der drei Gattungen zunächst unvollständig: Nach „also ʔ LYrik, Epik, °h und“ folgt der schneller gesprochene Satz „al zur dramatik KOMM ich gleich mal-“, das dritte Listenelement Dramatik wird innerhalb dieses Einschubs realisiert. Hier wird also mithilfe des themenwechsel-Formats mit kommen die Intention expliziert, die Thematisierung dieser Gattung zu einem späteren Zeitpunkt der Interaktion vorzunehmen. Damit liefert KW eine Begründung dafür, warum sie im Anschluss (Z. 11-23) zunächst über Mariendichung in den zuvor genannten Gattungen Lyrik und Epik spricht und strukturiert ihren Turn. Zum Abschluss der Antwort kommt sie dann wie angekündigt auf die der Dramatik zugeordneten Marienklagen zu sprechen (Z. 25-34). Obwohl das Direktionaladverbial hier nicht anaphorisch ist, sondern durch die lexikalisch realisierte PP zur Dramatik ein neuer Referent eingeführt wird, ist der Satz im themenwechsel-Format syntaktisch parenthetisch in den die Aufzählung enthaltenden Satz eingeschoben und auch prosodisch entspre- Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 139 chend parenthetisch gestaltet (vgl. Stoltenburg 2003). 27 Diese parenthetische Gestaltung tritt häufiger bei Verwendungen des themenwechsel-Formats auf, die auf künftige Thematisierungen aktuell nur erwähnter Gegenstände verweisen (vgl. auch (9) sowie (18) unter 3.3.3.2). Die Tatsache, dass solche Verweise auf künftige oder vergangene Themenwechsel - im Gegensatz zu den Verwendungen im Kontext von Aufforderungen zum Themenwechsel - auch von den Prüflingen vorgenommen werden und dass dies immer mit kommen erfolgt, kann folgendermaßen interpretiert werden: Durch die asymmetrische Rollenverteilung sind Prüfer und Prüfling unterschiedliche kommunikative Aufgaben zugewiesen - der Prüfer bestimmt, welcher ‘Tagesordungspunkt’ besprochen wird (meist vor dem Hintergrund einer vom Prüfling vorbereiteten Gliederung), der Prüfling bekommt von ihm das Rederecht zugewiesen und kann die interne Gliederung seiner Redebeiträge bestimmen. 28 Außerdem kann er sich, mit Einschränkungen, auf das vorher vereinbarte Themenspektrum berufen und die Annahme zugrundelegen, dass alle vereinbarten Themen behandelt werden, sofern die Zeit ausreicht, muss aber auch mit Fragen zu über den Rahmen der eigenen Vorbereitungen hinausgehenden Themen rechnen. Das heißt: Die Rolle des Prüfers bedingt zunächst, dass dieser auffordernde Formate verwendet oder dem themenwechsel-Format folgen lässt, die der Prüfling nicht einsetzt; die Wahl zwischen kommen und gehen wird dabei von den unter 3.3.1.1 diskutierten, perspektivierenden Faktoren gesteuert. Die Rolle des Prüflings erlaubt es, dass dieser auf die geplante Strukturierung seiner Redebeiträge sowie auch über den aktuellen Turn hinausgehende beabsichtigte Thematisierungen (die teilweise der Ratifikation durch den Prüfer bedürfen) verweist. Dass dafür nur kommen eingesetzt wird, kann auf zwei Aspekte zurückgeführt werden: Zum einen bezieht sich der Prüfling mit dem themenwechsel-Format meist auf bereits eingeführte und als lokal relevant gesetzte Referenten, die metakommunikativ aufgegriffenen Themen müssen also nicht mehr intentio- 27 Die PP steht dennoch vor dem Verb, d.h. die Reihenfolge von Referenteneinführung und Verweis auf die spätere Thematisierung besteht wie in (8) und (9). 28 Vgl. zur kommunikativen Asymmetrie auch die Arbeit von Meer (1998) zu mündlichen Abschlussprüfungen in der Hochschule: „So wie in der Sekundärliteratur angenommen, gibt es auch im Rahmen meines Korpus keinerlei Hinweise darauf, dass das angeführte Vorrecht von Prüfer/ inne/ n, Themen neu einzuführen bzw. das Thema zu wechseln, ihnen an irgendeiner Stelle von Kadidat/ inne/ n strittig gemacht würde.“ (Meer 1998, S. 36) Der Umgang der Prüfenden mit diesem Recht zeige aber, dass deren Redebeiträge nicht nur aus initiativen, sondern auch aus reaktiven Bestandteilen bestehen (z.B. Verweise auf vom Prüfling Ausgeführtes und auf Motivationen von Thematisierungen). Meer (1998) hebt insgesamt hervor, dass trotz der institutionell bedingten Rollenasymmetrie eine Eins-zu-eins-Zuordnung Prüfer - initiativ, Prüfling - reaktiv nicht gegeben sei. Beide seien an der Gesprächsorganisation beteiligt, auch wenn bestimmte Bereiche dem Prüfer vorbehalten seien wie eben die Themenwahl, die er aber auch gezielt an den Prüfling abgeben kann. Nadine Proske 140 nal angesteuert werden, deshalb kann nur kommen verwendet werden. Zum anderen entspricht es nicht seiner Rolle im Prüfungsgespräch, Wechsel zu nicht kohärent mit dem aktuellen verbundenen Themen innerhalb des eigenen Turns anzukündigen, deshalb finden sich keine Verwendungen von gehen, 29 aber auch keine von kommen in Ankündigungsfunktion. Für Verweise auf nicht aktuell vollzogene Themenwechsel (also ‘Thematisierungen’), kann auch von hierarchiehöheren Beteiligten nur kommen verwendet werden. 3.3.2 Unterrichtsgespräche In Unterrichtsgesprächen finden sich für das themenwechsel-Format mit denen in Prüfungsgesprächen vergleichbare sequenzielle Kontexte, d.h. es kommt im Rahmen von Ankündigungen von Themenwechseln sowie bei Thematisierungen künftiger und vergangener Themenwechsel der laufenden Interaktion vor. Der Unterschied liegt darin, dass das Format nur von den Lehrern verwendet wird. Dies liegt in der noch stärker asymmetrischen Form der Interaktion begründet: Der Lehrer hat die alleinige Entscheidungsmacht über die Themenprogression; entweder er produziert zur Wissensvermittlung lange Beiträge, die er intern nach Belieben strukturieren kann, oder er stellt Fragen und ordnet gegebene Antworten ein. Die Schüler produzieren in der Regel kurze Turns, auch wenn sie in bestimmten Kontexten die Möglichkeit zu längeren Beiträgen hätten oder auch zu Fragen hinsichtlich künftiger oder ausgebliebener Thematisierungen; mit Metakommunikation über die interne Strukturierung ist aber von ihrer Seite nur sehr eingeschränkt zu rechnen. Entsprechend verwenden Schüler das themenwechsel-Format in den vorliegenden Daten nicht. 3.3.2.1 Ankündigung eines Themenwechsels Das sequenzielle Muster entspricht dem unter 3.3.1.1 für die Prüfungsgespräche angeführten. Im Unterschied zu diesen finden sich hier aber keine Rückmeldungen von den Schülern, weder auf die Ausführungen des Lehrers hin noch nach der Ankündigung von Themenwechseln. Außerdem erfolgen Antworten der Schüler erst nach einer Rederechtszuweisung durch die Lehrerin. Beispiel (11) stammt aus einer Unterrichtsstunde in einer Berufsschule. Die Lehrerin (GS) hat den Schülern zuvor zur Gruppenarbeit die Aufgabe gestellt, am Beispiel des Autofahren-Lernens die ‘Ziele einer Unterweisung (eines Auszubildenden)’ in die drei Kategorien ‘kognitive’, ‘psychomotorische’ und 29 Dies ist anders in den Expertenvorträgen in den Schlichtungsgesprächen (vgl. 3.3.3.1) - hier wird auch gehen zur internen Strukturierung von Turns verwendet; diese Redebeiträge sind insgesamt viel länger und umfassen mehr Themen, zudem haben die Redner eine deutlich andere Rolle als die Prüflinge. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 141 ‘affektive’ Fähigkeiten einzuteilen. Die in der Besprechung der Aufgabe abzuhandelnden Themen und ihre Reihenfolge sind also allen Interaktionsteilnehmern bekannt bzw. entsprechen einer vorgegebenen Tagesordnung. Entsprechend verwendet GS kommen im themenwechsel-Format: (11) FOLK_E_00007_SE_01_T_01_DF_01, c793 01 GS bidde herr grauberg 02 FG über die geFAHren muss man bescheid wisse, 03 (0.27) [was pasSIE]re kann- 04 GS [ja, ] 05 ja, 06 es waren die geFAHren, 07 (.) ja; 08 (0.45) 09 GS gut; 10 (1.31) 11 GS kOmmen wir zum (.) PSYchomotorische bereich; 12 (1.94) was haben sie hier geFUNden. 13 (0.81) 14 GS bidde? 15 HM na die fußkoordinaTION braucht ma halt, 16 (.) und so- 17 (0.28) 18 GS richtig; 19 (.) koordination zwischen den beiden FÜßen, 20 NÄMlich- 21 woFÜR, 22 (0.73) 23 HM na zum ANfahre- 24 oder zum BREMse, 25 (0.34) 26 GS Afahre und BREMse; 17 (.) ja, Nachdem GS schon einige Stichpunkte zum kognitiven Bereich gesammelt hat, erteilt sie dem Schüler FG das Wort (Z. 01), dessen Vorschlag (Z. 02-03) sie dann ratifiziert (Z. 04-05, 07) und wiederholt (Z. 06). Nach einer kurzen Pause (Z. 08) signalisiert sie durch gut den potenziellen Abschluss des The- Nadine Proske 142 menbereichs. Nach einer längeren Pause leitet sie dann mit „kOmmen wir zum (.) PSYchomotorische bereich; “ (Z. 11) zum nächsten Themenbereich über und fordert die Schüler zum Mitteilen ihrer Vorschläge auf (Z. 12). Beispiel (12) unterscheidet sich von (11) darin, dass den Schülern nicht vorab bekannt ist, welche Themen im Einzelnen in welcher Reihenfolge besprochen werden sollen, auch wenn die Inhalte zu den Themen selbst ihnen aus bisherigen Unterrichtsstunden oder aus der Fachliteratur bekannt sein sollten. Der Ausschnitt stammt aus einer BWL-Unterrichtsstunde im Wirtschaftsgymnasium. Diese Stunde bzw. die Aufnahme beginnt mit der Frage der Lehrerin (US) danach, was ein Jahresabschluss nach dem Handelsgesetzbuch für eine Kapitalgesellschaft beinhaltet. Nachdem die Schüler nur mit einzelnen Stichwörtern geantwortet haben und die Lehrerin ihre Frage vorerst auf die ‘normalen’ Bestandteile eingegrenzt hat, fragt sie noch einmal mit mehr Nachdruck (Z. 01). (12) FOLK_E_00123_SE_01_T_01_DF_01, c33 01 US wAs gehört zum jahresABschluss; 02 (0.28) 03 MG biLANZ- 04 (0.45) gewinn und verLUSCHDrechnung- 05 (0.22) ANhang- 06 (0.44) plUs (0.24) lagebericht für große kapiTALgesellschaft. 07 US genau. 08 wo der 09 (.) wobei der (.) [FREIwillig isch.] 10 MG [ der lagebericht] gehört NICH zum [jahresabschluss.] 11 US [isch FREIwillig.] 12 genau. 13 (.) so. 14 (0.57) 15 US jEtzt geh_ma zum (.) internationalem ABschluss; 16 (0.47) was gehört zusätzlich NOCH (.) zu dEm, 17 (0.65) 18 US dis problem is ja IMmer, 19 °hh wenn sie sich noch erINnern, h° 20 (0.49) wir haben diesen pe we o JAHresabschluss. 21 (0.91) bei ner gesellschaft die international TÄtig ist- 22 ha_ma zuNÄCHSCHT mal- Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 143 23 (0.2) die pe we o a GE, 24 (0.38) also das betrifft DEUTsches recht, 25 (.) °h und dann ha_ma den pe we o konZERN, 26 °h dis betrifft internationAle RECHnungslegung; Der Schüler MG gibt schließlich eine inhaltlich vollständige Antwort (Z. 03- 10), die US durch genau (Z. 12) bestätigt. Anschließend signalisiert sie durch so (Z. 13) den potenziellen Abschluss eines Aspekts bzw. den potenziellen Übergang zum nächsten Aspekt. Diesen Übergang vollzieht sie nach einer kurzen Pause durch „jEtzt geh_ma zum (.) internationalem ABschluss; “ (Z. 15). Das so neu eingeführte Thema ‘internationaler Abschluss’ ist wie der zuvor besprochene ‘normale Jahresabschluss’ ein Teilaspekt des übergeordneten Themas ‘Jahresabschluss für eine Kapitalgesellschaft’, wie auch ihre anschließende Frage nach den zusätzlichen Bestandteilen des internationalen Abschlusses verdeutlicht (Z. 16). Trotz dieses kohärenten Themenwechsels verwendet US gehen und nicht kommen. Dies lässt sich damit erklären, dass die Aspekte zwar für die Lehrerin kohärent sind, für die Schüler aber nicht bzw. erst im Nachhinein; sie können nicht vorhersagen, welcher Aspekt als nächstes angesprochen werden wird, weil nicht allen die Zusammenhänge genau klar sind; sie kommen nicht automatisch zum nächsten Thema, sie müssen von der Lehrerin zum Dorthingehen aufgefordert werden, und diese perspektiviert ihren Themenwechsel durch die Verbwahl und die Verwendung von wir so, als sei sie selbst auch noch nicht am ‘Ziel’. Für eine Formulierung allein aus ihrer eigenen Perspektive hätte sie auch kommen verwenden können. Grundsätzlich sind die Verben dennoch sowohl hier in (12) als auch in Beispiel (11) austauschbar, die Lehrerin kann durch die Wahl von kommen oder gehen die Perspektive differenzieren: Sie kann von ihrem eigenen aktuellen ‘mentalen Standpunkt’ oder dem der Gruppe ausgehen (d.h. vom Aktivierungsgrad des Themas für verschiedene Teilnehmer) und sie kann die Kohärenz zweier Themen oder ihre inhaltliche Distanz hervorheben. Die Perspektive ergibt sich nicht automatisch aus den besprochenen Gegenständen, sondern wird vom Sprecher gewählt. Auch bei ‘Tagesordnungspunkten’, die allen als solche bewusst sind (z.B. durchnummerierten Teilen einer Aufgabe im Unterricht), finden sich Verwendungen von gehen, wenn die Lehrkraft eine entsprechende Perspektivierung herstellen will. 3.3.2.2 Thematisierung eines Themenwechsels Wie im Prüfungskontext werden auch in Unterrichtsgesprächen Thematisierungen von zurückliegenden oder zukünftigen Themenwechseln nur mit kommen vorgenommen. Wie unter 3.3.2 erläutert, werden sie in den vorliegenden Nadine Proske 144 Daten zudem nur von den Lehrern durchgeführt. Diese verwenden das themenwechsel-Format mit anaphorischem Zieladverbial, sowohl um die Vertiefung von Schülern angesprochener Themen oder Aspekte eines Themas auf einen späteren Zeitpunkt der Interaktion zu verschieben (vgl. (13)) als auch um die Beantwortung von Schülerfragen zu verschieben (vgl. (14)). (13) FOLK_E_00121_SE_01_T_02_DF_01, c18 01 MB ka_ma ebe DEUte damit- 02 der tunnel ebe für die Ewigkeit zum beispiel stehe könnte; 03 [(die WARten kann.)] 04 SM [okay; ] 05 (0.55) gut. 06 (0.49) also; 07 (0.2) da si_ma jetzt dann eben auf der DEUtungsebene, 08 (.) irgendwas reliGIÖses; 09 [gut.] 10 MB [ ge]NAU ja. 11 SM ja; 12 (.) also des 13 (1.69) 14 SM KOMM_a gleich drauf- 15 auf diese DEUtungsebene, 16 aber jetzt bleibe mal noch auf der SACHebene also. 17 (0.5) 18 SM okay; 19 (.) der schAffner is dann so der Erste der AU mal sagt; 20 (.) na JA, 21 gut, 22 (.) schon KOmisch- 23 (.) ne? (14) FOLK_E_00008_SE_01_T_01_DF_01, c569 01 LB für die diagnOsenprüfung wird_s dann eben Etwas kompliZIERter. 02 (0.21) 03 ML [isch hab no ne frage] speziell zu der ZÜNDspule hier, 04 LB [herr lengefeld ] 05 ML wa[rum] hat die vier ANschlüsse? 06 LB [ja.] Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 145 07 (0.24)°hh ((schmatzt)) ja; 08 (.) da komm_a NACHher drauf- 09 d ʔ äh wenn sie ihre frage etwas zuRÜCKstellen. 10 (0.25) °h isch ne gUte FRAge, 11 °hh dis hat einfach mit der diaGNOse zu tun; 12 (0.22) kucke ma uns nachher mal AN dann. 13 ML ach SO. 14 LB ja? Neben der Verschiebung, die der Einhaltung einer vom Lehrer festgelegten Themenabfolge geschuldet ist, dient das themenwechsel-Format hier auch dazu, das verschobene Thema als relevant zu markieren. Dies zeigt sich auch darin, dass teilweise vom Lehrer eine zusätzliche metakommunikative Relevanzmarkierung (vgl. (14), Z. 10) oder ein Account für den Aufschub geben wird (vgl. (14), Z. 11-14). Vergleichbare Verwendungen gibt es auch in Prüfungsgesprächen (durch Prüfer und Prüfling). 3.3.3 Öffentliche Schlichtungsgespräche Obwohl in den öffentlichen Schlichtungsgesprächen eine vollkommen andere Beteiligungsstruktur vorliegt als in einer Prüfung oder im Unterricht (vgl. Reineke 2016, S. 68-74), lässt sich auch hier auf die Unterteilung der themenwechsel-Belege in solche, die einen aktuellen Themenwechsel ankündigen, und solche, die einen nicht unmittelbar stattfindenden Themenwechsel thematisieren, zurückgreifen. Innerhalb dieser beiden Kategorien ist hier aber die Vielfalt größer als in den anderen beiden Interaktionstypen, wie die folgenden Abschnitte zeigen werden. 3.3.3.1 Ankündigung eines Themenwechsels Ankündigungen von Themenwechseln produzieren im Rahmen der Schlichtungsverhandlungen sowohl die einzelnen Redner (Befürworter und Gegner sowie die geladenen Sachverständigen) als auch der Schlichter Heiner Geißler. Der Schlichter hat insofern eine mit der Rolle der Prüfer und Lehrer vergleichbare Rolle, als er für die Rederechtsvergabe und die Einhaltung der Tagesordnung verantwortlich ist. Außerdem ist es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Befürworter und Gegner von Stuttgart 21 gleichermaßen ihre Argumente vortragen können, und dafür, dass die Diskussion auch für die am Fernseher zuschauende Öffentlichkeit verständlich ist. All dies gibt ihm - auch ohne selbst die epistemische Autorität über alle Themen zu haben - mehr Rechte als den anderen Beteiligten, festzulegen, ob und wann ein The- Nadine Proske 146 menwechsel stattfinden kann oder soll. Die Wahl zwischen kommen und gehen im themenwechsel-Format ergibt sich dabei aus den unter 2.2 beschriebenen semantischen und pragmatischen Faktoren. In Beispiel (15) werden Folien mit Thesen des S21-Gegners Klaus Arnoldi (Vorstandsmitglied des Verkehrsclubs Deutschland) durchgesprochen. Der Schlichter liest die Thesen vor und verweist darauf, wenn der Punkt bereits diskutiert wurde und als unbestritten gelten kann. Ist dies nicht der Fall, bittet er um Stellungnahmen des Bahnvorstandes und der Sachverständigen. (15) FOLK_E_00068_SE_01_T_09_DF_01, c700 01 HG dann; 02 (.) ähm des tunnelgebirge ermöglicht bereits HEUte- 03 °h (.) äh z kreuzungsfreie zufahrt zum KOPFbahnhof, 04 null ACHT- 05 XW welche? 06 XM acht. 07 HG [(des ka_ma) ] 08 VK [°hh na ja des] gilt 09 (.) das gilt nur EINgeschränkt- 10 wie wir beim letzten mal ja DARgestellt haben. 11 (0.79) 12 KA ja. 13 (2.13) 14 KA das is korREKT, 15 und wir müssen es erWEItern- 16 damit es die funktionalität hat die wir VORschlagen. 17 (0.23) 18 VK genau. 19 (0.61) 20 XM gut. 21 (0.59) 22 HG okay. 23 (0.68) 24 HG also_s wird AUch nich beSTRITten- 25 °h dann ko_ma (.) zur erTÜCHtigung- 26 also äh verbesserung des KOPFbahnhofes, 27 (.) °h dis die folie null NEUN, 28 (1.37) Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 147 29 HG HAM_a die? 30 (1.17) 31 LF ja. 32 XW ja. 33 (0.97) 34 HG vereinfachte GLEISplan des modernisi 35 (.) des mOdernisierten KOPFbahnhofs- 36 (1.24) 37 FL herr doktor GEIßler- 38 da hätte i 39 (0.28) [ICH eine anmerkung,] 40 HG [ wie viel GLEISg]ruppen- 41 (0.45) wEr möchte (.) etwas dazu SAgen, 42 (0.39) Nachdem eine These (Z. 02-03) übereinstimmend von Volker Kefer (VK) und Klaus Arnoldi (KA) als mit Einschränkungen zutreffend bewertet worden ist, schließt Heiner Geißler (HG) das Thema mit einem Responsiv (Z. 22) und einem metakommunikativen Kommentar (Z. 24) ab und leitet mit dem themenwechsel-Format (Z. 25-26) zum nächsten Thema über. Bevor er zu Wortmeldungen zu diesem Thema auffordert (Z. 48), folgt ein Verweis auf die Nummer der Folie, auf der die These zu finden ist, (Z. 27) sowie eine Präzisierung des Themas (Z. 34-35, 40). Außerdem ergreift Florian Bitzer (FL) unaufgefordert frühzeitig das Wort (Z. 37-39). Hier zeigt sich, dass in Situationen, in denen der sequenzielle Ablauf sicher vorausgesagt werden kann (hier aufgrund der sich wiederholenden Struktur), die Einlösung der Projektion des themenwechsel-Formats nicht abgewartet werden muss (auch wenn die Unterbrechung nicht den Höflichkeitsregeln entsprechen mag): FL weiß, dass sich an die Themennennung die Frage nach Wortmeldungen anschließen wird - und nicht etwa eine speziellere Frage, zu deren Beantwortung er sich nicht aufgefordert fühlen würde. Außerdem zeigt sich darin, dass die Rollenverteilung weniger asymmetrisch ist als in Lehr-Lern-Kontexten; die Diskussionsbeteiligten nehmen sich aufgrund ihrer epistemischen Autorität zu bestimmten Themen und der kompetitiven Konstellation deutlich mehr Rechte heraus als Prüflinge oder Schüler. Dass HG hier kommen zur Einführung des neuen Themas wählt, perspektiviert das eingeführte Thema als logischen nächsten Schritt. Dass alle Beteiligten mit diesem Schritt rechnen dürften, ergibt sich aus dem aktuell sehr schematischen, an der Gliederung der Folien ausgerichteten Ablauf, und daraus, dass alle Redner das vorausgehende Thema als abgeschlossen markiert haben Nadine Proske 148 (Z. 25-29). Im Gegensatz dazu initiiert der Schlichter in (16) mit gehen einen Themenwechsel, der - zumindest seiner Auffassung nach - nicht der Agenda des aktuellen Redners Hannes Rockenbauch (HR) entspricht. (16) FOLK_E_00070_SE_01_T_11_DF_01, c198 01 HR °h die vier milliarden von drees un SOMmer, 02 (0.55) da WAR ich grade, 03 °h da hatten sie mich unterBROchen, 04 °h die vIEr milliarden von drees und SOMmer, 05 °h sind nach DEN zahlen- 06 °h die die bAhn a ge den wirtschaftsbegrüfern gegeben ham plauSIbel; 07 dis wUndert mich natürlich NICHT; 08 ich hätte dis geNAUso gemacht. 09 °h jetzt ko_mer aber zu nem entscheidenden WEIteren punkt, 10 °h un des sind jetzt die g EINsparpotenziale. 11 (.) un dA is es DEUTlicher, 12 weil DA ham die wirtschaftsprüfer- 13 °h einDEUtigere aussagen gemacht. 14 °h da MUSS man jetzt- 15 und dis ham 16 (0.44) dis is jetz gra hat grad STATTgefunden, 17 an einzelnen BEIspielen, 18 °h das GRUNDfazit s davon AUSgehn, 19 °h dass die EINsparpotenziale die sie dort erzIEln, 20 (.) als optiMIStisch angesehen [werden.] 21 HG [ ja]: . 22 [is do] alles KLAR. 23 HR [also ] 24 HR so. 25 °h jetz 26 (0.54) 27 HG dis is Alles KLAR. 28 °h <<all> also dann> gEh_ma jetz doch mal zu den EINsparpoten[zialen, ] 29 HR [<<all> ja da BIN ich doch>] grade [herr geißler.] 30 HG [im ein ] 31 im EINzelnen- Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 149 32 geh_ma die jetz mal DURCH. 33 °h nich, 34 ob bei dem AUSbruch oder wie dis heißt- 35 [nich W]AHR- 36 HR [des ] 37 HG dieses ein [EINsparpotenzial gibt; ] 38 HR [des SPANnnende is aber herr g]eißler- 39 <<all> lassen sie mi_noch DEN satz sAgen; > 40 °h bei den einsparz muss man erst mal die systeMAtik diskutiern. 41 °h weil was hier EIgentlich geschieht- 42 un dis des entSCHEIdende, 43 °hh man (0.25) tut hier (.) chancen plötzlich beWERten und verRECHnen; 44 (0.23)°h un DAzu, 45 zu dEm ob das ÜBlich is oder nIch, 46 °h wär_s vielleicht hIlfreich wenn der herr BÖTTger mal was sagen würde, 47 °h ob dieses verfAhren wie es hier die BAHN macht, 48 °h ob des eigentlich äh normal betriebswirtschaftlich SINNvoll is. 49 (0.31) 50 HG °h äh zunächst hat der herr KEfer des wort. 51 der is nämich mehrfach ANgesprochen? 52 °h und wer soll dann was SAgen, Der in Z. 01 beginnende Turn von HR ist Teil einer längeren Kritik am Umgang der Deutschen Bahn mit der Wirtschaflichkeitsprüfung für den geplanten Bahnhof. Als er auf die in der Diskussion bereits gemachte Feststellung, dass die von der Bahn angegebenen Einsparpotenziale von den Wirtschaftsprüfern als ‘optimistisch’ eingestuft werden, zu sprechen kommt (Z. 18-20), unterbricht ihn HG mit (das) ist (doch) alles klar (Z. 22 und 27) und fordert zum Thematisieren der Einsparpotenziale auf (Z. 28). Auf HRs Widerspruch hin, dass er diese gerade schon thematisiere („<<all> ja da BIN ich doch> grade herr geißler., Z. 29), präzisiert HG das angesteuerte Thema durch „im EINzelnen-“ (Z. 31), fordert zum Durchsprechen der einzelnen Potenziale auf (Z. 32) und formuliert eine konkrete Frage dazu (Z. 34-37). Die Verwendung von gehen verweist darauf, dass das Thema, zu dem HG wechseln möchte, beim Interaktionspartner nicht als das, was anschließend vertieft werden soll, vorausgesetzt werden kann. Wie auch aus dem weiteren Verlauf deutlich wird, Nadine Proske 150 möchte HR die Systematik der Berechnung der Einsparpotenziale diskutieren (Z. 40), was nicht HGs Absicht der Thematisierung des Einsparpotenzials einzelner Posten entspricht. Trotz des sich in der Verbwahl zeigenden Themenwechsel-Vorrechts des Schlichters zeigt sich am vorliegenden Beispiel auch ein Unterschied zu Lehr-Lern-Interaktionen: Der Diskutant kann den Themenwechsel ohne Sanktionen umgehen, indem er die Relevanz (entscheidend, Z. 42; hilfreich, Z. 46) seines eigenen Themas betont und eine Frage an die Sachverständigen richtet (Z. 46-48). Der Schlichter kommt seiner Pflicht, zum Beantworten von Fragen aufzufordern, nach (Z. 50-52) und beharrt (vorerst) nicht auf dem intendierten Themenwechsel. Der gerade analysierte Ausschnitt enthält auch eine Verwendung des themenwechsel-Formats durch den Diskutanten (Z. 09). Anders als Prüflinge und Schüler verwenden sowohl Sachverständige als auch politische Gegner und Befürworter von S21 das Format häufig turnintern zur Strukturierung ihres Vortrags oder ihrer Argumentation. Die Wahl zwischen kommen und gehen lässt sich wie in allen anderen Fällen durch die Wahl der Perspektive auf die lokale Relevanz und Gegebenheit des Themas, zu dem gewechselt wird, erklären. In (16) stellt HR durch die Verwendung von kommen den „WEIteren punkt, [...] die EINsparpotenziale.“ als naheliegendes, sich kohärent aus dem vorausgehenden Punkt ergebendes nächstes (Sub-)Thema dar. Er bezieht zudem das vorausgehende Thema („die vier milliarden von drees un SOMmer,“, Z. 01) und das angesteuerte Thema auf einen gemeinsamen Nenner - die Beurteilung durch die Wirtschaftsprüfer (Z. 12-13). In (17) dagegen wird gehen zum Wechsel zu einem Thema verwendet, das zwar auch in einem Zusammenhang zu den vorher besprochenen Themen steht, vom Redner aber als unabhängiger Komplex perspektiviert wird. (17) FOLK_E_00068_SE_01_T_07_DF_01, c161 01 FL °h das ganze geht dann einher mit umfassenden LÄRMschutzmaßnahmen- 02 die dann erFORderlich wärn, 03 °h wir ham dann hier im bereich FEUerbach- 04 °h LÄRMschutzwände- 05 die berühmten LÄRMschutzwände in der höhe von fünf (0.25) bis sechs (0.32) MEtern. 06 (0.23) 07 FL °h (0.33) DAS wie gesagt alles zu den punkten die herr arnoldi heut morgen NICHT ausgeführt hat; 08 (.) wir warn jetz eigentlich nur bei der saNIErung, 09 °hh und bei dem (.) AUSbau der ZUlaufgleise aus NORden. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 151 10 (0.2)°h jetzt gehn wir zu den ZUlaufgleisen- 11 (.) den nEUen zUsätzlich nach bad CANNstatt. 12 (0.25) 13 FL °h dies ist AUCH in der folie drin von herrn arNOLdi, 14 (0.32) nämlich der zweite ROsensteintunnel der zu bauen is- 15 °h quasi aus dem vorhandenen gleisfeld RAUS, 16 °h unter dem ROsensteinpark, 17 (0.21) °h daran schließt sich AN eine (0.43) weitere (.) brücke über den NECkar. Der als Experte geladene S21-Befürworter Florian Bitzer nimmt hier Stellung zu einigen Vorschlägen der Gegner. Er schildert die Folgen, die die Umsetzung der Vorschläge hätte, u.a. seien Lärmschutzmaßnahmen notwendig (Z. 01-05). Den Aspekt der Folgen schließt er in Z. 07 ab, indem er erneut darauf verweist, dass diese von Klaus Arnoldi nicht angesprochen worden sind. Anschließend wiederholt er den Themenkomplex, zu dem die Vorschläge und ihre Folgen gehören („saNIErung, [...] und [...] AUSbau der ZUlaufgleise aus NORden.“, Z. 08-09) und grenzt ihn von einem weiterführenden Themenkomplex ab, indem er diesen mit dem themenwechsel-Format mit gehen einführt („zu den ZUlaufgleisen- (.) den nEUen zUsätzlich nach bad CANNstatt.“, Z. 10-11). Danach schildert er den Vorschlag der Gegner zu diesem Komplex (Z. 13-17). Die Verbwahl betont hier vor allem die Abgeschlossenheit des vorausgehenden Themenkomplexes und die eigenständige Relevanz des neuen, der (an den hier gezeigten Ausschnitt anschließend) ebenso ausführlich dargelegt wird; grundsätzlich wäre aber auch kommen einsetzbar, zumal das Thema, zu dem gewechselt wird, bereits vor Bitzers Ausführungen vom Schlichter genannt und relevant gesetzt worden ist. Das sequenzielle Schema für die turninternen, nicht auffordernden Fälle (vgl. 16), Z. 09 und (17)) lässt sich grob folgendermaßen zusammenfassen: - Ausführungen zu einem Thema - (optional) Abschluss signalisierende Partikeln und/ oder metakommunikative Äußerung - Einführung des nächsten (Teil-)Themas durch das themenwechsel-Format - Ausführungen zum neuen Thema, oft einschließlich  Begründung der Themenwahl/ Relevanz und/ oder  Rückbezug zu bereits zum Thema Gesagtem und/ oder  näherer Eingrenzung des Themas Nadine Proske 152 3.3.3.2 Thematisierung eines Themenwechsels Sowohl turninterne als auch turninitale Verwendungen des themenwechsel- Formats zur Thematisierung vergangener oder zukünftiger Themenwechsel spielen in den Schlichtungsgespächen eine ebenso große Rolle wie die Verwendungen unter 3.3.3.1. Wie in den anderen Interaktionstypen sind Thematisierungen (nicht) erfolgter Themenwechsel deutlich seltener als Thematisierungen noch kommender Themenwechsel; deshalb wird auch hier der Fokus auf letzteren liegen. Da turninterne Thematisierungen zukünftiger Themenwechsel in den Schlichtungsgesprächen im Wesentlichen genauso funktionieren wie innerhalb der Redebeiträge der Prüflinge unter 3.3.1.2, soll hier nur knapp auf ein Beispiel eingegangen werden. In (18) beantwortet der Ingenieur Walter Lächler (WL) eine Frage von Klaus Arnoldi (KA) danach, was bautechnisch genau geschehen muss, wenn der Bahnhof um zwei Gleise erweitert werden soll (Z. 01-04). (18) FOLK_E_00069_SE_01_T_05_DF_01, c315 01 KA °h jetz meine FRAge dazu. 02 (.) °h was müssten sie BAUtechnisch tun, 03 °h wenn sie jetz diesen bAhnhof um zwei weitere gleise erWEItren wollten; 04 was müsste man bAUtechnisch dann unterNEHmen. 05 (0.21) 06 WL dann würde man nämich genau des GLEIche machen, 07 wieder wie JETZT, 08 °h man würde daneben ne b 09 <<all> da komm ich aber nachher DRAUF auf die baugrube,> 10 man würde ne zweite BAUgrube bauen, 11 °h man würde in der zweiten baugrube das wasser ABsenken, 12 °h man würde dAs wasser das für die umläufigkeit da isch provisorisch FASsen, 13 und auf die andere SEIte bringen, 14 °h würde den bahnhof HERstellen, 15 °h genau mit den gleichen eleMENten, 16 (.) und des spiel wäre zu ENde. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 153 WL beginnt seine Antwort damit, dass man in diesem Fall dasselbe tun würde wie jetzt auch (Z. 06-07). Die anschließende Präzisierung „°h man würde daneben ne b“ (Z. 08) unterbricht er für den parenthetischen Einschub „da komm ich aber nachher DRAUF auf die baugrube,“ (Z. 09), innerhalb dessen er als Zieladverbial von kommen den neuen, zumindest an dieser Stelle nicht direkt erwartbaren Referenten Baugrube einführt, dessen erster Laut im vorausgehenden Satz vor dem Abbruch bereits realisiert worden ist und der so behandelt wird als sei er dadurch schon eingeführt worden. Anschließend kehrt er mit „man würde ne zweite BAUgrube bauen,“ (Z. 10) zu seiner Formulierung zurück und erläutert schließlich kurz die anschließenden Baumaßnahmen (Z. 11-16). 30 Das themenwechsel-Format dient hier dazu, die Thematisierung des neu eingeführten Referenten auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben (und diesen damit für die aktuellen Ausführungen in den Hintergrund zu rücken) und so auch die anschließende Kürze der Ausführungen zu rechtfertigen. Etwa fünf Minuten später löst WL seine Ankündigung ein und erläutert im Rahmen seines Vortrags die Herstellung der Baugrube detailliert (vgl. (19), Z. 10-15 und darüber hinaus), gerahmt durch eine Reaktivierung des Referenten im ankündigenden themenwechsel-Format (Z. 07). Die Verwendung entspricht dem unter 3.3.3.1 aufgeführten Schema und braucht hier nicht im Einzelnen analysiert zu werden. Es sei jedoch darauf verwiesen, dass die Verbwahl zur vorausgehenden Thematisierung der Baugrube passt: Durch die Verwendung von kommen perspektiviert WL das Thema sowohl als kohärenten nächsten Punkt seiner Ausführungen als auch als von den Zuhörern erwarteten Punkt. 31 (19) FOLK_E_00069_SE_01_T_05_DF_01, c414 01 WL da hatt ich ihnen erLÄUtert, 02 °h dass selbst für diesen katastrophenfall NACHgewiesen wurde- 03 °h dass die auftriebssicherheit des bahnhofs geGEben ist, 04 °h dass wir also nIcht beFÜRCHten müssen- 05 °h dass uns irgendwann der bahnhof AUFschwimmt. 06 (0.55) 07 WL °hhh (0.3) jetzt komm ich [zu der herstell]ung der BAUgrube, 08 HG [okay. ] 30 Der definite Artikel in Z. 09 verweist vermutlich darauf, dass das Konzept ‘Baugrube’ für den Sprecher aufgrund der Agenda seines späteren Vortrags erwartbar ist, für die Zuhörer führt er es jedoch zweimal (Z. 08 und 10) mit einem indefiniten Artikel und somit nicht erwartbar ein. 31 Aufgrund der häufiger turninternen, nicht auffordernden Verwendung des ankündigenden themenwechsel-Formats in den Schlichtungsgesprächen kommt in diesen, wie hier in (19), Z. 07, häufiger als in den anderen Interaktionstypen ich statt wir als Subjekt vor. Nadine Proske 154 09 (0.29) 10 WL um ihnen 11 (0.42) und äh insbesondere auch den zuschauern natürlich einmal zu zEIgen was wirklich dort geMACHT wird, 12 °h ich hab da eine °h FOlie gemacht, 13 die einmal a als SCHEmaskizze, 15 die einmal (.) ihnen die verhältnisse ZEIGT- Turninitiale Verwendungen zur Thematisierung künftiger Themenwechsel kommen zum einen wie in den anderen Interaktionstypen als Reaktion auf Fragen vor (vgl. 3.3.1.2). Zum anderen nutzt der Schlichter das themenwechsel-Format wiederholt, um der Tagesordnung zufolge verfrühte Thematisierungen zu beenden bzw. zur Rückkehr zum eigentlichen aktuellen Thema zu ermahnen. Dem Ausschnitt in (20) ging eine komplexe Diskussion voraus, die hier nur verkürzt dargestellt werden kann. Insgesamt geht es darum, inwiefern die geplante Neubaustrecke Wendlingen-Ulm dazu beitragen kann, Fahrgäste für die Bahn zu gewinnen, die sonst mit dem PKW oder dem Flugzeug reisen würden. Der hier gezeigte Ausschnitt des Redebeitrags von Hannes Rockenbauch (HR) richtet sich gegen die Annahme, dass es eine positive Verlagerung auf den Schienenverkehr bringen würde, wenn durch die Neubaustrecke zwei Millionen Fahrgäste hinzukommen, die zum Flughafen wollen (Z. 01-14). 32 (20) FOLK_E_00064_SE_01_T_09_DF_01, c391 01 HR und dann jubeln se uns bitte nicht immer wieder im konsensversuch UNter- 02 dass des was für den FLUGverkehr bringen würden; 03 des ham wir ihnen jetzt NACHgewiesen- 04 und es zählt immer no 05 steht immer noch die zahl von herrn FUNdel, 06 °h hier, 07 °h dass durch das (.) produkt (.) stuttgart einundZWANzig, 08 und neubaustrecke eins komma zwei millionen mehr FLUGgäste da sind. 09 °h [dann kann des doch kein ] 32 HR spricht von Fluggästen (Z. 08 und 12), HG von Fahrgästen (Z. 33), dies bezieht sich aber auf die gleiche Personengruppe: hinzukommende Bahnfahrgäste, die (ohnehin oder weil die neue Bahnstrecke zur Verfügung stünde) zum Flughafen wollen. Kontrovers ist, ob dies im Gesamtvergleich der Menge der Bahnfahrer und Fluggäste einen Zugewinn an Bahnkunden bzw. eine Verlagerung vom Flug- und Autobahnverkehr auf den Schienenverkehr bedeutet oder ob nur ebenso viele neue Bahnkunden wie neue Fluggäste hinzukämen. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 155 10 XM [((unverständlicher Ruf))] 11 HR MEHR FLUGgäste; 12 °h [dann kann des keinen NU]Tzen haben; 13 HG [aber dazu komme ] 14 HR im verLAgerungseffekt. 15 HG liebe LEUte; 16 (.) dazu KOMmen wir noch. 17 °h jetz sind sie plÖtzlich 18 wir sind jetzt hier bEI 19 (0.82) bei den VORteilen nich wahr- 20 FLUGverkehr- 21 (.) SCHIEne. 22 °h so. 23 das steht zur deBATte, 24 ich schließ jetz deBATte, 25 °h über diesen PUNKT, 26 und über diese FOlie, 27 °h des bringt uns keinen millimeter WEIter, 28 °h äh und äh komme jetz zu: r nächsten FOlie, 29 °h und ähm 30 °hh jetz kommen die ihre zwei millIOnen, 31 °h durch stuttgart EINundzwanzig und die SCHNELLfahrstrecke wendlingen ULM- 32 werden allein im FERNverkehr netto zwEI millionen 33 °h zusätzliche FAHRgäste- 34 °h erWARtet. 35 (.) so JETZT; 36 (2.74) is es FALSCH oder RICHtig. 37 (3.51) Der Schlichter unterbricht HR (und einen Zwischenrufer, Z. 10) mit „aber dazu komme [...] liebe LEUte; (.) dazu KOMmen wir noch.“ (Z. 13-16) und verweist damit darauf, dass hier bereits das Thema der nächsten Folie („zwEI millionen °h zusätzliche FAHRgäste-“, Z. 32-33) angesprochen wird, die aktuelle Debatte sich aber um das allgemeinere Thema ‘Vorteile Flugverkehr - Schiene’ (Z. 19-21) dreht. Da er ebendiese Debatte aber schon seit längerem zu Nadine Proske 156 schließen versucht, 33 leitet er nun unter erneutem Gebrauch des themenwechsel-Formats zur nächsten Folie über (Z. 28). 34 Die hier fokussierte Verwendung des Formats zum Verweis auf zukünftige Themenwechsel (Z. 13-16) ist vergleichbar mit der ein Thema aufschiebenden Verwendung in Prüfungs- und Unterrichtsgesprächen (vgl. (13)) und kann als Routineformat für regulierende Eingriffe durch den für die Rederechtsverteilung und die Einhaltung der Tagesordnung verantwortlichen Interaktionsteilnehmer verstanden werden. 3.3.4 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das themenwechsel-Format interaktionstypübergreifend in wiederkehrenden sequenziellen Kontexten zu finden ist, in denen es jeweils spezifische Funktionen hat. Die übergreifenden Funktionen 1) und 2) zeigen je nach Turnposition spezifische Subfunktionen. 1) Initiierung und Ankündigung eines Themenwechsels a) turninitial zur Projektion einer Antwort-Aufforderung b) turnmedial zur Strukturierung eines Multi-Unit-Turns 2) Thematisierung eines erfolgten Themenwechsels a) turninitial zum Aufschieben eines vom Interaktionspartner eingeführ- ten Themas (entweder responsiv oder unterbrechend) b) turnmedial zum Aufschieben der Thematisierung eines selbst erwähn- ten Themas c) turnmedial zur Markierung eines Themas als vorerwähnt und/ oder zum Verweis auf den zuvor Thematisierenden 3) Thematisierung eines nicht erfolgten Themenwechsels (seltener) Die genaue Ausgestaltung der zugehörigen sequenziellen Muster ist je nach Interaktionstyp leicht verschieden. Die Wahl zwischen kommen und gehen für Funktion 1) richtet sich nach dem Grad der Kohärenz zwischen dem vorausgehenden und dem neu eingeführten Thema, wobei dieser Grad von der intendierten Perspektivierung des Sprechers abhängt: Zur Rahmung als kohärenter Anschluss wird kommen verwendet, zur Anzeige eines thematischen Bruchs wird gehen verwendet. Die Verwendung ist generell der Person vorbe- 33 Schon knapp 20 Minuten zuvor hat HG zu letzten Fragen zu dieser Folie (dort mit ‘Konkurrenz Flugzeug - Bahn’ paraphrasiert) aufgefordert, die Diskussion weitet sich jedoch immer wieder auf verschiedene damit verknüpfte Aspekte (z.B. Auswirkungen des Autobahnausbaus) aus. 34 Zu diesem metonymischen Gebrauch (es wird nicht die Folie selbst sondern der auf ihr verschriftlichte Inhalt thematisiert) vgl. 3.4.1. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 157 halten, die in einer Interaktion oder einem Abschnitt darin das Vorrecht zur Initiierung von Themenwechseln hat. Für die Funktionen 2) und 3) dagegen kann aufgrund lexikalischer Restriktionen nur kommen verwendet werden. 35 2b), 2c) und eingeschränkt auch 2a) werden auch von Interaktionsteilnehmern, die nicht das Vorrecht zur Initiierung von Themenwechseln haben, verwendet. Die Fälle unter 2) und 3) verweisen meist auf vorerwähnte oder erwartbare Referenten, können bei nicht anaphorischem Ziel aber auch einen für den Hörer neuen, nicht erwartbaren Referenten enthalten (vgl. „da komm ich aber nachher DRAUF auf die baugrube,“), dieser ist jedoch für den Sprecher nicht neu, sondern zumindest innerhalb seiner persönlichen Agenda erwartbar (diese muss z.B. bei Vorträgen den anderen Beteiligten nicht bekannt sein). Der Sprecher kann den Referenten bei der ‘Thematisierungs’-Funktion auch nicht als für ihn selbst neu perspektivieren (gehen ist nicht verwendbar), dies ist nur bei ‘Ankündigungsfunktion’ möglich. Die Verwendung des themenwechsel-Formats beschränkt sich auf Interaktionen mit einer Tagesordnung. Diese muss jedoch nicht unbedingt - wie in Zeschel/ Proske (2015, S. 143) formuliert - gänzlich feststehend sein. Vor allem muss die Abfolge der ‘Tagesordnungspunkte’ bzw. Themen nicht fest sein; entscheidend ist, dass es eine Menge von zu behandelnden Themen gibt, über dessen Relevanz sich oft alle Teilnehmer bewusst sind. Es kann aber vorkommen, dass die Teilnehmer die Relevanz verschieden gewichten, sich einzelner (Teil-)Themen nicht bewusst sind oder dass ein Teilnehmer gar nicht oder nicht zum gegebenen Zeitpunkt mit einer Thematisierung rechnet (etwa in den Lehr-Lern-Interaktionen oder während eines Expertenvortrags). 3.4 Verwandte Formate Es gibt eine Reihe von mit dem themenwechsel-Format verwandten Formaten, die eins der beiden hier betrachteten Verben enthalten und metakommunikativ die aktuelle Interaktion steuern oder auf eine nicht aktuelle Interaktion verweisen. Diese sollen hier kurz diskutiert werden, zum einen, weil ihre Abgrenzung vom themenwechsel-Format nicht immer einfach ist, und zum anderen, weil sie eben aufgrund dieser engen Verwandtschaft teilweise einem gemeinsamen übergeordneten Format aktivitätswechsel zugewiesen werden könnten. 36 35 Diese lexikalischen Restriktionen wurden hier über semantische Merkmale erfasst, können aber auch als idiosynkratische Usualisierung verstanden werden. In jedem Fall können aufgeschobene oder bereits erfolgte Themenwechsel nicht mit gehen thematisiert werden. 36 Ein weiteres verwandtes Format wird von Zeschel (in diesem Band) diskutiert: Die folge- Konstruktion kommen +SUBJ +TMP (z.B. Jetzt kommen aber die Prüfbedingungen.). Nadine Proske 158 3.4.1 Aktivitätswechsel mit kommen und gehen Die erste Gruppe von verwandten Formaten entspricht formal dem themenwechsel-Format, d.h. kommen/ gehen mit zu-, auf- oder in-PP. Wenn außerdem ein Aufforderungsformat vorliegt und das Subjekt wir oder ich ist, ist die formale Ähnlichkeit besonders groß. Der Unterschied besteht in der Semantik und Referenz des Zieladverbials, das nicht auf ein Gesprächsthema verweist, sondern auf eine Aktivität oder einen (zunächst) mentalen Gegenstand, also etwas, was nicht thematisiert werden kann. Die Abgrenzung ist nicht immer leicht, insbesondere bei Tagesordnungspunkten wie Punkt, die entweder nur ein Thema umfassen und damit thematisierbar sind, oder die mehrere Themen beinhalten oder aber auf einen Zeitpunkt referieren, so dass der gesamte Punkt nicht insgesamt thematisiert werden kann. 37 Diese Fälle sind, wenn sie eine Umsetzung der eingeführten Aktivität ankündigen, dem ankündigenden themenwechsel-Format auch funktional am ähnlichsten und könnten mit ihm gemeinsam analysiert werden. Die leichter abgrenzbaren Fälle von Aktivitätswechsel dagegen sind auch funktional deutlich von Themenwechseln zu trennen. Für kommen lassen sich drei Fälle unterscheiden: Der Satz kann, erstens, auf einen Aktivitätswechsel verweisen, der nicht vollständig intentional stattfindet (vgl. idiomatische Wendungen wie ins Schleudern kommen); dies kann auch unintentionale Thematisierungen betreffen (z.B. in einem Gespräch an/ auf einen Punkt/ ein Thema kommen), wie zur gleichen Diskussion kommen in (21). Die Unterscheidung von intentionalen Themen-/ Aktivitätswechseln ist nur durch den Kontext möglich. Isolierte Sätze mit einschlägigen Substantiven wie Punkt können immer auch intentional gedeutet werden und sind ambig. (21) °h und ich glaube ds sollte man dann nicht IMmer durch die falschen bezügsgroßen nehmen nehme, °h aber wir kommen zur GLEIchen diskussion wie wir sie in der vergangenen woche geFÜHRT haben, und ich vermute wir werden sie NÄCHschte woche führen- und Übernächschte woche- (FOLK_E_00064_SE_01_T_09, c365) Zweitens kann der intentionale Aktivitätswechsel einer hin zu einem Schritt in der Tagesordnung sein, der aber nicht (auch nicht metonymisch) als Thema konstruiert werden kann (wir kommen zu ihrer Prüfung Deutsch / zum nächster Themenblock; ich komme zur Endaussage/ Zusammenfassung/ Beantwortung / zum Schluss). Durch die Verwendung wird keine folgende Thematisierung des durch das Zieladverbial eingeführten Referenten projiziert. Oft ist der Referent eine größere Aktivität, die mehr als nur ein Thema umfasst, und deren 37 Der Beleg in Beispiel (16) wurde dem themenwechsel-Format zugeordnet, weil der zu besprechende Punkt im Anschluss direkt expliziert und damit als Thema erkennbar wird (Einsparpotenziale). Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 159 Umsetzung wird projiziert. Mithilfe dieses kommen-Formats wird ein Gesprächsabschnitt metakommunikativ als eine bestimmte verbale Handlung oder Aktivität gekennzeichnet. Im Unterschied zum themenwechsel-Format lässt sich der entsprechende Satz hier nicht durch ‘thematisieren’ paraphrasieren, sondern eher durch ‘machen’ oder ‘durchführen’, vgl. (22). (22) °h so; un damit komm ich zur zuSAMmenfassung, dann wärn wir auch DURCH- durch diesen etwas trockenen un anstrengenden ZAHlenberg, °h die ERste feststellung die ich FESThalten möchte, (FOLK_E_00070_ SE_01_T_03, c829) Eine Paraphrase wie ‘zuwenden’ würde dagegen sowohl für Themenals auch für Aktivitätswechsel passen. Einige einschlägige Belege sind dabei, wie bereits erläutert, schwer einzuordnen, z.B. kann Frage in (23) auch metonymisch für das Thema der Frage gelesen werden (‘Jetzt thematisieren Sie doch mal den Inhalt Ihrer Frage’ vs. ‘Jetzt stellen Sie doch mal Ihre Frage’), so dass dieses Beispiel auch dem themenwechsel-Format zugeschlagen werden könnte. (23) °h aber jetz kOmmen se doch mal zu ihrer fr äh zwei ZWEIten frage. (FOLK_E_00069_SE_01_T_03_DF_01, c392) Schließlich kann, drittens, auf einen mentalen Aktivitäts- oder Themenwechsel verwiesen werden. Dieses Format entspricht dem Präpositionalobjektverb kommen auf i.S.v. ‘einen Einfall haben’, wie in (24). Hier beschreibt eine Referendarin, wie sie auf die Idee kam, Zeitungen zum Thema zu machen; trotz der zu-PP liegt keine Thematisierungslesart vor. In (25) dagegen liegt sowohl eine mentale als auch eine verbale Komponente vor: Ein Prüfling gibt einen Account für eine nicht ganz treffende Antwort und erläutert, wieso sie auf Bausteine gekommen ist, d.h. wieso diese ihr eingefallen sind und damit auch wieso sie sie thematisiert hat. (24) WAS kann ich mit diesen schülern MAchen. [...] dass die_s dann auch verSTEHN- un doch GLEICHzeitig auch schreibübungen anfertigen. so kam ich dann zu diesem thema ZEItungen, °h aber ich stand im grunde WIEder vor dem problem. (FOLK_E_00248_SE_01_T_02, c45) (25) ich hatte jetz grade irgendwie an auch beWERbung und so was gedacht; deswegen da halt deswegen bin ich auf die BAUsteine gekommen; aber persönlicher BRIEF natürlich; (FOLK_E_00032_ SE_01_T_01, c701) Mit gehen kann nur auf intentionale Aktivitätswechsel verwiesen werden. Diese erstrecken sich von Wechseln zu einem nächsten, globalen Tagesordnungspunkt ((26) und (27)) über Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus bzw. hin zu einem virtuellen Ort, an dem sich Information oder ein zu behandelndes Thema befindet ((28) und (29)), bis hin zu Wechseln an einen konkreten Nadine Proske 160 Ort, an dem ein nächster Tagesordnungspunkt oder eine geplante nächste Aktivität stattfindet (vgl. (30)). (26) letzter SATZ, (.) dann bin ich auch FERtig- un dann kö_wa ja auch in die diskusSION gehen. (FOLK_E_00070_SE_01_T_07, c572) (27) wir könn_s auch ANders machen, wir könnten jetz die WIRTschaftsprüfer hören, (und dann) gehn wer in die MITtagspause. (FOLK_E_00070_SE_01_T_05, c577) (28) °hh und jetz gehst_e auf SPAMverdacht. (FOLK_E_00030_SE_01_T_03, c831) (29) null, un entspreschend die MInus; rischtisch. jetz geh_mer mal rÜber in unsern SCHALTplan, (0.76) und schauen uns mal die PINS an, (FOLK_E_00001_SE_01_T_01, c1226) (30) ja? merken sisch bidde gut die FRAge, (0.67) weil wir werden ja: nAch dieser (.) theoREtischen einheit dann, (0.58) die prAktische einheit (.) in der werkstatt jetzt (.) DURCHführen. (2.16) isch hab noch eine ANdere stunde, und dann gehen wir dann (0.55) in die WERKstatt. (FOLK_E_00001_SE_01_T_02, c937) Nur Belege mit Zieladverbial, die eine Handlung beschreiben (Diskussion, metonymisch: Mittasgspause), können durch ‘machen, durchführen’ paraphrasiert werden, sie können wie alle anderen Fälle mit gehen aber auch durch ‘wechseln zu’ paraphrasiert werden. 3.4.2 Andere Verben Die zweite Gruppe von verwandten Formaten enthält kommen/ gehen und einen weiteren Prädikatsbestandteil, also eine Verbpartikel (übergehen), ein semantisch verblasstes Richtungsadverb (zurückkommen) oder eine nicht referenzielle Phrase (zur Sprache kommen). Diese Gruppe wird hier nicht exhaustiv diskutiert, sondern - basierend auf einer FOLK-Recherche zu den entsprechenden Lemmata - punktuell im Hinblick auf ihre mit der Metakommunikation von Themenwechseln verbundenen Funktionen mit kommen und gehen verglichen. Wie sich zeigen wird, ist übergehen zu funktional kommen/ gehen zu/ auf/ in, am ähnlichsten, kommt aber seltener vor (n=27). Eingehen auf (n=78) und zurückkommen auf (n=34) dagegen sind semantisch spezialisierter. Es werden hier nur diese drei Präpositionalobjekt-Verben näher betrachtet, da andere interessierende prädikative Einheiten wie zur Sprache kommen / zu sprechen kommen auf, zurückgehen und weitergehen zu selten vorkommen (bis zu 15-mal). Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 161 Die Seltenheit von übergehen zu und zu sprechen kommen auf im Vergleich zum themenwechsel-Format mit kommen und gehen zeigt auch, dass kommen auf und gehen zu synchron nicht als Verkürzungen dieser prädikativen Einheiten gesehen werden können, zumal sie andere Arten von Thematisierungen abdecken. 3.4.2.1 übergehen zu Mit übergehen zu werden einerseits wie mit gehen zu solche Themenwechsel eingeleitet, die mit einem thematischen Bruch einhergehen; in (31), vergleichbar mit (4), fordert die Prüferin (BÄ) nach dem Ausbleiben einer Antwort des Studenten (Z. 05) auf eine Frage (Z. 01-04) zur Hinwendung zu einem neuen Thema („SPRACHdidaktik“, Z. 07) auf. (31) FOLK_E_00037_SE_01_T_01_DF_01, c571 (Prüfung) 01 BÄ und welche ziele kommen noch hinZU, 02 besonders nach NEUeren konzeptionen- 03 °h Oder auch nach den konzeptionen von FINgerhut, 04 die sind ja auch schon ÄLter. 05 (10.99) 06 BÄ °h dann lassen wir jetz vielleicht den ganzen ha pe el u besser auf sich beRUhen- 07 und gehen zur SPRACHdidaktik [über- ] 08 MO [ʔm_HM; ] 09 BÄ wenn_s RECHT is; ((Auslassung, ca 6 Sekunden)) 10 BÄ °h welche TEXTsorten; 11 (.) wo wir grad beim SCHREIben waren- 12 °h werden denn im deutschunterricht (.) geSCHRIEben. Andererseits sind mit übergehen zu, anders als mit gehen, auch kohärente Themen- und Aktivitätswechsel zu finden. Diese beziehen sich meist auf einen eher globalen nächsten Tagesordnungspunkt, also tendenziell auf weniger spezifische Themen als sie mit kommen eigeführt werden. Entsprechend sind wiederholt die gleichen Lexeme in der PP zu finden, wie Frage und Thema in (32), 38 Z. 05 und Z. 10, oder auch Folie oder Punkt. Es werden also erwartbare nächste Themen oder Abschnitte angesteuert. 38 Die erste Ankündigung des Themenwechsels durch den Prüfer in Z. 04-05 erfolgt in Überlappung mit dem Studenten, der auf einen Exkurs des Prüfers hin eine (nicht erforderliche bzw. Nadine Proske 162 (32) FOLK_E_00057_SE_01_T_01_DF_01, c724 (Prüfung) 01 ME also wie ʔm mach ich das (.) das SETting (quasi). 02 ja GUT. 03 [((Lachansatz))] 04 CH [ich ich äh ] 05 (0.91) ich muss jetz zur NÄCH[sten frage] [übergehen- ] 06 ME [naTURlich.] 07 [(x) TSCHULdigung.] 08 aber der das ist äh das is 09 CH nein dis kein proBLEM. ((Auslassung, ca. 12 Sekunden)) 10 CH ma ʔ gEhn wir zum zweiten TH[Ema] [über- ] 11 ME [ja.] [(direkt.)] 12 CH äh 13 (0.6) 14 ME ((räuspert sich)) 15 CH sprAche und äh und (.) RUNDfunk- 16 [°h ] 17 ME [hm_m_M.] ((Auslassung, ca. 10 Sekunden)) 18 CH was sind (0.22) RUNDfunknachrichten? Eine weitere Ähnlichkeit zu kommen besteht darin, dass mit übergehen zu auch auf vorerwähnte oder implizierte Themen oder Tagesordnungspunkte verwiesen wird, die schon aktiviert worden sind; diese werden durch übergehen zu metakommunikativ innerhalb der Tagesordnung eingeordnet (vgl. (33)), 39 nicht in die Bewertung eingehende) eigene Einschätzung vornimmt. Die auf die Entschuldigung des Studenten (Z. 07) folgende Beschwichtigung wird von weiteren, hier ausgelassenen Anmerkungen des Prüfers zur zeitlichen Organisation der Prüfung gefolgt, bevor er wieder den Themenwechsel ankündigt (Z. 09). 39 Wie in Fällen mit kommen, die unter 3.3.1.2 nicht näher thematisiert worden sind, erfolgt der Verweis auf ein bereits angesprochenes Thema durch damit und die syntaktische Struktur wird teilweise für das parenthetisch eingefügte themenwechsel-Format unterbrochen: °hh i mein äh w friedensflicht gilt eigentlich für diejenigen die hier am TISCH sitzen. (.) °h äh wir wir wir kÖnnen- <<all> damit komm_er zu einem> weiteren THEma , (.) °h äh wir könn nich die verANTwortung Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 163 ein Aufschieben der Thematisierung kommt aber, anders als mit kommen, nicht vor. (33) FOLK_E_00037_SE_01_T_01_DF_01, c398 (Prüfung) 01 MO °h das heißt dass äh ʔ lehrer sich vor ALLM- 02 °h auf (.) schülerseitige (0.37) einflussfaktoren beRUfen müssten- 03 ʔ beispielsweise ALter- ((Auslassung, ca. 1 Sekunde)) 04 und vor allen dingen aber auch (.) äh LEseinteressen- 05 und [und äh]m 06 BÄ [ʔm_HM,] 07 (0.7) 08 MO ja- 09 (0.31) MEdienpräferenz. 10 BÄ ja. 11 (0.45) 12 BÄ welches proBLEM bekommen wir da möglicherweise, 13 und jetzt gehen wir schon zum ALLgemeinen teil damit über, 14 °h wenn: wir uns jetzt bei der auswahl von unterrichtsINhalten für den literaTURunterricht-= 15 =nach den SCHÜlerinteressen hauptsächlich richten. 16 MO °hh (0.23) ʔ dA kommt man in einen konflikt mit dem ähm ʔm vorgegebenen literaTURkanon; 3.4.2.2 eingehen auf Anders als übergehen zu wird eingehen auf nicht im Kontext von Aufforderungen zum Themenwechsel verwendet, sondern grob zusammengefasst in den folgenden beiden Kontexten: - (turninterne) Ankündigungen von Thematisierungen zu einem späteren Zeitpunkt, vergleichbar mit kommen wie in (9) (vgl. (35), Z. 05) - (turninterne) Ankündigungen unmittelbar vollzogener Themenwechsel (vgl. (34), Z. 06-09) übernehmen für irgendwelche SPLITtergruppen, (FOLK_E_00064_SE_01_T_01_ DF_01, c236) Nadine Proske 164 (34) FOLK_E_00070_SE_01_T_07_DF_01, c159 (S 21) 01 TK wir haben zum beispiel zum komventionellen °h äh Oberbau- 02 ähm öh zu n (.) beTONstahl- 03 °h äh PREIsen- 04 eine etwas andere (.) auffassung als unsere °h kolLEgen; 05 <<all> aber da wern wer nachher sicherlich in der diskussion noch mal drauf EINgehn.> 06 °h äh zu den optiMIErungspotenzialen- 07 die der herr doktor kefer hier schon ausführlich VORgestellt hat- 08 °h möchte ich auf zwei punkte EINgehn- 09 auf den QUELLdruck und auf die eisenbahntechnischen ANlagen. Die möglichen Verwendungsweisen liegen begründet in der kommen und gehen gegenüber spezifischeren Semantik von eingehen auf: In der hier interessierenden Bedeutung ‘thematisieren’ wird nicht der Wechsel zu einem (neuen) Thema fokussiert, sondern die Thematisierung an sich (oft zugleich eine Vertiefung), es liegt also ein anderer Frame vor, auch wenn die sequenziellen Kontexte einigen Verwendungen von kommen ähneln. übergehen zu dagegen evoziert wie kommen und gehen den themenwechsel-Frame, der eine Thematisierung impliziert, zunächst aber den Wechsel fokussiert. 3.4.2.3 zurückkommen auf Wie eingehen auf hat zurückkommen auf eine spezifischere Bedeutung als kommen und gehen im themenwechsel-Format. Entsprechend dieser Bedeutung ‘ein bereits angesprochenes Thema erneut thematisieren’ tritt es nicht im Kontext der Ankündigung nicht vorerwähnter Themen auf. Es findet sich in den folgenden beiden Kontexten: - (turninterne oder turninitale) Ankündigungen von Thematisierungen zu einem späteren Zeitpunkt, vergleichbar mit kommen wie in (8) (vgl. (35) und (36)) - metakommunikative Markierung erneut thematisierter Themen als vorerwähnt (komplementär zur Verwendung von kommen zu/ auf und übergehen zu zur metakommunikative Markierung neuer Themen(abschnitte) wie in (33) (vgl. (37)) Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 165 (35) FOLK_E_00004_SE_01_T_02_DF_01, c605 (Unterricht) 01 US ja ich würde eigentlich SAgen dass äh- 02 (.) auch die ELtern dafür verantwortlich sind 03 für die soZIALkompetenz. 04 (0.73) 05 GS ja, 06 (.) komm wir glEIch druf zuRÜCK, 07 aber jetz ER sacht- 08 (.) nee; 09 (.) allein DAdurch dass die jetz SAgen es is e sozial äh (36) FOLK_E_00070_SE_01_T_02_DF_01, c753 (S 21) 01 VK dAnn ham wir (0.75) kOstenreduzierungen 02 (0.22) aus: zu kaufenden GRUNDstücken und GRUNDstücksrechten, 03 von hundertdreißich milLIOnen, 04 da würde ich GLEICH noch mal darauf zurückkommen, 05 ich hab dort noch mal eine Extrafolie VORbereitet, (37) FOLK_E_00070_SE_01_T_11_DF_01, c408 (S 21) 01 TK ähm. 02 jetz sind glaub ich ZWEImal die chancenbewertungen- 03 ähm <<all> dort berUcksichtigt worden-= 04 =in IHRM vortrag,> 05 °hh ähm ich kOmm noch mal zurück auf den trIchter des des kolLEgen, 06 (.) ähm wenn sie sich den ANschauen, 07 is es SO- 08 dass man in der geSAMTbewertung der äh 09 zugrunde gelegten EINspar und optiMIErungspotenziale- 10 °hh (0.53) um noch mal das WORT zu strapazieren- 11 eher optiMIStisch ist. 12 (.) dass wir aber INSgesamt der auffassung sin, 13 <<all> da komm ich wieder zurück auf mein kollegen WITteler- 14 der die geSAMTwürdigung vorgenommen hat,> 15 °h dass DAbei- 16 °h der geSAMTfinanzierungsrahmen (.) noch NICHT übertroffen is; Nadine Proske 166 Es finden sich mit zurückkommen auf also Ankündigungen unmittelbar vollzogener Wechsel zu einem bereits thematisierten Thema wie sie mit kommen und gehen nur in Verbindung mit Adverbien wie wieder oder noch mal möglich sind (diese kommen auch in Verbindung mit zurückkommen auf vor, wie die Beispiele zeigen, sind hier aber nicht obligatorisch für den expliziten Verweis auf Vorerwähntes). 4. Diskussion Die theoretische Diskussion fokussiert zwei Bereiche: Zum einen soll diskutiert werden, inwiefern die hier vorläufig vorgenommene Kategorisierung der zu/ auf/ in-PP als (metaphorisches) Zieladverbial sich gegenüber einer Kategorisierung als Präpositionalobjekt rechtfertigen lässt (4.1). Zum anderen soll diskutiert werden, ob das themenwechsel-Format - insgesamt oder in einer oder mehreren formalen oder funktionalen Varianten - sich als Konstruktion oder als Social Action Format beschreiben lässt (4.2). 4.1 Adverbial oder Präpositionalobjekt? Die unter 3.4.2. diskutierten Verben übergehen zu, eingehen auf und zurückkommen auf sind als Präpositionalobjektverben (vgl. Breindl 1989) zu klassifizieren, da in der vorliegenden Bedeutung die PP nicht nur obligatorisch ist (was zunächst für Ergänzungsstatus spricht, den Adverbiale auch haben können), sondern nur mit einer bestimmten Präposition realisiert werden kann, deren Bedeutung verblasst ist. Dies ist bei kommen und gehen im themenwechsel-Format anders: Es sind verschiedene Präpositionen möglich 40 - wie bei direktionalen Adverbialen trotz ihrer Obligatorik üblich. Allerdings sind nur drei davon (zu, auf, in) häufig bzw. pro Verb nur jeweils zwei (zu und auf bei kommen, zu und in bei gehen), mit einer insgesamt klaren Präferenz für zu (vgl. 3.2). Bei Schumacher et al. (2004, S. 494) wird für die Bedeutung ‘jemand beginnt bei einer Veranstaltung oder Darstellung mit etwas’ von kommen zu (vgl. 2.2) nur zu als Präposition genannt, die PP gilt entsprechend als Präpositionalobjekt. Ein weiteres Kriterium für Präpositionalobjektstatus ist die bevorzugte Verwendung von pronomenhaltigen Formen bei anaphorischer oder kataphorischer Referenz, also von Pronominaladverbien (dazu, darauf) oder PPn mit einem Pronomen (zu dem, auf die). Diese werden teilweise auch als Adverbiale 40 Es gibt allerdings viele Präpositionalobjektverben, bei denen zwei Präpositionen möglich sind, z.B. auch bei zurückkommen auf/ zu. Es liegt dann trotzdem eine deutliche Einschränkung gegenüber Adverbialen vor, die mit jeder semantisch passenden Präposition kombinierbar sind: Er läuft durch den Park / ins Haus / auf den Berg / zum Zoo / vor die Tür... Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 167 verwendet, zum einen haben sie dann aber lokale Bedeutung und zum anderen sind sie im adverbialen Gebrauch durch reine Adverbien ersetzbar: Er springt auf die Mauer / darauf / hoch / dahin / hierher; Sie läuft zum Bahnhof / *dazu / dahin / hierher. Dies ist bei Präpositionalobjekten nicht oder nicht ohne Veränderung der Verbbedeutung möglich: Ich komme später zurück darauf / auf die Mauer vs. Ich komme später zurück hoch/ dahin/ hierher; Ich gehe jetzt über dazu / zum Bahnhof vs. *Ich gehe jetzt über dahin/ hierher. Die untersuchten Daten zeigen, dass sich kommen im themenwechsel-Format in dieser Hinsicht weitgehend wie Präpositionalobjektverben verhält: In anaphorischer Verwendung werden die Pronominaladverbien dazu oder darauf oder eine pronominale PP wie zu dem oder auf den verwendet. Es findet sich aber auch ein Einzelfall mit dem Adverb dahin (vgl. (38), Z. 07), der zeigt, dass die Bewegungsbedeutung noch transparent ist bzw. die Grammatikalisierung zum Präpositionalobjektverb noch nicht so weit fortgeschritten ist wie z.B. bei übergehen zu. (38) FOLK_E_00032_SE_01_T_01_DF_01, c290 (Prüfung) 01 AK und zwar 02 °hhh ʔ geht_s ja auch bei kompetenzen DArum dass ʔ 03 schülerinnen und schüler dazu ANgeleitet werden- 04 °hh dass sie (0.72) relativ SELBständig arbeiten, 05 [dass sie ] 06 BÄ [jetzt sind sie] schon beim methodischen VORgehen; 07 dAhin [kommen] wir auch noch GLEICH, 08 AK [HM_m, ] 09 aber jetzt blEIben wir erst noch mal bei den- 10 °h ZIElen oder- 11 °h TEILleistungen die gef: ordert werden; Bei gehen fällt die Beurteilung etwas schwerer: Da die PP hier nie anaphorisch verwendet wird, was an der Semantik des Verbs liegt, ist keine Aussage zur Verwendung von Pronominaladverbien möglich. 41 Es lässt aber - im Verhältnis zu seinem im Vergleich zu kommen selteneren Vorkommen im themen- 41 Ein ausgedachter Satz wie Wir gehen gleich dazu. klingt deshalb inakzeptabel, weil er aus semantisch-pragmatischen Gründen nicht verwendet wird. Eine Verwendung von Pronominaladverbien oder pronominalen PPn ist aber nicht nur bei semantisch in dieser Hinsicht nicht mehr restringierten, stärker grammatikalisierten Varianten wie übergehen zu möglich, sondern auch bei gehen mit Richtungsadverb: okay; auch auch dA möcht ich noch äh m noch drauf ZURÜCKgehen- (FOLK_E_00057_SE_01_T_01_DF_01, c129); °h äh ich möchte jetzt no_mal zuRÜCKgehen; auf des was boris PALmer in der ersten sitzu schon geSAGT haben. (FOLK_E_00068_SE_01_T_03_DF_01, c403) Nadine Proske 168 wechsel-Format - eine größere Bandbreite an Präpositionen zu. Da auch die Bedeutung ‘zu einem neuen Thema übergehen’ insgesamt weniger usualisiert scheint als bei kommen, liegt es hier näher, bei der Klassifikation als (metaphorisches) Direktionaladverbial zu bleiben. Es zeigt sich also zum einen in der vorliegenden empirischen Untersuchung, dass die Variationsbreite der Realisierungsform der PP bei kommen größer ist, als es der in Wörterbüchern angenommene Verfestigungsgrad von kommen zu erwarten lässt. Zum anderen zeigt sich, dass die Variation bei gehen, das im themenwechsel-Format bisher ohnehin nicht lexikographisch beschrieben ist und das seltener in diesem Format vorkommt, noch größer ist. Andererseits sind bei beiden Verben klare Einschränkungen gegenüber Verwendungen mit Bewegungsbedeutung zu erkennen, zum einen die genannte Einschränkung auf bestimmte Präpositionen, zum anderen aber auch die Reduktion des Bewegungsschemas auf das Zieladverbial; Fälle mit zusätzlichem Quell- oder Pfad-Adverbial sind zwar möglich, aber äußerst selten. 42 Obwohl also klar ist, dass sich beide Verben im Prozess der Grammatikalisierung zu Präpositionalobjektverben befinden, wurde aus den aufgeführten Gründen für die vorliegende Untersuchung ebenso wie für die in Zeschel (in diesem Band a) zusammengefasste Korpusstudie von einer Klassifikation als Verb + (metaphorisches) Zieladverbial ausgegangen. 4.2 Konstruktion oder Social Action Format? Bisher wurde dem als themenwechsel-Format bezeichneten Form-Bedeutungsmuster gezielt kein (grammatik-)theoretischer Status zugewiesen. Dieser soll nun im Hinblick auf zwei Konzepte - Konstruktionen und Social Action Formats - diskutiert werden. Nimmt man an, dass die hier als Frame formulierte Bedeutung ‘Ein oder mehrere kommunikatoren wenden sich (zu einem zeitpunkt) einem neuen thema zu’ für die Struktur kommen/ gehen + Zieladverbial lexikalisiert ist, liegt nach den meisten Definitionen in der Konstruktionsgrammatik (vgl. hierzu die Einleitung dieses Bandes) eine von den beiden Verben in Bewegungsbedeutung zu separierende Konstruktion vor, zum einen weil neben der usualisierten Bedeutung auch eine formale Besonderheit vorliegt: Nur bei themenwechsel-Bedeutung ist das Zieladverbial obligatorisch; bei Bewegungsbedeutung gilt zwar ein Direktionaladverbial als obligatorisch, dies kann jedoch auch ein Quell- oder Pfadadverbial sein (die bei Themenwechsel- 42 Vgl. Beispiel (2) mit Pfad-Adverbial und folgenden Beleg mit Quelladverbial: er kommt dann von dem medikaMENT auf die PHARma- (FOLK_E_00117_SE_01_T_01_DF_01, c196) Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 169 Bedeutung hinzukommen, aber niemals alleine auftreten können). Zum anderen ist die Struktur nicht auf ein Verb beschränkt, also eine verbunabhängige Argumentstrukturkonstruktion - abgesehen davon, dass auch jedes Verb allein mit seiner Argumentstruktur im Sinne von Goldbergs (2006) konstruktionsgrammatischer Variante („constructions all the way down“) eine Konstruktion ist; demnach ließen sich auch für kommen und gehen jeweils allein mehrere Argumentstrukturkonstruktionen annehmen, von denen eine dem themenwechsel-Format entspricht. Nach einer framesemantisch orientierten konstruktionsgrammatischen Sicht wie der von Boas (2011) würde darüber hinaus schon die abstrakte Bedeutung allein ausreichen, um von einer separaten ‘Mini-Konstruktion’ für jedes Verb auszugehen. Entsprechend argumentieren auch Zeschel/ Proske (2015) für den Konstruktionsstatus von kommen/ gehen + Zieladverbial in themenwechsel-Bedeutung. Dabei werden die Einsetzbarkeit auch anderer Verben (z.B. zurückkehren zu und springen zu) und die kontextuellen Verwendungsbedingungen (vorstrukturierte Agenda, vgl. dazu 3.3.5) als Argumente für den Konstruktionsstatus herangezogen. Zudem wird auch auf wiederkehrende lexikalische (Adverbien wie dann oder jetzt) und syntaktische (V1- oder V2-Stellung) Merkmale sowie das auffordernde, in Lehr-Lern-Interaktionen wiederkehrende sequenzielle Muster als idiosynkratische Eigenschaften und damit mögliche Argumente für Konstruktionsstatus verwiesen. Wie die Analyse auf der erweiterten Datenbasis gezeigt hat, sind jedoch diese lexiko-grammatischen und kontextuellen Merkmale nicht bei allen Verwendungen gleich. Vielmehr gibt es unterschiedliche sequenzielle Kontexte, die mit jeweils spezifischen formalen Realisierungstendenzen einhergehen. Die einen Themenwechsel ankündigenden und zugleich vollziehenden Fälle treten häufig mit dann und jetzt auf und können Aufforderungsformat haben. Außerdem stehen sie oft turninitial, eingebettet in ein bestimmtes, aber je nach Interaktionstyp variierendes sequenzielles Muster. Die anderen Verwendungen jedoch, die auf einen vorangegangenen oder künftigen Themenwechsel verweisen, zeigen andere lexikogrammatische Präferenzen (Adverbien u.a. später, gleich; nur V2-Format) und treten in anderen sequenziellen Kontexten auf. Diese sind zudem sehr vielfältig (z.B. turnmedial und parenthetisch; turninitial und responsiv). Insofern lassen sich über das abstrakte Grundformat kommen/ gehen + Zieladverbial mit themenwechsel-Bedeutung hinausgehende Merkmale nicht sinnvoll als Argumente für den Konstruktionsstatus dieses abstrakten Formats heranziehen. Im Sinne eines feinkörnigeren, auch auf konkrete Muster und Häufigkeitsverteilungen ausgerichteten Konstruktionsverständnisses (vgl. Engelberg et al. 2011) ließen sich allenfalls die verschiedenen Verwendungsweisen als verschiedene Konstruktionen erfassen. Hierbei gäbe es einige Abgrenzungsprobleme, z.B. wären V1- und V2-Varianten des eine Aufforderung ankündigen- Nadine Proske 170 den Formats derselben Konstruktion zuzuordnen? Zudem fragt sich, ob dies ein sinnvolles Konstruktionsverständnis ist oder ob man sich auf die Beschreibung von verschiedenen Realisierungsmustern einer Konstruktion beschränken sollte. Eine andere Perspektive auf solche Realisierungsmuster liefert das Konzept Social Action Format (vgl. zuerst Fox 2007), das bisher theoretisch aber wenig ausgearbeitet ist (vgl. die Einleitung in diesem Band). Ein Social Action Format (SAF) verbindet ein wiederkehrendes formales Muster mit einer bestimmten kommunikativen Handlung; dabei wird teilweise eine form- und teilweise eine funktionsbasierte Perspektive eingenommen. Aus formbasierter Perspektive ließen sich den hier herausgearbeiteten verschiedenen Realisierungsmustern des themenwechsel-Formats bzw. der themenwechsel-Konstruktion verschiedene Funktionen zuweisen, die jeweils auch von anderen Konstruktionen übernommen werden könnten. Z.B. kann ein Verweis auf die spätere Thematisierung eines bereits erwähnten Themas auch mit den Verben zurückkommen auf (vgl. 3.4.2.3), sich vornehmen oder aufgreifen vorgenommen werden. Wie 3.4.2 gezeigt hat treten dabei aber wiederum verbspezifische formale und funktionale Präferenzen zutage, so dass nicht klar ist, inwiefern solche verbspezifischen Realisierungen eines SAF tatsächlich exakt dieselbe Handlung ausführen. Zudem ist nicht klar, von wie vielen SAF man ausgehen sollte - wäre z.B. die von den Prüfern verwendete, eine Aufforderung zum Antworten einleitende Verwendung wie Wir kommen zum nächsten Thema. demselben SAF zuzuweisen wie eine formgleiche turnmediale Verwendung innerhalb eines Expertenvortrags? Insofern ist es zwar mit dem Konzept kompatibel, die einzelnen Verwendungsweisen des themenwechsel-Formats als Social Action Formats zu bezeichnen, eine Abgrenzung der Realisierungsmuster untereinander bzw. die Kategorisierung als verschiedene SAF bleibt aber ebenso schwierig wie die Zuweisung zu möglichen feinkörnigen Subkonstruktionen. 5. Fazit und Ausblick Während die gerade diskutierten theoretischen Fragen nicht abschließend beantwortet werden können, da sie kategoriale Einordnungen betreffen, die verschiedene Lösungen zulassen, sollen zum Abschluss noch einige nichtklassifikatorische, theoretisch relevante Aspekte des untersuchten Formats aufgezeigt werden. Der erste Aspekt ist die Rolle metakommunikativer Turns bzw. Turnbestandteile. Das untersuchte Format verweist auf die große Häufigkeit explizit metakommunikativer Bestandteile thematisch strukturierter Interaktionen: Nicht nur ist das themenwechsel-Format selbst hier relativ häufig, sondern es kommen außerdem die hier kurz diskutierten verwandten Formate sowie Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 171 viele weitere, formal nicht verwandte aber funktional ähnliche Formate vor. Das Feld der ‘Metapragmatik’ (vgl. im Überblick Hübler 2011) ist bereits durch viele verschiedene Forschungsperspektiven gut bestellt, neben Typologien stehen in der Gesprächsanalyse und in der Interaktionalen Linguistik verschiedene Einzelphänomene (z.B. Formulations (vgl. im Überblick Deppermann 2011) und „Projektorkonstruktionen“ (vgl. z.B. Günthner 2008)) im Mittelpunkt; die Ankündigung und Thematisierung von Themenwechseln und die dafür verwendeten Formate sind aber bisher nicht systematisch untersucht (vgl. aber Fandrych (2013, 2014) allgemeiner zu verschiedenen Arten der Metakommentierung in wissenschaftlichen Vorträgen und deren Formenspektrum). So wäre beispielsweise interessant, wie sich weniger explizite Formen des Themenwechsels (z.B. durch Linksversetzungen wie in Die kognitive Wende, was können Sie dazu sagen? ) kontextuell und sequenziell von den initiierenden Verwendungen des themenwechsel-Formats unterscheiden. Zudem hat sich gezeigt, dass trotz der Musterhaftigkeit keine starke Formelhaftigkeit gegeben ist: Die Wahl des Verbs erzeugt eine entscheidende Perspektive, so dass anzunehmen ist, dass auch ein detaillierterer Vergleich verschiedener expliziter Formate lohnend sein kann. Darüber hinaus wäre es interessant zu untersuchen, inwiefern sich Interaktionstypen darin unterscheiden, ob und in welcher Form explizit über Themen und Themenwechsel gesprochen, ob also z.B. in Alltagsgesprächen selten explizite Themenwechsel vorgenommen werden oder ob dazu einfach andere Formate als das hier untersuchte verwendet werden. Ein weiterer Aspekt betrifft den inkrementellen Aufbau von Multi-Unit-Turns. Wie sich gezeigt hat, macht die ankündigende Verwendung des themenwechsel-Formats eine funktional teilweise vorhersagbare Fortsetzung erwartbar. Dennoch handelt es sich aufgrund der syntaktischen, propositionalen und oft auch prosodischen Abgeschlossenheit nicht um einen klassischen Fall von Projektion im Sinne Auers (2015). Dabei ist die Rolle, die das Format für die Online-Planung (vgl. Auer 2000) und den inkrementellen Aufbau von Turns spielt, deutlich: Es finden sich nicht selten Pausen oder Reparaturen, bevor das Zieladverbial mit dem neuen Referenten produziert wird (vgl. die Beispiele (2), (3), (11), (12) und (15)), d.h. der Sprecher kann die Überleitung zu einem neuen Thema durch dann kommen wir zu oder jetzt gehen wir mal zu beginnen, noch bevor er sich entschieden haben muss, zu welchem Thema genau er überleiten will. Während der Produktion der Überleitung kann zudem die anschließende Präzisierung geplant werden, und weil nach der Ankündigung noch keine übergaberelevante Stelle erreicht ist, kann auch die anschließende Präzisierung inkrementell vonstatten gehen. Nadine Proske 172 Damit verbunden ist ein letzter Aspekt, die informationsstrukturelle Gestaltung von Multi-Unit-Turns. Die Verwendung des themenwechsel-Formats dient auch einer informationsstrukturellen Portionierung im Sinne einer Preferred Argument Structure (vgl. Du Bois 2003a, 2003b sowie die Einleitung dieses Bandes). Durch den kommen/ gehen-Satz wird ein Referent eingeführt, erst in den Folgesätzen wird dann etwas über diesen prädiziert bzw. eine Frage zu diesem gestellt. Auf diese Weise wird es vermieden, innerhalb eines einzigen Satzes einen Referenten einzuführen und zugleich etwas über ihn auszusagen, ggf. inklusive weiterer neuer Referenten. Vgl. „jEtzt geh_ma zum (.) internationalem ABschluss; (0.47) was gehört zusätzlich NOCH (.) zu dEm,“ (12) vs. Was gehört zusätzlich noch zum internationalen Abschluss? Neben der Informationsverteilung ist beim themenwechsel-Format außerdem entscheidend, dass die Referenteneinführung als separate Handlung getrennt von der Frage deutlich gemacht wird, insbesondere in Lehr-Lern-Interaktionen, in denen verdeutlich werden soll, dass es bei der dann folgenden Frage um ein neues Thema geht. Während Du Bois seine Beschreibung der empirischen Tendenzen zur Vermeidung von mehr als einem neuen bzw. lexikalisch realisierten Referenten pro Teilsatz auf die kasusbestimmten Argumente beschränkt, haben viele an seinen Ansatz angelehnte Untersuchungen gezeigt, dass sie sich auf viele weitere Arten von Verb-Ergänzungen ausweiten lassen (vgl. z.B. die Beiträge in Du Bois/ Kumpf/ Ashby 2003; zu Präpositionalobjekten im Deutschen vgl. Proske 2013). Die kommen/ gehen-Verwendungen sind dabei deshalb interessant, weil die Bewegungsverben ein obligatorisches Adverbial haben und Adverbiale bisher generell nicht in Auswertungen zur Preferred Argument Structure einbezogen worden sind. Es hat sich gezeigt, dass alle Zieladverbiale von gehen im themenwechsel-Format lexikalische NPn enthalten und dies bei kommen auf über zwei Drittel der PPn zutrifft. Die Subjekte sind dagegen immer pronominal, das häufig vorhandene Temporaladverbial ist meist ein deiktisches wie jetzt oder dann (also keines, das neue Information transportiert). Das heißt: Zumindest bei diesen beiden Verben in der untersuchten Bedeutung zeigt sich hier eine zu transitiven Sätzen analoge Tendenz - lexikalische Subjekte werden vermieden, das zweite obligatorische Argument, hier ein Direktionaladverbial, kann frei zur Einführung neuer, lexikalisch realisierter Referenten genutzt werden. Eine diesbezügliche statistische Untersuchung - wie sie Zeschel (in diesem Band a) für die Realisierungsform der Subjekte (lexikalisch vs. pronominal) anderer kommen- und gehen-Konstruktionen vorgenommen hat - könnte zeigen, ob sich diese Tendenz auch für die Adverbiale in weiteren kommen/ gehen-Lesarten (z.B. bewegung) sowie bei anderen Verben zeigt. Ankündigungen und Thematisierungen von Themenwechseln mit kommen und gehen 173 Literatur Auer, Peter (2000): On line-Syntax - oder: Was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen. In: Sprache und Literatur 85, S. 43-56. Auer, Peter (2015): The temporality of language in interaction: projection and latency. In: Deppermann, Arnulf/ Günthner, Susanne (Hg.): Temporality in interaction. (= Studies in Language and Social Interaction 27). Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins, S. 27-56. Boas, Hans C. (2011): Zum Abstraktionsgrad von Resultativkonstruktionen. In: Engelberg/ Holler/ Proost (Hg.), S. 37-69. 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Die Untersuchung dieses Gegenstands ist aus verschiedenen Gründen lohnend: Zum einen ist es eine Verwendung, die auf der Tendenz von kommen (vor allem in Verwendungen ohne Direktionaladverbial), neue Referenten einzuführen - wie sie anhand der Menge lexikalischer Subjekte in Zeschel (in diesem Band a) thematisiert worden ist - aufbaut. Hier zeigt sich, wie die in diesen Fällen äußerst unspezifische Semantik des Verbs nicht nur geeignet ist, hinter einem Subjektreferenten pragmatisch zurückzutreten, sondern auch hinter dem Verb des durch und mit dem kommen-Satz verbundenen Satzes. Zum anderen zeigt sich eben darin eine beginnende Grammatikalisierung, die fürs Deutsche bisher nicht beschrieben worden ist; diese Form der ‘Pseudokoordination’ ist in anderen Sprachen (z.B. Englisch und Schwedisch), in denen sie schon deutlich weiter grammatikalisiert ist, gut dokumentiert. Sie zeigt neben der informationsportionierenden Funktion (Verteilung von Referenteneinführung und Prädikation auf zwei Teilsätze) auch semantische Funktionen (Perspektivierung des Ereignisses im zweiten Teilsatz, Zuschreibung von Intentionalität des Subjektreferenten). All diese Funktionen eignen sich für unterschiedliche sequenzielle Kontexte, vor allem aber zur Strukturierung und inkrementellen Planung von Multi-Unit-Turns. Im folgenden Abschnitt (2.) wird zunächst eine nähere Eingrenzung des Phänomens vorgenommen und der Forschungsstand zur Pseudokoordination in anderen Sprachen sowie einige (bisher seltene) Erwähnungen zu vergleichbaren Strukturen im Deutschen zusammengetragen. Abschnitt 3 stellt die Untersuchung zur Pseudokoordination mit kommen und deren Ergebnisse vor. Dabei wird zunächst auf die Kollektionsbildung eingegangen (3.1), anschließend (3.2) werden wiederkehrende formale Aspekte (z.B. Art der Subjektrealisierung und Verbstellung im ersten Teilsatz, vorkommende Verben im zweiten Teilsatz) beschrieben sowie die Semantik (3.3), Prosodie (3.4) und Funktionen (3.5) der Gesamtstruktur diskutiert. Der vierte Abschnitt ist ver- Nadine Proske 178 wandten Strukturen gewidmet; dies umfasst zum einen formal leicht andere Muster (z.B. mit realisiertem Subjekt im zweiten Teilsatz oder ohne und zwischen den Teilsätzen) (4.1) und zum anderen pseudokoordinative Strukturen mit anderen Verben im ersten Teilsatz, vor allem mit gehen (4.2). Unter 5 werden Schlussfolgerungen aus der Untersuchung von [kommen und VP] und dem Vergleich mit verwandten Strukturen gezogen. Dabei geht es u.a. um die Frage, ob bestimmte Realisierungsformen (z.B. Kombinationen mit sagen als zweites Verb) stärker grammatikalisiert oder zumindest stärker verfestigt sind als andere und ob eine konstruktionsgrammatische Modellierung dieser Verfestigungsgrade sinnvoll wäre. 2. Pseudokoordination Unter Pseudokoordination 1 versteht man syntaktische Strukturen, die formal aussehen wie zwei (durch und) koordinierte Sätze, die denselben Referenten als Subjekt haben, so dass dieses im zweiten Satz nicht realisiert wird, deren Verben aber semantisch gesehen gemeinsam ein Ereignis bezeichnen bzw. bei denen ein Verb dem anderen semantisch gesehen untergeordnet ist (vgl. z.B. Ross 2013, S. 10). In einigen wiederkehrenden Kombinationen konkreter Verben kommt es zur Grammatikalisierung: Das erste Verb verliert seine ursprüngliche Semantik und steuert stattdessen eine aspektuelle 2 Komponente 1 Die Bezeichnung findet sich vor allem in der Literatur zu dem Phänomen in skandinavischen Sprachen (Hopper 2002, S. 147f. verweist aber auch auf Quirk et al. 1985). Ross (2013) übernimmt sie fürs Englische, während andere Literatur zu dem Phänomen im Englischen es oft als (V-und-V-)‘Konstruktion’ bezeichnet - mit oder ohne explizit konstruktionsgrammatischen Hintergrund (vgl. Newman/ Rice 2008; Stefanowitsch 2000; Wulff 2006). Hopper (2002, 2008) verwendet die Bezeichnung ‘Hendiadys’. Das auf die Rhetorik zurückgehende Verständnis von ‘Hendiadyoin’ umfasst durch und koordinierte Phrasen, die semantisch nicht gleichranging sind, sondern in einem attributiven Verhältnis stehen (von Tellern und Silber essen statt von Tellern aus Silber essen, vgl. Bußmann 2002, S. 275), sowie usuelle ‘Paarformeln’ aus zwei auf verwandte Konzepte verweisenden Wörtern mit nicht kompositioneller Bedeutung (Haus und Hof ‘Grundbesitz’). Hoppers Verwendung stellt also eine Ausweitung auf die Satzbzw. VP-Ebene dar. Hier wird die Bezeichnung ‘Pseudokoordination’ übernommen, weil sie zum einen zur Zusammenfassung aller verschiedenen Ansätze am besten geeignet ist und zum anderen im Vergleich zu ‘kommen-und-VP-Konstruktion’ einen kurzen Terminus zur Verfügung stellt; die Bezeichnung ‘Konstruktion’ im konstruktionsgrammatischen Sinne würde außerdem das Festlegen einer Granularitätsstufe (Betrachtung aller V-und-V-Strukturen oder nur solcher mit einem bestimmten Verb im ersten Teilsatz) voraussetzen, die erst Ergebnis einer Analyse sein kann (vgl. Abschnitt 5 zu einer Diskussion, ob [kommen und VP] eine Konstruktion ist und welche spezifischen Kombinationen mit welchen Verben als spezifische Subkonstruktionen beschrieben werden können). 2 Den semantischen Beitrag des ersten Verbs fürs Englische als ‘Aspekt’ zu bezeichnen, ist nur eine erste Näherung. Ross (2013, S. 15) verweist zurecht darauf, dass die grammatische Kategorie Aspekt, die es in manchen Sprachen gibt, sich vor allem auf temporale Relationen bezieht. Auch Stefanowitsch (2000, S. 268) bezeichnet die grammatischen Bedeutungen, die Pseudokoordiniertes kommen 179 bei, das zweite Verb bezeichnet das Ereignis selbst. Die folgenden englischen Beispiele aus Stefanowitsch (2000, S. 206) verdeutlichen das Nebeneinander von Grammatikalisierungsstufen: Die Bewegungsbedeutung von go kann vorhanden sein, ohne dass ein zusätzlicher Aspekt hinzukommt (1), es kann ‘Entschlossenheit/ Intentionalität’ zur Bewegungsbedeutung hinzukommen (2) und schließlich kann ‘Entschlossenheit/ Intentionalität’ die einzig relevante Bedeutung sein (3). (1) I was a student for many years, and then [I] graduated and went and worked in France for a while. (2) I just went and bought a Honda, I didn’t even look around or anything. (3) I’m not interested in keeping big military over there and having to go and call the shots like you say. Auch in den Fällen, die keine zusätzliche Komponente enthalten, liegt jedoch ein nicht trennbares Ereignis vor, das durch zwei Verben versprachlicht wird bzw. ist das zweite Prädikat der Zweck der Bewegung an einen anderen Ort. Diese ‘Monoprädikativität’ (vgl. Hopper 2008, S. 255) zeigt sich anhand verschiedener formaler Kriterien, die - je nach dem Grad der Grammatikalisierung - nicht alle erfüllt sein müssen (vgl. z.B. Ross 2013, S. 9): a) die beiden Verben treten im selben Tempus (sowie je nach Sprache ggf. Aspekt und Modalität) auf, b) wenn Negation oder Satzadverbiale im ersten Teilsatz auftreten, haben diese Skopus über beide Verben, c) Argumente des zweiten Verbs können ‘extrahiert’ auftreten, z.B. als Relativpronomen, das beiden Verben vorangeht (I just have a problem paying twenty five dollars for a movie that I can go down and rent for a dollar. Stefanowitsch 2000, S. 260). Entsprechend wird z.T. davon ausgegangen, dass bei der Pseudokoordination - zumindest bei den am besten untersuchten Vertretern im Englischen, bei denen alle Kriterien erfüllt sind - nicht Sätze, sondern Verben bzw. Verbalphrasen (pseudo-) koordiniert sind (vgl. z.B. Newman/ Rice 2008; Stefanowitsch 2000). Da die deutsche Pseudokoordination noch deutlich weniger grammatikalisiert 3 ist (z.B. ist keine ‘Extraktion’ eines Arguments aus der zweiten VP möglich), wie pseudokoordinative Strukturen im Englischen entwickeln können, als Kategorien wie „aspect, locational and directional marking, and mirativity“ nur ähnlich. In den skandinavischen Sprachen ist die Grammatikalisierung in Richtung Aspekt dagegen weiter fortgeschritten (vgl. z.B. Lødrup 2002). 3 Hopper (2002) schreibt den am weitesten grammatikalisierten Fällen von Pseudokoordination im Englischen auxiliarähnlichen Status zu, Hopper (2008) dagegen beschreibt den Wandelprozess als entstehende Verbserialisierung (beides wird mit der tendenziellen Unflektiertheit des ersten Verbs begründet, wie sie für die modalen Auxiliare des Englischen typisch ist). Hilpert/ Koops (2008) lehnen fürs Schwedische die Annahme einer Auxiliarisierung ab, weil beide Verben flektiert werden, und sehen stattdessen eine Entwicklung des ersten Verbs zum light verb und eine Grammatikalisierung zu einem komplexen Prädikat mit zwei Köpfen. Nadine Proske 180 auch die Analyse zeigen wird, soll in Bezug auf sie aber auch von erstem und zweitem Teilsatz gesprochen werden. Sprachübergreifend ist nur eine eingeschränkte Menge an Verben im ersten (Pseudo-)Konjunkt möglich; es finden sich vor allem die jeweils unspezifischsten Bewegungsverben (‘kommen’ und ‘gehen’) und Positionsverben (‘sitzen’ und ‘stehen’) sowie einige andere intransitive Verben (z.B. engl. try), aber auch einzelne transitive Verben (z.B. engl. take). Zum Schwedischen fassen Hilpert/ Koops (2008, S. 245f.) zusammen: „The verbs that occur in the SPC [= Swedish Pseudo-Coordination construction] can be thought of as a semiclosed class encompassing several subgroups which correspond to the crosslinguistically common sources for both light verbs and auxiliaries.“ In der Literatur wird häufig auf die Verwandtschaft der Pseudokoordination mit der Verbserialisierung verwiesen. Diese zeigt sich zum einen darin, dass sich aus stark grammatikalisierter Pseudokoordination bei Weglassung der Konjunktion leicht eine Serialisierungsstruktur entwickeln kann (vgl. Larsson 2014). Zum anderen gibt es tendenziell eine komplementäre Verteilung von Pseudokoordination und Verbserialisierung: Sprachen mit ausgeprägter, produktiver Verbserialisierung haben meist keine Pseudokoordination, umgekehrt tritt Pseudokoordination in Sprachen auf, die Verbserialisierung (noch) nicht als generelle Strategie der Prädikatsverknüpfung grammatikalisiert haben (vgl. Hopper 2008; Ross 2013). Beide Phänomene bewegen sich in einem gemeinsamen semantischen Bereich. Im Deutschen gibt es keine produktive Verbserialisierung, es gibt aber zwei grammatikalisierte Konstruktionen, in denen kommen und gehen auxiliarähnlichen Status haben (vgl. Eisenberg 2006, S. 349ff.). 4 Zum einen kann finites kommen oder gehen mit dem reinen Infinitiv eines anderen Vollverbs - und ggf. dessen Argumenten - verbunden werden (Er geht einkaufen - Sie kommt mich abholen). Wie bei der Pseudokoordination benennt hier das zweite Verb den Zweck der vom ersten ausgedrückten Ortsveränderung. Zum anderen kann finites kommen mit dem Partizip II eines anderen Bewegungsverbs verbunden werden (Er kommt angelaufen). Hierbei spezifiziert das zweite Verb die Art der Bewegung. Da diese Konstruktionen auf die beiden Bewegungsverben beschränkt sind, liegt es nahe, dass es im Deutschen eine andere, produktive Struktur gibt, die der Notwendigkeit, zwei nicht gleichrangige Ereignisse zu verknüpfen, gerecht wird. Diese wird hier als Pseudokoordination be- 4 Ein Vergleich dieser semantisch in einigen Fällen ähnlichen Konstruktionen mit der Pseudokoordination kann hier nicht geleistet werden, ebensowenig ein Vergleich mit teilweise semantisch vergleichbaren um-zu-Anschlüssen. Wulff (2006) kontrastiert fürs Englische go-and-V mit der verwandten Konstruktion go-Ving im British National Corpus und stellt fest, dass sie verschiedene Verben in ihrer Leerstelle präferieren, so dass letztere nicht als im generativen Sinne aus ersterer abgeleitet gelten kann. Pseudokoordiniertes kommen 181 zeichnet, auch wenn sie nicht ganz mit der skandinavischen Variante vergleichbar ist. Sie wird im Folgenden anhand des Beispiels von kommen im ersten Teilsatz betrachtet, ist aber grundsätzlich nicht auf bestimmte Verben beschränkt, auch wenn einige deutlich häufiger auftreten als andere. 2.1 Pseudokoordination im Englischen und in skandinavischen Sprachen Pseudokoordinationskonstruktionen sind bisher vor allem fürs Englische und für die skandinavischen Sprachen beschrieben worden. 5 Die meisten und ausführlichsten grammatischen Beschreibungen gibt es für diejenigen skandinavischen Sprachen, in denen die Pseudokoordination am weitesten grammatikalisiert ist und entsprechend häufig und vielfältig verwendet wird - das Norwegische (vgl. z.B. Lødrup 2002, 2014), Schwedische (vgl. z.B. Wiklund 2007, 2009) und Dänische (vgl. z.B. Bjerre/ Bjerre 2007). 6 Die skandinavische Pseudokoordination markiert bei Positionsverben progressiven/ imperfektiven Aspekt (andauernde, dynamische, atelische Handlung) und bei ‘gehen’-Verben auch iterativen/ habituellen Aspekt. Die Markierung der Aspektualität ist jedoch, anders als bei vollständig grammatikalisierten Kategorien, nicht obligatorisch (vgl. Hesse 2010, S. 220). Außerdem ist vor allem bei den Positionsverben innerhalb der Pseudokoordination grundsätzlich noch der lexikalische Gehalt zugänglich, so dass derselbe Satz je nach Kontext unterschiedlich interpretiert werden kann: John sitter og leser en bok. (Lødrup 2014, S. 2) kann sowohl ‘Er sitzt und liest ein Buch.’ als auch ‘Er liest gerade ein Buch.’ bedeuten. Die meisten Arbeiten zur Pseudokoordination in den skandinavischen Sprachen sind formale syntaktische Analysen. Meines Wissens gibt es keine interaktionalen Untersuchungen der sequenziellen und anderer pragmatischer Funktionen. Es gibt aber einige diachrone und korpuslinguistische Studien (vgl. Hilpert/ Koops 2008; Vannebo 2003). Zum Englischen gibt es sowohl korpuslinguistische als auch interaktionslinguistische Untersuchungen. Newman/ Rice (2008) zeigen fürs neuseeländische Englisch, dass come und go sowohl in ihrem mündlichen als auch in ihrem schriftlichen Korpus die häufigsten Verben im ersten Teil der Konstruktion sind, im mündlichen Korpus aber außerdem einen insgesamt deutlich größeren Anteil an allen Verben im ersten Teil ausmachen. Die häufigsten 5 Eine relativ umfangreiche Bibliographie, auch zu verschiedenen anderen Sprachen, findet sich bei Ross (2013). 6 Im Isländischen gibt es keine ausgeprägte Pseudokoordination, und im Färöischen (vgl. Heycock/ Petersen 2012) ist sie - vergleichbar mit dem Englischen - weniger stark grammatikalisiert als im Schwedischen, Norwegischen und Dänischen. Nadine Proske 182 Verben im zweiten Teil sind see, get, say, have und do. Newman/ Rice (2008) betrachten einige Kombinationen (go and tell, go and visit, go and prove me wrong, try and V) genauer und stellen eine unterschiedlich starke Verblassung der Bewegungssemantik von go bei verschiedenen Verben im zweiten Teil sowie verschiedene semantische und aspektuelle Spezialisierungen fest, ähnlich wie sie Stefanowitsch (2000) für Kombinationen von go und verschiedenen Partikeln wie out, back oder on beschrieben hatte. Dieser hatte anhand des Switchboard-Korpus (gesprochenes amerikanisches Englisch) gezeigt, dass einige Subkonstruktionen von go-and-V noch als transparente Instanziierungen der übergeordneten Konstruktion betrachtet werden können (z.B. go out and), während anderen unabhängiger Konstruktionsstatus zugeschrieben werden kann, weil ihre Bedeutung nicht aus der Summe der Teile erschließbar ist (z.B. go back and). Die meisten Untersuchungen zum Englischen stellen also Pseudokoordinationskonstruktionen mit go in den Fokus. Hopper (2002) dagegen betrachtet neben go ahead and auch turn around and und start and 7 und widmet sich außerdem einem transitiven Verb als erstem Teil der Konstruktion: take-NP-and-V. Anhand von mündlichen und schriftlichen Daten zu letzterer zeigt er vertiefend in Hopper (2008) zum einen, dass auch hier Monoprädikativität vorliegt, und zum anderen, dass es zahlreiche formal nicht prototypische Realisierungsformen gibt, was zum einen auf einen geringeren Grammatikalisierungsgrad als bei go and oder try and schließen lässt und zum anderen darauf, dass die historischen Vorgänger auch stärker grammatikalisierter ‘biklausaler’ Konstruktionen Satzreihungen verschiedener Art waren. Er beschreibt als die Kernfunktion der Konstruktion die Informationsportionierung: Im ersten Teilsatz wird als Objekt von take ein neuer Referent eingeführt, getrennt davon wird im zweiten Teilsatz etwas über diesen prädiziert. Außerdem stellt er fest, dass die Konstruktion - anders als die pseudokoordinierten Verwendungen intransitiver englischer Verben - vor allem in ‘monologischen’, aber mündlichen Kontexten verwendet wird (oft in institutionellen Settings), weil sie dem Entwickeln extensiver Argumentationen in der Zeit entgegenkommt. Barth-Weingarten/ Couper-Kuhlen (2011) nehmen eine einzelverbunabhängige Perspektive auf die Pseudokoordination im Englischen ein: Sie gehen davon aus, dass prosodische Integration sowohl Voraussetzung als auch Indika- 7 Seine Untersuchung stellt die oft behauptete Eingeschränktheit der als erstes Verb einer Pseudokoordination verwendbaren Verben infrage - und er vermutet, dass noch viele weitere als die von ihm gewählten zu finden sind (vgl. Hopper 2002, S. 170). Die Behauptung der geschlossenen Klasse gilt wohl vor allem für die stark grammatikalisierten Vertreter in den skandinavischen Sprachen, weniger stark aspektuell und stärker subjektiv aufgeladene und informationsstrukturierend funktionierende Vertreter scheint es in jeder Sprache viele zu geben, aber auch unter diesen Formen scheinen dieselben Verben, die zur Grammatikalisierung neigen, besonders häufig zu sein (vgl. dazu 4.2.1 und das Fazit (5.)). Pseudokoordiniertes kommen 183 tor für die Verfestigung der V-und-V-Konstruktion ist, und untersuchen gesprochensprachliche Beispiele daraufhin, inwiefern der Grad der prosodischen Integration der (Pseudo-)Konjunkte mit dem Grad der semantischpragmatischen Einheit einhergeht. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass eindeutig auf ein Ereignis verweisende Fälle deutlich häufiger prosodisch integriert realisiert werden als ambige und eindeutig auf zwei getrennte Ereignisse verweisende Fälle, dass diese aber aufgrund verschiedener Faktoren auch desintegriert vorkommen können. 8 Schließlich ist noch eine Studie zum gesprochenen Finnisch erwähnenswert: Haddington/ Jantunen/ Sivonen (2011) untersuchen Konstruktionen mit finitem ‘kommen’/ ‘gehen’ und infinitem Zweitverb, ohne ‘und’ zwischen den Verben korpus- und interaktionslinguistisch. Sie stellen fest, dass besonders häufig (semantisch neutrale, aber auch negativ bewertende) Kommunikationsverben als Zweitverb auftreten und dass häufig negativ konnotierte Kollokationen im Satzkontext vorkommen. Als wiederkehrende interaktionale Kontexte machen sie ‘trouble-telling’ und ‘gossipping’ in Alltagsgesprächen aus. Die ‘kommen-sagen’- und ‘gehen-sagen’-Konstruktionen ermöglichen eine negative affektive Wertung des Subjektreferenten und eine negative Wertung seines kommunikativen Handelns durch den Sprecher. Diese ist aber nicht obligatorisch, so wie auch häufig keine Verblassung der Bewegungssemantik vorliegt. 2.2 Pseudokoordination im Deutschen Die Pseudokoordination im Deutschen hat bisher keine große Aufmerksamkeit erfahren und wird teilweise sogar als nicht existent bzw. als nicht produktive Struktur angesehen: German seems to resist most use of pseudocoordination (cf. Hesse 2010; Taube, in press), even frequent cross-linguistic collocations like go and. However, there are several idiomatic expressions such as sei so gut und (‘be so good and’) and tu mir den Gefallen und (‘do me a favor and’) that are used in informal registers of standard German (Wackernagel 1920: 65). [...] Wagner (1956: 8) mentions er ging bei und tat (‘he came [sic] by and did’) and er kommt bei und tat (‘he came by and did’) from northern Germany. (Ross 2013, S. 61) 8 Da jedoch in ihrer Untersuchung ein Einbezug der lexikalischen Realisierung fehlt, bleibt unklar, ob integrierte Realisierungen auch oder gar insbesondere mit lexikalisch verfestigten Kombinationen bzw. mit allen diesen gleichermaßen einhergehen oder nicht. Einerseits ist bei häufig in der V-und-V-Konstruktion auftretenden Verben mehr Verfestigung zu erwarten, andererseits ist bei diesen auch die Semantik des ersten Verbs verblasster, so dass der erste Teil selten allein stehen kann und so mehr Projektionskraft hat, so dass Sprecher sich unter Umständen mehr prosodische ‘Freiheiten’ leisten können. Nadine Proske 184 Während die von Ross (2013) herangezogenen alten Quellen pseudokoordinative idiomatische Wendungen auf informelle Register und norddeutsche Varietäten beschränken, finden sich in FOLK Belege aus unterschiedlichen Regionen, die zudem auf eine hohe Produktivität schließen lassen, da sie mit verschiedenen Verben an erster und zweiter Stelle auftreten: (4) da stEhen sie alle und RAUchen. (FOLK_E_00181_SE_01_T_01, c70) (5) un dann sItz ich halt da un denk mir JA: ; (FOLK_E_00084_SE_01_T_03, c776) Auch wenn die Bedeutung von stehen und sitzen hier noch transparent ist, liegen in beiden Beispielen nicht zwei unabhängige, nacheinander stattfindende Ereignisse vor, sondern der erste Teilsatz gibt an, wo und auf welche Weise das vom zweiten Teilsatz bezeichnete Ereignis stattfindet, das erste Verb ist semantisch gesehen also untergeordnet. 9 Dass die Pseudokoordination im Deutschen bisher wenig beachtet worden ist, 10 kann verschiedene Gründe haben. Einer ist möglicherweise der Fokus der englischsprachigen Literatur auf Konstruktionen mit go - das Äquivalent gehen wird anders als kommen in den hier untersuchten Daten nicht ohne Direktionaladverbial in pseudokoordinativen Strukturen verwendet (siehe aber Abschnitt 4.2.2 zu ebensolchen mit Direktionaladverbial, insbesondere hin). Ein weiterer möglicher Grund, aus dem vergleichbare deutsche Strukturen als pseudokoordinativ übersehen werden können, ist die freiere Wortstellung im Vergleich zum Englischen, die es ermöglicht, dass Satzglieder zwischen das erste Verb und das und treten. Dies mag auch der Grund sein, warum die deutschen Pseudokoordinationen noch weniger verfestigt sind - es kehren seltener die exakt gleichen Wortfolgen wieder, so dass die Verfestigung auf formaler Seite weniger schnell voranschreitet. In den am weitesten grammatikalisierten Pseudokoordinationsstrukturen wie z.B. den englischen go-and-V- Konstruktionen kann nichts dazwischentreten. Grundsätzlich ist die Fü- 9 Wie pseudokoordinative Verwendungen von sitzen und stehen semantisch genau zu analysieren sind, muss hier offen bleiben; eine solche Analyse bedarf des Einbezugs des Kontexts sowie der Betrachtung einer größeren Menge an Belegen. Neben der Interpretation des ersten Verbs als Art und Weise (sie rauchen stehend, ich denke sitzend) ist auch die umgekehrte Interpretation denkbar (sie stehen da rauchend, ich sitze da denkend). 10 Auch Hopper (2008, S. 276) geht in einer Fußnote davon aus, dass es eine der von ihm untersuchten englischen take-NP-and-Konstruktion äquivalente Struktur im Deutschen nicht gibt; in FOLK finden sich dagegen 49 Belege für (formal und semantisch recht verschiedene) pseudokoordinative Verwendungen auch von nehmen (vgl. auch 4.2.1): und äh in dem zImmer würd_se heut nacht kein AUge zutun, so dass wa dis BETT genommen ham- und ins teleFONzimmer geschoben ham , (FOLK_E_00113_SE_01_T_01, c0040) ja der christoph meckel macht das ja AUCH. der nimmt ja auch °h dEr nimmt ja auch die wirklich die texte seines VAters, und und arbeitet dann DIE genau- (.) also der NIMMT die und arbeitet sich an dEnen ab . (FOLK_E_00058_SE_01_T_01, c1216) Pseudokoordiniertes kommen 185 gungsenge aber auch bei stärker grammatikalisierten Pseudokoordinationen ein Kontinuum, auch im Schwedischen können noch Satzglieder zwischen die Verben treten. Die zunehmende prädikative Einheit zeigt sich in einer Reduktion solcher Elemente: „the more intervening elements occur between the two verbs, the weaker the conceptual union appears to be“ (Hilpert/ Koops 2008, S. 245) - die Reduktion intervenierender Elemente geht einher mit Argumentreduktion (lokale oder direktionale Ergänzung fällt weg), Wegfall von individuellen Modifikationen des ersten Verbs und einer Zunahme von Objektextraktion. Eine Erwähnung aus der deutschsprachigen Forschungsliteratur steht im Kontrast zur Einschätzung der deutschen Variante als nicht produktiv: Lehmann (1991) führt pseudokoordinative Strukturen mit kommen und gehen und den Adverbien hin und her in einem Überblicksartikel zur Grammatikalisierung im Deutschen als im Prozess der Entstehung begriffene grammatische Kategorien an. In Anlehnung an das italienische Passiv mit den Hilfsverben andare und venire bezeichnet er diese als ‘Andativ’ und ‘Venitiv’: The idea of the grammatical categories andative vs. venitive [...] is that any verbal action can be characterized as having its origin in the deictic center (and, thus, being directed away from it) vs. having its origin outside the deictic center (and, thus, preferably being directed towards it). (Lehmann 1991, S. 20) Er führt die Hörbelege in (6) und (7) an und bemerkt dazu: „Herkommen und [...] is much rarer than hingehen und. [...] Lacking sufficient data, I cannot say more about this.“ (Lehmann 1991, S. 21). (6) Nun könnte man ja hingehen und das Ganze nochmal schreiben. (7) Was wir nun nicht verstehen, ist, warum man nicht herkommt und das schutzgeimpfte Tier dem antibakteriell positiven Tier gleichstellt. Die Daten aus dem hier verwendeten Untersuchungskorpus FOLK bestätigen, dass herkommen selten so verwendet wird, hingehen und kommt dagegen recht häufig vor, außerdem gehen mit beliebigem Direktionaladverbial (vgl. 4.2.2). Andere Verben sind - zumindest in FOLK - aber ebenso häufig Teil einer Pseudokoordination, v.a. kommen (auch ohne Direktionaladverbial) und sitzen (vgl. 4.2.1). In der deutschen generativen Grammatik wird die hier untersuchte Struktur als eine Form der asymmetrischen Koordination diskutiert (vgl. im Überblick Reich 2009). Nicht alle im vorliegenden Artikel demselben Phänomen (Pseudokoordination) zugeschlagenen Varianten der durch und verbundenen Sätze ohne realisiertes Subjekt im zweiten Teilsatz gelten diesen Ansätzen zufolge als asymmetrisch koordiniert. Aufgrund spezifischer theorieinterner Annahmen, die damit zusammenhängen, ob das Subjekt im ersten Teilsatz im Vor- Nadine Proske 186 feld oder im Mittelfeld steht, 11 gilt ein Beispiel wie (8) als asymmetrische Koordination, ein Beispiel wie (9) aber als zu den Koordinationsellipsen gezählte ‘Rechtstilgung’. (8) Gestern kam meine Kollegin zu mir und brachte mir ein Stück Kuchen. (9) Meine Kollegin kam gestern zu mir und brachte mir ein Stück Kuchen. Die asymmetrisch koordinierten Fälle werden als obligatorisch eine ‘fusionierte’ Interpretation bzw. ‘Ereignissubordination’ (Reich 2009) auslösend angesehen, als symmetrisch koordiniert geltende Fälle (mit Rechtstilgung oder auch mit realisiertem Subjekt) können ebenfalls eine solche Lesart erhalten, müssen es aber nicht. Die Generalisierung, dass asymmetrische Koordinationen mit einer bestimmten Interpretation einhergehen, die bei anderen, verwandten Strukturen seltener ist, ist zwar potenziell eine, die auch mit nicht generativ ausgerichteten Beschreibungen der Pseudokoordination kompatibel ist, eine direkte Verbindung der Ansätze scheitert aber daran, dass der Phänomenbereich nicht auf die gleiche Weise abgesteckt wird. Die verschiedene Klassifikation der Belege (8) und (9) basiert wie einige andere hier relevante Klassifikationen 12 auf den Annahmen einer bestimmten formalen Baumstruktur sowie dem Einsetzen von Phrasen darin in bestimmten Ausgangspositionen und anschließenden, zur Erzeugung der Oberflächenposition notwendigen Bewegungen. Eine auf solchen - zudem theorieintern umstrittenen (vgl. Reich 2009, Kapitel 4) - Annahmen basierende Unterscheidung von Sätzen, die semantisch und auch ‘oberflächenstrukturell’ vergleichbar sind, ist m.E. nicht sinnvoll, zumal in der Literatur zur Pseudokoordination in anderen Sprachen in der Regel die 11 Es wird davon ausgegangen, dass bei einer Koordinationsellipse identisches Material in einem der Teilsätze nur an derselben Position getilgt werden kann, so dass nur in (9) eine solche angenommen werden kann. Es ist bemerkenswert, dass von Reich (2009) und der von ihm referierten Literatur immer wieder auf die Ähnlichkeiten der Strukturen in (8) und (9) verwiesen wird, er die gemeinsame Behandlung dann aber aufgrund von Unterschieden ablehnt, die zum einen durch Annahmen nicht sichtbarer, zugrundeliegender Strukturen motiviert und spezifisch für einen einzelnen theoretischen Ansatz sind und die zum anderen aus Sicht einer ‘Oberflächengrammatik’ weitaus geringer sind als die Gemeinsamkeiten. Dass die generativen Vorannahmen nicht unbedingt geeignet sind, authentische Daten sinnvoll zu klassifizieren, zeigt sich m.E. in der Arbeit von Hartung (2012), die sich der Koordination aus Spracherwerbsperspektive widmet und CHILDES-Daten nach Reichs Ansatz klassifiziert. Sie stellt für die asymmetrische Koordination (8) einen ähnlichen, zeitlich vergleichbaren Erwerbsverlauf fest wie für die Rechtstilgung bei symmetrischer Koordination (9) (im Unterschied auch zu anderen Ellipsenarten) und konzediert, dass diese sich aus dieser Perspektive ähnlicher sind als theoretisch vorgesehen (vgl. Hartung 2012, S. 225ff.). 12 So wird z.B. auch angenommen, dass Koordinationen von zwei Verbletztsätzen sowie von zwei Imperativsätzen grundsätzlich nicht asymmetrisch sind (vgl. Reich 2009); hier werden sie als pseudokoordinativ gewertet, wenn sie monoprädikativ sind (vgl. 4.1.5). Pseudokoordiniertes kommen 187 Stellung des Subjekts vor dem Finitum im ersten Teilsatz nicht als Widerspruch zum pseudokoordinativen Status eines Belegs gesehen wird. 13 Im Gebrauch sind Varianten mit Subjekt im VF semantisch und pragmatisch gesehen gegen solche mit Subjekt im MF austauschbar (vgl. 4.1.5). In der generativen Literatur zum Deutschen wird nicht darauf eingegangen, dass bestimmte Verben besonders häufig im ersten Teilsatz der Pseudokoordination vorkommen, obwohl unter den Beispielen viele mit kommen sind. Auch der Gebrauchskontext spielt keine Rolle, was auch bedeutet, dass die Interpretation von Sätzen auf logischen, der Zeitlichkeit enthobenen Erwägungen basiert. Dies zeigt sich z.B. darin, dass Koordinationen mit und dann - seien sie formal symmetrisch oder asymmetrisch - als semantisch-pragmatisch asymmetrisch und damit nicht prototypisch koordinativ gelten, weil sie eine Nachzeitigkeitsrelation herstellen, was der logische Operator und, der nur gleichrangig verknüpfen soll, eigentlich nicht zulassen soll (vgl. Reich 2009, S. 7, 60 und 110). In gebrauchsbasierten Ansätzen zur Pseudokoordination dagegen gilt Verknüpfung durch und dann als ein Zeichen dafür, dass keine Monoprädikativität und damit semantisch-pragmatisch gewöhnliche Koordination vorliegt, weil die Ereignisse seriell stattfinden (siehe 3.1). Diese Sicht kommt dem tatsächlichen Gebrauch von Satzkoordination näher, weil sie voraussetzt, dass und - mit und ohne dann - meistens zur Verknüpfung nacheinander stattfindender Ereignisse verwendet wird (und eben nicht zur logischen Verknüpfung wie in Anna schenkte mir ein Buch und Martin brachte Wein mit.). 14 Die meisten in zusammenhängenden Turns oder Texten vorkommenden koordinierten Sätze sind nicht in ihrer Reihenfolge umkehrbar. 15 Bisher steht zum Deutschen also sowohl eine gebrauchsbasierte Systematisierung koordinativer und pseudokoordinativer Strukturen als auch eine Untersuchung spezifischer lexikalischer Füllungen dieser aus. Insofern kann die hier vorgestellte Studie zu kommen und nur ein erster Schritt zu einem besseren Verständnis des gesamten Spektrums von Satzverknüpfungen im gesprochenen Deutsch sein. 13 Vgl. z.B. de Voss (2005, S. 1), der Sätze wie Caesar went to Gaul and devastated it. als Pseudokoordination (mit der Funktion ‘scene-setting’) beschreibt. Er argumentiert außerdem innerhalb eines generativen Ansatzes dafür, dass Pseudokoordination nicht notwendigerweise asymmetrische Koordination sein muss. 14 Vgl. auch Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997, S. 2393), die davon ausgehen, dass in Erzählzusammenhängen primär eine zeitliche Abfolge der Konjunkte (vor allem bei geteiltem Subjekt) und sekundär (u.a. bei verschiedenen Subjekten) auch eine Gleichzeitigkeit unterstellt wird. 15 Deshalb ist auch die Nicht-Umkehrbarkeit schlecht als eindeutiger Test für das Vorliegen von Pseudokoordination geeignet - sie ist notwendig aber nicht hinreichend (vgl. auch Heycock/ Petersen 2012, S. 264f.). Nadine Proske 188 3. Untersuchung zur Pseudokoordination mit kommen Die Pseudokoordination erweist sich sowohl insgesamt als auch in Verbindung mit kommen als eher selten im Forschungs- und Lehrkorpus gesprochenes Deutsch (FOLK, vgl. Schmidt 2014 sowie die Einleitung dieses Bandes): Von allen 4.925 Vorkommen 16 des Lemmas kommen lassen sich 95 als formale Kandidaten für Pseudokoordination einstufen (vgl. 3.1), die Zahlen für gehen und sitzen sind in etwa ähnlich hoch (siehe 4.2). Die meisten Verwendungen von kommen und anderen Verben, die in Pseudokoordination auftreten können, finden also außerhalb dieser Struktur statt. Innerhalb der vorkommenden Pseudokoordinationen nimmt kommen jedoch mit am häufigsten die Position des ersten Verbs ein - gehen tritt mit einer vergleichbaren Häufigkeit auf (106 pseudokoordinierte Fälle unter den insgesamt 5.876 FOLK-Belegen für das Lemma), allerdings anders als kommen immer mit Direktionaladverbial. 17 In der für die Studie zu kommen und gehen ausgewerteten Stichprobe (vgl. Zeschel in diesem Band a) sind nur zwei FOLK-Belege für kommen und vertreten; obwohl es sich also um eine eher seltene Verwendung des Lemmas kommen handelt, ist sie doch im Korpus etwas häufiger als die Stichprobe nahelegt. Als zweites Verb findet sich am häufigsten sagen, das gilt auch bei anderen Verben im ersten Teilsatz, bei kommen jedoch in besonderem Maße (vgl. 4.2). 3.1 Kollektionsbildung Die 95 Belege für [kommen und VP] wurden über die DGD-Suchoberfläche gefunden. Zunächst wurde auf der lemmatisierten Spur nach kommen gesucht, um alle Flexionsformen des Verbs abzudecken. Für die Treffermenge wurde dann der Kontext gefiltert, indem auf der normalisierten Spur nach und im Abstand von bis zu 15 Tokens (rechts vom Verb) gesucht wurde. Dieser große Abstand wurde gewählt, weil theoretisch relativ viele intervenierende Wörter und sonstige Transkriptionszeichen zwischen kommen und und denkbar sind 18 und auch nicht prototypische Fälle abgedeckt werden sollten. 16 Stand: April 2016 (ca. 170 Stunden, 219 Gespräche, 1,6 Millionen Tokens). 17 Es gibt also - zumindest im untersuchten Korpus - keine dem Englischen vergleichbaren Fälle von [gehen und VP]. Vgl. zur Pseudokoordination mit gehen 4.2.2. 18 Ein fiktives Beispiel: und dann kam gestern eine Studentin, die sowieso immer genervt in der Vorlesung sitzt, aber meistens auch nicht aufpasst, und hat sich über den Prüfungsstress beschwert. Der tatsächliche Abstand zwischen kommen und und beträgt in den Belegen aus FOLK höchstens neun Tokens. Die Fälle ohne und (siehe 4.1.2) konnten nur gefunden werden, weil sie in Belegen mit einem weit entfernten und, das nicht zur Zielstruktur gehört, enthalten waren. Analoge Fälle, die auch in diesem Abstand kein und enthalten, konnten so natürlich nicht gefunden werden, weshalb hier auch auf die Funktion dieser nicht prototypischen Fälle nur exemplarisch eingegangen werden kann. Pseudokoordiniertes kommen 189 Dies führte dazu, dass ein großer Überschuss an nicht relevanten Strukturen manuell durchgesehen werden musste, der jedoch auch einige potenziell verwandte Strukturen enthielt, die hier zum Abschluss (vgl. 4.) diskutiert werden. Zusätzlich wurde eine entsprechende Suche nach den Lemmata hinkommen, (he)reinkommen, (da)herkommen und (he)rauskommen durchgeführt, um auch zusammengeschriebene Vorkommen von kommen mit direktionalem Adverb finden zu können, deren getrennt geschriebene Äquivalente schon über die Suche nach dem Lemma kommen mit abgedeckt waren. 19 Welche Fälle in die Kollektion aufgenommen wurden, wurde zunächst anhand formaler Kriterien entschieden. Bei der anschließenden funktionalen Analyse wurde innerhalb der Kollektion weiter differenziert und entschieden, welche Belege als monoprädikativ gewertet werden können. Zusätzlich wurden einige aus formalen Gründen nicht in die Kollektion aufgenommene Belege, die funktional der Pseudokoordination nahe stehen, separat gesammelt und vergleichend analysiert (z.B. Fälle, in denen das Subjekt des zweiten Teilsatzes nicht elliptisch, sondern pronominal ist, und Fälle ohne und, vgl. 4.). Die formalen Kriterien zielten auf eine breite, auch nicht prototypische Fälle umfassende Definition ab: Die Kollektion wurde nicht auf einstellige Verwendungen von kommen beschränkt; auch Belege mit direktionaler PP oder AdvP wurden einbezogen, 20 und auch Belege für ankommen wurden aufgrund der verwandten Bewegungsbedeutung berücksichtigt. Damit sind als Verb des ersten Teilsatzes hier mehrere Lexeme, die kommen als Bestandteil haben, vertreten - mindestens kommen und ankommen, je nach Einschätzung des Status direktionaler Adverbien wie hin und her als Verbpartikel oder Satzglied. Das Tempus ist zwar de facto in den meisten Fällen in beiden Teilsätzen identisch, es wurden aber auch Belege mit unterschiedlichem Tempus aufgenommen, v.a. weil Präteritum und Perfekt im Deutschen funktional oft äquivalent sind und kommen als hochfrequentes Verb häufiger im Präteritum verwendet wird, wenn andere Verben in demselben Kontext im Perfekt stehen. Die funktionale Analyse sollte zeigen, welche der formal einschlägigen Belege tatsächlich als monoprädikativ gelten können; dies wurde dann angenommen, wenn die beiden Teilsätze sich auf ein einziges (übergeordnetes) Ereignis beziehen. Für die Entscheidung wurden die unter 2. genannten morphosyntaktischen Kriterien herangezogen, d.h. es wurde geprüft, ob Negation oder temporale/ lokale Adverbiale des ersten Teilsatzes - sofern vorhanden - 19 Auf diese Weise wurden neun zusätzliche Belege gefunden; der Großteil der Belege (n=86) ging also bereits aus der Suche nur nach kommen + und hervor. Es wurde auch nach zusammengeschriebenen Belegen für ankommen und gesucht, unter den Treffern waren aber keine Fälle von Pseudokoordination. 20 Einige Autoren schließen solche Fälle aus der Kategorie Pseudokoordination aus (z.B. Hesse 2010), andere schließen sie ein (z.B. de Vos 2005; Heycock/ Petersen 2012; Lødrup 2002). Nadine Proske 190 auf beide Verben bezogen sind. Zudem wurde überprüft, ob der erste Satz im gegebenen Kontext auch alleine stehen könnte (bzw. auch eine andere, nicht durch und angeschlossene Fortsetzung möglich wäre) und ob eine Einleitung des zweiten Teilsatzes durch und dann oder und außerdem möglich 21 ist, ohne zu einer Bedeutungsveränderung zu führen. Wenn beides nicht der Fall ist, bilden die Verben ein gemeinsames Prädikat bzw. beziehen sich auf gleichzeitig ablaufende oder sequenziell verlaufende, aber voneinander abhängige Ereignisse. Die Tests funktionieren allerdings nicht immer gut. Wenn schon das im ersten Teilsatz vorhandene Temporaladverbial beispielsweise nur ein dann ist wie in (10), ist zwar intuitiv plausibel, dass es auch auf den zweiten Teilsatz bezogen ist und dort nicht sinnvoll erneut eingesetzt werden könnte. Da es aber keinen präzisen Zeitpunkt angibt und Anschlüsse durch und dann generell weit verbreitet sind, belegt es die Monoprädikativität dennoch nur bedingt. In (10) ist aber sehr klar, dass der kommen-Satz nicht alleine stehen oder anders fortgesetzt werden könnte. 21 Dieser Test stammt aus der Literatur zum Englischen (vgl. Hopper 2002, S. 153; Stefanowitsch 2000, S. 260); es ist nicht klar, ob er fürs Deutsche tatsächlich gut geeignet ist, wie die obige Diskussion zeigt. Dennoch wurde hier als erste Näherung daran festgehalten. Wenn die Belegsätze selbst und dann oder und außerdem enthalten, wurden sie von vornherein aussortiert, obwohl einzelne Fälle trotzdem als monoprädikativ gewertet werden könnten ( un hat sich irgendwie dis knIE gebROchen, (0.3) wie auch Immer, KNIEscheibe ürgenwas kam dann der RETtungswagen, °hh un hat den dann Abgeholt, FOLK_E_00022_SE_01_T_03, c923 ) Es müsste generell näher untersucht werden, ob ein und dann tatsächlich immer auf unabhängige, gleichrangige Ereignisse schließen lässt. So finden sich z.B. auch Belege durch und dann koordinierter Sätze mit nicht elliptischem Subjekt, die semantisch dennoch monoprädikativ gedeutet werden können (vgl . so irgendwie zehn miNUten, nachdem ich grad am EINschlafen war, KOMMT er, und dann will er halt immer geSTREIchelt werden , FOLK_E_00084_SE_01_T_02_DF_01 , c747). Die monoprädikative Interpretationsmöglichkeit solcher Beispiele widerspricht der These von Roßdeutscher/ Stutterheim (2006, S. 59), wonach die Mittel-Zweck-Beziehung aufeinanderfolgender Sätze, die beide eine Handlung desselben Agens beschreiben, von dann suspendiert wird. Als teilweise auf die angeführten Beispiele zutreffend kann vielmehr deren nur auf Satzkombinationen aus Zustand(swechsel) und Handlung sowie Zustand(swechsel) und Zustand bezogene These gewertet werden, dass dann im Mittelfeld eine Interpretation der Sachverhalte als zeitlich teilweise überlappend ermöglicht, während dann im Vorfeld eine diskontinuierliche Interpretation bewirke. Im Rettungswagen-Beispiel steht dann im Mittelfeld und eine Interpretation als überlappend ist möglich. Allerdings ist eine solche Interpretation m.E. auch im Einschlafen-Beispiel möglich, bei dem dann im Vorfeld steht. Obwohl die Ausgangsbeobachtung für die Thesen von Roßdeutscher/ Stutterheim (2006) auf Daten aus psycholinguistischen Produktionsexperimenten beruhen, wird von den Autoren keine diesbezügliche Statistik präsentiert und die Modellierung erfolgt anhand fiktiver Beispiele. Zudem wird nicht einbezogen, inwiefern eine asyndetische Reihung der beiden interessierenden Sätze sich hinsichtlich dann anders verhält als zwei durch und koordinierte Sätze. Pseudokoordiniertes kommen 191 (10) der war halt so dafür bekAnnt dass immer zEcken und LINke rumhängen und so was; =jA und dann KAmen die und ham hier; uns OFgerieben, und ja hier äh °h packt ma eure RUCKsäcke aus, gebt ma GELD, gebt ma KIPpen hier- ZACK und so- (FOLK_E_00129_SE_01_T_02, c195) 22 In (11) ist dagegen das Temporaladverbial heute klar auf beide Teilsätze bezogen und ein Anschluss des zweiten Teilsatzes durch und dann klingt markiert (dass heute die Tante kommt und sie dann abholt); zwar sind die Ereignisse auch als sequenziell stattfindend interpretierbar (erst (zu Besuch) in die Klinik kommen, dann gemeinsam woanders hinfahren oder -gehen), doch dies würde vermutlich eher mit mitnehmen als mit abholen formuliert werden. Hier ist klar, dass die Ereignisse ‘kommen’ und ‘abholen’ kausal bzw. final miteinander verbunden sind und ineinander übergehen. (11) äh un war der festen überZEUgung, gestern NACHmittag als auch HEUte, dass heute die TANte kommt, und sie ABholt. (FOLK_E_00118_ SE_01_T_01, c241) Das Vorhandensein eines dann im zweiten Teilsatz schließt aber eine Interpretation als ein Ereignis nicht aus: In (12) bezieht sich das nicht direkt nach dem und sondern später im Mittelfeld auftretende dann nicht auf ein vorausgehendes Ereignis ‘Aus-dem-Studium-Herauskommen’, sondern wie ein Korrelat auf die vom wenn-Satz explizierte Zeit, ist also zeitgleich zum Ereignis ‘Ausdem-Studium-Herauskommen’. Damit ist die Struktur insofern monoprädikativ, als der erste Teilsatz wie ein temporales Adverbial in einer Hauptsatz- Nebensatz-Struktur dem zweiten Teilsatz semantisch untergeordnet ist. Dies zeigt sich auch darin, dass sich die Lesart ändert, wenn man den wenn-Satz in zwei koordinierte Nebensätze mit jeweils realisierter Konjunktion umwandelt (Wenn du nach dem Studium rauskommst und wenn du (dann) immer noch nicht gescheit schreiben kannst, wollen die dich auch nicht). (12) aber wenn du halt (0.36) nach m studium RAUSkommst, und halt irgendwie immer noch nich gescheit dann SCHREIben kannst , (0.85) dann WOLlen die dich au nich; (FOLK_E_00046_SE_01_T_01, c205) Im zweiten Teilsatz kann eingeschränkt, wie hier in (12), auch eine unabhängige Negation vorkommen; in der Regel ist der zweite Teilsatz nicht unabhängig vom ersten negierbar. Potenziell Skopus über beide Verben haben nur im ersten Teilsatz auftretende Negationen (vgl. (13)). 22 Das Pronomen der im ersten Satz (der war halt so dafür bekannt, dass ...) bezieht sich auf einen Park. Das Subjektpronomen des kommen-Satzes, die, bezieht sich auf eine vom Sprecher zuvor als Nazis bezeichnete Gruppe. Nadine Proske 192 Aufgrund der Schwierigkeiten mit den in der Literatur genannten Tests bietet es sich m.E. an, zusätzlich zu überprüfen, ob das zweite Verb auch alleine eine propositional vergleichbare Äußerung erzeugen kann; dies funktioniert bei allen bisher angeführten Beispielen (s.u.) und zeigt, dass kommen eine besondere Funktion hat, die nicht rein propositional motiviert ist. (10a) Der (Park) war dafür bekannt, dass immer Zecken und Linke rumhängen, und dort haben die (Nazis) uns aufgerieben. (11a) Sie war der Überzeugung, dass die Tante sie heute abholt. (12a) Wenn du nach dem Studium immer noch nicht gescheit schreiben kannst, dann wollen die dich auch nicht. Bei einigen im weiteren Verlauf des Artikels diskutierten Beispielen, v.a. solchen mit lexikalischem Direktionaladverbial, funktioniert dies jedoch nicht, so dass das Funktionieren auch dieses Tests nur ein Indiz, aber keine Bedingung für die Annahme von Monoprädikativität sein kann. Es muss darüber hinaus betont werden, dass Monoprädikativität nicht mit der Verblassung der Bedeutung von kommen gleichgesetzt werden sollte. Zwar spricht diese für einen besonders hohen Grad an Monoprädikativität, doch auch bei Bewegungsbedeutung können die beiden Sätze oft nur sinnvoll als Teilereignisse eines übergeordneten Gesamtereignisses interpretiert werden. Entsprechend soll der vorgeschlagene Test nicht suggerieren, dass der kommen-Teilsatz grundsätzlich weglassbar wäre. Nicht nur hat er in allen Fällen eine perspektivierende Funktion (vgl. 3.3.3), sondern oft ist auch das Erscheinen des Subjektreferenten an einem bestimmten Ort ein zentrales und teilweise sogar unabhängiges (Teil-)Ereignis (vgl. v.a. 3.6.2). Dieses Erscheinen erfolgt aber immer zu einem bestimmten Zweck, so dass es mit diesem zu einem übergeordneten Sachverhalt verbunden ist. Die Bezeichnung ‘Monoprädikativität’ soll hier also auf diese übergeordnete Ebene der Betrachtung, auf der ein Teilsatz dem anderen semantisch untergeordnet ist, verweisen. 23 Außerdem soll Monoprädikativität als Kontinuum verstanden werden (vgl. auch Hopper 2002, S. 148, 2008, S. 276f.), auf dem es Fälle mit höherem und niedrigerem Grad gibt. Weitere Indizien für die Untergeordnetheit eines Teilereignisses liefern die unter 3.3.1 und 3.3.2 vorgestellten Tests für Zweckfokus und Gleichzeitigkeitsrelation. Evidenz dafür, dass die Pseudokoordination nicht nur aus Sicht linguistischer Tests sondern auch aus Sicht der Sprecher monoprädikativ ist, können Reparaturen wie die folgende liefern: 23 Vgl. zu einem solchen weiten Verständnis der Monoprädikativität („hendiadic in a broader sense“, Hopper 2002, S. 151) und zu den Schwierigkeiten der Einordnung mancher empirischer Belege auch Hoppers (ebd., S. 153) Verweis auf Crofts (1991, S. 269) Kriterien für Ereignishaftigkeit, die pseudokoordinierte Sätze tendenziell nur gemeinsam erfüllen. Pseudokoordiniertes kommen 193 (13) Unterrichtsstunde Berufsschule (FOLK_E_00004_SE_01_T_02, c354) 01 JM der kann ja NIT sache: - 02 daNOCH; = 03 =und_ e johr spÄter kumm und sAche JA- 04 (1.62) 05 GS ʔM_m, 06 JM musch_s zuRÜCKzahle wenn er geht. In der Interaktion, aus der das Beispiel stammt, diskutieren Berufsschüler mit ihrer Lehrerin darüber, ob ein Arbeitnehmer sich von seinem Arbeitgeber eine Weiterbildung finanzieren lassen und dann kurz darauf kündigen darf bzw. ob der Arbeitgeber verlangen kann, dass der Mitarbeiter danach noch für eine bestimmte Zeit bleibt, und ob es für solche Fälle allgemeine oder individuelle rechtliche Rahmenbedingungen gibt. Im Ausschnitt äußert der Schüler JM die Meinung, dass ein Arbeitgeber nicht ohne vertragliche Übereinkunft nach einer Kündigung die Ausgaben für eine Weiterbildung zurückverlangen könne. Er beginnt die Einleitung dessen, was ein Arbeitgeber nicht äußern könne, zunächst durch einen Satz nur mit sagen (Z. 01), erweitert durch ein danach im Nachfeld (Z. 02), bevor er die zeitliche Einordnung durch ein Jahr später (Z. 03) präzisiert und das Verb durch die Pseudokoordination kommen und sagen ersetzt. Subjekt und Modalverb werden im Zuge der Reparaturen nicht ersetzt, so dass sich als korrigierter Satz folgender ergibt: Der kann ja nicht ein Jahr später kommen und sagen: Ja, (er) muss es zurückzahlen, wenn er geht. Die Reformulierung von sagen zu kommen und sagen spricht dafür, dass das eigentlich relevante Ereignis das Kommunikationsereignis ist und dass kommen nicht aus propositional-semantischen Gründen (also um auf eine Ortsveränderung zu verweisen) verwendet wird, sondern um bestimmte andere semantische sowie pragmatische Effekte zu erzielen, die im Folgenden näher analysiert werden sollen. Hier ist zunächst festzuhalten, dass dasselbe Ereignis vom Sprecher zunächst nur durch ein Verb und dann durch zwei durch und verbundene Verben versprachlicht wird, was für die potenzielle Monoprädikativität formal pseudokoordinativer Strukturen mit kommen spricht. Die Analyse wies 78 Belege als (in verschiedenem Maße) monoprädikativ aus. Da dies die große Mehrheit der gesamten Kollektion ist und zudem alle der als nicht monoprädikativ eingestuften Fälle Zweifelsfälle sind (so dass keine formal einschlägigen Fälle eindeutig nicht monoprädikativ sind), wurde die Kollektion als ganze ausgewertet. Das heißt, die Häufigkeitsangaben unter 3.2 beziehen sich auf alle 95 Fälle; dort, wo es relevant ist (v.a. unter 3.4 zur Prosodie), wird danach unterschieden, ob die Belege klar monoprädikativ sind oder nicht. Nadine Proske 194 3.2 Auswertung: Formales Muster Das formale Grundmuster der Pseudokoordination lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen: [NP i kommen (PP/ AdvP DIR ) und _ i VP]. 24 Es zeigen sich über diese obligatorischen Komponenten hinaus einige statistische Tendenzen der Realisierungsform der Verben und Satzglieder in den Belegen der Kollektion. 3.2.1 Realisierungsform des ersten Teilsatzes Mehr als ein Drittel (n=35) der Subjekte des ersten Teilsatzes ist lexikalisch realisiert, unter den pronominalen Realisierungen 25 sind außerdem einige Indefinitpronomen, die ebenso wie lexikalische Realisierungen das Potenzial zur Einführung neuer Referenten haben (vgl. 3.5.1). Zudem stehen zwei Drittel (n=62) der Subjekte im Mittelfeld, wo neue Referenten eher auftreten als im Vorfeld. 26 Die Subjektreferenten sind zu 85% 3. Personen (Singular und Plural) und alle bis auf einen belebt. Fast drei Viertel (n=68) der Sätze sind Verbzweitsätze, knapp die Hälfte (n=33) dieser hat ein durch ein Temporal- oder Lokaladverbial gefülltes Vorfeld, meist dann oder da (zusammen n=25). 27 Von allen Sätzen (V2 und VL) haben insgesamt fast zwei Drittel (n=60) ein Temporal- oder Lokaladverbial. In knapp der Hälfte der Fälle (n=42) ist kommen einstellig, bei der anderen Hälfte der Belege (n=53) ist das Prädikat durch ein Direktionaladverbial oder eine Verbpartikel erweitert. 28 In mehr als zwei Drit- 24 Das Schema dient der Veranschaulichung und hat keinen theoretischen Status. Deshalb wird auch auf die Darstellung der internen Phrasenstruktur verzichtet, d.h. es wird nicht entschieden, ob es sich um Satz-Koordination [[NP i kommen (PP/ AdvP DIR )] und [ _ i VP]] oder VP-Koordination [NP i [kommen (PP/ AdvP DIR ) und VP]] handelt. Somit steht die mit der NP koindizierte Leerstelle auch nicht notwendigerweise für eine Ellipse, sondern zunächst für die Tatsache, dass die zweite VP dasselbe Subjekt hat bzw. auf denselben Referenten bezogen wird wie die erste. Dasselbe gilt für die Verwendung der Bezeichnung ‘Ellipse’ im Text; diese wird der Einfachheit halber für das syntaktisch nicht realisierte Argument der zweiten VP verwendet, ohne von einer Tilgung auszugehen. 25 Von den 56 pronominalen Subjekten sind 31 Personalpronomen, 15 Demonstrativa und drei Relativpronomen, sieben sind Indefinitpronomen. Drei Subjekte sind bereits im ersten Teilsatz elliptisch. 26 Von den lexikalischen Subjekten stehen ebenso zwei Drittel (n=24) im MF wie von den pronominalen (n=38). 27 Von den 68 V2-Sätzen haben 53 ein finites kommen (Präsens oder Präteritum), 15 ein infinites (Perfekt oder Modalverb). 26 Sätze haben VL-Stellung, ein Beleg steht im reinen Infinitiv. In allen Sätzen kommt dann insgesamt 27-mal vor, da 11-mal. 28 37 Belege haben ein Zieladverbial (meist rein oder her), sechs ein Quelladverbial, einer beides und einer ein Pfadadverbial. Vier Belege entfallen auf ankommen, drei auf vorbeikommen und einer auf die verbserialisierungsähnliche Kombination von finitem kommen und Partizip II eines anderen Bewegungsverbs (vorgeschossen kommen). Pseudokoordiniertes kommen 195 teln (n=65) der Fälle steht kommen im Präsens, die restlichen Belege entfallen größtenteils aufs Präteritum (n=22). 29 In 13 Fällen wird kommen durch ein Modalverb (meist können oder müssen) begleitet. Für die Verbzweitsätze lassen sich diese Tendenzen folgendermaßen schematisch darstellen: insgesamt entsprechen 27 Belege dem Schema [da/ dann kommt/ kommen/ kam(en) (PP/ AdvP DIR ) NP i und _ i VP] (vgl. (14) und (15)), 21 dem Schema [NP i kommt/ kommen/ kam(en) (PP/ AdvP TEMP ) (PP/ AdvP DIR ) und _ i VP] (vgl. (16) und (17)). (14) n da kommen IMmer wenn wenn ick da sItze, (0.44) da kommen ÜMmer welche und wollen ins soLArium. (FOLK_E_00039_SE_01_T_01, c1220) (15) ((erzählt Werbespot nach)) ähm; dann kommt halt die poliZEI, und lässt ihn BLAsen, oder gIbt ihm dis damit er REINblasen soll, (FOLK_E_00055_SE_01_T_07, c56) (16) gustaf kommt MORgen bei uns und; (0.2) macht die RITzen sauber. (FOLK_E_00201_SE_01_T_01, c282) (17) °h die kamen dann spÄter noch mal un haben ihr ne packung zigarEtten und FEUer gebracht, (FOLK_E_00118_SE_01_T_01, c288) Entsprechend kann das oben zuerst angeführte, über die Wortstellung und Flexion abstrahierende Grundmuster zur Veranschaulichung um die Realisierungstendenzen erweitert werden: [NP i kommen (da/ dann/ PP/ AdvP TEMP ) (PP/ AdvP DIR ) und _ i VP]. 3.2.2 Verben im zweiten Teilsatz Die im zweiten Teilsatz vorkommenden Verben entfallen auf fünf semantische Gruppen (vgl. Tabelle 1). Die häufigste Gruppe sind Kommunikationsverben (n=31), allen voran sagen (n=22) und meinen (n=4). Die zweithäufigste Gruppe sind Verben, die eine (nicht kommunikative) Aktivität bezeichnen (n=30), neben dem allgemeinsten, neutralen Handlungsverb machen (n=5) auch nicht wenige mit negativer Konnotation (einsperren, (die Tür) knallen, hinschmeißen, rumspielen, jemanden aufreiben) (siehe dazu 3.5.2). Die drei übrigen Gruppen sind seltener: Verben der Domänen Perzeption und Mentales (n=13) wie gucken, wissen und wollen, 30 Transferverben (n=13) wie holen, bringen und nehmen sowie nicht agentive Verben verschiedener Art (n=7). 29 Es gibt sieben Belege fürs Perfekt und einen für den würde-Konjunktiv. 52-mal stehen beide Verben im Präsens, 28-mal beide in einer Vergangenheitsform (davon 11 einheitlich im Präteritum, sechs einheitlich im Perfekt und 11-mal steht ein Verb im Perfekt und eins im Präteritum, dabei steht fast immer kommen im Präteritum). 30 Wollen bezieht sich zwar auf einen mentalen Zustand, impliziert in der Verwendung - insbesondere in der Pseudokoordinationskonstruktion mit kommen - aber häufig ein Kommunizieren des Gewollten (vgl. 3.3.1.2). Nadine Proske 196 Domäne Verb im zweiten Teilsatz Häufigkeit 31 Kommunikation sagen 22 meinen 4 einfordern, reden, anvertrauen, schreien, sich beklagen (je 1-mal) 5 33% Perzeption/ Mentales wollen (2-mal ohne Infinitiv, 2-mal mit) 4 wissen 3 gucken 2 hören, anschauen, lernen, interpretieren (je 1-mal) 4 14% Transfer (ab)holen 5 (mit-/ ab-/ auf-)nehmen 4 (mit)bringen 3 kaufen 1 14% Aktivität machen 5 (blasen/ zeichnen) lassen 2 (raus)gehen 3 knallen, einsperren, stopfen, graben, hinschmeißen, wählen, verhaften, malen, auflecken, reparieren, ablenken, festhalten, rumspielen, aufreiben, fahren, öffnen, studieren, fügen, fortsetzen, landen (je 1-mal) 20 32% Zustand/ Position bluten, sitzen, eingeladen werden, 32 haben, schreiben können, anhaben (‘tragen’), sein (je 1-mal) 7 7% Tab. 1. Häufigkeit verschiedener Verben und Verbklassen im zweiten Teilsatz der Pseudokoordination mit kommen. 31 In der Tabelle sind nur 94 Belege berücksichtigt, da ein Beleg kein zweites Verb enthält, aber trotzdem als Pseudokoordination gewertet worden ist, weil dem und eine Interjektion folgt, die sich auf eine vorerwähnte Handlung bezieht: <<all> und dann kommt wieder diese FRAU von hinten un sAgt,> (.) ja i t (0.92) wird geSCHLACHtet. […] und dann kommt die FRAU von hinten, mit m DOLCH, und BUFF. (FOLK_E_00077_SE_01_T_01, c219 und c236) 32 Das Verb einladen ist natürlich ein agentives Aktivitätsbzw. Kommunikationsverb, es wird hier aber in seiner Passivform als nicht agentives Prädikat gewertet, weil es in der Kollektion nur diesen einen Fall von Passiv im zweiten Teilsatz gibt, der zudem wie ein Kopulasatz verwendet wird: °h dat MACHT man nich. wenn man KOMMT, un wird EINgeladen, °h denn sacht man NICH sofort ich MÖCHT kein kuchen. (FOLK_E_00202_SE_01_T_01, c33) Pseudokoordiniertes kommen 197 Es gibt also eine starke Tendenz dazu, dass das Verb des zweiten Teilsatzes ein Handlungsverb ist, was angesichts der Bewegungssemantik von kommen nicht überraschend ist: Man bewegt sich in der Regel zu einem bestimmten Zweck an einen Ort bzw. um dort eine Handlung auszuführen. Wenn dieser Zweck nicht bereits im Direktionaladverbial von kommen enthalten ist bzw. dieses metonymische Schlüsse darüber zulässt (wie z.B. bei zum Meeting kommen), liegt es nah, dass der Sprecher ihn expliziert, insbesondere wenn der folgende Teilsatz so eng angebunden ist wie bei der Pseudokoordination mit ihrem elliptischen, koreferenziellen Subjekt. Kommunikationsverben kann man als Untergruppe der Handlungsverben betrachten. Dass diese einen besonders großen Teil der Verben im zweiten Teilsatz ausmachen, ist nicht unmittelbar erwartbar, aber auch plausibel, da ein häufiger Zweck der Bewegung an einen Ort die Interaktion mit den sich dort aufhaltenden Personen ist. In jedem Fall lässt sich die große Häufigkeit insbesondere von sagen als Verb im zweiten Teilsatz als semantische Spezialisierung der Pseudokoordination mit kommen (oder zumindest einer ihrer Untergruppen) interpretieren. Auf diese Schlussfolgerung geht das Fazit näher ein. Zunächst soll die Semantik der untersuchten Belege allgemein beschrieben bzw. klassifiziert werden. 3.3 Auswertung: Semantik Die Semantik von kommen ist bei nur 11 Belegen komplett verblasst (vgl. z.B. (13) unter 3.1), d.h. in den meisten Fällen liegt eine Bewegungsbedeutung vor. In den jeweiligen Kontexten wäre es aber oft nicht nötig, das Kommen des Referenten zu erwähnen bzw. wäre diese Erwähnung allein nicht ausreichend - die eigentlich relevante Prädikation wird vom zweiten Verb beigesteuert. Das heißt: Auch die semantisch transparenten Fälle sind meist monoprädikativ. Es zeigt sich, dass die Monoprädikativität zwei grundsätzlich verschiedene Ausprägungen haben kann: Entweder es steht der vom zweiten Verb eingebrachte Zweck der Ortsveränderung im Vordergrund, wobei die von den beiden Verben bezeichneten Handlungen auch sequenziell stattfinden können, oder aber es wird eine Gleichzeitigkeit der von den beiden Verben bezeichneten Handlungen erzeugt. 3.3.1 Zweckfokussierung Die zweckfokussierende Verwendung der Pseudokoordination kann als aus der Verbbedeutung von kommen abgeleitet angesehen werden: Der zweite Teilsatz beinhaltet grundsätzlich die am Zielort des Kommens ausgeführte Handlung (vgl. Lehmanns ‘Venitiv’, Abschnitt 2.2 sowie 3.3.4). Daraus ergibt sich, wenn die am Zielort ausgeführte Tätigkeit als geplant angesehen werden Nadine Proske 198 kann, die Lesart dieser Handlung als Zweck des Kommens. Aus dieser können sich wiederum weiter spezialisierte Verwendungen ergeben, z.B. auf eine bestimmte Art von Zweck wie das Vortragen eines Anliegens gerichtete (vgl. 3.3.1.2). 3.3.1.1 Zweck/ Grund Die zweckfokussierende Verwendung macht den größten Anteil an allen Belegen aus: In insgesamt 62 Fällen gibt das zweite Verb den Zweck oder Grund der Ortsveränderung an, die Hälfte dieser Fälle kann zusätzlich der im nächsten Abschnitt diskutierten spezifischeren Subkategorie ‘Anliegen’ zugeschlagen werden (das gilt für 28 der 62 Belege). Unter den bisher ohne größeren Kontext angeführten Belegen sind (11), (16) und (17) Beispiele für Zweckfokussierung. Das folgende Beispiel ist ein Ausschnitt aus einem Gesprächsabschnitt, in dem eine Studentin (US) davon berichtet, wie sie versucht hat, gegen eine Verwaltungsgebühr, die entstand, weil ihr Konto bei Abbuchung der Gebühr für ihren neuen Reisepass nicht gedeckt war, Einspruch zu erheben, diese dann aber doch gezahlt hat, weil die Behörde nicht nachgab. (18) WG-Tischgespräch (FOLK_E_00055_SE_01_T_07, c234) 01 NH ja [ aber irgendwann wIrd_s einem] [zu BLÖD. ] 02 US [und irgendwann hatt_ich halt keine] 03 [weil vor_s ge][rIcht] geh ich dann NET <<lachend> wegen achtzehn [euro.>] 04 NH [ja. ] 05 [(ja.) ] 06 XX ((lachen)) 07 AM °h hast du jetz_n schönen REIsepa[ss.] 08 US [ n]EE den muss ich jetz noch HOLN. 09 NH ((Lachansatz)) 10 US [den sollen] se jetz schÖn lAng AUFheben; 11 AM [pff ] 12 US und von A nach BE räumen; 13 <<lachend> bis ich [KOMM und] den [HOL. > ] 14 NH [hm. ] 15 [(bitte.)] Pseudokoordiniertes kommen 199 AM reagiert auf die Erzählung mit hast du jetz_n schönen REIsepass (Z. 07), woraufhin US angibt, sie müsse diesen erst noch abholen (Z. 08). Sie begründet ihr bisheriges Nicht-Abholen anschließend damit, dass die Sachbearbeiter noch eine Weile mit dem herumliegenden Pass zu tun haben sollen (Z. 10 und 12). Dies kann als Revanche für den verursachten Aufwand und Ärger, den die Studentin durch die Telefonate und Briefwechsel wegen der Angelegenheit hatte, interpretiert werden. 33 Die Verwendung der Pseudokoordination in Z. 13 unterstreicht dies: US verwendet hier - anders als in Z. 08 - nicht einfach holen (bis ich den (ab)hole), sondern expliziert, dass sie zum Zweck des Abholens in die Behörde kommen muss (bis ich komme und den hole). Da holen bereits eine Ortsveränderung impliziert, wäre diese Explikation eigentlich nicht nötig. Durch kommen wird hier der zusätzliche Aufwand betont, den die Studentin neben den bisherigen Umständen hat. Außerdem wird so betont, worüber sie selbst entscheiden kann: Zwar konnte sie die Zahlung der Verwaltungsgebühr nicht abwenden, aber sie kann bestimmen, wann sie die Behörde aufsucht und von ihrem Pass „befreit“. Eine Betonung des Aufwands, den das Kommen und die Handlung am Zielort dem Subjekt bereitet, ist bei Zweckfokussierung mehrfach festzustellen, häufig ist sie aber auch nicht vorhanden. Um zu testen, ob eine zweckfokussierende Verwendung vorliegt, können zwei Ersetzungsproben vorgenommen werden. Zum einen kann meist der zweite Teilsatz durch einen um-zu- oder weil-Satz ersetzt werden, wie die folgenden Testsätze zu (14), (16), (17) und (18) oben zeigen: 34 (18a) Den sollen sie jetzt schön lange aufheben und von A nach B räumen, bis ich komme, um den zu holen. (16a) Gustaf kommt morgen zu uns, um die Ritzen sauberzumachen. (17a) Die kamen dann später nochmal, um ihr eine Packung Zigaretten zu bringen. (14a) Da kommen immer welche, weil sie ins Solarium wollen. 33 Obwohl der Abschluss der Erzählung von mehrfachem Lachen aller Interaktionsbeteiligten begleitet ist, ist die (dem hier präsentierten Abschnitt) vorausgehende Darstellung auch von der Entrüstung aller über die bürokratischen Umstände geprägt. 34 In einigen Fällen ist der durch den und-Satz angegebene Zweck sicherlich nicht der einzige Grund fürs Kommen des Subjektreferenten, so dass die Testsätze semantisch nicht vollständig äquivalent zu den Originalsätzen sind. Dass sie nicht ungrammatisch bzw. semantisch inakzeptabel sind, zeigt aber, dass eine Zwecklesart vorliegt und eben keine Gleichzeitigkeitsrelation, bei der der Test zu einem nicht akzeptablen Satz führt. Nadine Proske 200 Zum anderen kann bei zweckfokussierender Verwendung oft die ganze Pseudokoordinationsstruktur durch die verbserialisierungs ä hnliche Kombination von finitem kommen und infinitem Vollverb (mit seinen Nicht-Subjekt-Argumenten) ersetzt werden: (18b) Den sollen sie jetzt schön lange aufheben und von A nach B räumen, bis ich den holen komme. (16b) Gustaf kommt morgen die Ritzen saubermachen. (17b) Die kamen ihr dann später nochmal eine Packung Zigaretten bringen. Dieser Test funktioniert nicht mit allen Verben (z.B. nicht mit wollen und meinen; mit sagen trotz des etwas unidiomatischen Ergebnisses grundsätzlich schon) bzw. bei manchen nur mit einem bedeutungsverwandten Verb (kommen und mitnehmen → abholen kommen). Die den Zweck fokussierende Verwendung tritt vor allem mit Transferverben und allgemeinen Aktivitätsverben auf. 3.3.1.2 Anliegen Wenn Kommunikationsverben oder das Modalverb wollen im zweiten Teilsatz auftreten, ist der Zweck der Ortsveränderung das verbale Hervorbringen eines Anliegens oder einer Behauptung bzw. eines Arguments. Ein Beispiel wurde mit (14) bereits angeführt; das dort verwendete wollen kommt einige weitere Male vor, auch mit infinitem Vollverb (vgl. (19)). Ebenso kommt mehrfach meinen i.S.v. ‘sagen’ vor sowie seltener verschiedene andere Kommunikationsverben wie einfordern (vgl. (20)). (19) ja wenn jetz n WAHLabonnent kOmmt un will ((die kompletten oratorien)) ham, hat er bisher immer AUFzahlen müssen. (FOLK_E_ 00082_SE_01_T_01, c43) (20) d (.) der (.) ähm herr patient _ mm hat an seine medikamente SELBstständig gedacht. also da KAM _er noch an un hat die (0.2) °h EINgefordert; dis hat au[ch prima ge]KLAPPT. (FOLK_E_00114_ SE_01_T_01, c400) Am häufigsten ist jedoch sagen, sowohl - wie bereits erwähnt - insgesamt als Verb des zweiten Teilsatzes als auch bei einen Zweck oder ein Anliegen fokussierender Verwendung. Folgendes Beispiel zeigt, wie eine Krankenschwester (ME) in einem Bericht über eine Patientin die Pseudokoordination mit kommen und sagen einsetzt. Pseudokoordiniertes kommen 201 (21) Schichtübergabe im Krankenhaus (FOLK_E_00114_SE_01_T_02, c475) 01 ME ja; 02 °h die nacht über waren dann KEIne besonderheiten, 03 geschlafen wie ÜBlich, 04 heute MORgen, 05 °hhh ((lacht)) so klEInigkeiten bringen se dann au[s_m TRITT; ] 06 MP [ʔm_m. ] 07 ME also sie hatte sich dann VORbereidet- 08 FRÜHstück un dann vorbereidung auf den TAgesurlaub, 09 und jetz hatten WIR die idee- 10 °h morgen is ja OStern? 11 (0.71) da wern kEIne BETten bezogen, 12 dis machen wir HEUte scho[n.] 13 MP [ o]u. 14 ME °hh un dann kam ICH auch noch un sAchte also meine DAmen, 35 15 (.) heute bi[tte BEtten abzieh]en, 16 MP [<<p> oh GOTT.> ] 17 ME wir legen ihnen frische WÄsche hin, 18 [wAnn sie beziehen is eGAL, ] 19 MP [dann ((macht Geräusch))((lacht))] 20 ME °hh (.) un dA war_s um um die fassung etwas geSCHEhen, 21 vo (.) um GOTtes willen; 22 auch DAS jetz noch. 23 also (.) ((verrauscht)) TAgesurlaub; 25 un ich muss noch PACken. 26 und 27 °hh un jetz auch noch BETT abziehen; 28 und noch BEziehen, 29 un dann kam ich mi_m GELben laken; 30 weil [kein WEIßes la]ken mehr da [war; ] 31 MP [((lacht)) ] 32 [gott.] 33 ME °h dann hab ich ihr dis GELbe gegeben. 34 dann (.) äh 35 Die Pseudokoordination ist als eine Intonationsphrase transkribiert, weil trotz zweier Hauptakzente der Tonhöhenverlauf nicht unterbrochen wird und gleichbleibend ist; es gibt allerdings eine hier nicht transkribierte, schwer lokalisierbare Tempoveränderung zwischen den Akzenten. Ähnliche Segmentierungsprobleme ergaben sich bei vielen Belegen, was für ihren tendenziell prosodisch integrierten Status spricht. Zur Prosodie vgl. 3.4. Nadine Proske 202 ME kontrastiert die von der Patientin für den Tag geplanten Aktivitäten (Z. 08) mit für diese unerwarteten, vom Krankenhauspersonal geplanten Aktivitäten (Z. 09-12), die die Patientin aus dem Tritt (Z. 05) gebracht haben. Nach der Darstellung der Grundidee, die Betten außerplanmäßig zu beziehen, geht ME dazu über, ihre aus dieser Idee resultierenden eigenen Aktivitäten zu beschreiben. Diesen Wechsel vollzieht sie unter Verwendung der Pseudokoordination (Z. 14), mit der sie zugleich die Wiedergabe ihrer an die Patientinnen gerichteten Rede (Z. 15-17) einleitet. Die Verwendung von kommen wäre auch hier nicht notwendig, um den bloßen Sachverhalt, dass ME zu den Damen etwas sagte, in Worte zu fassen. Seine Verwendung ermöglicht zum einen den erwähnten Perspektivwechsel von wir zu ich bzw. von der Planung des Personals zum Gespräch mit den Patientinnen - ein Satz wie und dann sagte ICH auch noch ließe auch die Deutung zu, dass eine Wiedergabe einer Äußerung gegenüber den Kolleginnen folgt; kommen leitet also einen Szenenwechsel ein. Zum anderen hebt kommen die Neutralität von sagen auf: MEs Aufforderung an die Patientinnen, die Betten zu beziehen, wird durch die Pseudokoordination als aus deren Perspektive unerhört gerahmt; die Interpretation als negativ aufgefasstes Anliegen wird durch die folgende Beschreibung (Z. 18-24) untermauert. Dass ein wiedergegebenes Anliegen eines Subjektreferenten als unerhört dargestellt - bzw. allgemeiner: negativ bewertet - werden soll, ist eine häufige Funktion von kommen und mit Kommunikationsverb, aber die ein Anliegen fokussierende Verwendung der Pseudokoordination ist nicht immer mit negativen Inferenzen versehen. Abschnitt 3.5.2 geht näher auf diesen Zusammenhang ein. 3.3.2 Gleichzeitigkeitsrelation Die Kollektion enthält 20 Belege, bei denen das zweite Verb nicht auf den Zweck der Ortsveränderung bzw. eine am Zielort ausgeführte Handlung verweist. Stattdessen stellt die Pseudokoordination in diesen Fällen eine temporale Relation, genauer gesagt eine Gleichzeitigkeitsrelation zwischen den durch die beiden Verben versprachlichten Sachverhalten her. Der kommen- Satz gibt den Zeitpunkt des im zweiten Teilsatz genannten Zustands (oder seltener: Ereignisses) an. Wenn durch die Pseudokoordination eine temporale Relation hergestellt wird, sind die Verben im zweiten Teilsatz meist nicht agentive Verben, z.B. mentale Verben wie wissen, lernen (vgl. (23)) oder Zustandsverben wie haben (vgl. (22)). 36 36 Auch Kommunikationsverben erzeugen nicht immer einen Anliegen-Fokus, sondern können in einer eine Gleichzeitigkeitsrelation herstellenden Pseudokoordination vorkommen. In folgendem Beleg z.B. redet eine Studentin über eine Frau auf der Toilette, die sie unsympathisch Pseudokoordiniertes kommen 203 (22) sie is da um vier HINgegangen, °hh und die kamen völlig aus aufgelöst aus dem ZUG, und hatten panische ANGST, dass die nich DAsteht, (FOLK_E_00185_SE_01_T_01, c427) (23) ich lass mir das gerne etwas erKLÄrendann komm ich aus der prüfung rAUs und hab AUCH was gelernt? (FOLK_E_00015_SE_01_T_01, c1217) Eine Paraphrase zum Testen des Vorliegens der Gleichzeitigkeitsrelation ist oft, aber nicht immer, mit einem wenn- oder als-Satz möglich: (22a) Als die aus dem Zug kamen, hatten sie panische Angst, dass die nicht dasteht. (23a) Dann habe ich, wenn ich aus der Prüfung rauskomme, auch etwas gelernt. Die Belege, bei denen die Pseudokoordination eine temporale Relation herstellt, haben fast immer ein Direktionaladverbial, die ein(en) Zweck/ Anliegen fokussierenden Fälle dagegen nur in weniger als einem Drittel der Fälle. Im folgenden Beispiel verwendet eine Berufsschullehrerin (GS) kommen und in Verbindung mit wissen im Zuge der Erarbeitung der Frage, warum ein Ausbilder strukturiert vorgehen und sich auf Lehrinteraktionen vorbereiten sollte. (24) Unterrichtsstunde Berufsschule (FOLK_E_00007_SE_01_T_01, c1222) 01 GS wArum sollten sie sich vorher 02 (.) oder mÜssen sie sich eigentlich vorher geDANke mache wAs sie- 03 (.) heut mit dem azubi PLAne. 04 (5.65) 05 ML ähm: 06 (.) we_man_s jetz einfach aus_m BAUCH heraus machen würde,= 07 =könnt_s SEIN dass es irgendwann- 08 (.) zUfälligerweise dann halt EInfällt OH du- 09 vielleischt IS er noch gar net so weit um des zu lErnen, 10 weil ihm irgendwelche VORwissen fehlen oder so; 11 (0.26) 12 GS zum BEIspiel, 13 ja, 14 (.) herr sta[rk] 15 US [ja] er könnt auch ABschweifen in der ausbildung; fand. Diese kam nicht zu dem Zweck dort hinein, um über ein Anliegen zu reden, sondern, sie kam auf eine bestimmte Art und Weise herein und hat gleichzeitig über Bakterien geredet: wie sie da REINkam und die ganze zeit was von bakTEria geredet hat; (FOLK_E_00053_ SE_01_T_01, c429) Nadine Proske 204 16 vielleicht wenn dis alles nich struktuRIERT is. 17 GS ja, 19 (0.48) genau, 19 (1.07) 20 GS hatten sie schon mal_n EINdruck DASS: - 21 (0.38) lehrer hier REINkommen und nicht wUssten was heut im unterricht LAUfen soll. 22 ((Gelächter, 3.9 Sekunden)) 23 XM def[iniTIV.] 24 KB [oh JA. ] 25 XM [jap.] 26 GS [ BLÖ]de frage; 27 HEIKle <<lächelnd> frage.> 28 (0.86) 29 GS gut. 30 äh was ist das ergEbnis einer solchen STUNde; 31 (.) unter_m STRICH. 32 (1.46) 33 GS bidde, Nachdem zwei Schüler (ML und US) schon einige mögliche Konsequenzen einer nicht ausreichend geplanten Vorgehensweise eines Ausbilders im Betrieb geäußert haben (Z. 05-10 und 15-16), stellt GS - in Vorbereitung auf eine präzisierende Frage nach den Konsequenzen einer nicht ausreichend geplanten Unterrichtsstunde (Z. 30-31) - die Frage, ob die Schüler in der Berufsschule schon einmal den Eindruck gehabt haben, dass ein Lehrer nicht vorbereitet gewesen sei (Z. 20-21). Wieder ist die Verwendung von kommen nicht notwendig, um den Sachverhalt zu verbalisieren bzw. zu erfragen. Dazu würde ein Satz wie folgender genügen: Hatten Sie schon mal den Eindruck, dass Lehrer nicht wussten, was im Unterricht laufen soll? Die Verwendung von kommen bewirkt zweierlei: Erstens wird dadurch die zeitliche Ausdehnung des Nicht-Wissenswie-es-laufen-soll präzisiert; die Lehrer wussten nicht etwa irgendwann mitten in der Unterrichtsstunde nicht mehr so genau, wie es laufen soll, sondern von Anfang an, vom Zeitpunkt des Betretens des Klassenzimmers an (Paraphrase: ... dass Lehrer schon, als sie hier reinkamen, nicht wussten, was heute im Unterricht laufen soll). Zweitens erscheint das Verhalten der Lehrer so intentional bzw. steuerbar, was Inferenzen wie ‘verantwortungslos’ oder ‘dreist’ zulässt. Ohne kommen und kann das Nicht-Wissen-wie viele Ursachen haben, auch solche, die nicht allein im Verantwortungsbereich des Lehrers liegen, mit kommen und sind letztere Lesarten ausgeschlossen. Pseudokoordiniertes kommen 205 Die eine Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse herstellende Verwendung der Pseudokoordination lässt sich nicht auf die zweckfokussierende Verwendung zurückführen, sondern beide haben ihren Ursprung darin, dass der zweite Teilsatz grundsätzlich die am Zielort des Kommens ausgeführte Handlung beinhaltet. Diese kann von vornherein für die Zeit nach Ankunft geplant gewesen sein, dann liegt ein Zweck- oder Anliegenfokus vor, oder sie kann am Zielort spontan entstehen oder aber bereits vor Ankunft bestehen (i.d.R. als Zustand), so dass Gleichzeitigkeit vorliegt. Obwohl sich tendenziell verschiedene Verbgruppen auf die angesetzten Kategorien Zweck-/ Anliegenfokus und Gleichzeitigkeitsrelation verteilen, ist das Verb nicht der alleinige Auslöser für eine bestimmte Interpretation (vgl. auch die letzte Fußnote in Abschnitt 3.3.2 (36)). Die den Zweck fokussierende Verwendung kann Gleichzeitigkeit beinhalten (wie bei kommen und bringen in (17)), sie m u s s es aber nicht (wie bei kommen und saubermachen in (16)). Bei Gleichzeitigkeit dagegen liegt kein Zweck vor. Das bedeutet für die Klassifikation, dass die Lesart des zweiten Teilsatzes als Grund für das Kommen als höherrangig bei der Klassifikation angesehen wird, wenn Belege sowohl eine Gleichzeitigkeitsrelation beinhalten als auch den Zweck fokussieren. Die Lesbarkeit der Handlung des zweiten Teilsatzes als absichtsvoll bleibt davon unberührt. Auch bei Gleichzeitigkeit kann durch die Verwendung von kommen eine Interpretation des zweiten Verbs als intentional zustandekommen (vgl. (24)). Dass die Interpretation als intentional eine optionale Inferenz ist, ist für kommen im Gegensatz zu gehen typisch; letzteres gilt in Bewegungslesarten und einigen damit verwandten abstrakten Bedeutungen als immer intentional, bei ersterem sind intentionale und nicht intentionale Bewegungen oder sonstige Handlungen möglich (vgl. Di Meola 1994; Proske in diesem Band a). Dennoch ist kommen gerade in der pseudokoordinierten Verwendung (also in einer Struktur, in der das Verb rein propositional betrachtet oft selbst optional ist) besonders häufig als eine intentionale Bedeutungskomponente beisteuernd interpretierbar. 3.3.3 Übergreifende semantische Funktion: Perspektivierung Im Gegensatz zur intentionalen Bedeutungskomponente ist die deiktische Komponente von kommen nicht optional, sondern liefert immer einen Beitrag zur Perspektivierung des im zweiten Teilsatz der Pseudokoordination dargestellten Sachverhalts. Das Verb konstruiert eine Ortsveränderung aus Zielperspektive, d.h. Sprecher und/ oder Hörer oder auch ein dritter Beobachter befinden sich am Zielort der Bewegung des Subjektreferenten. Die genaue Perspektivierung bzw. der jeweilige Zielort ist kontextabhängig und muss oft Nadine Proske 206 implizit erschlossen werden: In Beispiel (24) ist der Zielort, auf den zumindest deiktisch auch verwiesen wird (hier rein) das Klassenzimmer, in dem sich die Sprecherin und die anderen Interaktionsteilnehmer gerade befinden. Der dargestellte Sachverhalt (ein Lehrer weiß nicht genau, wie der Unterricht laufen soll) wird also aus Perspektive der Interagierenden dargestellt, was dem auch an anderen Formulierungen erkennbaren Ziel der Lehrerin entspricht, die Schüler aus ihrer eigenen Perspektive und Erfahrung allgemeingültige Erkenntnisse ableiten zu lassen. In den Beispielen (18) und (21) dagegen wird durch die Verwendung von kommen die Perspektive dritter Personen, die gerade Thema des Gesprächs sind, konstruiert. In (18) wird die Perspektive der Behördenmitarbeiter, die der Sprecherin den Pass ausgestellt haben, eingenommen: Durch das Verb des zweiten Teilsatzes, das die eigentliche Handlung benennt, holen, ist keine Perspektive festgelegt, es ist aber kontextuell klar, dass ein Abholen des Passes mit einer Bewegung in die Behörde verbunden ist. Folglich ist das implizite Ziel von kommen die Behörde und damit die Perspektive auch des Abholens auf die dort arbeitenden Personen eingeschränkt. Diese Perspektivierung entspricht dem grundsätzlichen Zuschnitt des Turns der Sprecherin, die darstellt, welche Situation in der Behörde sie sich als Revanche für den ihr verursachten Ärger wünscht (dort soll man den Pass hin- und herräumen müssen, bis sie endlich kommt, um ihn zu holen). In (21) schließlich wird durch kommen die Perspektive der Patientin auf das Anliegen der Sprecherin eingenommen: Diese ist mit Planung und Ausführung ihrer Tagesaktivitäten in ihren Zimmer beschäftigt und die Sprecherin kommt zu ihr mit einem Anliegen, das ihr, für sie unerwünscht, weitere Aktivitäten für den Tag verschafft. 37 3.3.4 Fazit zur Semantik Die Pseudokoordination mit kommen zeichnet sich semantisch dadurch aus, dass die Bedeutung in den meisten Fällen nicht verblasst ist, sondern eine unspezifische Bewegungsbedeutung vorliegt, dass aber der Ortswechsel des Subjektreferenten im gegebenen Kontext nicht den Kern der Proposition ausmacht und sein Erwähnen auf den ersten Blick ‘überflüssig’ erscheint. Der semantische Mehrwert liegt im Bereich der Perspektivierung und der Bewertung im durch und angeschlossenen Teilsatz berichteter Ereignisse. Obwohl die Bedeutung, die kommen auch in anderen Strukturen hat, meist nicht verblasst ist, so ist es dennoch eine der unspezifischsten Bedeutungen des Verbs, die in der Pseudokoordination verwendet wird: der Frame bewegung (vgl. Zeschel in diesem Band a). In spezifischeren Lesarten kann kommen (z.B. her- 37 Beispiele für die Darstellung des Ereignisses aus Sprecherperspektive finden sich mit (30) und (31) unter 3.6.2. Pseudokoordiniertes kommen 207 kunft, Er kommt aus Italien.) nicht pseudokoordinativ verwendet werden. 38 Insofern baut die Verwendung von [kommen und VP], wie auch unter 4. argumentiert werden soll, auf Verwendungen des Verbs in unspezifischer Bedeutung mit anderen Folgestrukturen auf, v.a. der Referenteneinführungsfunktion und der Szenenwechselfunktion, also Mitteln der Erzählungsstrukturierung. Bei der Verwendung von sagen und anderen Kommunikationsverben im zweiten Teilsatz der Pseudokoordination ist die Bedeutung von kommen etwas häufiger verblasst als bei Verwendung anderer Verben. Dies spricht dafür, die Verwendung mit Anliegen-Fokussierung als potenziell eigenständiges Muster zu betrachten. Dieser Möglichkeit wird unter Rückgriff auf sequenzielle Aspekte unter 3.6 nachgegangen. Die Kategorien Zweck-/ Anliegenfokus und Gleichzeitigkeitsrelation sind hier nicht als Lesarten des Verbs kommen oder der Pseudokoordination beschrieben worden, weil sie sich meist kompositionell aus der Verbindung mit dem zweiten Verb - unter Berücksichtigung des Kontexts und möglicher Inferenzen daraus - ergeben. Dennoch ließe sich argumentieren, dass sie über den häufigen Gebrauch doch mit dem Verb und/ oder der Pseudokoordinationsstruktur (mit kommen) assoziiert werden. Anders als für kommen finden sich für gehen solche Annahmen zumindest zur Zweck-Fokussierung sogar als Lesart in Wörterbüchern: 39 Für beide Verben werden unter der jeweiligen einfachen Bewegungslesart (‘sich irgendwohin bewegen’) formal verschiedene Beispiele mit Zweckimplikation aufgeführt - a) mit Zieladverbial, das implizit auf eine konventionelle Handlung am Zielort schließen lässt (Ich gehe nachher auf den Markt. Er geht heute Abend ins Kino. Er kommt auch zu dieser Tagung. Morgen wird ein Vertreter zu uns kommen.), b) mit Finaladverbial, das den Zweck expliziert (Ich gehe zum Essen zu einer Freundin. Der Monteur kommt wegen der Heizung. Ich gehe auf die Post, um ein Paket abzugeben. Ich komme, um die Bücher abzuholen.), und c) mit Infinitiv eines anderen Vollverbs, der ebenfalls den Zweck expliziert (schwimmen / einkaufen / tanzen gehen, gratulieren / essen / die Tür öffnen kommen). Erstaunlicherweise ist trotz der Parallelität der Beispiele nur für gehen in einigen Wörterbüchern der Zweck der Bewegung in die Bedeutungsparaphrase aufgenommen worden: ‘sich mit einer bestimmten Absicht irgendwohin begeben’ (Drosdowski 1993, S. 1257, vgl. auch Schumacher et al. 2004, S. 410). Für kommen gibt es eine solche Paraphrase nur im 38 Andere unspezifische Bedeutungen wie folge scheinen möglich, sind aber in den Daten nicht belegt (vgl. die letzte Fußnote in Abschnitt 4.1.5 (56)). 39 Konsultiert wurden folgende vier Wörterbücher: VALBU - Valenzwörterbuch deutscher Verben (Schumacher et al. 2004), das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Klappenbach/ Steinitz 1969, 1981), DUDEN - das große Wörterbuch der deutschen Sprache (Drosdowski 1993, 1994), WAHRIG - Deutsches Wörterbuch (Wahrig-Buhrfeind 2012). Nadine Proske 208 VALBU und dort nur für die Kombination mit dem Infinitiv eines anderen Verbs (Schumacher et al. 2004, S. 496). Auch der semantische Aspekt der ‘Intentionalität’ im Sinne von ‘(selbst-)kontrolliert’ lässt sich der Verbsemantik von kommen zuschlagen (vgl. Di Meola 1994), und die beschriebenen negativen Konnotationen wie ‘dreist’ oder ‘aufwändig’ lassen sich als Inferenzen beschreiben, zumal sie (noch) optional sind. Dennoch können all diese Aspekte in die Bedeutung der Pseudokoordinationsstruktur (mit kommen) übergehen, wenn deren Grammatikalisierung fortschreitet. 40 Ein anderer fallübergreifender semantischer Aspekt ist die semantische Transitivität (im Sinne von Thompson/ Hopper 2001) der Pseudokoordination als Ganze: Obwohl das Bewegungsverb intransitiv ist, fällt auf, dass das Zweitverb über alle Verbklassen hinweg meist (in 80 von 95 Fällen) transitiv ist. So ergibt sich für die Gesamtstruktur aus Subjekt, zwei Verben und Objekt ein „hochtransitives“ (Hopper 2002, S. 161) Ereignis, in dem ein agentiver Referent kontrolliert eine telische Handlung ausübt, die in vielen Fällen zudem eine Zustandsveränderung eines Objekts bewirkt. 3.4 Auswertung: Prosodie Im Hinblick auf die prosodische Gestaltung der Belege wurde ausgewertet, ob es nach dem ersten Teilsatz, also vor dem und, eine klare Intonationsphrasengrenze oder zumindest eine mehr oder weniger starke prosodische Zäsur (vgl. Barth-Weingarten 2011) gibt. In 40 Fällen gibt es weder eine Grenze noch eine Zäsur, d.h. die Teilsätze werden prosodisch integriert realisiert (vgl. z.B. (13)). 41 In 26 Fällen liegt eine Zäsur vor, häufig in Form einer leicht steigenden Tonhöhenbewegung nach einem Hauptakzent auf der jeweiligen Form von kommen oder einem diesem folgenden Satzglied, die aber nicht durch eine Tempoveränderung, einen folgenden Tonhöhensprung oder eine Pause begleitet wird (vgl. z.B. (11)); oft ist aber auch nicht einmal eine Tonhöhenbewegung zwischen zwei gleich starken Akzenten (oft auf den beiden Verben) vorhanden, so dass nur das Vorhandensein dieser beiden Akzente als Hinweis auf eine nicht immer genau lokalisierbare potenzielle Zäsur gewertet wurde, manchmal kommt eine Tempoveränderung zwischen diesen hinzu (vgl. z.B. 40 Haddington/ Jantunen/ Sivonen (2011, S. 107) beschreiben dies für das finnische Äquivalent von kommen als Metaphorisierung der Bewegungsbedeutung: Die Bewegung auf das deiktische Zentrum zu wird als Bewegung in den bzw. Handlung im Kontrollbereich des Sprechers/ Beobachters interpretiert und dies lässt in manchen Kontexten eine Interpretation des ‘Eindringlings’ als problematisch zu (vgl. dazu auch 4.2.2). 41 Das schließt Fälle ein, in denen beide Verben Teil einer Intonationsphrase sind, der zweite Teilsatz aber an anderer Stelle eine prosodische Zäsur enthält (vgl. z.B. (20)). Pseudokoordiniertes kommen 209 (24)). In 29 Fällen liegt eine klare prosodische Zäsur bzw. ‘Grenze’ vor, die sich über eine einem Hauptakzent folgende Tonhöhenbewegung hinaus oft durch eine Pause, eine Tempoveränderung oder hörbares Einatmen auszeichnet (vgl. das zweite Beispiel in der zweiten Spalte von Tabelle 2 unter 4.1.5). 42 Wertet man die Zäsuren als den komplett integrierten Fällen näherstehend als den klaren ‘Grenzen’, ergibt sich eine Mehrheit von 66 Fällen für die prosodisch eher integrierten Belege. Es gibt also häufig eine der Monoprädikativität der Pseudokoordination entsprechende prosodische Gestaltung. Insgesamt wird aber auch deutlich, dass die semantische Zusammengehörigkeit sich nicht immer in prosodischer Zusammengehörigkeit zeigt: Die meisten Belege (n=78) wurden als eindeutig monoprädikativ gewertet; unter diesen gibt es jedoch nur einen geringfügig größeren Anteil an integrierten Fällen als unter den wenigen Zweifelsfällen. Die Belege mit Zweck-/ Anliegenfokus sind zwar deutlich häufiger prosodisch eher integriert als die eine Gleichzeitigkeitsrelation herstellende (zu 80 vs. 50%), dies sollte jedoch bei der geringen Gesamtbelegzahl und der wenig elaborierten prosodischen Auswertungsmethode mit Vorsicht interpretiert werden. Festgehalten werden kann aber, dass meistens in beiden Teilsätzen ein Hauptakzent vorhanden ist, so dass trotz der Monoprädikativität beide Teilereignisse fokussiert sind oder jeweils ein Bestandteil dieser. 3.5 Auswertung: Funktionen Die pragmatischen Funktionen, die mit der Pseudokoordination assoziiert sind, liegen quer zur Semantik, d.h. es ist nicht mit einer semantischen Gruppe genau eine Funktion assoziiert, sondern diese können unabhängig davon auftreten. Außerdem können mehrere Funktionen von einem Beleg gleichzeitig erfüllt werden. 3.5.1 Informationsportionierung Die Verwendung von zwei Verben für nur ein Ereignis ermöglicht es, die Partizipanten des Ereignisses auf die Verben aufzuteilen: Da im zweiten Teilsatz der Pseudokoordination kein Subjekt realisiert wird, enthält dieser meist automatisch höchstens ein syntaktisch realisiertes Argument. Dies ist relevant, weil so verschiedenen in der Literatur für gesprochene Sprache festgestellten informationsstrukturellen Tendenzen entsprochen werden kann: Z.B. wird häufig eine Trennung von Referenteneinführung und Prädikation (vgl. z.B. Du Bois 1980) vorgenommen, d.h. ein Referent wird mit einem bedeutungsar- 42 Dieses Beispiel ist eins, dessen Monoprädikativität zweifelhaft ist. Unter den hier detaillierter aufgeführten, klar monoprädikativen Fällen sind keine mit Pause oder Einatmen vor dem und, solche gibt es aber in der Kollektion. Nadine Proske 210 men Verb (wie haben oder kommen) eingeführt, bevor im Folgesatz bei pronominaler oder elliptischer Realisierung etwas über ihn ausgesagt wird. Außerdem wird häufig eine Tendenz zu nicht mehr als einem lexikalisch realisierten, ggf. auch neue Information darstellenden Argument pro Teilsatz festgestellt (vgl. z.B. Du Bois 2003a, b). Das heißt: Die Pseudokoordination kann verwendet werden, um im ersten Teilsatz als Subjekt von kommen einen neuen Referenten einzuführen und im zweiten Teilsatz etwas über diesen zu prädizieren; diese Prädikation kann dann weitere neue Referenten enthalten. Beispiele für die Trennung von Referenteneinführung und Prädikation sind z.B. (11) und (15) (s.o.). Hier enthält jeweils der erste Teilsatz ein neues Subjekt und der zweite Teilsatz ein neues Verb, das semantisch spezifischer ist als kommen. So enthält jeder Satz eine neue bzw. semantisch spezifische Konstituente, vgl.: dass die Tante kommt und sie abholt vs. dass die Tante sie abholt. Beispiele für dieselbe Trennung mit zusätzlichem neuen Referenten im zweiten Teilsatz sind z.B. (19) und (16), vgl. wenn ein Wahlabonnent kommt und will alle Oratorien haben vs. wenn ein Wahlabonnent alle Oratorien haben will. Die Möglichkeit, neue Information derart zu portionieren, muss natürlich nicht genutzt werden, wenn die Pseudokoordination verwendet wird. In der untersuchten Kollektion sind nur ein Drittel der Subjekte von kommen lexikalisch realisiert. Die Informationsportionierung ist nicht immer die primäre Verwendungsmotivation, sondern oft ein hinzukommender Effekt, der sich aus der Verwendung von kommen zusätzlich zum die eigentliche Prädikation enthaltenden Verb, die durch andere semantisch oder pragmatische Gründe motiviert ist, ergibt. Die Möglichkeiten der Informationsportionierung durch Pseudokoordination beschränken sich zudem nicht auf Subjekt- und Objektargumente (die in Du Bois’ Ansatz im Mittelpunkt stehen), sondern können auch Direktional- und Temporaladverbiale umfassen, wie z.B. in (12), (13) und (23). In folgendem Beispiel wird zusätzlich deutlich, wie eine solche informationsportionierende Pseudokoordination aus der Online-Planung des Sprechers entstehen kann. NO spricht darüber, dass er in Zukunft nicht gerne zur Miete, sondern in einem eigenen Haus wohnen möchte: (25) Paargespräch (FOLK_E_00039_SE_01_T_01, c1109) 01 NO un dann ziehste AUS, 02 und dann kannste ooch noch allet Überrenovieren [und so.] 03 EL [ʔm_m. ] 04 NO (1.51) hab ick aber JAR keene lust druff. 05 (2.79) Pseudokoordiniertes kommen 211 06 NO und nÜscht is schöner wenn de nach HAUse kommst ʔn: 07 (0.28) kannst mAchen (0.23) tUn und lAssen wat de WILLST. 08 (0.77) 09 EL hm_m. 10 (0.49) 11 kannst abends BAUen wenn de irgendwat BAUen möchtest, 12 kannst abends muSIK machen wenn de muSIK machen möchtest, Die zahlreichen Verzögerungen, die Reparatur (Wechsel des Verbs von machen zu tun und lassen) und der Wechsel der Verbstellung von VL zu V2 nach dem und legen nah, dass NO die syntaktische Struktur und den Inhalt bei Beginn seines wenn-Satzes (Z. 06) noch nicht vollständig geplant hatte. Die Pseudokoordination scheint hier vielmehr aus der schrittweisen Ausformulierung seiner Meinung zu entstehen. Zunächst wird als Zieladverbial von kommen ein für das Anliegen des Sprechers - das Wohlfühlen - zentraler Ort eingeführt bzw. neu salient gemacht (das Zuhause) (Z. 06), anschließend werden weitere dafür zentrale Aspekte durch Verben bzw. eine idiomatische Wendung (tun und lassen können, was jemand will) eingeführt (Z. 07). Es muss also nicht das Subjekt sondern kann auch das Direktionaladverbial von kommen sein, das zentrale Information hervorhebt, die im Folgesatz vorausgesetzt wird. Auch wenn die portionierende Formulierung zu einem guten Teil der Online-Produktion geschuldet ist, hat sie im Ergebnis Eigenschaften, die funktional sind - es können mehr Konstituenten hervorgehoben werden als bei einem inhaltlich vergleichbaren Satz, der mehr Konstituenten in einen Satz integriert (Nichts ist schöner, als wenn du zu Hause tun und lassen kannst, was du willst.). 3.5.2 Zuschreibung von negativ bewerteten Handlungen und Äußerungen Wie schon im Rahmen der semantischen Analyse angesprochen, gibt es einige wiederkehrende semantisch-pragmatische Effekte der grundlegenden Intentionalität von kommen (in seiner Fortbewegungsbedeutung). Die Verbindung dieser semantischen Grundkomponente mit kontextuellen Faktoren führt teilweise zu Inferenzen, die sich als ‘Entschlossenheit’ oder ‘Dreistigkeit’ des Subjektreferenten oder ‘Aufwändigkeit’ des Kommens und/ oder der am Zielort ausgeführten Handlung paraphrasieren lassen, d.h. dem Subjektreferenten und seinen Handlungen wird teilweise ein insgesamt problematischer Status zugeschrieben, so dass die Pseudokoordination mit kommen teilweise Stance-Taking-Funktionen übernehmen kann. Diese semantisch-pragmatischen Effekte sind wie die Informationsportionierung kein obligatorischer Nadine Proske 212 Bestandteil der Pseudokoordination. Auch neutrale oder positive Bewertungen sind häufig, wie u.a. das vorangehende Beispiel (25) gezeigt hat. 43 Eine negative Bewertung kann entweder vom Sprecher ausgehen und einem berichteten, selbst erlebten oder hypothetischen Verhalten einer anderen Person gelten, wie z.B. in (24), als die Berufsschullehrerin andere Lehrer, die ihren Unterricht ungeplant durchführen, negativ bewertet (vgl. z.B. auch (10) und (13)). Ebenso kann aber die negative Bewertung aus der Sicht anderer Personen in einer berichteten, selbst erlebten oder hypothetischen Situation erfolgen und vom Sprecher nur wiedergegeben bzw. dieser Person zugeschrieben werden, wie z.B. in der Erzählung der Krankenschwester in (21), die der Patientin eine negative Bewertung ihrer Aufforderung zum Bettenmachen zuschreibt (vgl. auch (18)). Die Belege mit Anliegen-Fokus enthalten deutlich häufiger als die mit Zweckfokus und die eine Gleichzeitigkeitsrelation herstellenden als negativ bzw. problematisch bewertete Sachverhalte. 44 Deshalb soll deren Funktion für sich näher im Rahmen der folgenden auch sequenzielle Aspekte berücksichtigenden Analyse betrachtet werden. 3.6 Sequenzielle Aspekte: kommen und + Kommunikationsverb Es muss vorausgeschickt werden, dass [kommen und + Kommunikationsverb] keine deutliche Präferenz für bestimmte sequenzielle Kontexte zeigt und dass dem Format auch keine feste sequenzielle Funktion oder kommunikative Handlung zugeschrieben werden kann. Es lassen sich aber wiederkehrende sequenzielle Kontexte beschreiben, die zeigen, warum die Pseudeokoordination für diese geeignet ist, dass die lokale Funktion sich aber aus ebendiesen Kontexten ergibt und auch anderen Formaten in dieser Position zukommen würde. 3.6.1 Explikation durch Redewiedergabe In den meisten Fällen, in denen das Verb im zweiten Teilsatz ein Kommunikationsverb ist, wird dieses zur Einleitung direkter Rede verwendet, vor allem wenn es sich bei dem Verb um sagen oder meinen handelt. 45 Die Redewieder- 43 Vgl. auch Beispiel (20): Hier wird die Selbstständigkeit eines Patienten positiv bewertet, indem sein Verhalten mit ankommen und Medikamente einfordern beschrieben wird. 44 Von den 28 Anliegen-Fällen enthalten 22 als negativ oder problematisch bewertete Aspekte, bei Zweck- und Gleichzeitigkeitsfokus dagegen nur jeweils die Hälfte. 45 In 24 von 31 Belegen mit Kommunikationsverb (immer sagen oder meinen) im zweiten Teilsatz folgt diesem eine direkte Redewiedergabe in Form mindestens eines Verbzweitsatzes. Indirektere Redewiedergaben finden sich bei anvertrauen (dass-Satz), sich beklagen (weil-Satz), reden Pseudokoordiniertes kommen 213 gabe ist meist nur ein bis zwei Teilsätze lang, umfasst aber manchmal auch etwas mehr, wie im folgenden Beispiel (26), häufig stehen an ihrem Anfang Diskurspartikeln, wie hier ach. Dieses Beispiel aus einem Prüfungsgespräch zeigt zunächst zum einen, wie die Redewiedergabefunktion von sagen die unter 3.5 beschriebenen, hier gemeinsam auftretenden Funktionen ergänzt, und zum anderen, dass die Bedeutungsverblassung von kommen in solchen Fällen häufiger fortgeschritten ist als mit anderen Verbklassen im zweiten Teilsatz. Es zeigt außerdem zugleich einen typischen sequenziellen Kontext von kommen und sagen - eine Präzisierung innerhalb eines Multi-Unit-Turns. (26) Prüfungsgespräch (FOLK_E_00058_SE_01_T_01, c1028) 01 LG also SIE bringen ihn ja nich UM aber- 02 °h dass sie_s auch geSCHEHen lassen. 03 und d d 04 (0.94) DAS fand ich eigentlich sehr er[schrEckend.] 05 HN [ja. ] 06 (.) und dass thOmas (0.25) quasi in das fEUer; 07 LG geNAU. 08 HN [hiNEINläuft.] 09 LG [ also d] dass er noch vers[Ucht was] zu RETten, 10 HN [hm: , ] 11 LG in seiner in seiner EHRlichkeit- 12 °hh oder in indem 13 (.) na er mErkt ja er kann nich damit lEben dass das jetz ne LÜge is, 14 und dass jetz andre erHÄNGT werden sollen für die tAt- 15 äh 16 (0.53) also wurd 17 (.) das wird ja sogar instrumentaliSIERT dann; 18 dieser TOD dieses MÄDchens, 19 da: (0.23) kommt ja der vAter von dem ANdern und sAcht ähm- 20 (.) ach_s könn wa doch gut NUTzen, 21 dis waren die ANdern, 22 dann könn wa die gleich ANgreifen, 23 und (0.21) dann wollen sie (.) da ja Unschuldige ähm (0.42) LEUte erhängen, (von etwas, vgl. Fußnote 35 unter 3.3.2), sagen (was-Satz, Akk-O), einfordern (Akk-O). Intransitiv tritt schreien auf; es könnte deshalb auch als Aktivitätsverb klassifiziert werden. Nadine Proske 214 24 und er kann das eben mit seinem mit sich selbst nich verEINbaren, 25 °h mit seinem wIssen und seinem GEwissen, 26 (0.55) und will nun EINschreiten, 27 und ähm (0.97) 28 ja das is [ihm sozu]sagen zum zum verhHÄNGnis dann. 29 HN [hm_m. ] Die Studentin (LG) gibt das moralische Dilemma einer Figur aus der Novelle „Kameraden“ (Franz Fühmann) wieder. In Z. 17 stellt sie fest, dass in der Geschichte der Tod eines Mädchens instrumentalisiert wurde. Anschließend führt sie aus, wie dies vor sich ging. Für diese Präzisierung führt sie zunächst als Subjekt von kommen einen Referenten (der Vater von dem andern) ein und prädiziert anschließend durch und sagt etwas über ihn (Z. 19). In diesem Fall ist unklar (aber auch irrelevant), ob es eine Bewegungshandlung des Referenten gegeben hat oder nicht. Er kann sich schon vor seiner Äußerung an dem Ort befunden haben, an dem er etwas sagt. Entsprechend wird kommen hier noch weniger als in z.B. (18) oder (24) aufgrund seiner möglichen Bewegungsbedeutung verwendet und umso mehr aufgrund der mit seiner Intentionalität verbundenen Konnotationen wie ‘Entschlossenheit’ und ‘Dreistigkeit’/ ‘Unverfrorenheit’. Außerdem ist die informationsportionierende Funktion so umso deutlicher: Der erste Teilsatz dient der Einführung eines Referenten (der zugleich als intentional handelnd gerahmt wird), der zweite der Nennung der Handlung, die er ausführt. Im nächsten Schritt wird diese Redehandlung dann dargestellt. Eine Redewiedergabe durch kommen und sagen statt mit sagen allein wird also aus denselben Gründen vorgenommen wie statt eines beliebigen Handlungsverbs allein kommen und plus Verb verwendet wird. Ob es darüber hinaus spezifische sequenzielle Kontexte gibt, in denen kommen und sagen einer Redewiedergabe durch sagen allein vorgezogen wird, lässt sich aufgrund der insgesamt zu geringen Fallzahl und ohne ausführlichen Vergleich mit Redewiedergaben durch sagen allein (denen auch einen Referenteneinführung mit anderen Mitteln als mit kommen vorausgehen kann) schwer feststellen. Es lassen sich aber als erster Schritt die sequenziellen Kontexte, in denen kommen und sagen vorkommt, näher beschreiben: Explikation und Präzisierung sowie Beispielnennungen gehören zu den in der Kollektion häufiger vorkommenden sequenziellen Kontexten; es kann sich dabei nicht nur um Sachverhaltspräzisierungen wie in (26), 46 sondern 46 In (26) tritt kommen und sagen als Einleitung einer Explikation bzw. Präzisierung einer vorausgehenden Feststellung (das wird ja sogar instrumentalisiert dann, der Tod dieses Mädchens) auf, die selbst die eigentliche Einleitung eines explizierenden Einschubs ist: Zuvor schildert LG, dass Pseudokoordiniertes kommen 215 auch um die Explikation von Wortbedeutungen handeln, und zwar sowohl kontextbezogener Lesarten als auch Fachbegriffsdefinitionen: In (27) wird durch kommen und sagen, ich möchte das nicht, ich möchte da was verändern expliziert, was im gegebenen situativen Kontext mit darüber reden gemeint ist. (27) Meeting in sozialer Einrichtung (FOLK_E_00022_SE_01_T_03, c311) 01 AW äh Erstens ma hat er natürlisch einfach WEItergeheult, 02 ja als (.) hätt er überHAUPT nix mitgekriegt? 03 HM hm_m; 04 (1.64) 05 AW er is NICH gekommen; 06 (.) ja? 07 (.) dann hatten wir_s bei der abschlussrunde NOCHma, 08 ich hab_s ihm NOCHma gesagt, 09 <<all> ich SA-> 10 (.) dU musst darüber REden. 11 du musst KOMmen, 12 und musst SAgen, 13 isch MÖSCHte des net; 14 ich möscht da was verändern, 15 HM hm_m. 16 (0.5) 17 AW keine CHANCE ja? Während (27) insofern implizit metakommunikativ ist, als die Explikationsrelation nicht durch einen Konnektor signalisiert wird, ist daherkommen und sagen in (28) dagegen Teil einer explizit metakommunikativen, durch das heißt eingeleiteten Explikation des Fachbegriffs Nachtragsrisiken und in (29) ist kommen und sagen Teil einer durch also eingeleiteten Explikation dessen, was verantwortlich für die Sachen sein für eine Hausmeisterin bedeutet. In beiden Fällen ist die Semantik von kommen klar verblasst. die Figur Thomas nicht damit leben kann, dass aufgrund einer Lüge andere als die Täter für einen Mord erhängt werden sollen (Z. 13/ 14). Hierauf folgt der explizierende Einschub, der erläutert, wie es dazu kam, dass andere beschuldigt wurden (Z. 16-22). Anschließend an diesen wird noch einmal reformuliert, dass die Romanfigur ein schlechtes Gewissen hat, dass als Konsequenz eigener Taten Unschuldige erhängt werden sollen, und deshalb einschreiten will, was ihn selbst in den Tod führt (Z. 23-27). Nadine Proske 216 (28) Schlichtungsgespräch (Stuttgart 21) (FOLK_E_00070_SE_01_T_03, c719) 01 HG <<all> dAzu (müssen wer aber mal) KLÄRN; > 02 nAchtragsRIsiken; 03 des heißt eben wEnn 04 °h äh sie äh ein projekt äh verGEben haben; 05 an eine bestimmte FIRma- 06 VK ja, 07 HG äh dass die dann äh zwEI monate später oder drEI monate später dahErkommen und SAgen- 08 °h ä: h aber die und die kOstenpunkte sind damals no_nich beRÜCKsichtigt worden, 09 °h wir wollen MEHR. (29) WG-Gespräch (FOLK_E_00055_SE_01_T_05, c496) 01 US °h ja gut ab ich find EHRlich gsagt auch wenn ma- 02 wenn ma zuRECHT irgendwas- 03 (.) es gibt ja manchma au wirklich SAchen, 04 sie is ja als hausmeisterin dafür verANTwor[tlich.] 05 NH [ja. ] 06 US für die SAchen; 07 al[so wenn der hAUsver]walter KOMMT und sAgt, 08 NH [naTÜRlich. ] 09 US °h dis_n dis PASST nich, 10 NH dann muss [sie HINhalten. ] 11 US [°hh dann muss sie] 12 ja; 13 [rede un] ANTwort stehen. 14 NH [ja. ] 15 US also kann ich dis schOn verSTEHN, Explikationen motivieren den Gebrauch von kommen und (sagen) 47 allerdings nicht direkt, denn es gibt viele sprachliche Möglichkeiten, solche vorzunehmen, und kein semantisches oder formales Merkmal der Pseudokoordination ist an sich besonders geeignet für Explikationen. Vielmehr wird im Rahmen 47 Auch mit anderen Verben im zweiten Teilsatz kommt die Pseudokoordination im Rahmen von Explikationen vor, aber seltener als mit sagen im zweiten Teilsatz, vgl. z.B. CS: sOnstige dienstleistungen könne sein HANDwerk, aber nit im hAndwerk wo was produ[ZIERT wird,] DG: [nee wenn] jetzt der handwerker KOMMT, un irgendwas repaRIERT. (0.2) CS: RICHtig. (FOLK_E_00128_SE_01_T_02, c380) Pseudokoordiniertes kommen 217 von Explikationen, Präzisierungen und Beispielnennungen häufig eine Referenteneinführung bzw. Portionierung und manchmal eine Intentionalitätszuschreibung nötig, und die Pseudokoordination ist eins der Mittel, die sich dafür anbieten. Die Verwendung im Rahmen der Wiedergabe von (problematischen) kommunikativen Verhaltensweisen bzw. von Argumenten anderer (oder auch hypothetischer Art wie im Hausverwalter-Beispiel (29)) dagegen ist direkt durch die Möglichkeiten der Pseudokoordination motiviert, da kommen durch seinen Intentionalitätsaspekt eine subjektive Rahmung ermöglicht, die sagen allein nicht gestattet. 3.6.2 Narrative Kontexte Während Präzisierungen und Explikationen mit Kommunikationsverb im zweiten Teilsatz häufiger vorkommen als mit Handlungsverben - zumindest in der hier untersuchten Kollektion -, sind in narrativen Kontexten Kommunikations- und Handlungsverben etwa gleich häufig vertreten. Ein Beispiel mit sagen ist bereits unter 3.3.1.2 mit (21) aus dem Schichtübergabebericht zu der Patientin, die das Bett beziehen soll, analysiert worden. Beispiele mit Handlungsverben wurden mit (10), (15) und (17) ohne Kontext und nähere Analyse gegeben. In (21) hat die Verwendung von kommen und sagen im Rahmen einer Erzählung vorrangig perspektivierende Funktion, der Subjektreferent (die Sprecherin selbst) wird nicht neu ins laufende Gespräch eingeführt, sondern tritt für die Rezipientin in der erzählten Szene neu auf. Andere häufige narrative Kontexte sind die Einführung eines (auch) für den Interaktionspartner neuen Referenten und die Zusammenfassung bzw. Pointe. Referenteneinführungen treten häufig in Nacherzählungen von Filmen oder literarischen Texten auf (vgl. z.B. die Werbespotnacherzählung in (15), und das Prüfungsbeispiel (26)), aber auch in Alltagserzählungen. In diesen und insbesondere in Meeting-Berichten über in sozialen oder medizinischen Einrichtungen betreute Personen sind die Referenten für den Interaktionspartner aber häufig schon gegeben (meist durch vorherige Nennung) und werden durch die Pseudokoordination nur innerhalb der erzählten Episode neu eingeführt. In der Kollektion finden sich besonders häufig Beispiele aus Berichten über Patienten bei der Schichtübergabe im Krankenhaus, wie in (30) (vgl. auch (21)). Die Bewegungsbedeutung von kommen ist in solchen Kontexten meist nicht verblasst, entsprechend tritt häufiger ein die Bewegungsrichtung oder Bewegungsart spezifizierendes Element auf (Direktionaladverbial, Verbpartikel oder Partizip eines anderen Bewegungsverbs), so dass der erste Teilsatz eine höhere semantisch-pragmatische Relevanz hat als in den Fällen im vorausgehenden Abschnitt. Nadine Proske 218 In (30) verwendet ME die Pseudokoordination, um im Rahmen der Thematisierung der Aktivitäten der Patientin FF eine Episode einzuführen, an der sie als Sprecherin selbst teilhatte. Das heißt, die Patientin ist bereits Thema (eingeführt in Z. 01-03), und die Verwendung von kommen und meinen dient dem Perspektiv- und Szenenwechsel. (30) Schichtübergabe im Krankenhaus (FOLK_E_00114_SE_01_T_02, c32) 01 ME dann n zimmer WEIter, 02 °hhh (0.27) die frau äh 03 ((Versprecher/ Korrektur beim Namen der Patientin_ff)) heißt se; 04 (.) ja; 05 °hhh (0.44) ja; 06 die war AUCH gestern middach wie_s (.) äh 07 (.) mitarbeiter_d VORhin schon sachte, 08 oft mi_m herrn patient_jj DRAUßen, 09 °hh Abends, 10 es war schon so gegen halb ACHT gewesen, 11 (.) kAm se plötzlich hier VORgeschossen- 12 sehr AUFgebracht, 13 un mEInt also jetz wird se gleich exploDIERN-= 14 =wenn dis so WEIter geht, 15 °hhh sie wird eben immer von der frau patientin_pp sehr Unflätig (0.2) ANgesprochen, 16 MP [ʔm_hm. ] 17 ME [(die) s]ie setzt sie quasi mit °hh der freundin des SOHnes gleich, 18 also die f (0.54) frau patientin_pp 19 [und ver]glEIcht sie mit de: r- 20 MJ [oh. ] 21 ME (.) S[Atans]braut [nennt sie j]a immer die freundin ihres SOHnes; 22 MJ [aHA. ] 23 MP [oh. ] 24 MJ ((lacht)) 25 MP ja JA; 26 ME un hängt ihr dann noch sonstige also s sehr UNschöne- 27 (0.29)°hh (0.81) WORte an; 28 (.) möcht ich jetz NICHT wiederholen, Pseudokoordiniertes kommen 219 29 °hh sehr UNflätig; 30 und frau äh patientin_ff 31 gut, 32 ich denk sie hat da AUCH ne geringe toleranzgrenze- 33 (0.2) °h äh und is dann halt kurz vorm exploDIERN gewesen, 34 hat_s aber immerhin geSCHAFFT-= 35 =nich gegen SIE jetzt so a (0.31) verbal aggressIv zu werden, 36 sondern kam zu UNS, 37 °hhh ähm Nach einer Beschreibung der Mittagsaktivitäten der Patientin leitet ME durch das Temporaladverbial abends (Z. 09) und die die Uhrzeit eingrenzende Parenthese (Z. 10) die Beschreibung von deren Abendaktivitäten ein. Dem Temporaladverbial (im Vorfeld) folgt der das Erscheinen der Patientin im Wahrnehmungsraum der Sprecherin beschreibende kommen-Teilsatz, der durch ein Subjektsprädikativ (im Nachfeld) - sehr aufgebracht (Z. 12) - ergänzt wird, bevor die Aktivität der Patientin am Zielort - das Hervorbringen eines Anliegens (Z. 13-14) - genannt wird. Durch das zwischen die Teilsätze geschobene Prädikativ beinhaltet die Pseudokoordination hier sogar drei Teilprädikationen über den Subjektreferenten, aus denen sich das beschriebene Gesamtereignis zusammensetzt. Das Beispiel liegt durch diese zerdehnte Beschreibung, für die der kommen-Satz ebenso zentral ist wie der meinen-Satz, am weniger monoprädikativen Ende des Kontinuums. Dennoch macht insbesondere das Prädikativ den monoprädikativen Status der Struktur deutlich: Grammatisch gehört es zum ersten Teilsatz, doch der aufgebrachte Zustand der Patientin gilt nicht nur für den Zeitpunkt des Kommens, sondern umso mehr für den Zeitraum, in dem sie sich äußert, so dass auch das zeitliche Zusammenfallen der Bewegungs- und der Sprechhandlung nahegelegt wird (d.h. dass die Patientin möglicherweise schon während des Sich-Näherns zu sprechen begonnen hat und nicht erst bei Erreichen des Ziels bzw. Interaktionspartners). Damit liefert die Pseudokoordination hier durch die zerdehnte aber zugleich durch die Kürze der einzelnen Bestandteile komprimierte Form der Darstellung eines komplexen Ereignisses einen Rahmen für die folgende detaillierte Hintergrundinformation. Diese beinhaltet nicht nur den Bezug zum aktuellen Ereignis, über das die Patientin aufgebracht ist, sondern ordnet dieses als etwas ein, das wiederholt stattfindet. Damit findet zwischen Z. 14 und 15 ein Übergang zwischen der auf das aktuelle Ereignis bezogenen Redewiedergabe zu der Sprecherin möglicherweise unabhängig davon bekannter Information statt, so dass diese nicht eindeutig als weitere Redewiedergabe oder von der Sprecherin ergänzte Beschreibung festzulegen ist. Für letzteres spricht die Verwendung von auf common ground verweisenden Mitteln wie eben und im- Nadine Proske 220 mer sowie die bestätigende Reaktion von MP in Z. 25. An die Ausführungen zu den wiederholt stattfindenden Beleidigungen der Patientin durch eine andere Patientin schließt sich eine Bewertung der Sprecherin (Z. 32) an, bevor diese wieder zum aktuellen berichteten Ereignis zurückkehrt (Z. 33) und dieses bewertet (Z. 34-36). Diese Bewertung enthält eine weitere Verwendung von kommen (Z. 36), die als Evidenz für zwei Aspekte gewertet werden kann: Einerseits verweist die Wiederholung des Teilereignisses des Kommens darauf, dass kommen auch in der vorausgehenden Pseudokoordination Bewegungsbedeutung hat, wie sich für kommen und im Deutschen anhand der untersuchten Kollektion als typisch herausgestellt hat. Andererseits kann der Satz (hat es aber immerhin geschafft, nicht gegen sie verbal aggressiv zu werden) sondern kam zu uns auch so gelesen werden, dass zu jemandem kommen mehr als nur die Bewegungsbedeutung, sondern selbst schon den Aspekt des kommunikativen Anliegens umfasst. 48 Das heißt, man könnte auch im Falle der Pseudokoordination nicht nur das mögliche Verblassen der Bewegungsbedeutung als Evidenz für die Monoprädikativität der Struktur heranziehen, sondern auch das Hinzukommen von semantischen Aspekten wie ‘Zweck, (kommunikatives) Anliegen’ zur Bedeutung von kommen, da diese sich nicht nur aus dem Verb des zweiten Teilsatzes ergeben, sondern einen unabhängig davon für kommen belegten semantischen Aspekt darstellen (vgl. auch 4.1.3 zur Redeeinleitung durch kommen allein). Komplementär zu der ein komplexes Ereignis komprimiert voranstellenden, rahmenden Verwendung gibt es auch eine narrativen Sequenzen nachgestellte bzw. diese abschließende Verwendung der Pseudokoordination. Hierbei zeigt sich, dass die komprimierende Struktur auch für Pointen tauglich ist. In (31) berichtet AG von einer Theateraufführung, bei der eine Beteiligte Nussecken präsentieren musste (Z. 03-04), und dass anlässlich dieser Prominenz der Nussecken oft solche zu den Proben mitgebracht wurden (Z. 06-15). Als Pointe konstruiert AG die Folgen des Zusammentreffens der realen und der fiktiven Nussecken: zum einen eine Erheiterung der am Theaterstück Beteiligten (Z. 20-21) und zum anderen ein Überdruss Nussecken gegenüber (Z. 24-26). Zur Einleitung der Pointe nutzt sie die Pseudokoordination mit reinkommen und sagen (Z. 16) inklusive der in höherer Tonlage wiedergegebenen Äußerung der Schauspielerin bei der Nusseckenpräsentation (Z. 17-18). 48 Vgl. z.B. Sätze wie Wenn du Probleme hast, komm zu mir, die dafür sprechen, dass die Inferenz, dass man dann, wenn kein sonstiger Zweck des Kommens genannt wird, oft defaultmäßig von einem kommunikativen Zweck ausgeht, sich zu einer usuellen Lesart von kommen + zu entwickelt. Solche Belege könnte man dem Frame äusserung, der in der in Zeschel (in diesem Band a) beschriebenen Korpusstudie Verwendung fand, zuordnen. Dieser umfasst sowohl Belege, in denen das Subjekt der Redeinhalt bzw. die Äußerung ist (Solche Beschwerden kamen immer von ihm.), als auch solche, in denen das Subjekt der Sprecher ist (Er kommt (mir) immer mit diesem Problem.). Pseudokoordiniertes kommen 221 (31) Familiengespräch (FOLK_E_00255_SE_01_T_03, c580) 01 AG wir ham ja ma vor_n n lAndfrauen (.) theAterstück äh geSPIELT, 02 (0.4) und äh 03 (0.27) da musste uschi NUSSecken (.) präsentiern; 04 irgendwann während dieser VORführung. 05 ((Lachansatz)) 06 un dann ham wir 07 °h jEde probe die wir geMACHT haben, 08 hatte Irgendjemand von denen die nicht auf der BÜHne standen, 09 die so mehr nur als soufFLEUse oder so gearbeitet haben; 10 °h hatte dann NUSSecken geback[en; ] 11 JF [oh.] 12 [(boah). ] 13 AG [entweder mimi] 14 oder oder äh frida frommer 15 oder Irgendeiner hatte immer NUSSecken; 16 ° h un dann kam uschi mit dem TELler da rein und sAchte immer; 17 <<h> SO: : : - 18 hier sind die NUSSecken.> 19 ((Lachansatz)) 20 °h wenn der SATZ kam, 21 °h [ham] wir alle scho_ma unterm T[ISCH ] gelegen, 22 JF [hm.] 23 [((Lachansatz))] 24 AG (.) °h und NUSSecken konnte nach dieser vorf[ührung-] 25 JF [ KE]Iner [mehr sehn. ] 26 AG [KEIN MENSCH] mehr s[ehn.] 27 JF [ ja] das GLAUB ich. Die Pseudokoordination wiederholt bekannte Information (dass Uschi zu irgendeinem Zeitpunkt auf die Bühne kam, um Nussecken zu präsentieren), stellt aber dieses eigentlich banale Ereignis (Nussecken präsentieren) ‘zerdehnt’ und damit aufmerksamkeitswürdig dar (reinkommen und sagen: „So hier sind die Nussecken“). So kann es - auch durch die prosodisch stilisierte Redewiedergabe - als Heiterkeit erweckend konstruiert werden und es wird salient gemacht, um die anschließenden Pointen darauf aufbauen zu können. Nadine Proske 222 In (32) stellt die Pseudokoordination selbst die Pointe dar. 49 Bei einer Greifvogelschau erläutert der Falkner (OB) dem Publikum, was ein Roter Milan frisst. Um zu veranschaulichen, dass dieser sich nicht einfach von Tieren wie Mäusen und Kaninchen ernährt wie andere Greifvögel, sondern diese auch in verwestem Zustand frisst, entwirft er eine kurze fiktive Situation, in der ein überfahrenes Tier zunächst von einem Mäusebussard als Nahrung abgelehnt und dann von verschiedenen Umweltereignissen in Mitleidenschaft gezogen wird. In die so vorbereitete Szene wird dann durch kommen und sagen der Rote Milan (wieder-)eingeführt und diesem die Bewertung des Aas als lecker zugeschrieben. Diese Pointe baut auch darauf, dass eine üblicherweise mit einem menschlichen Referenten versehene, redeeinleitende Struktur hier für ein Tier genutzt wird, und sie bereitet die sachliche Schlussfolgerung (Z. 27-28) vor. (32) Greifvogelschau (FOLK_E_00263_SE_01_T_03, c88) 01 OB wat könnte so_n roter milan NOCH gerne fressen. 02 (0.4) 03 XK (MÄUSchen). 04 OB MÄUse- 05 naTÜRlich. 06 XK HÄS[chen]. 07 OB [aber] 08 (0.56) 09 OB kaNINchen. 10 (0.96) 11 OB °hh (0.37) kaNINchen, 12 (.) von EL ka we überfahrn. 13 hh° der MÄUsebussard war schon da, 14 (.) °h hat sich dat ANgeguckt, 15 hat gesacht dAt ESS ich nich mehr? 16 ((Vogel kreischt)) 17 ((Vogel kreischt, ca. 9.05 Sekunden)) 18 OB °hh (.) dann scheint da no_ma vierzehn tage die SONne drauf, 19 (0.22) 20 ((Vogel kreischt)) 21 (0.61) 22 OB geNAU. 23 (.) und dann kommt_n PLATZregen; 49 Vgl. auch Hopper (2002, S. 169) zur Verwendung der Pseudokoordination in Pointen. Pseudokoordiniertes kommen 223 24 dat gAnze wird wieder WEICH. 25 un dAnn kommt der rote milan un SACHT- 26 (0.2) boah wie LECker. 27 (.) °h also et is_n AASfresser; 28 h° de: r sich vor nix GRUselt. Die Verschiedenheit der sequenziellen Positionen, in denen die Pseudokoordination innerhalb von Narrationen auftritt, zeigt wie schon die Vorkommen im Rahmen von Präzisierungen und Elaborationen, dass sie nicht mit einer bestimmten sequenziellen Funktion assoziiert ist, sondern ihre allgemeinen semantischen und pragmatischen Eigenschaften sie geeignet für verschiedene, teilweise aber wiederkehrende sequenzielle Kontexte machen. 3.6.3 Fazit zu den typischen Verwendungskontexten Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass es viele verschiedene sequenzielle Kontexte gibt, in denen die Pseudokoordination vorkommt; sie ist insgesamt nicht an einen speziellen sequenziellen Kontext gebunden und auch nicht besonders typisch für einen oder mehrere unter den verschiedenen Kontexten. Sie ist eins der geeigneten Mittel, die den Anforderungen dieser Kontexte gerecht werden. Diese Geeignetheit ergibt sich vor allem aus der informationsportionierenden und zugleich komprimierenden Struktur sowie dem semantischen Aspekt der Intentionalität. Das gilt sowohl für die Pseudokoordination von kommen und Kommunikationsverb als auch die von kommen und Handlungsverb. Bei ersterer kommt hinzu, dass die redeeinleitende Funktion sie für weitere Kontexte geeignet macht. Es zeigt sich außerdem kein Zusammenhang mit einem bestimmten Interaktionstyp, vielmehr findet sich die Pseudokoordination in allen möglichen privaten und institutionellen Gesprächstypen. Dies erklärt sich aus den vielfältigen Funktionen bzw. sequenziellen Kontexten: In den meisten Interaktionstypen kommen ein oder mehrere der Kontexte, für die die Pseudokoordination geeignet ist, vor. Was die sequenziellen Kontexte gemeinsam haben, ist, dass sie Teil von Multi-Unit-Turns sind. Entsprechend kommt die Pseudokoordination seltener in einfachen, z.B. responsiven Turns vor und wird auch typischerweise nicht zur Einleitung von Turns verwendet, sondern ist meist ein strukturierendes Mittel innerhalb komplexer Redebeiträge. Nadine Proske 224 4. Vergleich mit verwandten Strukturen 4.1 kommen mit Folgesatz In diesem Abschnitt sollen kurz einige Belege zu mit der Pseudokoordination verwandten Strukturen diskutiert werden. Sie alle enthalten einen Satz mit kommen und einen Folgesatz, der entweder dasselbe Subjekt hat oder ein anderes Satzglied implizit oder explizit teilt. Es soll gezeigt werden, dass die semantischen und pragmatischen Funktionen der Pseudokoordination sich auch bei diesen verwandten Strukturen finden. Dies zeigt, dass es nicht deren spezifische Form (Verbindung durch und, elliptisches Subjekt) ist, die diese Funktionen bedingt; notwendig dafür sind aufeinanderfolgende Sätze, deren Inhalte als kausal bzw. final miteinander verbunden oder gleichzeitig ablaufend interpretiert werden können. Eine solche Interpretation tritt bei der als Pseudokoordination beschriebenen Form häufiger bzw. präferiert (aber keineswegs obligatorisch) auf und kann im Laufe einer stärkeren Grammatikalisierung irgendwann obligatorisch werden. Es müsste aber erst gezeigt werden, ob sie bei einigen der verwandten Strukturen nicht auch präferiert ist. Ein vollständiger Überblick über Häufigkeit und Systematik der verwandten Strukturen ist hier nicht möglich, da diese nicht gezielt im Korpus gesucht wurden (und zum Teil auch kaum gezielt suchbar sind, wenn man nicht alle Belege für das Lemma kommen manuell durchsehen will). Die hier diskutierten Belege sind sowohl solche, die aus der Trefferliste bei der Suche nach kommen + und aussortiert wurden, weil sie formal nicht der Pseudokoordination zugeordnet werden können, als auch solche, die beim allgemeinen Explorieren von kommen-Belegen gefunden wurden. 4.1.1 Pronominales Subjekt im zweiten Teilsatz Eine Struktur, die der Pseudokoordination sowohl formal als auch funktional besonders nahe steht, ist die Koordination von zwei Sätzen mit identischem Subjektreferenten, der im zweiten Satz pronominal realisiert ist; schematisch: [NP i kommen] und [NP i VP]. In (33) wird der Falkner, aus dessen Greifvogelschau Beispiel (32) stammt, interviewt. Nachdem er den Plan, sich eine Feder tätowieren zu lassen (Z. 01- 02), geäußert und das Motiv sowie den Grund dafür dargestellt hat (Z. 05-08), führt er mit kommen einen neuen Referenten (eine Frau, Z. 11) ein. Anschließend prädiziert er in einem weiteren, durch und angeschlossenen Satz etwas über sie, und zwar ein kommunikatives Anliegen (... und sagt sie: Guck mal hier.), das Hinweisen auf eine ebenfalls federförmige Tätowierung. Der einzige formale Unterschied zur Pseudokoordination ist das realisierte Subjekt von sagen im zweiten Teilsatz. Pseudokoordiniertes kommen 225 (33) Interview (FOLK_E_00261_SE_01_T_01, c489) 01 OB und will mir jetz aber eine (0.21) eine FEder hierhe 02 (.) hierhi[n tä]towiern lassen, 03 VG [hm; ] 04 (0.38) 05 OB und zwar von nem Uhu, 06 (0.63) der hier von Anfang an mit mir hierHER gekommen is, 07 hier sieben jahre (0.53) MITgemacht hat, 08 (0.37) un dann von nem hund TOTgebissen worden [is. ] 09 VG [oje.] 10 (0.46) 11 OB und ne ne FRAU, 12 (.) kam hier LETZtens- 13 und SACHT se- 14 °h kuck ma HIER. 15 (0.23) 16 OB da hatte die hier wirklich eine orgiNALgetreue- 17 (0.65) 18 VG FARbig auch or[ginal.] 19 OB [ FA]Rbig; 20 (.) orgiNALgetreue- 21 (.) FEder eintätowiert. 22 (0.41) 23 VG ja. Auch funktional ist der Beleg vergleichbar mit den analysierten Pseudokoordinationen mit kommen und sagen: 50 Der explizite Verweis auf das Kommen des neu eingeführten Referenten ist propositional nicht erforderlich - ein Satz wie Und letztens sagt(e) eine Frau (zu mir): Guck mal hier. wäre im gegebenen Kontext ebenfalls denkbar, würde aber keine von der eigentlichen Prädikation getrennte Einführung des Referenten ermöglichen. Außerdem macht es die Verwendung von kommen möglich, einen deutlicheren gesprächsstrukturellen Wechsel anzuzeigen: Der neue Referent wird an den Ort der aktuellen Interaktion eingeführt, was einerseits Kohärenz zum vorausgehenden Teil des Turns über den Tod des Uhus an ebendiesem Ort herstellt, andererseits aber eine zeitlich davon getrennte Szene eröffnet. Darüber hinaus wird durch kommen verdeutlicht, dass das anschließend wiedergegebene kommunikative 50 Ein Beispiel mit einem anderen Verb (spendieren) findet sich in Tabelle 2. Nadine Proske 226 Anliegen der Zweck des Kommens der Frau war, d.h. dass ihre Äußerung nicht einfach Teil eines ohnehin stattfindenden Gesprächs war (oder zumindest hier so dargestellt wird). 4.1.2 Satzreihung ohne und Ebenfalls sehr eng verwandt mit der Pseudokoordination sind asyndetisch aneinandergereihte Sätze mit referenzidentischem Subjekt, das im zweiten Satz elliptisch sein kann, schematisch: [NP i kommen] [NP i / _ i VP]. Im folgenden Beispiel aus einer Unterrichtsstunde finden sich drei Belege für diese Struktur, zwei davon mit kommen (Z. 14-15 und 20-21). SK berichtet von einem Kollegen, auf den die im Gespräch thematisierte Charakterisierung sozial kompetent nicht zutrifft. (34) Unterrichtsstunde Berufsschule (FOLK_E_00004_SE_01_T_01, c1176) 01 GS saboTAge is das dann schon. 02 RZ ja. 03 GS ja, 04 (.)[geNAU. ] 05 RZ [zum BEIspiel.] 06 (0.34) 07 GS sabotage um selbsch dann besser DO zu stehe, 08 (.) wahrSCHEINlich. 09 ja? 10 (0.23) 11 SK ja bei uns hatte einer in der firma geARbeidet, 12 (.) also ich selber hab was geSCHAFFT, 13 (.) n dann hab ich_n fehler gemacht zum BEIspiel; 14 un er KOMMT, 15 SIEHT es, 16 (.) un dann isser UMgedreht, 17 WEGgelaufen, 18 hat_s erst mal allen ANderen verzählt, 19 (0.25) 20 SK bis dann mal irgendeiner gekOmmen is hat gemEInt HEY so- 21 °hh isch das nit ganz RICHtig; 22 (.)[un das is] 23 GS [ja, ] Pseudokoordiniertes kommen 227 24 (0.38) 25 SK dasSELbe eigentlich. 26 GS ja, 27 (0.61) 28 GS s würden also beHAUPten- 29 dessen sozialkompetenz war NIT so stark ausgeprägt od[er? ] 30 SK [ ne]e. 31 (0.28) 32 GS nee. 33 (0.25) Zunächst wird das Verhalten des Kollegen in Bezug auf einen Fehler des Sprechers durch zwei jeweils mindestens zwei Verben enthaltende Formulierungen beschrieben, die zwei aufeinanderfolgenden - jeweils zweiteiligen - Teilereignisse (kommen und sehen sowie umkehren, weglaufen und erzählen) werden durch und dann getrennt. Prinzipiell ist die Formulierung durch Pseudokoordinationen mit und ersetzbar: Und er kommt und sieht es und dann ist er umgekehrt und weggelaufen und hat es allen anderen erzählt. Die tatsächlich gewählte Struktur ermöglicht allerdings eine noch komprimiertere Darstellung der jeweiligen Bestandteile eines Teilereignisses sowie eine größere Prominenz des und dann, die bei weiteren unds in der Umgebung geringer wäre. An die Beschreibung des Verhaltens des Kollegen schließt sich eine Wiedergabe der Reaktion eines anderen Kollegen auf dessen Verhalten an, die durch Sätze mit kommen und meinen in asyndetischer Reihung eingeleitet wird. Die Funktionen, die hier nicht im Einzelnen analysiert werden sollen, entsprechen denen der Pseudokoordination. 51 Ob es neben der noch kompakteren Darstellung weitere systematisch auftretende zusätzliche funktional relevante Aspekte der Struktur gibt, müsste die Analyse einer größeren Kollektion ergeben. 4.1.3 kommen + direkte Rede In Fällen, in denen direkte Rede durch kommen allein eingeleitet wird (schematisch: [NP kommen] + [Satz]), gibt es zwei mögliche strukturelle Analysen: Man kann die Struktur als elliptisch interpretieren: der zweite Teilsatz (und + Kommunikationsverb) kann weggelassen werden, wenn kontextuell klar ist, dass der anschließende formal selbstständige Satz als Redewiedergabe zu in- 51 Das Vorliegen einer Zweck-/ Anliegenfokussierung oder einer Gleichzeitigkeitsrelation geht auch hier weitgehend mit der Klasse des zweiten Verbs einher, vgl. Anliegenfokus im ersten vs. Gleichzeitigkeitsrelation im zweiten Beispiel: der proFESsor kommt, sagt dis isch nicht RICHtig, dis is ne sehr stArke aussage fürs PUBlikum, ( FOLK_E_00069_ SE_01_T_02_DF_01, c836) vs. <<all> der war kam> gestern WIEder, °h der war KNACke floride psyCHOtisch; =WAHNhaft; =als er REINkam . (FOLK_E_00111_SE_01_T_01, c147). Nadine Proske 228 terpretieren ist; diese ist aber weiterhin semantisch abhängig von dem nicht realisierten Kommunikationsverb. Man kann die Struktur aber auch als usuelle Verwendung von kommen selbst interpretieren, da dieses auch ohne Redewiedergabe mit Kommunikationsbedeutung verwendet wird (vgl. (30), Z. 36). Dieser Interpretation zufolge wäre die direkte Rede entweder selbstständig oder von kommen abhängig. Für welche strukturelle Analyse man sich entscheidet, ist theorieabhängig, vor allem aber setzt eine Entscheidung eine Untersuchung von mehr Belegen voraus, als hier betrachtet werden können. Das folgende Einzelbeispiel kann entsprechend für entgegengesetzte Argumentationen herangezogen werden. Im Ausschnitt erzählt eine ältere WG- Bewohnerin einer jüngeren von ihrer ersten Begegnung mit einem lärmempfindlichen Nachbarn. (35) Alltagsgespräch (FOLK_E_00119_SE_01_T_02_DF_01, c626) 01 RW die monika hat heut grad wieder am essens äh tisch geMEINT ähm; 02 °h dass sie sich noch an meinen UMzug damals erinnert- 03 un naDINE ihren, 04 TI ʔm_hm, 05 RW als er da HOCHk[am; ] 06 TI [echt? ] 07 RW ds hat SIE sogar noch in erinner[ung; ] 08 TI [ ok][ay. ] 09 RW [wie er] sich AUFgebaut hat- 10 <<all> und [HERkam und gemEINnt] hat-> 11 TI [echt? ] 12 RW <<t> wer_s hier der CHEF.> 13 TI °h ja, 14 (.) [echt ] KRAS[S.] 15 RW [m_ja.] 16 [da] hat er ja damals °h schon: zu uns geMEINT hie: r- 17 er möchte uns gleich mal an die RUhezeiten erinnern [und so was. ] 18 TI [hat er das so ge]SAGT? 19 RW ja. 20 (0.31) 21 TI das ja [ AB][artig. ] Pseudokoordiniertes kommen 229 22 RW [ja? ] 23 [Am EINzug]tag kam er hOch, 24 °h <<t> wer is hier der CHEF,> 25 (0.74) dann bin [ICH gleich an die tür,] 26 TI [das hat er geFRAGT? ] 27 RW ja- 28 (0.2) 29 TI w[er ist] hier der [CHEF, ] 30 RW [da ] 31 [da war] die freundin von der [nadine grad an der TÜR,] 32 TI [ACH du scheiße: ; ] 33 RW als er geKLINGelt hat, 34 [oder da STAND,] 35 TI [aHA, ] 36 RW °h ja wer is hier de CHEF, 37 und ich stand grad nebenDRAN ne, 38 ((lacht)) 39 °h (0.2) bin halt direkt an die TÜR ne, 40 dann wusst_er gleich mit wem er_s zu TUN hat. 41 ja? 42 °h und JA- 43 er will uns gleich mal hier uns an die RUhezeiten erinnern- 44 es war noch keine NEUN, 45 °hh ja und dann hab ich ihm gsacht ja is halt jetzt_n EINzug, 46 kö_mer nix MAchen, 47 (.) tut mer LEID, Die Verwandtschaft der Pseudokoordination mit kommen und Kommunikationsverb mit der direkt durch kommen eingeleiteten Redewiedergabe zeigt sich in der parallelen Realisierung mit und ohne und + meinen in Z. 10-12 und Z. 23-24. Man könnte argumentieren, dass die zweite Redeeinleitung nur deswegen ohne Kommunikationsverb stattfinden kann, weil vorher schon eins bei der Einleitung derselben wiedergegebenen Äußerung realisiert wurde. Sicherlich ermöglicht und motiviert die Vorerwähnung die noch komprimiertere Form ohne Kommunikationsverb mit. Die negativ bewertete Äußerung Wer ist hier der Chef? wird damit noch einmal aktualisiert. Dennoch hätte die Struktur in Z. 23-24 möglicherweise auch ohne die Äußerung in Z. 10-12 so vorkommen können, wenn das Vorbeikommen des Nachbarn (Z. 05) und sei- Nadine Proske 230 ne andere Äußerung (Z. 16-17) weiterhin vorerwähnt blieben. TI reagiert außerdem erst beim zweiten Mal auf RWs Imitation der Äußerung Wer ist hier der Chef? mit einer Verstehensprüfung (Z. 26), es ist also möglich, dass sie sie beim ersten Mal nicht (oder nicht prominent) wahrgenommen hat. Entscheidender ist aber, dass Verwendungen wie in Z. 23-24 in der Regel ohne vorausgehende Pseudokoordination vorkommen. In (36) ist weder der Subjektreferent noch sein Kommen oder seine Äußerung vorerwähnt. (36) heut morgen war AU noch so was schönes. ((lacht)) de norman der kam HOCH, o: h; er hat so BAUCHschmerzen; rechts oder LINKS- ich WEIß nich- ich hab dann gleich_s mediZINbuch geholt; (FOLK_E_00193_SE_01_T_02_DF_01, c1560) Inwieweit in diesen Fällen Kontextfaktoren (z.B. die Verwendung von redeinitialen Interjektionen wie oh) Bedingung für die Verwendung sind oder ob kommen selbst schon zumindest die Interpretation des Folgesatzes als Redewiedergabe nahelegt, müsste eine größere einschlägige Kollektion zeigen. 4.1.4 Nicht koreferenzielles Subjekt im zweiten Teilsatz Während bei den monoprädikativen Fällen unter 4.1.1 das nicht elliptische Subjekt im zweiten Satz wie bei der Pseudokoordination koreferenziell mit dem Subjekt des ersten Satzes ist, gibt es auch monoprädikativ interpretierbare Fälle, bei denen das nicht elliptische Subjekt des zweiten Satzes nicht koreferenziell mit dem des ersten Satzes ist. Sie sind also formal weiter von der prototypischen Pseudokoordination entfernt, funktional aber insofern mit dieser verwandt, als der kommen-Satz für sich gesehen keine vollständige Handlung darstellt, sondern semantisch dem Folgesatz untergeordnet ist und in einer temporalen Relation zu diesem steht. Das Subjekt des ersten Teilsatzes ist zwar meist im zweiten Teilsatz nicht als Satzglied realisierbar, aber konzeptuell als Experiencer des Sachverhalts des zweiten Teilsatzes zu verstehen. Schematisch lassen sie sich folgendermaßen zusammenfassen: [NP i kommen AdvP/ PP DIR ] und [NP j VP]. Manchmal bezieht sich das Direktionaladverbial des ersten Satzes auf ein anderes Satzglied des zweiten Satzes, wie in (37) und (38) rein auf ein Krankenhaus und im Wartezimmer. Beide Beispiele stammen aus der Beschreibung von Räumlichkeiten und haben Zustandsverben im zweiten Satz. In (37) beschreibt die Sprecherin (VAD2) ein Krankenhaus mit schlechtem Ruf. Die durch und koordinierten Sätze stehen in einem Gleichzeitigkeitsverhältnis. Der erste Satz gibt an, dass die im zweiten Teilsatz beschriebene Wahrnehmung beim Betreten des Krankenhausen vorhanden war (paraphrasierbar durch Wenn du schon reinkommst und (du) siehst / wenn du beim Reinkom- Pseudokoordiniertes kommen 231 men schon siehst, dass ein Krankenhaus Teppichböden hat, dann ... oder Wenn ein Krankenhaus schon Teppichböden hat, dann ...). (37) sprachbiographisches Interview (FOLK_E_00185_SE_01_T_02, c4) 01 VAD2 ja; h° 02 es gibt VIEle solche sachen. 03 nur schon wenn du REINkommst, 04 und n krAnkenhaus hat TEPpichböden, 05 dann; 06 MF ((lacht)) Beispiel (38) ist ähnlich. Der Ort, an dem eine Wahrnehmung stattfindet, wird hier im zweiten Teilsatz nicht als Subjekt sondern als Lokaladverbial realisiert. Die Sprecherin (AM) spricht über einen Besuch beim Orthopäden, dessen Praxis sie zunächst für eine Tierarztpraxis gehalten hat. Die koordinierten Sätze stehen in Gleichzeitigkeitsrelation (paraphrasierbar durch Ich bin halt reingekommen und habe gesehen, dass im Wartezimmer XY stand/ lag. oder Als ich reinkam, habe ich gesehen, dass im Wartezimmer XY stand/ lag.). (38) Alltagsgespräch (FOLK_E_00055_SE_01_T_08, c642) 01 AM °h ja; 02 auf jeden fall ähm 03 °h bin ich halt auch REINgekommen, 04 und im wartezimmer stand dann halt AUCH so- 05 s waren dann solche (0.33) prosPEKte gelegen so- 06 °h und so_n bUch über die sEEle des TIEres, 07 und n we we EF magazin- 08 fand ich ja SCHON süß ne, 09 hab ich AUCH gedacht so; 10 °h ja vielleicht hätte jemand lieber TIERarzt werden sollen hier; Diese Form der monoprädikativ interpretierbaren Koordination von Sätzen mit nicht koreferenziellen Subjekten kommt auch mit Aktivitätsverben und Kommunikationsverben vor, wie (39) zeigt. Auch hier liegt eine Gleichzeitigkeitsrelation vor (Paraphrase: Als ich nach Hause kam, hat meine Mutter (zu mir) gesagt ...). (39) ethnographisches Interview (FOLK_E_00256_SE_01_T_01, c1046) 01 NU °h und in der türkei als ich mein SCHULkameraden; 02 n FREUND also- Nadine Proske 232 03 (0.41) 04 ZY hm_HM; 05 NU äh normaler FREUND, 06 auf der STRAße gesehen hab- 07 und nur halLO gesacht habe, 08 (0.24) kam ich nach HAUse un meine mutter hat gesAcht ja an wen 09 (0.34) zu wem hast du halLO gesacht. Diese Strukturen haben ähnliche Funktionen wie die Pseudokoordination (Erzählungsstrukturierung, Perspektivierung, Pointenvorbereitung, Hervorhebung und Problematisierung wiedergegebener kommunikativer Anliegen). Auch hier stellt der kommen-Satz eine vorangestellte zeitliche Einordnung bereit. 4.1.5 Fazit zur Verwandtschaft der Strukturen Die Belege für die verwandten Strukturen unter 4.1.1, 4.1.2 und 4.1.4 zeigen teilweise wie einige der Belege aus der Pseudokoordinationskollektion selbst (z.B. (19), (25)) eine unterschiedliche Wortstellung in den beiden Teilsätzen (z.B. VL und V2), was zwar in der Literatur zur englischen Pseudokoordination als wenig prototypisch für diese gilt, in der generativen Literatur zum Deutschen aber gerade als Indikator für asymmetrische Koordination angesehen wird. Wie unter 2.2 argumentiert, erscheint es wenig sinnvoll, formal bis auf die Wortstellung bzw. v.a. Verbstellung formal äquivalente Sätze verschiedenen Kategorien (symmetrische Koordination vs. asymmetrische Koordination) zuzuschlagen, vor allem dann, wenn sie beide monoprädikativ interpretiert werden können. Deshalb wird hier vorgeschlagen, für die formale und die semantische Seite verschiedene Bezeichnungen zu verwenden: Monoprädikativität bezieht sich allein auf die semantische Seite (auch wenn diese sich teilweise anhand formaler Tests oder Paraphrasen prüfen lässt), diese kann (unabhängig von der Elliptizität des Subjekts) bei verschiedenen durch und verbundenen und auch bei asyndetisch gereihten Sätzen vorkommen. Als Pseudokoordination wird nur der formale Typ bezeichnet, bei dem das Subjekt im zweiten (Pseudo-)Konjunkt elliptisch ist und bei dem im prototypischen Fall strukturelle Parallelität (in Verbstellung und Tempus) vorliegt. Dies ist der Typ, der auch für andere Sprachen beschrieben ist, weshalb die vorliegende Untersuchung sich auch auf diesen konzentriert hat. Da dieser jedoch auch an die semantische Seite gebunden ist - nicht monoprädikative Fälle mit derselben Form sind der Koordination zuzurechnen (trotz des Einbezugs einiger nicht klar monoprädikativer Fälle in die Kollektion vor dem Hintergrund des Kontinuum-Gedankens) - soll dies nur eine vorläufige Bezeichnung und Definition sein, die im Rahmen einer systematischen, einzelverbunabhängigen Untersuchung koordinativer (und anderer) Satzverbindungen in der gesprochenen Sprache ggf. re- Pseudokoordiniertes kommen 233 vidiert werden müsste. Es würde sich wahrscheinlich zeigen, dass semantischpragmatische Asymmetrie auch bei formal symmetrischen Strukturen viel weiter verbreitet ist als teilweise angenommen wird. Zu prüfen wäre dabei, ob der Hang zur Asymmetrie verbspezifisch ist, ob z.B. kommen mit Folgesatz generell mehr als andere Verben Monoprädikativität bevorzugt, weil ein Kommen meist einen Zweck braucht und das Verb insgesamt eine unspezifische Semantik hat. Reichs (2009) Hypothese, dass asymmetrisch koordinierte Sätze immer ‘fusioniert’ interpretiert werden, während diese Interpretation bei symmetrischer Koordination fakultativ ist, kann hier nur bedingt bestätigt werden, weil die grundsätzlich sinnvolle, rein formale Unterscheidung in symmetrische und asymmetrische Koordination hier nicht nach seiner Definition übernommen werden kann. Gleichartigkeit und Gleichrangigkeit der Konjunkte, und damit Symmetrie, bedeutet hier zunächst, dass in beiden der gleiche Phrasentyp und bei Sätzen die gleiche Verbstellung vorliegt, nicht aber, dass die Sätze identisch linearisiert sind, d.h. die Stellung des Subjekts und anderer Argumente im VF oder MF des ersten Teilsatzes ist nicht entscheidend. Außerdem werden zweite Teilsätze ohne overtes Subjekt hier nicht als grundsätzlich verschieden von solchen, in denen das koreferenzielle Subjekt im zweiten Teilsatz pronominal realisiert ist, angesehen. Diese Sichtweise führt dazu, dass hier viel mehr strukturelle Varianten als symmetrisch koordiniert klassifiziert werden (vgl. Tabelle 2). Nadine Proske 234 monoprädikativ nicht monoprädikativ symmetrisch koordiniert gustaf kommt MORgen bei uns und; (0.2) macht die RITzen sauber. (vgl. (16)) (V2 + V2, 52 Subjekt im VF, Subjekte koreferenziell) dann kommt halt die poliZEI, und lässt ihn BLAsen, (vgl. (15)) (V2 + V2, Subjekt im MF, Subjekte koreferenziell) [ich] kann höchstens daNACH kommen- und DANN essen; (FOLK_E_00020_ SE_01_T_02, c525) (V2 + V2, Subjekt im VF, Subjekte koreferenziell) kam dann der RETtungswagen, °hh un hat den dann Abgeholt, 53 (FOLK_E_00022_ SE_01_T_03, c923) (V2 + V2, Subjekt im MF, Subjekte koreferenziell) symmetrisch koordiniert aber wenn du halt (0.36) nach m studium RAUSkommst, und halt irgendwie immer noch nich gescheit dann SCHREIben kannst, (0.85) dann WOLlen die dich au nich; (vgl. (12)) (VL + VL) wenn_s dir SCHEIße geht; (0.33) und da KOMMT jemand und der spenDIERT dir was; er gibt dir GELD; (FOLK_E_00042_SE_01_T_03, c48) (V2 + V2, Subjekt im MF, Subjekte koreferenziell und beide realisiert) auf jeden fall ähm °h bin ich halt auch REINgekommen, und im wartezimmer stand dann halt AUCH so- (vgl. (38)) (V2 + V2, Subjekte nicht koreferenziell) ja aber du hast geSAGT- (.) äh EUch is es recht wenn wir dis no nich so FRÜH machen, (.) weil ihr eben von stadt_a gekommen seid und weil ihr MÜde wart. 54 (VL + VL) (FOLK_E_00042_ SE_01_T_01, c919) dann kam dieser TYP mit dem FRACking, und (0.22) dEr hat irgendwie [die geSAMte wirtschaft-] (1.18) [die situaTION zerstört.] 55 (FOLK_E_00088_ SE_01_T_02, c293) (V2 + V2, Subjekt im MF, Subjekte koreferenziell und beide realisiert) aber wenn sie_s SELBST net schafftsoll se halt zu UNS kommen, und WIR sagen dann krankenhaus_d beschEId, (FOLK_E_00114_ SE_01_T_02_DF_01, c92) (V2 + V2, Subjekte nicht koreferenziell) Pseudokoordiniertes kommen 235 asymmetrisch koordiniert ja wenn jetz n WAHLabonnent kOmmt un will ((die kompletten oratorien)) ham, hat er bisher immer AUFzahlen müssen. (vgl. (19)) (VL + V2, Subjekte koreferenziell) nur schon wenn du REINkommst, und n krAnkenhaus hat TEPpichböden, dann; (vgl. (37)) (VL + V2, Subjekte nicht koreferenziell) also da PASST wirklich auf; weil das is wenn wenn n KIND mal schneller um die Ecke kommt ne, un dann is da_n bIsschen FEUCHtigkeit auf_m bodendas hAUt sich sofort der lÄnge nach HIN. (FOLK_E_00197_ SE_01_T_01, c431) (VL + V2, Subjekte nicht koreferenziell) Tab. 2: (A-)symmetrische Koordination und Monoprädikativität. Unter diesem Blickwinkel lässt sich zunächst festhalten, dass es kaum strukturelle Varianten gibt, die immer monoprädikativ interpretiert werden. Obligatorisch scheint dies nur bei der Koordination eines Verbletztsatzes mit einem folgenden Verbzweitsatz zu sein: Vergleicht man eine solche Kombination mit der Konjunktion wenn mit einer ansonsten äquivalenten Koordination zweier Verbletztsätze, zeigt sich, dass nur die VL-V2-Kombination eine Interpretation als zwei unabhängige Bedingungen eindeutig blockiert; die VL-VL-Kombination ist - zumindest ohne Kontext - mehrdeutig: vgl. wenn du reinkommst und ein Krankenhaus hat Teppichböden, dann vs. wenn du reinkommst und (wenn) ein Krankenhaus Teppichböden hat, dann... Der letzte Beleg in der 52 Da der zweite Teilsatz kein Subjekt enthält, wird er in manchen generativen Ansätzen (vgl. Reich 2009) als V1-Satz behandelt. Aufgrund der prinzipiellen Einsetzbarkeit eines Subjekts vor dem Finitum (und er macht die Ritzen sauber) - und der Unmöglichkeit der Einsetzung im MF ohne VF-Füllung (*und macht er die Ritzen sauber vs. und dann macht er die Ritzen sauber) - wird er hier als V2-Satz aufgefasst. Das gilt auch für den in der ersten Spalte folgenden Satz, die beiden ersten Sätze in der zweiten Spalte sowie den vorletzten Satz in der ersten Spalte. 53 Dieser Beleg wurde in Fußnote 21 (unter 3.1) zur Funktion von dann als Zweifelsfall angesprochen - er kann als monoprädikativ interpretiert werden oder nicht: Ein Rettungswagen kann zwar eigentlich nicht einfach nur ohne Zweck bzw. Folgehandlung kommen, aber es kann etwas anderes als ein Abholen/ Mitnehmen eines Verletzten folgen, z.B. eine Behandlung vor Ort. 54 Das Beispiel ist formal nicht ganz äquivalent zum monoprädikativen VL-VL-Beispiel in der ersten Spalte, weil die Konjunktion weil nach dem und wiederholt wird. Es ließ sich kein formal äquivalentes Beispiel mit Bewegungsbedeutung für kommen finden. In allen monoprädikativen Beispielen mit VL-VL-Struktur hat kommen eine andere Bedeutung, wie z.B. geraten im nächsten Beispiel: also aus n ort_b weiß ich_s OOCH, °hh dass da wenn die dann so in die puberTÄT kommen und so- und dann (.) °h halt zum (.) CLUB gehen, [...] dass sie dann dort schon der wegen miliTANter werden dann halt. (FOLK_E_00129_ SE_01_T_02, c20) 55 In diesem Beleg hat kommen keine Bewegungsbedeutung, ist aber auch nicht als ‘verblasst’ im in diesem Kapitel verwendeten Sinne einzustufen. Vielmehr liegt hier die in Zeschel (in die- Nadine Proske 236 Tabelle ist zwar aufgrund des dann im zweiten Teilsatz ein Kandidat für eine nicht monoprädikative Interpretation einer solchen Koordination, plausibler erscheint aber auch hier die monoprädikative Lesart. Somit ließe sich nach einer Modifikation der Symmetriekriterien Reichs These durchaus tendenziell bestätigen, dies würde aber nur über sehr wenige der hier der Pseudokoordination zugerechneten Fälle etwas aussagen. 56 Für die meisten Fälle gilt also: Formal verschiedene Fälle können eine vergleichbare monoprädikative Interpretation haben. Z.B. wäre es oft sowohl möglich, bei einigen Beispielen mit pronominalem Subjekt im zweiten Teilsatz ebendieses wegzulassen, ohne dass sich die Bedeutung verändert (und da kommt jemand und (der) spendiert dir was), als auch bei einigen Belegen ohne Subjekt im zweiten Teilsatz ein solches ohne Bedeutungsveränderung einzufügen (dann kommt halt die Polizei und (die) lässt ihn blasen). Dass sich bei den pseudokoordinierten Fällen durch ein overtes Subjekt die Interpretation ändert, ist äußerst selten. Erst bei stärkerer Grammatikalisierung dürften Fälle mit und ohne overtes Subjekt nicht mehr austauschbar sein. 4.2 Andere Verben in Pseudokoordination Abschließend sollen kurz andere Verben im ersten Teilsatz der Pseudokoordination thematisiert werden. Unter 4.2.1 werden Häufigkeitsangaben zu einigen Verben gemacht, ohne näher auf deren Funktionen in pseudokoordinierter Verwendung einzugehen. 4.2.2 geht etwas näher auf Pseudokoordinationen mit gehen ein, um die Spezifika von kommen und im Vergleich noch deutlicher herauszuarbeiten. 4.2.1 Häufigkeiten Für einige weitere Verben, die introspektiv als im ersten Teilsatz einer Pseudokoordination mit Verfestigungstendenz möglich erschienen, wurde die Häufigkeit in FOLK überprüft. Tabelle 3 zeigt - im Vergleich mit kommen - die Ergebnisse für gehen, stehen, sitzen, aufstehen, sich hinstellen, sich hinsetzen und nehmen. sem Band a) thematisierte folge-Lesart vor. Diese tritt in den vorliegenden Daten nicht in monoprädikativen Koordinationen auf, eine solche Verwendung wäre aber denkbar (z.B. So, jetzt kommt der Herr Scherer und erzählt uns, wie diese Schaltung funktioniert. - Jetzt kommt wieder der Tempowürfel und richtet Unheil an.). 56 Wenn man die hier als symmetrisch eingestuften Fälle mit Subjekt im MF wie bei Reich (2009) als asymmetrisch einstuft, ergibt sich im Übrigen sogar umso mehr das Bild, dass asymmetrische Koordination nicht immer mit Monoprädikativität einhergeht: Die jeweils zweiten Belege in beiden Spalten würden dann als asymmetrisch koordiniert gelten. Sie sind aber nicht immer monoprädikativ. Pseudokoordiniertes kommen 237 Lemma davon in Pseudokoordination sagen als zweites Verb Kommunikationsverben insgesamt kommen 4.925 95 22 (23%) 31 (33%) gehen 5.876 106 11 (10%) 18 (17%) sitzen 513 68 2 (3%) 8 (12%) stehen 1.808 39 6 (15%) 7 (18%) aufstehen 46 12 2 (16%) 2 (16%) sich hinsetzen (inkl. setzen) 434 16 3 (18%) 5 (31%) sich hinstellen (inkl. stellen) 745 7 4 (57%) 4 (57%) nehmen (inkl. hernehmen) 1.943 49 6 (13%) 7 (15%) Tab. 3: Häufigkeit von Verben im ersten Teilsatz der Pseudokoordination. Es zeigt sich, dass neben kommen und gehen (vgl. 4.2.2) auch sitzen, stehen und nehmen im Verhältnis zum Gesamtvorkommen des jeweiligen Lemmas vergleichbar häufig in Pseudokoordination vorkommen, aufstehen, sich hinsetzen und sich hinstellen sind sowohl insgesamt als auch in Pseudokoordination etwas seltener. Bei allen Verben finden sich außerdem zusätzliche Belege für mit der Pseudokoordination verwandte Strukturen, wie sie unter 4.1 für kommen diskutiert worden sind. Auch kommt bei allen Verben sagen als zweites Verb vor, bei vielen ist es das häufigste. Es macht jedoch bei keinem einen so großen Anteil aller Verben im zweiten Teilsatz aus wie bei kommen - mit Ausnahme von sich hinstellen, das jedoch insgesamt so selten in den Daten vorhanden ist, dass nicht klar ist, inwieweit sich dieses Verhältnis auch bei einer größeren Menge von hinstellen-Belegen zeigen würde. Kommunikationsverben machen wie bei kommen bei allen anderen Erstverben einen großen Anteil der Zweitverben aus, es ist jedoch bei den meisten eine größere Präferenz für eine andere Verbklasse festzustellen, z.B. Handlungsverben bei nehmen und aufstehen und mentale Verben bei sitzen. 4.2.2 (hin-/ her-)gehen und Die Belege für gehen in Pseudokoordination lassen sich relativ klar in zwei Gruppen einteilen: Solche mit hin oder her als Direktionaladverbial, bei denen die Verbbedeutung eindeutig verblasst ist (21 Fälle) und solche mit referenziellem Direktionaladverbial (darunter auch 11-mal hin), bei denen die Bewegungsbedeutung immer vorhanden ist (85 Fälle). Die im zweiten Teilsatz vorkommenden Verbklassen sind - mit leicht anderer Verteilung - dieselben wie bei kommen, so dass auch dieselben Fokussierungsmöglichkeiten bestehen, diese aber eine leicht andere Häufigkeit zeigen: Die Zweckfokussierung überwiegt mit 70 Fällen auch bei gehen (vgl. (40), darun- Nadine Proske 238 ter ist der Anliegenfokus (n=13, vgl. (41)) seltener als bei kommen, weil weniger Kommunikationsverben 57 aber mehr Aktivitäts- und Perzeptionsverben 58 im zweiten Teilsatz vorkommen. Die Gleichzeitigkeitsrelation ist etwas seltener als bei kommen (n=15, vgl. (42)). (40) geh zum bÄcker un KAAF eenen. (FOLK_E_00022_SE_01_T_02, c1242) (41) wenn ich dann (0.28) zu IHM geh un sag hey ich HAB da probleme, (FOLK_E_00193_SE_01_T_02, c1466) (42) nur dass du hinterher auch was WISsen musst. bei ner vorlesung gehst du einfach RAUS, un DENKST so oah dis mach ich; (0.48) vor der klauSUR (mal). (FOLK_E_00227_SE_01_T_01, c242) Was die Verwendungen mit gehen natürlich vor allem von denen mit kommen unterscheidet, ist die entgegengesetzte Perspektivierung: Die Bewegung zu dem Ort, an dem die Zielhandlung stattfindet, wird als vom deiktischen Zentrum weg dargestellt. So wird beispielsweise der Zweck des Hervorbringens eines Anliegens in (41) von der Sprecherin als nicht an ihrem aktuellen Aufenthaltsort stattfindend konstruiert - sie bzw. das Subjekt von gehen, muss sich zu ihm bewegen, um ihm sagen zu können, dass sie Probleme hat. Die mit kommen und sagen eingeleiteten Anliegen dagegen werden meist eingesetzt, um ein von jemand anderem dem Sprecher gegenüber hervorgebrachtes Anliegen darzustellen; das Subjekt von kommen muss sich auf den Aufenthaltsort des Kommunikationspartners (der oft (vgl. z.B. (30)), aber nicht immer (vgl. z.B. (21)) der Sprecher ist) zu bewegen. Bei den 21 Belegen, bei denen keine Bewegungsbedeutung vorliegt, lässt sich nur schwer eine der drei Kategorien zuweisen. In einigen Fällen mit sagen als zweitem Verb ist die Annahme eines Anliegenfokus plausibel, im Grunde ist die Funktion von gehen aber in allen diesen Fällen vorwiegend eine Hervorhebung der Intentionalität der durch das zweite Verb ausgedrückten Handlung. Dieser Intentionalitätsfokus ist stärker als bei kommen, da die Assoziation mit nicht kooperativem Verhalten (vgl. (43)) deutlicher ist. Die Belege lassen häufiger Inferenzen wie Unüberlegtheit (vgl. (44)) und Selbstbewusstsein (vgl. (45)) zu (statt „nur“ Aufwand bzw. Entschlossenheit (vgl. (46)) und Kontrolle wie bei kommen). 57 Die 11 Belege für sagen sind gleichmäßig verteilt auf Bewegungs- und Nicht-Bewegungsfälle (was bedeutet, dass die Nicht-Bewegungsfälle häufiger sagen als zweites Verb haben, da sie insgesamt deutlich seltener sind). Hinzu kommen weitere sieben Vorkommen von Kommunikationsverben (reden, fragen, erklären und schildern). 58 Es kommen insgesamt 58 Handlungsverben (einschließlich Transferverben) vor, davon siebenmal machen und 15 Perzeptionsverben und mentale Verben, davon siebenmal gucken. Pseudokoordiniertes kommen 239 (43) wir HAben eine ungleichverteilung- °h ich KANN aber beim besten willen jetz nich HERgehen- °h und ANfangen die musikhochschulen glEIchmäßig über baden WÜRttemberg zu verteiln- (FOLK_E_00126_ SE_01_T_02, c606) (44) dann die äh (0.39) radschraube mit ähm schlagschrauber gefühlvoll ÖFFne, (0.95) dis heißt dass ma halt net HIEgeht un äh- (0.57) ja druff (0.26) LOSschraubt, dann (0.22) halt (0.71) GUCKT, (FOLK_E_00007_SE_01_T_02, c755) (45) 59 wenn man klare VORstellungen hat kann das: durchaus MÖGlich sein. [...] aber ich bin halt auch HINgegangen, hab gesacht so JA- ich möcht ganz gern die un die WEIterbildung machen, und dann ham se gesagt okay GUT; (FOLK_E_00174_SE_01_T_01, c191) (46) DU willst den FÜHrerschein. [...] dU krist den NUR, (0.39) wenn du HINgehst, °h und (.) LEIStung zeigst, <<all> indem du dich> HOCHkonzentriert, (0.35) fließend in den verKEHR hineinbringst. (FOLK_E_00146_SE_01_T_02, c203) Dies erklärt sich dadurch, dass die Bedeutungkomponente der Intentionalität bei gehen im Gegensatz zu kommen obligatorisch ist (vgl. Di Meola 1994) und lässt sich auch mit der von Haddington/ Jantunen/ Sivonen (2011, S. 106) für die finnischen Äquivalente beschriebene Metaphorik in Verbindung bringen: Die Bewegung weg vom deiktischen Zentrum wird als sich dem Kontrollbereich des Sprechers bzw. Beobachters entziehende Handlung konzeptualisiert - anders als bei kommen, bei dem der Subjektreferent in den Kontrollbereich des Sprechers/ Beobachters eindringt. Beides kann negativ bewertet werden, diese Bewertung scheint aber bei ‘gehen’-Verben insofern stärker auszufallen, als man bei einen Eindringen in den eigenen Kontrollbereich zumindest potenziell eine wirksame Reaktion hervorbringen kann, während dies bei einem Geschehen außerhalb des eigenen Kontrollbereichs deutlich schwieriger ist. Mit gehen kommen vergleichbar wenige nicht agentive Verben (n=11) im zweiten Teilsatz vor wie mit kommen. Diese Fälle sind aber deshalb interessant, weil sie das Intentionalitätszuschreibungspotenzial von gehen besonders deutlich zeigen - wenn das zweite Verb nicht agentiv ist (z.B. sein, leben, haben, schlafen), kommt dem Subjekt eigentlich gerade keine Intentionalität zu, die Verwendung von hingehen und kann aber eine intentionale Lesart erzeugen. Dies zeigt Beispiel (47), in dem leben als Aktivität konstruiert wird, nicht nur durch hingehen und sondern auch durch drauf los. 59 Dieser Beleg enthält kein und zwischen dem gehen- und dem sagen-Satz und gehört damit nicht zu den 106 Fällen prototypischer Pseudokoordination mit gehen, zeigt aber umso deutlicher, dass verwandte Strukturen - wie bei kommen - dieselben Funktionen übernehmen können. Nadine Proske 240 (47) das sind is MEIne philosophie. wenn du jetzt HINgehst-°h und äh äh (0.84) einfach nur draufLOSlebs; (FOLK_E_00261_SE_01_T_01, c61) Im Unterschied zu kommen treten bei pseudokoordiniertem gehen fast nur pronominale Subjekte auf (fünf sind lexikalisch realisiert, davon zwei mit generischer Referenz (Leute)), 60 das Verb dient also in der Regel nicht der Einführung neuer Referenten in Subjektfunktion. Dennoch wird auch die Pseudokoordination mit gehen regelmäßig mit informationsportionierender Funktion eingesetzt, vor allem, indem durch das Direktionaladverbial von gehen ein neuer Referent eingeführt wird, der so getrennt von der auf ihn bezogenen Aktivität im zweiten Teilsatz steht. In (48) wird der Masseur im Zieladverbial von gehen eingeführt und dann pronominal als indirektes Objekt von sagen weitergeführt (vgl. auch (40)). (48) sich so auf den rÜcken richtig viel finalGON- und dann zum maSSEUR gehn und es ihm nich SAgen. (FOLK_E_00208_SE_01_T_02, c510) Die Funktionen und sequenziellen Kontexte wurden für (hin-/ her-)gehen und nicht detailliert analysiert, die Betrachtung des unmittelbaren Kontexts in den KWIC-Listen lässt aber den Schluss zu, dass narrative Kontexte vorhanden, aber seltener als bei kommen sind und dass insbesondere hingehen und häufig in argumentativen Kontexten vorkommt. Auffällig ist außerdem, dass viele Belege Aufforderungen darstellen (vgl. (40)). Imperative mit gehen und haben den Vorteil, zuerst durch das unspezifische Bewegungsverb zu signalisieren, welche Art von Handlung (Aufforderung zur Bewegung mit einem Zweck am Zielort) vorliegt, und die Aktivität, zu der aufgefordert wird, erst dann durch das zweite Verb zu nennen bzw. zu präzisieren. Dies gilt für kommen natürlich prinzipiell auch, das Nichtvorkommen von pseudokoordinierten Imperativen mit kommen in FOLK mag darin begründet liegen, dass - entweder in FOLK oder allgemein - häufiger zu Aktivitäten aufgefordert wird, für die der Aufgeforderte sich vom deiktischen Zentrum wegbewegen muss. 5. Fazit Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Pseudokoordination mit kommen als Erstverb weder formal noch funktional ein einheitliches Phänomen ist. Formal gibt es neben den Varianten innerhalb der vor dem Hintergrund der Literatur zu anderen Sprachen als prototypisch eingestuften Pseudokoordination (Stellung des Subjekts in VF oder MF, Vorhandensein eines direktionalen Adverbials) verwandte Strukturen mit vergleichbaren Funktionen (realisiertes Subjekt im zweiten Teilsatz, asyndetische Reihung (‘fehlendes’ und)). Funktional lässt 60 Bei sitzen sind 17 der 68 Subjekte lexikalisch, bei stehen sind es 14 von 39. Diese dienen also in Pseudokoordination wie kommen häufiger der Einführung neuer Referenten als gehen. Pseudokoordiniertes kommen 241 sich als gemeinsamer Nenner aller Varianten die Perspektivierung des durch das zweite Verb beschriebenen Ereignisses und das Hervorheben der Intentionalität des Handelns des Subjektreferenten festhalten. Die informationsportionierende Funktion ist häufig, aber dennoch optional und außerdem eher ein allgemeines Merkmal aus mehreren Teilsätzen bestehender gesprochensprachlicher Strukturen, die im Zuge einer stärkeren Grammatikalisierung und damit einhergehenden ‘Aufladung’ mit aspektueller oder modaler Bedeutung der Pseudokoordination in den Hintergrund treten dürfte. Vieles spricht für einen noch geringen Grammatikalisierungsgrad der Pseudokoordination im Deutschen: Die Möglichkeit zwischen die Verben und die Konjunktion tretender Satzglieder, die Möglichkeit eines realisierten Subjekts bei vergleichbarer Funktion (vgl. 4.1.1), die Möglichkeit der prosodischen Trennung der Teilsätze und der Akzentuierung des ersten Verbs (kommen) (vgl. 3.4) und die noch optionale bzw. unterschiedlich starke Monoprädikativität. Dennoch zeigen sich schon einige für andere Sprachen beschriebene typische Merkmale von Pseudokoordinationen: Beide Teilsätze sind nicht selbstständig - der erste aus semantisch-pragmatischer Sicht und der zweite aus syntaktischer. Dies lässt unterschiedliche Schlussfolgerungen zu. Fürs Englische nimmt Hopper (2002, S. 154) aus semantischen Gründen an, dass das erste Verb zum Adjunkt des zweiten wird, in der deutschen generativen Grammatik wird aus syntaktischen Gründen teilweise angenommen, dass der zweite Teilsatz zum Adjunkt des ersten wird (vgl. z.B. Büring/ Hartmann 1998). Die hier vorgenommene Analyse zeigt - trotz der teilweise möglichen Paraphrasierbarkeit des zweiten Teilsatzes durch einen Nebensatz (vgl. 3.3) -, dass auch fürs Deutsche anzunehmen ist, dass das erste Verb (kommen) innerhalb der Pseudokoordination dabei ist, seinen Vollverbstatus zu verlieren. Es dient zunehmend dazu, durch seine projektive Kraft das zweite Verb zu fokussieren. Dies entspricht der Funktion der Hervorhebung von Handlungen, die Hopper (2002, S. 160ff.) beschreibt; er sieht alle englischen Pseudokoordinationen mit intransitivem Erstverb als „foregrounding constructions“ mit jeweils erstverbspezifischen hinzukommenden subjektiven Bedeutungskomponenten (vgl. ebd., S. 155, 169). Eine solche Subjektivierung ist fürs Deutsche zumindest bei kommen ohne Direktionaladverbial (insbesondere in Verbindung mit Kommunikationsverb) und bei hingehen ebenfalls deutlich vorhanden. Auch die Art der hinzukommenden subjektiven Bedeutungkomponenten entspricht den für andere Sprachen bei Bewegungsverb im ersten Teilsatz beschriebenen wie der Intentionalität und Entschlossenheit (vgl. z.B. Newman/ Rice 2008; Stefanowitsch 2000) oder dem Potenzial für negative affektive Konnotationen (vgl. Haddington/ Jantunen/ Sivonen 2011). Zumindest erstere gehören einem für diese Verbklasse typischer Grammatikalisierungspfad an bzw. sind eine Station auf diesem hin zur Modalität (vgl. Bybee/ Perkins/ Pag- Nadine Proske 242 liuca 1994, S. 228ff., 240) - „verbs of movement typically come to express the intentions of human agents” (Hilpert/ Koops 2008, S. 243). Es lässt sich außerdem als generelle Tendenz beschreiben, dass weniger grammatikalisierte Pseudokoordinationen - wie im Englischen [take NP and VP] und im Deutschen [kommen und VP] - nicht nur formal sondern auch funktional eine größere Bandbreite zeigen, was sie für interaktionale Untersuchungen umso interessanter macht. Dies erklärt vielleicht, warum es für die skandinavischen Sprachen - zumindest meines Wissens - keine solchen gibt: Die stärker grammatikalisierten Funktionen sind semantischer Art, so dass der Gebrauch solcher Pseudokoordinationen weniger durch interaktionale Faktoren wie z.B. Informationsportionierung und Stance Taking motiviert ist. Aus demselben Grund sind interaktionale Untersuchungen zu echter Verbserialisierung (oder den deutschen Äquivalenten mit kommen/ gehen + Infinitv/ Partizip, vgl. 2) wenig lohnend. Auch solche ließen sich aber, da sie zwar grammatische Kategorien sind, aber nicht obligatorisch für jeden realisierten Satz, sinnvoll auch anhand gesprochener Daten im Vergleich mit weniger grammatikalisierten Formaten untersuchen (auch fürs Deutsche z.B.: Wann wird [kommen und VP] eingesetzt und wann [kommen + Infinitiv]? ). Eine relativ stark grammatikalisierte Kategorie wie die schwedische Pseudokoordination oder eine syntaktische Struktur mit klar nicht kompositioneller Bedeutung/ Funktion wie viele der englischen Pseudokoordinationen mit go kann aus konstruktionsgrammatischer Perspektive immer als Konstruktion gelten. Fürs Deutsche kann Konstruktionsstatus auf jeden Fall für Pseudokoordinationen mit klar verblasster Bedeutung des ersten Verbs angenommen werden, also für die meisten Vorkommen von [hingehen und VP]. Bei [kommen und VP] sind weniger Fälle ganz ohne Bewegungsbedeutung zu finden; wenn eine verblasste Bedeutung vorliegt, dann aber immer in Kombination mit sagen oder einem anderen Kommunikationsverb (der Umkehrschluss gilt nicht: bei sagen im zweiten Teilsatz ist die Bedeutung von kommen nicht immer verblasst). Deshalb und aufgrund der hohen Frequenz von sagen als zweites Verb kann [kommen und sagen] als Konstruktion angesehen werden. Außerdem sind pseudokoordinative Kombinationen dieser beiden Verben häufiger besonders ‘kompakt’ als andere Kombinationen, d.h. sie treten häufiger ohne Direktionaladverbial zu kommen und überhaupt ohne weitere Satzglieder auf, so dass die Verben besonders häufig direkt adjazent zu und stehen. Eine solche Zuschreibung eines Konstruktionsstatus ist jedoch nicht mehr als eine andere Formulierung des beobachteten Verfestigungsgrades der verschiedenen Kombinationen und sagt nichts über den Festigkeitsgrad der deutschen Pseudokoordination als abstrakte Struktur aus. Es ist hier ebenso schwierig festzulegen, welche prototypischen und weniger prototypischen Strukturen überhaupt zu einer ansatzweise grammatikalisierten Zielstruktur dazugehö- Pseudokoordiniertes kommen 243 ren, wie zu bestimmen, welche der verschiedenen heterogenen Strukturen zu einer potenziellen übergeordneten Konstruktion gehören und welche potenziell abzugrenzende verwandte Konstruktionen sind. Die konstruktionsgrammatische Perspektive hilft also nicht dabei, zunächst eine sinnvolle Kategorisierung vorzunehmen. Eine Diskussion um den Konstruktionsstatus der deutschen Pseudokoordination muss deshalb m.E. warten, bis pseudokoordinative Strukturen einzelverbunabhängig und einzelverbspezifisch (für andere Verben als kommen) besser untersucht sind. Dabei müsste u.a. gezeigt werden, wie stark die Präferenz für bestimmte Verben und Verbklassen im zweiten Teilsatz genau ist, also ob z.B. sich auch in größeren Datenmengen bei kommen eine stärkere Präferenz für Kommunikationsverben (und insbesondere sagen) zeigt, so dass dadurch gerechtfertigt wäre, dies als idiosynkratisches Merkmal einer Konstruktion [kommen und VP] zu beschreiben, oder ob diese Präferenz bei allen Erstverben ähnlich hoch ist, so dass sie als Merkmal einer abstrakteren Pseudokoordinationskonstruktion - im Vergleich zu echter Koordination - zu verstehen wäre. Natürlich kann man auch argumentieren, dass die Monoprädikativität zweier (pseudo-)koordinierter Teilsätze und somit deren Nichtkompositionalität an sich schon dafür spricht, von einer Konstruktion auszugehen. Auch dies würde m.E. aber voraussetzen, dass man genau weiß, dass für den Großteil ‘echt’ koordinierter Sätze das Prinzip der Kompositionalität gilt. Es ist jedoch bisher nicht empirisch untersucht worden, ob das tatsächlich zutrifft oder ob nicht bei einem Großteil koordinierter Strukturen irgendeine Form von semantischpragmatischer Asymmetrie vorliegt. Hinzu kommt, dass die Monoprädikativität einiger Pseudokoordinationen interpretativ nicht eindeutig ist. Außerdem würde die pauschale Annahme, dass auf jeden Fall eine abstrakte Pseudokoordinationskonstruktion anzusetzen ist, nicht das Problem der Abgrenzung von Subkonstruktionen und verwandten Konstruktionen lösen. Deshalb erscheint es sinnvoller, zunächst festzustellen, welche lexikalisch teilspezifizierten klaren Fälle mit Konstruktionsstatus es gibt und welche übergeordneten Tendenzen sich über lexikalische Realisierungen hinweg finden lassen. Konkret wäre zunächst eine Differenzierung von kommen + Verbpartikel/ Adverb nötig: Ein Feststellen möglicher unterschiedlicher Funktionen von (da)herkommen, ankommen usw. war mit der vorliegenden kleinen Belegmenge nicht möglich. Dasselbe gilt für hingehen und hergehen. Außerdem müssten die unter 4.2.1 nur quantitativ berücksichtigten Verben in Pseudokoordination im Detail untersucht werden. Es ist zu erwarten, dass diese semantisch und pragmatisch anders funktionieren als kommen und gehen, auch wenn sie den informationsportionierenden Aspekt gemeinsam haben. Insbesondere bei (da-/ rum-)sitzen und (da-/ rum-)stehen wäre es möglich, dass sich eine Grammati- Nadine Proske 244 kalisierung zum imperfektiven Aspekt im Anfangsstadium feststellen ließe. Außerdem wäre zu prüfen, ob es weitere Verben gibt, die besonders häufig im ersten Teilsatz von pseudokoordinativen Strukturen auftreten (z.B. anfangen, machen) und ob die Pseudokoordination auch verbunabhängig eine produktive Struktur ist. Für die Pseudokoordination mit kommen lässt sich abschließend sagen, dass sie zwar keine hochfrequente, doch aber in verschiedenen Interaktionstypen rekurrente Struktur ist. Sie ist vielfältig einsetzbar, da sie Information komprimierende und portionierende Eigenschaften vereint: Durch die enge Verbindung zweier auf dasselbe Subjekt bezogener VPn werden zwei Ereignisse komprimiert als eine konzeptuelle Einheit dargestellt - unabhängig davon, ob sie gleichzeitig, leicht überlappend oder sequenziell stattfinden. Durch die Verteilung des Subjekts und der semantisch relevanteren der beiden VPn auf zwei Teilsätze wird dabei trotzdem eine Informationsportionierung erreicht. Schließlich werden zwei Bedeutungskomponenten des ansonsten unspezifischen Bewegungsverbs kommen, die Intentionalität des Subjekts und die Perspektivierung vom deiktischen Zentrum aus, auf das Verb im zweiten Teilsatz bezogen, so dass bezüglich der von diesem bezeichneten Handlung bestimmte Inferenzen nahegelegt werden. Hinsichtlich der Thematik des vorliegenden Bandes zeigt die untersuchte Struktur, dass auch auf den ersten Blick isoliert interpretierbare Einzelsätze, wie z.B. solche mit kommen in Bewegungsbedeutung, erst bei Einbezug sie umgebender Sätze sowie des sequenziellen Kontexts eine wirklich gegenstandsangemessene Interpretation erfahren können. Literatur Barth-Weingarten, Dagmar (2011): The fuzziness of intonation units: Some theoretical considerations and a practical solution. In: InLiSt - Interaction and Linguistic Structures 51. www.inlist.uni-bayreuth.de/ issues/ 51/ Inlist51.pdf (Stand: Februar 2017). 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Der vorliegende Beitrag identifiziert spezifisch mündliche Gebrauchsmuster dieser Verben und untersucht, worin sie sich von Verwendungen in schriftlichen Kontexten unterscheiden. Die Kontrastierung erfolgt auf Basis einer explorativen Korpusstudie in verschiedenen mündlichen und schriftlichen Verwendungskontexten (Alltagsgespräche, institutionelle Interaktionen, informelle internetbasierte Kommunikation, literarische Prosa und Wissenschaftstexte). Im Anschluss wird exemplarisch am Beispiel je eines der so gefundenen Gebrauchsmuster untersucht, welche pragmatisch-interaktiven Funktionen mit der jeweiligen Konstruktion realisiert werden können, die ihre besondere Assoziation mit der Mündlichkeit erklären. Wir beginnen mit einer Darstellung relevanter Vorarbeiten, an die die Untersuchung anknüpft (Abschnitt 2). Abschnitt 3 erläutert Datenbasis und Methode, Abschnitt 4 präsentiert die Ergebnisse. Abschließend wird eine Zusammenfassung und Diskussion der Resultate gegeben (Abschnitt 5). 2. Forschungsstand Eine hinreichende Intersubjektivierung vorauszusetzender Wissensbestände, epistemischer Einstellungen und aktueller Verstehensleistungen der Interaktionsbeteiligten zählt zu den Grundvoraussetzungen gelingender Kommunikation. Ein Mittel, um diese prinzipiell unbeobachtbaren Gegenstände wechselseitig zugänglich zu machen, besteht in ihrer direkten sprachlichen Thematisierung, für die mentale Prädikate wie denken und wissen (sowie verwandte wie glauben, meinen, finden, verstehen etc.) eine wichtige Ressource darstellen. Die explizite Thematisierung eigener und fremder Kognitionen dient dabei so unterschiedlichen Funktionen wie der lokalen Verständnissicherung (Deppermann 2008), der Zuschreibung (und Vergewisserung der Gegebenheit) von Wissensbeständen als präsupponierbare Bestandteile des common ground (Clark 1996), der Anzeige der Gewissheit und subjektiven Perspekti- Arne Zeschel 250 vierung von Sachverhalten (z.B. als wahrscheinlich oder wünschenswert) in Gestalt eines bestimmten epistemic stance (Englebretson (Hg.) 2007, Kärkkäinen 2003) sowie auch der Markierung des relativen epistemic status (Heritage 2012) der Interaktionsbeteiligten als mehr oder weniger autorisiert bezüglich der Einschätzung gegebener Sachverhalte. Die Literatur zu diesen verschiedenen Themengebieten ist umfangreich und kann hier nicht umfassend gewürdigt werden. Für eine knappe Überblicksdarstellung verweisen wir auf Deppermann (2015). Aufmerksamkeit haben mentale Verben wie denken und wissen (und ihre Äquivalente in anderen Sprachen, allen voran dem Englischen) in der pragmatisch-interaktionslinguistischen Forschung aber vor allem noch aus einem weiteren Grund erfahren: Sie sind typische Spenderstrukturen für formal und funktional spezialisierte, von den Quelllexemen abgespaltene Einheiten, die besondere Diskursfunktionen übernehmen. Für diese Art von Ausdrücken sind eine Reihe unterschiedlicher Bezeichnungen vorgeschlagen worden, von denen „pragmatischer Marker“ (bzw. „pragmatic marker“, vgl. Fraser 1996) und „Diskursmarker“ (bzw. „discourse marker“, vgl. Schiffrin 1987) die prominentesten sind. Bezüglich der genauen Kriterien, die ein Ausdruck zu erfüllen hat, um als Instanz dieser Kategorien zu gelten, herrscht keine Einigkeit. Häufige genannte Merkmale sind allerdings: - Metapragmatische Funktion - Projektivität (sofern vorangestellt) - Syntaktische Desintegration - Semantische „Ausbleichung“ - Optionalität - Skopuserweiterung Im vorliegenden Beitrag beschäftigen uns terminologische Fragen zum Verhältnis der genannten Begriffe untereinander 1 sowie zu ihrer Abgrenzung von weiteren ähnlichen Begriffen wie „Operator“ (Fiehler et al. 2004) oder „Gesprächspartikel“ (Schwitalla 2002) allerdings nicht weiter (vgl. zu Definitions- und Kriterienfragen u.A. Fischer 2014 und Imo 2012). Wir knüpfen im Folgenden lediglich an die Beobachtung an, dass bestimmte usualisierte Gebrauchsmuster unserer Zielverben dazu neigen, ein pragmatisch spezialisiertes Eigenleben zu entwickeln: einhergehend mit einer Tendenz zu syntaktischer Desintegration und morphophonetischer Reduktion leisten sie dann keinen Beitrag mehr zur Äußerungsbedeutung auf semantisch-propositiona- 1 Während „pragmatic marker“ und „discourse marker“ z.B. in Günthner/ Mutz (2004) als austauschbare Bezeichnungen gebraucht werden, versteht etwa Fraser (1996) ersteren als Oberbegriff zu letzterem. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 251 ler Ebene, sondern dienen zur Signalisierung bestimmter pragmatisch-interaktiver Funktionen. Die Konventionalisierung solcher neuen Funktionsebenen 2 ist ein gradueller Prozess, der zu einem gegebenen synchronen Zeitpunkt für verschiedene Verwendungen einer Spenderstruktur unterschiedlich weit fortgeschritten und in seinem weiteren Verlauf nicht strikt vorhersehbar ist. Zur Vermeidung der Implikation, dass gegebene Beispiele für solche Abspaltungsprozesse bereits vollständig abgeschlossen wären, fassen wir nachweisbar 3 betroffene Strukturen im Folgenden unter der Bezeichnung „Diskursmarkerkandidaten“ (bzw. kurz DM ) zusammen. (1) FOLK_E_00066_SE_01_T_01, c880 Gespräch unter Freunden [M-A] 01 DU ich dEnke es is kein SCHAden- 02 (0.32) optimIstisch in die zukunft zu sehen als unterNEHmer; 03 JO ʔm_ʔm_ʔm; In der Literatur sind solche Verwendungen, die es analog auch mit anderen mentalen Verben wie etwa meinen, glauben und vermuten gibt, insbesondere für die englischen Äquivalente der jeweiligen denken- und wissen-Konstruktionen bereits ausführlich untersucht. Das englische Pendant zu ich denke (in der fraglichen Kombination mit einem Hauptsatz) ist dabei u.A. als „comment clause“ (Kaltenböck 2008, 2013), „epistemic phrase“ bzw. „epistemic parenthetical“ (Thompson/ Mulac 1991a, b), „complement-taking mental predicate“ (Van Bogaert 2011), “modal particle“ (Aijmer 1997), und „discourse marker“ (Kärkkäinen 2003) bezeichnet worden. Funktional lässt sich bei den meisten dabei behandelten Verwendungen von einer Stance-Markierung sprechen (Englebretson (Hg.) 2007, Keisanen/ Kärkkäinen 2014). Je nachdem, wie der ebenfalls nicht einheitlich definierte Begriff Stancetaking genau verstanden wird (Englebretson 2007), handelt es sich dabei entweder um die Anzeige der subjektiven Perspektive des Sprechers auf einen in spezifischer Weise (z.B. als sicher, wahrscheinlich, wünschenswert etc.) gerahmten Sachverhalt oder um eine gemeinschaftliche Positionierungsaktivität der Interaktionsteilnehmer sowohl mit Blick auf einen gegebenen Sachverhalt als auch im Verhältnis zueinander. Im ersten Verständnis besitzt I think / ich denke bei Voranstellung den Charakter einer „Verstehensanweisung“ (Fiehler et al 2004, S. 241f.), die eine „vorgreifende Verdeutlichung des mentalen Status der folgenden Einheit“ (ebd., S. 218) leistet und sich dabei in bestimmter Weise von den mit anderen Operatoren dieses Typs (wie z.B. ich hoffe) realisierten Perspektivierungen unterscheidet. Aus Sicht der zweiten Herangehensweise ist 2 Im Sinne des „Divergence“-Begriffs von Hopper (1991, S. 24f.). 3 Vgl. dazu Abschnitt 3.2.3. Arne Zeschel 252 diese Perspektive als verkürzt kritisiert worden, da sie die Funktion entsprechender Markierungen rein sprecherzentriert konzipiere. Erweitere man den Blickwinkel dagegen auf die Einbettung entsprechender Ausdrücke in ihren sequenziellen Kontext, erweise sich die als analytischer Fluchtpunkt reklamierte Subjektivität des individuellen Sprechers ihrerseits als eingebettet in den Prozess der konversationellen Hervorbringung von Intersubjektivität. 4 Die Funktion eines gegebenen Stancemarkers ist aus dieser Sicht nicht als eine spezifische Art einseitiger „Verstehensanweisung“ bezüglich folgender Äußerungsbestandteile des Sprechers zu sehen, sondern als (sequenz-)positionsabhängiges Potenzial, ggf. recht unterschiedliche kommunikative Effekte im Rahmen der aktuellen Verständigungsaktivität zu erzielen. Eine ausführliche Analyse speziell zu I think im Rahmen dieses Ansatzes präsentiert Kärkkäinen (2003, 2006). Wir kommen auf die verschiedenen in dieser Studie identifizierten Funktionen von I think in Abschnitt 4.1.4 zurück. Im Fall von wissen bzw. know beschäftigen sich einschlägige Vorarbeiten (zumindest bezüglich Verwendungen mit Sprecherdeixis / 1. Person Singular) dagegen typischerweise mit der negierten Variante I don’t know. Auch in vielen Verwendungen dieser Formel wird nicht die propositionale Bedeutung des Ausdrucks artikuliert (ein spezifischer Sachverhalt ist dem Sprecher unbekannt), sondern eine bestimmte pragmatisch-interaktive Funktion realisiert (z.B. die Einschränkung von Geltungs- oder Angemessenheitsansprüchen folgender Äußerungsbestandteile, oder auch die Einleitung einer dispräferierten Fortsetzung wie etwa einer ausbleibenden Zustimmung). Eine ausführliche Untersuchung speziell des deutschen ich weiß nicht in dieser Hinsicht bieten Helmer/ Deppermann/ Reineke (in diesem Band), wo auch die Literatur zu äquivalenten Konstruktionen in anderen Sprachen (vgl. etwa Beach/ Metzger 1997; Scheibman 2000; Tsui 1991 und Weatherall 2011 zum Englischen I don’t know) zusammengefasst wird. Anders als bei denken gibt es im Fall von wissen aber noch eine Reihe weiterer entsprechend spezialisierter Formeln nicht nur der 1. Person (z.B. was weiß ich (+w-Element)), sondern auch der 2. (z.B. weißt du / wissen Sie, du weißt / Sie wissen schon/ doch) und 3. Person (z.B. wer weiß (+w-Element), weiß der Geier/ Teufel/ Kuckuck/ Henker etc. (+w-Element)). Einen Überblick sowohl über diese formulaischen als auch über typische regulär-kompositionelle Verwendungen des Verbs wissen in der Mündlichkeit gibt die Studie von Imo (2007, S. 133-172). Einzelne Marker bzw. Funktionen eines gegebenen Markers mit wissen untersuchen weiterhin die Studien von Overstreet (2005) und König/ Stoltenburg (2013) u.A. zu was weiß 4 „[S]tance taking marked with I think is a dynamic interactive activity, an interactional practice engaged in by coparticipants in conversation, rather than a way of framing an isolated ‘thought’ or position of an individual speaker“ (Kärkkäinen 2006, S. 711). Vgl. auch Keisanen/ Kärkkäinen (2014, S. 302): „[S]tance and stance taking are regarded as interactionally organized activities embedded in the practices of talk-in-interaction and in the on-going social action“. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 253 ich sowie Günthner (2016) zu weißt du. Wo die konkreten Befunde dieser Studien für unsere Untersuchung relevant werden, kontrastieren wir sie mit eigenen Resultaten in Abschnitt 4.2.4. Wie auch immer Bedeutung und Funktion entsprechender Formeln mit denken und wissen am besten zu fassen sein mögen, ihre Charakterisierung als Einheit geht in formaler Hinsicht mit einer strukturellen Reanalyse einher. So liegt z.B. im Fall von ich denke + V2 anstelle eines Satzgefüges bestehend aus dem Matrixsatz ich denke und einem Komplementsatz in Objektfunktion dann die Nebenordnung eines desintegrierten Markers ich denke und eines davon modalisierten, syntaktisch unabhängigen Hauptsatzes vor. Diachron zurückgeführt wird der postulierte Marker dabei entweder auf die formgleiche Matrixprädikatverwendung des Verbs denken bzw. think (Thompson/ Mulac 1991a; für das Deutsche: Auer 1998; Auer/ Günthner 2005) oder auf adverbiale Nebensätze des Typs wie ich denke bzw. as I think (Brinton 1996; Fischer 2007). Uneinigkeit besteht auch in der Bezeichnung des Wandelprozesses, durch den entsprechende Marker entstehen. In der Literatur werden dabei u.A. die Begriffe „Grammatikalisierung“ (Thompson/ Mulac, Auer/ Günthner), „Pragmatikalisierung“ (Aijmer 1997), „Lexikalisierung“ (Fischer 2007, S. 311) und „Cooptation“ (Heine 2013) gebraucht. Auch in diesem Punkt stehen terminologische Fragen für uns nicht im Mittelpunkt des Interesses und werden hier nicht weiter verfolgt. Dennoch stellt sich auch in rein synchroner Perspektive die empirisch-methodische Frage einer Unterscheidung kompositioneller Verbindungen von denken mit Subjekt ich und einem V2-Satz von oberflächlich formgleichen Strukturen, bestehend aus einem komplexen Marker [ich denke] in Kombination mit davon gerahmter, jedoch syntaktisch unabhängiger Prädikation. Wir kommen darauf in Abschnitt 3.2.3 zurück. 3. Daten und Methode 3.1 Datenbasis Die Untersuchung beruht auf 4.000 zufällig ausgewählten Belegen für die beiden Zielverben aus fünf verschiedenen Kommunikationsdomänen (400 Belege pro Verb und Kategorie): private Alltagsgespräche, institutionelle Interaktionen, literarische Texte, Wissenschaftstexte sowie konzeptionell-mündliche, aber medial schriftliche internetbasierte Kommunikation. Im Folgenden wird für diese Kategorien die Bezeichnung „Verwendungskontext“ gebraucht. Die gesprochensprachlichen Daten entstammen dem 2014er Release des Forschungs- und Lehrkorpus Gesprochenes Deutsch, FOLK (Schmidt 2014). 5 5 Äußerungen erkennbar nicht muttersprachlich kompetenter Sprecher (aus dem Teilkorpus „Polizeivernehmungen von Migranten“) wurden ausgeschlossen, ebenso vorgelesener Text Arne Zeschel 254 Literarische und Wissenschaftstexte sind dem DWDS-Kernkorpus entnommen (Geyken 2007). 6 Die Webdaten wurden aus einer Untermenge der Dokumente des Korpus DECOW2012 (Schäfer/ Bildhauer 2012) extrahiert, die sich durch eher unredigierten, „quasi-spontanen“ Sprachgebrauch auszeichnet, wie man ihn insbesondere in Forendiskussionen, Blogkommentarspalten etc. findet. In Tabellen und Diagrammen werden für diese Verwendungskontexte die folgenden Bezeichnungen benutzt: „[M-A]“ (Mündliche Daten: Alltagsgespräche), „[M-I]“ (Mündliche Daten: Institutionelle Interaktionen), „[K-M]“ (konzeptionell mündliche / medial schriftliche Daten, d.h. die informellen Webtexte), „[S-L]“ (Schriftliche Daten: literarische Texte) und „[S-W]“ (Schriftliche Daten: Wissenschaftstexte). Gesucht wurde jeweils nach den Lemmata denken und wissen. 7 3.2 Auszeichnung Im Sinne der explorativen Zielsetzung der Korpusstudie wurde jedes Vorkommen für eine möglichst breite Palette struktureller und semantischer Merkmale sowie lexikalischer Kookkurrenzinformationen ausgezeichnet. Dabei wurde jeder Beleg in der Studie von zwei Personen unabhängig kodiert. Alle Abweichungen, die sich bei einem automatischen Abgleich der Auszeichnungen ergaben, wurden von einem dritten Bearbeiter aufgelöst und korrigiert. Die erfassten Merkmale werden in den folgenden Abschnitten kurz dargestellt. 3.2.1 Strukturelle Auszeichnung In formaler Hinsicht wurden in erster Linie Informationen über den Prädikatskomplex und die Ergänzungen des Verbs erfasst. Für das Prädikat waren dies: Part-of-Speech-Tag des Zielvorkommens (gemäß des „Stuttgart-Tübingen-Tagset“ (STTS), vgl. Schiller et al. 1999), Präsenz eines Modalverbs, Negation, Person, Numerus, Tempus, Modus, Genus sowie eventuelle weitere Prädikatsbestandteile (ich denke gern daran zurück; er weiß Bescheid). aus dem Teilkorpus „Vorlesen für Kinder“. Wo sich nicht genügend verwertbare Belege für ein Verb in einem der beiden mündlichen Kontexte fanden (Alltag und institutionell), wurde die Datenbasis durch neu hinzugekommene Belege aus einem späteren Release des FOLK- Korpus ergänzt (DGD-Release 2.6 vom 13.04.2016). 6 Die Texte im DWDS-Kernkorpus sind so zusammengestellt, dass sie alle Dekaden des 20. Jahrhunderts gleichmäßig abdecken. Für die vorliegende Studie wurden nur Quellen aus den letzten drei Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende berücksichtigt. 7 Um auch ambig ausgezeichnete Perfektverwendungen von denken mitzuerheben, wurde für dieses Verb der Suchterm „ [lemma='denken(\|gedenken)? '] “ benutzt. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 255 Für die häufig schwierige Differenzierung von Ergänzungen/ Komplementen und Angaben/ Adjunkten steht kein verlässlicher formaler Test zur Verfügung (vgl. die Einleitung zu diesem Band). Als Ergänzungen wurden in dieser Studie Elemente gewertet, die in der jeweils evozierten Bedeutung „angelegt“ sind. Auch hierfür gibt es keine klare Diagnostik. Die Frage, welche Elemente und Spezifikationen Bestandteil einer gegebenen Bedeutung sind, hängt ihrerseits schlicht davon ab, wie diese Bedeutung genau definiert wird. Unser allgemeiner theoretischer Bezugsrahmen für diese Festlegung ist die Framesemantik (Fillmore 1982, 1985; Ruppenhofer et al. 2010). Praktisch haben wir uns bei der Auszeichnung von der Zielsetzung leiten lassen, möglichst keine gegebenenfalls relevante Information unter den Tisch fallen zu lassen und den Ergänzungsbegriff somit eher großzügig auszulegen, so dass verschiedentlich z.B. auch Konstituenten mit modaler, lokaler und temporaler Bedeutung als Ergänzungen registriert wurden. Für Ergänzungen wurde erfasst: Präsenz des jeweiligen Ergänzungstyps (ja/ nein), phrasale Kategorie, lexikalischer Kopf und topologische Feldposition der Konstituente. Als (potenziell) zu erfassen galten dabei Subjekt (+SUBJ) und direktes Objekt (+DIR.OBJ), Präpositionalobjekte (+P.OBJ), prädikative Ergänzungen (+PRD) sowie Adverbiale der semantischen Subtypen Direktional (+DIR), Lokal (+LOK), Temporal (+TMP), Modal (+MOD) und Kausal (+KAU). Angaben wurden ebenfalls registriert, jedoch nur mit Blick auf ihre Präsenz und nicht auf konkrete Realisierungsmerkmale. Erfasst wurden weiterhin der Satztyp des relevanten Teilsatzes, die Verbstellung und die Anzahl der realisierten Ergänzungen. Die realisierten Ergänzungen wurden nach Abschluss der Belegauszeichnung zu Mustern wie „+SUBJ“, „+SUBJ +P.OBJ: an“ etc. zusammengefasst, wobei bei direkten Objekten auch die kategoriale Realisierung als Nominalphrase (DIR. OBJ: NP), Komplementsatz (DIR.OBJ: S) oder „Partikelergänzung“ (DIR. OBJ: PAR, vgl. ich dachte boah ey) und bei Präpositionalobjekten der lexikalische Kopf der PP (P.OBJ: an, P.OBJ: bei, P.OBJ: von etc.) Eingang in die Musterauszeichnung fanden. Für den Zugriff auf lexikalische Kookkurrenzinformation wurde das Kopflemma jeder erfassten Ergänzung ausgezeichnet (falls du das Ergebnis nicht wissen willst, poste ich es hier mal nicht rein). Lexikalisch erfasst wurden auch Negationselemente (in einem weiten Verständnis des Begriffs: An das menschliche Wohl wird kaum gedacht; Man kann nie wissen; daß er keine Sekunde an eine Abtreibung gedacht hätte; ebensowenig muß der Empfänger wissen, ob etwas und was ihm mitgeteilt werden sollte), das Lemma eventueller Modalverben sowie im relevanten Teilsatz auftretende Modalpartikeln. Insgesamt ergab sich so aus den erfassten funktionalen, kategorialen, topologischen und lexikalischen Merkmalen für jeden Beleg ein Vektor mit 86 Positionen. Arne Zeschel 256 3.2.2 Semantisch-funktionale Auszeichnung Als geeignete Bedeutungsrepräsentation sowohl für Verben als auch für Konstruktionen setzen wir mit Fillmore (1982, 1985) semantische Frames an. Ausgangspunkt unserer Systematisierung war ein Abgleich der angesetzten Lesarten für denken und wissen in den beiden großen Bedeutungswörterbüchern Duden Universalwörterbuch (Dudenredaktion 2001) und Wahrig Deutsches Wörterbuch (Wahrig-Burfeind 2011) sowie dem Valenzwörterbuch VALBU (Schumacher et al. 2004). Auf dieser Basis wurde eine eigene framebasierte Klassifikation für denken und wissen erarbeitet. Zur Illustration der angesetzten Kategorien hier je ein Beispiel für denken und wissen mit jeweils drei zugeordneten Belegen: (2) assoziation ‘assoziieren, gedanklich in Verbindung bringen; jemandem (angeregt durch etwas) unwillkürlich in den Sinn kommen’ Einem cognizer kommt (angeregt durch einen auslöser) unwillkürlich eine entität in den Sinn. (3) a. äh würde ich jetzt spontan an Hörbücher und dergleichen denken +SUBJ: cognizer +P.OBJ-an: entität [M-I] b. Ganz automatisch jedoch hat man bei diesem Typ Landschaft an ein klassisches Thema gedacht, etwa an die Geschichte von Cadmus. +SUBJ: cognizer +LOK: auslöser +P.OBJ-an: entität [S-W] c. ich dachte an den Jakob als ich das gehört habe +SUBJ: cognizer +P.OBJ-an: entität +TMP: auslöser [M-I] (4) bedenken ‘bedenken, beachten, berücksichtigen’ Ein cognizer schenkt einer entität oder einem sachverhalt (unter bestimmten umständen) in ihren Überlegungen Beachtung. (5) a. Nun muß man wissen, daß Martin und seine Tante Annette einander auf eine verdrehte Art schätzten. +SUBJ: cognizer +DIR.OBJ-S: sachverhalt [S-L] b. das muss man immer wissen wenn der Leo kommt ne +DIR.OBJ-S: sachverhalt +SUBJ: cognizer +KAU: umstände [M-A] Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 257 c. Man muß wissen: Bei den noch zu regelnden Details geht es immer auch um sehr viel Geld, ob es sich nun um Zinshöhe handelt oder um Rückzahlungsmodalitäten. +SUBJ: cognizer +DIR.OBJ-S: sachverhalt [K-M] (2) und (4) enthalten neben den Framedefinitionen, die die jeweils angesetzten Partizipanten listen (fakultativ realisierte Elemente in Klammern) und die zwischen ihnen bestehende Relation kennzeichnen, auch jeweils eine Liste „kommutierender Prädikate“, die ebenfalls diesen Frame aufrufen und von denen mindestens eines denken bzw. wissen in der jeweiligen Verwendung ersetzen kann. Diese Angaben wurden benutzt, um feinere Bedeutungsdifferenzierungen abzubilden, die sich z.B. im Zusammenspiel mit der lexikalischen Semantik der Ergänzungen ergeben, vgl. (6): (6) a. äh würde ich jetzt spontan an Hörbücher und dergleichen denken [M-I] b. Die Anderthalbmeter-Großmutter denkt nicht ans Auszahlen. [S-L] Beide denken-Belege in (6) weisen eine Konstruktion mit an-Präpositionalobjekt auf und implizieren eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit des Subjektreferenten auf das interne Argument der PP. Während es sich dabei im Fall von (6.a) um eine durch einen bestimmten Reiz ausgelöste Assoziation im Sinne eines mental vergegenwärtigten Objekts handelt, geht es in (6.b) dagegen um die Erwägung einer Handlungsoption. Entsprechend ist denken in (6a) z.B. durch ‘unwillkürlich in den Sinn kommen’ ersetzbar, in (6.b) dagegen z.B. durch ‘in Betracht ziehen’, so dass hier der unabhängige Frame in (7) angesetzt wurde: (7) erwägung ‘ins Auge fassen, in Betracht ziehen, etwas zu tun oder herbeizuführen’ Ein cognizer erwägt die Realisierung einer handlung bzw. eines dadurch erzeugten Sachverhalts. (8) a. Einen kurzen, trotzigen Augenblick lang dachte ich daran, einfach umzudrehen und wegzulaufen, irgendwohin. [S-L] b. Erst gegen Ende des Jh. dachte die Stadt daran, den Meistersingern einen offiziellen Status zu verleihen und sie finanziell zu unterstützen . [S-W] c. Kathleen Ferrier war die Tochter eines Schulleiters und dachte noch nicht an eine mus. Laufbahn, als sie die Schule mit vierzehn Jahren verließ. [S-W] Arne Zeschel 258 Natürlich führte bei der Etablierung des Klassifikationsschemas aber nicht jede Art regulärer Bedeutungsvariation zur Ansetzung eines unabhängigen Frames. Beispielsweise spricht weder die Metonymie in (8.b) - die Stadt als Realisierung des Frame-Elements (FE) person - noch die Ellipse in (8.c) - [die Ergreifung] eine[r] musikalische[n] Laufbahn als Realisierung des FE handlung - gegen eine Zuordnung dieser Belege zur Lesart erwägung, solange die diagnostischen Paraphrasen ‘ins Auge fassen’ bzw. ‘in Betracht ziehen, etwas zu tun oder herbeizuführen’ auf sie anwendbar sind. Sofern eine Ergänzung und die davon bezeichnete Bedeutungskomponente nach unserer Auffassung allein von einer schematischen Argumentstrukturkonstruktion (im konstruktionsgrammatischen Sinn, vgl. die Einleitung zu diesem Band) in die Äußerung eingebracht wurden, wurde hierfür keine separate Lesart von denken bzw. wissen angesetzt. Beispiele sind etwa Verwendungen von denken mit Direktionalergänzung im Rahmen der intransitiven Bewegungskonstruktion (Bevor man dahinterkam, daß sie völlig blöde waren, hatte man in alle möglichen Richtungen gedacht) oder der caused-motion Konstruktion (So und ähnlich denk ich mich ins Weite) sowie mit prädikativer Ergänzung als Bestandteil einer Resultativkonstruktion (Bevor ich das „do“ fertig gedacht hatte, packte mich der Wirbel regelrecht beim Schlafittchen, wie ein Karnickel, das auszubüchsen versucht). 8 Als semantische Auszeichnung wurde hier die jeweils passendste der angesetzten Lesarten von denken bzw. wissen vergeben (vgl. die framesemantischen Beschreibungen am Ende dieses Bandes für einen Überblick über das zugrunde gelegte Inventar). Spezialisierte, von kompositionell-regulären Gebräuchen der Verben abgespaltene Verwendungen von denken und wissen, deren Inhaltsseite eher auf pragmatisch-interaktiver denn auf semantisch-propositionaler Ebene zu charakterisieren war, wurden wie in Abschnitt 2 ausgeführt zunächst zu einer Kategorie „Diskursmarkerkandidaten“ (dm) zusammengefasst. Ein genauerer Blick auf die verschiedenen pragmatischen Funktionen, die diese Verwendungen realisieren, erfolgte erst im nächsten Analyseschritt (vgl. 4.1.4 und 4.2.4). Im folgenden Abschnitt wird diskutiert, wie entsprechende Belege identifiziert wurden. 3.2.3 Identifikation von Diskursmarkerkandidaten Die Entstehung eines neuen Diskursmarkers lässt sich in Begriffen der Grammatikalisierungsforschung als ein Fall von „Divergence“ (Hopper 1991) bzw. „Split“ (Heine/ Reh 1984) beschreiben: Die Spenderstruktur erfährt in bestimmten Kontexten und Realisierungsformen eine Reanalyse und kann in- 8 Unkonventionelle Verwendungen dieser Art fanden sich ausschließlich in den literarischen Texten. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 259 folgedessen in neuer Weise gebraucht werden. Der weitere Gebrauch der Spenderstruktur in ihrer Quellfunktion wird dadurch aber nicht obsolet, so dass fortan unterschiedlich kategorisierte Varianten dieser Einheit im Sprachgebrauch koexistieren. So stellen bekannte Beispiele für Diskursmarker im Deutschen wie und, obwohl und weil Abspaltungen von den formgleichen Konjunktionen dar, die unabhängig von dieser Entwicklung natürlich weiterhin als solche ihren Dienst tun. Dasselbe gilt auch für die in Abschnitt 2 erwähnten Diskursmarker, die sich aus Syntagmen mit Mental- und Kommunikationsverben entwickeln. Im Gegensatz zu Diskursmarkern wie obwohl oder weil ist hier die Frage der Abgrenzung relevanter Belege von Instanzen der Spenderstruktur aber ungleich schwieriger: im Fall von ich denke + V2 etwa liegt weder eine geänderte Wortstellung vor (vgl. obwohl - das überzeugt mich nicht vs. obwohl mich das nicht überzeugt), noch ist klar, inwiefern sich eine häufig angesetzte Diskursmarkerfunktion wie „epistemische Rahmung“ in diesem Fall von der lexikalischen Semantik des gewöhnlichen Verbs denken in Verbindung mit einer Satzergänzung unterscheidet. Es ergibt sich das am Ende von Abschnitt 2 erwähnte Problem, „reguläre“ Belege des Verbs denken von solchen des mutmaßlichen Diskursmarkers ich denke zu unterscheiden. Auch die bislang umfangreichste Studie zum englischen Pendant I think (Kärkkäinen 2003) kommt einerseits zu folgendem Schluss: „I think is a fullfledged discourse marker on a par with you know, I mean, but, so and and“ (S. 175). Andererseits heißt es an anderer Stelle aber auch: „I think covers a whole range of functions in interaction and discourse organization, from a mere discourse marker equivalent to you know, I mean and the like, to a marker of stance with full semantic content“ (ebd., S. 108). Es wird mit anderen Worten also davon ausgegangen, dass zumindest bestimmte Verwendungen von I think zur Klasse der „echten“, vollwertigen Diskursmarker gerechnet werden können, andere jedoch nicht. Die Datenbasis von Kärkkäinens Untersuchung besteht jedoch aus allen Instanzen des Suchterms I think innerhalb der untersuchten Teilmenge des Santa Barbara Corpus of Spoken American English (SBCSAE, vgl. Kärkkäinen 2003, S. 6), und es wird nicht kenntlich gemacht, ob sich bestimmte berichtete Befunde (und wenn ja, welche) auf den „full-fledged discourse marker“ oder auf den „marker of stance with full semantic content“ beziehen. Mit anderen Worten wird die Frage: Handelt es sich bei Beleg X um eine Instanz der Ziel- oder der Quellstruktur? hier nicht klar beantwortet. Angesichts der schwierig zu ziehenden Grenzen zwischen diesen (immerhin jedoch trotzdem separat postulierten) Kategorien ist das vielleicht nachvollziehbar, aber im Rahmen einer quantitativen Studie mit diskreten Klassifikationskategorien, die dem Analysten für jeden Fall eine Entscheidung darüber abverlangt, ob ein gegebener Beleg als Instanz des Arne Zeschel 260 Verbs in einer seiner lexikalischen Lesarten oder als Diskursmarker zu werten ist, ist es nicht möglich, diese Frage einfach zu übergehen. Welche Optionen gibt es also? Generell alle Belege von ich denke + V2 als potenzielle Diskursmarker zu werten, scheidet aus, wie etwa die folgenden Beispiele aus den Schriftdaten verdeutlichen: 9 (9) a. Manchmal denke ich, als Single geht's mich eigentlich sehr gut, aber dann sehne ich mich doch wieder sehr danach, jemanden zu haben, mit dem man mehr als nur plaudern, lachen und was unternehmen kann. [K-M] b. Noch nicht mal so ein Idiot guckt mich an, denke ich, und mir laufen ein paar Tränen die Wangen herunter. [S-L] c. Das also ist der Tod, denke ich bei mir, den Kopf im Katzenmaul. [S-W] In diesen Belegen liegt jeweils eine Lesart vor, die wir unter der Bezeichnung überlegung führen (vgl. Abschnitt 4.1.2): Der V2-Satz bezeichnet einen Gedankeninhalt des Subjektreferenten, und der Matrixsatz kann im Gegensatz zu rein stancemarkierendem ich denke auch nicht einfach weggelassen werden. Es handelt sich klar um Matrixprädikatverwendungen von denken mit zwei Ergänzungen (Subjekt und Objektsatz). Sind alternativ zumindest alle stancemarkierenden Verwendungen von ich denke + V2 als (potenzielle) Diskursmarker zu werten? Betrachten wir dazu erneut Beispiel (1) aus Abschnitt 2, hier wiederholt als (10): (10) FOLK_E_00066_SE_01_T_01_DF_01, Gespräch unter Freunden 01 DU ich dEnke es is kein SCHAden- 02 (0.32) optimIstisch in die zukunft zu sehen als unterNEHmer; 03 JO ʔm_ʔm_ʔm; Mit ich denke markiert der Sprecher hier seine subjektive Perspektive und bewirkt damit auch eine gewisse Modalisierung der folgenden Prädikation im Sinne einer Relativierung ihres Geltungsanspruchs. Angesichts der formalen Realisierung des folgenden Syntagmas als V2-Satz ist das ich denke zudem 9 Auer (1998, S. 286) bemerkt, dass „’direkte’ Rede und ‘indirekte’ Rede mit Konjunktiv I im syntaktischen Format abhängiger Hauptsätze durchaus schriftsprachlich“ sind. In unseren Daten steht der abhängige Hauptsatz jedoch auch in der Schrift typischerweise im Indikativ, bei Belegen mit Sprecherdeixis und Tempus Präsens (d.h. ich denke +V2) sogar zu 100% (141 Belege). Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 261 syntaktisch vergleichsweise desintegriert und könnte grammatisch betrachtet ohne Weiteres entfallen. Allerdings ist die Markierung von epistemic stance wie schon erwähnt kein Alleinstellungsmerkmal des mutmaßlich verselbständigten Diskursmarkers gegenüber regulär-kompositionellen Gebräuchen von denken. So zeigt sich z.B. bei der V2-Komplementierung in (10) gegenüber der Verwendung mit dass-Satz in (11) kein relevanter semantisch-funktionaler Unterschied im Sinne einer stärkeren „Ausbleichung“ bzw. Bedeutungsverschiebung von der propositionalen auf die pragmatische Ebene: (11) FOLK_E_00033_SE_01_T_01, c353 [M-I] Prüfungsgespräch in der Hochschule 01 ST ich finde schOn dass schüler das HEUte, 02 (0.31) schOn tanGIERT. 03 weil GRAde- 04 (.) auch für JUgendliche; 05 °h die äh die die FRAge is- 06 öh, 07 mit mit öh 08 (0.81) einem selber und der geSELLschaft. 09 (.) zum beispiel gesellschaftlichen WERTvorstellungen- 10 NOrmen; 11 °h generaTIOnenkonflikte und so was. 12 °h ich (.) denke schOn dass das auf schüler ne WIRkung haben kann. 13 (0.49) Bei ansonsten gleicher Bedeutung von denken (‘der Auffassung sein’) und Gesprächsfunktion von ich denke (epistemische Rahmung / Modalisierung) liegt in (11) klar eine Verwendung als Prädikat eines Matrixsatzes mit abhängigem Objektsatz vor, in der das einleitende ich denke entsprechend auch nicht optional ist. Es erschiene insofern fragwürdig, das ich denke in (10) als eine gänzlich andere Struktur zu analysieren als das ich denke in (11). Will man einen mutmaßlich verselbständigten Diskursmarker ich denke von formgleichen Matrixprädikatverwendungen unterscheiden, bietet sich daher ein engerer Fokus allein auf solche Verwendungen an, für die sich relevante Unterschiede zwischen potenziellen Alternanten auch tatsächlich beobachten lassen. Diesen Weg gehen Auer/ Günthner (2005, S. 343) in ihrer Diskussion zu ich mein(e), die zur Abgrenzung des Phänomenbereichs eine Dreiteilung vorschlagen: erstens hypotaktische Strukturen mit klarer Subordinationsmarkierung wie (11), die eher schrifttypisch sind („Typ I“, ihr Beispiel: ich meine, dass Arne Zeschel 262 wir ihr noch eine Chance geben sollten), zweitens die parataktische Struktur mit V2-Satz wie in (10), die eher in der Mündlichkeit zu finden ist („Typ II“: ich meine, wir sollten ihr noch eine Chance geben) und drittens schließlich die „weitergehende Reduzierung des ehemaligen Matrixsatzes [...] zum Diskursmarker (oft mit Klitisierung und sogar Tilgung des Pronomens der 1. Ps. Sg): mein wir sollten ihr noch ne Chance geben“ (ebd.) als „Typ III“. Als eigentliches diagnostisches Kriterium für die Diskursmarkerverwendung wird unabhängig von einer eventuellen „weitergehenden Reduzierung“ die fehlende Umformulierbarkeit entsprechender Belege in Strukturen von Typ I (Verb + dass-Satz) ohne wesentliche Bedeutungsveränderung angeführt (so auch in Günthner/ Imo 2003, S. 182). Dies unterscheide Typ III von Typ II, bei dem sich ich meine + V2-Satz prinzipiell auch in ich bin der Meinung, dass ... umformulieren ließe. Der Test umfasst also sowohl eine formale (syntaktische Umformbarkeit in einen dass-Satz ja/ nein) als auch eine semantische Komponente (Erhalt der literalen Bedeutung ja/ nein). Wir benutzen einen analogen Test im Folgenden als Diagnostik, um Belege von ich denke + V2 zu identifizieren, in denen Evidenz für eine Abspaltung (im Sinne von „Divergence“ bzw. „Split“) von der regulären Matrixprädikatverwendung vorliegt. Im Vorgriff auf die Bedeutungsdiskussion in Abschnitt 4 trifft das auf alle überprüfbaren Belege zu, die sich weder als ich vermute, dass X (Wahrscheinlichkeitseinschätzung) noch als ich finde, dass X (Meinungskundgabe) paraphrasieren lassen, wie es bei gewöhnlichen Belegen der stancemarkierenden Lesart auffassung möglich ist (vgl. 4.1.2). Zu beachten ist die Einschränkung, dass es sich um überprüfbare Belege handeln muss, da der Test nicht in allen Fällen anwendbar ist. Nicht möglich ist er z.B. bei Belegen mit interrogativen Objektsätzen wie in (12): (12) FOLK_E_00053_SE_01_T_01, c308 Gespräch auf der Urlaubsreise [M-A] 01 LP und DANN ähm; 02 war des MÄ: dchen- 03 (.) also richtich BLAU an den händen; 04 ich denk was IS des; 05 (0.26) 06 LP und die war voller FARbe so; 07 (.) ich glaub da is so_n FILZstift; 08 ALles voller farbe; 09 (0.66) Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 263 Dasselbe gilt für Kombinationen mit syntaktisch nicht satzwertigen, aber semantisch propositional interpretierten Fragmenten wie in (13): (13) FOLK_E_00039_SE_01_T_01, c371 Paargespräch [M-A] 01 NO °h WANN fahren wa heut zu den Eltern? 02 hhh° wAnn[haste jeSACHT dass wa dA sin]d? 03 EL [ʔ_m: ; ] 04 (0.2) 05 EL ick hab no JAR nüscht jesacht. 06 (1.74) 07 NO au mit kaffe [und KUchen]wa? 08 EL [also ] 09 (0.2) ick denke ma so ab VIER vielleicht; 11 (1.2) 12 EL sin (.) jaqueline und camillo sind ab EINS da, Weder in (12) noch in (13) ist eine dass-Satz-Paraphrase der unterstrichenen Ergänzung möglich, ihr Status als Ergänzung des Verbs denken aber unstrittig: Sie bezeichnen die jeweiligen mentalen Repräsentationen, auf die Bezug genommen wird - ein wiedergegebener Gedankeninhalt in (12), und eine (elliptisch realisierte) Absicht in (13). Das ich denke ist in beiden Fällen nicht als Diskursmarker, sondern als Matrixsatz zu werten, der eine Proposition einbettet (ob nun formal vollständig realisiert oder nicht). Solche Fälle, in denen der Test zwar nicht anwendbar, ich denke aber dennoch klar als Matrixsatz erkennbar ist, wurden strukturell als regulär zweistellige Verwendungen des Verbs denken mit Subjekt ich und einer Objektergänzung gewertet, denen semantisch die jeweils passende lexikalische Bedeutung zugeordnet wurde. Anders sieht es dagegen im Fall von Belegen mit fehlendem potenziellem Objekt wie in (14) aus, bei denen der Test ebenfalls nicht anwendbar ist: (14) FOLK_E_00007_SE_01_T_01, c223 Unterrichtsstunde in der Berufsschule [M-A] 01 GS welcher kompetEnzbereich war des vor ALlem; 02 (2.37) 03 JK ich DENK- 04 (1.35) 05 JK hm; 06 (.) schwer zu SAgen. Arne Zeschel 264 Hier kommt überhaupt kein Element als mögliche Ergänzung von denken für eine Umformung in einen dass-Satz in Frage: 10 Sprecher JK hebt nach einer bereits recht deutlichen Pause im Anschluss an die Frage von Lehrerin GS mit ich denk zu einer Antwort an, darauf folgt jedoch eine weitere Pause, bevor er einräumt, dass er die Frage nicht beantworten kann und GS sie reformuliert. Vorstellbar wäre damit zum einen, die mit ich denk begonnene Konstruktion als Abbruch zu werten. Zum anderen hat ich denk hier aber auch a l s F o r m e l eine durchaus erkennbare prozedurale Funktion, nämlich die der Überbrückung einer Disfluenz (vgl. Abschnitt 4.1.4): Durch das ich denk verhindert der Schüler, dass die schon deutlich wahrnehmbare Pause noch länger wird, während er nach einer Antwort sucht, auch wenn er sie am Ende doch nicht geben kann. Solche Verwendungen wurden als Diskursmarkerkandidaten gewertet, die strukturell nur für ihre interne Syntax ausgezeichnet wurden (hier einstellig mit Subjekt ich als einziger Ergänzung). Zusammengefasst eignet sich der Test zur direkten Identifikation von Diskursmarkerverwendungen von ich denke also nur in bestimmten Kontexten. Begreift man ihn allerdings umgekehrt als Mittel, um sowohl formal als auch semantisch u n a u f f ä lli g e , als regulären Matrixsatz zu wertende Instanzen von ich denke zu identifizieren, bietet er eine nützliche Operationalisierung der Frage, welche Treffer im Datensatz als „reguläre“ Instanzen des Verbs denken und nicht als Marker einer spezialisierten Konstruktion betrachtet werden können. Im Fall von wissen, das im Gegensatz zu denken nur selten mit einem abhängigen Hauptsatz gebraucht wird (Auer 1998), ist der syntaktische Umformungstest von V2zu dass-Satz entsprechend wenig aussagekräftig. Als Diskursmarkerkandidaten wurden hier pragmatikalisierungsverdächtige formulaische Gebräuche gewertet, die sich keiner der angesetzten literalen Lesarten von wissen zuordnen ließen (vgl. Abschnitte 2 und 4.2.2). 3.3 Auswertung Die Auswertung der Daten erfolgte mithilfe von Korrespondenzanalysen (Greenacre 2007). Die Korrespondenzanalyse ist ein exploratives Verfahren, das die Entdeckung von Merkmalszusammenhängen in großen Kontingenztabellen (was taucht häufig womit auf? ) durch intuitiv interpretierbare zwei- oder dreidimensionale Visualisierungen ermöglicht bzw. erleichtert. Eine nähere Erläuterung des Aufbaus und der Interpretation der erhaltenen Plots wird in Abschnitt 4.1.2 gegeben, wenn die erste Auswertung präsentiert wird. Darüber hinaus ist es im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, eine Einfüh- 10 Dies zumindest, sofern man die expandierte Ellipse ich denke, dass das schwer zu sagen ist als intendierte Antwort (und damit als Zurückweisung der Berechtigung der Frage) ausschließt. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 265 rung in Grundzüge des Verfahrens selbst zu geben. Ein direkter Nachvollzug der diskutierten Ergebnisse im jeweiligen Diagramm ist jedoch auch für Leser ohne Vorerfahrungen mit der Methode möglich. 11 Das Verfahren eignet sich sowohl für die Auswertung einfacher Kontingenztafeln, in denen nur zwei Variablen kreuztabelliert sind (binäre Korrespondenzanalyse), als auch für mehrfaktorielle Auswertungen mit mehr als zwei gekreuzten Variablen (multiple Korrespondenzanalyse). Die Analysen in diesem Beitrag wurden mithilfe des R-Pakets factoMineR (Lê/ Josse/ Husson 2008) durchgeführt. Auswertung und Präsentation der Ergebnisse sind in je vier Teilschritte gegliedert: Erstens wird ein knapper Überblick über die Verwendungen des jeweiligen Verbs als Teil komplexer Prädikate gegeben. Diese Verwendungen werden danach nicht weiter betrachtet. Darauf folgt eine Korrespondenzanalyse der Bedeutungen der verbleibenden Belege in den fünf untersuchten Verwendungskontexten. Im dritten Schritt werden zusätzlich die formalen Argumentrealisierungsmuster mit betrachtet, die diese Bedeutungen instanziieren, und die Verteilung dieser Form-Bedeutungs-Paare über die fünf Verwendungskontexte wiederum im Rahmen einer Korrespondenzanalyse untersucht. Viertens wird eine exemplarische Analyse je eines der so gefundenen Muster auf konstruktionaler Ebene (im konstruktionsgrammatischen Sinn) vorgenommen (die verschiedene Argumentrealisierungsmuster subsumiert). Diese Vertiefungsanalysen sind gegliedert in je einen Abschnitt zu formaler Realisierung und Bedeutung und einen Abschnitt zu pragmatisch-interaktiven Funktionen der Zielkonstruktion. 4. Ergebnisse 4.1 denken 4.1.1 Komplexe Prädikate Im Vergleich zu den auch als Funktionsverben genutzten Lemmata kommen und gehen (vgl. Zeschel in diesem Band) ist die Anzahl von Belegen, in denen denken als Teil eines komplexen Prädikats auftritt, zu vernachlässigen. Aufgrund eigener Lemmata im Duden-Wörterbuch auf unabhängige Verben zurückgeführt wurden lediglich (in Distanzstellung angetroffene) Belege von sich hineindenken, hinzudenken, vorausdenken und zurückdenken. Usualisierte komplexe Konstruktionen mit denken wie die Beispiele in (15) fanden sich dagegen in größerer Zahl: 11 Die Präsentation sonstiger Ergebnisbestandteile ist im Interesse der Lesbarkeit im Haupttext möglichst knapp und untechnisch gehalten. Wo sie für einen klaren Nachvollzug des Vorgehens und der Ergebnisse erforderlich sind, werden methodische Detailangaben in Fußnoten berichtet, die je nach Interesse auch übersprungen werden können. Arne Zeschel 266 (15) a. SUBJ denk- (gar|im Traum) nicht daran + VP-zu.inf Er dachte auch gar nicht daran, für den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. [S-L] b. nicht dass SUBJ denk- + V2/ dass-Satz Nicht daß er denkt, ich will, daß er länger bleibt. [K-M] c. man denke +P.OBJ-an Man denke an Flaubert, an Mallarmé, an Henry Adams, an Antonin Artaud, um nur einige zu nennen. [S-W] Hierbei handelt es sich nach unserer Auffassung aber weder um lexikalisierte komplexe Prädikate, noch um pragmatisch spezialisierte Formeln mit dem Status von Diskursmarkerkandidaten, sondern schlicht um verfestigte Verwendungen von denken in einer seiner regulären lexikalischen Lesarten. 12 Einen dritten Typ von Sonderfall stellen idiomatisierte Wendungen mit denken dar, die zwar deutliche Anzeichen einer semantischen Abspaltung und formulaischen Verfestigung zeigen, sich mit Blick auf die in Abschnitt 2 genannten unkontroversen Kriterien für Diskursmarker aber nicht als mögliche Instanzen dieser Kategorie bewerten lassen. Gemeinsam mit den eingangs genannten abgeleiteten Verben machten solche satzwertigen Idiome aber weniger als 1% der Daten für denken aus. Entsprechende Belege werden im weiteren Verlauf nicht näher betrachtet. 4.1.2 Bedeutungen Bevor wir zur Verteilung der angesetzten Lesarten in den Daten kommen, werfen wir zunächst einen Blick auf einige wichtige Bedeutungskomponenten von denken und erläutern, wie im Folgenden zwischen ihnen unterschieden wird. Wir beginnen mit den konsultierten Wörterbüchern, in denen sechs (Wahrig), acht (Duden) bzw. 13 (VALBU) getrennte Lesarten für (sich) denken angesetzt werden. 12 Siepmann (2005, S. 121) klassifiziert man denke an als „Second level discourse marker“ des Subtyps „Exemplifier“. Der Begriff „second level discourse marker“ bezeichnet dabei „medium-frequency fixed expressions or collocations composed of two or more printed words acting as a single unit. Their function is to facilitate the process of interpreting coherence relation(s) between elements, sequences or text segments and/ or aspects of the communicative situation“ (ebd., S. 51). Trotz seiner unbestrittenen Formelhaftigkeit halten wir diesen Gebrauch für eine Instanz unserer lexikalischen Lesart vergegenwärtigung und werten ihn hier nicht als desemantisierten Diskursmarker. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 267 Im Wahrig nimmt die Bedeutungsbeschreibung ihren Ausgang von Lesart denken 1 „geistig arbeiten, urteilen, überlegen“ (Wahrig-Buhrfeind 2011, S. 357), im Duden wird die erste angesetzte Lesart mit „die menschliche Fähigkeit des Erkennens und Urteilens anwenden; mit dem Verstand arbeiten; überlegen“ paraphrasiert (Dudenredaktion 2001, S. 365). In VALBU findet sich diese Lesart dagegen erst an achter Stelle, wo sie als „Ideen produzieren und irgendwie verarbeiten“ geführt wird (Schumacher et al. 2004, S. 294). Die Bedeutung entspricht der von Aijmer (1997, S. 12) für das englische think angesetzten Lesart „Cogitation“, die dort ebenfalls als die prototypische Bedeutung des Verbs betrachtet wird. Daneben werden in allen drei Wörterbüchern u.A. auch Lesarten im Sinne von ‘annehmen’ und ‘meinen’ angesetzt: denken 3 im Duden (‘annehmen, glauben, vermuten, meinen’), denken 2 im Wahrig (‘annehmen, glauben, meinen’) und denken 1 in VALBU (‘in Folge bestimmter Überlegungen etwas annehmen oder meinen’). Duden und VALBU setzen darüber hinaus noch eine bzw. zwei weitere ‘meinen’-Lesart(en) mit präpositionaler Ergänzung an („etw über/ von etw/ jmdm denken“), die als denken 4 „eine bestimmte Meinung von etwas haben, etwas von etwas halten“ (Dudenredaktion 2001, S. 365) bzw. denken 2 ‘in Bezug auf jemanden/ etwas etwas meinen‘ und denken 6 ‘ ‘über jemanden/ etwas irgendwie urteilen’ (Schumacher et al. 2001, S. 292f.) definiert werden. Trotz dieser zusätzlichen ‘meinen’-Lesart(en) werden die Bedeutungen ‘annehmen’ und ‘meinen’ also in allen drei Wörterbüchern grundsätzlich zusammensortiert. Arndt (1987, S. 27) spricht bei den ‘annehmen’- und ‘meinen’-Bedeutungen des englischen Pendants think hingegen von „two ways of ‘thinking’“, die als separate Lesarten angesetzt werden („insufficient evidence“ und „expression of personal attitude“, ebd.). Die beiden Bedeutungen stehen in deutlichem Kontrast: Einerseits kann verminderte Gewissheit und ein daraus resultierender herabgestufter Geltungsanspruch der gerahmten Proposition zum Ausdruck gebracht werden. Die Bedeutung von denken ähnelt in diesem Fall der von vermuten oder glauben und kann als „abschwächend“ bezeichnet werden. Andererseits kann ich denke auch betonen, dass der Sprecher vom Zutreffen des gerahmten Sachverhalts persönlich überzeugt ist und diesen Status insofern gerade nicht als ungewiss betrachtet. Die Bedeutung von denken ähnelt in diesen Fällen eher der von finden oder meinen und lässt sich als „verstärkend“ bezeichnen. Eine solche Gegenüberstellung der ‘vermuten’- und ‘meinen’- Gebräuche findet sich häufig in der pragmatischen Literatur zu I think - Holmes (1984, S. 345) z.B. spricht von „attenuation (or weakening) and boosting (or emphasizing)“, wofür sie an anderer Stelle die Opposition „tentative use“ vs. „deliberative use“ ansetzt (Holmes 1990, S. 187). Die Gegenposition, derzufolge think (und analog auch denken) in dieser Hinsicht unterspezifiziert ist Arne Zeschel 268 und es sich bei kontextuell klaren ‘vermuten’- und ‘meinen’-Fällen lediglich um die Extrema eines Kontinuums handelt, findet sich in der pragmatischen Literatur z.B. bei Kärkkäinen (2003). Auch die dritte und letzte noch logisch denkbare Möglichkeit, derzufolge es sich zwar um je separat konventionalisierte Polysemien handelt, die aber dennoch beide Extensionen derselben unterspezifizierten Kernbedeutung (im Sinne von Aijmers „Cogitation“) sind, wird in der Literatur vertreten (Kaltenböck 2010). Selbst wenn weitere Bedeutungen von denken für den Moment außer Acht gelassen werden, verweisen diese unterschiedlichen Vorschläge also bereits auf einen gewissen Klärungsbedarf. Potenziell unterscheidbar erscheint uns dabei zunächst: - die Bezeichnung der (Befähigung zur) Bildung bestimmter mentaler Repräsentationen über Sachverhalte (‘schließen’, ‘urteilen’); - die Signalisierung epistemischer Unsicherheit bezüglich des Zutreffens einer gebildeten Repräsentation (‘annehmen’, ‘vermuten’); - die Markierung subjektiver Einstellungen und Überzeugungen hinsichtlich einer gebildeten Repräsentation (‘meinen’, ‘finden’). Für den ersten Fall setzen wir die Lesart befinden an, die in (16) und (17) veranschaulicht wird: (16) befinden ‘mit dem Verstand über etwas befinden, schließen, urteilen’ Ein cognizer nutzt seine mentale Fähigkeit des Erkennens und Schließens (zur Bildung eines urteils über eine entität oder einen sachverhalt) (in einer art+weise). (17) a. ich liebe es solange ich denken kann [M-A] b. Was würde Bo von mir denken? [S-L] c. Er wollte das gesellschaftliche Schichtengefüge keineswegs in Frage stellen, sorgte sich eher um seine Gefährdung und dachte paternalistisch. [S-W] Anders als die konsultierten Wörterbücher ziehen wir ‘über etwas befinden, urteilen’ jedoch nicht mit ‘sich etwas überlegen’ zusammen, für das wir eine separate Lesart ansetzen: (18) überlegung ‘sich etwas überlegen, sich innerlich etwas sagen’ Ein cognizer bildet einen gedankeninhalt (bezüglich eines sachverhalts oder einer entität) Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 269 (19) a. dachte schon oh Gott oh Gott [M-A] b. Und ich habe jedesmal, wenn ich wieder verliebt war, gedacht: Der ist anders. [S-L] c. dass es deswegen drauf steht damit die Leute denken boah das Restaurant ist total frequentiert [M-A] Die Motivation für diese Unterscheidung verdankt sich der zweiten der angesetzten Paraphrasen, ‘sich innerlich etwas sagen’. Wir knüpfen damit an Überlegungen Chafes (1994, S. 219ff.) zum Thema „Representing Distal Thought“ an, für das er eine Dreiteilung in „referred-to thought“ (you don’t think about other things), „pseudo-indirect thought: beliefs, opinions and decisions“ (I thought you were gonna spray it) und „direct thought“ (and I thought oh boy) vorschlägt. Unsere Kategorie überlegung entspricht dabei Chafes Kategorie „direct thought“. Der oben unterschiedene zweite und dritte Gebrauch entspricht Chafes Kategorie „beliefs, opinions and decisions“. Hier folgen wir ihm wie auch den drei benutzten Wörterbüchern und fassen die Bedeutungen ‘annehmen/ vermuten’ und ‘meinen/ finden’ (sowie, im Anschluss an Chafe, auch ‘planen’) zu einer einheitlichen Kategorie zusammen. Damit ist eine gemeinsame Kategorie für alle Verwendungen angesetzt, in denen das Verb denken eine bestimmte Art von epistemic stance markiert, wobei diese lexikalisch-semantische Bedeutung dann im jeweiligen Kontext unterschiedlich elaboriert werden kann (pragmatisch-interaktive Funktion): (20) auffassung ‘annehmen, vermuten, glauben; meinen, finden; planen’ Ein cognizer ist (auf Basis einer evidenz) der Auffassung bzw. Überzeugung, dass ein sachverhalt (bezüglich eines partizipanten) der Fall ist, sein sollte oder sein wird. (21) a. ich denke wir müssen jetzt glaube ich gleich fahren [M-I] b. aber ich denke man kann ruhig auch mal einmal in der Woche ein gesundes vegetarisches Essen für die Kinder machen [M-I] c. also ich denke ich nehme so vier kurze Hosen mit oder so was [M-A] Arne Zeschel 270 Mit dieser Unterscheidung sind die umstrittensten Punkte angesprochen und die häufigsten Kategorien eingeführt, so dass wir uns der Verteilung der angesetzten Lesarten (14 insgesamt) über die fünf Verwendungskontexte zuwenden können.Abbildung 1 zeigt das Ergebnis einer Korrespondenzanalyse: 13 Abb. 1: Bedeutungen: denken Das Diagramm zeigt an, wie Verwendungskontexte und Bedeutungen miteinander assoziiert sind. Es ist folgendermaßen zu lesen: Der Schnittpunkt der Achsen markiert den Durchschnitt der Verteilung. Ein genau hier platzierter Datenpunkt wäre gemessen an den beobachteten Häufigkeiten aller anderen Punkte seiner Art exakt durchschnittlich über die jeweils andere Variable verteilt. Zweitens teilen die Achsen das Diagramm zur leichteren Lesbarkeit in Quadranten. Die Tatsache, dass zum Beispiel die beiden Kategorien [M-I] (institutionelle Interaktionen) und [K-M] (konzeptionell-mündliche Daten, d.h. die Webtexte) in dieselbe Richtung vom Ursprung verschoben sind und sich beide im unteren linken Quadranten finden, zeigt an, dass sie in ähnlicher Weise vom Durchschnittsprofil der fünf Verwendungskontexte abweichen: Tendenziell sind in diesen beiden Kontexten dieselben Lesarten von denken überbzw. unterrepräsentiert. Drittens zeigt die Distanz zum Ursprung das Ausmaß der ermittelten Abweichung an: 14 Während z.B. [M-I] und [K-M] in 13 φ 2 =.55, χ 2 (52, N=1980) = 1101.25, p<.001***. Aktive Punkte sind alle Bedeutungen mit einer Häufigkeit von mindestens zehn Vorkommen insgesamt. 14 Abzüglich der Information, die bei der Reduktion der Punktewolke auf nur zwei dargestellte Dimensionen verlorengegangen ist (d.h. dem Wert, der den addierten Varianzanteilen der ersten beiden Dimensionen auf 100% fehlt), gibt die räumliche Entfernung zweier Punkte des- −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 −0.5 0.0 0.5 1.0 Dim 1 (77.78%) Dim 2 (12.45%) [M−A] [M−I][K−M] [S−L] [S−W] Auffassung Überlegung Vergegenwärtigung Befinden Vorstellung Bedenken Assoziation Erwägung Erinnerung DM Vorsehen Erwartung Absicht Argwohn Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 271 ähnlicher Hinsicht von der durchschnittlichen Bedeutungsverteilung abweichen, ist diese Tendenz bei Kategorie [M-I] geringfügig stärker ausgeprägt als bei Kategorie [K-M]. Weit außen im Diagramm platzierte Kategorien sind Ausreißer, die sich stark vom durchschnittlichen Profil der jeweiligen Variable unterscheiden. In Abbildung 1 trifft das z.B. auf die Wissenschaftstexte, d-h. Kategorie [S-W] zu. Viertens ist die räumliche Nähe zwischen zwei Punkten ein Indikator ihrer Assoziation: Datenpunkte für Variable A, die ihren Platz in der Nähe eines Datenpunkts für Variable B finden, sind mit dieser Ausprägung von B assoziiert. Finden sie ihren Platz im Diagramm aus Sicht der anderen Ausprägungen von Variable B jenseits des betrachteten Punktes, sind sie mit dieser Kategorie distinktiv assoziiert. Demzufolge sind gemäß Abbildung 1 beispielsweise die Diskursmarkerkandidaten in Kategorie „dm“ distinktiv sowohl mit den institutionellen Interaktion ([M-I]) als auch mit den Webtexten ([K-M]) verbunden. 15 selben Typs (also z.B. zweier Verwendungskontexte) bzw. eines Punkts zum Ursprung exakt die (euklidisch transformierte) Chi-Quadrat-Distanz zwischen den Profilen dieser Kategorien wieder. Anders verhält es sich bei der in Abbildung 1 gewählten Darstellungsart allerdings beim Verhältnis von Datenpunkten unterschiedlicher Variablen - und damit z.B. der Frage, wie „nah“ sich Verwendungskontext X und Bedeutung Y sind, d.h. welche Affinität zwischen ihnen besteht. Hier entspricht die genaue Distanz zweier einzelner Punkte im Diagramm keinem direkt interpretierbaren Wert, der sich unmittelbar aus dem Diagramm ablesen ließe. Der Grund dafür ist, dass in einer so genannten „symmetrischen“ Map wie Abbildung 1 zwei unterschiedliche Diagramme zusammengeführt sind: die visualisierten Distanzen der Verwendungskontexte von ihrem Durchschnittsprofil sowie dieselbe Visualisierung für die Bedeutungskategorien von deren Durchschnittsprofil. Betrachtet man diese Distanzen separat in so genannten asymmetrischen Maps für beide Variablen, ändert sich zwar nichts an der prinzipiellen Verteilung - also etwa daran, dass z.B. ein bestimmter Punkt in den standardmäßig dargestellten ersten beiden Dimensionen etwa im rechten oberen Quadranten des Diagramms landet und andere im linken unteren - die Skalierung der Achsen ist bei separaten asymmetrischen Maps aber jeweils unterschiedlich. Das führt dazu, dass bei der reskalierten und „überblendeten“ Darstellung beider Konstellationen in einer symmetrischen Map zwar übereinstimmende Abweichungen in dieselbe Richtung vom jeweiligen Durchschnittsprofil erkennbar sind, die messbaren Distanzen zwischen Punkten verschiedener Variablen aber nicht direkt interpretiert werden können, da sie unterschiedlichen Räumen entstammen. 15 Neben diesen grundlegenden Aspekten der Darstellung und ihrer Interpretation sei noch auf zwei weitere Punkte hingewiesen: Zum einen ist in der zweidimensionalen Darstellung in Abbildung 1 nicht die gesamte Streuung in den Daten visualisiert. Dargestellt werden standardmäßig die beiden wichtigsten Dimensionen, in die sich die Gesamtvarianz zerlegen lässt. Der Hauptkontrast ist stets in der Horizontalen abgetragen, die Dimension mit dem zweithöchsten Beitrag zur Varianzaufklärung wird in der Vertikalen dargestellt. Die genauen Beiträge beider Dimensionen zur gesamten Varianzaufklärung sind jeweils unter der Achse als Prozentwert vermerkt. In Abbildung 1 visualisieren die ersten beiden Dimensionen zusammengenommen also knapp 90% der gesamten Streuung in den Daten. Zweiter wichtiger Punkt ist, dass es sich bei den hier gezeigten Plots um rein deskriptive Statistiken handelt: Die Diagramme bieten lediglich eine intuitive Visualisierung von Verteilungsdaten, die das Aufdecken von Zusammenhängen erleichtert, nicht aber deren mögliche Signifikanz erweist. Zu- Arne Zeschel 272 Die Herausforderung bei der Analyse eines solchen Plots besteht darin, die dargestellten Achsen zu interpretieren - d.h. die Gemeinsamkeiten und Kontraste zu benennen, die den beiden dargestellten Streuungsdimensionen jeweils zugrunde liegen. Entlang des Hauptkontrasts in der Horizontalen ist das Diagramm in interaktive (links) und nicht-interaktive Verwendungen (rechts) geteilt. Die Extrempositionen besetzen die Alltagsgespräche ganz links und die Wissenschaftstexte ganz rechts, wobei die ebenfalls schriftlichen Internettexte deutlich mit den Gesprächen zusammensortiert werden. (Weitere) Beispiele für die Bedeutungen links (absteigend sortiert nach Häufigkeit) liefert (22): (22) a. ja ich denke schon [M-A] auffassung b. weil ich dann dachte okay vielleicht wird das dann auch bemängelt dass der Briefkasten nicht geleert wird [M-A] überlegung c. der äh Herr Patient MM hat an seine Medikamente selbstständig gedacht [M-I] erinnerung d. so also ich denke so die Annabelle referiert euch mal kurz was er denn zur Familie gesagt hat [M-I] diskursmarker (dm) e. das habe ich mir gedacht dass die Frage jetzt kommt [M-I] erwartung f. Und daher dachte Rainer sich nichts dabei. [K-M] argwohn (23) veranschaulicht mit der Schriftlichkeit assoziierte Bedeutungen, wiederum aufgeführt in absteigender Häufigkeit: (23) a. „Denk ich an den deutschen Fußball bei Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“ [K-M] vergegenwärtigung mindest so, wie sie in diesem Beitrag eingesetzt wird, ist die Korrespondenzanalyse ein nützliches exploratives Werkzeug für die Entwicklung von Hypothesen, nicht aber für ihre inferenzielle Überprüfung. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 273 b. Daß „Primitive“ ebenso logisch richtig denken können wie wir, gilt heute als allgemein akzeptiert - mit geradezu verdächtiger Einmütigkeit, so als ob es darum ginge, europäischen Hochmut zu verbieten, der den Kolonialvölkern die Fähigkeit richtigen Denkens abspreche. [S-W] befinden c. Es läßt sich ein Niveau denken, auf dem es zur völligen Enteignung privater körperlicher Kompetenzen kommt. [S-W] vorstellung d. Denkt an die Gesundheit und Sicherheit Eurer Kinder! [S-W] bedenken e. An welche Eigenschaften des Menschen denkt man dabei, an welche nicht? [S-W] assoziation f. Einen kurzen, trotzigen Augenblick lang dachte ich daran, einfach umzudrehen und wegzulaufen, irgendwohin. [M-A] erwägung g. Nein, eigentlich nicht, aber die sind eh nicht als Alltagsschuhe gedacht. [K-M] vorsehen h. Willi wird sich schon etwas dabei gedacht haben. [S-L] absicht Bemerkenswert ist zunächst, dass die im Wahrig und im Duden jeweils als Ausgangspunkt der Bedeutungsbeschreibung gewählte Lesart - bei uns bezeichnet als befinden - in den Korpusdaten insgesamt selten (7%), in den Gesprächsdaten sogar nur marginal ist (2% bzw. 3%). Klar am häufigsten in unserer Stichprobe ist die stancemarkierende Lesart auffassung, die allein für sich genommen bereits über 40% der Belege abdeckt; gemeinsam mit der zweithäufigsten Lesart überlegung sind es bereits knapp zwei Drittel der Daten. In den Gesprächen machen Belege dieser Bedeutungen gemeinsam mit den Diskursmarkerkandidaten (dm) sogar ganze 91% [M-A] bzw. 85% [M-I] der Daten aus. Arne Zeschel 274 Bezüglich ihrer Platzierung in der horizontalen Dimension, die den größten Teil der Varianz visualisiert (78%), unterscheiden sich die drei Kategorien [M- A], [M-I] und [K-M] so gut wie gar nicht. In der Vertikalen sind die beiden mündlichen Verwendungskontexte jedoch auseinandergespreizt. Dahinter stehen unterschiedliche Profile für die beiden häufigsten Lesarten in den Daten: Mit jeweils über 60% der Belege ist die Stancemarkierung (auffassung) in den institutionellen Gesprächen und den Webdaten noch dominanter als in den Alltagsgesprächen (52%). Dort ist dagegen die insgesamt zweithäufigste Lesart überlegung prominenter, die immerhin noch 38% der Belege abdeckt, in den institutionellen Gesprächen und den Webdaten jedoch nur 19% bzw. 15%. Ebenfalls überrepräsentiert ist überlegung in den literarischen Texten, wo die Verwendung dem Anteil der (hier ebenfalls häufigsten) Stancemarkierung nur um drei Prozentpunkte nachsteht. In funktionaler Hinsicht ist es natürlich nicht verwunderlich, dass die Wiedergabe von Gedankeninhalten (überlegung) in erzähllastigen Verwendungskontexten wie [S-L] und [M-A] vergleichsweise große Prominenz hat. Generell ist zur vertikalen Dimension zu sagen, dass hier nur die literarischen Texte eine deutliche Abweichung von der Durchschnittsverteilung zeigen, während etwa institutionelle Gespräche, Webdaten und Wissenschaftstexte auf dieser Achse quasi gleichauf und nicht sehr weit vom Ursprung liegen. Die ansonsten den anderen interaktiven Kontexten [M-I] und [K-M] sehr ähnlichen Alltagsgespräche werden nur bedingt durch die große Schwere des überlegung-Datenpunkts (zweithäufigste Lesart überhaupt) in den oberen Quadranten in die Nähe der literarischen Texte „gezogen“. Was ist also das Besondere an den literarischen Texten? Semantisch zeichnen sich weder die Kategorien oben im Plot noch diejenigen in der unteren Hälfte durch große Kohärenz aus. Es ist also nicht die Nähe zu einem inhaltlich bestimmbaren Subtyp von denken-Bedeutungen, die Kategorie [S-L] auszeichnet. Betrachtet man die Bedeutungsverteilung aller fünf Kontexte im Vergleich, fällt umgekehrt gerade auf, dass die literarischen Texte in dieser Hinsicht am heterogensten sind: sie stellen den einzigen Kontext, in dem alle 14 Lesarten auftreten, und keine davon sticht ähnlich deutlich heraus wie in den anderen Kontexten. Die anderen Kategorien zeigen demgegenüber klare Präferenzen für je zwei Verwendungen zulasten anderer: In den drei interaktiven Kontexten ist dies wie erwähnt die Markierung von epistemic stance (jeweils über die Hälfte der Belege) sowie die Gedankenwiedergabe (weitere 15-38%); in den Wissenschaftstexten sind diese Gebräuche marginal (5% bzw. 8%), deutlich überrepräsentiert dagegen aber die Lesarten vorstellung und befinden (zusammen 43%, in den interaktiven Kontexten marginal). Mit Blick auf diese dominanten Tendenzen lässt sich die Interpretation der Achsen insofern so zusammenfassen, dass die Horizontale den Hauptkontrast zwischen der Markierung von Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 275 epistemic stance und „Direct Thought“ links im Diagramm (in den interaktiven Kontexten) sowie „Referred-to Thought“ im Sinne Chafes (1990) rechts im Plot abbildet (in den Wissenschaftstexten). Gleichzeitig ziehen die in dieser Hinsicht gespaltenen literarischen Texte (Platzierung quasi auf der Achse) das Feld durch ihre Assoziation mit Lesarten, die weder in den institutionellen Gesprächen und Webtexten einerseits noch in den Wissenschaftstexten andererseits gebräuchlich sind, in der Vertikalen auseinander. Insbesondere ihre mit den Alltagsgesprächen geteilte Assoziation mit der Lesart überlegung bewirkt dadurch auch eine Binnendifferenzierung des Hauptkontrasts zwischen epistemic Stance und „Direct Thought“ links vs. „Referred-to-thought“ rechts in einen Kontrast zwischen Stancemarkierung (unten links) und Gedankenwiedergabe (oben links). 4.1.3 Argumentrealisierungsmuster Im nächsten Schritt beziehen wir nun auch die formale Seite in die Betrachtung ein. Tabelle 1 zeigt zunächst die Anzahl realisierter Ergänzungen in den fünf Verwendungskontexten (absteigend sortiert nach Häufigkeit): E [M-A] [M-I] [K-M] [S-L] [S-W] Gesamt 2 349 (87,3%) 329 (82,3%) 319 (80,4%) 351 (88,4%) 291 (73,1%) 1639 (82,3%) 1 41 (10,3%) 54 (13,5%) 70 (17,6%) 20 (5%) 47 (11,8%) 232 (11,6%) 3 8 (2%) 14 (3,5%) 8 (2%) 26 (6,5%) 58 (14,6%) 114 (5,7%) 0 2 (0,5%) 2 (0,5%) - - 1 (0,3%) 5 (0,3%) 4 - 1 (0,3%) - - 1 (0,3%) 2 (0,1%) Σ 400 (100%) 400 (100%) 397 (100%) 397 (100%) 398 (100%) 1992 (100%) Tab. 1: Realisierte Ergänzungen: denken Klar dominant sind in allen fünf Kontexten Gebräuche mit zwei Ergänzungen, in den interaktiven Kontexten folgen darauf die einstelligen Belege, in den literarischen und Wissenschaftstexten dagegen die dreistelligen. Verwendungen mit null oder vier Ergänzungen sind zu vernachlässigen. Die semantische Auswertung im letzten Abschnitt deutet aber darauf hin, dass sich etwa hinter den zweistelligen Belegen jeweils recht unterschiedliche Verwendungen verbergen. Im Folgenden betrachten wir für die drei häufigsten Kategorien in Tabelle 1 - Belege mit einer, zwei und drei Ergänzungen - die konkret beobachteten Ergänzungstypen in Kombination mit der jeweils instanziierten Lesart des Verbs. Abbildung 2 zeigt das Ergebnis einer Korrespondenzanalyse, eingeblendet sind nur Verwendungen mit einer Ergänzung: 16 16 φ 2 =.73, χ 2 (160, N=1822)=1325.18, p<.001***. Aktive Punkte in der Analyse sind alle Form-Bedeutungs-Muster mit einer Häufigkeit von mindestens fünf Vorkommen in den Daten. Visualisiert sind in Abbildungen 2 und 4 alle einbzw. dreistelligen Muster unter den aktiven Kate- Arne Zeschel 276 Abb. 2: Argumentrealisierungsmuster: denken (eine Ergänzung) Zunächst fällt auf, dass das Ergebnis dem der rein semantischen Auswertung in Abbildung 1 stark ähnelt: Im linken Teil des Plots sind die interaktiven Verwendungen zusammensortiert, ihnen gegenüber stehen weit rechts die Wissenschaftstexte; die literarischen Texte rücken gegenüber der rein semantischen Auswertung leicht nach links in Richtung der interaktiven Kontexte, liegen aber nach wie vor nah an der Achse. Auch in der Vertikalen stehen weiterhin [S-L] und [M-A] oben den Kategorien [M-I], [K-M] und [S-W] unten gegenüber, wenngleich institutionelle Gespräche und Webdaten hier leicht auseinandergespreizt sind. Die Ähnlichkeit der Resultate deutet darauf hin, dass die Hinzunahme der formalen Information das Bild nicht wesentlich ändert, oder - anders gesagt - die Lesarten relativ konsistent mit bestimmten Konfigurationen realisierter Ergänzungen verbunden sind. Mit den interaktiven Kontexten links im Plot assoziierte Argumentrealisierungsmuster sind in (24) veranschaulicht: (24) a. ich denke schon nur ich weiß es nicht [M-A]: +SUBJ # auffassung b. Ich denke mal ich stelle hier ein Foto rein um dir's zu zeigen ja? [K-M]: +SUBJ # dm c. Hab nur die letzten 2 Min gesehen und dachte WTF? [K-M]: +DIR.OBJ: S # überlegung gorien und in Abbildung 3 die zweistelligen Muster mit den fünfzehn höchsten Beiträgen zur Konstruktion der dargestellten ersten beiden Dimensionen. Die restlichen aktiven Punkte sind jeweils ausgegraut und werden ohne Labels dargestellt. −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 Dim 1 (68.36%) Dim 2 (16.87%) [M−A] [M−I] [K−M] [S−L] [S−W] +SUBJ # Auffassung +SUBJ # DM +SUBJ # Befinden +PRF +SUBJ # Vorstellung +DIR.OBJ: S # Überlegung +P.OBJ−an # Erwägung +P.OBJ−an # Bedenken +P.OBJ−an # Vergegenwärtigung +SUBJ # Überlegung Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 277 Am häufigsten davon ist das Muster +SUBJ #auffassung mit 55 Belegen, von denen die meisten auf responsive Analepsen des Typs in (24.a) entfallen. Instanzen des Musters +SUBJ # dm (38 Belege) sind funktional heterogener, ihre Gemeinsamkeit liegt allein darin, dass sie sich nicht auf eine der oben angesetzten Lesarten von denken zurückführen lassen und daher als abgespaltene Verwendung gewertet wurden. 17 Wie zu erwarten sind entsprechend spezialisierte Verwendungen mit den interaktiven Kontexten verbunden - wir merken sie hier zunächst nur vor und betrachten sie in Abschnitt 4.1.4 genauer. Das dritte einstellige Muster mit einer Assoziation mit den interaktiven Daten sind Belege der Lesart überlegung mit einer Ellipse des Subjekts (mit acht Belegen selten). Die Resultate für Belege mit zwei Ergänzungen zeigt Abbildung 3: Abb. 3: Argumentrealisierungsmuster: denken (zwei Ergänzungen) Beispiele für die Muster links im Plot liefert (25): (25) a. ich denke das ist äh weitgehend klar was alles unter Sozialkompetenz zu verstehen ist [M-I]: +SUBJ +DIR.OBJ: S # auffassung b. ich dachte schon okay jetzt kommt irgendetwas total tolles [M-A]: +SUBJ +DIR.OBJ: S # überlegung 17 Vgl. für Beleg (24.b): ? ich vermute/ finde mal, dass ich hier ein Foto reinstelle, um dir’s zu zeigen ja? Wie in Abschnitt 3.2.3 erläutert, wurden solche Verwendungen lediglich für ihre interne Syntax ausgezeichnet, so dass (24.b) nicht als zweiwertiger Beleg für das Verb denken gewertet wurde, sondern als Kombination [ich denke (mal)] + [V2-Satz], mit ich als einziger Ergänzung zu denken. −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 Dim 1 (68.36%) Dim 2 (16.87%) [M−A] [M−I] [K−M] [S−L] [S−W] +SUBJ +DIR.OBJ: S # Auffassung +SUBJ +DIR.OBJ: S # Überlegung +SUBJ +P.OBJ−an # Vergegenwärtigung +SUBJ +MOD # Befinden +SUBJ +P.OBJ−an # Bedenken +SUBJ +PRD # Vorstellung +SUBJ +P.OBJ−an # Erinnerung +SUBJ +P.OBJ−an # Assoziation +SUBJ +P.OBJ−an # Erwägung +SUBJ +DIR.OBJ: PAR # Überlegung +SUBJ +PRD # Vorsehen +SUBJ +MOD # Vorstellung +PRF +SUBJ +DIR.OBJ: NP # Überlegung +PRF +SUBJ +DIR.OBJ: NP # Vorstellung +P.OBJ−an +LOK # Assoziation Arne Zeschel 278 c. dann ich liege da so und denk mir nein es geht einfach nicht mehr [M-A]: +PRF +SUBJ +DIR.OBJ: S # überlegung d. aber wenn ich jetzt mal weiter mit dem Regionalexpress gefahren bin fand ich dass da immer komische Leute drin saßen also total krasse Leute wo ich gedacht habe so oh [M-A]: +DIR.OBJ: PAR # überlegung e. Um zu wissen, ob er noch an ihren Geburtstag denkt, müßte Elke sich volle sieben Monate in Geduld üben. [S-L]: +P.OBJ-an # erinnerung Das Muster +SUBJ +DIR.OBJ: S # auffassung ist die typische Verwendung von denken als Stancemarker. Mit 666 Belegen (33%) ist es mit einigem Abstand das häufigste Muster in den Daten überhaupt. Es ist in allen interaktiven Kontexten überrepräsentiert, am deutlichsten in den institutionellen Gesprächen (52% der Belege) und den Webdaten (50%). Ebenfalls sehr häufig sind Belege des Typs in (25.b), der typischen Realisierung der Lesart überlegung (281 Vorkommen, 14%). Gemeinsam mit den selteneren Mustern in (25.c) und (d), in denen ein Reflexivpronomen (+PRF) hinzutritt (42 Belege) bzw. das direkte Objekt als Partikel oder Interjektion realisiert ist (+DIR.OBJ: PAR, 24 Belege) sind dies die Verwendungen, die durch ihre deutliche Überrepräsentation in den Alltagsgesprächen für die vertikale Auseinanderspreizung der interaktiven Kontexte sorgen. Ebenfalls in den Alltagsgesprächen, mehr aber noch in den literarischen Texten überrepräsentiert ist auch die Lesart erinnerung in (25.e). Abbildung 4 vervollständigt das Bild mit den Resultaten für Verwendungen mit drei Ergänzungen: Abb. 4: Argumentrealisierungsmuster: denken (drei Ergänzungen) −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 Dim 1 (68.36%) Dim 2 (16.87%) [M−A] [M−I] [K−M] [S−L] [S−W] +SUBJ +P.OBJ−an +LOK # Assoziation +SUBJ +DIR.OBJ: NP +PRD # Vorstellung +PRF +SUBJ +DIR.OBJ: NP +P.OBJ−bei # Absicht +PRF +SUBJ +DIR.OBJ: NP +PRD # Vorstellung +SUBJ +P.OBJ−über +MOD # Befinden Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 279 Wie das Diagramm zeigt, ist unter den insgesamt seltenen dreistelligen Verwendungen kein einziges Muster mit den interaktiven Daten links im Plot verbunden. Für eine exemplarische Detailanalyse konzentrieren wir uns im Folgenden auf das Muster +SUBJ # dm, von dessen 38 Instanzen alle bis auf einen einzigen Beleg das Subjekt ich und Tempus Präsens aufweisen, d.h. die Form ich denk(e) bzw. denk(e) ich haben. 4.1.4 ich denke Referenzpunkt unserer Systematisierung der angetroffenen Funktionen sind die bereits in Abschnitt 2 erwähnten Vorarbeiten zum englischen I think von Kärkkäinen (2003). Wir stellen die Resultate dieser Studie kurz vor und diskutieren dann ihre Übertragbarkeit auf das Deutsche, sowohl in Bezug auf formale und Bedeutungsmerkmale (4.1.4.1) als auch mit Blick auf Pragmatik und Interaktionsfunktionen (4.1.4.2). 4.1.4.1 Formale Realisierung und Semantik In Kärkkäinens Studie werden sowohl positionelle (Stellung relativ zum Bezugsausdruck, soweit ein solcher erkennbar ist) als auch prosodische Merkmale von I think betrachtet und den je postulierten Bedeutungen/ Funktionen zugeordnet. Sie unterscheidet zunächst zwischen vorangestelltem vs. nachgestelltem I think sowie zwischen prosodischer Integration vs. Desintegration, d.h. der Realisierung als eigene Intonationsphrase (IP). 18 In ihren Daten vertreten sind vorangestellte Gebräuche am Beginn einer IP, vorangestellte als eigene IP und nachgestellte als eigene IP. Deutlich am häufigsten sind vorangestellte Verwendungen, die Skopus über Material innerhalb derselben IP haben. Bedeutungsseitig wird ein Unterschied zwischen lexikalischer Semantik und pragmatisch-interaktiver Funktion gemacht sowie die von vielen Autoren vorgenommene Gegenüberstellung „abschwächender“ und „verstärkender“ Verwendungen (vgl. 4.1.2) verworfen. Postuliert wird stattdessen ein Kontinuum mit den Extremwerten Ungewissheit und Überzeugung. 19 18 Anders als sonst in der Forschung zu I think üblich (wo dies als ein entscheidendes Kriterium betrachtet wird, vgl. etwa Thompson/ Mulac 1991a), wird hingegen kein Unterschied zwischen I think + X und I think that + X gemacht: Fälle mit overter Subordinationsmarkierung sind genauso Bestandteil der untersuchten Datenbasis wie solche ohne. Kärkkäinen (2003, S. 156) bemerkt dazu: „lt appears that there is no great difference between I think with the complementizer that and I think without one: both may perform similar interactional functions, in this case add weight to an assertion, and the difference in using one rather than the other may be a stylistic one“. 19 „[I]t is possible to identify these meanings on a continuum between ‘doubt/ uncertainty’ (cf. ‘insufficient evidence’, ‘belief’) and ‘lack of doubt/ certainty’ (cf. ‘personal attitude or convic- Arne Zeschel 280 Anders als in Kärkkäinens Studie zu I think (die auf einer Kollektion von 69 Vorkommen beruht) kann hier kein umfassender Einbezug der prosodischen Merkmale aller gefundenen 244 mündlichen Vorkommen von ich denke +V2 geleistet werden. Für die Identifikation spezialisierter, vom Verb denken abgespaltener Gebräuche orientieren wir uns stattdessen an dem in Abschnitt 3.2.3 diskutierten Test von Auer/ Günthner (2005). Wo sich Tendenzen zur präferierten formalen Realisierung bestimmter Funktionen abzeichnen, werden sie direkt im Rahmen der Darstellung dieser Funktionen berichtet. Gegenstand unserer pragmatischen Analyse von ich denke sind somit alle Belege, in denen a.) keine reine epistemische Rahmung geleistet wird, so dass sie sich weder mit ‘ich vermute, dass X’ noch mit ‘ich finde, dass X’ paraphrasieren lassen; und b.) auch keine andere regulär-lexikalische Lesart von denken wie etwa überlegung vorliegt. Nicht umwandelbar im Sinne dieses Tests sind 15% der Belege von ich denke + V2 (37 Instanzen), von denen wiederum 73% den Gesprächsdaten entstammen (27 Belege). Mit Ausnahme eines einzigen Falles ist die Abfolge dabei stets ich denke, auch bei den nicht-umwandelbaren Belegen ist eine Inversion aber prinzipiell möglich (26.a). Sofern eine erkennbare Bezugseinheit vorliegt, ist ich denke ihr ausnahmslos vorangestellt. Hinzutreten können die Partikeln mal, so, halt und einfach, zuweilen auch in Häufung und/ oder in Kombination mit Adverbien wie jetzt (26.b-e). (26) a. ansonsten denke ich erstens fände ich halt ganz gut noch ein Mädel [M-I] b. Ich denke mal ich stelle hier ein Foto rein um dir's zu zeigen ja? [K-M] c. so also ich denke so die Annabelle referiert euch mal kurz was er denn zur Familie gesagt hat [M-I] d. also ich denke einfach so dieses diese Sinn # Sinn Sinnhaftigkeitsmetapher gefällt mir eigentlich ganz gut [M-I] e. aber weißt ich denke halt jetzt mal ich kann es halt nicht verstehen [M-A] tion’, ‘opinion’) [...] As far as semantic meaning is concerned, then, it seems preferable to treat occurrences of I think simply in view of the degree of certainty that they express, rather than in terms of whether they express an ‘opinion’ or a ‘belief’“ (Kärkkäinen 2003, S. 111f.). Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 281 Mit Blick auf die Bedeutungsebene ist Kategorie dm wie ausgeführt ex negativo definiert: Was auch immer die Verwendung von ich denke in diesen Kontexten motiviert, ist mangels erwartbarer Paraphrasemöglichkeiten außerhalb der lexikalischen Semantik von denken zu suchen. Eine bedeutungsgleiche Paraphrase im Sinne des Tests kann dabei aus formalen oder semantischen Gründen ausgeschlossen sein. Formal scheidet eine Umformung aus, wenn ich denke mit nicht-deklarativen V2-Sätzen kombiniert wird oder gar nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, welches Element überhaupt als Bezugsstruktur zu werten ist (vgl. 3.2.3). Semantische Gründe können u.A. auf Konflikte im Zusammenhang mit Fragen des epistemic status (Heritage 2012) verweisen. Die stancemarkierende Lesart auffassung signalisiert einen eingeschränkten Geltungsanspruch, der auf die subjektive Perspektive des Sprechers verweist: „ich bin unsicher, ob X der Fall ist“ (‘vermuten’), „ich bin der Meinung, dass X der Fall ist / sein sollte“ (‘finden’) oder, im Anschluss an Kärkkäinen (2003), eine beliebige Mischung aus den Bedeutungskomponenten ‘Ungewissheit’ und ‘Überzeugung, Befürwortung’. Handelt es sich bei der gerahmten Proposition jedoch um einen Sachverhalt, über dessen Vorliegen oder Eintreten allein der Sprecher Gewissheit bzw. Kontrolle besitzt, befindet er sich mit Blick darauf in einer epistemisch privilegierten Position („K+“ bzw. „more knowledgeable“ in der Begrifflichkeit von Heritage 2012). Entsprechend führt die epistemische Rahmung eigener Präferenzen (‘ich vermute/ finde, dass mir X gefällt’, vgl. (26.a, d)) oder Handlungsabsichten (‘ich vermute/ finde, dass ich X zu tun gedenke’, (26.b)) zu einer semantischen Anomalie. In anderen Fällen stehen keine allgemeinen Gründe hinter der Inkompatibilität mit einer Stance- Interpretation, sondern nur ihre Irrelevanz im Kontext. In (26.c) etwa sprechen weder allgemeine syntaktische noch allgemeine semantische Gründe gegen eine Umformung der Äußerung in ich vermute, dass euch die Annabelle mal kurz referiert, was er zur Familie gesagt hat. Aus dem Kontext ist hier jedoch klar, dass der Sprecher mit seiner Äußerung eine Aufforderung an die anwesende und direkt angesprochene Annabelle vollzieht und nicht eine bestimmte Wahrscheinlichkeitseinschätzung vornimmt (‘Vermutlich wird euch Annabelle kurz referieren, was ...’). Speziell mit Blick auf semantische Konflikte wurden allerdings nur eindeutig ausgeschlossene Stance-Interpretationen als Indikator einer abgespaltenen Verwendung gewertet, eine vermeintlich „geringere Plausibiltät“ der regulär-lexikalischen Lesart war dafür nicht hinreichend (vgl. Beispiel (27) auf der nächsten Seite). Die folgenden Angaben zur relativen Prominenz bestimmter Funktionen sind also entsprechend mit der Einschränkung zu verstehen, dass sie sich auf eine vergleichsweise konservative Zählung von Diskursmarkerkandidaten beziehen (zur Diskussion vgl. Abschnitt 5). Arne Zeschel 282 4.1.4.2 Pragmatik und Interaktion Wir beginnen wieder mit einem kurzen Blick auf Kärkkäinens Studie zu I think, die fünf Verwendungstypen unterscheidet: - „Starting point function A“: „marking boundaries“ 20 - „Starting point function B“: „bringing in speaker perspective“ 21 - „Recipient-oriented design of utterances“ - „On-line planning“ - „Signaling completion and pursuing a response“ All diese Funktionen finden sich so oder sehr ähnlich auch für das deutsche ich denke, wobei die Markierung einer intendierten Turnbeendigung („Signaling completion“) in unserer Stichprobe nur in umformbaren Belegen wie (27) auftritt: (27) FOLK_E_00161_SE_01_T_02, c711 Tischgespräch, [M-A] 01 AJ ja zita is jetz FÜMunzwanzich schon, 02 (0.3) 03 TU ja; 04 (1.25) 05 AJ und 06 (.) falko 07 also ihr FREUND, 08 is NEUNundzwanzich, 09 der is jetz ja grade erst FERtich, 10 (1.16) 11 AJ un eva studiert nOch (.) bestImmt drei JAHre, 12 (0.71) 13 TU hm_m; 14 (0.71) 20 „There are numerous cases of I think in my data in which it is difficult to assign any more function to it than simply acting as a starting-point for a perspective, or providing a frame (or part of a frame) that simply marks a boundary of some kind in the talk“ (Kärkkäinen 2003, S. 121). 21 „Very frequently in the data, I think occurs in certain sequential positions, namely in second-pair parts of adjacency pairs, where the current speaker perceives some minor interactional trouble in the preceding turn. I think locates and routinely attends to that trouble in the preceding turn, by marking specifically that the current speaker’s perspective will follow“ (Kärkkäinen 2003, S. 130). Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 283 15 AJ un dann will sie erst ARbeiten, 16 (0.18) 17 AJ also [über drEIßich wird sie] [AUCH: ] sei[n; =] 18 FK [ʔm ] 19 [ʔm ] 20 TU [ja; ] 21 AJ =wenn sie irgendwann mal KInder kricht; 22 (0.25) 23 TU hm_[m; ] 24 AJ [DENK] ich mal. 25 (0.77) 26 FK ja dat wär 27 ja dat IS ja eben; 28 die AUSbildung de- 29 (.) die göht LANge, 30 die fang Überhaupt erst later AN ne, Sprecherin AJ bekommt auf ihren Beitrag nach einer kurzen Pause zunächst nur die Rückmeldung hmhm und schiebt daraufhin ein denk ich mal nach. Diese Hinzufügung ist im Sinne Kärkkäinens vermutlich eher pragmatisch-interaktiv (als Einladung zur Turnübernahme und Stellungnahme) als propositional-semantisch motiviert (als nachträgliche epistemische Modalisierung des Gesagten). Dennoch wäre die Passage ohne Weiteres in ich vermute mal, dass sie über dreißig sein wird ... umwandelbar, so dass im Rahmen unseres Ansatzes keine schlüssigen Gründe vorliegen, von einer abgespaltenen, nicht länger verbalen Verwendung von denken auszugehen. Häufigster Gebrauch unter den klar abgespaltenen Vorkommen von ich denke in den Gesprächsdaten ist die Überbrückung einer Disfluenz (9 Fälle bzw. 33%). 22 Diese Verwendung entspricht Kärkkäinens Funktion „On-line planning“. Die typische formale Realisierung ist ich denk so (sechs Vorkommen), zweimal ist die Formel auch erweitert zu ich denk einfach so, ein bloßes ich denk tritt in dieser Funktion nur einmal auf. Das finale Schwa in denke ist in der Stichprobe ausnahmslos elidiert, 23 der Vokal in so kann dagegen gedehnt sein. Überbrückend-verzögerndes ich denk (so) ist zumeist prosodisch desintegriert und von weiteren Disfluenzmarkierungen wie Pausen, Häsitationspartikeln 22 In dieser Funktion wird es in unserer Stichprobe allerdings nur von zwei verschiedenen Sprechern gebraucht. 23 In Beispiel (29) dagegen, das ebenfalls aus FOLK, aber nicht aus unserer Stichprobe stammt, ist es dagegen realisiert. Die Verwendung in (29) ist ebenfalls klar disfluenzmarkierend, so dass der Marker in dieser Funktion also nicht strikt auf die Form ich denk festgelegt ist. Arne Zeschel 284 oder Neuansätzen umgeben. Dabei können sich wie in (28) auch mehrere Vorkommen von ich denk so häufen. Das Beispiel stammt aus einer Teambesprechung in einer sozialen Einrichtung, in der verhaltensauffällige Kinder betreut werden. Thema des Ausschnitts ist das Verhalten der Mutter eines Kinds namens Jakob bei Problemen, die während der Schließzeit der Einrichtung auftreten könnten. Kurz vor Beginn des Ausschnitts richtet Mitarbeiterin MS dazu die Frage Wenn wir zu haben, hockt er dann bei Dir daheim? an Teamleiter HM: (28) E_00024_SE_01_T_07, c944 Meeting in einer sozialen Einrichtung [M-I] 01 MS ich hab_s jetz bl blöd formuLIERT; 02 lustig mit ABsicht, 03 aber jetz ma ganz im ERNST, 04 °h wAs macht die wenn wir während wir ZU haben; 05 wenn was IS? 06 HM ich hab_r gSAGT was sie mache muss; 07 (0.32) 08 MS ah. 09 (0.57) 10 AW inObhutnahme oder was wenn sie [DURCH]dreht; 11 HM [ja. ] 12 (1.07) 13 HM wobEI ich glaab [da steht irgendwie ah] de VAdder irgendwie auße vor- 14 MS [des MACHT die net. ] 15 HM un ich DENK afach so- 16 ich DENK so- 17 °hhh ich glaub wenn der vadder dann irgendwie m PApa gegenüwer- 18 also wenn ich 19 ich schätz den jakob so EI, 20 wenn_s irgendwie zu haus für Ihn unerTRÄGlich isch, 21 dann würd_er papa uns FEUer mache- 22 dass_n der papa wahrscheinlich dann irgendwie bei SICH dehäm lässt; 23 (0.21) 24 HM ob_s GEHT oder NET. 25 (0.23) Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 285 26 HM [also: ] 27 AW [((schnauft))] 28 HM so schätz ich_s EIN zumindescht. Zunächst wird MS’ Frage dahingehend beantwortet, dass das Verhalten in solchen Situationen mit der Mutter bereits besprochen und im Zweifelsfall auch eine Inobhutnahme des Kindes möglich sei. Dann jedoch meldet Sprecher HM seinerseits mit dem Diskursmarker „wobei“ (Z. 13) eine Einschränkung an, die eine mögliche Themenbeendigung hinausschiebt. Zunächst bringt HM dazu in modalisierter Form („ich glaab“, „irgendwie“) einen Umstand vor, der seiner Ansicht nach bei der aktuell präsentierten Lösung noch nicht ausreichend berücksichtigt ist („da steht irgendwie ah- de VAdder irgendwie auße vor“). Bei der anschließenden Erläuterung hat HM dann einige Planungsschwierigkeiten zu überbrücken: Gleich zu Anfang kommen die beiden Zielvorkommen von ich denk so, unmittelbar daran anschließend noch einmal ein „ich glaub“, dann ein begonnener, intern wiederum mit „irgendwie“ modalisierter wenn-Satz, der zunächst in Zeile 18 noch einmal neu begonnen und dann abgebrochen wird; nach einem weiteren modalisierenden Einschub („ich schätz den jakob so EI“) erfolgt dann der dritte Ansatz des Konditionalsatzgefüges, der schließlich benennt, worin das mögliche Problem besteht („dann würd_er papa uns FEUer mache“, Z. 21). Abschließend wird die gesamte Äußerung nochmals modalisiert Z. 28). Ohne Frage ist der vorgebrachte Einwand also sehr deutlich epistemisch gerahmt, beginnend mit „ich glaab“ und schließend mit „so schätz ich_s EIN zumindescht“. Innerhalb dieses stark modalisierten Turns kommt der Wortfolge „ich DENK afach so ich DENK so“ aber eher die prozedurale Funktion einer Verzögerung zur Entlastung der aktuellen Konzeptualisierung und Äußerungsplanung als die einer weiteren, unahängigen Modalisierung zu: Offenkundig hat HM das zu benennende Problem noch nicht hinreichend deutlich konzeptualisiert, was sich nicht zuletzt an der je unterschiedlichen Perspektivierung zeigt, die mit der immer wieder revidierten Wahl des Subjekts im wenn-Satz einhergeht („wenn der vadder ...“, „wenn ich ...“, „wenn_s irgendwie zu haus für ihn unerTRÄGlich isch ...“). Solche Verwendungen von ich denk so zur Überbrückung einer Disfluenz erinnern an den Diskursmarker ich sag mal so, dessen Funktion Auer/ Günthner (2005) einerseits in einer „Verzögerung“ und andererseits in einer „Abschwächung“ davon gerahmter Äußerungsbestandteile sehen. Wie weiter unten ausgeführt wird, lässt sich dieselbe Überlappung einer prozeduralen, sprecherbezogenen Verzögerungsfunktion mit einer interpersonellen, rezipientenbezogenen Abschwächungsfunktion auch für ich denke (mal so) zeigen, das Arne Zeschel 286 aber eben auch rein prozedural-verzögernd gebraucht werden kann. 24 So kann ich denk so beispielsweise auch zur Überbrückung punktueller Wortfindungsschwierigkeiten eingesetzt werden: (29) FOLK_E_00173_SE_01_T_04, c631 Bewerbungstraining 01 TN oke: , 02 (0.46) 03 TN aber da gibt_s NICHTS; 04 (.) keine AUSzeichnung; 05 kein LObesbrief- 06 [keine besond]ren PRÄmien- 07 TB [äh: ] 08 TN (.) kein prämienSCHREIben- 09 TB °h pff 10 TN kein FOto wo sie ma_n [poKAL] [über_m] 11 TB [doch.] 12 [die PRÄ ]mienschreiben; 13 nee; 14 fotos wo ich_n pokal kriege gibt_s NICH. 15 nee; 16 °h aber ich denke so diese diese (0.58) ZAhlen- 17 also diese PRÄmienbriefe sicher; 18 die hab ich ABgeheftet. 19 (0.62) 20 TB ja; 21 (0.2) 22 TB doch. 23 (0.32) 24 TB die HAB ich. 25 (1.09) 26 TN okay, 24 Zudem kann hier im Gegensatz zur Variante mit sagen auch die Partikel mal entfallen (*ich sag so). Obwohl es eine Reihe weiterer Mental- und Kommunikationsverben gibt, die in ähnlicher Funktion im fraglichen Kontext ich V (es) mal (so) in FOLK belegt sind (z.B. annehmen, vermuten, schätzen und vorschlagen, formulieren, behaupten), scheinen diese Ausdrücke also zumindest auch teilweise idiosynkratischen Verwendungsrestriktionen zu unterliegen. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 287 Das Beispiel entstammt einem Bewerbungstraining. Interviewer TN erkundigt sich nach Anerkennungen und Auszeichnungen, die die beruflichen Leistungen seines Gesprächspartners dokumentieren und fragt dabei konkret nach „prämienSCHREIben“ oder Fotos von eventuellen Ehrungen. Klient TB greift den Formulierungsvorschlag Prämienschreiben in seiner Antwort zunächst auf, schiebt eine Antwort zu der Frage nach den Fotos ein, kehrt dann zum ersten Punkt zurück und scheint ein geeigneteres Wort für die erfragten Nachweise zu suchen. Die Festlegung auf eine Bezeichnung wird zunächst mit ich denk so und der Wiederholung des Demonstrativums diese herausgezögert, darauf folgt abgesetzt durch eine Pause als erster Formulierungsvorschlag das Kopfnomen „ZAhlen“, bevor die gesamte NP dann nochmals mit der dann doch weitgehend übernommenen Formulierung „also diese PRÄmienbriefe“ repariert wird. Zweithäufigster Gebrauch ist mit acht Belegen (30%) eine Verwendung, die auf das interpersonelle Alignment zwischen den Gesprächspartnern abzielt. Hierhin gehören u.A. die bereits angesprochenen „Abschwächungen“ im Sinne Auer/ Günthners (2005), die einen funktionalen Zusammenhang zu den Disfluenzüberbrückungen dahingehend sehen, dass eine „Verzögerung selbst strategisch sein und [...] kritische [...] Äußerungen einleiten“ kann (ebd., S. 345). Zu einem ähnlichen Befund kommt auch Schmidt (2014) im Rahmen einer detaillierten Analyse des von Auer/ Günthner betrachteten ich sag mal so im FOLK-Korpus (die auch auf die „verwandte Konstruktion“ (ebd., S. 230) ich denke mal verweist): Funktional ist allen Verwendungen gemein, dass sie eine Abschwächung des durch mal sagen markierten Ausdrucks leisten. Der Grund für die Abschwächung variiert im Einzelfall, hat aber immer mit der Distanzierung des Sprechers von einem Ausdruck zu tun, den er als potentiell problematisch einstuft, z.B. weil er mit negativen Konnotationen oder Tabus verbunden ist, eine über den konkreten Fall hinausgehende Evaluation impliziert oder schlicht unpräzise ist. (Schmidt 2014, S. 229) Die nächste Entsprechung dieser Funktion in Kärkkäinens Analyse zu I think ist ihre Kategorie „recipient-oriented design of utterances“ (Kärkkäinen 2003, S. 146-157). Solche Gebräuche finden sich ihr zufolge in Kontexten, „where a higher threat to either the recipient’s or the speaker’s face is inherent in the conversational action“ (S. 146): In certain interactional environments, as when interactionally problematic topics are discussed or when a speaker has to make an assessment about a coparticipant, s/ he may want to ensure a certain type of alignment from the recipients and to guide their interpretations rather closely. (ebd.) Arne Zeschel 288 Gemäß Kärkkäinens Analyse kann die potenzielle Gesichtsbedrohung und der konkret gegensteuernde Effekt von I think dabei sehr unterschiedlicher Art sein. Beispielhaft genannte Funktionen sind „pursuing a certain type of response“ (S. 147; zur Beilegung von Dissens in argumentativen Kontexten), „presenting oneself as uncertain in order to show social solidarity“ (S. 149; zur Abmilderung von Feststellungen mit gesichtsbedrohendem Potenzial für den Partner) und „responding to inappropriate alignment“ (S. 152; z.B. bei unterschiedlicher Konzeptualisierung des aktuellen joint projects). Ein deutsches Beispiel für den ersten Subtyp ist der Ausschnitt in (30), in dem sich drei Studentinnen über das Thema Heirat unterhalten. Sprecherin AM hat im Vorkontext einen Zusammenhang zwischen den Themen Heirat und Familiengründung hergestellt und dann berichtet, dass sie sich nicht vorstellen kann, einmal Kinder zu haben. Entsprechend ablehnend äußert sie sich zu Beginn des Ausschnitts zum Thema Heirat: (30) FOLK_E_00048_SE_01_T_01, c934 Studentisches Alltagsgespräch [M-A] 01 AM des[wegen weiß ich] nich ob man HEIraten muss; 02 LS [hm: ; ] 03 LP man muss halt- 04 LS ʔ[m ] 05 AM [also des] is hal[t] 06 LS [j]a; 07 (0.3) 08 LP ((schmatzt)) aber WEIßte- 09 ich DENke halt - 10 (.) jetz ma 11 ich kann_s halt nich verSTEHN, 12 (.) we_man jahrelang zuSAMmen isch, 13 und sich dann irgendwie 14 (1.68) ö ä sich nich verHEIraten will. 15 (0.21) Sprecherin LP stimmt mit AMs Schlussfolgerung nicht überein und eröffnet ihre folgende Gegenargumentation mit „aber“. Es folgt der Diskursmarker „WEISST“, der u.A. häufig „im Kontext von Widerspruchshandlungen sowie von als besonders zentral markierten, emphatisch aufgeladenen Erläuterungen, Eingeständnissen bzw. Bewertungen“ gebraucht wird (Günthner 2016, S. 20): „Mit weißt du enkodiert der Sprecher eine Orientierung an der kognitiven Ausrichtung seines Gegenübers und [...] führt [...] eine Erläuterung ein, Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 289 die zu einer gemeinsamen Ausrichtung führen soll“ (ebd., S. 18). Ein drittes Mal wird die folgende Gegenposition dann durch den Zielausdruck „ich DENke halt“ angekündigt, der den projizierten Dissens durch Rückbindung an die subjektive und potenziell fehlbare Sprecherperspektive relativiert, d.h. die Gegenposition gleichzeitig einführt und in ihrer Natur als solche zu entschärfen sucht. Tatsächlich wird die vertretene Gegenposition dann gar nicht explizit formuliert: LP behauptet lediglich, dass sie etwas „nich verSTEHN“ kann - nämlich eine langjährige Beziehung ohne Heiratswunsch, unabhängig von der Kinderfrage. Die Personenreferenzen im Konditionalsatz sind unpersönlich („man“), und die sehr zögerlich vorgebrachte Apodosis, die schließlich den projizierten Dissens formuliert, ist nochmals durch ein modalisierendes „irgendwie“ und eine markante Pause abgesetzt. Mit all diesen verschiedenen Mitteln betreibt Sprecherin LP eine Investition in ihr Alignment mit AM und bemüht sich um eine größere Zustimmungsfähigkeit zu ihrer Position als etwa mit einem simplen „doch“ oder „Ich finde schon“. Wie Kärkkäinen ausführt, kann die potenzielle Gesichtsbedrohung auch den Sprecher selbst betreffen. Ein deutsches Beispiel hierfür ist (31), wiederum aus einer Teambesprechung in der vorgenannten sozialen Einrichtung. Sprecher HM formuliert ein recht harsches Verdikt über ein betreutes Kind, das möglicherweise als unangemessen empfunden werden könnte (weil unempathisch, übergriffig etc.), so dass die Äußerung potenziell negativ auf ihn zurückfallen könnte: (31) FOLK_E_00022_SE_01_T_03_DF, c1215 Meeting in einer sozialen Einrichtung [M-I] 01 HM das STIMMT ja zum teil auch; 02 aber ich DENK ä: hm; 03 (.) dann müsste ma eigentlich gucke wie ma sein selbschtwert DAhingehend stärke- 04 dass er ewe ähm 05 mit diesem annerscht sei tatsächlich irgendwie a UMgehe [kann. ] 06 SZ [ ʔm]_hm; 07 HM °hhh woBEI- 08 ich DENK so: - 09 (2.05) mache mer uns nix VOR; 10 ich denk wenn des so bleibt wie_s jetz IS, 11 bleibt für den EH bloß die werkstatt für behinnerte. 12 (2.17) Arne Zeschel 290 HM bahnt seine potenziell heikle Einschätzung in Zeile 8 mit „ich DENK so“ an, schiebt dann zunächst mit „mache mer uns nix VOR“ einen weiteren deutlichen Hinweis ein, das etwas Dispräferiertes folgen wird, und wiederholt das subjektivierend-abschwächende „ich denk“ in Zeile 10 dann nochmals direkt vor der kritischen Passage. Ein deutsches Beispiel für den dritten von Kärkkäinen genannten Subtyp des „recipient-oriented design of utterances“ - „responding to inappropriate alignment“ - ist (32), ein Ausschnitt aus einem universitären Prüfungsgespräch. Hier geht es nicht um unterschiedliche Überzeugungen der Sprecher bezüglich bestimmter Sachverhalte, sondern um eine Nicht-Übereinstimmung bezüglich der nächstfolgenden relevanten Handlung auf interaktiver Ebene: (32) FOLK_E_00031_SE_01_T_01, c513, Prüfungsgespräch in der Hochschule [M-I] 01 SA transitive VERben, 02 also verben mit dem AKkusativ- 03 bilden das pErfekt MIT, 04 (0.37) 05 CR mit ähm HAben. 06 (0.29) 07 SA ʔm_hm, 08 (0.4) 09 SA okay; 10 (.) gut. 11 <<lachend> so. >; 12 °h JETZT; 13 EC ich denke ich würde sehr gern noch die restlichen morphologischen katego[rien von dem VER]B hören. 14 SA [ʔm_hm, ] 15 entSCHU[Ldigung; ] 16 CR [ähm ] [ja; ] 17 SA [ na][TÜRlich; ] 18 CR [ähm ] 19 EC nö_s oke; 20 ch (0.35)kann ja <<lachend> selbst FRAgen- 21 wenn es mir FEHLT>; 22 ((lacht)) 23 CR tempus HATten wa ja jetz schon, Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 291 24 (.) [äh is] PLUSquamperf[ekt,] 25 EC [ja? ] 26 [ ʔm]_hm, Prüferin SA schickt sich in Zeile 9 an, nach der Antwort von Kandidatin CR auf ihre Frage zur Perfektbildung den aktuellen Themenkomplex zu beenden. Ihre Kollegin EC fällt ihr an dieser Stelle ins Wort und unterbindet den sich ankündigenden Themenwechsel. Das turninitiale ich denke bezeichnet dabei weder eine Vermutung noch eine Meinung bezüglich ihres eigenen Wunsches, noch länger beim aktuell behandelten Gegenstand zu verweilen, sondern dient allein der Entschärfung ihres Einspruchs auf metakommunikativer Ebene, womit als nächstes fortzufahren sei. An ECs Intervention schließt sich eine kurze metakommunikative Reparatursequenz zwischen den beiden Prüferinnen an, bevor die Kandidatin in Zeile 23 mit einer Antwort auf ECs Aufforderung zur weiteren Elaboration fortfährt. Mit gleicher Häufigkeit wie die zweite Kategorie (30% der mündlichen Belege) ist die dritte Funktion von ich denke in unserer Stichprobe vertreten, eine Verwendung als gesprächsstrukturelles Gliederungssignal. Sie ist der von Kärkkäinen postulierten „starting point function“ vergleichbar. Wir betrachten dazu zunächst ein Beispiel, das wiederum aus der Teambesprechung in der sozialen Einrichtung stammt. Thema des Ausschnitts ist ein Junge namens Finn, der eine bisher betriebene Sportart aufgeben möchte und für den nach einer geeigneten neuen Aktivität gesucht wird. Nach Aufbringen des Themas geht es zunächst in einer langen Episode um mögliche Gründe für Finns Sinneswandel, von ihm selbst vorgeschlagene Alternativen wie Paintball spielen und seine von den Betreuern kritisierte allgemeine Faszination für Militärzeugs, wie Teamleiter HM Finns Faible charakterisiert. Über zehn Minuten nach Aufkommen des Themas hat der Teamleiter eine Idee: (33) FOLK_E_00026_SE_01_T_02, c435 Meeting in einer sozialen Einrichtung [M-I] 01 HM dreh_s mal RUM; 02 h° was mir grad EIfällt is irgendwie- 03 (.) finns aufgabe is was SINNvolles zu tun. 04 (1.37) 05 SZ hhh° 06 (0.31) 07 HM damit is die familie afach mal auch in de: r in dem (0.46) ZUGzwang, 08 (1.17) Arne Zeschel 292 09 HM SINNvoll zu [definiere. ] 10 AW [((räuspert sich))] 11 (0.75) Anstatt dass sich die Mitarbeiter alleine mit der Suche nach einem neuen Hobby für Finn herumschlagen, soll die Familie in die Suche einer geeigneten Beschäftigung für den Jungen eingebunden werden - unter der Maßgabe, dass es „was SINNvolles“ sei. Es folgt eine neuerliche lange Episode mit verschiedenen Abschweifungen, bevor der Leiter eine weitere Viertelstunde später den Themenkomplex „Finn“ zum Abschluss bringen möchte und auf seinen Vorschlag zurückkommt, die Eltern in die Findung eines „sinnvollen“ Hobbys einzubeziehen: (34) FOLK_E_00026_SE_01_T_01, c789 Meeting in einer sozialen Einrichtung [M-I] 01 HM dIE solle sich überLEge was sie wolle. 02 (0.84) 03 HM also Ich denk afach so dieses 04 diese: sinn s: inn SINNhaftigkeitsmetapher, 05 gfällt mir eigentlich ganz GUT. 06 (0.33) 07 HM wAs is da SINNvoll; 08 frog des ruhig a die ELtern immer wieder. Nachdem die Eltern erneut ins Spiel gebracht werden („dIE solle sich überLEge was sie wolle“), konkretisiert HM nach einer kurzen Pause, wie er sich den Einbezug der Eltern konkret vorstellt: Er wiederholt seinen Vorschlag, sie zu fragen, welche Beschäftigung ihnen sinnvoll für ihren Sohn erscheint. Eingeleitet wird dieser Wiederaufgriff mit der Gliederungsmarkierung also ich denk einfach so, die wie in anderen schon diskutierten Fällen mit folgender Präferenz- oder Meinungskundgabe nicht zum Ausdruck bringt, dass der Sprecher „vermutet“ oder „findet“, dass ihm etwas gefällt. Stattdessen leitet HM damit den Übergang zu einem Fazit aus dem bisherigen Gesprächsverlauf ein: von allen besprochenen Optionen gefällt dem Sprecher sein eigener, mit der Formulierung diese Sinnhaftigkeitsmetapher nur sehr indirekt wiederaufgegriffener 25 Vorschlag am besten, und „des“ (Z. 10) soll die angesprochene Mitarbeiterin im Gespräch mit den Eltern dann auch umsetzen. 25 Wie die verschiedenen Disfluenzmerkmale innerhalb der Subjekt-NP zeigen, überlappt sich die Strukturierungsfunktion hier zugleich mit der einer Disfluenzüberbrückung im Zusammenhang mit der neuerlichen Verbalisierung von HMs Vorschlag (vgl. Abschnitt 5 zur Frage funktionaler Überlappungen). Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 293 In drei von acht Fällen erscheint die Verwendung als Gliederungssignal wie auch in (34) gemeinsam mit also, was den thematischen Übergang zu einer Folgerung bzw. einem Resümee unterstreicht. Es ist aber nicht allein das also, das diese Funktion übernimmt, denn Herausstellungen eines Fazits finden sich z.B. auch in Verbindungen mit und. Ausschnitt (35) stammt aus einer Schichtübergabe in einem Krankenhaus, in deren Rahmen Pfleger MC dem übernehmenden Kollegen über die Patienten auf der Station berichtet: (35) FOLK_E_00111_SE_01_T_01, c273 Schichtübergabe in einem Krankenhaus [M-I] 01 MC bis jetzt soweit kEInerlei AUFfälligkeiten; 02 °h (.) frau patientin_ee 03 (4.4) ähm: 04 °hh (0.89) ja; 05 (.) die nAcht is se ganz gut (0.52) über die RUNden gekommen; 06 °hh da äh sind jetzt die nAchtmedikamente auf ZWANzig uhr- 07 (0.63) ähm (.) VORgesetzt worden; 08 (0.59) weil sie ja schon so_n bisschen Überhängig war- 09 °hh und ich DENK- 10 (0.33) jetz is besprochen dass sie hundert milligramm seroQUEL erhält- 11 FEST zur nacht- 15 un dass ma die 16 °hh nächtliche medikamtentengabe dann vorzieht eben auf zwanzig UHR, Wiederum ist deutlich, dass Sprecher MC nicht „vermutet“ oder „findet“, was bezüglich der Medikamentengabe während seiner Schicht beschlossen wurde. Im Gegenteil verfügt er im Vergleich zu seinem Gesprächspartner über die epistemische Autorität bezüglich relevanter Ereignisse und Entscheidungen während der vergangenen Schicht - er hat die „K+“-Position. Die Vorverlegung der Medikamentengabe bei einer der Patientinnen ist ein solches Ereignis, und sie erscheint MC erläuterungsbedürftig, so dass er die Begründung weil sie ja schon so ein bisschen überhängig war nachschiebt. Daran wiederum wird mit ich denk die ärztlicherseits getroffene Folgerung angeschlossen, die den Schluss der Episode markiert (jetzt ist beschlossen ... dass man die nächtliche Medikamentengabe dann vorzieht eben). Arne Zeschel 294 Als Gliederungssignal kann ich denk aber nicht nur signalisieren, dass sich ein Fazit anschließt. Es findet sich auch im Zuge von Überleitungen zu einem neuen Gesichtspunkt, der die aktuelle Episode expandiert. In Ausschnitt (36) geht es um die mögliche Aufnahme eines neuen Mädchens in dieselbe Betreuungseinrichtung wie in den Beispielen (28), (31), (33) und (34). Teamleiter HM hat sich dafür ausgesprochen und fragt jetzt Mitarbeiterin AW nach ihrer Meinung: (36) FOLK_E_00024_SE_01_T_07, c455 Meeting in einer sozialen Einrichtung [M-I] 01 HM ich wEIß net wie geht_s_n DIR? 02 (2.91) 03 AW ((schnauft)) 04 (0.4) 05 AW ja; 06 (1.67) 07 AW ((lacht)) ich glaub halt dass die EINfacher is als; 08 (1.21) 09 HM ja ma 10 [und es is äh: ] [WEder nOch, ] 11 AW [der MESserwerfer,] 12 [°hh ähm ansonsten h°] 13 HM weil der messerwerfer weiß ich jetz halt A no <<lachend> net so genau; > 14 °h [äh ] 15 AW [ansons]ten denk ich erstens fänd ich halt ganz gut NOCH a mädele, 16 (0.31) 17 HM ʔm_hm, 18 AW das fänd ich ganz ANgenehm, 19 HM ʔm; AW bewertet den möglichen Neuzugang („die“) zunächst global als unproblematischer als eine mögliche Alternative („der MESserwerfer“). Darüber hinaus („ansonsten“) erscheint ihr gut, dass es sich um ein Mädchen und nicht um einen Jungen handelt. Dieser im weiteren Gesprächsverlauf aufgegriffene neue Gesichtspunkt wird durch ich denke eingeführt, das hier sicher in einer Weise gebraucht wird, die eher zum ‘finden’als zum ‘vermuten’-Pol des Kontinuums tendiert, obwohl es nicht durch ich finde, dass ... ersetzt werden kann. Rein als Subjektivitätsmarkierung wäre es redundant und ich finde, dass Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 295 ich finde, dass X semantisch ausgeschlossen. Neben dieser redundanten Subjektivitätsmarkierung besteht seine Funktion hier aber auch in der Markierung des Übergangs zu einem neuen Gesichtspunkt des in der Sequenz behandelten Themas, nämlich dem Geschlecht des Neuzugangs. Die vierte und letzte Gruppe von Verwendungen, die keine Umwandlung des Bezugsausdrucks in einen dass-Satz zulässt, ist die Markierung einer der aktuellen Evidenzlage widersprechenden Sprecherannahme, die eine Aufklärung des markierten Widerspruchs durch den Partner relevant macht (der für das Zustandekommen des Widerspruchs verantwortlich gemacht wird). Diese Verwendung hat kein Pendant im Funktionsspektrum von I think. (37) gibt ein Beispiel aus einer Spielinteraktion, in der ein Vater (VK) mit seiner Tochter (SK) Monopoly spielt: (37) FOLK_E_00011_SE_01_T_06, c1118 Spielinteraktion mit Kindern [M-A] 01 VK EIns zwEI drEI VIER, 02 fÜnf sEchs SIEben; 03 HAfenstraße. 04 s AUCH mein eigenes? 05 [da war ] 06 SK [darfst du] AUCH nix bauen? 07 VK da ich denk da DARF ich; 08 dass ich ZWEI habe; 09 (1.03) 10 SK nee; 11 (0.64) 12 VK na dann eben NICH; 13 SK [ ham wir doch] AUSgemacht, 14 VK [((unverständlich))] 15 (0.34) 16 VK okay. 17 du bist DRAN; Bevor der Vater sagen kann, was er im Laufe seines Spielzuges ggf. noch vorhat, weist ihn die Tochter bereits vorsorglich darauf hin, dass er auf dem erreichten Feld nix bauen darf. Der Vater hält mit der ich denke-Konstruktion dagegen und konfrontiert die Tochter mit der bislang gehegten Annahme, dass er auf dem Feld sehr wohl bauen dürfe. Die Tochter bekräftigt das Verbot, und obwohl sich der Vater bereits fügt, schiebt sie noch die von der ich Arne Zeschel 296 denke-Konstruktion geforderte Erläuterung nach, dass diese Regel zwischen den beiden ja ausgemacht worden sei. Semantisch erweist sich die Abgespaltenheit dieser Verwendung daran, dass die gerahmte Proposition zum Zeitpunkt der ich denke-Äußerung gerade nicht mehr den Status einer unhinterfragt gültigen Annahme hat. Vielmehr reagiert der Sprecher mit der Äußerung auf die Tatsache, dass er mit entsprechender Gegenevidenz konfrontiert wurde, so dass eine Paraphrase mit ich vermute, dass X entfällt. Besonders deutlich wird das in Verwendungen wie (38): (38) Sag mal, was machst du eigentlich hier? fragt sie und versucht zu lächeln. Ich denke du bist in New York! Hat sich irgendwas verändert? http: / / www.gilmoregirls.de/ forum/ archive/ index.php/ t-4177.html [DECOW2012] Wer jemandem physisch gegenübersteht, kann ihn nicht weiterhin zur selben Zeit andernorts vermuten. Wird in dieser Situation dennoch ich denke gebraucht, so liegt dabei also offenkundig keine regulär-kompositionelle Verwendung des Verbs denken in einer seiner üblichen lexikalischen Bedeutungen, sondern eine in spezifischer Weise idiomatisierte Konstruktion vor. Tatsächlich ist die fragliche Interpretation an die Struktur ich denke + V2-Satz mit Voranstellung des ich denke gebunden - weder ich denke, dass du in New York bist noch Du bist in New York, denke ich oder Du bist, denke ich, in New York könnten hier im intendierten Sinn gebraucht werden. 26 Die von ich denke gerahmte Annahme, die durch den aktualisierten Kenntnisstand des Sprechers nun zweifelhaft erscheint, kann dabei eine auch nur vorgeblich gehegte sein, die der Adressat nach Ansicht des Sprechers aber hatte vermitteln wollen. Vgl. dazu (39): (39) Du bist so ein typische Kobe/ Iverson Fan, der unbedingt 2 Millionen Punkte pro Spiel braucht um einen Spieler als Star anzusehen, ich denke du hast Ahnung, sieht mir bei solchen Äußerungen nicht gerade danach aus! [K-M] 26 Ein scheinbares Gegenargument ist die Verfügbarkeit der intendierten Interpretation bei Und ich denke die ganze Zeit, dass du in New York bist! (ich danke Nadine Proske für diesen Hinweis). Hier liegt m.E. eine andere Konstruktion mit ähnlicher pragmatischer Funktion vor (Inkongruenz-/ Diskrepanzmarkierung, die auf eine Rechtfertigung des Adressaten abzielt), die an das und anstelle des Verbs gebunden ist - vgl. Ich zuppel hier stundenlang die Gardinen zurecht und du schiebst die einfach weg! (http: / / www.chat24.de/ archive/ index.php? t-21-p-2.html, [DECOW2012]). Die fragliche Interpretation hängt in diesem Fall also nicht an einer bestimmten Verwendung von denken, das hier mit einem beliebigen anderen Verb ersetzt werden könnte (Und ich habe allen lang und breit erzählt, dass du in New York bist! ). Die pragmatisch spezialisierte Konstruktion mit und unterliegt zudem auch eigenen Restriktionen - im spezifischen Kontext von (27) mit der vorangehenden Frage ist eine entsprechende Ersetzung z.B. ausgeschlossen (Was machst du eigentlich hier? #Und ich denke, dass du in New York bist! ). Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 297 Wie der nachfolgende Satz sieht mir bei solchen Äußerungen nicht gerade danach aus deutlich macht, ist der Produzent der ich denke-Konstruktion in (39) gerade nicht der Auffassung, dass der Sachverhalt du hast Ahnung zutrifft. Ob er vor den mit dieser Annahme konfligierenden Äußerungen nun tatsächlich dieser Auffassung war oder nicht, ist unerheblich: Mit der Verwendung der ich denke-Konstruktion wird lediglich impliziert, dass der Adressat nach Ansicht des Sprechers eben diesen Sachverhalt im Vorfeld behauptet oder insinuiert hat, so dass ihm die Verantwortung für diese nahegelegte Annahme nun als Täuschungsabsicht angelastet werden kann. Diese Verwendung von ich denke ist mit nur zwei Belegen in den Gesprächsdaten marginal in unserer Stichprobe, weitere sieben Belege finden sich allerdings in den Webdaten sowie in den literarischen Texten. Ebenfalls so gebraucht werden kann ich dachte, das in dieser Funktion deutlich häufiger in den Gesprächsdaten anzutreffen ist. Nach dem hier angesetzten Kriterium ist aber allein die Präsens-Variante als eindeutig abgespalten zu werten, da sich entsprechende Belege mit ich dachte zumindest auf einer rein semantischen Ebene der Bedeutungsklassifikation (d.h. ohne Blick auf pragmatische Merkmale und Interaktionsfunktionen) ohne Weiteres als reguläre Instanzen der Lesart auffassung analysieren lassen (‘bis mir Evidenz Y bekannt wurde, hatte ich vermutet, dass X’; auch in struktureller Hinsicht sind dass-Sätze bei ich dachte nicht ausgeschlossen). Eine Untersuchung speziell der hier nicht weiter betrachteten ich dachte-Fälle findet sich in Deppermann/ Reineke (in diesem Band), wo sie als kommunikative Praktik zur „Äußerung einer diskrepanten Annahme“ analysiert werden. Damit sind alle vier gefundenen Funktionen von abgespaltenem ich denke in unseren Daten beschrieben. Eine zusammenfassende Diskussion (gemeinsam mit den Resultaten zu wissen) folgt in Abschnitt 5. 4.2 wissen 4.2.1 Komplexe Prädikate Wie bei denken gab es auch bei wissen kaum lexikalisierte Fügungen in den Daten. Entsprechend gewertet wurden weiterwissen als zusammengerücktes Verb mit eigenem Eintrag im Duden sowie Bescheid wissen und Rat wissen als komplexe Prädikate. Als opakes Mehrwortlexem wurde weiß Gott, als idiomatisierte, teilschematische Konstruktionen ohne besondere Diskursfunktion SUBJ willes (noch einmal) wissen und SUBJ wissnicht ein und aus gewertet. Daneben gab es wie im Fall von denken eine Reihe verfestigter teilschematischer Konstruktionen, die sich semantisch einer der regulär angesetzten wissen-Lesarten (vgl. 4.2.2) zuordnen ließen: Arne Zeschel 298 (40) a. damit SUBJ: 2SG|PL es wiss- Plötzlich kommt mein Münchner Korrespondenzanwalt an unseren Tisch gestürzt und erklärt mit viel Bestimmtheit: „Herr Kolleg', damit's wissen, die Weißwürscht meiner Mandantschaft zahl fei i.“ [S-L] b. ich hab’s (doch|ja) gewusst|wusste ich’s doch (+dass-Satz) das hab ich ja gewusst dass so eine scheiße noch kommt [M-A] c. nicht dass ich wüsste [M-A] Insgesamt machten Belege, die sich weder einer der angesetzten lexikalischen Lesarten von einfachem wissen noch der Diskursmarkerkandidaten-Kategorie dm zuordnen ließen, auch im Fall von wissen nur einen sehr geringen Teil der Stichprobe aus (1.4%). 4.2.2 Bedeutungen Anders als bei kommen, gehen und denken ist im Fall von wissen die Polarität einer Verwendung von besonderer Bedeutung für die Lesartenzuordnung (inklusive Ermittlung möglicher Implikaturen). Diese Besonderheit erklärt sich daraus, dass das Wissen um einen Sachverhalt sowohl mehr oder minder sicher als auch mehr oder minder umfassend sein kann, so dass „wissen“ also nicht immer gleich „wissen“ ist. Anders als die konsultierten Wörterbücher setzen wir diese Beobachtung in eine Lesartendifferenzierung um. Für uneingeschränkt behauptetes Wissen (jemand weiß etwas, jemand weiß etwas genau) setzen wir die Lesart bekanntheit an: (41) bekanntheit ‘Kenntnis von etwas haben; sich einer Sache bewusst, sich über eine Sache im Klaren sein; sich sicher sein, dass etwas der Fall ist’ Ein sachverhalt oder eine entität ist einem cognizer (aus einer quelle) (bezüglich eines partizipanten oder in einer domäne) (unter bestimmten umständen) bekannt. Diese Kategorie entspricht den jeweils als Kernbedeutung angesetzten Lesarten im Duden-Wörterbuch („durch eigene Erfahrung oder Mitteilung von außen Kenntnis von etwas, jemandem haben, so dass zuverlässige Aussagen gemacht werden können“; Dudenredaktion 2001, S. 1821), im Wahrig-Wörterbuch („im Gedächtnis, im Bewusstsein haben; erfahren haben; kennen“; Wahrig-Burfeind 2011, S. 1667) und in VALBU („etwas als Information im Gedächtnis gespeichert haben“; Schumacher et al. 2004, S. 848). Mit 1.043 Belegen (53%) ist sie die häufigste Lesart von wissen in unserer Stichprobe. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 299 Bei Behauptung von unsicherem oder nur partiellem Wissen (jemand weiß etwas nicht genau) sowie auch bei negiertem Wissen über die Beschaffenheit einer Entität oder das Zutreffen eines Sachverhalts (jemand weiß etwas nicht), setzen wir eine separate Lesart unklarheit an: 27 (42) unklarheit ‘jemandem unklar sein; sich über etwas unsicher sein’ Ein cognizer ist sich über einen sachverhalt oder eine entität (bezüglich eines partizipanten oder in einer domäne) (unter bestimmten umständen) im Unklaren. Auf diese Lesart entfallen weitere 535 Belege (27% der Daten). Gemeinsam decken die Lesarten bekanntheit und unklarheit somit vier von fünf Verwendungen von wissen in der Stichprobe ab. Auch innerhalb der verbleibenden 20% der Daten ist unsere Klassifikation granularer als die Bedeutungsbeschreibung in den Wörterbüchern. Insgesamt setzen wir elf Kategorien an (gegenüber zwei im Wahrig, vier im Duden und fünf in VALBU). Abbildung 5 zeigt ihre Distribution über die fünf Verwendungskontexte: 28 27 Der Einbezug von Negationsmerkmalen in die semantische Klassifikation bedarf noch einiger Präzisierungen. Neben Belegen mit negiertem wissen-Prädikat wurden auch solche mit Negationselement innerhalb des direkten Objekts als Instanzen der Lesart unklarheit gewertet (Sie wusste keine Ausrede mehr, [K-M]: ‘ihr war unklar, was jetzt noch als Ausrede dienen könnte’). Bei Auftreten eines Negationselements innerhalb der Subjektkonstituente wurde hingegen bekanntheit vergeben (Auf jeden Fall waren sämtliche Waggons mit Speck verschwunden, und kein Aas wußte offiziell, wie so etwas möglich war, [S-L]). bekanntheit wurde auch für Belege mit Modalverben vergeben, in denen sich die Negation auf die Modalsemantik bezieht (Der Bischof von Alexandria muß nicht alles wissen, [S-W]). Generell wurde die Zuordnung zu unklarheit bzw. bekanntheit also nicht mechanisch von der bloßen Präsenz eines Negationselements im relevanten Teilsatz abhängig gemacht, sondern jeweils auf Basis der Skopusverhältnisse im konkreten Beleg entschieden. Beispielweise liegt in einem Beleg wie Ebenso muß, umgekehrt gesehen, jeder Teilnehmer etwas nicht wissen, um Information aufnehmen zu können ([S- W]) Negation in Verbindung mit einem Modalverb vor, die Bedeutung ist hier aufgrund des Bezugs des Negationselements aber dennoch unklarheit und nicht bekanntheit (das nicht hat Skopus über wissen, nicht über müssen). 28 φ 2 =.32, χ 2 (40, N=1950)=629.33, p<.001***. Aktive Punkte sind alle Bedeutungen mit einer Häufigkeit von mindestens zehn Vorkommen insgesamt. Arne Zeschel 300 Abb. 5: Bedeutungen: wissen 29 Wie bei denken besteht der Hauptkontrast in der Horizontalen zwischen den Gesprächen links und den schriftlichen Daten rechts, die Extreme bilden die Alltagsgespräche einerseits und die Wissenschaftstexte andererseits. (43) veranschaulicht die in interaktiven Kontexten häufigeren Kategorien links im Plot, absteigend sortiert nach ihrer Häufigkeit: (43) a. bei der einen weiß ich es noch nicht [M-I]: unklarheit b. ah ja das muss man halt auch sagen wenn Frauen zuhören weißt Du [M-A]: dm c. ja das weiß ich noch [M-A]: erinnerung d. Also wenn es wirklich stimmt, dass der HSV nichts mehr macht auf dem Transfermarkt, dann weiß ich wirklich nicht wofür Herr Kühne 15-Mille gegeben hat und im Gegenzug eine Beteiligung an 7-Spielern beim HSV erhält. [K-M]: unverständnis 29 Drei Kategorien sind aufgrund ihrer geringen Frequenz von weniger als zehn Vorkommen in der Analyse inaktiv gesetzt und nicht im Diagramm vertreten. Dabei handelt es sich um die Lesarten bedenken (Man muß wissen: Bei den noch zu regelnden Details geht es immer auch um sehr viel Geld, [K-M]), entscheidung (Ganz abgesehen von den Kosten, jeder muss selber wissen was er für sein Hobby ausgeben will, [K-M]) und erfahren (Ich würde gerne mal ganz konkret von Galgolina und auch von Tierfreund1800 wissen, was sie denn selber im Tierschutzbereich zustande bringen, [K-M]). bedenken und entscheidung sind an Kookkurrenz mit dem Modalverb müssen gebunden, die Lesart erfahren ist mit dem Konjunktiv assoziiert und tritt häufig mit dem Adverb gerne auf (SUBJ würde gern wissen, w-/ ob-Satz). −1.5 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 −0.5 0.0 0.5 1.0 Dim 1 (77.19%) Dim 2 (16.62%) [M−A] [M−I] [K−M] [S−L] [S−W] Bekanntheit Unklarheit DM Erinnerung Vermögen Sicherstellen Desinteresse Unverständnis Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 301 (44) gibt Beispiele für die Bedeutungen rechts im Diagramm, wieder absteigend sortiert nach Frequenz: (44) a. Wer außer dir und Alexandra weiß denn schon, wer Willi ist? [S-L]: bekanntheit b. Wulffen weiß mit der Ambivalenz seines Stoffes geschickt umzugehen. [S-W]: vermögen c. Allerdings möchte er die Sowjetunion aus der internationalen Gemeinschaft ausgeschlossen wissen, da auch das russische Volk Frieden benötige und wünsche. [S-W]: sicherstellen d. Von solchen ganz auf Autorität und Vertrauen begründeten Verfahren wollte, wie sich versteht, die spätere Aufklärung nicht mehr viel wissen. [S-W]: desinteresse Der Kontrast in der Vertikalen besteht zwischen Bedeutungen, die typischerweise oder sogar notwendig Negation erfordern (unklarheit, unverständnis und desinteresse, oben im Diagramm) und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist (alle anderen Kategorien). Insgesamt zeigt das Lesartenspektrum im Vergleich etwa zu den Bewegungsverben eine deutlich andere Struktur. Die abstrakte epistemische Semantik von wissen eignet sich nicht für metaphorische Übertragungen, so dass es sich bei den angetroffenen Varianten durchweg um metonymische Verschiebungen handelt. Die Varianten betreffen die Erlangung (entscheiden, erfahren, sicherstellen) oder auch die Unzugänglichkeit eines bestimmten Wissensbestandes im Zusammenhang mit affektiven Voraussetzungen (desinteresse) und Konsequenzen (unverständnis), seinen Charakter als Voraussetzung einer bestimmten Handlungsbefähigung (vermögen), seine Sicherheit und seinen Umfang (bekanntheit, unklarheit) sowie seine aktuelle Gewärtigung (bedenken) und seine Persistenz (erinnerung). Innerhalb dieses Spektrums sind mündliche Verwendungen von wissen auffällig häufiger negiert (43% gegenüber 29% in der Schriftlichkeit), was insbesondere für die institutionellen Gespräche gilt (46%). Dies ist ein Hinweis, dass neben den hier auf „semantischer“ Ebene angesetzten Bedeutungsvarianten auch auf pragmatisch-interaktiver Ebene nochmals mit spezifisch verschobenen Funktionen zu rechnen ist, die mit der Behauptung eines Nicht-Wissens verknüpft sind (neben epistemischen Modalisierungen z.B. auch evaluative Distanzierungen und die Einleitung eines Widerspruchs, vgl. Imo (2007) sowie Helmer/ Deppermann/ Reineke in diesem Band). Obwohl das Gros solcher Verwendungen in unserer Klassifikation zunächst „semantisch“ als Markierung von unklarheit gewertet wurde, bestehen von dieser distinktiv mündlichen Lesart auch Übergänge zu verschiedenen hier als abgespalten betrachteten Formeln mit besonderen Arne Zeschel 302 Gesprächsfunktionen (dm), die insbesondere in den Alltagsgesprächen sehr geläufig sind (siehe unten). Auffällig überrepräsentiert in der Mündlichkeit ist schließlich auch die Lesart erinnerung, die mit 95% Sprecher- oder Adressatendeixis eine besonders starke Situationsbindung aufweist - thematisiert wird hier die fortbestehende Verfügbarkeit einer aktuell relevanten Information für die Gesprächsbeteiligten. 30 4.2.3 Argumentrealisierungsmuster E [M-A] [M-I] [K-M] [S-L] [S-W] Gesamt 2 217 (54,3%) 278 (71,1%) 315 (80,4%) 309 (79,4%) 308 (77,2%) 1427 (72,4%) 1 128 (32%) 73 (18,7%) 43 (11%) 32 (8,2%) 18 (4,5%) 294 (14,9%) 3 38 (9,5%) 34 (8,7%) 34 (8,7%) 48 (12,3%) 73 (18,3%) 227 (11,5%) 0 16 (4%) 5 (1,3%) - - - 21 (1,1%) 4 1 (0,3%) 1 (0,3%) - - - 2 (0,1%) Σ 400 (100%) 391 (100%) 392 (100%) 389 (100%) 399 (100%) 1971 (100%) Tab. 2: Realisierte Ergänzungen: wissen Verwendungen mit zwei Ergänzungen sind überall deutlich am häufigsten, in drei Kategorien decken sie sogar mehr als 75% der Daten ab. In den interaktiven Kontexten sind auch Verwendungen mit nur einer Ergänzung gebräuchlich (in den Alltagsgesprächen immerhin noch knapp ein Drittel der Belege), in den Wissenschaftstexten dagegen eher solche mit drei realisierten Ergänzungen. Belege mit null oder vier Ergänzungen sind marginal (mit Ausnahme von weiß nicht in den Alltagsgesprächen). Ein deutlicheres Bild ergibt sich bei Aufschlüsselung der einzelnen Argumentrealisierungsmuster in Verbindung mit den je realisierten Bedeutungen. Abbildung 6 zeigt das Ergebnis einer Korrespondenzanalyse, eingeblendet sind zunächst Muster mit einer Ergänzung (nur vier aktive Datenpunkte): 31 30 Nur zwei Belege dieser Lesart haben weder Sprecher- (ich weiß noch / nicht mehr) noch Adressatendeixis (dann immer als Frage: weißt du noch + w-/ ob-Satz), sondern ein Subjekt der 3. Person. Subjekte der 1. oder 2. Person Singular sind in den Alltagsgesprächen zwar generell dominant, mit 95% gegenüber 88% liegt ihr Anteil in Lesart erinnerung aber nochmals höher als in den verbleibenden Belegen in Kategorie [M-A]. 31 φ 2 =.46, χ 2 (132, N=1896)=876.19, p<.001***. Aktive Punkte in der Analyse sind alle Form-Bedeutungs-Muster mit einer Häufigkeit von mindestens fünf Vorkommen in den Daten. Visualisiert sind in Abbildungen 6 und 8 alle einbzw. dreistelligen Muster unter den aktiven Kategorien und in Abbildung 7 die zweistelligen Muster mit den fünfzehn höchsten Beiträgen zur Konstruktion der dargestellten ersten beiden Dimensionen. Die restlichen aktiven Punkte sind jeweils ausgegraut und werden ohne Labels dargestellt. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 303 Abb. 6: Argumentrealisierungsmuster: wissen (eine Ergänzung) Wie im Fall von denken ist die Platzierung der Kontextkategorien der Anordnung in der rein semantischen Auswertung sehr ähnlich: Sie spannen die horizontale Dimension auf. Auffällig sind zunächst die formulaischen, nur für ihre interne Syntax annotierten Verwendungen mit besonderen Gesprächsfunktionen (dm), von denen es mehrere sowohl in einals auch in zweistelligen Varianten gibt (vgl. weißt du vs. weißt du was). Wir kommen auf diese Kategorie in der Diskussion der zweistelligen Muster zurück. Charakteristisch mündlich ist ferner das Muster SUBJ # unklarheit, das in drei von vier Fällen als ich weiß nicht bzw. weiß ich nicht realisiert ist. Eine Abweichung von der rein semantischen Betrachtung ergibt sich beim Muster SUBJ # bekanntheit. Während diese Lesart in der Mündlichkeit insgesamt eher unterrepräsentiert ist, gilt für die responsive Verwendung ich weiß / weiß ich das Gegenteil. Abbildung 7 zeigt Verwendungen mit zwei Ergänzungen: −2 −1 0 1 2 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 Dim 1 (62.52%) Dim 2 (21.35%) [M−A] [M−I] [K−M] [S−L] [S−W] +SUBJ # DM +SUBJ # Bekanntheit +SUBJ # Unklarheit +DIR.OBJ: S # Unklarheit Arne Zeschel 304 −2 −1 0 1 2 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 Dim 1 (62.52%) Dim 2 (21.35%) [M−A] [M−I] [K−M] [S−L] [S−W] +SUBJ +DIR.OBJ: S # Bekanntheit +SUBJ +DIR.OBJ: S # Unklarheit +SUBJ +DIR.OBJ: NP # Bekanntheit +SUBJ +DIR.OBJ: NP # Unklarheit +SUBJ +DIR.OBJ: NP # DM +SUBJ +DIR.OBJ: S # Vermögen +SUBJ +P.OBJ−von # Bekanntheit +SUBJ +DIR.OBJ: NP # Desinteresse +SUBJ +DIR.OBJ: SK # Bekanntheit +SUBJ +DIR.OBJ: SK # Unklarheit +SUBJ +DIR.OBJ: S # DM +SUBJ +DIR.OBJ: S # Unverständnis +SUBJ +TMP # Erinnerung +SUBJ +DIR.OBJ: S # Desinteresse +SUBJ +DIR # Bekanntheit Abb. 7: Argumentrealisierungsmuster: wissen (zwei Ergänzungen) (45) veranschaulicht die Muster links im Plot, absteigend sortiert nach Häufigkeit: (45) a. ach AWB ich wusste nicht dass es eine Abkürzung ist für Bier [M-A]: +SUBJ +DIR.OBJ: S # unklarheit b. vielleicht war der Leo da gewesen ich weiß es nicht [M-A]: +SUBJ +DIR.OBJ: NP # unklarheit c. Du hast doch noch immer so ein Haufen Zeug gekauft was weiß ich äh Motoren und was weiß ich Boote basteln und so ein Zeug [M-I]: +SUBJ +DIR.OBJ: NP# dm d. wenn uns mein Vater erzogen hätte ui ui ui das weiß ich nicht was da rausgekommen wäre [M-A]: +SUBJ +DIR.OBJ: SK # unklarheit 32 e. das weiß ich ja dass die nicht so toll sind [M-A]: +SUBJ +DIR.OBJ: SK # bekanntheit f. die Schuhe sind doch so schön ich weiß überhaupt nicht was Du für ein Problem damit hast [M-A]: +SUBJ +DIR.OBJ: S # unverständnis g. ne und der Rudolf weißt Du noch [M-A]: +SUBJ +TMP # erinnerung 32 Das Kürzel „SK“ in der Musterbezeichnung steht für „Satzergänzung mit Korrelat im Matrixsatz“. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 305 h. äh wer weiß ob das sein muss ne [M-A]: +SUBJ +DIR.OBJ: S # dm Neben ergänzungslosem weiß nicht und einstelligem ich weiß nicht / weiß ich nicht sind auch die zweistelligen Realisierungen der Bedeutung unklarheit (mit Objektsatz, 45.a; mit nominalem direktem Objekt, 45.b; mit Objektsatz und Korrelat, 45.d) allesamt typisch mündlich. In Lesart bekanntheit ist abgesehen von einstelligem ich weiß / weiß ich auch die Konstruktion mit doppelt realisierter Objektergänzung (das weiß ich, dass ...) eher gesprochen als geschrieben anzutreffen. Dasselbe gilt für Belege des Typs erinnerung mit Objektellipse (45.g) sowie das eher informelle Muster +SUBJ +DIR.OBJ: S # unverständnis in (45.f). Zu erläutern bleiben damit noch die formelhaften dm-Verwendungen. Anders als bei denken verbirgt sich hinter diesem Datenpunkt eine Reihe unterschiedlicher formulaischer ein- oder zweistelliger Konstruktionen, die funktional in zwei Gruppen zerfallen. Beispiele für die erste liefert (46): (46) a. aber falls ich es bei irgendjemandem vergessen habe will ich halt nicht dass irgendwelche Briefen die sind wichtig danke schön die wichtig sein könnten jetzt da ankommen und ich das nicht weiß weißt Du [M-A] b. Du weißt doch die Jägermeisteraktion wo ich auf das Ding draufgegangen bin auf diese Sitzgarnitur und so getanzt habe und mir das T-Shirt dann äh geholt habe [M-A] c. und der Eddi hat gesagt weißt Du was Frau hat er gesagt das dreier Gewürz schmeckt mir am besten [M-A] In (46) ist wissen Teil verschiedener Formeln mit Adressatendeixis, die es neben den Formen weißt du (was) bzw. du weißt (schon|doch) auch mit höflichem Sie und pluralischem ihr gibt. Sie sind Abspaltungen von der positiv polaren Lesart bekanntheit und dienen zur Mobilisierung von common ground sowie zur Aufmerksamkeitssteuerung, wobei sich die konkrete Funktion je nach formaler Realisierung und sequenziellem Kontext noch einmal feiner differenzieren lässt. Für eine ausführliche Diskussion verweisen wir auf Imo (2007, S. 156-171), der von einem „Vergewisserungssignal“ spricht, sowie auf Günthner (2016). Zählt man alle Realisierungsformen der Formeln in (46.a-c) zusammen, 33 kommen diese Gebräuche auf 116 Belege in der Stichprobe, ent- 33 In den literarischen Texten findet sich auch einmal eine „expandierte“ Form in Gestalt eines wenn-Satzes mit identischer Funktion, aber realisiertem Objektkomplement (wenn Sie wissen, was ich meine). Prinzipiell ähnlich sind auch wie-Sätze des Typs Wie Sie wissen, begrüße ich das geplante Thälmann-Denkmal heftig [S-L], die allerdings nicht auf Adressatendeixis beschränkt sind und in unseren Daten häufiger mit Subjekten der 1. und 3. Person auftreten (wie wir wis- Arne Zeschel 306 sprechend einem Anteil von 6% an den gesamten wissen-Daten. 34 Die zweite Gruppe bilden die Verwendungen in (47): (47) a. ich weiß nicht wir sind dann nicht mehr so motiviert sage ich mal [M-I] b. Der Film ist bisher komplett an mir vorbeigegangen, weiß der Geier warum. [K-M] c. Sie wurde als Geheimwaffe und wer weiß was angekündigt, weswegen ich gedacht habe, dass da gleich ordentlich die Fetzen fliegen und die Schiffe zerfallen etc. [K-M] d. ne und wenn wir auf Besuch waren irgendwie Tanten und Onkels und was weiß ich da wurde Platt gesprochen [M-A] Im Gegensatz zu den Formeln in (46) erscheinen hier Subjekte der 1. (47.a, d) bzw. 3. Person (b, c) Singular, und die Spenderbedeutung ist nicht bekanntheit, sondern unklarheit. Tatsächlich wurde die Wortfolge (ich) weiß nicht in der weit überwiegenden Mehrzahl ihrer Belege auch nicht als dm-Kandidat, sondern als kompositionelle Verbindung mit der Bedeutung unklarheit gewertet. Es gibt jedoch auch Fälle wie (47.a), in denen (ich) weiß nicht als formelhafter pragmatischer Marker eingesetzt wird: Zum Ausdruck gebracht wird in diesen Belegen nicht, dass der Sprecher (auf der propositionalen) Ebene von einem bestimmten Gegenstand keine Kenntnis besitzt, sondern dass er (auf der pragmatischen Ebene) unschlüssig über die Angemessenheit, Relevanz, Genauigkeit etc. seiner unmittelbar folgenden Äußerung ist. Eine eingehendere Untersuchung dieser und weiterer Funktionen von (ich) weiß nicht bzw. weiß ich nicht findet sich in Helmer/ Deppermann/ Reineke (in diesem Band), sowie, mit Blick speziell auf eine mögliche Klassifikation als Diskursmarker, in Helmer/ Deppermann (2017). Die Formeln in (47.b) und (c) sind jeweils mit ich weiß nicht ersetzbar und erfüllen neben der (semantischen) Markierung von Unbestimmtheit/ Unsicherheit verschiedene miteinander verwandte pragmatische Funktionen. Als teilschematisches Idiom ist weiß der Geier (was) in (47.b) zu werten, bei dem das Nomen eine Reihe von Ersetzungen toleriert. In DECOW2012 finden sich folgende Füller (in absteigender Häufigkeit): Geier, Teufel/ Deibel, Himmel, Kuckuck und Henker, ohne Determinierer auch Gott. 35 Imo (2007, S. 144) kennzeichnet seine Funktion als „Unbestimmtheitsindikator“ und, im Anschluss an sen, wie man/ jeder weiß, wie alle wissen). Solche wie-Sätze wurden daher nicht mit den Formeln in (46) zusammengefasst. 34 96 Belege davon entstammen den Gesprächen, in denen die Konstruktion mit einem Anteil von 12% an den Gesamtdaten klar überrepräsentiert ist. Sie liegt in unserer Stichprobe dennoch deutlich unter dem in Imo (2007) berichteten Wert, wo allein weißt du und wissen Sie zusammengenommen bereits einen Anteil von 36% an den untersuchten Gesamtdaten für wissen haben. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 307 Leuschner (2000), als „Irrelevanzpartikel“. Trotz unterschiedlicher Personendeixis besonders eng verwandt sind die Formeln in (c) und (d), wer weiß (was) und das fast viermal so häufige was weiß ich (was), auf dessen verschiedene Funktionen weiter unten noch genauer eingegangen wird. Zusammengenommen kommen die dm-Kandidaten in (47) auf noch einmal 91 Belege, entsprechend 5% der Gesamtdaten für wissen. Insgesamt ist also mehr als jeder zehnte Beleg für wissen in der Stichprobe Bestandteil einer der obengenannten sechs bzw. sieben 36 Formeln; betrachtet man nur die Gesprächsdaten allein, steigt dieser Anteil auf beinahe ein Viertel der Daten (22%). Relevante Vorarbeiten zu mehreren dieser Ausdrücke finden sich bei Imo (2007, S. 141f.), wo sie unter der Bezeichnung „wissen mit Akkusativergänzung in spezifischen Konstruktionen“ zusammengefasst werden. Die dort für mehrere Muster nur angerissene funktionale Analyse ist allerdings noch in verschiedener Hinsicht zu vertiefen, was wir in Abschnitt 4.2.4 in Bezug auf die häufigste Formel in (47), was weiß ich, illustrieren. Zuvor der Vollständigkeit halber aber noch ein Blick auf die dreistelligen Argumentrealisierungsmuster von wissen: Abb. 8: Argumentrealisierungsmuster: wissen (drei Ergänzungen) 35 Hier sind zwei antonymische Varianten zu unterscheiden. Erstens gibt es die hier relevante, mit ich weiß nicht kommutierende Variante (Es folgten 4 weitere Zustellversuche bis zum 5.12.! Alle vergeblich, weiß Gott wo hin, nur nicht an die angegebene Adresse, [K-M]) und zweitens die bereits in Abschnitt 4.2.1 erwähnte, hier ausgeschlossene negativ polare Variante mit der Bedeutung ‘gewiss, sicherlich’ (schüchtern ist der junge Mann weiß Gott nicht, [S-L]). 36 Je nachdem, ob man weißt du und weißt du was als getrennte Einheiten auffasst oder nicht. −2 −1 0 1 2 −1.0 −0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 Dim 1 (62.52%) Dim 2 (21.35%) [M−A] [M−I] [K−M] [S−L] [S−W] +SUBJ +DIR.OBJ: S +DIR # Bekanntheit +SUBJ +DIR.OBJ: NP +PRD # Sicherstellen +SUBJ +DIR.OBJ: S +TMP # Erinnerung +SUBJ +DIR.OBJ: S +KAU # Bekanntheit +SUBJ +DIR.OBJ: NP +TMP # Erinnerung +SUBJ +DIR.OBJ: NP +PRD # Bekanntheit +SUBJ +DIR.OBJ: NP +DIR # Bekanntheit +SUBJ +DIR.OBJ: S +P.OBJ−von # Bekanntheit +SUBJ +DIR.OBJ: S +KAU # Unklarheit +SUBJ +DIR.OBJ: S +LOK # Unklarheit +SUBJ +DIR.OBJ: NP +MOD # Bekanntheit Arne Zeschel 308 Hier finden sich die meisten Muster rechts im Diagramm bei den Schriftdaten platziert, in den Gesprächsdaten überrepräsentiert sind lediglich folgende vier: (48) a. ich weiß noch genau wo meine erste Europawahl war [M-A]: +SUBJ +DIR.OBJ: S +TMP # erinnerung b. das weiß ich immer noch hmhm [M-A]: +SUBJ +DIR.OBJ: NP +TMP # erinnerung c. und dann weiß man nicht mehr was man glauben soll [M-I]: +SUBJ +DIR.OBJ: S +KAU # unklarheit d. da weiß ich jetzt nicht worauf Sie jetzt hinauswollen [M-I]: +SUBJ +DIR.OBJ: S +LOK # unklarheit erinnerung-Belege mit Satzergänzung können nicht nur mit w-, ob- und dass- Sätzen auftreten, sondern (in Abweichung vom schriftsprachlichen Standard) zuweilen auch mit Temporalsätzen wie in (48.a), das im Sinne von ‘ich kann mich noch genau an den Zeitpunkt meiner ersten Europawahl erinnern’ zu interpretieren ist (vgl. auch ich weiß noch als es rauskam, [K-M]). Die beiden dreistelligen unklarheit-Muster in (c) und (d) sind eng verwandt, das Adverbial ist aber jeweils unterschiedlich erfragbar (‘unter welchen Umständen’ in 48.c, ‘in welcher Hinsicht, mit Bezug auf was’ in 48.d). 37 Belege mit Lokaladverbial wie in (d) finden sich häufiger in Prüfungskontexten in den institutionellen Gesprächen. Der vom Sprecher anvisierte Effekt ist hier eine Begrenzung bzw. Abschwächung des eingeräumten Nicht-Wissens gegenüber einer Formulierung ohne Lokaladverbial (‘in diesem Punkt weiß ich es nicht, ansonsten aber schon’). 4.2.4 was weiß ich 4.2.4.1 Formale Realisierung und Bedeutung In Verbindung mit einem w-Satz erinnert das Zielmuster an die so genannte „was-w-Konstruktion“, die in syntaktischen Analysen im Rahmen der Generativen Grammatik sehr ausführlich diskutiert wurde (vgl. van Riemsdijk 1983; Dayal 1994 und zahlreiche Beiträge in Lutz/ Müller/ Stechow 2000). Im Vordergrund steht bei diesen Arbeiten der Zusammenhang zwischen folgenden Strukturen (und dabei speziell der Status des einleitenden was und sein Bezug zum eingebetteten w-Satz bzw. dessen Einleiter in (49.c)): 37 Das Adverbial dann in (48.c) instanziiert das Frame-Element umstände in der Bedeutungsbeschreibung in (48), das Adverbial da in (48.d) dagegen das Element domäne. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 309 (49) a. X glaubt, dass Y Z getroffen hat. b. Wen glaubt X, dass Y getroffen hat? c. Was glaubt X, wen Y getroffen hat? Die als „partial movement“ (Stechow/ Sternefeld 1988) bezeichnete Konstruktion in (49.c) zeichnet sich durch das „Dummy-Pronomen“ was im Matrixsatz aus, das ihn als direkte Frage markiert, während das w-Pronomen, das das erfragte Satzglied des Nebensatzes repräsentiert, in dessen Spezifiziererposition „verbleibt“. Oberflächlich ähnelt (49.c) damit stark der Struktur unseres Zielmusters in (50.a), bei dem das was allerdings keinem „extrahierten“ Satzglied aus dem Nebensatz entspricht (vgl. 50.b). Generell liegt „die Funktion einer ‘echten’ Frage“ hier nicht vor, wie Imo (2007, S. 142) bemerkt. Stattdessen hat der Matrixsatz im Ganzen eine idiomatisierte Semantik, innerhalb derer das was keine eigene Bedeutungskomponente mehr bezeichnet (vgl. 50.c): (50) a. Wer aber die „Enkelgeneration“ der deutschen Politik sich ansieht, die Hintzes, Hubers und Hoyers und was weiß ich, wen man anführen müßte oder könnte, um den Parteienproporz nicht zu verletzen, dem drängt sich doch fast zwangsläufig die Parteienversion des Wolfgang-Leonhard-Wortes auf: „Der Parteienstaat entläßt seine Kinder.“ [DeReKo] b. *wen weiß ich, dass man anführen müßte oder könnte c. ich weiß nicht, wen man anführen müsste oder könnte 38 Wir analysieren was weiß ich also als idiomatisierten Chunk mit der literalen Bedeutung ‘ich weiß nicht’, der sich in (50.a) wie einfaches wissen bzw. nicht wissen regulär mit einem w-Satz in Objektfunktion verbindet. Entsprechend setzen wir als Spenderstruktur unseres Zielmusters auch nicht die so genannte was-w-Konstruktion an, sondern Verwendungen, in deren Kontext sich die genannte idiomatische Bedeutung etablieren und verfestigen konnte. Ein plausibler Kandidat dafür sind responsive Gebräuche von was weiß ich als eigenständige Turnkonstruktionseinheit, d.h. als rhetorische (Gegen-) Frage im Sinne von ‘Was weiß ich schon / kann ich schon sagen zu diesem Thema? ’. In FOLK finden sich für diesen Gebrauch keine Belege, wohl aber in den Webforendiskussionen im ungleich größeren DECOW2012-Korpus (responsiv und beitragsinitial syntaktisch freistehend): 38 Die Tatsache, dass das was weiß ich in (50.a) - und allen folgenden Beispielen in diesem Abschnitt - durch ich weiß nicht oder auch keine Ahnung ersetzt werden kann, besagt nicht, dass es hier auch wirklich im Sinne der literalen Bedeutung von ich weiß nicht (‘ich befinde mich im Unklaren über X’) gebraucht wird. Die Beobachtung zeigt aber, dass die genannten drei Formeln bei identischer Quellbedeutung auch parallele pragmatisch-interaktive Funktionen herausgebildet haben (vgl. Abschnitt 5). Arne Zeschel 310 (51) Superputze: Kann man bei Thunderbird keine (gmx)Accounts integrieren : eek: ? Lenina: Was weiß ich. Ich benutze ihn nicht. Wenn ich sowas benutzen würde, würde ich nur zu diesem greifen. Wäre aber seltsam, wenn das nicht ginge. Loki: doch, ich rufe z.B. das Bild der Woche mit Thunderbird ab. https: / / www.civforum.de/ archive/ index.php/ t-15455-p-9.html [DECOW2012] Neben der Bedeutung ‘ich weiß nicht’ kann in der Gegenfrage als Implikatur auch eine bestrittene Relevanz der Ausgangsfrage mitschwingen (‘Wie kommst da darauf, dass ich zu dieser Frage etwas beizutragen habe? ’), die sich in bestimmten relevanzabschwächenden Verwendungen des Idioms was weiß ich fortschreibt (siehe unten). 39 Unabhängig davon, ob diese Vermutung zur Entstehung des abgespaltenen Zielmusters historisch zutrifft, ist eine synchrone Assoziation von was weiß ich mit der Bedeutung ‘ich weiß nicht’ unbestreitbar. Als konventionalisierte (und in Grenzen abwandelbare) Mehrworteinheit ist es frei mit sehr unterschiedlichen Bezugsstrukturen kombinierbar. Solche Verbindungen gibt es zunächst einmal genau wie bei einfachem wissen auch mit w- und ob-Sätzen: (52) a. Was weiß ich, warum du nach Schwetzingen fährst. [S-L] b. Auch wenn da von Importeuren die Rede ist, was weiß ich, ob Firma XY (oder CS) in DE produziert ... [K-M] Strukturell verwandt ist die Kombination mit einem w-Pronomen oder -Adverb, die formal wie eine „Sluice“-Ellipse aussieht (Ross 1969; Hopper 2015): (53) a. also ich glaube da musste im muss man erst einen Paddelschein [was weiß ich was] haben [M-I] b. oder Freunde der Kinder oder [was weiß ich wer] oder so [M-A] c. die geht morgens [was weiß ich wann] aus dem Haus [M-I] d. irgendwo im Münsterland [was weiß ich wo] [FOLK_E_00147_SE_01_T_04, c543, Interview] 39 Im Wahrig-Wörterbuch wird was weiß ich als „unwillige Ablehnung“ charakterisiert und wie folgt paraphrasiert: „ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht“ (Wahrig-Burfeind 2011, S. 1667). Exakt dieselbe Paraphrase findet sich auch im Duden-Wörterbuch (Dudenredaktion 2001, S. 1822). Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 311 e. oder von Straßburg oder [was weiß ich woher] [FOLK_E_00064_SE_01_T_05, c590, Schlichtungsgespräch] f. das lernt man in der [was weiß ich wievielten] Klasse [M-I] g. wenn Dein Vater Arzt wäre mit [[was weiß ich wie] [viel]] Geld auf dem Konto [M-A] h. Kommste an ist dein Zug verkauft, oder der kommt [[was weiß ich wie] [spät]] und du sitzt rum und weißt nicht was Sache ist. [K-M] Im Gegensatz zu „regulären“ Sluices sind Kombinationen von was weiß ich und w-Element aber nicht immer zu syntaktisch vollständigen Sätzen expandierbar, vgl. die geht morgens [was weiß ich wann (das ist)] aus dem Haus vs. der kommt [was weiß ich wie (*das ist)] spät. 40 Die Semantik der Fügung ist in manchen Fällen mit ‘beliebiger Referent’ (53.a, b) oder ‘beliebige Spezifikation’ (53.d, e) anzusetzen, in anderen hingegen mit ‘extreme Ausprägung’ (53.g, h). Das was weiß ich ist allein nicht weglassbar (*irgendwo im Münsterland wo, *oder der kommt wie spät und du sitzt rum), substituierbar ist immer nur die zusammengesetzte Form bestehend aus was weiß ich + Pronomen/ Adverb, die in Fällen des ersten Typs dann wie ein Indefinitpronomen (53.a, b) oder -adverb (53.c-e) fungiert. Im Ersetzungsausdruck entspricht das was weiß ich in diesen Fällen dem Präfix irgend- (irgendwas, irgendwer, irgendwann etc.). In Fällen des zweiten Typs realisiert das was weiß ich gemeinsam mit dem Adverb wie die Bedeutung ‘sehr’. Als Implikatur kann die Intensitätsbedeutung auch bereits in Kombinationen mit anderen w-Elementen auftreten: die geht morgens was weiß ich wann aus dem Haus in (53.c) bedeutet nicht ‘zu einem beliebigen Zeitpunkt’, sondern ‘besonders früh’. 41 Die Abgrenzung dieser beiden Varianten ist nicht immer leicht: In Beispiel (53.f), in der was weiß ich wievielten Klasse, scheint eine Kombination von [was weiß ich] und [wievielten] vorzuliegen (‘irgendwievielten’), in (53.g) hingegen eher eine von [was weiß ich wie] und [viel] (‘sehr viel’), analog zu (53.h), wo das Adjektiv spät im Gegensatz zu viel auch nicht als mit wiezusammengerücktes Adverb interpretiert werden kann (*wiespät). In Beispielen wie (53.f) fungiert das was weiß ich mithin wie ein 40 Möglich wäre hier zwar was weiß ich wie spät das ist, anders als bei Die geht morgens [was weiß ich wann das ist] aus dem Haus würde man das spät dann allerdings dem w-Satz zuschlagen. Eine analoge Vervollständigung der scheinbaren Sluice-Struktur zu einem vollständigen w- Satz, der ein bestimmtes Bezugselement im übergeordneten Satz hat (hier das Adjektiv spät), ist in (53.h) nicht möglich. 41 Die inferierte Qualität früh verdankt sich hier dem begleitenden Adverb morgens, in der parallelen Konstruktion die kommt abends was ich wann nach Hause wäre entsprechend eher die Interpretation ‘besonders spät’ salient. Arne Zeschel 312 Wortbildungselement (irgend-), in (53.g) und (h) hingegen gewinnt es erst gemeinsam mit dem wie Bedeutung und verhält sich dann wie ein freies Morphem (‘sehr’). Noch klarer morphologischer Natur als die irgend-Fälle in (53) ist das Beispiel in (54), in dem das was weiß ich im Wortinneren auftritt und das Erstglied des Determinativkompositums Gummimaterial modifiziert: (54) FOLK_E_00066_SE_01_T_02, c682 Gespräch unter Freunden [M-A] 01 AL (komm) ich glaub frÜher hatten die in den ALten bremsklötzen-= 02 =muss auch Irgendwie en bissle meTALL noch mit drin gewesen sein; 03 (0.5) 04 JO hm; 05 AL weil wenn de dann so DRAUFgekuckt hasch, 06 du hasch [immer die STRAHle gesehen.] 07 UD [hat immer geGLITzert ja. ] 08 AL ja. 09 (1.29) 10 AL weiß net ob se da meTALL mit reingemacht ham, 11 oder de 12 ob des tatsächlich der abrieb von den FELgen war. 13 (0.28) 14 AL was sich dann in des 15 (0.74) gUmmi was weiß Ich matrial da EINgebrannt is; 16 (0.6) 17 DU hm_m. 18 (0.21) Drittens schließlich kann was weiß ich auch ohne weiteres Element erscheinen. Es kann dabei vor einer Phrasengrenze stehen und Skopus über eine Maximalprojektion haben (55.a), alternativ auch im Inneren einer Phrase auftreten und Skopus über den Kopf besitzen (55.b) oder auch gar keinen Skopus haben und stattdessen für eine Phrase substituieren (55.c, Gebrauch im Sinne von ‘und ein paar Zerquetschte’): (55) a. waren ja irgendwie [[was weiß ich] [über [dreißig Grad]]] angekündigt oder so [M-A] Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 313 b. dass man da jetzt nicht [mit [einem [[was weiß ich] [Dodge sonstnochwas]]]] durch die Gegend fährt [M-A] c. und die soll ich einzahlen auf das und das Konto also den Gesamtbetrag von [dreiundfünfzig was weiß ich] [M-A] In reduzierten Varianten können sowohl das initiale (56.a) als auch beide Vorkommen des was entfallen (56.b). Dass es in der Vollform eigentlich Bestandteil der Formel ist, erweist sich deutlich in (56.c), weiß ich für fachliche Sachen, in dem das für Bestandteil des komplexen und hier teilelidierten Interrogativpronomens was für ist und hier allein nicht auftreten könnte: (56) a. dieser Hintergrund dass halt weiß ich was so in England die Provokation halt noch mal eine andere ist mit dem Hakenkreuz [M-A] b. linke obere ecke von den Büchern weiß ich einen zentimeter weg oder so [FOLK_E_00091_SE_01_T_01, c648, Maptask] c. da kann man auch offener über ja weiß ich für fachliche Sachen dann sprechen [M-I] Zusammengefasst ist die Formel also ausgesprochen vielseitig einsetzbar und dabei weder strukturell noch semantisch auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. Im nächsten Abschnitt werfen wir nun einen Blick auf ihre Funktionen. 4.2.4.2 Pragmatik und Interaktion Die Funktionen von was weiß ich gliedern sich in drei Gruppen: die Markierung von Vagheit, was noch nah an der „semantischen“ Bedeutung der Formel liegt, eine intensivierende Funktion sowie verschiedene Gebräuche als Gliederungssignal. Im Einzelnen unterscheiden wir: - Vage Platzhalter (ohne Skopus über einen Bezugsausdruck) - Heckenausdrücke (mit Skopus über einen Bezugsausdruck) - Intensivierer (mit Skopus) - Gliederungssignale am Beginn eines Turnabschnitts (mit Skopus) - Gliederungssignale am Ende eines Turnabschnitts (mit Skopus) Die klar häufigsten Funktionen von was weiß ich in der Stichprobe sind Verwendungen als Gliederungssignal am Beginn oder Ende eines Turnabschnitts, d.h. die Markierung einer Grenze (je 40% der mündlichen Belege). Markiert Arne Zeschel 314 die Formel den Beginn eines Abschnitts, handelt es sich dabei stets um eine Veranschaulichung und die Bedeutung von was weiß ich kann mit ‘beispielsweise’ paraphrasiert werden: (57) FOLK_E_00055_SE_01_T_02, c764 Tischgespräch [M-A] 01 AM °h aber wie geSAGT; 02 des i: s 03 man kriegt dann mehr TRINKgeld ne? 04 wenn man [halt ] [geTRENNT zahlt ja; ] 05 US [ʔm_hm.] 06 NH [wenn jeder EINzeln zahlt,] 07 ich glaube AUCH dass die me[hr bekommen. ] 08 US [ ja wenn jed]er so_n krummen fünfundDREIßig betrag hat oder so- 09 AM [geNAU; ] 10 US [ un] [jeder rundet voll AUF, ] 11 AM [dann machen alle FÜNFzig] oder 12 NH [ja aber] besOnders bei geTRÄNken; 13 US [hm ] 14 AM [(schon)] 15 NH we_man jetz: 16 was weiß ICH- 17 COCKtails trinken wa: r oder so; 18 dann rundet man ja SCHON immer, 19 (1.38) Thema des Ausschnitts sind Gepflogenheiten der Trinkgeldgabe. Sprecherin NH etabliert zunächst einen Oberbegriff (Getränke) bzw. aktiviert die relevante Domäne, in die das Konzept eingebettet ist (Trinkgeldgabe für Getränke in der Gastronomie), bevor sie mit was weiß ich ein veranschaulichendes Beispiel anschließt (man war Cocktails trinken). 42 Wie in (57) haben solche Veranschaulichungen typischerweise die Form eines wenn-Satzes (50% der Belege), wiederholt finden sich aber auch NP-Expansionen, entweder mit also so (58.a) oder ohne weiteres Bindeglied (58.b, c): 42 Präziser gesagt markiert das was weiß ich in diesem Beleg also nicht den Beginn der veranschaulichenden Struktur (die der gesamte wenn-Satz darstellt), sondern steht innerhalb dieser Struktur unmittelbar vor dem exemplifizierenden Ausdruck selbst (Cocktails trinken). Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 315 (58) a. war da irgendwie eine Einheit dabei also so was weiß ich an was erkenne ich irgendwie eine LRF oder so einen Kram [M-I] b. weiß ich jetzt ist mir nicht ganz klar ob man das in das Hausaufgabenheft einfach vielleicht reinschreiben sollte was weiß ich wir haben jetzt diese Woche die Fünfer Reihe geübt [M-I] c. Du hast doch noch immer so einen Haufen Zeug gekauft was weiß ich äh Motoren und was weiß ich Boote basteln und so ein Zeug [M-I] Typischerweise treten solche Veranschaulichungen turnmedial im Rahmen längerer Multi-Unit-Turns auf. Sie können aber auch fremdinitiiert sein: (59) FOLK_E_00022_SE_01_T_04, c517 Meeting in einer sozialen Einrichtung [M-I] 01 SZ ja; 02 ich find_s daNEben, 03 und ich find_s net GUT- 04 und ich find er hat da ürgenwie keinen 05 °h BLICK dafür, 06 und auch äh die konversaTIOnen mit den kIndern äh find ich- 07 (0.22) mehr als GRENZwertig; 08 (0.86) 09 SZ zum TEIL. 10 also die THEmen die da besprochen werden- 11 (0.59) 12 HM ((schmatzt)) [zum BEI]spiel? 13 SZ [ä: hm ] 14 (0.65) 15 SZ äh pf: 16 (2.01) was weiß ICH ; 17 (0.51) äh seine HOBbies- 18 was seine FREUNde wieder am laufen ham- 19 äh (0.87) welche äh welche gEIlen tEUren AUtos- 20 äh 21 (0.94) äh ma sich KAUfen muss, 22 und äh was 23 (.) also so_n bissle auf diese KUMpel; Arne Zeschel 316 24 (0.21) 25 HM hm. 26 (0.52) 27 SZ SCH[IEne d]a. 28 BS [hm. ] 29 SZ wie mit seinem kumpanen da beim faschings ähm (0.66) UMzug- Die Verbindung zur Quellbedeutung unklarheit liegt hier jeweils in der Tatsache, dass das angeführte Beispiel eines unter mehreren denkbaren ist, die hätten gewählt werden können (‘welches soll ich nehmen’). Abschnittbeendend wird die Formel als „generalized list completer“ (Jefferson 1990; Lerner 1994) bzw. als „general extender“ 43 im Sinne Overstreets (2005) gebraucht, die diese Ausdrücke weiter in „adjunctive general extenders“ (beginnend mit and/ und) und „disjunctive general extenders“ (beginnend mit or/ oder) differenziert. Neben Anbindungen mit und (44%, 60.a) bzw. oder (25%, 60.b) sind aber immerhin 31% der Vorkommen in dieser Funktion in unserer Stichprobe gar nicht von einer Konjunktion eingeleitet (60.c). Die Bedeutung von was weiß ich in dieser Funktion lässt sich mit ‘und so weiter’ bzw. ‘oder so’ paraphrasieren (Fälle ohne Konjunktion sind ambig): (60) a. und wenn wir auf Besuch waren irgendwie Tanten und Onkels und was weiß ich da wurde Platt gesprochen [M-A] b. und da hatte ich so eine Not dass die mir vielleicht kaputt gehen oder was weiß ich weil ich die ja zu einer ziemlich unnötigen Zeit oder unsinnigen Zeit umgepflanzt habe [M-A] c. also man muss ganz oft hin und her schalten deswegen ist es wäre es unpraktisch jedes mal wieder Gas aufzudrehen was weiß ich also drehst Du Gas einmal auf machst es [M-A] König/ Stoltenburg (2013) verwenden für Elemente wie und so weiter und oder so in Anknüpfung an Schwitalla (2003) dagegen die Bezeichnung „Etcetera- Formel“. Sowohl in ihrer Untersuchung als auch in der englisch-deutsch kontrastiven Studie vom Overstreet (2005) wird am Rande auch was weiß ich erwähnt, jedoch nur in Verbindung mit einleitender Konjunktion. 44 König/ 43 „[G]eneral extenders are typically phraseor clause-final expressions with the basic syntactic structure, conjunction + noun phrase, which extend otherwise complete utterances (hence, ‘extenders’). They are also non-specific in their reference (hence, ‘general’)“ (Overstreet 2005, S. 1847). 44 Bei König/ Stoltenburg wird zudem nur und was weiß ich betrachtet, das parallele oder was weiß ich dagegen ausgeschlossen (vgl. unsere Diskussion zur Heckenfunktion von was weiß ich weiter unten im Text). Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 317 Stoltenburg (2013, S. 20) bemerken, dass „die in zahlreichen Studien postulierte Orientierung an einer Dreiteiligkeit von Listen (etwa Jefferson 1990, Lerner 1991, 1994, Selting 2004)“ anhand ihrer Daten nicht bestätigt werden kann, in denen die grenzmarkierende Formel typischerweise bereits nach einem einzigen vorgenannten Element erscheint. Auch in unseren Daten zu was weiß ich ist der Abschluss komplexer Listen wie in (61) selten: (61) FOLK_E_00066_SE_01_T_04, c861 Gespräch unter Freunden [M-A] 01 AL un devisen ausführen aus russland war damals strengstens verBOten, 02 (1.12) 03 AL da hat er halt (0.57) was es zu kAUfen GAB, 04 für GELD, 05 hat er halt geKAUFT ne, 06 und dann hat er irgendwann n PELZ mitgebracht- 07 un GOLDschmuck- 08 un ne KAmera- 09 und was weiß ICH alles, 10 (0.59) un die restlichen RUbel da- 11 am BAHNhof dann- 12 pft 13 (0.69) in die MENge geworfen; Vermeintlich typische Listen, bestehend zwei Elementen und Grenzmarker, machen nur ein Viertel der Belege aus, und der Beleg in (61) ist der einzige für eine noch längere Liste. In der Regel erscheint abschnittbeendendes was weiß ich auch in unseren Daten nach nur einem einzigen vorgenannten Element: (62) ne im hauseigenen Safe jetzt oder was weiß ich [M-A] Aus diesem Grund halten wir die Bezeichnung „Grenzmarker“ für angemessener für die hier illustrierte Funktion von was weiß ich als eine Kennzeichnung als „list completer“: Die von was weiß ich geschlossene Struktur kann eine Liste sein (wie in 61), muss es aber nicht. Betrachten wir dazu Beispiel (62) noch einmal mit etwas mehr Kontext. Sprecherin TU erzählt, dass bei Bekannten in die Ferienwohnung eingebrochen wurde und welche Probleme sich daraus ergaben: Arne Zeschel 318 (63) FOLK_E_00161_SE_01_T_04, c10 Gespräch in der Familie [M-A] 01 TU RIChtich. 02 (.) darum das MEINT ich; 03 das MUSST du wenn die möglich[keit] beSTEHT, 05 FK [ja. ] 06 TU oder SO; 07 oder wenigstens beim pf 08 (.) Irgendwo bei einer person LAg[ern, ] 09 NM [hm_m.] 10 FK ja. 11 NM hm. 12 TU wo man weiß dass diese: diese gegenstände eigenlich immer irgendwie be[WACHT sind oder so.] 13 FK [ja JA. ] 14 TU [oder halt] 15 FK [ja JA. ] 16 TU °h beim hotel sogar an der rezepTION. 17 (0.09) 18 FK hm_m; 19 TU ne? 20 im hauseigenen SAFE jetz; 21 oder was weiß ICH. 22 und ähm 23 (0.73) 24 TU (xxxx) wär natürlich ÄRgerlich- 25 wenn so_ne superteure digiTALkamera, Das was weiß ich steht am Ende einer längeren Ausführung, wie im Urlaub mit Wertgegenständen zu verfahren ist, damit Versicherungsschutz für sie besteht. Am besten sei es, wenn die Gegenstände immer irgendwie bewacht sind, was in einem Hotel z.B. an der Rezeption der Fall sei. Wiederum fungiert die was weiß ich-TCU dabei als eine veranschaulichende Elaboration, wie eine sichere Verwahrung im Hotel genau aussehen kann - z.B. nämlich im hauseigenen Safe. Damit ist der Abschnitt beendet und die Sprecherin kehrt nach einer kurzen Pause zum konkreten Fall ihrer Bekannten zurück. Ähnlich wie in den Gebräuchen als Startmarker (‘beispielsweise’) markiert die Formel hier, dass die gewählte Elaboration eine unter mehreren denkbaren ist (‘oder so’), die hätten gewählt werden können. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 319 Eine andere Art von Skopusstruktur illustriert (64): Hier ist der beendete Abschnitt eine Redewiedergabe. Sprecherin US erzählt von den Vermietern ihrer neuer Wohnung und ihrer anfänglichen Befürchtung, dass sie kein gutes Auskommen mit ihnen haben würde. Prosodisch ist die TCU ja da sind Brösel von der Farbe abgefallen als Wiedergabe einer Äußerung der Vermieterin markiert: (64) FOLK_E_00055_SE_01_T_05, c439 Tischgespräch [M-A] 01 US also zum [STREI]chen war mo_s erste mal DA, 02 NH [hm_m.] 03 US dann erscheint sie schon an der TÜR, 04 ja- 05 da sin brösel von der FARbe abgfallen. 06 was weiß ICH. 07 °h [also am Anfang ham wa ja] 08 AM [die im f TREPpenhaus l]agen; 09 (0.24) 10 US genau. 11 (.) also am [ANf]ang ham wa wirklich dacht- 12 NH [ja.] 13 (0.2) oh GOTT; 14 US jetz ham_er dacht wir ham sO ne tolle WOHnung gfunden- 15 und jetz [ham_er so sch] 16 NH [und jetz ] 17 [äh ja.] 18 US [°h un ] dann hat sich_s ja relatiVIERT? 19 weil es lässt sich ja Echt mit denen LEben, 20 so wie ich_s halt erZÄHLT hab In (64) tritt zu der bloßen Endmarkierung ein distanzierendes Element hinzu: Was die Vermieterin dort im Treppenhaus stehend noch zu sagen bzw. monieren hatte, wird als so nichtig, abstrus und irrelevant perspektiviert, dass es weiterer Aufmerksamkeit der Sprecherin und ihrer Adressaten nicht würdig ist und in der Schilderung ausgespart bleiben kann. 45 Sowohl die exempla- 45 Ähnliche Fälle finden sich in den Daten z.B. auch bei selbstironisch-distanzierender Wiedergabe von Gedanken, die dem Sprecher persönlich in einer bestimmten Situation durch den Kopf gegangen sind, ihm jedoch selber deplatziert erscheinen und nun z.B. für belustigenden Effekt zum Besten gegeben werden. Hier wirkt die in Abschnitt 4.2.4.1 angesprochene Implikatur der Irrelevanz oder Unangemessenheit der Frage nach, die von der Gegenfrage was weiß Arne Zeschel 320 risch elaborierende Verwendung in (63) als auch die gerade nicht weiter elaborierende, distanzierende Verwendung in (64) mobilisiert und unterstreicht common ground zwischen den Partnern, wie auch Overstreet (2005) und König/ Stoltenburg (2013) bemerken: Indem der Sprecher signalisiert, dass ein von ihm begonnener Einschub bei Bedarf problemlos vom Partner fortgesponnen werden kann oder könnte, markiert er eine Unterstellung von Intersubjektivität bezüglich der intendierten Gehalte und ihrer Perspektivierung. 46 Egal ob öffnend oder schließend gebraucht, fungiert was weiß ich in den bisher diskutierten Verwendungen als „Klammer“ im Sinne von Schiffrins (1987, S. 31) Kennzeichnung von Diskursmarkern als „sequentially dependent elements which bracket units of talk“: Es ist ein Start- oder Endmarker für einen bestimmten Bestandteil des aktuellen Turns. Anders als klassische Beispiele für Diskursmarker ist der Skopus von was weiß ich dabei aber nicht diffus auf ggf. gar nicht mehr genau spezifizierbare Diskurssegmente erweitert, sondern sehr klar mit bestimmten Bestandteilen des aktuellen Turns zu identifizieren, die es an- oder abführt. Eine turnstrukturierende Klammerfunktion liegt jedoch nicht in allen Verwendungen vor. Eine weitere Funktion von was weiß ich (13% der Fälle) ist die Verwendung als Heckenausdruck. In dieser Verwendung kann die Formel sowohl voran- (65.a) als auch nachgestellt sein (65.b) und ist am geeignetsten mit ‘ich weiß es nicht genau’ zu paraphrasieren: (65) a. waren ja irgendwie [[was weiß ich] [über dreißig Grad]] angekündigt oder so [M-A] b. um zwölf in den ersten und dann um [[dreizehn Uhr] [oder was weiß ich]] oder vierzehn Uhr gleich in den zweiten [M-A] Wie andere Heckenausdrücke auch tritt vagheitsmarkierendes was weiß ich häufig im Kontext weiterer Unschärfemarker auf (vgl. irgendwie und oder so in 65.a). Die Ähnlichkeit der Bedeutungen ‘ich weiß es nicht genau’ und ‘oder so’ in (65.a) unterstreicht die enge Verbindung zu abschnittbeendendem oder was weiß ich, das bei König/ Stoltenburg (2013) in der Tat auch pauschal als retraktiver Heckenausdruck und nicht als „Etcetera-Formel“ analysiert wird. Grund hierfür ist ihre Konzentration auf Formeln, die „eine potenzielle Fortsetzbarkeit einer Äußerung zum Ausdruck bringen“ (König/ Stoltenburg 2013, S. 9), was sie bei oder was weiß ich nicht gegeben sehen. Sie wenden sich damit gegen die Analyse von Overstreet (2005), derzufolge oder was weiß ich zwar ich in der vermuteten Spenderstruktur transportiert wird: es kann vom Sprecher nicht verlangt werden, sich weitergehend mit dem in Rede stehenden Gegenstand zu befassen. 46 „General extenders [...] signal that further processing in referential terms is not required. In essence, they are used to signal an assumption of interpersonal understanding or what is technically described as intersubjectivity“ (Overstreet 2005, S. 1851). Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 321 ebenfalls vagheitsmarkierend ist, 47 darüber hinaus allerdings auch „Extender“- Funktion besitzt. 48 Beide Analysen sind korrekt, denn oder was weiß ich kann in beiden Funktionen gebraucht werden. In Beispiel (62) bzw. (63) oben (im hauseigenen Safe jetzt oder was weiß ich) ist eine potenzielle Fortsetzbarkeit des Elaborationseinschubs gegeben, und der Formulierungsvorschlag in der PP ist nur eine Option unter mehreren denkbaren im Sinne Overstreets. In (65.b) ist oder was weiß ich hingegen klar ein Heckenausdruck: Es geht um die Angabe genau einer bestimmten, der Sprecherin gerade nicht exakt präsenten Uhrzeit, nicht um eine potenziell fortsetzbare Auflistung verschiedener Zeitpunkte, die in einem bestimmten Zusammenhang zueinander stehen. 49 Deutlich liegt die Heckenfunktion auch in (66) vor, in dem eine bereits intern unschärfemarkierte NP von beiden Seiten mit was weiß ich gerahmt wird: (66) FOLK_E_00052_SE_01_T_01, c198, c200 Alltagsgespräch [M-A] 01 SK ich komm mir nich so vor als wär ich in ner [BURG; ] 02 LS [ja aber]des is ja jetz auch noch beWOHNT von diesem- 03 was weiß ICH- 04 WAS war des? 05 (0.61) 06 LS irgendn präsiDENT- 07 oder was weiß ICH. Eng verbunden sind Verwendungen als Heckenausdruck auch mit solchen als vager Platzhalter für eine genauere Spezifikation (9%). Dabei fungiert was weiß ich (+w-Element) nicht als Unschärfemarker, der über einen Ausdruck Skopus hat, sondern es i s t dieser Ausdruck selbst (67.a) bzw. ersetzt ihn als Indefinitpronomen (67.b) oder Indefinitadverb (67.c). Im Fall von was weiß ich was und auch bloßem was weiß ich lässt sich die Bedeutung dieser Verwendung mit ‘irgendwas’ paraphrasieren, erscheint die Formel mit einem anderen w-Element, bedeutet sie ‘irgend-’: 47 „[T]his phrase seems to indicate that the content of an utterance is potentially inaccurate, and that, from the speaker’s perspective, the accuracy is unimportant“ (Overstreet 2005, S. 1860). 48 „However, oder was weiß ich (noch alles) seems to have an additional function: to emphasize the existence of many possible alternatives along with an explicit acknowledgment (was weiß ich / ’what do I know’) that the speaker is not in a position to name them“ (Overstreet 2005, S. 1860). 49 Der retraktive Charakter von was weiß ich in (65.b) zeigt sich auch daran, dass sich mit oder vierzehn Uhr unmittelbar danach noch eine weitere Retraktion anschließt, mit der die Sprecherin die Argumentstelle der Präposition (neu-)besetzt. Arne Zeschel 322 (67) a. und die soll ich einzahlen auf das und das Konto also den Gesamtbetrag von [dreiundfünfzig was weiß ich] [M-A] b. oder Freunde der Kinder oder [was weiß ich wer] oder so [M-A] c. irgendwo im Münsterland [was weiß ich wo] [FOLK_E_00147_SE_01_T_04, c543, Interview] Nur einen einzigen Beleg gibt es in den Gesprächsdaten-Stichproben für die letzte hier angesetzte Funktion, die eines Intensivierers bzw. Gradmodifikators. Es handelt sich um das oben bereits genannte Beispiel in (68.a), weitere lassen sich in einem größeren Korpus wie DECOW2012QS aber problemlos finden (68.b-d), wo es mehrere hundert Treffer dafür gibt. Als Gradmodifikator ist was weiß ich fest mit dem Adverb wie verbunden, seine Bedeutung lässt sich als „Amplifier“ des Subtyps „Booster“ (Quirk et al. 1985) mit ‘sehr’ oder ‘besonders’ paraphrasieren: (68) a. wenn Dein Vater Arzt wäre mit [[was weiß ich wie] [viel]] Geld auf dem Konto [M-A] b. Und selbst wenn ein Spieler sich einmal [[was weiß ich wie] [krass]] im Ton vergreift, wenn das ein Grund ist (auch wenn er sich entschuldigen würde) ihn aus dem Spiel zu Bashen ist das ein relativ schwacher Versuch die Handlungen egal wie zu rechtfertigen. http: / / board.wildguns.de/ board31-archiv/ board33-archiv-rathaus/ board157archiv-hilfe-support/ 7330-dauerhaftes-bashing/ index2.html [DECOW2012] c. Synthetisches Öl heißt ja nicht gleich, dass es auch [[was weiß ich wie] [umweltschädlich]] ist. http: / / www.rc-car-driver.de/ archive/ index.php/ t-5702.html [DECOW2012] d. Klar, deswegen muss es ja auch solche Charas geben, und außerdem, hätten ausnahmslos alle ne [[was weiß ich wie] [düstere]] Vergangenheit, wär's eh auch wieder nicht mehr unbedingt so realitätsnah. http: / / forum.dragonballz.de/ archive/ index.php/ t-35770-p-7.html [DECOW2012] Gradmodifizierendes was weiß ich wie erscheint wie in dem FOLK-Beleg in (68.a) typischerweise mit viel (mehr als die Hälfte der Belege in DE- COW2012QS), zeigt aber auch durchaus Generalisierungstendenzen (neben Dimensionsadjektiven wie lang, weit, hoch etc. finden sich unter den modifizierten Köpfen z.B. auch evaluative Adjektive wie gut, schlecht, toll usw., zudem auch Adverbien wie oft). Des Weiteren kann was weiß ich wie auch in Verbindung mit Verben bzw. Verbalphrasen eingesetzt werden. In manchen dieser Gebräuche ist es ebenfalls mit sehr substituierbar und intensiviert ein Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 323 inhärentes Merkmal des Verbs (69.a), in anderen Fällen müsste dafür zusätzlich noch eine inferierte Qualität ergänzt werden, in (69.b) z.B. gut: (69) a. ich hab echt nichts gegen take that, ich finde die meisten ihrer lieder echt geil, aber ich finde bsb hat bei weitem mehr hits gehabt die auch bei weitem mehr leute kennen aber trotzdem werden bsb immer als „teenie band“ abgestemeplt und take that [[was weiß ich wie] [gelobt]] *sigh* http: / / www.gilmoregirls.de/ forum/ archive/ index.php/ t-8302-p-2.html [DECOW2012] b. Na ja ich denke mal das der Charakter immer noch am wichtigsten ist...was sollte ich mit jemanden der [[was weiß ich wie] [aussieht]] aber ein totales Arsch ist? http: / / forum.dragonballz.de/ archive/ index.php/ t-13247.html [DECOW2012] Aufgrund seiner formalen und semantischen Besonderheiten kann gradmodifizierendes was weiß ich wie als eigenständige Konstruktion betrachtet werden. Trotz Konventionalisierung der Intensitätsbedeutung wirkt aber auch die ursprüngliche Funktion der Formel als Vagheitsmarkierung weiter nach. Gestützt durch einen geeigneten Kontext wie in (70) kann die mit dem Schema [was weiß ich wie Adj] verknüpfte Intensitätsbedeutung sogar auch noch komplett suspendiert werden: (70) Woher sollen die schließlich wissen, dass der auf dem Motorrad 16, 18, 20, [[was weiß ich wie] [alt]] ist, da er eh in voller Montur fährt. http: / / www.wartower.de/ forum/ archive/ index.php/ t-65012-p-3.html [DECOW2012] Hier liegt „Persistenz“ der Quellbedeutung im Sinne Hoppers (1991) vor. Ohne entsprechend stützenden Kontext bedeutet was weiß ich wie alt hingegen ‘sehr alt’. In der abgespaltenen Formel was weiß ich wie tritt insofern klarer zutage, was in einigen der oben diskutierten „vagen Platzhalter“ (wie die geht morgens was weiß ich wann aus dem Haus) bereits als Implikatur angelegt ist: die Einschränkung der vagen Spezifikation auf einen bestimmten Skalenbereich, durch die aus einem allgemeinen Vagheitsmarker ein Schema für vage „extreme case formulations“ (Pomerantz 1986) wird. Profiliert ist der obere Bereich der jeweils evozierten Skala (‘sehr’ statt ‘kaum’), was angesichts der übrigen Funktionen der Formel als Marker eines Reichtums an Optionen nicht verwundert: ‘ich kann nicht alle Optionen aufzählen’, ‘ich kann nicht die ganze Rede wiedergeben’, ‘ich kann nicht alle Beispiele anführen’ etc. implizieren allesamt ‘aber es gäbe mehr, das man anführen könnte’. Arne Zeschel 324 5. Diskussion Zum Einstieg in die Diskussion beginnen wir mit einer kurzen Zusammenfassung der Resultate. Der Medialitätsvergleich ergibt bereits rein semantisch für beide Verben deutliche Kontraste: Im Fall von denken bestehen die Gesprächsdaten quasi nur aus (als Matrixprädikat gewerteten) Stancemarkierungen, Einleitungen für Gedankenwiedergaben und verschiedenen Diskursmarkervorkommen; die restlichen elf Lesarten kommen zusammengenommen auf einen Anteil von gerade noch 9 bzw. 16% der Daten (in den Alltagsgesprächen bzw. institutionellen Interaktionen). Bei wissen besteht die Auffälligkeit in einer markanten Assoziation der Gespräche mit der Lesart unklarheit. Entsprechende Verwendungen können neben tatsächlichem Nicht-Wissen, d.h. einer Abwesenheit von Kenntnissen, auch lediglich unsicheres Wissen signalisieren und somit als epistemische Modalisierung fungieren. Von hier aus bestehen wie bei denken Übergänge in weiter verschobene, formelhafte Verwendungen (ebenfalls deutlich überrepräsentiert in den Gesprächen), die nicht mehr primär epistemische Rahmungen im Sinne der lexikalischen Verbbedeutung leisten, sondern verschiedene davon abgeleitete Funktionen auf pragmatisch-interaktiver Ebene wahrnehmen. Strukturell zeigen beide Verben in allen fünf Verwendungskontexten eine starke Tendenz zu Gebräuchen mit zwei Ergänzungen (durchschnittlich mehr als 70% der Belege bei denken und mehr als 80% bei wissen). Ist eine andere Anzahl von Ergänzungen realisiert, tendieren interaktive Kontexte zur Verknappung (bei beiden Verben eher eine als drei Ergänzungen im Gegensatz zu Verwendungen in Belletristik und Wissenschaft). Wie die Resultate zur Semantik bereits andeuten, umfassen die überall klar dominanten zweistelligen Belege aber jeweils recht unterschiedliche Gebräuche. Ein Einbezug der konkreten Argumentrealisierungsmuster ändert am Gesamtbild der bereits rein semantisch beobachtbaren Verteilungsunterschiede allerdings nur wenig. Vereinzelte Abweichungen ergeben sich bei nur punktueller Assoziation einer Bedeutung mit der Mündlichkeit, d.h. bei Überrepräsentation dieser Lesart allein im Rahmen eines bestimmten formalen Realisierungsmusters. Manche dieser Besonderheiten sind offenkundig sequenziell bedingt und in diesem Zusammenhang auch nicht unerwartet. Beispielsweise ist die insgesamt eher schrifttypische Lesart bekanntheit in der Mündlichkeit mit argumentreduzierten Mustern verbunden, hinter denen sich responsive Analepsen des Typs ich weiß / weiß ich verbergen (vgl. Helmer 2016). Umgekehrt sind innerhalb dieser Lesart aber z.B. auch Muster mit Mehrfachinstanziierung der Objektergänzung in den Gesprächen überrepräsentiert (das weiß ich ja dass die nicht so toll sind, [M-A]), was auf den ersten Blick weniger selbstverständlich ist und erst im Rahmen einer vertiefenden Analyse zu motivieren wäre (vgl. hierzu Proske/ Deppermann i.Vorb.). Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 325 Exemplarisch genauer betrachtet wurde hier stattdessen aber je eine pragmatische Formel mit denken und wissen, deren Prominenz in der Mündlichkeit aufgrund ihrer speziellen Gesprächsfunktionen nicht verwundert: ich denke und was weiß ich. Im Fall von ich denke ergab die Untersuchung zum einen, dass die in der umfangreichsten Analyse seines englischen Pendants I think (Kärkkäinen 2003, 2006) postulierten Funktionen in ähnlicher Weise sämtlich auch im Deutschen anzutreffen sind: Die Formel kann zur Überbrückung von Disfluenzen gebraucht werden, zur Bearbeitung von Problemen im interpersonellen Alignment, als Gliederungssignal sowie als Marker einer intendierten Turnbeendigung. Dazu kommt im Deutschen noch eine weitere Funktion, die der Anzeige vom aktuellen Interaktionsverlauf abweichender Annahmen und Erwartungen des Sprechers dient (vgl. auch Deppermann/ Reineke in diesem Band), die im Englischen nur mit I thought, nicht aber mit I think realisiert werden kann. Auch bei Verwendungen als Gliederungssignal zeichnen sich Unterschiede im Detail ab: Während Kärkkäinen (2003) allgemein von einer „starting point function“ von I think spricht (als Marker für „a boundary of some kind in the talk“, ebd., S. 121), weisen unsere Daten für ich denke konkreter auf die Markierung einer folgenden handlungsrelevanten Konklusion hin, die sich an eine vorangehende Erörterung anschließt. Angesichts der geringen Treffermenge für das Gliederungssignal unter den abgespaltenen ich denke-Belegen bedarf diese Beobachtung allerdings noch weiterer Überprüfung an einer größeren Datenmenge. Im Fall von was weiß ich wurden Funktionen als Gliederungssignal am Beginn (‘beispielsweise’) bzw. Ende eines Turnabschnitts (‘oder so’, ‘und so weiter’), als vager Platzhalter für eine genauere Spezifikation (‘irgendwas’, ‘irgendwann’, ‘irgendwo’ etc.), als Heckenausdruck (‘vielleicht, ungefähr’) sowie als Gradmodifikator (‘sehr’) unterschieden. Über diese Inventarisierung der angetroffenen Funktionen hinaus stellen sich nun eine Reihe weiterführender Fragen zu den untersuchten Ausdrücken, die verschiedene Ausbauperspektiven eröffnen. Sie betreffen u.A. die folgenden Punkte: - die Verflechtung von abgespaltenen Gebräuchen der Zielmuster mit ihren verbalen Spenderstrukturen - ihre Einbindung in Paradigmen von Ausdrücken ähnlicher Funktion - das Verhältnis der unterschiedenen Varianten zueinander Die erste Frage betrifft in der vorliegenden Studie nur ich denke, da im Fall von was weiß ich eine Parallelstruktur im Sinne einer literalen selbstgerichteten Frage allenfalls in sehr restringierten Kontexten vorkommen kann. Im Fall von ich denke suggeriert der Test von Auer/ Günthner (2005) zwar die Möglichkeit einer trennscharfen Unterteilung des Phänomenbereichs, indem er die Arne Zeschel 326 Identifikation von Belegen ermöglicht, die (aus unterschiedlichen Gründen) mit Eigenschaften der Spenderstruktur unvereinbar sind. Die auf diesem Weg isolierten Belege sind allerdings nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. Die Daten zu denken enthalten darüber hinaus noch viele weitere Fälle, in denen eine oder mehrere Eigenschaften der angesetzten Diskursmarkerverwendungen auch an (gemäß Test) kompositionellen Matrixprädikat-Verwendungen von ich denke + V2 festgemacht werden könnten, vgl. etwa (71): ( 71) FOLK_E_00026_SE_01_T_02, c1434 Meeting in einer sozialen Einrichtung [M-I] 01 HM also vielleicht Is der afach irgendwie äh zu: 02 (.) zu Überbehütet; 03 (1.87) 04 HM so nach den motto KANN em ja einich a nix passIEre; 05 (0.33) 06 SZ hm; 07 (0.21) 08 MS ja wenn äh 09 (0.67) des 10 (.) wenn d sO wie du des jetzt SACHST ne? 11 (0.54) is die struktur ja noch viel (0.55) z schlimmer also als ich die ganz zeit geDACHT hab vielleicht; 12 °hh weil wenn die mudder sich dAdrüber definiert wie wie schlimm_s_em jakob GEHT, 13 °h und der_s dann immer hin und HER, 14 und dem jakob geht_s BEsser- 15 bricht ja alles zuSAMmen; 16 wenn_s beim jakob BESser läuft. 17 (1.03) 18 MS dann STIMMT ja alles nimmer; 19 [is ja] alles nim[mer so wie_s WAR. ] 20 HM [hm_m.] 21 [ aber so si]n die net DRUFF; 22 des 23 also ich find des bei denen schwierig zu GREIfe; 24 ich glab sO sin se jetzt A widder net druff; 25 aber ich denk Afach irgndwie 26 °hhh ja; Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 327 27 (0.63) 28 HM es wird schon halt irgendwie e riese brimBOrium um den jakob gemacht. 29 MS hm_m. 30 (5.43) Hier ließe sich mit gleichem Recht von einer gewöhnlichen Meinungskundgabe (ich finde, dass ...), einer Disfluenzüberbrückung (gemeinsam mit „irgendwie“, „ja“ und der Pause) und einem Gliederungssignal sprechen: Teamleiter HM weist den Einwand von Mitarbeiterin MS zurück und schließt die Sequenz in dritter Position mit einem Fazit (um den Jungen wird ein Riesenbrimborium gemacht), das seine anfängliche Einschätzung reformuliert (der ist überbehütet) und nach der Ablehnung von MS’ Vermutung konklusionsmarkierend mit ich denk eingeleitet wird. Mit anderen Worten können Belege für eine lexikalisch-semantische Stancebedeutung wie ‘vermuten’ natürlich ohne Weiteres zugleich eine pragmatische Funktion als Verzögerungs- oder Gliederungssignal erfüllen. Ohne solche Überlappungen könnten sich abgeleitete prozedurale und gesprächsgliedernde Funktionen ja auch gar nicht erst aus der Quellstruktur herausbilden. Solche Entwicklungen vollziehen sich allerdings nur in bestimmten Verwendungskontexten, d.h. nicht jeder Gebrauch von denken in Lesart auffassung bringt das gleiche Potenzial mit, unter weitgehender Ausblendung seiner gewöhnlichen lexikalischen Bedeutung als primär prozeduralgesprächsstrukturierendes Element aufgefasst zu werden. Eine eher restriktiv gehandhabte Klassifikation von Diskursmarkern bietet vor diesem Hintergrund daher einerseits den Vorteil, nur solche Kontexte in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, in denen tatsächlich klar abgespaltene Verwendungen vorliegen. Der Blick auf relevante Merkmale dieser Kontexte (sequenziell, grammatisch, lexikalisch-kookkurrenziell) kann so nicht durch abweichende Kontextmerkmale anderer, noch rein propositional/ semantisch zu charakterisierender Verwendungen von ich denke verstellt werden. Andererseits geht mit einer solchen Operationalisierung natürlich auch eine entsprechende Verkleinerung der im Detail betrachteten Belegmenge einher, und Angaben zur relativen Prominenz einzelner Kategorien unter den ermittelten Funktionen beziehen sich allein auf die klar abgespaltenen Belege. Würde man in diese Zählung auch die uneindeutigen, prinzipiell noch verbal zu interpretierenden, zugleich jedoch in den ermittelten „kritischen Kontexten“ auftretenden Treffer hinzurechnen (wie etwa in Kärkkäinens Studie zu I think), erhielte man mithin ein ggf. recht anderes Bild der Prominenzverhältnisse zwischen den verschiedenen angesetzten Funktionen. Arne Zeschel 328 Ausbauperspektiven für die vorgestellten Analysen ergeben sich zweitens durch einen Vergleich mit konkurrierenden Konstruktionen. Im Fall von ich denke sind das parallele Strukturen wie etwa ich mein(e), ich glaub(e) und ich schätz(e), die teils identische, teils andere Funktionen innehaben. Insbesondere auch der sprachkontrastive Vergleich kann von solchen Erweiterungen profitieren. Beispielsweise schlägt Kaltenböck (2010) in einer Studie zu I think eine Kategorie vor, die er als „Approximator function“ bezeichnet. Statt über einen kompletten Satz hat I think hier nur Skopus nur über einen bestimmten Teilaspekt einer Proposition, den es als ungewiss markiert: (72) Uh in the uhm <,> I think [October issue] of Computational uh Linguistics there’s an attempt to do something of this type (Kaltenböck 2010, S. 247) Gebräuche als „Approximator“ treten innerhalb einer PP oder NP auf, haben Skopus nur über die unmittelbar folgende Konstituente und fungieren als Heckenausdruck. Solche Verwendungen sind auch im Deutschen möglich, mit ich denke aber eher ungebräuchlich: Bezeichnenderweise stammt die einzige entsprechende Verwendung in unseren Gesprächsdaten von einer Nicht- Muttersprachlerin (73.a). In einem größeren Korpus wie DECOW lassen sich zwar entsprechende Belege finden (73.b, c), die klar präferierte Option für diese Funktion ist im Deutschen aber ich glaube (73.d): (73) a. ich habe [einen Kurs äh ich denke in der Abteilung von Germanistik] [M-A] b. Würde ich nicht so sagen, beim Plusmax gibt es hinten [so eineHalterung (ich denke für die Brille)] da kann man das Band gut sichern. http: / / www.gleitschirmdrachenforum.de/ archive/ index.php/ t-23650.html [DECOW2012] c. Diese wird [in ich denke 99,5% aller Fälle] unter Magenta (T-Com) Regie stehen. http: / / www.alte-kiehvotz.de/ regionale-news/ schnelles-internet-fuer-den-vogtlandkreis/ [DECOW2012] d. aachen da braucht man einen numerus clausus [von ich glaub einundsiebzig oder zweiundsiebzig prozent] [FOLK_E_00187_SE_01_T_02, c305, Sprachbiografisches Interview] Im Fall von was weiß ich bestehen Verbindungen zu funktionsähnlichen Formeln mit wissen wie etwa wer weiß (+ w-Element, 74.a), weiß der X (+w-Element, 74.b), Gott weiß (+ w-Element, 74.c) und ich weiß nicht (+ w-Element, 74.d) sowie dem semantisch eng verwandten keine Ahnung (74.e): Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 329 (74) a. nur weil es in rumänien, kasachstan oder wer weiß wo schlechter zu leben ist als hier ... http: / / forumarchiv.balsi.de/ ss/ 69231.html [DECOW2012] b. Es gibt durchaus wichtigere Probleme vor dem unser Land steht, bei der Aussicht auf über 5 Millionen Arbeitslosen und Gott weiß wie vielen Kurzarbeitern ... http: / / www.dsds-finale.de/ motto-shows/ alles-nur-nicht-sexy-gastautormichaels-kolumne-zur-4-dsds-2009-mottoshow.php [DECOW2012] c. fünf Stunden geteilt durch vier macht eins Komma weiß der Teufel was [FOLK_E_00124_SE_01_T_02, c452, Unterrichtsstunde im Wirtschaftsgymnasium] d. und dann gleich so ich weiß nicht vier fünf Pöppel % Pötte und die waren ja nun nicht grade billig mitgenommen [FOLK_E_00161_SE_01_T_02, c843, Gespräch in der Familie] e. also wenn man keine Ahnung jetzt zu irgendeinem hier in der Schule geht der bisschen älter ist und sagt zu einem Jungen auf jeden Fall der Computer spielt kennst Du Team B den Clan sagt jeder ja kenne ich [FOLK_E_00182_SE_01_T_02, c130, Sprachbiografisches Interview] Die Belege in (74) illustrieren die auch für was weiß ich gefundenen Funktionen als Start- (‘beispielsweise’, 74.e) und Endmarker eines Turnabschnitts (‘oder so’, 74.a), als vager Platzhalter (‘irgendwas’, 74.c), als Heckenausdruck (‘vielleicht’, 74.d) und als Gradmodifikator (‘sehr’, 74.b). Ob diese Funktionen aber tatsächlich auch jeweils von allen Varianten realisiert werden können, ob einige für bestimmte Verwendungen präferiert werden oder gegenüber den anderen Formen noch weitere Funktionen besitzen, ließe sich nur in einer vergleichenden Analyse der gesamten Gruppe ermitteln. Der letzte Punkt betrifft die Binnendifferenzierung der angetroffenen Funktionsvarianten. Methodisch stellen Überlappungen der angesetzten Funktionen untereinander ein notorisch schwieriges Problem für quantifizierende Studien dar, theoretisch sind sie für im Wandel begriffene, „oszillierende“ Strukturen aber natürlich erwartbar. Einerseits können Funktionen unterschiedlicher Ebenen Hand in Hand gehen: Was z.B. dem Sprecher in dem ich denke-Beispiel in (71) auf prozeduraler Ebene Zeit für die weitere Äußerungsplanung verschafft, kann dem Hörer zugleich auf metakommunikativer Ebene Kontextualisierungshinweise für die Interpretation der folgenden TCU liefern (der Sprecher beabsichtigt mit dem folgenden Fazit einen Abschluss der aktuellen Sequenz). Ein anderes Beispiel ist die von Kärkkäinen (2003, S. 149) postulierte Funktion „presenting oneself as uncertain in order to show social solidarity“: Hier wird ein für den Partner potenziell gesichtsbedrohender Sachverhalt wider besseren Wissens als ungewiss markiert, anstelle ihn direkt und unmodalisiert als Tatsache festzustellen. Was sich auf epistemi- Arne Zeschel 330 scher Ebene somit als Operator zur Einschränkung eines Geltungsanspruchs charakterisieren ließe, fungiert gleichzeitig auf sozialer Ebene als Exponent einer Höflichkeitsstrategie. Häufig gibt es aber auch mögliche Mehrfachzuordnungen allein auf der konzeptuellen Ebene per se. Die verschiedenen Funktionen eines Markers stehen dabei nicht nur in mehr oder minder persistenten Verbindungen zu ihrer „semantischen“ Quellbedeutung, sondern auch wechselseitig zueinander, d.h. zu ihren unmittelbaren Nachbarn im Netz der abgeleiteten pragmatischen Funktionen. Im Fall von was weiß ich z.B. ist die literale Quellbedeutung der Formel die Lesart unklarheit. Worüber sich der Sprecher behauptetermaßen im Unklaren ist, variiert von Funktion zu Funktion: ‘Womit kann ich meinen Punkt am besten veranschaulichen? ’, ‘welches Element könnte ich an dieser Stelle geeigneterweise noch nennen? ’, ‘was hat sich Person X bei ihrer Äußerung bloß gedacht? ’, ‘wie lautet die genaue Spezifikation? ’, ‘ist die folgende Spezifikation zutreffend oder angemessen? ’, ‘wie groß ist das Ausmaß / wie stark ist die Ausprägung von X? ’. Während sich die verschiedenen pragmatischen Funktionen somit einerseits durch unterschiedliche Bezüge auf die epistemische Quellbedeutung unklarheit auszeichnen, überlagern sie sich jedoch auch an verschiedenen Punkten. Bereits in Abschnitt 4.2.4 angesprochen wurde in diesem Zusammanhang die Ambiguität von oder was weiß ich als Gliederungssignal/ „Etceteraformel“ einerseits und Heckenausdruck andererseits sowie die in Vagheitsmarkierungen (morgens was weiß ich wann aus dem Haus gehen) bereits angelegte Implikatur eines Extremwerts, die sie mit der gradmodifizierenden „Booster“-Funktion verbindet. Die Tatsache, dass eine Partitionierung des angetroffenen Funktionsspektrums in eine Reihe wechselseitig exklusiver, diskreter Kategorien nie ohne problematische Grenzfälle auskommen wird, unterstreicht den engen Zusammenhang der untersuchten Varianten in einem motiviert verbundenen Komplex, der sich als Konstruktionsnetzwerk verstehen lässt. Wie gezeigt, lassen sich dabei - aus analytischer Sicht - semantisch und funktional auf verschiedenen Ebenen bestimmte Verbindungen und Generalisierungen ziehen. Für Hinweise auf die tatsächlichen Kategorisierungen, die von den Sprechern vorgenommen werden, wäre es in Erweiterung der hier gewählten Herangehensweise insofern wünschenswert, auch phonetische und prosodische Merkmale der Zieläußerungen detailliert in die Untersuchung mit einzubeziehen und systematisch auf die jeweils realisierte Funktion abzubilden. Denken und wissen im gesprochenen Deutsch 331 Literatur Aijmer, Karin (1997): I think - an English modal particle. In: Swan, Toril/ Westvik, Olaf Jansen (Hg.): Modality in the Germanic languages: historical and comparative perspectives. (= Trends in Linguistics. Studies and Monographs 99). Berlin/ New York: Mouton de Gruyter, S. 1-47. Arndt, Hans (1987): Cognitive verbs and the indication of utterance function. In: Monaghan, James (Hg.): Grammar in the construction of texts. 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Daneben lassen sich jedoch weitere, in den Untersuchungen zum Englischen bislang nicht belegte Praktiken identifizieren (Beanspruchung unabhängigen Wissens, Einbringen eines Alternativvorschlags). Der Hauptfokus der Untersuchung liegt auf der häufigsten Praktik, der Äußerung einer diskrepanten Annahme. Aufbauend auf den Befunden von Kärkkäinen (2012), dass unterschiedliche grammatische Formate von I thought und zugehöriger Phrase oder zugehörigem Satz(teil) jeweils eine eigene Praktik darstellen, liegt ein besonderes Augenmerk auf der Frage, wie kookkurrierende sprachliche Merkmale gemeinsam mit sequenziellen und pragmatischen Faktoren zur Disambiguierung der lokalen Interpretation von ich dachte beitragen. 2. Forschungsstand Konversationsanalytische und diskursfunktionale linguistische Untersuchungen der letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass der Anzeige von epistemic stance (epistemischer Einstellung) eine Schlüsselrolle in der Gesprächsorganisation zukommt (Du Bois 2007; Heritage 2012a, b; 2013a, b; Heritage/ Raymond 2005). Epistemic stance ist der Grad an Sicherheit oder Verbindlichkeit, die ein Sprecher in Bezug auf einen Wissensgegenstand ausdrückt (Biber/ Finegan 1989; Kärkkäinen 2003, 2006; Englebretson 2007). Sprecher positionieren sich damit jedoch nicht nur im Verhältnis zum jeweiligen stance-Objekt, sondern immer auch im Verhältnis zur epistemischen Einstellung ihrer Inter- Arnulf Deppermann / Silke Reineke 338 aktionspartner (Du Bois 2007). Mentalverbkonstruktionen sind eine bedeutende Ressource für die Anzeige epistemischer Einstellung: Äußerungen mit Verben wie wissen, denken, meinen, erinnern und hoffen fungieren als Routineverfahren, um epistemische sowie mitunter auch evaluative oder emotionale Einstellungen auszudrücken. Einige solcher Konstruktionen haben sich zumindest teilweise durch Grammatikalisierung von Matrixsatzprädikaten zu epistemischen stance-markern entwickelt (Thompson 2002; Brinton 2008). Das englische I think (Ajmer 1997; Fetzer 2008, 2014; Fetzer/ Johansson 2010; Kärkkäinen 2003, 2006; van Bogaert 2010, 2011; Thompson/ Mulac 1991 zu I think and I guess), I don’t know / I dunno (Potter 1997; Scheibman 2000; Weatherall 2011), I mean (Erman 1987; Fox Tree/ Schrock 2002; Imo 2005) und you know (Erman 1987, 2001; Östman 1981; Fox Tree/ Schrock 2002) sind einschlägige Beispiele. Ähnliche Konstruktionen gibt es auch in anderen Sprachen, wie zum Beispiel das estnische mai tea (‘ich weiß nicht’, Keevallik 2011), das französische je sais pas (‘ich weiß nicht’, Pekarek Doehler 2016) oder das deutsche ich mein (Imo 2007, S. 190-198) und ich weiß nicht (Helmer/ Deppermann/ Reineke in diesem Band). Ein besonders interessanter Fall ist das englische I thought. Im Gegensatz zu anderen Konstruktionen handelt es sich hier nicht um eine grammatikalisierte Verbform im Präsens, sondern um eine Variante in der Vergangenheitsform. Kärkkäinen (2009, 2012) zeigt, dass I thought eingesetzt wird, um evaluative oder affective stance anzuzeigen, wenn es vor einer evaluativen Aussage, einer Interjektion oder einer Erzählung steht, die eine Einstellung zum Ausdruck bringt. Alternativ ist es möglich, durch I thought „suspended factuality“ anzuzeigen, was gegensätzliche Faktizität implizieren kann (Declerck/ Reed 2005; siehe auch van Bogaert 2010, 2011; Kärkkäinen 2012). Smith (2013) spricht in diesen Fällen von der Anzeige einer „discrepancy of knowledge“. Er zeigt, dass ein I thought-Turn sequenziell von einer vorangegangenen Handlung veranlasst wird, mit der ein Gesprächspartner einen Sachverhalt behauptet oder dessen Zutreffen inferierbar macht, der zu dem, was der I thought-Sprecher bis zu diesem Zeitpunkt für wahr hielt, in Kontrast steht. Zumindest für den Fall, dass das Wissen des ersten Sprechers ein Wissen aus erster Hand ist und der I thought-Sprecher dagegen nur über Wissen aus zweiter Hand verfügt, zeigt der I thought-Turn an, dass der Sprecher seine Annahme als widerlegt betrachtet. Er projiziert zudem, dass der vorherige Sprecher einen Account für die auseinanderlaufenden Wissensbestände liefern muss, da es in seiner Verantwortung liegt, relevante Interaktionspartner auf dem neusten Stand zu halten. Anknüpfend an Beobachtungen von Sacks (1992) haben Jefferson (2004) und Wooffitt (1991) gezeigt, dass I thought auch in Erzählungen eingesetzt wird, um einen widerlegten, früheren Wissensstand an- Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 339 zuzeigen, der später von einem modifizierten Wissensstand abgelöst wurde, den der Sprecher jetzt für wahr hält. In dieser Arbeit werden unterschiedliche Arten des Gebrauchs von ich dachte als ‘Praktiken’ bezeichnet. Der Terminus ‘Praktik’ bezieht sich hier auf sprachliche (und andere multimodale) Ressourcen mit einem systematischen interaktiven Gebrauch innerhalb spezifischer Kontexte (Deppermann/ Feilke/ Linke 2016; Heritage 2010). Die Beschreibung einer sprachlichen Praktik beinhaltet sowohl ihre innere Syntax, z.B. kookkurrierende sprachliche Formen, als auch ihre äußere Syntax, d.h. im Prä- und Postkontext auftretende sprachliche Strukturen (Linell 2009, S. 312). Ein wichtiger Aspekt von Praktiken ist ihre Stellung und Funktion innerhalb sequenziell organisierter Interaktionsmuster, auf die der Begriff „positionally sensitive grammar“ (Schegloff 1996a) abhebt. Darüber hinaus können auch Aspekte des breiteren Kontexts (wie das Genre oder der Interaktionstyp) sowie pragmatisch relevante und soziale Merkmale der Teilnehmer, zum Beispiel ihr (‘geteiltes’) Wissen, eine Praktik definieren. Auf Grundlage deutscher Interaktionsdaten untersucht die vorliegende Arbeit Praktiken der Anzeige epistemischer Einstellung durch die Verwendung von Turn-Constructional-Units (TCUs) mit ich dachte. 1 Um Praktiken des Gebrauches von ich dachte zu identifizieren, folgt unsere Analyse einem konversationsanalytischen und interaktionslinguistischen Ansatz. Wir analysieren die sequenzielle Position, die grammatische Form, kookkurrierende sprachliche Merkmale innerhalb der ich dachte-TCU, interaktionale Konsequenzen des Gebrauchs sowie kontextuelle Faktoren. Zunächst werden die grammatischen Varianten von ich dachte, die in dieser Untersuchung berücksichtigt werden, aufgeführt (Abschnitt 3). Abschnitt 4 gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Praktiken des Gebrauchs von ich dachte im gesprochenen Deutsch: Auf Grundlage einer exhaustiven Analyse aller Vorkommen von ich dachte im Gesprächskorpus FOLK zeigen wir auf, dass im Deutschen routinemäßig Praktiken eingesetzt werden, die den für das Englische bereits identifizierten ähnlich sind. Zusätzlich belegen wir die Existenz weiterer Praktiken, die in Untersuchungen zum englischen I thought bislang nicht beschrieben wurden. In Abschnitt 5 wird die häufigste Praktik, die Äußerung einer diskrepanten Annahme, eingehend analysiert. Kärkkäinen (2012) argumentiert, dass verschiedene Formate von I thought und zugehöriger Phrase oder zugehörigem Satz(teil) je eine eigene Praktik darstellen, und kategorisiert sie als „social action formats“. Daher wird in Abschnitt 5 zudem ein besonderes Au- 1 Wir werden im Folgenden den Begriff „ich dachte-TCU“ verwenden, um auf die untersuchten Vorkommen von ich dachte zu verweisen, obwohl diese auch in mehreren TCUs produziert werden können. Wir sprechen nicht von „ich dachte-Turns“, da die jeweiligen Turns oft mehr als die ich dachte-Phrase und die Äußerung in ihrem Skopus umfassen. Arnulf Deppermann / Silke Reineke 340 genmerk auf der Disambiguierung der lokalen Interpretation von ich dachte durch das Zusammenspiel kookkurrierender sprachlicher Merkmale sowie sequenzieller und pragmatischer Faktoren liegen. 3. Syntax Diese Arbeit untersucht die Verwendung der Vergangenheitsvarianten von denken in der ersten Person. Die Daten stammen aus FOLK (Forschungs- und Lehrkorpus gesprochenes Deutsch des Instituts für Deutsche Sprache, vgl. Deppermann/ Schmidt 2014 sowie die Einleitung dieses Bandes). Unsere Analyse beruht auf der FOLK-Version 2014, die 101 Stunden umfasst. Das Korpus wurde vollständig nach allen Vergangenheitsformen von denken in der ersten Person Singular und Plural durchsucht. Diese Suche ergab N=297 Belege (287 in der ersten Person Singular und 10 in der ersten Person Plural), 2 darunter 130 Belege im Präteritum (ich dachte), 153 im Perfekt (ich hab(e) gedacht), 13 Belege im Plusquamperfekt (ich hatte gedacht) und ein Beleg einer spezifisch süddeutschen Variante, dem sogenannten ‘Doppelplusquamperfekt’ (ich hatte gedacht gehabt). 26 Belege waren reflexiv (ich dachte mir) und 11 Belege standen im Konjunktiv Perfekt (ich hätte gedacht). Da diese unterschiedlichen Formen hinsichtlich der Praktiken, die in dieser Arbeit besprochen werden, im allgemeinen keine Unterschiede aufweisen, referieren wir mit ich dachte auf alle Varianten. In den Fällen, in denen einzelne dieser Varianten für eine Praktik charakteristisch bzw. auf sie beschränkt sind, merken wir dies im Folgenden an. Die Belege wurden nach zahlreichen grammatischen Kategorien kodiert (vgl. Zeschel in diesem Band b) und zusätzlich nach einer detaillierten sequenziellen und pragmatischen Analyse durch beide Autoren nach interaktionalen und pragmatischen Eigenschaften codiert. Ich dachte tritt mit unterschiedlichen Argumentrealisierungsmustern auf: 3 a) ich dachte + abhängiger Komplementsatz (n=18: dass n=16, damit und ob, je n=1), b) ich dachte + nicht abhängiger (Teil-)Satz (Hauptsätze, Interrogative, Imperative, Exklamative, n=212), c) ich dachte + Interjektion/ response cry (n=63, 48 davon gefolgt von einem nicht abhängigen (Teil-)Satz (n=46) oder einer Ellipse (n=2), d) ich dachte + PRO (n=19: das n=13, es n=3, was, so etwas, wie n= je 1; in 2 Fällen davon PRO gefolgt von einem Komplementsatz (das dachte ich, dass)), 2 Weitere 58 Belege wurden aufgrund von Abbrüchen, adjazenter Selbstwiederholung von ich dachte oder unverständlichen Passagen von der Analyse ausgeschlossen. 3 In einigen Fällen werden zwei dieser Muster gemeinsam realisiert, weshalb sich die genannten Vorkommenszahlen nicht zu einer Gesamtanzahl von 297 aufaddieren lassen. Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 341 e) ich dachte + Ellipse, die mindestens eine Proposition repräsentiert (n=24; z.B. ich dachte das hätten die schon, ich dachte Niedersachsen), f) ich dachte + kein Argument (hierbei handelt es sich nicht um intransitive Verwendungen sondern um analeptische Realisierungen wie z.B. habe ich auch gedacht, habe ich mir gedacht; n=10), g) ich dachte + Präpositionalobjekt (n=1). Diese Muster drücken jeweils eine propositionale Einstellung gegenüber einem durch das Argument repräsentierten Inhalt aus. Im Gegensatz zu anderen Rahmungsverfahren im Gespräch (siehe z.B. Günthner/ Hopper 2010; Pekarek Doehler 2011) ist der Skopus von ich dachte stets beschränkt auf die nächste adjazente Phrase oder den nächsten adjazenten (Teil-)Satz. Ich dachte kann auch invertiert auftreten (dachte ich / habe ich gedacht). Vor allem bei hoher Sprechgeschwindigkeit wird es häufig zu ich dacht / dacht ich und ich hab gedacht / hab ich gedacht verkürzt (e-Apokope, siehe Berend 2005). 4. Praktiken In unseren Daten konnten wir sechs unterschiedliche Praktiken identifizieren. Bei fünf dieser Praktiken wird ich dachte genutzt, um eine epistemische Einstellung anzuzeigen, in einer Praktik wird es zur Anzeige einer evaluativen/ affektiven Einstellung genutzt: - Äußerung einer diskrepanten Annahme (n=141/ 297, 47,5%), - Anzeige von evaluativer/ affektiver Einstellung (n=53/ 297, 17,8%), - Begründung einer früheren Handlung (n=50/ 297, 16,8%), - Beanspruchung unabhängigen Wissens (n=21/ 297, 7,1%), - Anzeige reduzierter Gewissheit (n=20/ 297, 6,7%), - Einbringen eines Alternativvorschlags (n=12/ 297, 4%). In fast der Hälfte der Fälle wird ich dachte eingesetzt, um eine ‘diskrepante Annahme’ auszudrücken. Diese Praktik und ihre Varianten werden in Abschnitt 5 detailliert besprochen. Um das gesamte Spektrum des Gebrauchs von ich dachte abzubilden, werden die fünf anderen Praktiken im nun folgenden Abschnitt erläutert und ihre formalen, sequenziellen und pragmatischen Eigenschaften beschrieben. Da die Fallzahlen dieser Praktiken relativ klein sind, beschränkt sich ihre Untersuchung auf Aussagen über allgemeine Tendenzen. Arnulf Deppermann / Silke Reineke 342 4.1 Anzeige von evaluativer/ affektiver Einstellung In narrativen Kontexten wird ich dachte eingesetzt, um eine evaluative oder affektive Einstellung gegenüber Ereignissen oder Handlungen, von denen unmittelbar zuvor die Rede war und die meist den Höhepunkt der jeweiligen Erzählung ausmachen, anzuzeigen (n=53/ 297, 17,8%). Wenn mit ich dachte eine evaluative und/ oder affektive Haltung anzeigt wird, benutzen fast alle Sprecher (n=52/ 53, 98,1%) eines oder beide der folgenden Muster: - ich dachte + Interjektion (n=32/ 53, 60,4%; z.B. ach, ahja, achso, boah, ey, gut, hmm, hoppla, komm, oh, oh gott, oh oh, oh nein, okay, sag mal, so), - ich dachte + nicht-abhängige (Teil-)Sätze (n=38), Analepsen (n=2) oder ohne sprachliche Bezugsstruktur (n=1) (insgesamt n=41/ 53, 77,4%; 25/ 41, 61,0% davon realisiert als w- und polare Interrogative, Exklamative oder Imperative). 4 Oft werden diese beiden Muster kombiniert, und eine Interjektion wird gefolgt von nicht-subordinierten Nebensätzen (n=21/ 53, 42%) 5 , wie in (1), als AM ihren Freunden von ihrem Scheitern bei dem Versuch erzählt, ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft zu finden: (1) FOLK_E_00048_SE_01_T01_c364 01 AM °h (ich hab jetz) DREIzehn sachen angeguckt, 02 davon haben mir zwei wIrklich GUT gefallen, 03 °hh und dann hab ich davon: ABsagen bekommen; = 04 EIne gestern Abend.= 05 =und des hat mich echt FERt[ig gemacht.] 06 LP [oh NEIN; ] 07 AM (.) ja. 08 (0.62) 09 AM weil ich dann ECHT auch an mir sElbst gezweifelt hab-= 10 =weil ich so geDACHT hab,= 11 =ey warum (.) warum WOLlen die nich, 12 äh (.) WOLlen die mich nich, 13 ich bin doch eigentlich: relativ ZUgänglich- 4 Weitere Realisierungsmuster waren elliptische Komplementsatzfragmente (n=3/ 53; 5,7%, einer dieser Fälle gemeinsam mit einer Interjektion realisiert) und kein Argument (n=1/ 53; 1,9%). 5 Kärkkäinen (2012) fand ebenfalls heraus, dass das Format „[I thought] + [interjection/ exclamation] + [stanced utterance/ telling]“ im Englischen eingesetzt wird, um affective stance auszudrücken. Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 343 14 [(und und) ja; ] 15 LP [°h (.) aber e]s LIEGT dann an den leuten- 16 (0.64) Während in (1) die emotionale Stellungnahme im Vordergrund steht, zeigt (2) primär eine bewertende Stellungnahme: (2) FOLK_E_00047_SE_01_T_02_DF_01_c290 01 AM also WEIßte-= 02 = (hab) ich AUCH gedacht - 03 ey warum mAcht die so was MIT ; 04 °hhh (s_is) total SCHLIMM, Interjektionen (hier: „ey“) und Nicht-Hauptsatz-Formate (hier: eine selbstadressierte Frage) werden wie response cries (Goffman 1981) geäußert und tragen dazu bei, die erzählte vergangene Erfahrung (hier: Frustration und Selbstzweifel) zu reinszenieren, häufig unterstützt durch eine ausdrucksstarke prosodische Gestaltung (vgl. Günthner 1999 zu Redewiedergaben). Die Rahmung mit ich dachte zeigt an, dass es sich bei dem berichteten Affekt und/ oder der berichteten Bewertung nicht um eine Redewiedergabe, sondern vielmehr um eine private Reaktion des erzählten Ich handelt, die in der erzählten Interaktion selbst nicht öffentlich gemacht wurde. Allerdings wird die angezeigte Haltung durch den Gebrauch des Perfekts zum Teil der vergangenen erzählten Welt und so, im Gegensatz zu einer späteren Evaluation aus dem gegenwärtigen Blickwinkel des Erzählers, als unmittelbare emotionale und somit authentische Reaktion auf die damaligen Ereignisse gerahmt (vgl. Labov/ Waletzky 1967). Die durch die TCUs im Skopus von ich dachte ausgedrückte evaluative und/ oder affektive Haltung an sich verbleibt oft weitgehend unterspezifiziert oder ambig, insbesondere dann, wenn ich dachte von einer alleinstehenden Interjektion gefolgt wird. Trotzdem wird der Charakter der evaluativen/ affektiven Einstellung in der Regel erkennbar, da die evaluative/ affektive Einstellung in den untersuchten Fällen meist bereits zuvor formuliert (vgl. Z. 09 in (1): Anzeige von Selbstzweifel) oder später reformuliert wurde (vgl. Z. 13 in (1): Anzeige eines Vorwurfs gegen diejenigen, die die Sprecherin abgelehnt haben). Daher scheint es, als hätte der Gebrauch des reinszenierenden, nicht-deklarativen Formats eher zum Ziel, Empathie hervorzurufen und die Zuhörer emotional zu involvieren (vgl. Tannen 1989), als in erster Linie die entsprechende Haltung selbst zu übermitteln. Arnulf Deppermann / Silke Reineke 344 4.2 Begründung einer früheren Handlung Ich dachte kann in Narrativen und Argumentationen eingesetzt werden, um Intentionen oder Gründe für Handlungen darzulegen (n=50/ 297, 16,8%). In diesen Fällen wird ich dachte meist mit einem nicht-abhängigen Satz (n=43/ 50, 86%), einer Interjektion (n=10/ 50, 20%) oder einer Ellipse (n=4/ 50, 8%) kombiniert; ein Auftreten mit abhängigem Komplementsatz (n=2/ 50, 4%: dass, damit) ist selten. 6 Im Gegensatz zur Praktik der Anzeige evaluativer/ affektiver Einstellungen, welche den Erzählhöhepunkt kommentiert, werden Intentionen und Gründe mit ich dachte in der Komplikationsphase geäußert (vgl. Labov/ Waletzky 1967). Gründe und Intentionen werden hier expliziert, um Handlungen und Einstellungen zu erklären, die der Sprecher meist unmittelbar vor oder nach der ich dachte-TCU geäußert hat. Couper-Kuhlen (2007) beschreibt, dass I thought im Englischen benutzt wird, um „hidden intentions, concerns and considerations which extenuate the action or its absence“ (S. 101) offenzulegen und damit dispräferierte, disaffiliative oder in irgendeiner Weise problematische Handlungen zu begründen. Ähnlich wie ich mein(e) kann ich dachte als eine Art Begründungskonnektor fungieren und weist so auf Gründe für eine Einstellung oder eine berichtete Handlung hin. In Ausschnitt (3), der Teil einer längeren Erzählung ist, begründet SZ mit dem durch ich dachte gerahmten Account (Z. 09) ihre Anweisung an ein Kind, auf das sie aufpassen musste: (3) FOLK_E_00022_SE_01_T_02_c689 01 SZ ich hab ERSCHT gesagt, 02 sie muss sich mal ne halbe stunde allEIN beschäftigenʔ 03 °h des fand sie dann so mittelmäß[ig GUT? ] 04 AW [((Lachpartikel))] 05 SZ ahahaha °h AWwer; 06 HM hm; 07 SZ AWwer; 08 des ging dann AUCH, 09 °h ich hab gedAcht <<lachend> so ne KLEIne herausforderung kann man ihr ma zumuten,> 10 °h und DANN; 11 äh hat se aber hier dann geSCHMÜCKT, 6 In neun Fällen werden die Muster ‘Interjektion’ und ‘nicht-abhängiger Nebensatz’ gemeinsam realisiert. Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 345 Solche Erklärungen von Gründen und Intentionen geben Aufschluss über die Motivationen und Bedeutungen einer Handlung oder eines Plans, von denen ein Sprecher annimmt, dass sie sich den Zuhörern nicht unmittelbar und eindeutig erschließen. Intentionen zu äußern ist eine argumentative Praktik: Sie dient dazu, zu zeigen, dass die eigenen vergangenen Handlungen auf rationalen Überlegungen beruht haben. Somit kann ich dachte eingesetzt werden, um persönliche Intentionen auszudrücken, die in der berichteten Interaktion nie offenbar wurden, da die intendierte Handlung aus irgendeinem Grund nicht ausgeführt wurde, oder sie können anzeigen, dass eine später berichtete Handlung absichtlich (und nicht durch Zufall, Zwang oder Routine bedingt) ausgeführt wurde (vgl. auch Couper-Kuhlen 2007). Solche Angaben von Handlungsintentionen können sogar die Beschreibung der Handlung, um die es geht, ersetzen: (4) FOLK_E_00042_SE_01_T_01_c906 7 01 AM und dAnn waren wir aber zu spät DRAN, 02 (.) und dann ham wir gedacht okAY wir gehen zur party. 4.3 Beanspruchung unabhängigen Wissens Sprecher können mit ich dachte anzeigen, dass sie über eine bestimmtes Wissen, das ein vorangegangener Sprecher geäußert hat, bereits unabhängig von und zeitlich vor dessen Behauptung verfügten (n=21/ 297, 7,1%). Diese Praktik wird meist mit einem direkten pronominalen Objekt (n=12/ 21, 57,1%: das n=7, es n=2, so etwas, was, wie n=je 1) realisiert, das sich anaphorisch auf die Aussage des vorangehenden Sprechers zurückbezieht. Andere Argumentrealisierungsmuster dieser Praktik sind analeptische Null-Realisierung (n=5/ 21, 23,8%), nicht-abhängige Nebensätze (n=4/ 21, 19%), Interjektionen (n=2/ 21; 9,5%) und ein abhängiger Nebensatz (n=1/ 21, 4,8%: dass). 8 Im Gegensatz zu den Praktiken, die in Abschnitt 4.1 und 4.2 beschrieben wurden, bezieht sich der Sprecher hier nicht auf einen zeitlich situierten, individuellen Denkakt, sondern auf eine Erwartung oder ein Wissenselement, das gewohnheitsmäßig vorausgesetzt wird oder Teil des Wissensbestands des ich dachte-Sprechers ist. Vorzugsweise wird das Reflexivpronomen mir für diese Praktik eingesetzt (n=12/ 21, 57,1%). 9 Genauso distinktiv für diese Praktik sind die Kookkurrenzen des Temporaladverbs schon (n=6/ 21, 28,6%) und anderer Modifikatoren 7 Zum weiteren Kontext dieses Ausschnitts siehe Ausschnitt (9). 8 Einige dieser Muster werden gemeinsam realisiert (direktes Pronominalobjekt + abhängiger Nebensatz (n=1), Interjektion + nicht-abhängiger Nebensatz (n=2). 9 Dies ist ein signifikanter Kontrast (p<0.01) zu allen anderen Praktiken, in denen die reflexive Variante in 0-16% der jeweiligen Fälle verwendet wird. Arnulf Deppermann / Silke Reineke 346 wie auch (als Modalpartikel und Adverb: n=8/ 21, 38,1%), doch (als Modalpartikel: n=1/ 21, 4,8%) und noch (n=2/ 21, 9,5%), die fast nie in anderen ich dachte-Praktiken vorkommen. Alle diese Modifikatoren zeigen an, dass der ich dachte-Sprecher das betreffende Wissen bereits vor dem derzeitigen Gesprächsstand hatte. Meist wird diese Praktik genutzt, wenn dem vorherigen Sprecher zugestimmt wird, wobei der ich dachte-Sprecher anzeigt, dass er über überlegenes oder zumindest unabhängiges Wissen über den Gesprächsgegenstand verfügt (vgl. Heritage/ Raymond 2005): (5) FOLK_E_00049_SE_01_T_01_c562 01 AM was hast du am BESten bewErtet, 02 welches BIER? 03 (0.63) 04 AM TANnenzä[pfle.] 05 PH [(DAS)]tAnnenzä[pfle.] 06 AM [JA- ] hab ich mir doch geDACHT. Während die Praktiken der Anzeige affektiver/ evaluativer Einstellungen (Abschnitt 4.1) sowie der Angabe von Gründen oder Intentionen, die hinter einer Handlung stehen (Abschnitt 4.2), an einen größeren sequenziellen Kontext gebunden sind (d.h. Narrative oder Argumentationen) und innerhalb dieser Kontexte in verschiedenen sequenziellen Positionen auftreten, ist die Praktik der Beanspruchung unabhängigen Wissens sequenziell an die zweite Position gebunden, wie man in diesem Beispiel sehen kann: AMs Äußerung, sie hätte sich schon gedacht, dass PH die Biersorte „tannenzäpfle“ am besten bewertet hat, folgt als Reaktion auf die Aussage PHs, er habe das „tannenzäpfle“ am besten bewertet. 10 Der Gebrauch in zweiter Position erklärt ebenfalls, warum in dieser Praktik, wie in (5), meist anaphorische oder analeptische Objekte in topikalischer Erststellung mit Subjekt im Mittelfeld („hab ich (...) gedacht“) auftreten. Diese Praktik kann auch kompetitiv eingesetzt werden und anzeigen, dass der Turn des vorherigen Sprechers für den Empfänger keine Neuigkeiten enthält und der zweite Sprecher der „wahre Experte“ für das entsprechende Thema ist. In (6) wird LS’ Aussage (Z. 01) durch AMs Antwort im ich dachte-Format bestätigt (Z. 03/ 06). Indem sie aber eine präzisere Lokalisierung („WIEner 10 In den Zeilen 05 und 06 zeigt sich die prototypische Sequenzstruktur dieser Praktik. Dass AM hier das von ihr in Z. 06 behauptete Wissen bereits in Z. 04 ausgewiesen hat und dass die ich dachte-Phrase auf eine Äußerung folgt, die wiederum von der ich dachte-Sprecherin mit einer Frage elizitiert wurde, ist spezifisch für diesen Einzelfall. Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 347 (cafe)“ vs. „cafe SAcher“) einführt, zeigt AM an, dass sie über unabhängiges Expertenwissen verfügt, welches dem, das LS in ihrem vorangehenden Turn angezeigt hatte, überlegen ist. (6) FOLK_E_00053_SE_01_T_01_DF_01_c34 01 LS des is wie so_n WIEner- 02 (0.38) 03 AM [ ja hab ][ ich AUCH gedacht, ] 04 LP [hm- ] 05 LS [caFE; ] 06 AM [ des erinnert ] mich V [ OLL an ] des cafe SAcher [ hier ; ] 07 LP [cafe; ] 08 [ja; ] 09 LS [ j]a ; 10 (0.66) 11 LS wo ma so den ganzen TA: G verbringen ka[nn. ] 12 AM [<<f,prustend>j]a> 13 °h <<lachend> im [CAf]e SAcher; > 14 LP [ja; ] Wenn der vorangegangene Sprecher über persönliche Erfahrungen gesprochen hat, kann durch ich dachte beanspruchtes unabhängiges Wissen auch empathisch eingesetzt werden, indem es vertrauliches Wissen und die Fähigkeit, die Ansichten des Gesprächspartners zu antizipieren, anzeigt. Konkurrenz um überlegenes Wissen und die Anzeige von Empathie schließen sich jedoch nicht notwendigerweise gegenseitig aus. 4.4 Anzeige reduzierter Gewissheit Naturgemäß drückt ich dachte immer eine subjektive Perspektive aus. Während im Fall der Beanspruchung unabhängigen Wissens (Abschnitt 4.3) Subjektivität (überlegene) Expertise impliziert, kann ich dachte im Gegenteil auch reduzierte Gewissheit aufgrund von begrenztem, einseitigem oder weniger privilegiertem Zugang zu einem Thema anzeigen (n=20/ 297, 6,7%). Zeigt ich dachte reduzierte Gewissheit an, wird es zusammen mit nicht-abhängigen Nebensätzen (n=8/ 20, 40%), abhängigen Nebensätzen mit dass (n=5/ 20, 25%), Ellipsen (n=3/ 20, 15%), ohne Argumente (n=3/ 20, 15%), mit Interjektion (n=2/ 20; 10%) oder mit einem pronominalen direkten Objekt (1/ 20, 5%) realisiert. 11 Mit 11 In zwei dieser Fälle werden zwei Muster (Interjektion + nicht-abhängiger Nebensatz) gemeinsam realisiert. Arnulf Deppermann / Silke Reineke 348 ich dachte kann ein Sprecher anzeigen, dass eine Annahme, die er aus seiner Perspektive für wahr hält, nicht als allgemeingültig genommen werden sollte und fehlbar sein könnte. Dieser Gebrauch von ich dachte, um reduzierte Gewissheit anzuzeigen, tritt zusammen mit anderen Unsicherheitsdisplays und heruntergestufter Verbindlichkeit hinsichtlich der Wahrheit und/ oder Relevanz auf, wie etwa mit abschwächenden Modaladverbien, Modalpartikeln, dem Anführen von Alternativen, hedges usw. wie in (7): (7) FOLK_E_00055_SE_01_T_09_c237 01 NH so stell ich mir das VOR, 02 [aber ich WEIß es ehrlich gesagt nicht genau.] 03 AM [ja des dEs hab ich jetzt geDACHT ,= =o] 04 der kommt dann GAR nichts oder-= 05 =ich WEIß es ni, ((Lachansatz)) °h Im Gegensatz zu allen anderen Praktiken ist diese Praktik nicht an spezifische sequenzielle oder turn-konstruktionale Umgebungen gebunden. Dies unterscheidet sie auch von solchen Anzeigen reduzierter Gewissheit, die als Reaktion auf einen Vorschlag (Abschnitt 4.5) oder eine Äußerung oder Handlung eines vorangegangenen Sprechers, die den Annahmen des ich dachte-Sprechers entgegensteht (Abschnitt 5.1.1), geäußert werden. 4.5 Einbringen eines Alternativvorschlags Als Reaktion auf Vorschläge, Entscheidungen oder Aussagen eines vorherigen Sprechers, kann ich dachte genutzt werden, um einen Alternativvorschlag einzuführen und zu rahmen (n=12/ 297, 4%). Ich dachte wird hier zusammen mit nicht-abhängigen Nebensätzen (n=7/ 12, 58,3%), abhängigen Nebensätzen mit dass (n=2/ 12, 16,7%), Ellipsen (n=2/ 12, 16,7%) sowie in jeweils einem Fall mit pronominalem direktem Objekt (n=1/ 12, 8,3%: das) und einem Präpositionalobjekt (n=1/ 12, 8,3%) realisiert. 12 Die Praktik, einen Alternativvorschlag einzubringen, kann als sequenzielle Spezialisierung der Praktik des Anzeigens reduzierter Gewissheit betrachtet werden, da der subjektive Aspekt von ich dachte hier genutzt wird, um den Ausdruck der Überlegenheit des alternativen Vorschlags gegenüber der Ansicht oder des Vorschlags des vorherigen Sprechers abzuschwächen. 13 Der Alternativvorschlag kann einen 12 In einem dieser Fälle werden zwei Muster (pronominales direktes Objekt + abhängiger Nebensatz) gemeinsam realisiert. 13 Vgl. Stevanovic (2013) zur Funktion einer ähnlichen Konstruktion mit denken im Finnischen („mä attelin et ‘I was thinking that’“), das Vorschlägen in Planungsgesprächen vorangestellt wird. Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 349 Widerspruch einleiten oder bereits selbst einen (milden) Widerspruch darstellen, wie in (8), in dem eine Gruppe von Berufsschülern über Charaktereigenschaften spricht, die einen schlechten Kollegen ausmachen: (8) FOLK_E_00004_SE_01_T_01_c1152 01 GS HINterhältigkeit? 02 (1.05) 03 GS aHA, 04 (2.51) 05 GS IS vielleicht auch so ähnliches: , 06 (0.3) 07 GS passt <<all>in dieselbe kategorie wie> (.) beWUSST informatiOne zurückhalte,=oder, 08 is auch HINderhältigkeit, (.) ne? 09 (0.48) 10 RZ ja mit HINterhältigkeit-= 11 = ham_ma EHer noch gedAcht wenn er absichtlich , 12 (.) äh irgendwie FALle stellt - 13 oder FEHler einbaut oder so . 14 (0.23) 15 GS noch a spur KRASser als informa[tione] zurückhalte? 16 RZ [ja; ] Während die Lehrerin GS „hinterhältigkeit“ (Z. 01/ 08) dem zuvor erwähnten „informationen zurückhalten“ (Z. 07) zuordnet, schlägt RZ „fallen stellt oder fehler einbaut“ (Z. 12f.) als Handlungen vor, die eigentlich als Beispiele für „hinterhältigkeit“ gemeint waren. Der Widerspruch und der Vorrang des eigenen Vorschlags wird bereits früh durch „eher“ (Z. 11) indiziert und durch RZs spätere Zustimmung bestätigt, als GS seinem Vorschlag durch den Vergleich „krasser als“ (Z. 15) zustimmt. 5. Äußerung einer diskrepanten Annahme In n=141/ 297 (47,5%) der analysierten Fälle zeigt ich dachte an, dass der propositionale Gehalt im entsprechenden Skopus einst vom Sprecher für wahr gehalten wurde, dieser aber mittlerweile erkannt hat, dass er falsch, durch neue Ereignisse widerlegt oder unwahrscheinlich ist oder von einer anderen Person (meist dem vorherigen Sprecher), die in den meisten Fällen in Bezug auf die vorliegende Proposition einen höheren epistemischen Status innehat, in Arnulf Deppermann / Silke Reineke 350 Frage gestellt wurde. Wenn ich dachte gebraucht wird, um eine abweichende Annahme zu offenbaren, geschieht dies überwiegend mit nicht-abhängigen Nebensätzen (n=112/ 141, 79,4%). Weitere Argumentrealisierungsmuster sind Interjektionen (n=17/ 141, 12,1%), elliptische Komplementsatzfragmente (n= 12/ 141, 8,5%), abhängige Nebensätze (n=8/ 141; 5,7%, dass n=7, ob n=1), pronominale direkte Objekte (n=5/ 141, 3,5%, das n=4, es n=1) und keine realisierten Argumente (n=1/ 141, 0,7%). 14 Auch wenn der genaue epistemische Status der Annahme im Skopus von ich dachte, die temporalen Eigenschaften ihrer Geltung (z.B. bereits als widerlegt anerkannt oder noch strittig), sowie ihr Verhältnis zum derzeitigem Sprecher, zu seinem vergangenen Ich und zum vorherigen Sprecher variieren, ist die Unvereinbarkeit zweier Propositionen die Gemeinsamkeit aller Vorkommen dieser Praktik, die wir als ‘ich dachte-DA’ (für ‘diskrepante Annahme’) bezeichnen. Unsere Analyse konzentriert sich auf folgende Aspekte von ich dachte-DA: - Ihre interaktive Funktion und sequenzielle Organisation (Abschnitt 5.1), - die Verantwortung der Gesprächsteilnehmer bei der Kommunikation von Wissen und deren Bedeutung für die Aushandlung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen und persönlicher Identität (Abschnitt 5.1), - sprachliche Mittel, die gemeinsam mit ich dachte in der Verwendung zur Anzeige einer ‘diskrepanten Annahme’ auftreten (Abschnitt 5.2). 5.1 Sequenzielle Organisation und interaktive Funktionen Die interaktiven Funktionen von ich dachte-DA stehen in direkter Verbindung mit der entsprechenden sequenziellen Position der ich dachte-Äußerung. In unseren Daten zeigten sich drei Verwendungsmuster: - Gebrauch in zweiter Position: Äußerung einer diskrepanten Annahme (n=43/ 141, 30,5%), - Gebrauch in vierter Position: Begründung einer unangemessenen Handlung durch eine diskrepante Annahme (n=59/ 141, 41,8%), - Gebrauch innerhalb eines narrativen multi-unit-Turns: Äußerung einer ursprünglichen falschen Annahme über ein Ereignis oder Objekt, die mit einer späteren korrekten Annahme kontrastiert wird (n=39/ 141, 27,7%). 14 In vierzehn dieser Fälle wurden zwei Muster gemeinsam realisiert (Interjektion + nicht-abhängiger Nebensatz n=13, Interjektion + elliptisches Komplementsatzfragment n=1). Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 351 Mit Blick auf die Interaktionsorganisation besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den ersten zwei Mustern und dem dritten: Bei den ersten zwei Mustern reagiert ich dachte-DA immer darauf, dass innerhalb der aktuellen Interaktion aufgrund der Äußerung von Annahme X durch einen anderen Sprecher oder aufgrund einer mentalen Zustandsänderung des ich dachte- Sprechers offenbar geworden ist, dass die im Skopus von ich dachte befindliche Annahme Y (vermutlich) nicht zutrifft; in den narrativen Fällen produziert dagegen derselbe Sprecher sowohl die widerlegte Annahme Y als auch die gültige Annahme X. 15 Allen drei Mustern von ich dachte-DA ist jedoch gemeinsam, dass sie eingesetzt werden, um auszudrücken, dass eine Annahme, die zu einem anderen Zeitpunkt für wahr gehalten wurde, mittlerweile als fraglich bzw. falsch erkannt wurde. 5.1.1 Äußerung einer diskrepanten Annahme in zweiter Position Die Praktik, eine diskrepante Annahme öffentlich zu machen, umfasst drei sequenzielle Positionen: 1) S1 (Sprecher 1) führt eine Handlung durch, die anzeigt, dass er eine Annahme X für gültig hält; 2) S2 (Sprecher 2) bringt zum Ausdruck, dass er bis zur Handlung von S1 eine abweichende Annahme Y für gültig gehalten hat, indem er eine durch ich dachte gerahmte Formulierung von Y äußert (= ich dachte-DA); 3) S1 (oder eine andere Person, die für die Gültigkeit von Annahme X verantwortlich ist) erklärt, warum Y nicht (länger) gültig ist und wie es zu X kam. In (9) unterhalten sich drei Freunde über einen Abend, den sie anfänglich zusammen verbracht hatten. Als LK AM fragt, zu welcher Uhrzeit AM und ihr Freund später am selben Abend zu einer Party aufgebrochen seien (Z. 01- 05), äußert LP, AM hätte ihr nicht von dieser Party berichtet (Z. 07) und erklärt stattdessen, sie hätte gedacht, AM und ihr Freund seien zu einer Theateraufführung gegangen (Z. 09): (9) FOLK_E_00042_SE_01_T_01_c0892 01 LK wann SEID ihr denn da noch (.) dahIn? 02 (0.54) 03 LK nachDEM ihr da, 04 (0.33) 15 Im Folgenden wird die Annahme, die zum aktuellen Gesprächszeitpunkt gültig ist, als X bezeichnet, die diskrepante Annahme, die von einem anderen Sprecher bis zur Formulierung von X für wahr gehalten wurde, als Y. Arnulf Deppermann / Silke Reineke 352 05 LK in der HAUPTstraße saßt o[der was-] 06 AM [JA; ] 07 LP [j ]a du hasch mir gar nich geSAGT dass ihr da (seid),= 08 =sonst wären wir AUCH gekOmmen; 09 ich hab gedacht ihr seid im theAter; 10 (0.76) 11 AM ich wUsste nich dass dass du daHIN willst,=lena 12 (0.58) 13 AM ja URsprünglich war ja geplAnt dass der philipp und ich-= 14 =wir wollten in des theAter ähm- 15 GEhen in dem; °hh 16 (.) ins IMprotheater; 17 (0.55) 18 LK hm_hm, 19 AM und dAnn waren wir aber zu spät DRAN, 20 (.) und dann ham wir gedacht okAY wir gehen zur party. Vor diesem Gesprächsausschnitt erzählt AM ihren Freunden von einer Party, auf der sie und ihr Freund am entsprechenden Abend waren. Dies füllt die erste oben beschriebene Sequenzposition, auf die ich dachte-DA reagiert: S1 (hier: AM) führt eine Handlung durch, die anzeigt, dass sie eine Annahme X (hier: AM und ihr Freund gingen an jenem Abend auf eine Party) für gültig hält, was LP erkennen lässt, dass ihre ursprüngliche Annahme Y über den Verbleib von AM und ihrem Freund, nachdem die Freunde auseinandergegangen waren, falsch gewesen ist. LK, der AM und ihren Freund ebenfalls früher am Abend getroffen hatte, fragt AM, ob sie dort hingegangen seien, nachdem sie ihn getroffen hatten (Z. 01). In Konkurrenz mit AM um das Rederecht (Z. 06) äußert LP, AM hätte ihr nicht gesagt, dass sie und ihr Freund eine Party besuchen werden (Z. 07), und gibt an, sie selbst und ihr Freund wären mitgekommen, wenn sie davon gewusst hätten (Z. 08). Eingeleitet mit ich dachte formuliert LP daraufhin ihre vorherige diskrepante Annahme Y (2. Sequenzposition, in der ich dachte-DA realisiert wird), nämlich dass AM und ihr Freund im Theater gewesen wären (Z. 09). Ich dachte zeigt also an, dass sich diese Annahme nun als nicht zutreffend bzw. veraltet entpuppt hat. LP wirft AM mit ihren Äußerungen in den Zeilen 07-09 vor, dass diese LP nicht über ihre Planänderung für den Rest des Abends aufgeklärt hat. LP macht deutlich, dass dies auf ihrer Seite zu einer Fehlinformation führte, die sie davon abhielt, ihre eigene Abendplanung an AMs Aktivitäten anzupassen. Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 353 LP zeigt somit, dass sie das Recht beansprucht, über AMs Pläne und Aktivitäten Bescheid zu wissen, und weist AM die Verantwortung zu, LP rechtzeitig über solche Planungsänderungen zu informieren, damit LP in der Lage ist, ihre Handlungen mit denen AMs zu koordinieren. AM weist diesen Anspruch LPs auf das Recht, von (Änderungen in) AMs Plänen zu erfahren, nicht zurück, sondern antwortet in dritter Sequenzposition auf LPs Vorwurf mit einer Rechtfertigung und einer Erklärung, wie es zu LPs mittlerweile fehlerhafter Annahme kam (Z. 11-20): AM äußert zunächst, sie hätte nicht gewusst, dass LP vorgehabt hätte, sich ihnen anzuschließen (Z. 11), und deutet damit an, dass sie, hätte sie von der Relevanz ihrer eigenen Pläne für LP gewusst, LP entsprechend über die Planänderung informiert hätte. Daraufhin bestätigt AM, dass LPs Annahme, AM und ihr Freund seien ins Theater gegangen, ursprünglich tatsächlich korrekt war (Z. 13-16), sie aber aufgehalten wurden und ihre Pläne daher geändert hätten (Z. 19f.). AMs unmittelbare detaillierte Erklärung, warum sie LP nicht informiert hat, dient gemeinsam mit der ausführlichen Beschreibung der Umstände, die dazu führten, dass LPs früherer Wissensstand nicht länger aktuell ist, der Reparatur des Bruchs der Intersubjektivität, der durch LPs ich dachte-TCU angezeigt wurde. AMs Erklärung zielt darauf ab, jeden Zweifel, dass sie LP aus Gleichgültigkeit oder aus Absicht nicht informiert haben könnte, auszuräumen. Stattdessen schreibt AM ihr Versäumnis, LP auf dem neusten Stand zu halten, nicht-intentionalen Faktoren zu. Durch diese ausführliche Erklärung zeigt AM an, dass sie LPs Erwartungen über die Pflichten des Erhalts von Intersubjektivität in Bezug auf ihre Beziehung teilt. Sowohl LP als auch AM behandeln die unzureichende Kommunikation der Veränderung von Wissenszuständen, auf denen gemeinsame Aktivitäten oder die Möglichkeit hierzu beruhen, als Verstoß gegen normative Erwartungen an das Aufrechterhalten von Intersubjektivität, die für die Wahrung der interpersonellen Beziehung zwischen den Teilnehmern essentiell ist (vgl. Smith 2013). Ein solches in situ-Management der offenbar gewordenen epistemischen Asymmetrie reflektiert, dass (enge) soziale Beziehungen gewöhnlich eine zeitnahe Synchronisierung der Wissensbestände der Teilnehmer erfordern (vgl. ebd.). Die Relevanz des Erhalts der epistemischen Symmetrie innerhalb von Beziehungen hat sowohl eine pragmatische als auch eine emotionale Seite. Zunächst ist die Herstellung des informationellen common ground eine Voraussetzung für die Koordination gemeinsamer Handlungen. 16 Darüber hinaus ist die Kommunikation subjektiven Wissens ein Ausdruck interperso- 16 Aus diesem Grund ist eine Aktualisierung von Informationen nicht nur für enge zwischenmenschliche Beziehungen wesentlich, sondern auch für alle aufgabenorientierten Rollenbeziehungen, in denen der Austausch von Wissen relevant für die Koordination gemeinsamer Aktivitäten ist. Arnulf Deppermann / Silke Reineke 354 neller Affiliation und Solidarität (Enfield 2006, 2008): Interpersonelle Bindung wird durch die direkte Kommunikation wesentlichen subjektiven Wissens an Personen von entsprechender Relevanz hergestellt und bestätigt. Meist werden mit „‘I thought‘-turns [...] events that are for the prior speaker first hand knowledge“ (Smith 2013, S. 321) formuliert, d.h. Ereignisse und Wissensbestände innerhalb der Expertise von S1 (also subjektive Zustände, Intentionen, biographische Erfahrungen, Bereiche beruflicher Expertise; vgl. Heritage 2012a; Pomerantz 1980). Daher ist S2s Annahme nicht nur eine einfache abweichende Annahme: Vielmehr zeigt S2 an, dass (erst) die vorangegangene Äußerung von S1 zu der Erkenntnis geführt hat, dass die bisherige Annahme falsch war. Wenn S1 auf ich dachte-DA hin eine Erklärung äußert, zeigt dies an, dass es sich nicht nur um ein Ungleichgewicht von Wissen oder Erwartungen zwischen Teilnehmern handelt. Der „account for the discrepancy suggests that the ‘I thought’ speaker is recognized as already having been informed on the topic prior to the ‘I thought’ recipient’s just previous informing” (Smith 2013, S. 321), d.h. S1 orientiert sich an der Tatsache, dass S2s Annahme zu einem früheren Zeitpunkt gültig, vielleicht sogar von S1 vermittelt, oder wenigstens rational motiviert war. In etwa der Hälfte der Fälle, in denen eine diskrepante Annahme durch ich dachte-DA in zweiter Position geäußert wird (n=21/ 43, 48,8%), liefert S1 jedoch keine Erklärung dafür, warum S2s Annahme nicht (länger) gilt. Die fehlende Erklärung sowie das Ausbleiben einer Einforderung einer solchen seitens S2 lässt schließen, dass die Diskrepanz der Pläne, Meinungen oder des Wissens in diesen Fällen nur einen geringen Einfluss auf die Pläne und das Wissen von S2 hat und somit keine Gemeinsamkeiten berührt, die grundlegend für die Beziehung sind. In solchen Fällen reicht bspw. die einfache Aussage, dass S1 seine Absichten geändert hat, wie in (10). Die Sprecher Anita (AM) und Philipp (PB) planen eine Reise nach Thailand und PB ist im Begriff, Anita von den Ergebnissen seiner Hotel-Recherchen zu berichten. AM wendet ein, dass sie dachte, dass PB sich zunächst ihre ‘Urlaubsliste’ (eine Packliste) ansehen würde (Z. 03), obwohl die beiden im vorangegangenen Interaktionsverlauf bereits ausgehandelt hatten, dass sie zunächst die Hotels und im Anschluss daran die Urlaubsliste ansehen würden. (10) FOLK_E_00030_SE_01_T_01_c109 01 PB ä: h[m- ] 02 AM [°h ja aber] 03 ich dachte du wolltst dir erst meine URlaubsliste angucken. 04 PB (.) nee des mach_mer GLEICH; 05 AM oKAY. Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 355 PB liefert hier keine Erklärung dafür, warum AMs Annahme nicht (mehr) gilt und AM fordert auch keine entsprechende Begründung ein, was dem Umstand zuzuschreiben ist, dass es hier die ich dachte-Sprecherin AM ist, die vom ursprünglichen Plan abweicht und somit die Verantwortung für die diskrepante Annahme nicht wie üblich bei S1 (hier: PB) liegt. Im weiteren Gegensatz zu Fällen wie (9), in denen der Zeitpunkt, zu dem die jeweilige Information relevant für eine Koordinierung der Aktivitäten der Interagierenden gewesen wäre (der vergangene Abend) und der Zeitpunkt, zu dem die Annahme X in Geltung kommt (die aktuelle Interaktionssituation), auseinanderfallen, hat AM hier (10) durch das Zusammenfallen dieser beiden Zeitpunkte noch die Möglichkeit, ihre Handlungen an den aktuellen Wissensstand anzupassen. Grundsätzlich verweist die ich dachte-DA von S2 fast immer auf ein Koordinationsproblem: S2 gibt an, oder lässt inferieren, dass S2 auf Basis des angenommenen Wahrheitsgehaltes von Y anders gehandelt hätte, als unter der Voraussetzung des Zutreffens von X angemessen ist. Trotzdem gibt es Fälle, in denen die Koordination von Handlungen durch die unterschiedlichen Annahmen nicht beeinflusst wird. Dies ist der Fall, wenn der ich dachte-Sprecher eine diskrepante Annahme äußert, die weder die Erwartung impliziert, dass S1 dieselbe Annahme teilt wie S2 noch, dass S1 S2 zuvor über seine Annahme hätte informieren müssen, oder wenn die Diskrepanz keine Normen, Werte, Handlungsorientierungen und Wahrheitsannahmen betrifft, bei denen es die Teilnehmer als notwendig betrachten, sie zu teilen. In diesen Fällen ist eine Erklärung durch S1 in der dritten Position nicht erforderlich. 5.1.2 Begründen einer unangemessenen Handlung durch eine diskrepante Annahme Ein anderer Gebrauch von ich dachte-DA tritt in vierter Position auf, wenn der ich dachte-Sprecher zuvor eine Handlung vollzogen hatte, die sich zwischenzeitlich als unangemessen erwiesen hat. Mit dem ich dachte-Turn wird die unangemessene Handlung durch eine zwischenzeitlich revidierte Annahme begründet. Das sequenzielle Muster sieht wie folgt aus: 1) S1 führt eine Handlung aus; 2) S2 reagiert auf die Handlung von S1; 3) S1 reagiert auf 2 in einer Art und Weise, die anzeigt oder S2 zu dem Schluss kommen lässt, dass S2s Reaktion unpassend war; 4) S2 äußert im Skopus einer ich dachte-DA eine Annahme Y, die S2 zum Zeitpunkt seiner Handlung in Position 2 für wahr hielt und die eine adäquate Begründung für S2s damalige Handlung bildete, von S2 jedoch mittlerweile (aufgrund von S1s Handlung in Position 3) als unzutreffend erkannt wurde; Arnulf Deppermann / Silke Reineke 356 5) S1 bestätigt die Inkorrektheit von Y. Sprecher nutzen ich dachte-TCUs in diesem Muster, um eine frühere Handlung zu begründen, die eventuell unangemessen gewirkt oder von einem Gesprächspartner offen so behandelt wurde, indem sie darlegen, dass diese Handlung auf einem Missverständnis zwischen den Gesprächsteilnehmern beruhte. Mit der ich dachte-TCU bringt S2 eine Annahme zum Ausdruck, die die Reaktion auf S1 in zweiter Position erklärt, die sich aber durch die Handlung von S1 in Folge der zweitpositionierten Handlung S2s als ungültig erwiesen hat. Der ich dachte-Account wird genutzt, um die Verständlichkeit oder die moralische Akzeptanz der Handlung in der zweiten Position sicherzustellen, die sonst auf irgendeine Art und Weise als normativ unzureichend (irrational, dumm, unhöflich, voreilig usw.) erscheinen würde. Einfache Fälle dieses Gebrauchs von ich dachte in vierter Position bearbeiten referenzielle Missverständnisse der Teilnehmer im vorangegangenen Gesprächsverlauf. Ein Beispiel ist (11). PB und AM sind in der Küche und sprechen über Essen: (11) FOLK_E_00027_SE_01_T_01_c0051 01 PB °hh was (.) SÜßes selbstgebacke[nes; ] 02 AM [WIRK]lich? 03 PB JA_A. 04 (0.34) 05 AM ja oKAY; 06 (1.83) 07 PB werd_s jetzt ma WEGschmeißen, 08 AM un waRUM denn? 09 (0.7) 10 PB den MÜLL. 11 (0.45) 12 AM ach ich dachte du SCHMEIßT -= 13 des sÜße STÜCKchen weg. 14 PB °h NEE- hh° In (Z. 01) spricht PB über selbstgemachtes Gebäck und kündigt in (Z. 07) an, er werde nun etwas wegschmeißen (‘es’). 17 AM reagiert auf diese Ankündigung mit einer warum-Frage, einer gebräuchlichen Form der Vorwurfsäuße- 17 Da PB keinen topic-shift markiert und in (Z. 07) zur Referenz ein Pronomen nutzt, das als koreferenziell zu „süßes selbstgebackenes“ (Z. 01) verstanden werden kann, lädt die sprachliche Gestaltung seines Turns geradezu zu einem referenziellen Missverständnis ein (das jedoch Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 357 rung (Günthner 1996). In seiner Antwort greift PB den Vorwurf nicht auf, sondern behandelt ihn als Reparaturinitiator: Mit der NP „den müll“ (Z. 10) repariert PB seine pronominale Referenz aus (Z. 07). Der Vorwurf scheint vorauszusetzen, PB habe das Gebäckstück wegwerfen wollen. In (Z. 12) äußert AM das change-of-state token „ach“ (Golato/ Betz 2008) und zeigt damit an, dass sie die korrekte Referenz nun verstanden hat. Sie fügt eine durch ich dachte gerahmte Äußerung an, die PBs durch die Reparatur angezeigte Auffassung, dass AMs Vorwurf auf einem referenziellen Missverständnis beruhte, bestätigt. So liefert sie eine Erklärung für ihren vorangegangenen Vorwurf und nimmt ihn damit gleichzeitig wieder zurück. Schließlich bestätigt PB die Inkorrektheit von AMs ich dachte-DA mit „nee“ (Z. 14). 18 Zur Sicherung gegenseitigen Verständnisses sind ich dachte-DA in vierter Position wie in (11) nicht notwendig: Das Verständnisproblem ist hier bereits intersubjektiv geklärt, als AM das change-of-state token „ach“ (Z. 12) äußert. Mit Blick auf die Intersubjektivitätsherstellung in der Interaktion scheint es vielleicht unökonomisch und sogar verwirrend, post hoc noch eine Annahme zu explizieren, nachdem diese gerade intersubjektiv widerlegt wurde. Trotzdem ist es zur Aufrechterhaltung einer solidarischen Beziehung und der Identität einer kompetent und rational Handelnden für AM wichtig, ihren vorangegangenen Vorwurf zu erklären, indem sie darlegt, dass dieser auf einer falschen Annahme beruhte. Sie rechtfertigt ihre Handlung als einen Vorwurf, der legitim gewesen wäre, hätte ihre Annahme zugetroffen. Der Account dient also implizit auch dazu, den Vorwurf zurückzuziehen. Sowohl die pragmatische Rücknahme der vorangegangen Handlung als auch die Erklärung ebendieser zu einer Handlung, die unter subjektiven, wenn auch faktisch falschen Annahmen, als rational gelten kann, zeigen an, dass AM um die öffentliche Wiederherstellung sowohl der Verständlichkeit als auch der normativen Akzeptabilität ihrer Handlung, die ansonsten unmotiviert erscheinen würde, bemüht ist. Im Gegensatz zu AM in Beispiel (9) in Abschnitt 5.1.1 liefert PB, der unmittelbar über das Wissen der von ihm intendierten Referenz (in Z. 07) verfügt, keine Erklärung für die Tatsache, dass sein Wissen von AMs Annahmen abweicht. In den meisten Fällen von ich dachte-DA als Begründung für vorangegangene unangemessene Handlungen äußert der Rezipient keine Erklärung für sein abweichendes Wissen. Eine Erklärung durch S1 scheint nur geäußert zu werden, wenn es, wie in Fällen wie (9), eine frühere Gelegenheit gab, zu durch Beobachtung seines körperlichen Handelns wahrscheinlich hätte ausgeschlossen werden können). 18 Bestätigungen der Inkorrektheit von ich dachte-DA werden immer als Negationen realisiert. Die Negation betrifft hier also nicht die Proposition des vorangegangenen Turns (d.h., dass S2 dachte, Y wäre der Fall), sondern nur die darin enthaltene Annahme Y. Arnulf Deppermann / Silke Reineke 358 der S1 die Annahme Y, die später widerlegt wurde, kommuniziert hat oder diese wenigstens als intersubjektiv gültig gelten konnte. Wenn jedoch S1 zuvor keine Haltung eingenommen hat, aus der hätte entnommen werden können, dass die durch S1 später widerlegte Annahme Y von S1 selbst geteilt wird, folgt keine Erklärung für die widerlegende Annahme X. Dies gilt umso mehr, wenn, wie in den meisten Fällen referenzieller Missverständnisse wie in (11), keine Erklärung benötigt wird, um zu verstehen, warum X gültig ist und das Verständnis von X nicht davon abhängt zu wissen, wie die Sachlage Y zu X wurde. Zu unangebrachten Reaktionen führende Missverständnisse, die später durch ich dachte-DA erklärt werden, können außer referenziellen Missverständnissen auch andere Aspekte konversationeller Bedeutung betreffen. In (12) beginnt AM, ihrer Mitbewohnerin US über eine MRT-Untersuchung zu erzählen, der sie sich am selben Tag unterzogen hat. Als Reaktion auf AMs Ankündigung einer Geschichte fragt US nach dem (medizinischen) Grund der Untersuchung. (12) FOLK_E_00055_SE_01_T_03_c384 01 AM ja mein VAter der hat; 02 °h geFRAGT, ähm; 03 wie_s mir GEHT,= 04 =weil ich heute (.) ähm ne KERNspintomographie hatte, 05 (.) °hh (.) äh wegen meinem RÜCKen. 06 [UND; ] 07 US [was ] IS da? 08 (0.23) 09 AM weil- 10 me: in (.) orthoPÄde. 11 weil ich (.) ich hatte so RÜCkenschmerzen, 12 er hat halt geMEINT- 13 [an dem EInen,] 14 US [°h ach SO ] was; 15 ach ich hab DACHT-= 16 = jetz schon irgendwas was SCH [ LIMmes; =weil du ] 17 AM [ach QUATSCH quatsch; ] 18 [<<all>NEIN nein nein nein nein>; ] 19 US [xxx (kernspintomographie) ] 20 AM °h NICHTS schlimmes; Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 359 AM erwidert auf die Nachfrage durch US (Z. 07), sie hätte Rückenschmerzen gehabt (Z. 09ff.). Nach einem change-of-state token, das anzeigt, dass sie von einer falschen Annahme ausgegangen war (Z. 14), setzt US ihren Turn mit der Aussage fort, sie hätte gedacht, AM litte unter einem ernsthaften medizinischen Problem (Z. 15f.). US‘ ich dachte-DA zeigt an, dass ihre Nachfrage (Z. 07) durch empathische Besorgnis um den Gesundheitszustand ihrer Freundin motiviert war. AM bestätigt die Inkorrektheit der ich dachte-DA - und damit auch die Grundlosigkeit der Besorgnis: „ach quatsch quatsch nein nein nein nein nein“ (Z. 17f.). Retrospektive Erklärungen für falsche Annahmen setzen jedoch nicht unbedingt voraus, dass S2 eine wahrnehmbare Handlung (wie in den Beispielen (11) und (12)) vorgenommen hat, die sich als unangemessen herausstellte. Es gibt auch Fälle, in denen S2 eine ich dachte-DA mit Bezug auf eine - inzwischen verworfene - unpassende Interpretation einer Handlung von S1 äußert, ohne dabei eine eigene vorangegangene Handlung zu erklären. In unseren Daten haben diese Offenbarungen falscher Interpretation unterhaltenden Charakter, da mit ihnen nachvollziehbare und witzige, aber nicht zutreffende Interpretationen von Partnerhandlungen geäußert werden. Im Ausschnitt (13) essen vier Mitglieder einer Wohngemeinschaft gemeinsam zu Abend. AM gießt Wein in NHs Glas. US zieht AM mit einer ich dachte-DA auf, indem sie angibt, sie dachte, AM würde den Wein in NHs anderes Glas schenken, das Salatsoße enthält: (13) FOLK_E_00055_SE_01_T_05_c253 01 AM ((gießt Wein in NHs Glas)) 02 AM dann ma[ch_ma_s (leer) ] 03 NH [ ja aber ni]ch MEHR weil ich en größers- ] 04 US [ ich hab grAd sch ] on eben gedacht du stEUerst auf ] des GLAS zu; = 05 AM =! NEI: : [: N! ] 06 US [°h ich wollt schon] (so) SCHREIN, 07 [<<h> ! HA: : : LT-! >] ((lacht)) 08 NH [des is meine re]stliche saLATsoße; 09 bitte NICHT; ((lacht)) 10 LM ((lacht)) 11 AM NEI: N ach QUATSCH. Vor ihrer mit ich dachte eingeleiteten TCU (Z. 04) zeigt US ihre fehlerhafte Annahme über AMs Handlung, nämlich dass sie Wein in das Glas mit Salatsoße gießen würde, in keiner Weise an. US erklärt sich also für eine Handlung, Arnulf Deppermann / Silke Reineke 360 die sie gar nicht durchgeführt hat, nämlich AM aufzufordern, ihre Handlung abzubrechen (Z. 06f.). Die falsche Annahme Y wurde weder in US‘ Verhalten offensichtlich noch projiziert sie einen Account von AM mit der Erklärung, warum diese den Wein nicht in das Glas mit der Salatsoße gegossen hat. Der (behauptete) Intersubjektivitätsbruch dient hier zur Unterhaltung, indem eine von normalerweise zu erwartendem Verhalten abweichende Handlung imaginiert wird, die offensichtlich nicht den Tatsachen entspricht. Die Äußerung der offensichtlichen Unwahrheit von Y wird in diesen Fällen nicht eingesetzt, um ein Intersubjektivitätsproblem anzuzeigen und zu reparieren, sondern um die Adressatin AM aufzuziehen. Diese streitet in Z. 05 und Z. 11 mit einem ernsthaften „po-faced receipt“ (Drew 1987) die Gültigkeit von Y ab. Auch wenn es den Beteiligten sowohl in den ernsthaften als auch in den scherzhaften Fällen einer Erklärung durch eine ich dachte-DA auf die Äußerung der ich dachte-DA hin wahrscheinlich so gut wie immer klar ist, dass S2s Annahme Y nicht (mehr) gültig ist, reagiert S1 fast jedes Mal mit einer Negation von Y. Offensichtlich ist es für Sprecher wichtig, zweifelsfrei sicherzustellen, dass die diskrepante Annahme des Gesprächspartners aus dem common ground ausgeschlossen und stattdessen ihre eigene Annahme intersubjektiv als gültig anerkannt wird. Pragmatisch liefern diese Gebrauchsarten von ich dachte-DA, ebenso wie die in Abschnitt 4.2 besprochene Praktik, Intentionen oder Gründe für Handlungen. Beide Praktiken dienen dazu, den ich dachte-Sprecher als rationalen Akteur darzustellen, dessen Handlungen und Gedanken auf vorheriger Reflektion beruhen. Es gibt jedoch einen bedeutenden Unterschied: Während beim Gebrauch von ich dachte in Abschnitt 4.2 eine rationale Basis für die vergangenen Handlungen des Sprechers in einem narrativen oder argumentativen Kontext gegeben wird, hat sich in den Fällen von ich dachte-DA die rationale Basis für die gegebene Handlung als falsch erwiesen, und einzig aufgrund dieser Eigenschaft wird die Annahme überhaupt geäußert. Ich dachte-DA ist zudem lokal durch die vorangegangene Sequenz bedingt: Die Unrichtigkeit der Annahme hat entweder zu einer unangemessenen Handlung innerhalb der Sequenz geführt und erfordert somit eine Erklärung, oder die Enthüllung einer unpassenden Interpretation stellt einen unterhaltsamen, kontrafaktischen Rahmen für vorangegangene Handlungen dar. 5.1.3 Narrativer Kontrast zwischen widerlegten und korrekten Annahmen Die in 5.1.1 und 5.1.2 besprochenen Verwendungen von ich dachte sind interaktional durch eine vorangegangene Handlung eines Gesprächspartners bedingt. In Narrativen tritt ich dachte-DA demgegenüber innerhalb eines multiunit-Turns auf. Sowohl X als auch Y werden vom selben Sprecher realisiert. In Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 361 diesem Kontext wird mit ich dachte-DA eine Annahme Y über ein Ereignis geäußert, die sich als falsch erwiesen hat, da sie später durch eine korrekte Annahme X widerlegt wurde (siehe Jefferson 2004; Sacks 1992; Wooffitt 1991). Im Gegensatz zu den bisher besprochenen interaktiven Fällen, in denen die Annahmen X und Y von verschiedenen Akteuren manifestiert werden, werden beide Annahmen derselben Person (dem erzählten Ich) zugeschrieben, jedoch als ungültige veraltete Annahme Y vs. gültige derzeitige Annahme X. Der ich dachte-Teil ist hier konstitutiv für die Erzählklimax (Labov/ Waletzky 1967), denn in dieser Art von Erzählungen ist es nicht die Kette von (unerwarteten) Handlungen (siehe Quasthoff 1980: „Planbruch“), sondern die unerwartete Veränderung des epistemischen Status des erzählten Ich, die die Geschichte erzählenswert macht. Kanonisch entspricht die chronologische Ordnung des narrativen Kontrasts zwischen der widerlegten Annahme Y und seiner Korrektur X der Erzählwelt jenem der erzählten Welt. Die prototypische sequenzielle Abfolge innerhalb der Erzählsequenz lautet daher ‘ich dachte-DA Y - ggf. Begründung, warum die Annahme Y für wahr gehalten wurde - korrekte Annahme X‘. So ist es auch in (14). LP erzählt von ihrem Besuch in einer Disko für Homosexuelle. Zunächst hebt sie hervor, sie habe kein Problem „damit“ (=Y), hätte aber im Verlauf des Besuchs erkannt, dass es ihr „zu viel“ sei und sie gehen wolle (=X). (14) FOLK_E_00042_SE_01_T_02_c488 01 LP ähm (.) also ich war mal in so ner SCHWUlendisko.=ja, 02 (0.34) 03 LP und LESbendisko; 04 AM (.) wo WARST du da le[na ] 05 LP [in stadt]_c in ähm; 06 (is des-) 07 (0.61) 08 LP ((unverständlich)) und weil ich hab halt_n (.) schwulen FREUND? 09 (0.34) 10 LP aus meiner äh (.) alten KLASse, 11 und ähm- 12 ((räuspern)) da hab ich gedacht ich hab kein proBLEM damit? 13 ((räuspern)) ich GEH dahin. 14 LK (.) hast du doch aber SCHON. 15 (1.31) 16 LP und ähm; (.) Arnulf Deppermann / Silke Reineke 362 17 LEUT des war- 18 (.) es war halt schon (.) KRASS,= 19 =weil (.) es waren halt leut es waren JUNGS drin, 20 (.) es waren auch so ab so ACHTzehn? 21 (0.34) 22 LP also sehr viele [JUgendlich; ] 23 AM [hm- ] 24 (0.3) 25 LP JÜNGere jungs-= 26 =und- 27 (0.48) 28 LP es is halt einfach schon was ANderes.= 29 =wenn du halt zwei normAle JUNGS siehst, 30 also du merkst ihnen nicht AN dass sie schwUl sind; 31 sie sind nicht TUNtig-= 32 =sie sind RICHtige jUngs, 33 (0.24) 34 LP und sie beGRABschen sich und [KÜSsen sich.] 35 AM [hm; ] 36 (0.24) 37 LP ich muss sAgen irgendwann war_s mir dann geNUG,= 38 =und (.) dann wOllt ich auch 39 (0.34) 40 [WEG.=] 41 LK [zu ] [VIEL. ] 42 LP [=weil_s] s war einfach zu VIEL. Wie Jefferson (2004) und Wooffitt (1991) an ihren Daten gezeigt haben, dient die Annahme Y dazu, anzuzeigen, dass der Erzähler eine rationale, moralisch integre Person ist, in diesem Falle, dass LP keine Vorurteile gegen Homosexuelle hegt und nicht darauf vorbereitet war, diese so zu erleben, wie sie es letztendlich tat (Z. 12f.). Vor diesem Hintergrund wird die diskrepante negative Haltung gegenüber Homosexualität, die sie in der folgenden Geschichte einnimmt, als durch ihre Erfahrung berechtigt gerahmt. Ich dachte-DA dient demnach dazu, die Glaubwürdigkeit der erzählten Gefühle zu unterstützen und die mögliche unvorteilhafte motivationale Zuschreibung ihrer negativen Emotionen an eine bereits zuvor vorhandene Einstellungstendenz auszuschließen. Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 363 Im Gegensatz zu dem, was gewöhnlich für die temporalen und epistemischen Dynamiken einer Erzählung gilt, ist es jedoch manchmal nicht die korrekte, zweite Annahme X, sondern die erste Annahme Y, die später widerlegt wurde, welche die Pointe der Geschichte ausmacht. In (15) erzählt AM von einer radiologischen Untersuchung, der sie sich kürzlich unterzogen hat. Während sie von Beginn an deutlich macht, dass sie eine radiologische Praxis besucht hat (=X), ist die Pointe der Geschichte hier, dass sie zuerst dachte, man hätte sie zu einem Tierarzt geschickt (=Y). (15) FOLK_E_00055_SE_01_T_08_c634 01 AM °h wo ich HEUte in dem °h ((schnaltzt)) ähm; 02 °h ((schnalzt)) in dieser (.) PRAxis war, 03 für die (.) KERNspin, 04 °h dacht ich erst es wär_n TIERarzt; 05 weil da w waren [UNten? ] 06 NH [h° ] 07 AM °h an den SCHEIben-= 08 =Überall solche POster gehangen; 09 so von wegen °h stoppt TIERversuche; 10 und hAltet die ARten aufrecht und so; 11 und unseren (.) schützt unseren Urwald vom we we EF und so; ja? 12 °h ä[hm (.) al]les VOLLgepostert; 13 NH [m_KAY; ] 14 AM <<all> dann hAb ich geDACHT ; = 15 = okay (ment) (.) bin ich vielleicht bin ich FALSCH ? > 16 °h aber [ich war dann doch RICHtig; =] 17 NH [((lacht)) ] 18 AM =und dann kam ich REIN? Durch die Verbindung des Temporaladverbs „erst“ mit dem Konjunktiv „wär“ und ich dachte (Z. 04) projiziert AM bereits, dass ihre Annahme Y, sie sei bei einem Tierarzt gelandet, später widerlegt werden sollte. AM beschreibt eine Fülle situativer Details - verschiedene Poster mit Slogans, die zum Tier- und Naturschutz aufrufen - als Gründe, die sie zur Annahme Y brachten. Im Gegensatz zu den Befunden der Daten von Jefferson (2004) und Wooffitt (1991) liegt das Erzählenswerte der Geschichte hier nicht im unwahrscheinlichen, aber korrekten Wissen über den tatsächlichen Sachverhalt, das der Sprecher laut Erzählung erst später gewinnt, während die ersten Gedanken gewöhnliche Annahmen waren, von denen jeder ausgegangen wäre. Stattdessen Arnulf Deppermann / Silke Reineke 364 liegt hier die Pointe der Geschichte in der unerwarteten, situationsunangemessenen Annahme, zu der das erzählte Ich der Geschichte zufolge zunächst gelangt (nämlich zu einem Tierarzt geschickt worden zu sein), bevor es schließlich erfährt, dass die normale, erwartbare Definition der Situation (nämlich zu einem Radiologen geschickt worden zu sein) tatsächlich zutrifft. Diese invertierte Beziehung zwischen X und Y hinsichtlich der Pointe der Erzählung ist für eine bestimmte Art von Geschichte konstitutiv: Die Geschichte handelt nicht von der Faktizität eines unwahrscheinlichen Ereignisses (welches die Glaubwürdigkeit des Erzählers bedroht und den Beweis erfordert, dass der Erzähler geneigt war, die Szene als rationale Person wahrzunehmen), sondern die Geschichte handelt von der lustigen Begebenheit einer unwahrscheinlichen und letztendlich auch inkorrekten Annahme, die jedoch unter den anfänglichen Voraussetzungen wahr zu sein schien. Dies wiederum könnte auch als (schwache) moralische Kritik an den Umständen verstanden werden (hier: die Dekoration der Praxis), welche den Sprecher auf die falsche Annahme gebracht haben. Ähnlich zu den Befunden von Jefferson (2004) und Wooffitt (1991) trägt die Erzählerin trotzdem Sorge, ihre rationale Wahrnehmung der Situation darzustellen. Sie präsentiert eine Fülle narrativer Details als Hinweise, dass auf Grundlage des optischen Eindrucks der medizinischen Praxis jeder andere denselben Schluss gezogen haben könnte wie sie, nämlich bei einem Tierarzt gelandet zu sein. 5.2 Zur Disambiguierung der lokalen Verwendung von ich dachte In Abschnitt 4 und 5.1 haben wir sechs unterschiedliche Praktiken des Gebrauchs von ich dachte vorgestellt. Die Unterschiedlichkeit dieser Praktiken stellt die Sprecher vor die Aufgabe, die lokale Bedeutung einer ich dachte-Äußerung durch kookkurrente Merkmale der Äußerungsgestaltung einzugrenzen, sofern die Äußerung nicht unter sequenziell eindeutig disambiguierenden Bedingungen produziert wird. In Abschnitt 4 haben wir bereits einige, typischerweise mit ich dachte in den verschiedenen Praktiken kookkurrierende sprachliche Strukturen und Kontextbedingungen benannt, die zur Disambiguierung der einzelnen Praktiken beitragen. Im Folgenden werden die bedeutungskonstitutiven Ressourcen, die speziell für die Identifikation einer ich dachte-Äußerung als Praktik der Äußerung einer diskrepanten Annahme relevant sind, detailliert betrachtet. Zu Beginn eine methodologische Anmerkung: In den 141 Fällen von ich dachte-DA in unseren Daten gibt es keine einzige kookkurrierende sprachliche, interaktionale oder pragmatische Eigenschaft, die als notwendige und hinreichende Bedingung für diese Praktik angesehen werden kann. Es gibt also keine notwendige Eigenschaft, die einheitlich für alle Belege von ich dachte-DA Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 365 gilt und die mit keiner anderen ich dachte-Praktik auftritt. Es gibt jedoch einige Eigenschaften, die bei einigen Belegen von ich dachte-DA kookkurrieren, aber mit keiner der anderen ich dachte-Praktiken verwendet werden. Im Folgenden werden wir somit hinreichende, optionale, aber nicht notwendige Bedingungen der Praktik ‘Äußerung einer diskrepanten Annahme’ vorstellen. Sowohl pragmatische Bedingungen als auch kookkurrierende sprachliche Merkmale können die Interpretation von ich dachte-DA einschränken: 1) Die korrekte Annahme X ist bereits Teil des common ground 2) Komplementsatz oder ich dachte im Konjunktiv 3) Vorangestellte change-of-state token 4) Temporaladverbialia 5) Folgender Kontrast mit korrekter Annahme Diese disambiguierenden Merkmale werden nun der Reihe nach besprochen. In vielen Fällen von ich dachte-DA treten mehrere dieser funktionseingrenzenden Faktoren gemeinsam auf. 5.2.1 Die korrekte Annahme X ist bereits Teil des common ground In mehr als der Hälfte der ich dachte-DA Fälle (n=87/ 141, 61,7%) war die Korrektheit der Annahme X bereits vor der Äußerung der ich dachte-TCU Teil des common ground. Dies kann auf drei Arten geschehen: a) Die korrekte Annahme wurde von einem anderen Sprecher mit Wissen aus erster Hand eingeführt In den Abschnitten 5.1.1 und 5.1.2 wurde geschildert, wie ein Sprecher S2 ich dachte-DA oft als Reaktion auf eine Handlung von S1 nutzt, der aus erster Hand über Wissen über den jeweiligen Sachverhalt verfügt, der in der ich dachte-TCU angesprochen wird. Die Handlung von S1 beinhaltet dabei entweder eine ausdrückliche Äußerung von X, welche der Annahme Y aus der mit ich dachte gerahmten Formulierung widerspricht (siehe 5.1.1), oder die Gültigkeit von X konnte aus der Handlung von S1 inferiert werden, was die Gültigkeit der Annahme Y ausschließt (siehe 5.1.2). Damit ist für die beteiligten Interagierenden also in diesen Fällen inferierbar, dass der ich dachte-Sprecher seine geäußerte Annahme aufgrund der Äußerung oder Handlung von S1 nicht mehr für (zweifelsfrei) wahr halten kann, er also eine diskrepante Annahme äußert. Arnulf Deppermann / Silke Reineke 366 b) Die korrekte Annahme wurde von demselben Sprecher eingeführt Manchmal hat der ich dachte-DA Sprecher bereits zuvor die Gültigkeit von X bestätigt. In gut einem Drittel der narrativen Fälle (siehe 5.1.3) kommen Sprecher oft erst zu der ich dachte-DA enthaltenden Geschichte, nachdem bereits erkennbar wurde, dass die durch ich dachte eingeleitete Annahme Y nicht der Wahrheit entspricht (n= 13/ 39, 33,3%). Entweder wurde dies in der vorangegangenen Interaktion oder zu einem frühen Zeitpunkt der Erzählung selbst deutlich (d.h. im Abstract oder der Orientierung der Geschichte, vgl. Labov/ Waletzky 1967), oder es wurde, wie in (15), eine Aussage getroffen, die nicht mit der Wahrheit der Darstellung des Sachverhalts in der ich dachte-TCU kompatibel ist. Sogar wenn die Pointe der Geschichte durch einen mit dem ich dachte-DA-Turn reinszenierten (Goffman 1974, Kap. 13) früheren, naiven und fehlerhaftem Wissensstand dargestellt wird, geschieht dies nur selten ohne Absicherung, d.h. ohne Begründung für die Plausibilität der Annahme zum vergangenen Zeitpunkt. Dies deutet darauf hin, dass die Orientierung des Erzählers auf die Wahrung einer Identität als rationale und vertrauenswürdige Person von höchster Wichtigkeit ist, selbst wenn die frühe Information, dass sich die ich dachte-DA als fehlerhaft erweisen wird, die Gefahr birgt, dass die Wirkung der Geschichte darunter leidet. c) Die korrekte Annahme fand bereits vor der aktuellen Interaktion Eingang in den common ground In manchen Fällen ist es möglich, dass die Gesprächspartner es für eine intersubjektiv klare Tatsache halten, dass die durch ich dachte-DA gerahmte Annahme Y nicht gültig ist, da eine ihr widersprechende Annahme X bereits Teil des common ground der Beteiligten ist. Dies kann der Fall sein, weil die Teilnehmer gemeinsame Erfahrungen gemacht, unabhängigen, aber gleichwertigen Zugang zum jeweiligen Sachverhalt haben oder zu einem früheren Zeitpunkt über das Thema gesprochen haben. In (16) unterhalten sich die Gesprächsteilnehmer über eine Person, die allen Anwesenden als Lauras (LS) Exfreund bekannt ist: (16) FOLK_E_00042_SE_01_T_02_c306 01 LS der hat halt ECHT so(.)Annei[gungen, ] 02 LP [zum BEIsp]iel als ich die (.) laura 03 als ich den frEUnd noch nich KANNte, 04 hab ich IMmer gedAcht er wär schwul; 05 AM ((lacht)) 06 LP ja ich kAnnte den irgendwie von der Uni, 07 LS (.) hm_hm- Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 367 08 LP und hab IMmer gedAcht der wär schwul - 09 (0.89) 10 LP [UND ähm- ] 11 LS [ ich dacht AUCH dass er ] schwUl is -= 12 [= beVOR ich ] mit ihm (( lacht )) zusAmmen [ gekommen bin? ] 13 LP [dann HAB ich] 14 AM [a ha ]ha? In diesem Fall ist es der Kontrast zwischen dem geteilten Wissen, dass Lauras Freund nicht homosexuell ist, und der Tatsache, dass LP und sogar Laura (LS) selbst ihn anfänglich für homosexuell hielten, der die Geschichte erzählenswert macht. 5.2.2 Komplementsatz oder ich dachte im Konjunktiv In n=35/ 141 Fällen (24,8%) steht ich dachte (n=9) oder der Satzteil, der durch ich dachte gerahmt wird, im Konjunktiv (n=26). Wie für das gesprochene Deutsch typisch, nutzen die Sprecher in unseren Daten niemals den Konjunktiv I, sondern immer den Konjunktiv II, den restriktiven Konjunktiv (Weinrich 1993, S. 253f.). Dieser sagt aus, dass der berichtete Sachverhalt nicht den Tatsachen entspricht und dass eine Proposition unter bestimmten Bedingungen, die allerdings nicht bestehen, wahr sein könnte. Der Konjunktiv zeigt an, dass S2 willens ist, den Glauben an Y aufzugeben. In Erzählungen wird so einmal mehr projiziert, dass Y sich als unwahr herausstellte: (17) FOLK_E_00042_SE_01_T_01 (Ausschnitt aus 16) 03 LP als ich den frEUnd noch nich KANNte, 04 hab ich IMmer gedAcht er wär schwul ; 5.2.3 Vorangestellte news-receipts und change-of-state token Wenn S2 die ich dachte-TCU mit einem auf den Turn von S1 bezogenen news receipt beginnt (n=32/ 102, 31,4% der ich dachte-DA, die nicht innerhalb einer Erzählung realisiert wurden (n=102/ 141)) und, noch spezifischer, mit einem der change-of-state token achso, ahso, ach, ahja oder tatsächlich (siehe Betz/ Golato 2008; Golato 2010; Golato/ Betz 2008; Imo 2009; n=19/ 102, 18,6% der ich dachte- DA, die keiner Erzählung entstammen), so zeigt dies eindeutig an, dass die folgende, mit ich dachte eingeleitete Annahme widerlegt wurde. Mit dem change-of-state token zeigen die Sprecher an, dass ein Sachverhalt, der zuvor unbekannt war, jetzt bekannt ist, oder dass ein Turn, der zuvor nicht oder missverstanden wurde, jetzt korrekt verstanden wurde (Heritage 1984, 2006, Arnulf Deppermann / Silke Reineke 368 2010). Da es sich beim Anzeigen des Erkenntnisprozesses (change-of-state) um eine responsive Aktivität handelt, werden diese Formen insbesondere in den interaktiven Gebrauchsarten, die in 5.1.1 und 5.1.2 besprochen wurden, verwendet. Ich dachte fungiert hier als kontrastierendes Konnektiv hinsichtlich des vorangehenden change-of-state token. (18) FOLK_E_00027_SE_01_T_01 (Ausschnitt aus (11)) 12 AM ach ich dachte du SCHMEIßT-= 13 des sÜße STÜCKchen weg. (19) FOLK_E_00055_SE_01_T_08_c634 (Ausschnitt aus (12)) 14 US [°h ach SO ] was; 15 ach ich hab DACHT-= 16 =jetz schon irgendwas was sch[LIMmes; =weil du] 5.2.4 Temporaladverbialia Einige Temporaladverbialia wie am Anfang, (zu)erst (vgl. auch Jefferson 2004), damals, einen Moment oder adverbiale Teilsätze wie „als ich den freund noch nicht kannte“ (Ausschnitt (17), Z. 03), zeigen an, dass eine Annahme während eines Zeitraums der Vergangenheit für wahr gehalten wurde, implizieren aber, dass dies zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr der Fall ist. Es gibt keine temporale Angabe, die routinemäßig zur ‘Äußerung einer diskrepanten Annahme’ verwendet wird - in unseren Daten tritt keine der Vergangenheitsadverbialia häufiger als dreimal auf. Allerdings werden jetzt (n=2) und immer (n=4) auch für eine temporale Modifikation von ich dachte-DA eingesetzt. Offensichtlich weisen diese Adverbien in jenen Fällen eine veränderte Semantik auf, jetzt bedeutet ‘gerade eben’ (vgl. Imo 2010), immer wird als Extremformulierung (Pomerantz 1986) gebraucht, die die subjektive Gewissheit des widerlegten Glaubens in der Vergangenheit kontextualisiert. 5.2.5 Folgender Kontrast mit korrekter Annahme Wie bereits in 5.2.1 erwähnt, wurde in vielen Fällen von ich dachte-DA die korrekte Annahme X bereits zuvor explizit gemacht oder kann aus dem vorangegangenen Gespräch inferiert werden. Trotzdem gibt es n=30/ 141 Fälle (21,3%), in denen keine der in den Abschnitten 5.2.1-5.2.4 beschriebenen diskursiven und sprachlichen Merkmale auftreten. Stammen diese Fälle aus Erzählungen (10/ 39), wird die Annahme X erst nach der mit ich dachte eingeleiteten Annahme Y formuliert. So ist die Einstellung, die der Sprecher gegenüber der Gültigkeit von Y hat, dem Empfänger während des Zuhörens eventuell Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 369 noch unklar oder bedarf einer späteren Neubewertung, da ihr Wahrheitsgehalt erst im Nachhinein durch die Kontrastierung mit der Annahme X festgelegt wird. Solch ein Beispiel ist (20). Die Gesprächsteilnehmer erinnern sich gemeinsam, dass eines der Kinder der Familie einmal jede Menge Zuckererbsen gegessen hat, die im Garten der Familie wuchsen. (20) FOLK_E_00161_SE_01_T_02_c133 01 AU ich weiß nich wie viele KIlo- (.) 02 FK [ha, ] 03 TU [! TON! ][nen; ] 04 AU [zUckerer]bsen [die dIEses jahr in sich rEIngestopft] hat- 05 FK [°h ha ha ha °h ] 06 °h ich dacht die kriegt BLÄhungen oder BAUCHschmerzen- 07 aber NIX, 08 is ja GUT gegangen ; (.) FK stellt eine durch ich dachte eingeleitete Erwartung über den Effekt des Verzehrs einer großen Menge Zuckererbsen an, die dann erst durch die nachgestellte Erzählung dessen, was tatsächlich geschah, widerlegt wird (Z. 06f.). 6. Fazit Auf Grundlage eines großen Korpus gesprochener Sprache haben wir für das Deutsche sechs Praktiken identifiziert, mit denen durch ich dachte eine epistemische oder eine evaluative/ affektive Einstellung ausgedrückt wird. Wir konnten zeigen, dass ich dachte nur selten genutzt wird, um auf einen vergangenen mentalen Prozess zu verweisen. In der großen Mehrheit der Fälle wird durch ich dachte eine epistemische Haltung angezeigt, meist im Hinblick auf eine bestimmte Assertion, Bewertung oder einen Plan, deren Gültigkeit oder Adäquatheit in der aktuellen Interaktionssequenz ausgehandelt wird. Am häufigsten wird ich dachte genutzt, um anzuzeigen, dass ein Sprecher von bestimmten Annahmen ausging, die sich durch vorangegangene Aussagen oder Verhaltensweisen eines Gesprächspartners oder durch spätere Ereignisse einer dargestellten Ereignisabfolge als fraglich oder widerlegt erwiesen haben. Die Ergebnisse tragen zu den Befunden über epistemische Ansprüche und Zuschreibungen in der Interaktion bei, indem sie aufzeigen, wie unabdingbar intersubjektives grounding und wechselseitige Verständigung über geteilte Annahmen und Erwartungen für die Koordination von Handlungen sind, sowohl in der aktuellen Interaktion als auch hinsichtlich der über sie Arnulf Deppermann / Silke Reineke 370 hinausgehenden Pläne individueller Akteure, soweit sie davon abhängig sind, was andere Menschen tun und für wahr halten. Ich dachte-TCUs spielen eine wichtige Rolle bei der Anzeige und der Reparatur auftretender Intersubjektivitätsbrüche, da sie die epistemische Position des Sprechers formulieren und Handlungserklärungen und Verhandlungen über die Annahmen der Gesprächsteilnehmer über die Welt sowie über ihre Handlungserwartungen initiieren, wodurch common ground restituiert wird. Die Sicherung eines epistemischen common ground für wechselseitige (zukünftige) Koordination ist aber nicht alles, worauf es ankommt. Selbst wenn ihre epistemischen Ursachen erkannt und repariert worden sind, können Hinweise oder der Verdacht auf Meinungsverschiedenheiten, versäumte Informationsweitergabe, mangelnde Wahrnehmung des Gesprächspartners und ähnliche unangemessene Verhaltensweisen zunächst die Qualität der interpersonellen Beziehung gefährden und eventuell zu Rückschlüssen über negative Einstellungen und unerwünschte Erwartungen führen. Sobald eine epistemische Diskrepanz offenbar geworden ist, investieren Interaktanten häufig viel mehr Gesprächsarbeit in die Herausarbeitung des Wesens, des Ursprungs und der Inkorrektheit widerlegter Annahmen als nötig wäre, wenn einzig epistemischer common ground hinsichtlich gültiger Annahmen erreicht werden müsste. Widerlegte Annahmen können außerdem auch zum Gegenstand intrinsischen konversationellen Interesses an sich werden, wenn ungültig gewordene Annahmen Auslöser für komische Momente in der Interaktion sind. Sie dienen als Material und Ausgangspunkt für Neckereien und Unterhaltung durch Auffassungen, die als absurd oder unwahrscheinlich entlarvt wurden, sowie für kollaboratives Fiktionalisieren. In unseren Daten treten ausgebautere Sequenzen der Aushandlung (und Ausbeutung) von widerlegten Annahmen lediglich in Alltagsgesprächen auf. Wenn die Gesprächsteilnehmer sich an der Progressivität der Bearbeitung einer institutionellen Aufgabe orientieren, schließt dagegen die Wiederherstellung epistemischen common grounds die Sequenz fast immer ab. Die Zusammenfassung der verschiedenen ich dachte-Praktiken mag insofern verwundern, als ich dachte gegensätzliche Funktionen erfüllen kann: Es kann eingesetzt werden, um sowohl richtige als auch falsche Annahmen, Lesarten im Präsens und in der Vergangenheit, Herab- oder Heraufstufung von Gewissheit, situierte Momente/ Prozesse sowie anhaltende Annahmen und Erwartungen anzuzeigen. Wir haben kontextuelle grammatische Praktiken, lexikalische Kookkurrenzen, sequenzielle und turn-interne Positionen von ich dachte (im Verhältnis zur narrativen Struktur) identifiziert, die zumindest teilweise für die Bedeutung individueller Verwendungen von ich dachte verantwortlich sind. Trotz der Tendenzen hinsichtlich dieser Eigenschaften hat sich keine einzige Eigenschaft gezeigt, die im strengen Sinne, d.h. als notwendige Verwendungen von ich dachte in gesprochener Sprache 371 Bedingung für die Definition einer der besprochenen Praktiken fungiert. Trotzdem ist die lokale Interpretation einzelner Fälle vor dem Hintergrund ihrer sequenziellen und/ oder turn-konstruktionalen Position meist eindeutig oder wird es zumindest unter Berücksichtigung des größeren Gesprächskontextes. In methodologischer Hinsicht zeigt unsere Untersuchung die Wichtigkeit einer exhaustiven und vollumfänglichen Analyse aller Belege, die als Kandidaten einer Praxis, die in unserem Fall lexikalischen und grammatischen Beschränkungen unterliegt, in Frage kommen könnten. Untersuchungen dieser Art sind notwendig, um voreilige, auf Generalisierungen einer beschränkten Bandbreite von formalen Realisierungen und Interaktionskontexten basierende Aussagen über Praktiken und soziale Handlungsformate (social action formats) zu vermeiden. Die Identifikation von Praktiken auf einer robusten methodologischen Basis erfordert die Betrachtung aller formgleichen Belege eines umfassenden Korpus, um zu sehen, ob sie für dieselben interaktionalen Belange in denselben Arten von Kontexten benutzt werden. Am wichtigsten ist jedoch der Vergleich der Varianten von Form, lexiko-grammatischer Kookkurrenz sowie sequenziellem und pragmatischem Kontext, um herauszufinden, wann Gebrauch und Interpretation unterschiedlich sind und welche Formen in welchen Kontexten wirklich als Instanzen identifizierbarer Praktiken eine gemeinsame Gruppe bilden (vgl. Schegloff 1996b). Die belastbare Identifikation einer Praktik erfordert häufig die Identifizierung anderer, ähnlicher Praktiken, die formal und pragmatisch verwandt sind, aber mehr oder weniger subtile Unterschiede hinsichtlich ihrer Gebrauchskontexte, Interpretationen und formalen Realisierungen aufweisen. Literatur Aijmer, Karin (1997): I think - an English modal particle. In: Swan, Toril/ Westvik, Olaf Jansen (Hg.): Modality in Germanic languages. (= Trends in Linguistics. Studies and Monographs 99). Berlin: Mouton de Gruyter, S. 1-47. Berend, Nina (2005): Regionale Gebrauchsstandards - Gibt es sie und wie kann man sie beschreiben? In: Eichinger, Ludwig M./ Kallmeyer, Werner (Hg.): Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache? (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2004). Berlin: de Gruyter, S. 143-170. Betz, Emma/ Golato, Andrea (2008): Remembering relevant information and withholding relevant next actions: the German token ‘ach ja’. 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HENRIKE HELMER / ARNULF DEPPERMANN / SILKE REINEKE ANTWORT, EPISTEMISCHER MARKER ODER WIDERSPRUCH? SEQUENZIELLE, SEMANTISCHE UND PRAGMATISCHE EIGENSCHAFTEN VON ICH WEISS NICHT 1. Einleitung und Überblick Dieser Artikel behandelt unterschiedliche Verwendungspräferenzen von TCUs mit dem negierten Verb nicht wissen in der ersten Person Singular Präsens im gesprochenen Deutsch. Die grundlegende Semantik von wissen ist „durch eigene Erfahrung oder Mitteilung von außen Kenntnis von etwas, jemandem haben, sodass zuverlässige Aussagen gemacht werden können“ (Duden online 2016). Entsprechend bedeutet die negierte Form nicht wissen das Gegenteil: ‘keine (zuverlässige) Kenntnis haben’. Die Möglichkeit, ‘zuverlässig’ als Teil der Bedeutung von nicht wissen zu sehen oder nicht, deutet schon auf einen grundlegenden Interpretationsspielraum von nicht wissen in der 1.P.Sg. hin, den sich Sprecher zu Nutze machen (können). Zum einen können sie damit anzeigen, überhaupt kein Wissen über einen Sachverhalt zu besitzen. Wenn Sprecher ich weiss nicht 1 in der laufenden Interaktion nutzen, nehmen sie dieses absolute Nichtwissen aber nicht immer für sich in Anspruch. Basierend auf einer Untersuchung einer umfangreichen Kollektion zeigen wir, dass eine TCU mit ich weiss nicht für eine Vielzahl von Handlungen innerhalb responsiver Turns verwendet werden kann: Auf epistemischer Ebene kann die Verwendung unterschiedliche Grade von Nichtwissen sichtbar werden lassen oder Unsicherheit über den Wahrheitsgehalt bzw. den Status einer Vermutung einer folgenden Aussage anzeigen. Auf pragmatischer Ebene kann ich weiss nicht anzeigen, dass die folgende Antwort möglicherweise nicht hinreichend relevant, adäquat oder gefällig ist. Ebenso nutzen Sprecher Äußerungen mit ich weiss nicht, um eine anstehende dispräferierte Handlung oder den Unwillen anzuzeigen, bei einem joint project zu kooperieren. Auf propositionaler Ebene kann ich weiss nicht zudem nicht nur dispräferiert, sondern auch disaffiliativ eingesetzt werden, d.h. um einen Widerspruch zu einer vorangegangenen Aussage anzeigen. 1 Im Folgenden verwenden wir die Schreibung mit Kapitälchen (ich weiss nicht), wenn wir uns generisch auf alle Argumentrealisierungsmuster von nicht wissen in 1.P.Sg. beziehen. Konkrete Varianten setzen wir kursiv (ich weiß es nicht, weiß ich nicht, ich weiß nicht usw.). Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 378 In dieser Untersuchung werden folgende Merkmale, die mit der Funktion von ich weiss nicht assoziiert sind, aufgezeigt und besprochen: 1) Argumentrealisierungsmuster und Wortstellung, 2) Art der Handlung im vorangegangenen Turn, auf den ich weiß nicht sich bezieht, 3) Art der Handlung, die innerhalb desselben Turns auf ich weiß nicht folgt, 4) Kooperativität des ich weiss nicht-Sprechers, 5) Skopus von ich weiss nicht, 6) Die Semantik von ich weiss nicht. Einige dieser Merkmale sind voneinander abhängig und daher für eine systematische Untersuchung kaum getrennt voneinander analysierbar. Im Folgenden werden wir die Ergebnisse daher systematisch nach den fünf typischsten Gebrauchsmustern von ich weiss nicht in der Interaktion strukturieren. Für die Klärung der Gebrauchsunterschiede sind die unterschiedlichen Argumentrealisierungsmuster das am stärksten distinktive Merkmal, z.T. auch zusammenhängend mit der Wortstellung. Auch wenn es sich hierbei nicht um kategoriale Unterschiede handelt, strukturieren wir unsere Untersuchung auf dieses Merkmal hin, da wir hierfür klare Verteilungsmuster finden konnten. Ein Fokus der Untersuchung liegt auf den unterschiedlichen epistemischen und interaktionalen Funktionen voll realisierter Varianten (mit Subjekt und Objekt) sowie reduzierter Varianten mit der Wortstellung ‘Verb - Subjekt’ im Vergleich zu reduzierten Varianten mit der Wortstellung ‘Subjekt - Verb’ und nur mit Verb. Unsere Analyse orientiert sich an interaktionslinguistischer Methodik und betrachtet sowohl die Position von ich weiss nicht innerhalb des Turns als auch in der Sequenz, die grammatische Form, pragmatische Funktion sowie Auffälligkeiten im weiteren interaktionalen Verlauf. Nach einer Einordnung unserer Studie in den derzeitigen Forschungsstand zu negativen epistemischen Konstruktionen im Deutschen und in anderen Sprachen (Abschnitt 2) folgt eine Vorstellung unserer Datengrundlage und Methoden (Abschnitt 3). Der Hauptteil der Untersuchung umfasst die Befunde zu den unterschiedlichen Argumentrealisierungsmustern von ich weiss nicht im Zusammenhang mit ihren Verwendungsmustern (Abschnitt 4). Abschnitt 5 schließt die Untersuchung mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse ab. Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 379 2. Bisherige Forschung zu negativen epistemischen Konstruktionen Die Relevanz epistemischer Verben zur stance-Markierung im Gespräch ist während der letzten zehn Jahre zu einem bedeutenden Forschungsgegenstand der interaktionalen Linguistik geworden. Es wurde wiederholt gezeigt, wie Konstruktionen mit epistemischen Verben als Diskursmarker eingesetzt werden (z.B. Kärkkäinnen 2003; Thompson 2002). Die Forschung zu negativen epistemischen Konstruktionen hat sich besonders mit I don’t know (ich weiss nicht) (Tsui 1991; Scheibman 2000; Aijmer 2009; Weatherall 2011) und den entsprechenden Äquivalenten in anderen Sprachen befasst (Keevallik 2006, 2011 zum Estnischen; Maschler 2012 zum Hebräischen; Pekarek Doehler 2016 zum Französischen). Es scheint unumstritten, dass ich weiss nicht auch dann geäußert wird, wenn der Sprecher eigentlich über Informationen verfügt und diese auch weitergeben kann (Östman 1981; Tsui 1991; Beach/ Metzger 1997; Kärkkäinen 2003; Diani 2004; Auer/ Günthner 2005; Aijmer 2009; Weatherall 2011). Die meisten Studien betonen außerdem, dass die Konstruktion je nach Kontext ein breites Gebrauchsspektrum aufweist (Östman 1981; Beach/ Metzger 1997; Aijmer 2009). ich weiss nicht wird insbesondere mit den folgenden Funktionen assoziiert: - Anzeige von Zögern, Unsicherheit, Zweifel oder Besorgnis (Östman 1981; Beach/ Metzger 1997; Pichler 2007; Aijmer 2009; Weatherall 2011; Pekarek Doehler 2016), dann meist als „preliminary epistemic hedge“ (Weatherall 2011) oder „prefatory epistemic disclaimer“ (Schegloff 1996), der einen folgenden Turn rahmt und anzeigt, dass der Sprecher die Verbindlichkeit hinsichtlich der Wahrheit der Proposition herabstuft; - Anzeige des Unvermögens, angemessen zu antworten (Weatherall 2011); - Anzeige von Unwillen zu antworten (Beach/ Metzger 1997; Aijmer 2009; Weatherall 2011) bis hin zu Projektion von Nicht-Kooperation (Keevallik 2011); - Themenwechsel/ -beendigung (Beach/ Metzger 1997; Aijmer 2009; Pekarek Doehler 2016); - höfliche Vermeidung eines face-threatening acts (FTA, siehe Brown/ Levinson 1987), etwa wenn Sprecher nicht widersprechen wollen, eine Einladung oder eine Bitte ablehnen möchten etc. (Tsui 1991; Beach/ Metzger 1997; Pichler 2007; Aijmer 2009); - bei parenthetischem, nicht-responsivem Gebrauch innerhalb eines multiunit-Turns: als Häsitationsmarker oder speech management signal, das dem Sprecher die Möglichkeit bietet, Zeit zur Planung einer Folgeäußerung oder zur Selbstkorrektur zu gewinnen (Auer/ Günthner 2005; Aijmer 2009; Pekarek Doehler 2016). Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 380 Ebenfalls untersucht wurden Unterschiede hinsichtlich der Prosodie (v.a. Tonhöhe, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit; vgl. Weatherall 2011) sowie die sequenzielle Position von TCUs mit nicht wissen (Potter 1997, Scheibman 2000; Aijmer 2009). Scheibman (2000) fand eine Verbindung zwischen morphophonetischer Variation und pragmatischer Funktion: I don’t know mit vollen Vokalen 2 habe eine wörtliche Semantik von ‘nicht wissen’, für fast alle Varianten mit reduzierten Vokalen weist Scheibman die Funktion als hedge, eine gesichtswahrende Funktion oder die Funktion als Signal für einen Sprecherwechsel aus. Einige Untersuchungen erwähnen unterschiedliche Positionen von ich weiss nicht in multi-unit-Turns (Auer/ Günthner 2005; Aijmer 2009). Mit Ausnahme von Komplementsätzen betrachten aber nur wenige Untersuchungen die Effekte verschiedener Argumentrealisierungsmuster (z.B. Imo 2007; Keevallik 2011; Pekarek Doehler 2016). Hier setzt die folgende Untersuchung an. 3. Daten Unsere Analyse beruht auf dem Forschungs- und Lehrkorpus gesprochenes Deutsch (FOLK) (vgl. Schmidt 2014 sowie die Einleitung dieses Bandes). FOLK umfasste zum Zeitpunkt der Analysen (2014) 101 Stunden Audioaufnahmen aus unterschiedlichen Interaktionstypen, z.B. Gespräche unter Freunden, Eltern und Kindern, Paaren, Besprechungen während des Schichtwechsels im Krankenhaus, mündliche Universitätsprüfungen und Klassenrauminteraktionen. Auf der Basis dieses Korpus haben wir unsere Kollektion erstellt, indem wir nach allen Belegen von nicht wissen in der ersten Person Singular Präsens - einschließlich aller regionalen morphophonetischen Varianten und unterschiedlicher Argumentrealisierungsmuster - gesucht haben (siehe Abschnitt 4). Unsere Kollektion umfasst insgesamt N=290 Belege von ich weiss nicht. Nach umfassenden Einzelfallanalysen einer Teilmenge wurde jeder einzelne Beleg in Excel hinsichtlich verschiedener Kategorien codiert, beispielsweise nach grammatischen Merkmalen von ich weiss nicht oder Handlungen im vorangegangenen sowie im ich weiss nicht-Turn. 2 Mit ‘vollen Vokalen’ meint Scheibmann mit [õ] gesprochene Vokale in don’t, als ‘reduzierte Vokale’ versteht sie solche, die mit [ə] artikuliert werden (vgl. Scheibman 2000, S. 108). Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 381 4. Hauptmuster von ich weiss nicht Die verschiedenen von uns untersuchten grammatischen Varianten von ich weiss nicht unterscheiden sich hinsichtlich ihrer 1) Argumentrealisierung: a. Vollrealisierung mit Subjekt und Objektpronomen: ich weiß es/ das nicht/ das weiß ich nicht (n=85/ 290) b. Auslassung des Objekts: ich weiß nicht/ weiß ich nicht (n=162/ 290) c. Nullrealisierung (d.h. Auslassung von Subjekt und Objekt): weiß nicht (n=43/ 290). 2) Morphologie: Das Akkusativobjekt kann als sächliches Pronomen es (n=48/ 290) oder als demonstrative Variante das (n=37/ 290) realisiert werden. 3) Wortstellung: a. In vollrealisierten transitiven Sätzen kann das Objektpronomen es dem Verb nur folgen; ich weiß es nicht (SVO) (n=48/ 290); das Objektpronomen das kann dem Verb entweder vorangehen oder ihm folgen: das weiß ich nicht (OVS) (n=32/ 290) vs. ich weiß das nicht (SVO) (n=5/ 290). b. Wird das Objekt ausgelassen, kann das Subjekt dem Verb entweder vorangehen oder folgen: ich weiß nicht (SV) (n=90/ 290) vs. weiß ich nicht (VS) (n=65/ 290). Wenn ich weiss nicht responsiv und innerhalb eines multi-unit-Turns geäußert wird, so geschieht dies zwar meist als initiale TCU (n = 210), ich weiss nicht kann jedoch auch parenthetisch eingebettet sein oder als finale TCU auftreten. Solche responsiven Fälle in turnmedialer (n = 42) und turnfinaler Position (n = 34) schließen wir bei der folgenden Darstellung der Befunde aus, da uns speziell interessiert, welche prospektiven Qualitäten turninitiales ich weiss nicht für die Handlungs- und Sequenzorganisation hat (für die Besprechung turnmedialer und -finaler Fälle siehe Pekarek Doehler 2016 und Helmer/ Deppermann 2017). Die im Folgenden angegebenen Zahlen basieren also nur auf den initialen Fällen von ich weiss nicht (N=210). In unseren Daten haben wir fünf Interaktionsmuster von ich weiss nicht gefunden, die tendenziell mit den Argumentrealisierungsmustern von ich weiss nicht assoziiert sind. Sprecher können ich weiss nicht als voll responsiven Turn, d.h. als Antwort auf eine Entscheidungs-, Ergänzungs- oder Alternativfrage einsetzen und im Anschluss auch nichts weiter zum Thema beitragen (4.1.1). Häufig werden Turns, die mit ich weiss nicht beginnen, aber expandiert. Die Expansionen dienen der retrospektiven Klärung und Anzeige semantischer, epistemischer und pragmatischer Aspekte der situierten Be- Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 382 deutung von ich weiss nicht. Neben der Betonung oder Erklärung ihres Nichtwissens und somit dem Zurückweisen epistemischer Autorität (4.1.2), können Sprecher ihre mangelnde Kooperationsbereitschaft anzeigen, indem sie das Thema als irrelevant markieren oder eine Antwort verweigern (4.1.3). In der Mehrzahl der Fälle verhalten sich Sprecher im Fall von Expansionen jedoch kooperativ und führen das Thema im weiteren Interaktionsverlauf fort, indem sie irgendeine Art des Wissens äußern, das helfen könnte, die fragliche Thematik zu klären und etwas zum joint project beizutragen (4.2.1 und 4.2.2). Das fünfte Muster unterscheidet sich hinsichtlich seiner sequenziellen, semantischen und pragmatischen Eigenschaften von den anderen vier: Wenn Sprecher mit ich weiss nicht nicht auf Entscheidungs-, Ergänzungs- oder Alternativfragen, sondern auf Assertionen, Bewertungen oder rhetorischen bzw. suggestiven Fragen eines anderen Sprechers reagieren, äußern sie einen disaffiliativen Turn, der immer einen Widerspruch zur Äußerung des vorherigen Sprechers ausdrückt (4.3). Vollrealisierte Varianten (SVO/ OVS) Reduzierte Varianten VS Reduzierte Varianten SV Nullrealisierung V Gesamt 1) Themenbeendigung/ kein weiterer Beitrag zum Thema 20 (32,3%) 2 20 (37,7%) 15 (22,7%) 7 (24,1%) 62 (29,5%) 2) Betonung und Erklärung des Nichtwissens 9 (14,5%) 2 (3,8%) 4 (6,1%) 1 (3,5%) 16 (7,6%) 3) Anzeige der Irrelevanz der Frage/ des Themas 6 (9,7%) 3 (5,7%) 1 (1,5%) 1 (3,5%) 11 (5,2%) 4) epistemischer und pragmatischer Marker 23 (37,1%) 22 (41,5%) 41 (62,1%) 19 (65,5%) 105 (50%) 5) Widerspruch 3 (4,8%) 2 (3,7%) 4 (6,1%) 0 10 (4,8%) nicht interpretierbar 3 1 4 1 1 7 62 53 66 29 210 Tab. 1: Verteilung unterschiedlicher Verwendungsmuster in Verbindung mit Argumentrealisierungsmustern von ich weiss nicht 3 Die Prozentzahlen beziehen sich auf die relative Häufigkeit der spezifischen Zelle in Abhängigkeit der Gesamtzahl des jeweiligen Argumentrealisierungsmusters. In diesem Fall bedeutet die Prozentangabe: ‘in 32,3 % aller 62 vollrealisierten Fälle äußert der Sprecher keinen weiteren Beitrag zum Thema nach dem von ihm geäußerten ich weiss nicht (=das weiß ich nicht, ich weiß das nicht, ich weiß es nicht)’. 4 Die nicht interpretierbaren Turns sind unverständlich oder unvollständig, i.d.R. treten Abbrüche dabei aufgrund von Überlappungen auf. Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 383 Wie man Tabelle 1 entnehmen kann, sind die beschriebenen unterschiedlichen interaktionalen Gebrauchsarten von ich weiss nicht tendenziell mit unterschiedlichen Argumentrealisierungsmustern und Wortstellungen assoziiert. 5 In allen Fällen, d.h. egal mit welcher Argumentrealisierung, zeigen Sprecher am häufigsten Wissen oder Kooperationsbereitschaft nach ihrer TCU mit ich weiss nicht an. Das vollständige Argumentrealisierungsmuster (das weiß ich nicht, ich weiß das/ es nicht) und die reduzierte Form mit der Wortstellung VS (weiß ich nicht) nutzen Sprecher im Gegensatz zu den anderen beiden Argumentrealisierungsmustern aber zusätzlich sehr häufig als vollständigen Turn, der keinen weiteren Beitrag projiziert, sondern eine eigenständige Antwort darstellt (vgl. Zeile 1). Fast immer leicht häufiger als bei den SV- und V-Varianten betonen Sprecher in einem Folgebeitrag nach vollrealisierten und VS-Varianten den tatsächlichen Mangel an Wissen oder zeigen fehlende Kooperationsbereitschaft an, indem sie die Relevanz der Frage herunterstufen (vgl. Zeile 2 und 3). Die spätere Anzeige von vorhandenem Wissen und dem Willen zur Kooperation geht dagegen deutlich häufiger mit dem reduzierten Mustern in SV-Wortstellung (ich weiß nicht) und der Variante mit Verb und Negation allein (weiß nicht) (vgl. Zeile 4) einher. 4.1 Initiales ich weiss nicht mit retrospektivem Skopus In vielen Fällen hat ich weiss nicht einen eindeutig retrospektiven Skopus und ist als Antwort auf eine Frage zu verstehen. Dabei ist es natürlich nicht möglich, sichere Aussagen über den tatsächlichen epistemischen Status der Sprecher zu treffen, insbesondere wenn Sprecher bis auf ich weiss nicht nichts Weiteres zum Thema beitragen (Abschnitt 4.1.1). Sprecher beanspruchen lediglich, etwas nicht zu wissen; ob dem tatsächlich so ist oder ob die Behauptung von Nichtwissen dem strategischen Zweck dient, das Thema zu beenden, lässt sich nicht sicher feststellen. In einigen Fällen gibt es aber Anhaltspunkte dafür, dass Sprecher tatsächlich kein Wissen zum in Frage stehenden Sachverhalt haben, nämlich wenn sie ihren Turn fortsetzen und dabei anzeigen, dass sie zum entsprechenden Thema nichts sagen können: Dies sind Belege, in denen Sprecher ihr Nichtwissen erklären, wiederholen oder reformulieren (Abschnitt 4.1.2). Andere Turnfortsetzungen bzw. spätere Beiträge zum in Frage stehenden Sachverhalt deuten wiederum darauf hin, dass der epistemische Status nicht das primäre Problem ist, sondern Sprecher unwillig sind, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen (Abschnitt 4.1.3). Allen drei Mustern ist gemein, dass ich weiss nicht als Antwort auf eine Entscheidungs-, Ergänzungs- oder Alternativfrage fungiert und Sprecher die Bedeutung als „keine Kenntnis über den Sachverhalt haben“ behandeln. 5 Auf das fünfte Muster, den disaffiliativen Gebrauch als Widerspruch, der durch die Art des vorangehenden Turns bedingt wird, trifft dies nicht zu. Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 384 4.1.1 Muster 1: Themenbeendigung/ kein weiterer Beitrag zum Thema Häufig beenden Gesprächsteilnehmer ein Thema mit ich weiss nicht: In 62 Fällen (siehe Tabelle 1), zeigen Sprecher anschließend kein Wissen an und kommentieren das Thema nicht weiter, weder durch eine Turnerweiterung noch später, wenn etwa andere Sprecher weiter etwas zum Thema beitragen. Beispiel (1) zeigt einen solchen single-unit-Turn. Die Studenten Anita und Patrick unterhalten sich über ein Event, an dem Patrick teilgenommen hatte: (1) FOLK_E_00049_SE_01_T_01, 00: 07: 00 - 00: 07: 14 01 AM ja un wann WAR de: : r (.) bierkönig °h abend gewesen; 02 (0.22) 03 AM d[ieses WOChen]ende; 04 PH [mh: ; ] 05 SAMSCHtag,= 06 =ja- 07 (0.58) 08 AM SAMStag; 09 (0.29) 10 AM was hast du FREItag gemacht, 11 (1.45) 12 PH mh: : ; 13 (2.04) 14 WEIß ich jetz nimmer. 15 (0.48) 16 AM un was macht deine SCHWESter. 17 (0.74) 18 AM was TREIBT die-= 19 =wo treibt die sich RUM. Nachdem Anita Patrick zuerst fragt, ob das Event am vergangenen Wochenende stattgefunden hat (Z. 01/ 03), bestätigt Patrick dies mit „SAMSCHtag,=ja-“ (Z. 05-06). Nachdem Patricks Aktivitäten von Samstag damit geklärt sind, interessiert Anita zusätzlich, was ihr Bekannter an demselben Wochenende am Freitag gemacht hat (Z. 10). Patrick antwortet mit „WEIß ich jetz nimmer.“ (Z. 14). Die Antwort erfolgt erst nach einem Verzögerungsmarker (Z. 12) und langen Pausen (Z. 11/ 13), die darauf hindeuten, dass Patrick darüber nachdenkt, was er an besagtem Tag unternommen hat. Er zeigt in seiner Antwort durch „jetz“ und „nimmer“ zusätzlich an, dass er in der Vergangenheit Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 385 (selbstverständlich) Wissen über seine Aktivitäten hatte, er sich zum derzeitigen Zeitpunkt aber nicht erinnern kann. 6 Patricks Antwort ist damit klar als eine Antwort formuliert, die Nichtwissen anzeigt. Anita wechselt daraufhin das Thema und fragt ihren Bekannten stattdessen über seine Schwester aus (Z. 16ff.). Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, verwenden Sprecher solche single-unit-Turns, die Nichtwissen vermitteln, häufiger mit vollrealisiertem Argumentrealisierungsmuster (32,3%) und der analeptischen Form mit VS-Stellung ([ø] weiß ich nicht, 37,7%) als mit den anderen beiden reduzierten Argumentrealisierungsmustern (22,7% und 24,1%). Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die Anaphern das und es sowie Analepsen mit Topik-Drop mit einem retrospektiven Skopus einhergehen und als auf das Thema des vorangegangenen Turns referierend verstanden werden. Hierdurch wird das Nichtwissen primär als auf den in Frage stehenden Sachverhalt bezogen interpretiert, statt wie in anderen Mustern prospektiv eine Folgeäußerung zu rahmen (vgl. Abschnitt 4.2). In Fällen wie diesen setzen Sprecher ich weiss nicht als „epistemic disclaimer“ (Schegloff 1996, S. 62) 7 ein, nämlich um anzuzeigen, dass sie nicht in der Lage sind, eine Frage zu beantworten oder etwas zu einem bestimmten Thema beizutragen. Hinsichtlich der Erwartungen des Fragestellens ist ein solcher single-unit-Turn eine zweifellos dispräferierte Antwort. Gelegentlich vermitteln Sprecher ihr Bewusstsein über diesen dispräferierten Status, indem sie ihren Turn wie in Beispiel 1 durch Fokuspartikeln, Adverbien o.Ä. modifizieren, wie etwa in Beispiel 1, in dem Patrick durch „jetz nimmer“ anzeigt, dass er die Frage zu einem früheren Zeitpunkt hätte beantworten können. Modifizierende Partikeln, Adverbien etc. finden sich in insgesamt 58 Fällen, davon etwa die Hälfte in single-unit-Turns wie Beispiel 1. In 40 der 58 Fälle (69%) mit modifizierenden Partikeln handelt es sich um vollrealisierte TCUs und reduzierte Varianten mit VS-Wortstellung. In Bezug auf die Gesamtheit dieser zwei Argumentrealisierungsmuster (d.h. vollrealisiert und VS-Muster) zeigt sich, dass 34,8% dieser Belege (n=40/ 115) modifiziert werden, während Modifizierungen bei den Belegen mit SV-Argumentrealisierungsmuster und Belegen nur mit Verb bei lediglich 19% (n=18/ 95) vorkommen. 6 Ob Patrick sich tatsächlich nicht erinnern kann oder Anita einfach nicht erzählen will, was er an dem Freitag getan hat, ist dafür unerheblich: Anita behandelt seine Antwort als Nichtwissensaussage, die man nicht weiter hinterfragen muss, sondern die (formal) als Antwort genügt. 7 Dabei handelt es sich hier natürlich nicht um einen „prefatory epistemic disclaimer“, da die TCUs als single-unit-Turns verwendet werden. Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 386 Solche modifizierenden Partikeln gehen dabei immer mit einem retrospektiven Skopus der TCU einher, also eindeutigem Bezug hinsichtlich des in Frage stehenden Sachverhalts. Dabei modifizieren Sprecher ihre Nichtwissens-Anzeige auf verschiedene Arten, von denen die häufigsten die Folgenden sind: - Sprecher richten sich am epistemischen Status vorheriger Sprecher aus, indem sie additive Konnektoren bzw. Fokuspartikeln wie auch (n=18) verwenden; - Sprecher schwächen ihre Anzeige von Nichtwissen ab: • hinsichtlich temporaler Aspekte, d.h. sie geben durch Temporaladverbien wie jetzt oder mehr (n=15) zu verstehen, dass sie die Antwort zur Zeit nicht kennen, sie aber zuvor kannten, oder sie zeigen durch Temporaladverbien wie noch (n=5) an, dass sie die Antwort (möglicherweise) in Zukunft kennen werden, • hinsichtlich des Grads an Genauigkeit oder der Sicherheit des angegebenen Wissens, beispielsweise durch Gradartikeln wie genau) (ich weiß nicht ganz genau, n=4). - Sprecher setzen Modalpartikeln und Adverbien (wie wirklich, gar und echt) ein, um ihr Nichtwissen zu betonen (n=6) oder entschuldigend zu rahmen (ehrlich gesagt, leider, n=4) Die modifizierenden Partikeln und Adverbien stellen oft irgendeine Art account für die Anzeige von Nichtwissen dar. Sprecher teilen mit, dass es ihnen leid tut, nichts sagen zu können, oder dass sie sich bewusst sind, dass sie den erfragten Sachverhalt wissen müssten und/ oder zuvor einmal wussten. Accounts sprechen implizit die Enttäuschung der Erwartung des Gesprächspartners an, dass der ich weiss nicht-Sprecher über epistemische Autorität verfüge (Heritage/ Raymond 2005). Die modifizierenden Partikeln geben damit Hinweise auf den dispräferierten Status des Antwortturns (vgl. dazu auch Pomerantz 1984). 4.1.2 Muster 2: Betonung und Erklärung des Nichtwissens Manchmal betonen Sprecher ihr Nichtwissen, indem sie ihren Turn fortsetzen und ausdrücken, dass sie zum entsprechenden Thema nichts beitragen können (siehe Tabelle 1, Zeile 2). Gewöhnlich geschieht dies nach der Äußerung eines vollrealisierten ich weiß es/ das nicht (n=9/ 62 (14,5%)). Das Nichtwissen wird manchmal zusätzlich erklärt oder belegt, wie in Beispiel (2), das aus einem biografischen Interview stammt. Der Interviewer MF fragt einen Schüler (STP4) nach seinen Plänen für die Zukunft. Als dieser antwortet, er könne sich vorstellen, Trompete in einem Orchester zu spielen, diskutieren sie, ob dies realistisch ist oder nicht. Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 387 (2) FOLK_E_00183_SE_01_T_02, 00: 25: 31.51 - 00: 26: 15.03 01 MF trompete sp[ielen i]n einem orCHESter? 02 STP4 [°hh ] 03 MF (.) in einem GRÖßeren? =oder; 04 (0.28) 05 MF °h 06 STP4 ja (.) 07 MF WAS [sind da- ] 08 STP4 [kÖnnt i mir] VORstellen. (.) 09 MF hm_HM? 10 (0.88) 11 MF des sind so die die PERSpektiven.= 12 STP4 [°hh ] 13 MF =ja sind [die chancen da] GUT (.) angestellt zu werde[n]? 14 STP4 [i] WEIß nit. 15 MF ((lacht)) °hh 16 STP4 °h 17 (0.98) 18 MF na: , ich- 19 STP4 °hh 20 MF Ich weiß es AUCH nicht; = 21 =also ich bin da (.) sehr UNbegabt und UN °h bedarft auch in der richtung; = 22 <<dim>=ich kenn mich da gar nicht aus.> (.) 23 °hh (.) in ANderen richtungen; 24 STP4 hm_HM- 25 (0.3) 26 MF °hh äh wüsst ich (.) MEHR zu sagen ob die chancen gUt sind oder wEniger gut. Auf die Frage des Interviewers, ob der Schüler gute Chancen haben werde, in einem Orchester zu spielen (Z. 13), gibt dieser an, es nicht zu wissen (Z. 14). Diese Antwort könnte eine Themenbeendigung nach sich ziehen (vgl. 4.1.1). Der Interviewer behandelt sie als eine Anzeige von Nichtwissen und reagiert in nächster Sequenzposition mit der Aussage „ich weiß es AUCH nicht,“ (Z. 20), mit der er auf seine eigene Frage (in Z. 13) Bezug nimmt und gleichzeitig Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 388 affiliation (Stivers 2008) mit der Antwort des Schülers anzeigt. Der Interviewer betont dann mit direktem Anschluss zusätzlich sein Nichtwissen, indem er angibt, in Bezug auf diese Thematik sowohl untalentiert als auch unbedarft zu sein und sich mit der Thematik nicht auszukennen (Z. 21-22). Er schließt damit zugleich aus, dass seine Antwort als Anzeige einer negativen Bewertung der Pläne des Studenten verstanden werden kann (vgl. 4.2.3). In anderen Fällen wird das Nichtwissen nicht wiederholt oder betont, sondern Sprecher geben einen account dafür, wieso sie die Frage nicht beantworten können und kein Wissen zum in Frage stehenden Sachverhalt haben. Dies zeigt Beispiel (3) aus einem weiteren sprachbiographischen Interview. Der Interviewer (NL) hatte den Schüler (AAC2) zuvor über die Verwendung von Dialekten bei Familientreffen befragt: (3) FOLK_E_00180_SE_01_T_01, 00: 12: 39-00: 12: 52 01 AAC2 ja wir haben teilweise GROß gestreuten famIlienkreis. 02 NL ja- (.) °h 03 (0.24) 04 NL ähm wo wo °hh (0.51) SItzen die? 05 (0.52) 06 AAC2 °h oah das [WEIß ich nicht; =] 07 NL [ familien][mitglieder- ] 08 AAC2 [=sind auch_s t]eilweise so UNbekannt mir so; 09 ganz SELten dass ich (mich mal) mit denen unterhalte; = 10 =WEIß ich nicht. 11 NL (.) hm_HM, Nachdem der Schüler angibt, dass die Mitglieder seiner Familie weit verstreut leben (Z. 01), fragt der Interviewer ihn, wo genau die verschiedenen Familien(mitglieder) leben (Z. 04/ 07). Der Schüler zeigt sein Nichtwissen mit einem durch „oah“ eingeleiteten „WEIß ich nicht; “ (Z. 06) an. Im direkten Anschluss gibt er einen account dafür, dass er kein Wissen über den Wohnort hat: Teilweise seien ihm die Familienmitglieder selbst unbekannt und er unterhalte sich nur sehr selten mit ihnen (Z.08-09). Abschließend betont er sein Nichtwissen erneut mit „WEIß ich nicht.“ (Z. 10). In Fällen wie in Beispiel 2 und 3 betonen Sprecher ihr Nichtwissen, äußern mitunter eine Erklärung (siehe auch Pekarek Doehler 2016) und zeigen damit an, dass sie zwar kein relevantes Wissen beisteuern können, aber sich zumindest in dem Sinne kooperativ verhalten, dass sie formal eine (wenn bisweilen auch dispräferierte) Antwort geben. Wenn sie ihr eigenes Nichtwissen be- Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 389 gründen, schließen sie damit zugleich aus, dass sie dem Interviewer die Antwort etwa nur aus Lustlosigkeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, schuldig bleiben. 4.1.3 Muster 3: Anzeige der Irrelevanz der Frage/ des Themas Mitunter verhalten Sprecher sich jedoch auch unkooperativ, indem sie ihren Unwillen zu antworten anzeigen oder deutlich machen, dass sie eine Diskussion, eine Antwort oder das Nachdenken über das entsprechende Thema als nicht relevant erachten. Auch dies geschieht relativ gesehen am häufigsten nach dem vollrealisierten Argumentrealisierungsmuster von ich weiss nicht (n=6/ 62 (9,7%), siehe Tabelle 1, Zeile 3). Dies zeigt Beispiel (4), das aus einer Interaktion zwischen einem Vater (VK) und seinen zwei Töchtern (im Transkript spricht nur Sabine (SK)) stammt, die gemeinsam Monopoly spielen: (4) FOLK_E_00011_SE_01_T_02, 00: 30: 56.69 - 00: 31: 16.14 01 SK PApa? 02 (.) °h (.) [WIE] macht ma es eigentlich mi_m verstEIgern? 03 VK [ja-] 04 (0.9) 05 VK des WEIß ich nich. 06 (.) wir MÜSsen nich mit [verst]Eigern spielen; 07 SK [ja; ] 08 (0.2) 09 VK °h wir [SPIELen einfach; ] 10 SK [MÜSsen nich; ] 11 aber wir DÜRfen. 12 (0.2) 13 VK ah NEE wir spielen NICH mit versteigern; = 14 =jetz (.) <<all> [gucken_wa uns NICH> die regeln] neu an. 15 SK [DO: : : ch. ] 16 VK un JETZ spIElen_wa [einfach so weiter wie wa_s immer; ] 17 SK [doch ich WEIß- ] Die ältere Tochter Sabine (SK) möchte wissen, wie im Spiel das Versteigern funktioniert (Z. 02). Mit der Äußerung „des WEIß ich nicht.“ (Z. 05), zeigt der Vater Nichtwissen und somit das Unvermögen an, die Frage zu beantworten. Daraufhin stuft er zusätzlich die Relevanz des Themas herab, indem er hinzu- Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 390 fügt: „wir MÜSsen nicht mit verstEIgern spielen; “, (Z. 06). Dies kann als Prä- Sequenz zur Ablehnung der Kooperation im joint project verstanden werden, das Sabine durch ihre Frage möglicherweise projiziert hat. Als die Tochter protestiert, macht der Vater seine Ablehnung explizit, indem er ankündigt, sie werden nicht mit dieser Option spielen und sich nicht die Spielregeln ansehen, um herauszufinden, wie das Versteigern funktioniert (Z. 13-14). Der Vater zeigt also nicht nur sein Nichtwissen und die Irrelevanz des Themas an, sondern auch seinen Unwillen, in dem von Sabine initiierten gemeinsamen Projekt zu kooperieren, etwa durch Aneignen des dafür notwendigen Wissens. Der Vater schließt die Aushandlung mit der Entscheidung, dass die drei so weiterspielen werden wie immer (Z. 16). Solche Antworten wie die von Sabines Vater sind nicht nur dispräferiert, die Sprecher verhalten sich im Gegensatz zu den Sprechern der vorher besprochenen Muster auch deutlich unkooperativ, indem sie ihren Gesprächspartnern vermitteln, deren Fragen auch gar nicht beantworten zu wollen. Ein Grund hierfür kann etwa Zeitmangel wie in Beispiel 4, bei dem sich die Spieler vorher auf einen schnellen Spielverlauf geeinigt hatten: Drei Minuten später äußert der Vater in Bezug auf die Nichtbeachtung weiterer Regeln: „wir wollen ja sowieSO schneller spielen.“ (FOLK_E_00011_SE_01_ T_02, 00: 34: 26). Auch im weiteren Verlauf mahnt er mehrmals zu Eile. 4.1.4 Zwischenfazit: Retrospektiver Skopus und Argumentrealisierungsmuster In der Regel werden alle Formen von single-unit-Turns mit ich weiss nicht (vgl. Abschnitt 4.1.1) dazu eingesetzt, dispräferierte Antworten zu formulieren, 8 d.h. Antworten, welche die durch den Turn des vorangegangenen Sprechers entstandene pragmatische Erwartung einer hinreichenden Antwort nicht erfüllen. 9 Wenn Sprecher ihren Turn nach ich weiss nicht fortsetzen, können sie damit anzeigen, dass sie tatsächlich nicht in der Lage sind, noch etwas beizutragen, das den dispräferierten Status ändern könnte (Abschnitt 4.1.2, im Unterschied zum vierten Argumentrealisierungsmuster, vgl. Abschnitt 4.2). Die Fälle, in denen Sprecher ihren Unwillen zu antworten kommunizieren (Abschnitt 4.1.3), unterscheidet sich davon in einem Punkt: Bei Äußerungen, in denen Sprecher lediglich angeben, etwas nicht zu wissen, wie in 4.1.1 und 8 Eine Ausnahme stellen Fälle wie Beispiel 2 in Abschnitt 4.1.2 dar, bei denen der Sprecher die Fokuspartikel auch verwendet (ich weiß es auch nicht), um affiliation (Stivers 2008) mit der Nichtwissensäußerung eines vorgängigen Sprechers anzuzeigen. 9 Dispräferierte Antworten im Sinne einer Enttäuschung der Erwartung des vorherigen Sprechers können, müssen aber nicht strukturell markiert sein (siehe Bilmes 1988 zu unterschiedlichen Konzepten der Präferenz). Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 391 4.1.2, verhalten sie sich formal gesehen kooperativ, da sie zumindest eine konditionell relevante Reaktion liefern (d.h. die Antwort auf eine Frage). Im Gegensatz dazu liefern Sprecher wie in Beispiel (4) nicht nur ebenfalls eine dispräferierte Antwort, sondern sie verhalten sich sogar offen unkooperativ. Sie weigern sich explizit, sich dem joint project anzuschließen, das ein vorangegangener Sprecher initiiert hat. Gründe hierfür können i.d.R. nur erschlossen werden: So können etwa Zeitmangel oder das Bewusstsein, dass eine Antwort noch dispräferierter wäre als das Äußern von Nichtwissen, eine Rolle spielen. 4.2 Muster 4: ich weiss nicht mit prospektivem Skopus Neben den bisherigen Mustern gibt es ein weiteres Muster, bei dem ich weiss nicht jedoch nicht als Antwort auf eine Frage behandelt wird, sondern als Rahmung eines erst folgenden Antwortversuchs. Der Skopus der TCU ist dabei eher prospektiv statt retrospektiv zu verstehen: Sprecher erweitern ihren Turn meist durch einen kooperativen Beitrag, der inhaltlich noch etwas zum in Frage stehenden Thema beiträgt (im Gegensatz zu Muster 2, Abschnitt 4.1.2), durch das rahmende ich weiss nicht jedoch epistemisch oder pragmatisch abgeschwächt wird. Oft zeigen Sprecher darin zumindest eine Art von Wissen an oder äußern sogar etwas, das als vollständige Antwort auf die Frage gewertet werden kann. ich weiss nicht erscheint in diesen Fällen eher als epistemischer Marker (vgl. 4.2.1) oder als pragmatischer Marker (4.2.2). Die Semantik von ich weiss nicht unterscheidet sich dabei leicht in Abhängigkeit vom Gebrauch der TCU: bei der Verwendung als epistemischer Marker zeigt der Sprecher seine Unsicherheit bezüglich der Wahrheit einer Folgeäußerung an. Nicht wissen bedeutet dann ‘die Wahrheit einer Proposition nicht kennen’. In der Verwendung als pragmatischer Marker bezieht sich nicht wissen stattdessen metapragmatisch auf die Hinlänglichkeit einer folgenden Äußerung, d.h. Sprecher zeigen an, dass sie sich über die Wahrheit dieser Folgeäußerung vielleicht sogar sicher sind, deuten aber an, dass diese (als Antwort) nicht ausreichen oder (als Vorschlag etc.) nicht optimal sein könnte. Trotz dieses Unterschieds sind beide Verwendungsmuster mit Blick auf ihre sequenziellen, grammatischen und pragmatischen Merkmale sehr ähnlich und werden daher hier als Varianten eines grundlegenden Musters angesehen. Während dieses Muster zwar insgesamt das häufigste ist (n=107/ 210) und auch einzeln für alle Argumentrealisierungsvarianten am häufigsten auftritt (vgl. Tabelle 1, Zeile 4), stechen hier die reduzierte Argumentrealisierung mit SV-Wortstellung und die Realisierung als Verb ohne Argumente besonders hervor: In jeweils fast 2/ 3 dieser Fälle zeigen Sprecher nach ich weiss nicht an, dass sie für die Beantwortung der Frage potenziell hilfreiches (Teil-)Wissen, Vermutungen, Lösungsvorschläge etc. haben. Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 392 Solche Folgeäußerungen folgen am häufigsten a) direkt nach ich weiss nicht, aber auch b) auf eine Pause nach ich weiss nicht, oder später im Gespräch nach einem oder mehreren Turn(s) anderer Sprecher, d.h. c) nach einem Hinweis eines anderen Gesprächsteilnehmers 10 bzw. d) nach mehrfachem Sprecherwechsel, der dem Sprecher Zeit verschafft hat, selbst eine Lösung zu finden. 4.2.1 ich weiss nicht als epistemischer Marker Auch wenn Sprecher nicht über sicheres Wissen für die Beantwortung einer Frage verfügen, äußern sie nach turninitialem ich weiss nicht mitunter eine Vermutung. Hierdurch zeigen sie nicht nur an, dass sie in dem durch den vorangegangenen Sprecher initiierten joint project kooperieren. Sie tragen auch aktiv etwas zur Beantwortung der Frage bei, stufen jedoch ihre epistemische Sicherheit herab. In diesen Fällen hat ich weiss nicht eindeutig epistemische Bedeutung. In Beispiel (5) befragt ein Interviewer (NL) eine Schülerin (SMA3) über ihre und die Meinung ihrer Klassenkameraden zu Dialekten. Als die Schülerin angibt, ihre Mitschüler würden sich oft über den sächsischen Dialekt lustig machen, fragt der Interviewer nach dem Grund: (5) FOLK_E_00177_SE_01_T_01, 00 : 07 : 36.23 - 00 : 07 : 57.30 01 NL oder spielen da ANdere dialekte vielleicht ne grÖßere rolle für so verwendungen. 02 (0.38) 03 SMA3 joa. 04 (1.27) 05 SÄCHsisch. [(.) ((lacht schnaubend))] 06 NL [(.) he he ] he 07 warum ausgerechne[t SÄCHsisch ] °hhh 08 SMA3 [((schnieft))] 09 ich WEIß nich; = 10 =ich glaub das liegt an dem (.) O; °h 11 (.) weil die das (.) O so komisch sprechen. 12 also (.) <<all>beziehungsweise_so: ; > 13 (0.86) 14 ANders halt; 10 Dies geschieht zum Beispiel, wenn es sich bei der ursprünglichen Frage um eine offene Frage handelt, auf die der zweite Sprecher mit einer Anzeige von Nichtwissen reagiert und der erste Sprecher in dritter Position eine weitere, leicht veränderte und spezifischere Frage oder eine ja/ nein-Frage stellt, die der zweite Sprecher angemessen beantworten kann. Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 393 Als der Interviewer fragt, warum ihre Klassenkameraden besonders den sächsischen Dialekt verspotten, gibt die Schülerin an, dies nicht zu wissen (Z. 09). In direktem Anschluss äußert sie dann aber eine mit „ich glaub“ (Z. 10) eingeleitete Vermutung: Sachsen sprechen das / o/ auf eine bestimmte Art und Weise aus (Z. 10), was als komisch empfunden wird (Z. 11). Indem sie ihre Antwort mit „ich WEIß nicht“ (Z. 09) einleitet, zeigt die Schülerin reduzierte epistemische Sicherheit an und rahmt die Folgeäußerung als Vermutung, aber nicht als eine Antwort, die der Interviewer als sicheres Wissen verbuchen soll. Der Skopus von ich weiss nicht ist eher prospektiv als retrospektiv zu verstehen. ich weiss nicht wird in solchen Fällen als ‘prepositioned epistemic hedge’ (vgl. Weatherall 2011) bzw. als ‘prefatory epistemic disclaimer’ (Schegloff 1996, S. 62) eingesetzt, der Unsicherheit und einen bloßen Antwortversuch anzeigt. Dies steht im Einklang mit der Tatsache, dass Aussagen, die ich weiss nicht folgen, oft wie hier andere epistemic hedges wie ich glaub, vielleicht etc. oder Häsitations- und Unschärfemarker (so, Pausen, Abbrüche) enthalten (vgl. auch Aijmer 2009, S. 157). Wenn ein Sprecher trotz niedrigem epistemischem Status Vermutungen anstellt, zeigt er damit Kooperationsbereitschaft im Sinne einer Mitwirkung beim vom vorherigen Sprecher initiierten joint project an. 4.2.2 ich weiss nicht als pragmatischer Marker In anderen Fällen äußern Sprecher zunächst ich weiss nicht, zeigen dann aber an, dass sie doch über eine Art von Wissen oder Ideen verfügen, das entsprechende Thema zu bearbeiten (siehe Tabelle 1, Zeile 4). Sie sind insofern von Vermutungen u.Ä. zu unterscheiden, weil die Sprecher durchaus eine hohe epistemische Sicherheit über den Wahrheitsgehalt der Folgeäußerung haben können. Vielmehr zeigen sie mit ich weiss nicht an, dass sie sich unsicher über die Nützlichkeit oder Relevanz der folgenden Informationen sind, d.h. diese nicht unbedingt für eine ausreichende Antwort auf die Frage halten. Die folgenden Äußerungen können Anzeigen von Teil- oder verwandtem Wissen, nicht bindende Vorschläge oder sogar vollständige Antworten sein. Beispiel (6) zeigt einen Fall aus einem weiteren sprachbiografischen Interview, in dem ein Schüler eine Frage nicht vollständig beantworten kann, aber Informationen weitergibt, die es dem Interviewer erlauben, eine möglicherweise ausreichende Antwort selbst zu generieren. Der Interviewer hat den Schüler zuvor über seine Aktivität in einer Kapelle befragt. Der Schüler gibt zu verstehen, dass dieser der Nachwuchs fehle. Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 394 (6) FOLK_E_00186_SE_01_T_02_DF_01, 00: 19: 16- 00: 19: 39 01 EST4 also der kapellmeister kann nicht sehr gut mit der JUgend umgehen (.) zum beispiel. 02 ((Lachansatz)) 03 NL hm; 04 aber DU-= 05 =du bist ihm TREU [oder wie; ] 06 EST4 [°hhh ] 07 NL (.) °h 08 EST4 ICH bin wegen meinen FREUNden dort; (.) 09 nicht wegen IHM. 10 (0.78) 11 EST4 wenn ich wegen IHM dort wär wär ich schon vor drei jAhren ausgestiegen. ((lacht)) 12 (0.36) 13 NL hm_HM- (.) 14 was (.) was macht er FALSCH, 15 EST4 °hh 16 (0.53) 17 äh i WEIß nit; 18 er hat IMmer was auszusetzen; (.) 19 zu MECkern; (.) 20 kritiSIEren; 21 (1.05) 22 EST4 er (0.26) spart mit LOB- 23 ((Lachansatz)) °hh 24 NL hm_HM, 25 (0.65) 26 (0.65) 27 EST4 ja. Nachdem der Interviewer nach dem Grund für das Nachwuchsproblem fragt, äußert der Schüler, dass der Kapellmeister nicht gut mit den jugendlichen Mitgliedern der Kapelle umgehen könne (Z. 01). Er betont, dass er selbst nur noch wegen seiner Freunde Mitglied dort sei (Z. 08) und ansonsten schon vor langer Zeit ausgestiegen wäre (Z. 11). Der Interviewer hakt nach und will wissen, was der Kapellmeister falsch mache (Z. 14), woraufhin der Schüler zuerst äußert: Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 395 „äh i WEIß nit; “ (Z. 17). Er expandiert seine Nichtwissensäußerung aber sofort, indem er dann doch eine inhaltliche Antwort auf die Frage gibt: Der Kapellmeister habe immer etwas auszusetzen, meckere und kritisiere viel, anstatt zu loben (Z. 18-22). Der Schüler listet damit lediglich Beispiele auf, die der Formulierung des Interviewers, ‘falsch machen’, genügen, die aber für sich genommen noch nicht das ganze und eher vage Konzept von ‘falsch machen’ exhaustiv beschreiben. Dabei formuliert er seine ersten Beispiele mit Listencharakter ohne Anzeichen von hedges (Z. 18-20). Erst vor und während „er (0.26) spart mit LOB-“ (Z. 22) finden sich Pausen und damit Formulierungsschwierigkeiten. Der Schüler zeigt dabei aber an keinem Punkt reduzierte Gewissheit an und gibt nicht zu erkennen, dass er die Wahrheit der folgenden Propositionen herabstuft. Sein turninitiales „äh i WEIß nit; “ (Z. 17) vermittelt dem Interviewer vielmehr, dass er nicht weiß, ob seine folgenden beispielhaften Informationen dem Interviewer genügen, um dessen Frage, was der Kapellmeister falsch mache, hinreichend und adäquat zu beantworten. Ein weiteres Beispiel von ich weiss nicht als pragmatischer Marker ist Beispiel (7). Es stammt aus derselben Interaktion wie Beispiel (4), in dem ein Vater mit seinen zwei Töchtern Monopoly spielt: (7) FOLK_E_00011_SE_01_T_06, 00: 31: 32 - 00: 31: 48 01 VK °h [du MUSST] irgendwas von dir verkAUfen. 02 SK [hm, ] 03 (1.9) 04 SK <<h>aber WA[S- ]> 05 VK [°h ] NA- 06 (0.24) 07 VK du HAST doch hier genu[ch.] 08 SK <<h>[was] SOLL ich denn verkauf[en.> ] 09 VK [ich W]EIß nich; = 10 =verkauf doch hier diese beiden STRAßen da.= 11 =die (.) TURMstraße un DIEse,= 12 =un verKAUF se an irgend jemanden. 13 (0.5) 14 SK h° (.) °h ich verkauf sie mit HAUS an die bank. Nachdem der Vater seiner Tochter Sabine mitgeteilt hat, sie müsse etwas verkaufen (Z. 01), bevor sie das Spiel fortsetzen könne, fragt diese ihn, was sie verkaufen solle (Z. 08). Nachdem der Vater zunächst äußert, er wisse es nicht (Z. 09), macht er im direkten Anschluss einen Vorschlag (Z. 10-12), dem Sabi- Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 396 ne schließlich zustimmt (Z. 14). Die ich weiss nicht-TCU (Z. 09) zeigt an, dass der folgende Vorschlag nur einer von vielen möglichen ist, d.h. nicht auf dem Glauben beruht, dies sei der einzig richtige Weg, die Situation aufzulösen. Entsprechend vermittelt der Vater, dass er sich nicht sicher ist, ob Sabine dieser Vorschlag adäquat erscheinen wird. In Fällen wie diesen wird ich weiss nicht nicht als epistemischer sondern als pragmatischer Marker verwendet, der nicht auf der Sachverhalts-, sondern auf der Sprechaktebene operiert (vgl. Sweetser 1990). Er zeigt an, dass Sprecher über zu wenig Wissen verfügen, um eine Frage vollständig oder zumindest so hinreichend detailliert bzw. adäquat zu beantworten, wie sie annehmen, dass die Gesprächsteilnehmer es erwarten. Sprecher können damit vermitteln, dass etwa ein folgender Vorschlag oder eine Anregung nur eine Option, nicht aber obligatorisch ist, oder dass eine Folgeäußerung möglicherweise den Erwartungen des vorherigen Sprechers an eine exhaustive Antwort nicht genügt. Ähnlich wie ich weiss nicht als epistemischer Marker zeigen Sprecher mit ich weiss nicht als pragmatischem Marker an, dass sie sich kooperativ in Bezug auf das von einem anderen Sprecher initiierte joint project verhalten, selbst wenn sie keine präferierte Antwort auf die Frage geben können. 4.2.3 Zwischenfazit: Prospektiver Skopus und Argumentrealisierungsmuster Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen Argumentrealisierungsmustern der TCU und ihren Verwendungen als epistemischer und pragmatischer Marker. Nach voller Argumentrealisierung von ich weiss nicht und der reduzierten VS-Variante zeigen Sprecher in immerhin 37,1% bzw. 41,5% der Belege nach der TCU noch Wissen an. Nach der Äußerung der reduzierten SV-Variante von ich weiss nicht bzw. der Variante nur mit Verb zeigen Sprecher dagegen in sogar 62,1% bzw. 65,5% der Fälle im Anschluss noch Wissen an. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Sprecher ich weiss nicht mit vollem und VS-Argumentrealisierungsmuster zusätzlich häufig einsetzen, um anaphorisch auf im Gespräch Vorangegangenes zu verweisen (vgl. 4.1). Eine Folgeäußerung wird dagegen offensichtlich bevorzugt mit ich weiss nicht ohne anaphorisches, koreferenzielles Objekt gerahmt. Da auf ich weiss nicht folgende TCUs als Antwortversuch auf die vorangegangene Frage behandelt werden, ist es wahrscheinlich, dass der Skopus von ich weiss nicht in diesen Fällen nicht als retrospektiv betrachtet werden sollte (‘ich weiß die Antwort auf Frage X nicht’). Stattdessen rahmt die TCU die Folgeäußerung, und der Skopus scheint tendenziell eher prospektiv als retrospektiv zu sein. Die Bedeutung von nicht wissen tendiert in diesen Fällen zu ‘nicht sicher sein, ob die folgende Proposition Y wahr ist, aber sie als mögliche Ant- Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 397 wort auf Frage X betrachten’ (epistemischer Marker) oder ‘nicht sicher sein, ob die Folgeäußerung hinlänglich relevant/ adäquat/ gewünscht ist, um als mögliche Antwort auf Frage X zu fungieren’. Ein Hinweis, der dafür spricht, dass ich weiss nicht in diesen Fällen die Folgeäußerung rahmt und einen prospektiven Skopus hat, ist die im Mittel geringere Latenz zwischen der TCU und ihrer Fortsetzung. Sprecher fahren nach diesen Formen in turninitialer Position deutlich häufiger unmittelbar fort, d.h. mit einem direkten Anschluss (vgl. Tabelle 2). Bei den SV-Formen (ich weiß nicht) ist dies in 57,6% der Belege der Fall (n=38/ 66), bei den Varianten nur mit Verb (weiß nicht) in 41,4% der Fälle (n=12/ 29). Dies könnte darauf hindeuten, dass die SV- und V-Formen vom Sprecher als rahmende TCUs mit prospektivem Skopus von Beginn an geplant sind. Latenz nach SVO- Varianten Latenz nach VS- Varianten Latenz nach SV- Varianten Latenz nach Nullrealisierung V Gesamt kein weiterer Beitrag zum Topik vom Sprecher 20 (32,3%) 20 (37,7%) 15 (22,7%) 7 (24,1%) 62 (29,5%) direkter Anschluss 23 (37,1%) 11 (20,8%) 38 (57,6%) 12 (41,4%) 84 (40%) weiterer Beitrag nach Pause 8 (12,9%) 8 (15,1%) 8 (12,1%) 4 (13,8%) 28 (13,3%) weiterer Beitrag nach Hinweis/ Redeübernahme eines anderen Sprechers 10 (16,1%) 9 (17%) 3 (4,4%) 5 (17,2%) 27 (12,9%) weiterer Beitrag nach eigener Lösungssuche (z.B. mehreren Redebeiträgen zum Topik) 0 1 (1,9%) 1 (1,5%) 0 2 (1%) unklar 1 4 1 1 7 62 53 66 29 210 Tab. 2: Latenz zwischen turninitialem ich weiss nicht und Fortführung Wie man sieht, ist ein direkter Anschluss nach der VS-Variante im Vergleich deutlich seltener (n=11/ 53, d.h. 20,8%), bei dem vollrealisierten Argumentrealisierungsmuster allerdings auch häufig (n=23/ 62, d.h. 37,1%). Diese hohe Anzahl direkter Anschlüsse nach der vollrealisierten Argumentrealisierung relativiert sich allerdings, wenn man die Art der Anschlüsse hinsichtlich des Beitrags zum in Frage stehenden Sachverhalt betrachtet: In knapp 39% der Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 398 vollrealisierten Belege mit direkt angeschlossener Folgeäußerung zeigen Sprecher in dieser (Teil-)Wissen, Vermutungen usw. an. In 48% dagegen betonen oder wiederholen sie im direkten Anschluss ihr Nichtwissen oder zeigen ihren Unwillen zu antworten an. 11 Bei den direkten Anschlüssen nach der SV- Variante ich weiß nicht handelt es sich in 84% um die Anzeige von Wissen, bei weiß nicht ist dies sogar in 92% der Belege der Fall. Weiterhin fällt auf, dass in den vollrealisierten Varianten und der VS-Variante Sprecher häufiger erst nach einer Pause oder sogar nach zwischenzeitlichem Sprecherwechsel noch etwas zum Thema beitragen (vgl. Tabelle 2). In diesen Fällen ist die Latenz zwischen der ich weiss nicht-Äußerung und der entsprechenden Folgeäußerung so groß, dass man nicht mehr von einem prospektiven Skopus und einer rahmenden Funktion ausgehen kann. Auch wenn Sprecher also im weiteren interaktiven Verlauf noch Wissen anzeigen, scheint ich weiss nicht eher eine Antwort mit retrospektivem Bezug auf die vorangegangene Frage zu sein. Diese Befunde sprechen dafür, dass Sprecher vor allem die reduzierten Varianten mit SV-Wortstellung bzw. die Variante nur mit Verb nutzen, um eine Folgeäußerung in ihrer epistemischen Sicherheit oder pragmatischen Adäquatheit abzuschwächen, während vollrealisierte TCUs und ihre analeptischen Varianten mit Topik-Drop im Vorfeld tendenziell eher als retrospektive Antworten zu verstehen sind. 4.3 Muster 5: ich weiss nicht als Widerspruch Das fünfte Muster wird gleichermaßen mit voller Argumentrealisierung und mit reduzierten Varianten von ich weiss nicht realisiert, in Bezug auf die Argumentrealisierung gibt es also keine Besonderheiten. Das Muster unterscheidet sich jedoch noch in einer anderen Weise von den übrigen Mustern: Sprecher nutzen es in einem spezifischen sequenziellen Kontext (vgl. Schegloff 1996 zu ‘positionally sensitive grammar(s)’). Bei den bisherigen Mustern nimmt ich weiss nicht immer Bezug auf eine vorherige Entscheidungs-, Ergänzungs- oder Alternativfrage. Das fünfte Verwendungsmuster von ich weiss nicht findet sich nie nach (epistemischen) Fragen, sondern ausschließlich nach Assertionen, Bewertungen oder rhetorischen bzw. suggestiven Fragen. Bei keinem der anderen Muster ist es möglich, die lokale Funktion von ich weiss nicht bereits mit der Äußerung festzustellen: Welche Art der Verwendung vorliegt, wird erst im weiteren Verlauf der Interaktion deutlich. Wird ich weiss nicht dagegen als Reaktion auf eine Assertion, eine Bewertung oder eine rhetorische Frage geäußert, ist unmittelbar klar, dass der Spre- 11 Die restlichen 13% sind disaffiliative Fälle, in denen in der Folge der Zweifel begründet wird (vgl. Abschnitt 4.3). Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 399 cher mit ich weiss nicht einen Widerspruch zur vorangegangenen (Pro)Position anzeigt (n=10/ 210, d.h. ca. 4,8%, Tabelle 1, Zeile 5). ich weiss nicht kann als single-unit-Turn eingesetzt werden, der den Widerspruch selbst anzeigt. Der Turn kann aber auch erweitert werden, um den Widerspruch bzw. Zweifel des Sprechers oder Motivationen für diesen zu explizieren. ich weiss nicht fungiert dann aber weder als epistemischer noch als pragmatischer Marker, sondern als eigenständige Anzeige von stance taking. Während Reaktionen manchmal offenkundig fremdinitiiert sind (z.B. nach rhetorischen Fragen), ist in anderen Fällen (etwa nach Bewertungen) eine Reaktion optional, d.h. Widerspruch anzeigende Fälle von ich weiss nicht sind nicht pauschal fremd- oder selbstinitiiert (vgl. dazu Stivers/ Rossano 2010). 12 Eine selbstinitiierte Reaktion mit ich weiss nicht, die auf eine Aussage folgt, findet sich in Beispiel (8). Zwei Studenten diskutieren, ob eine professionelle Karriere mit Kindern vereinbar ist: (8) FOLK_E_00042_SE_01_T_01, 00: 08: 45.31 - 00: 09: 13.65 01 LK also meinst du NICH dass du_s (.) verein: baren kannst; 02 AM nee mein ich NICH. (.) 03 weil ma des (.) nich so richtig KANN. 04 (0.73) 05 LK WEIß ich nich.= 06 =also ich sach dir ganz EHRlich al[so- ] 07 AM [da MU]SS man ja_n; = 08 <<all>=SAG ich; = 09 =entweder> gibt man dann die kinder zu irgendner (.) erzZIEHungsfrauen; Vor dem Ausschnitt hatte Anita behauptet, es sei unmöglich, eine Berufskarriere zu verfolgen und gleichzeitig Kinder zu haben. Leo fragt in einem predisagreement (Schegloff 2007) nach, ob sie wirklich so denke (Z. 01) und Anita bestätigt dies (Z. 02f.) Ihre Aussage „weil ma des (.) nich so richtig KANN.“ (Z. 03) enthält keine neue Information und ist als potenzieller Sequenzabschluss gestaltet. Leo führt das Thema jedoch fort und reagiert mit einem disaffiliativen „WEIß ich nich.“ (Z. 05). Mit einem direkten Anschluss expandiert er seinen Turn, wobei „also“ und „ich sach dir ganz EHRlich“ (Z.06) einen expliziteren Widerspruch projizieren, der die Disaffiliation noch deutlicher erkennbar macht oder erklärt. Anita unterbricht ihn aber mit einer Erläuterung ihrer Meinung (Z. 07-09). 12 Die Autoren zeigen in ihrer Untersuchung u.a., dass nicht alle Bewertungen notwendigerweise Zweitbewertungen relevant machen. Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 400 Während Leo in Beispiel (8) seinen Widerspruch nur ansatzweise explizieren kann, weil er unterbrochen wird, wird in anderen Fällen deutlicher, dass Sprecher ihren Widerspruch häufig 13 in folgenden Turns erklären. In Beispiel (9) etwa führt die Sprecherin Sandra (SZ) aus, wieso sie der Meinung ihrer Gesprächspartnerin Annabelle (AW) nicht zustimmt bzw. an der Wahrheit ihrer Aussagen zweifelt. Der Ausschnitt stammt aus einem Meeting in einer sozialen Einrichtung für Kinder mit Verhaltensstörungen mit benachteiligtem familiären Hintergrund. Die Mitarbeiter sprechen über eine Mutter, die den Bitten ihres Kindes meist nachgibt: (9) FOLK_E_00022_SE_01_T_03_DF_01, 01: 34: 47.19 - 01: 35: 56.81 01 AW also ich mein man mUss es sich VORstellen; = 02 =er schweigt sie die ganze zeit nur AN,= 03 =und dann redet er EIN mal und sagt- 04 ((Einatmen 1.24 sec.)) 05 (.) ich möchte ! SO! gerne mit der verein_a <<dim>dann zu dem fAstnachtsumzug.> 06 (0.59) 07 AW des (.) diesen braten (.) ! RIECHT! ma (.) zEhn meter gegen den WIND; 08 BS (.) hm. 09 (1.0) 10 AW aber sie WILL ihn net riechen? 11 (1.54) 12 AW und kippt an_ner stElle um wo se einfach vielleisch ma hätte NET (.) umkippen sollen; = 13 =nUr weil er mal REdet; 14 (0.86) 15 AW des mAcht misch [ganz des ver]wirrt mich SEHR. 16 SZ [hm_hm ] 17 °h ja aber ich WEIß net. 18 ich GLAUB, 19 (0.37) äh (.) ich MEIN- 20 (1.07) die die k die k die KENNT den ja schon auch ganz gut.= 21 und ich mein SIE [isch ja schon] auch f ((Lachansatz)) FROH? °h 22 AW [ja KLAR. ] 13 Es gibt jedoch auch disaffiliative single-unit-Turns, sowohl mit reduzierten Formen als auch mit voller Argumentrealisierung. Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 401 23 SZ °h also äh d ich glaub schOn dass sie ihn auch so richtig halt WAHRnimmt; = 24 =und a da AUFmerksam isch; 25 =und °h sie isch ja schon einfach auch FROH ähm; 26 (0.39) DASS er sich dafü: r; 27 (1.63) äh 28 (0.76) ÖFFnet. Anabelle hält den Wunsch des Jungen, am Karnevalsumzug teilzunehmen, für eine Ausrede, um nicht an einem Sportkurs teilzunehmen, den er besuchen soll. Sie wirft der Mutter vor, dies nicht als Ausrede zu bemerken. Nach einem verzögerten Turnbeginn, der eine dispräferierte Antwort projiziert, widerspricht Sandra mit „ja aber ich WEIß net.“ 14 (Z. 17) und fügt einen Grund für ihren Zweifel hinzu: „die KENNT den ja schon auch ganz gut.“ (Z. 20). Daraufhin führt sie ihren Zweifel weiter aus (Z. 21ff.): Sie glaubt, die Mutter sei ihrem Sohn gegenüber aufmerksam genug, d.h. sie könne beurteilen, ob eine Bitte ehrlich gemeint oder nur eine Ausrede sei. Die Gründe, die Sandra für den Widerspruch zu Annabelles Position darlegt, machen für Annabelle deutlich, dass Sandra tatsächlich überlegenes Wissen hinsichtlich des besprochenen Themas für sich beansprucht. Trotzdem ist eine Zurückweisung einer Position mit ich weiss nicht für einen Folgesprecher eine gesichtswahrende Möglichkeit, seinen Widerspruch anzubringen. Durch die Formulierung des Widerspruchs bei gleichzeitig formaler Herabstufung der epistemischen Autorität gibt ein Sprecher an, nicht zu wissen, ob er Recht hat. So kann er die Möglichkeit stehen lassen, der Empfänger könne eventuell doch richtig liegen. Gleichzeitig macht diese Vorgehensweise es dem Sprecher leichter, sich später bei Gegenevidenzen von seinem Standpunkt zurückzuziehen, da er nicht explizit für sich in Anspruch genommen hat, über sicheres und überlegenes Wissen zu verfügen. 5. Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass TCUs mit ich weiss nicht für eine Vielzahl unterschiedlicher responsiver Handlungen eingesetzt wird. Die Funktion von ich weiss nicht im lokalen Kontext wird i.d.R. erst durch den weiteren interaktiven Verlauf deutlich. Eine Ausnahme besteht in der Äußerung von ich weiss nicht als Reaktion auf eine Assertion, Bewertung oder rhetorische bzw. suggestive Frage (im Gegensatz zu Entscheidungs-, Ergänzungs- oder Alternativfragen): In dieser sequenziellen Position hat ich weiss nicht stets die Funktion der Anzeige eines Widerspruchs. 14 Das „aber“ projizierte bereits eine adversative Reaktion. Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 402 Unsere Daten zeigen, dass die anderen Verwendungsmuster von ich weiss nicht tendenziell eher mit voller oder eher mit reduzierter Argumentrealisierung assoziiert sind und dabei z.T. auch mit der Wortfolge zusammenhängen. Diese Zusammenhänge sind jedoch nicht kategorial, sondern rein als Verteilungstendenzen zu verstehen. Nach ich weiss nicht mit voller Argumentrealisierung (ich weiß es/ das nicht, das weiß ich nicht) sowie mit reduzierter Argumentrealisierung und VS-Wortfolge (weiß ich nicht) tragen Sprecher häufiger als bei den anderen formalen Varianten entweder nichts mehr zum Thema bei, oder aber erweitern ihren Turn mit einer Betonung oder Erklärung ihres Nichtwissens bzw. zeigen ihren Unwillen an, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. In letzterem Fall vermitteln Sprecher, dass sie nicht bereit sind, im joint project zu kooperieren, das der vorangegangene Sprecher initiiert hat. Nach reduziertem Argumentrealisierungsmuster mit SV-Wortstellung (ich weiß nicht) und den formalen Varianten nur mit Verb (weiß nicht) verhalten Sprecher sich dagegen meist kooperativ und setzen ihren Turn fort, indem sie noch Informationen zum entsprechenden Thema beitragen, die helfen können, die Bezugsfrage zu klären. ich weiss nicht fungiert dann als ‘prepositioned epistemic hedge’ (Weatherall 2011) für Vermutungen: Sprecher zeigen an, dass sie sich der Wahrheit der folgenden Aussage nicht sicher sind, halten diese aber für eine potenzielle Antwort und schätzen sie als relevant für den in Frage stehenden Sachverhalt ein. Wenn nach ich weiss nicht Vorschläge, Teilwissen oder sogar ganze Antworten geäußert werden, fungiert der Ausdruck dagegen als pragmatischer Marker: Sprecher zeigen an, dass sie, auch wenn sie sich der Wahrheit der folgenden Aussagen sicher sind, diese nicht als notwendigerweise hinreichende oder adäquate Antworten auf die vorangegangene Fragen verstehen. Die folgenden grammatischen, turn-konstruktionalen und sequenziellen Eigenschaften der lokalen Umgebung der Äußerung von ich weiss nicht tragen gemeinsam dazu bei, die lokale Funktion von ich weiss nicht zu bestimmen: 1) volle vs. reduzierte Argumentrealisierung des Verbs (s.o.), 2) Art der Handlung im Vorgängerturn, auf den sich der ich weiss nicht- Turn bezieht: Meist wird ich weiss nicht als Antwort auf (epistemische) w-Fragen, Alternativ- oder Entscheidungsfragen gebraucht. Nach Aussagen, Bewertungen und rhetorischen Fragen zeigt ich weiss nicht immer einen Widerspruch zur (Pro)Position des vorangegangenen Sprechers an. 3) Art der Handlung(en) desselben Sprechers nach ich weiss nicht: Nur durch die Turnfortsetzung nach ich weiss nicht und mitunter sogar nur nach Handlungen desselben Sprechers in der nachfolgenden Sequenz wird die abschließende Bedeutung von ich weiss nicht deutlich. Mit Aus- Sequenzielle, semantische und pragmatische Eigenschaften von ich weiss nicht 403 nahme der Verwendung als Widerspruch ergibt sie sich nicht direkt, sondern emergent, d.h. schrittweise während des weiteren interaktionalen Verlaufs. 4) Skopus: a. ich weiss nicht kann einen retrospektiven oder prospektiven Skopus haben. ich weiss nicht mit SVO-, VSO- und VS-Argumentrealisierung hat meist einen retrospektiven Skopus, der sich über den vorangegangenen Turn (oder Teile davon) erstreckt, da das Objektpronomen (das oder es) bevorzugt anaphorisch verstanden wird; [ø] weiß ich nicht ist eine analeptische Topik-Drop-Konstruktion, die ebenfalls auf eine Assertion des vorangegangenen Turns koreferiert. Mit ihrem retrospektiven Skopus fungieren diese beiden Argumentrealisierungsmuster häufiger als andere Argumentrealisierungen als Antwort auf eine zuvor gestellte Frage. b. Für die ich weiss nicht-Varianten mit reduzierter SV- und V-Argumentrealisierung ist der Skopus eher prospektiv zu verstehen, da in diesen Fällen die auf ich weiss nicht folgenden TCUs als Antwortversuche zu vorangegangenen Fragen behandelt werden. ich weiss nicht kann dann entweder epistemisch (‘Ich weiß nicht, ob die folgende Proposition Y wahr ist, aber ich halte sie für eine mögliche Antwort auf Frage X’) oder metapragmatisch (‘Ich weiß nicht, ob die folgende Proposition Y ausreichend oder adäquat ist, aber sie könnte dazu beitragen, Frage X zu klären’) verstanden werden und rahmt entsprechend die Folgeäußerungen. Die Bedeutung von ich weiss nicht scheint von ‘kein Wissen haben’ (Muster 1, 2 und möglicherweise 3) 15 über ‘Ungewissheit bezüglich einer Proposition oder ihrer Hinlänglichkeit/ Relevanz’ (Muster 4) zu ‘Widerspruch zu einer zuvor geäußerten (Pro)Position’ (Muster 5) zu reichen. Mit diesen Ergebnissen trägt die Untersuchung zur Analyse von „positionally sensitive grammar(s)“ (Schegloff 1996; Thompson/ Fox/ Couper-Kuhlen 2015) und der Relevanz formaler Varianten sprachlicher Strukturen für den interaktionalen Gebrauch im Deutschen bei. Sie zeigt auf, in welchen sequenziellen Umgebungen und für welche pragmatischen Funktionen unterschiedliche Varianten der Argumentrealisierung von ich weiss nicht verwendet werden. 15 Muster 3 kann auch einen eher strategischen Gebrauch von ich weiss nicht beinhalten. Henrike Helmer / Arnulf Deppermann / Silke Reineke 404 Literatur Aijmer, Karin (2009): “So er I just sort I dunno I think it’s just because...”: A corpus study of I don’t know and dunno in learners’ spoken English. In: Jucker, Andreas H./ Schreier, Daniel/ Hundt, Marianne (Hg.): Corpora: Pragmatics and Discourse. Papers from the 29th International Conference on English Language Research on Computerized Corpora (ICAME 29). Ascona, Switzerland, 14-18 May 2008. 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Unterscheiden lassen sich auf der gemeinsamen Wahrnehmungssituation basierende Ellipsen gegenüber auf dem diskursiven Kontext basierenden Analepsen, in denen Argumente nicht realisiert werden, die zuvor bereits geäußert wurden. Solche Äußerungen sind entsprechend referenziell unterspezifiziert - die Hörer müssen ihre Bedeutung durch den Kontext erschließen. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie analeptische Äußerungen mit der Ablehnung von leeren Elementen in konstruktionsgrammatischen Ansätzen in Einklang gebracht werden können und wie verschiedene Ansätze versuchen, die referenzielle „Lücke“ zu schließen. Einige Autoren gehen davon aus, dass die Nichtinstanziierungen durch Frames restringiert und entsprechend interpretiert werden können (z.B. Fillmore 1986, 2013). Andere Autoren nehmen an, dass Kontextinformationen wie Topikalität und Genre konstruktionsinhärent repräsentiert werden (z.B. Ruppenhofer/ Michaelis 2010). Beide Versuche eröffnen Probleme für die Interpretation von Analepsen: Die Bedeutung jeder einzelnen Analepse hängt von ihrem diskursiven Kontext ab. Für viele Analepsen und spezifische Analepsentypen ist es nicht möglich, durchgängige semantische Merkmale der Antezedenzien zu finden, sondern sie sind nur rein situativ interpretierbar. Zunächst werden in Abschnitt 2 Kernthesen und Ansätze zur Nichtrealisierung von Argumenten in konstruktionsgrammatischen Studien skizziert. In Abschnitt 3 wird der Untersuchungsgegenstand umrissen. Nachdem in Abschnitt 4 eine ausführliche Diskussion von Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Sicht erfolgt, wird mit einem Fazit in Abschnitt 5 abgeschlossen. Henrike Helmer 408 2. Kernthesen konstruktionsgrammatischer Ansätze Der Begriff ‘Konstruktionsgrammatik’ bezeichnet keine einheitliche Grammatiktheorie, sondern umfasst diverse Schulen und Ansätze von Theorien, welche bestimmte Grundgedanken teilen. Die ersten als programmatisch zu sehenden konstruktionsgrammatischen Ansätze wurden auf der Basis der Framesemantik und Kasusgrammatik entwickelt und sind in der Berkeley Construction Grammar zu verorten (vgl. Fillmore/ Kay/ O’Connor 1988). Weitere Ansätze sind die der Sign-Based Construction Grammar (vgl. Sag 2007, 2010), der Radical Construction Grammar (Croft 2001, 2013) und Ansätze mit noch stärkerem kognitivem Fokus wie Goldberg (1995, 2006) oder Langacker (2005). Die verschiedenen Ansätze zeichnen sich durch Unterschiede in theoretischen Grundannahmen aus, jedoch lassen sich einige Aspekte festhalten, über die sich die meisten Autoren einig sind (für einen detaillierten Überblick vgl. Fischer/ Stefanowitsch 2006 und Stefanowitsch 2011): - Im Fokus stehen Konstruktionen, die als Form-Bedeutungs-Paare verstanden werden. Die Formseite umfasst syntaktische, morphologische und phonologische Eigenschaften. Die Bedeutungsseite setzt sich zusammen aus semantischen, pragmatischen und diskursfunktionalen Eigenschaften. Es werden gemäß Langackers „symbolic thesis“ (Langacker 1987, S. 2) also keine getrennten Systeme von Lexikon, Grammatik, Semantik usw. angenommen (vgl. Lakoff 1987; Fillmore et al. 1988; Goldberg 1995, 2006). - Alle Ansätze sind monostratal, d.h. sie lehnen die Annahme einer Tiefenstruktur und transformationeller Regeln, nach denen diese in Oberflächenstrukturen überführt werden, ab. Sie grenzen sich damit von transformationsgrammatischen Modellen ab. Damit einhergehend wird von Konstruktionsgrammatikern auch die Annahme von leeren Elementen (‘empty categories’, vgl. Abschnitt 4.1) zurückgewiesen (vgl. Goldberg 2002; Fillmore 2013; Michaelis 2013). - Die meisten Autoren konstatieren, dass Konstruktionen in einem taxonomischen Netzwerk miteinander durch Vererbung zusammenhängen (vgl. Lakoff 1987; Langacker 1987; Fillmore et al. 1988; Goldberg 1995). - Die meisten Vertreter konstruktionsgrammatischer Theorien sind sich außerdem darüber einig, 1 dass grammatisches Wissen in Wissen über Konstruktionen besteht und Generalisierungen bottom-up erst durch Schemati- 1 Dies gilt zumindest für diejenigen, die ihren Ansatz als usage-based verstehen. Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 409 sierung von zunächst lexikalisch fixierten Slots entstehen 2 (Langacker 1988; Tomasello 2003; Goldberg 2006). Konstruktionen werden wie erwähnt als Form-Bedeutungs-Paare beschrieben. Auf der Formseite sind syntaktische, morphologische und phonologische Merkmale repräsentiert, auf der Bedeutungsseite semantische, pragmatische und diskursfunktionale Eigenschaften (vgl. Abb. 1). Syntactic properties Morphological properties Phonological properties Semantic properties Pragmatic properties Discourse-functional properties CONSTRUCTION (frequency) FORM Symbolic correspondence (link) (CONVENTIONAL) MEANING Abb. 1: Symbolische Struktur von Konstruktionen (nach Croft 2001, S. 18) Vertreter konstruktionsgrammatischer Ansätze lehnen dabei leere Elemente i.S.v. „empty categories“ innerhalb der Form-Bedeutungs-Paare ab. Die Prämisse der Nichtexistenz von leeren Elementen wird auch noch in aktuellen Publikationen im Rahmen der Berkeley Construction Grammar unterstrichen: „The main operation is (naïve) unification, so the grammar has no deep structure, no transformations, and no empty categories. What you see is what you get.” (Fillmore 2013, S. 112). Die Ablehnung von leeren Kategorien erklärt sich dadurch, dass Konstruktionsgrammatiker die Annahme von Transformationen und Tiefenstrukturen vermeiden wollen (Hoffmann/ Trousdale 2013, S. 3) und meinen, leere Elemente seien nicht erwerbbar (siehe dazu Goldberg 2006, S. 10; Stefanowitsch 2011, S. 18). Konstruktionsgrammatiker sind der Ansicht, dass vermeintlich durch Transformationen verwandte Konstruktionen wie etwa Aktiv- und Passivkonstruktionen tatsächlich eigenständige Konstruktionen mit verschiedenen Merkmalen sind und auch als eigenständige Konstruktionen erworben wer- 2 Grammatisches Wissen ist nach dieser Vorstellung nicht nur auf dem höchsten Level eines Konstruktionsnetzwerks gespeichert, sondern auch bei den hierarchisch darunterliegenden Konstruktionen. Die Annahme von bottom-up-Prozessen bei eher gebrauchsorientierten Ansätzen geht zwar mit einer gewissen Redundanz bezüglich der Speicherung grammatischen Wissens einher, jedoch ermöglicht sie zum einen eine größere Unabhängigkeit zu im taxonomischen Netzwerk hierarchisch übergeordneten Konstruktionen. Zum anderen vermeidet sie die Vorstellung radikal-konstruktionsgrammatischer Ansätze, dass jede Variation in Form oder Bedeutung einer Konstruktion zu einer vollkommen neuen Konstruktion führt. Henrike Helmer 410 den. Insbesondere die konstruktionsgrammatische Forschung zum Spracherwerb von Kindern legt nahe, dass diese weder leere Elemente, grammatische Transformationsregeln oder Tiefenstrukturen erwerben, noch ihnen eine Universalgrammatik angeboren ist. Kinder erwerben usage based konkrete Konstruktionen, die erst später abstrahiert werden (vgl. etwa Tomasello 2003). Stefanowitsch bemerkt: Die Konstruktionsgrammatik würde in ihren Modellvorstellungen erst dann substanziell getroffen, wenn sich sprachliche Elemente fänden, die weder Form noch Bedeutung haben (etwa PRO oder trace). Solche Elemente könnten nicht gebrauchsgestützt erworben werden, und würden deshalb angeborenes sprachspezifisches Wissen erfordern. (Stefanowitsch 2011, S. 18) Bei leeren Elementen handelt es sich in transformationsgrammatischen Ansätzen um mentale Kategorien, für die es auf der Sprachoberfläche kein Äquivalent gibt, wie etwa bei PRO, NP- und wh-traces, die leere Elemente sein sollen, die aus Transformationen resultieren, und die auf der Sprachoberfläche gar nicht realisiert werden könnten (vgl. Chomsky 1981, S. 55ff.). Ein Beispiel hierfür ist das angenommene leere PRO-Element in „Wir überreden John 1 PRO 13 das Studium zu beenden“ (nach Chomsky 1981, S. 30), das nicht durch ein realisiertes Element gefüllt werden kann („Wir überreden John John/ er das Studium zu beenden“), ohne die syntaktische Struktur zu verändern („Wir überreden John dazu, dass er das Studium beendet“). Während die Ablehnung von Kategorien wie PRO (Carnie 2013, S. 429ff.) nachvollziehbar ist, da dabei von PRO-Kategorien ausgegangen wird, die nie overt sind („Er i musste PRO i nach Hause gehen.“), wird es schwieriger bei Kategorien wie „little pro“ (ebd., S. 449f.; vgl. auch Chomsky 1981, S. 204ff.) und damit zusammenhängend bei Pro-Drop. Pro-Drop unterscheidet sich hinsichtlich anderer leerer Kategorien dahingehend, dass das nicht realisierte PRO-Element prinzipiell realisiert werden kann und in vielen (etwa einigen romanischen) Sprachen auch regelmäßig realisiert wird (im Unterschied zum zuvor beschriebenen PRO-Element der Tiefenstruktur in NP-traces). Pro- Drop wird sowohl von Transformationsgrammatikern als auch von Konstruktionsgrammatikern untersucht, Konstruktionsgrammatiker thematisieren die Grenzziehung zwischen verschiedenen Arten leerer Elemente dabei aber nicht. Der Zusammenhang mit bzw. die Abgrenzung von Nichtinstanziierungen von Argumenten (vgl. Abschnitt 4.1) bleibt unbeleuchtet und erschließt sich nur implizit. 3 Der Index zeigt an, dass PRO koreferenziell zu John ist. Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 411 3. Die Nichtrealisierung von Verbargumenten - analeptische Äußerungen Die folgende Untersuchung diskutiert, ob und wie sich bestimmte elliptische Strukturen in der verbalen Interaktion mit konstruktionsgrammatischen Begriffen und Konzepten beschreiben lassen. Eine besonders frequente Form von Auslassungen von Argumenten in der Interaktion sind Analepsen. Diese sind wie Ellipsen dadurch gekennzeichnet, dass eine oder mehrere grammatisch und verstehensbezogen obligatorische Konstituenten eines Satzes nicht realisiert sind. Dies kann Argumente eines Verbs betreffen, ebenso wie das Verb selbst. Analepsen unterscheiden sich von Ellipsen hinsichtlich der Basis, auf der Sprecher die jeweilige Äußerung produzieren bzw. Hörer sie interpretieren können: Ellipsen basieren auf einer gemeinsamen Orientierung von Sprecher und Hörer z.B. in einer spezifischen Situation und nehmen damit Bezug auf außersprachliche Ereignisse, Sachverhalte und Objekte (vgl. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997, S. 409 ff.). Analepsen hingegen beruhen „auf vorgängiger Verbalisierung, die unter bestimmten Bedingungen in Geltung bleibt, so daß das, was folgt, unmittelbar angeschlossen bzw. koordinativ eingebunden werden kann“ (Hoffmann 1999, S. 72). Bei den im Folgenden besprochenen sprachlichen Strukturen handelt es sich um Analepsen, die sich durch Topik-Drop 4 auszeichnen (vgl. für eine umfassende Darstellung Helmer 2016). Diese Analepsen enthalten ein Verb, ein oder mehrere Argumente dieses Verbs sind jedoch nicht realisiert, wie in Beispiel (1), in dem Anita und Philipp gemeinsam essen: (1) FOLK_E_00027_SE_01_T_01_00: 06: 42-00: 06: 55 Studentisches Alltagsgespräch, AM = Anita, PB = Philipp 01 AM die SUPpe is lecker. 02 (1.53) 03 PB joa. 04 (4.06) ((Essgeräusche)) 05 PB schmeckt- 06 (1.14) 07 PB GUT- 08 (5.56) 4 Das Topik ist das, was kontextuell bekannt ist und über das etwas ausgesagt wird (vgl. z.B. Reinhart 1981, Lambrecht 1994, sowie als Überblick Musan 2002, Krifka/ Musan 2012), in diesem Fall durch die analeptische Äußerung. Henrike Helmer 412 Nachdem Anita die Suppe als lecker bewertet (Z. 1), gibt Philipp durch „schmeckt- (1.14) GUT-“ (Z. 05-07) seine eigene Bewertung in Form einer Analepse ab, also ohne die Ergänzung die Suppe noch einmal lexikalisch oder pronominal zu realisieren. Sprecher sparen in solchen Analepsen aus sprechökonomischen oder rhetorischen Gründen eine Wiederholung oder Explizierung des Äußerungs- oder Diskurstopiks aus. Sie sind häufig responsive Hintergrundkommentare, die Bezug auf einen vorherigen Turn bzw. Konstituenten dieses Turns nehmen, die im Folgenden in Anlehnung an die Anaphernforschung ‘Antezedenzien’ genannt werden. Antezedenzien der Analepsen sind Nominal-, Verbal- oder Adjektivphrasen oder ganze propositionswertige Turns; zudem können Analepsen Bezug auf einen Sprechakt nehmen oder lediglich indirekt mit dem Bezugskontext in Verbindung stehen. Analepsen können unterschiedlich stark formelhaft sein (vgl. Abschnitt 3.1). Zudem können Analepsen hinsichtlich ihres Produktions- und Verarbeitungsaufwands unterschiedlich komplex sein (Abschnitt 3.2). 3.1 Unterschiedliche Formelhaftigkeit von Analepsen Analepsen können pragmatikalisierte Konstruktionen sein, die eine analeptische Struktur auf der Formseite aufweisen. 5 Diese für eine konstruktionsgrammatische Betrachtung unproblematischen Fälle werden im Folgenden nicht weiter besprochen. Andere Typen von Analepsen sind zwar nicht pragmatikalisiert, aber formelhafte, usuelle Äußerungen, die in bestimmten situativen Kontexten Verwendung finden, hinsichtlich syntaktischer, semantischer, sequenzieller und pragmatischer Eigenschaften allerdings eindeutig als Analepsen bezeichnet werden können. Beispiele hierfür sind kriegen wir schon (irgendwie) hin, wird schon, kann sein, ich wollt grad sagen oder passt schon, die dabei eine relativ variable syntaktische Struktur aufweisen und etwa auch als grammatisch vollständige Äußerung mit Anapher realisiert werden können ((das) passt schon, 5 Diese teilen die mit Analepsen zwar formal die Nichtrealisierung obligatorischer Argumente, sind ansonsten aber nicht mehr mit analeptischen Strukturen vergleichbar. Sie sind syntaktisch fixierte Konstruktionen mit veränderter Semantik, die nicht auf propositionaler, sondern auf rein diskurspragmatischer Ebene operieren. Auch wenn der konkrete Präkontext für die Interpretation der Äußerung selbstverständlich noch von Bedeutung ist, sind eher größere Diskurseinheiten maßgeblich, beispielsweise eine ganze Diskursvorgeschichte mit klaren Sprecherpositionierungen. Ein Beispiel hierfür ist siehste, das diskursmarkerähnliche Funktionen annimmt (vgl. auch Imo 2007b; Helmer 2016). Es ist an die analeptische Form gebunden, d.h. in vollrealisierter Form (siehst du das? ) hat es propositionale Bedeutung, eine literale Semantik (sehen als verbum sentiendi) und operiert nicht auf der Diskursebene. Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 413 (das) wird schon (irgendwie) (werden), (das) kriegen wir (schon) (irgendwie) hin usw.). Bei diesen Strukturen handelt es sich um social action formats (z.B. Couper- Kuhlen/ Thompson 2005; Fox 2007; Kärkkäinen 2009, 2012; Kärkkäinen/ Keisanen 2012), also linguistische Routinen für bestimmte Praktiken. Diese sind auf der Handlungsebene bestimmt, aber ihre Interpretation erfordert auch die semantische Deutung der referenziellen Lücke. Beispiel (2) stammt aus einer Interaktion, in der drei WG-Bewohnerinnen gemeinsam kochen. (2) FOLK_E_00220_SE_01_T_04_01: 19: 19-01: 19: 31 Kochinteraktion, MK = Minerva, FF = Fortuna 01 MK und des proBLEM is so_n bisschen, 02 dass wir nich so h° geile (.) 03 allein schon im 04 wir ham nur ess APfelessig. 05 (1.19) 06 FF <<pp>ach> PASST schon. 07 PASST schon. 08 MK is nich SO geil; 09 aber ich glaube auch des würde GEhen. 10 FF ja JA: . 11 (0.59) 12 FF nimm rUhich des ziTROnen (.) oliven öl. Während die Mitbewohnerinnen einen Salat zubereiten, gibt Minerva zu bedenken, dass sie nur Apfelessig zur Verfügung haben. Sie markiert dies als potenziell problematischen Sachverhalt, indem sie die Ankündigung mit einem Pseudocleft rahmt („und des proBLEM is so_n bisschen“, Z. 01) und nach mehreren Abbrüchen äußert: „wir ham nur ess APfelessig.“ (Z. 04). Ihre Mitbewohnerin Fortuna reagiert mit „PASST schon.“ (Z. 06 und Wiederholung in Z. 07) auf Minervas Sorge. Die Analepse hat vordergründig einen propositionalen Bezug („[dass wir nur apfelessig haben] PASST schon.“). Pragmatisch leistet sie aber mehr: Die Sprecherin zeigt damit an, dass der als potenziell problematisch empfundene Sachverhalt nicht problematisch ist. Passt schon kann in verschiedenen Situationen verwendet werden, ist aber wie andere formelhafte bis idiomatische analeptische Äußerungen relativ stark restringiert (so auch Imo 2013, S. 283). So gilt für den Präkontext, dass etwas potenziell Dispräferiertes geäußert worden sein muss bzw. ein vorheriger Sprecher einen Sachverhalt oder eine intendierte Handlung als problematisch gerahmt haben muss. Der Folgesprecher bezieht sich mit passt schon auf die Henrike Helmer 414 mögliche Dispräferenz und zeigt entweder an, dass besagte (sprachliche) Handlung oder der dargestellte Sachverhalt gar nicht dispräferiert war oder dennoch kein Problem darstellt. Mit passt schon wird aber nicht einfach per se eine vorangegangene Handlung akzeptiert, sondern je nach Präkontext auch eine Bewertung eines Sachverhalts oder eines Referenten gegeben (in Beispiel (2) etwa „Apfelessig ist okay für das Dressing“), eine Zustimmung auf propositionaler Ebene vollzogen usw. Die Formelhaftigkeit von passt schon ist dabei nicht an die analeptische Form gebunden: Die Anapher das etwa kann eingefügt werden, ohne dass dadurch die Formelhaftigkeit verändert wird (das passt schon). Die Äußerungen können dabei natürlich ebenfalls auf diskurspragmatischer Ebene operieren, zum Beispiel themenbeendigend sein. Der entscheidende Punkt ist jedoch die hohe Relevanz des semantischen Bezugs zum Präkontext und die Operation auch auf propositionaler Ebene. Darüber hinaus gibt es Ad-hoc-Analepsen, die nur rein situativ produziert und interpretiert werden können. Sie sind eng mit einem ganz spezifischen Präkontext verbunden und weisen entsprechend situationsspezifische semantische und pragmatische Eigenschaften auf, haben also nicht wie social action formats situationsbzw. gesprächsübergeifende Funktionen. Ad-hoc- Analepsen haben i.d.R. ein konkretes Antezedens und haben selbst immer auf propositionaler Ebene Bedeutung. Ohne das Antezedens sind ihre Bedeutung und ihre Funktion in der jeweiligen Situation nicht einmal vage erschließbar. Die analeptischen Äußerungen passen ausschließlich auf den spezifischen Präkontext, in dem es ein Antezedens gibt, das vom Verb der Analepse regiert werden kann. Die Identifizierung des Antezedens hängt damit von syntaktischen und semantischen Restriktionen des Verbs ab. Eine solche Äußerung zeigt Beispiel (3). Es stammt aus einer Interaktion zwischen Freunden, die ein Fußballmanagerspiel spielen, in dem sie Geldbeträge auf Fußballspieler bieten und die gekauften Spieler zu fiktiven Mannschaften zusammensetzen. (3) FOLK_E_00021_SE_01_T_03_00: 37: 58-00: 38: 05 Fußballmanagerinteraktion, DK = Darius, SK = Simon, JZ = Jan 01 DK was.= 02 =für_n LEHmann wird soviel, 03 (.) der_s doch bald VIERzig oder so. 04 (0.7) 05 SK <<p>IS_er nich schon? > 06 (0.71) 07 NI acht FÜNF; [h° ] 08 JZ [früher die] KUMpels alle vau eff BE fans gwesen? Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 415 Während einer Bietsequenz für den Torwart Jens Lehmann zeigt Darius sich überrascht über die hohen Gebote seiner Freunde (Z. 01-02). Er begründet seine Überraschung mit Lehmanns Alter: „der_s doch bald VIERzig oder so.“ (Z. 03). Simon schließt nach einer Pause mit einer analeptischen Äußerung an und äußert durch: „<<p>IS_er nich schon? >> (Z. 05) die Vermutung, dass Lehmann bereits vierzig Jahre alt sei. Simons Analepse mit der Kopula sein kann diverse Argumente haben, die auf grammatischer Ebene etwa eine NP, AP oder VP (dann mit sein als Hilfsverb) sein können. Ohne den konkreten sprachlichen Kontext und das dadurch zu identifizierende Antezedens „VIERzig“ (Z. 03) wäre die Analepse referenziell zu unterspezifiziert, als dass Simons Aussage interpretierbar und ihre Funktion erschließbar wäre. 3.2 Komplexität von Analepsen Einige Typen und Einzelfälle von Analepsen sind besonders komplex, insbesondere indirekte Analepsen, Analepsen mit mehreren Antezedenzien und Analepsen, deren Bezugsäußerung klar ist, deren Reichweite hinsichtlich des konkreten Bezugs aber variieren kann. Bei indirekten Analepsen gibt es im vorherigen Kontext kein Antezedens, das direkt in die Analepse „eingefügt“ werden könnte. Passende Antezedenzien im Präkontext bzw. ihre Referenten sind nicht das, was der Sprecher der Analepse nicht realisiert, sondern lediglich sprachliche Anker, die mit dem nicht instanziierten Argument der Analepse nur indirekt zusammenhängen. Analepse Antezedenz Referent Abb. 2: Die Verhältnisse zwischen Analepse, Antezedens und Referent bei direkten Analepsen Während bei direkten Analepsen der Referent des Antezedens und der des nicht realisierten Arguments der Analepse derselbe ist, also Koreferenz vorliegt (vgl. Abb. 2), stehen beide Referenten bei indirekten Analepsen zwar in einem systematischen Zusammenhang, sind aber nicht koreferenziell (Abb. 3). Henrike Helmer 416 Analepse Antezedenz Referent 1 Referent 2 semantische Relation, z.B. Antonymie Abb. 3: Die Verhältnisse zwischen Analepse, Antezedens und Referent bei indirekten Analepsen Dies illustriert Beispiel (4) aus der politischen Talk-Show „Mittwochs um 8“ aus dem Jahr 1989, in dem sich die Teilnehmer über die Ideen und Pläne bezüglich der kommenden Rechtschreibreform unterhalten. Vor dem zitierten Ausschnitt sprechen der Moderator und einige Sprachwissenschaftler über die ablehnende Reaktion der Deutschen selbst auf kleinere Reformvorschläge. Sie diskutieren die Frage, ob radikalere Reformbemühungen wie die Einführung einer konsequenten Kleinschreibung überhaupt gegen den Willen der Deutschen durchsetzbar wären und welche Reaktionen sie hervorrufen würden, da sich selbst die Kommissionsmitglieder in diesem Punkt uneinig seien. (4) GIF_mittwochs um 8_ausgeklammert Gespräche im Fernsehen, GD = Günther Drosdowski, JK = Josef Klein 01 GD also: äh ich meine damit auch [kei]ne MISSverständnisse entstehen- °h 02 JK [ja.] 03 GD herr MENtrup hat vorhin angeführt-= 04 =GROß und KLEINschreibung; 05 <<all>lautBUCHstabenbeziehung-> 06 °h die sind ja von den kUltusministern AUSgeklammert [worden. ] 07 JK [RICHtig.] 08 GD [die spielen in einer r]eform [gAr keine ROLle. nich? ] 09 JK ha[t er auch geSAGT; ] [ ja. is is TOT. ne? ] 10 [aber; ] [GUT; ] 11 GD [ja entSCHU]Ldigen sie [herr k]lein. ja? Um eine neuerliche inhaltliche Diskussion über diese Teilaspekte zu verhindern, wiederholt und betont der damalige Leiter der Duden-Redaktion, Günther Drosdowski, dass die entsprechenden Vorschläge zu Änderungen der Groß- und Kleinschreibung sowie der Laut-Buchstaben-Beziehung von den Kultusministern gar nicht verfolgt würden (Z. 1-06, 08). Der Sprachwissenschaftler Josef Klein kommentiert diesen Fakt mit der Analepse „ja. is is TOT. ne? “ (Z. 09). Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 417 Kleins Analepse verlangt ein Subjekt zur Kopula sein, wobei das Subjekt aufgrund des Adjektivs „TOT“ entweder belebt oder ein Konzept sein muss, das metaphorisch „sterben“ kann. Der einzige mögliche Bezug für eine literale Interpretation („von den kUltusministern“, Z. 06) kann aus pragmatischen Gründen 6 ausgeschlossen werden. Ebenfalls kann „reform“ (Z. 08) aus pragmatischen Überlegungen als unwahrscheinlich ausgeschlossen werden. 7 Stattdessen bezieht Josef Klein sich auf die „GROß und KLEINschreibung; “ (Z. 04) und „lautBUCHstabenbeziehung-“ (Z. 05). Die Analepse steht hier mit dem sprachlichen Anker in einem grammatischen Inkongruenzverhältnis. 8 Dies deutet darauf hin, dass die von Drosdowski verwendeten Fachtermini „Groß- und Kleinschreibung“ und „Laut-Buchstaben-Beziehung“ für Klein nur sprachliche Anker sind, auf deren Basis er seine Analepse formuliert. Groß- und Kleinschreibung sowie Laut-Buchstaben-Beziehung sind keine belebten Objekte, die tot sein können. Metaphorisch sterben bzw. tot sein kann aber die Idee, diese beiden Aspekte der deutschen Orthographie zu reformieren. Der Bezug von Josef Kleins Analepse ist entsprechend die Reform dieser beiden Aspekte oder die der Reform vorausgehenden Idee, die beiden Aspekte überhaupt in den Prozess einzubeziehen. Weiterhin sind Analepsen dann komplex, wenn es konkurrierende Antezedenskandidaten gibt. Dies kann von Sprechern absichtlich genutzt werden, um Folgesprechern mehrere Antwortmöglichkeiten zu eröffnen. Ein Beispiel hierfür ist der folgende Ausschnitt aus der Talkshow „Nachtcafé“ zum Thema „Frauen und Macht“ aus dem Jahr 1990. Der Moderator Wieland Backes interviewt die Politikerin Petra Bläss, die kurz nach dem Abschluss ihres Germanistikstudiums Vorsitzende der Wahlkommission der ersten und einzigen freien Volkskammerwahl der DDR am 18. März 1990 wurde: (5) GIF_frauenundmacht_rolle Gespräche im Fernsehen, WB = Wieland Backes, PB = Petra Bläss 01 WB °h nun sagt man ja oft FRAUen nach- 02 also MAN (.) MÄNner sagen das frauen nach- 03 °h dass frauen SEHR oft an sich zwEIfeln; 6 Die Tatsache, dass alle Kultusminister tot wären, würde wohl kaum in einem lapidaren Hintergrundkommentar erwähnt werden. Zudem wäre die personelle Referenz mit der literalen Lesart von „TOT“ aufgrund der Numerusinkongruenz (die Kopula steht im Singular, die Nominalphrase im Plural) zwar nicht unmöglich, aber wohl eher unwahrscheinlich. 7 Die Teilnehmer unterhalten sich darüber, dass eine Reform verschiedener Aspekte der deutschen Orthographie auf jeden Fall durchgesetzt werden wird, die Rechtschreibreform als Ganzes als „TOT“ zu bezeichnen, ergäbe demnach keinen Sinn. 8 Während Drosdowski sich auf die beiden Aspekte der Orthographie mit der Kopula sein im Plural bezieht (Z. 06 und 08), äußert Klein dieselbe Kopula im Singular. Henrike Helmer 418 04 KANN ich das überhaupt; = 05 =<<all>mein sie sind> ja keine jurIStin, 06 sie haben [germa ]NIStik studiert; 07 PB [<<p>hm->] 08 WB °hh KANN ich das überhaupt- 09 da WÄCHST mir was auf_n kOpf-= 10 =<<all>NEIN lieber nIcht; = 11 =[lass ich die] FINger da[von],= 12 PB [hm ] [°h ] 13 WB =[hat bei ihnen] KEIne rolle gespielt? > 14 PB [°h ] 15 (0.67) 16 PB (ʔhnʔ) naja natürlich SCHON; 17 vielleicht nicht in DER dimension; 18 ich muss SAgen, 19 als ich die wahl ANgenommen hab; = 20 =da hab ich wIrklich äh völlig von mEIner person ma abstraHIERT, 21 und hab geDACHT, 22 °hh wenn du JETZT anfängst äh zu sagen, 23 äh WISsen sie, 24 äh ich bin keine juRIStin und so weiter; 25 und viellEIcht auch nur STELLvertreterin oder so- 26 °h dieser gedanke SPIELte gAr keine rolle,= 27 =weil ich WUSste, 28 °h äh das ist dann wIrklich das AUS für den frauenverband und auch für die FRAUen in der de de er; Backes interviewt Bläss zu potenziellen Gedanken vor der Wahl, die er ihr aufgrund ihres Geschlechts und ihres fachfremden Hintergrundes zuschreibt (Z. 01-06). Er übernimmt die Perspektive seiner Gesprächspartnerin und legt ihr mit Formulierungen in der 1.P.Sg. eine Reihe von potenzielle Selbstzweifeln und Zweifeln an der Annahme ihrer Position und Aufgabe in den Mund (Z. 08-11). Backes schließt seinen Sprecherbeitrag mit der analeptischen TCU „hat bei ihnen KEIne 9 rolle gespielt? “ (Z. 13). Im Präkontext finden sich mindestens fünf Äußerungen, die Bezüge der Analepse sein könnten, die also alle „keine Rolle spielen“ könnten: 9 Die Negation innerhalb der Frage („KEIne“) ist dadurch zu erklären, dass Bläss im Verlauf des vorherigen Gesprächs als eine starke Frau charakterisiert wird, die sich hochgearbeitet hat. Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 419 - Zeile 03: dass Frauen sehr oft an sich zweifeln - Zeile 05-06: dass Bläss Germanistin und nicht Juristin ist - Zeile 08: die Frage nach der eigenen Fähigkeit - Zeile 09: die Möglichkeit, dass alles zu viel für sie ist 10 - Zeile 10-11: die Erwägung der Möglichkeit, die Position der Vorsitzenden nicht zu übernehmen (als Konsequenz aus möglicher Überforderung, die aus möglicher Unfähigkeit resultiert) 11 Das nicht realisierte Argument der Analepse könnte zudem ein Subjekt im Sinne einer propositionswertigen Komplexanapher sein (das, das alles, diese Tatsache, diese Problematik etc.). Bläss bestätigt durch „naja natürlich SCHON“ (Z. 16), dass etwas des zuvor Gesagten eine Rolle gespielt hat, schränkt dies allerdings durch die konzessive Partikel „naja“ ein. Zudem projiziert die Modalpartikel „schon“ die folgende Relativierung des von Backes eröffneten Komplexes mit „vielleicht nicht in DER dimension; “. Bläss bezieht sich zunächst selbst nicht auf ein spezifisches Antezedens. Im weiteren Verlauf hingegen greift sie lexikalisch vor allem den eher weit zurückliegenden Aspekt des Jurastudiums auf (Z. 24). Dies ist die einzige von ihr lexikalisch angezeigte konkrete Referenzherstellung (wobei „und so weiter“ sich möglicherweise auf die anderen Aspekte aus Backesʼ Rede bezieht). Mit der lexikalischen Wiederholung des Idiomatismus keine Rolle spielen (Z. 26) stellt sie einen eindeutigen Bezug zwischen ihrer Antwort und der TCU von Backes in den Zeilen 05-06 her, wobei das Subjekt nicht unrealisiert bleibt, sondern mit „dieser gedanke“ (Z. 26) lexikalisch realisiert wird. Hierbei expandiert sie das Thema, indem sie einen in dieser Konkretheit neuen Aspekt einführt, nämlich die Stellvertreterrolle (Z. 25), was auf eine weitere Interpretation der Analepse durch Bläss hindeutet. Bläss lässt die allgemeinen Selbstzweifel gelten, negiert jedoch die Erklärung dazu, wieso sie aufgekommen sind. Die Möglichkeit mehrerer potenzieller Antezedenzien der Analepse wird also nicht nur von Backes eröffnet, sondern von Bläss auch systematisch genutzt. Als drittes finden sich weitere Analepsen, bei denen aufgrund der sprachlichen Struktur der Bezugsäußerung (i.d.R. eine Modalverbkonstruktion) die Weite des Bezugs der Analepse variieren kann. Der jeweilige Bezug kann 10 Backes meint offenbar den Idiomatismus über den Kopf wachsen und entsprechend eine mögliche Überforderung als Konsequenz möglicher Unfähigkeit. 11 Hier liegt also gewissermaßen eine Klimax der möglichen Gedanken (und ihrer Implikaturen) vor: Sie entwickeln sich von allgemeinen Überlegungen (Grundbedingungen) über Zweifel (Ursache) bis hin zum Abwägen der Alternative, die Aufgabe abzulehnen (Konsequenz). Henrike Helmer 420 i.d.R. nur aus pragmatischen Gründen erschlossen werden. Ein Beispiel zeigt der folgende Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen Mitbewohnern, die sich über eine Super-8-Kamera unterhalten, die ein Bekannter bei Tina (TI) vergessen hat (auf den Peter (PE) sich in Zeile 01 bezieht): (6) FOLK_E_00119_SE_01_T_02_00: 31: 23-00: 31: 33 WG-Gespräch, PE = Peter, RW = Ronja, TI = Tina 01 PE du siescht_n BEIM umzug. 02 <<p>des HAM_mer doch schon-> 03 (1.28) 04 RW ((lacht)) 05 (0.2) 06 TI JA_a. 07 (0.25) 08 TI A: ber. 09 (0.41) 10 PE WAS aber. 11 TI °hh wo sOll ich se denn dann jetzt HINlegen. 12 ach is doch auch eGAL. 13 (0.72) Peter weist Tina darauf hin, dass sie die Kamera bald ihrem Bekannten geben kann, da sie diesen beim anstehenden Umzug sehen wird Z. 01). Mit dem Abbruch „<<p>des HAM_mer doch schon->“ (Z. 02) bemerkt er, dass diese Problematik eigentlich schon geklärt war. Tina zeigt daraufhin an, dass ihr eigentliches Problem ein anderes ist (Z. 06-08) und formuliert nach Peters Nachfrage (Z. 10) die Frage „wo sOll ich se denn dann jetzt HINlegen.“ (Z. 11), mit der sie expliziert, dass ihr Problem ein geeigneter Platz für die Kamera ist, die sie bei den Einräumarbeiten für den Umzug stört. Tina beantwortet ihre eigene Frage selbst in Form der Ad-hoc-Analepse „ach is doch auch eGAL.“ (Z. 12). Das Antezedens der Analepse kann eine Nominalphrase sein („se“ (Z. 11), also die Kamera) oder der mit dem Interrogativsatz wo eingeleitete Nebensatz bzw. Teile davon. Die Hörer der Analepse müssen also zum einen die Inferenz ziehen, dass Tina nicht die Kamera selbst egal ist, sondern die Frage, wo diese unterzubringen sei. Aber auch, wenn die Hörer als Bezug die gesamte vorherige Äußerung identifiziert haben, stehen sich eine direktive und eine faktische Interpretation gegenüber: Umfasst das Antezedens die gesamte Äußerung inklusive Modalverb sollen, müsste Tinas Analepse direktiv interpretiert werden: „is doch auch eGAL. [wo ich die kamera hinlegen soll]“. Im diesem Fall könnten die Gesprächspartner die Analepse als Aufforderung Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 421 bzw. Nichtaufforderung an sich selbst verstehen, also direktiv in dem Sinne, dass sie keine Vorschläge bezüglich eines geeigneten Platzes für die Kamera machen müssen oder sollen. Umfasst der Skopus der Analepse die Äußerung ohne das Modalverb, also nur mit dem Vollverb hinlegen, ist die Interpretation ‘faktisch’: „is doch auch eGAL. [wo ich die kamera hinlege]“. Im diesem Fall konstatiert Tina die Gleichgültigkeit darüber, wo ein geeigneter Platz für die Kamera wäre. Sie zeigt damit an, dass sie diesen Gedanken für sich (und möglicherweise nur für diesen Zeitpunkt) suspendiert und die Sequenz als beendet betrachtet. Während in diesem Beispiel das Modalverb sollen also nicht Teil des Bezugs der Analepse ist, umfassen die Bezüge anderer Analepsen eindeutig auch das Modalverb und damit einen deontischen, volitiven o.ä. Aspekt. Ähnlich verhält es sich bei Analepsen mit komplexerem (z.B. propositionswertigem) Antezedens, wenn in der Bezugsäußerung eine Negationspartikel geäußert wurde - die Interpretation der Analepse variiert, je nachdem, ob die Negation als Teil des Antezedens ausgeschlossen oder inkludiert ist. Während es bei anderen Typen von Ellipsen, z.B. beim diary style (vgl. Abschnitt 4.1.2), eine stabile Inhaltsseite gibt und auf der syntaktischen Ebene immer ein Pronomen ausgelassen ist, gibt es bei Analepsen keine bestimmten kategorialen Instanziierungen, bei denen Syntax und Semantik immer korrelieren. Wie im Folgenden (v.a. Abschnitt 4.2) gezeigt wird, macht dies eine Interpretation als Konstruktion ebenso schwierig wie eine Instanziierung der syntaktischen Lücken durch Frames. 4. Analepsen aus der Sicht konstruktionsgrammatischer Ansätze Die Konstruktionsgrammatik erweist sich in vielerlei Hinsicht als Ansatz, der für die Beschreibung von gesprochener Sprache einen besseren Rahmen bietet als verschiedene andere Theorien (vgl. exemplarisch und für Diskussionen etwa Deppermann 2006, 2011; Günthner/ Imo 2006; Imo 2007a). Einige gesprochensprachliche Strukturen zeigen jedoch auf, dass bestimmte theoretische Grundannahmen konstruktionsgrammatischer Ansätze spezifiziert werden müssen oder stellen diese sogar vor grundlegendere Probleme bzw. zeigen, dass sie als Mittel für eine Produktion oder Interpretation der Strukturen nicht ausreichen. Im Folgenden wird zusammengefasst, welche Arten von argument omissions im Rahmen der Konstruktionsgrammatik untersucht wurden (Abschnitt 4.1), welche spezifischen Probleme Analepsen für diese Ansätze bereiten (Abschnitt 4.2), ob Analepsen überhaupt in einem konstruktionalen Netzwerk beschrieben werden können und welche anderen Modelle Alternativen darstellen könnten (Abschnitt 4.3). Henrike Helmer 422 4.1 Argument omissions in der Konstruktionsgrammatik Einige Vertreter konstruktionsgrammatischer Ansätze beschäftigen sich mit verschiedenen Nichtrealisierungen von obligatorischen Argumenten. Zum einen sind dies abstrakte, verbunabhängige Ellipsentypen (wie gapping, deren Lücke immer referenziell durch Vorgängermaterial gefüllt werden kann, vgl. z.B. Fillmore et al. 2012) 12 und verbklassenspezifische Nichtrealisierungen von Argumenten (vgl. z.B. Goldberg 2001). 13 Diese werden im Folgenden nicht eingehender besprochen, da sie strukturell und kontextuell anders als Analepsen sind. Von Interesse sind hingegen insbesondere Untersuchungen zu lexikalisch lizenzierten Nichtrealisierungen von Argumenten (INIs und DNIs, vgl. z.B. Fillmore 1986, 2013, vgl. Abschnitt 4.1.1) und genrelizenzierten Nichtrealisierungen von Argumenten (Ruppenhofer/ Michaelis 2010, vgl. Abschnitt 4.1.2). 4.1.1 Lexikalisch lizenzierte Nichtrealisierungen von Argumenten Fillmore (1986; 2013) unterscheidet zwischen konstruktionslizenzierten (wie Imperativen und Pro-Drop) und lexikalisch lizenzierten Nullinstanziierungen. Bei den lexikalisch lizenzierten Nullinstanziierungen differenziert er wiederum zwei Subtypen von Auslassungen: „indefinite null complements/ instantiations“ (INC oder INI), also indefinite/ existenzielle Auslassungen; und „definite null complements/ instantiations“ (DNC/ DNI), also definite/ anaphorische Auslassungen (dies übernehmen auch andere Autoren, etwa Goldberg 2001; Ruppenhofer 2005; Ruppenhofer/ Michaelis 2010). Fillmore konstatiert: With definite null complements the missing element must be retrieved from something given in the context; with indefinite null complements the referent’s identity is unknown or a matter of indifference. (Fillmore 1986, S. 96; Hervorh. im Orig.) 12 Die Autoren beschreiben die Idee eines strukturierten Netzwerkes von Konstruktionen (eines Konstruktikons) und nennen in diesem Zusammenhang bestimmte Ellipsen (gapping, stripping und shared completion) als „bedeutungslose Konstruktionen“, deren Formseite nicht mit einer Bedeutungsseite assoziiert sein muss. Die Autoren konstatieren, dass diese Strukturen nicht mit Frames assoziiert sind, sondern bestimmte syntaktische Lizenzierungen aufweisen (zu einer Kritik dazu vgl. Hilpert 2014, S. 57). 13 Goldberg (2001) beschäftigt sich mit Fillmores (1986) Postulat, Argumente mit der thematischen Rolle des Patiens könnten nicht ausgelassen werden und zeigt, dass dies bei kausativen Verben doch möglich ist, wenn die (ausgelassenen) Argumente nicht salient und topikal sind (wie in „Scarface killed again.“ (ebd., S. 507), bei dem der Akt des Tötens und nicht das Opfer salient ist). Hierbei handelt es sich um einen anderen Typ von Ellipsen als die zu diskutierenden Analepsen. Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 423 Fillmore stellt die Zusammenhänge der lexikalischen, semantischen und grammatischen Merkmale eines Verbs mit möglichen Argumentnichtrealisierungen heraus. So werde give ohne Objekt automatisch mit der Semantik von contribute verstanden (Fillmore 1986, S. 99) statt als DNI. Auch win könne Nullinstanziierungen aufweisen, sei aber konventionell mit einem Wettbewerb verbunden und würde bei Auslassung des direkten Objekts automatisch generisch statt anaphorisch interpretiert (ebd., S. 100). Generell seien DNIs bzw. die Auslassung eines direkten Objekts ohne generische Interpretation des Verbs nur bei einer bestimmten semantischen Gruppe von Verben möglich: „we noticed that there appeared at least to be some commonalities across word meanings within particular semantic domains in the semantic roles of omissible arguments“ (ebd., S. 104). So müssten Ziel oder Ursprung einer Reise bei leave, go, come, arrive etc. nicht realisiert oder eine soziale Handlung bei ask, let etc. nicht spezifiziert werden (ebd., S. 104ff.). 14 Oft treten Nullinstanziierungen im Englischen auf, wenn ein Verb mit Präposition auftritt (z.B. „We stepped in.“, ebd., S. 103). Fillmore geht bei Nullinstanziierungen von Frames aus, die die nicht spezifizierten Referenten so restringieren, dass diese nicht als semantisch leer gelten. Er argumentiert, dass Auslassungen von Argumenten an spezifische lexikalische, grammatische und semantische Restriktionen gebunden sind. Konkret in Bezug auf DNIs formuliert Fillmore Bedingungen auf der Basis semantischer Rollen, etwa „with contribute, donate, etc., the sr<thm> is INI-omissible, the sr<goal> is DNI-omissible.“ (Fillmore 2013, S. 127). Diese Bedingungen müssen entsprechend als konstruktionsinhärent repräsentiert postuliert werden, sodass kein leeres Element angenommen werden muss, das durch den sprachlichen Kontext gefüllt werden muss. Nach dieser Interpretation ist die Nullinstanziierung in Fällen wie „We stepped in“ kein leeres Element, sondern lediglich die syntaktische Nicht-Instanziierung des potenziell instanziierbaren Elements („We stepped in [X]“), das der Kontext im Zusammenhang mit dem Bewegungs-Frame als Ziel impliziert. Durch die semantischen Restriktionen des Verbs wäre die Konstruktion also nicht „We stepped in [ø].“, sondern „We stepped in [GOAL-Frame-Element]“, mit einer lediglich optionalen, aber nicht obligatorischen syntaktischen Instanziierung des GOAL- 14 Ratitamkul et al. (2004) postulieren ebenfalls im Rahmen eines Experiments zur Bedeutung des Kontextes bei der Interpretation und der Klassifizierung von Verben als transitiv oder intransitiv: „There is no need to utter arguments that are recoverable in the discourse context“ (ebd., S. 12). Henrike Helmer 424 Elements. 15 Unterschiedliche Instanziierungen, etwa durch „house“ vs. „hotel“ wären nach dieser Vorstellung constructs einer einzigen syntaktischen Konstruktion. Fillmore legt so fest, wann bestimmte Auslassungen vorkommen können, jedoch erklärt er nicht, wie die entsprechenden Instanziierungen von Konstruktionen konkret zu interpretieren sind. 16 Auch eröffnen sich dann Probleme, wenn Verben mehr als einen Frame evozieren können (vgl. Abschnitt 4.2.1). Auch Fillmore et al. (2012) erwähnen im Rahmen ihrer Konzeption eines ‘Konstruktikons’ (eines strukturierten Netzwerks von Konstruktionen) DNI- Ellipsen, die durch den Kontext anaphorisch lizenziert sind. Sie halten ihre Erläuterungen jedoch sehr knapp und erwähnen nur, dass die Angaben im Konstruktikon die Information umfassen, dass die elliptischen Strukturen eigentlich weiter reichen. Zudem vermerken sie die Segmente, die in den jeweiligen Strukturen ausgelassen werden. Sie merken zusätzlich an, dass das Vorhandensein von Informationen im Konstruktikon jedoch keineswegs mit einer Analyse der Strukturen gleichzusetzen ist und diese deutlich weiter gehen muss. Da diese Analyse nur post-hoc möglich ist, scheinen sich die Autoren bewusst zu sein, dass argument omissions bzw. Ellipsen nicht vom Kontext unabhängig sind. 4.1.2 Genrelizenzierte Nichtrealisierungen von Argumenten Ruppenhofer (2005) und Ruppenhofer/ Michaelis (2010) beschreiben im Rahmen der Sign-Based Construction Grammar bestimmte Nullinstanziierungen als konstruktions-lizenziertes Phänomen und betonen auch die Topikalität: The[se] omissions differ from the omission of imperative subjects and the lexical DNIs in that they are focused on a single or a few particular entities that are of central importance to the larger context in which they are mentioned. (Ruppenhofer 2005, S. 21) 15 Auch Ziem (2014) erklärt DNI mithilfe von Frames und dreht die Argumentationsrichtung sogar um: Nicht nur können DNIs durch Frames und den Kontext verstanden werden, sondern DNIs sind selbst Mittel zur Herstellung von Kohärenz: „I will take the stance that DNI resolutions are not dependent on text coherence, but rather establish coherence on their own“. (ebd., S. 5). Die Resolution einer ausgelassenen NP gelinge dadurch, dass ein bestimmter Frame (wie etwa der giving frame durch donate) weitere Framelemente evoziere bzw. aktiviere (wie etwa der Rezipient von donate), die dann wiederum durch den Kotext und Kohärenzmechanismen wie indirekte Anaphern erschließbar seien (vgl. ebd., S. 7). 16 Ebenfalls wird leider nicht expliziert, wie die syntaktische Nichtinstanziierung im Verhältnis zu nicht akzeptieren leeren Elementen steht (vgl. Abschnitt 2) und wie sie sich mit dem viel zitieren ‘What you see is what you get’-Ansatz (vgl. Goldberg 2006) verträgt. Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 425 Die Autoren diskutieren dabei auch ausführlich Phänomene, die mit deutschen Topik-Drop-Phänomenen verwandt sind. Sie zielen bei ihrer Diskussion von genrelizenzierten argument omissions jedoch weniger auf den konkreten Präkontext als eher auf die Situation und situativ Salientes, wie das Diskurstopik oder einen bekannten Gegenstand bei Sportberichten (etwa ein Fuß- oder Basketball). Ruppenhofer/ Michaelis (2010) geben einen Überblick über fünf Konstruktionen, die in bestimmten Genres vorkommen und solche Auslassungen von Argumenten mit anaphorischer Lesart lizenzieren. Sie nennen 1) ‘instructional imperatives’ („[...] 10 Minuten kochen“), 2) ‘labelese’ („[...] Enthält Alkohol“), 3) ‘diary style’ (“[...] Bin um sechs aufgestanden und hab Kaffee gemacht.”), 4) ‘match reports’ („Er schießt [...] zu Klose.“) und 5) ‘quotative clauses’, bei denen das Argument weglassbar ist, dessen Referent identisch mit dem Adressaten ist („‘Gute Arbeit, Jungs! ’, lobte sie [...].“). Sie grenzen diese von lexikalischen Lizenzierungen wie z.B. mit dem Verb essen ab, für das keine Objektergänzung obligatorisch ist, sowie von rein konstruktions-, aber nicht genrelizenzierten Auslassungen wie Passivkonstruktion und Imperativen. Die Autoren weisen darauf hin, dass allein die Textsorte noch keine Auslassungen lizenziert, sondern bestimmte Konstruktionen die Auslassungen ermöglichen, dabei aber an diese Textsorten gebunden sind (ebd., S. 162). Für die Nichtinstanziierungen nennen sie spezifische semantische und syntaktische Restriktionen: [...] the constraints on genre-based omission must refer not only to semantic roles, both general and frame-specific (e.g., agent, theme, edible substance), but also to grammatical functions like subject and object. (ebd., S. 166) Auch Ruppenhofer und Michaelis versuchen, das Problem der Form-Bedeutungs-Korrelation durch konstruktionsinhärente Annahmen zu lösen. Sie gehen davon aus, dass genrelizenzierte Auslassungen von Argumenten Produkte von derivationellen Konstruktionen sind (ebd., S. 182). So sei die prototypische diary-style-Auslassung des Pronomens bei einem Verb in der 1. Person eine Tochterkonstruktion, die von einer Mutterkonstruktion abgeleitet sei. Diese umfasse ein finites Verb, das eine optionale Auslassung eines Arguments lizenziere. Die Tochterkonstruktion sei mit Kontextinformationen verbunden, nämlich mit der Topikalität des Nullarguments und dem Genre diary, wobei für diese Tochterkonstruktion die Auslassung des Arguments definitorisch sei (sonst wäre sie nicht diese spezifische Tochterkonstruktion, sondern die schematischere Mutterkonstruktion, ebd., S. 177f.). Dabei bestünden hinsichtlich formaler und pragmatischer Eigenschaften auch Ähnlichkeiten zwischen diesem prototypischen Muster und anderen Konstruktionen, deren Nullsubjekt nicht die 1. Person, sondern die 3. Person ist, die aber eben- Henrike Helmer 426 falls in anaphorischen/ referenziellen Ketten auftauchen (ebd., S. 182). 17 Die Autoren sehen also argument omissions als Subkonstruktionen von potenziell grammatisch vollständigen Konstruktionen. Ruppenhofer/ Michaelis (2010) berücksichtigen den sprachlichen Kontext expliziter als andere Autoren, aber auch sie können nur abstrakt darstellen, wo und unter welchen Bedingungen Nullinstanziierungen vorkommen können. Wie jedoch Hörer diese Nullinstanziierungen interpretieren, behandeln auch sie nicht. Diese Interpretationsleistungen sind jedoch von enormer Bedeutung, v.a. bei ad hoc realisierten Analepsen, die keinen vagen oder abstrakten Kontextbezug leisten und auch nicht mit einem bestimmten Genre assoziiert sind, sondern generell an die Sequenzialität sprachlicher Handlungen geknüpft sind. In allen Ansätzen besteht (in unterschiedlichem Ausmaß) das Problem, „dass die Frage, wie sich kontextuelle Bedingungen auf die formale Akzeptabilität, die Usualität, die Funktionen, die situierte Interpretation und die möglichen Varianten und Instanziierungen von Konstruktionen auswirken, bisher kaum Beachtung fand“ (Deppermann 2011, S. 221). Kontextuelle Bedingungen von Auslassungen bleiben bei den Erklärungsversuchen zwar nicht unbeachtet, d.h. die Autoren sind sich ihrer Bedeutung bewusst, aber sie werden bisweilen systematisch in ihrer Situiertheit unterschätzt. 4.2 Analepsen vor dem Hintergrund des konstruktionsgrammatischen Forschungsstands 4.2.1 Grenzen von Frames für die Instanziierungen passender Argumente von Analepsen Frames eignen sich für die post-hoc-Interpretation 18 von einigen Äußerungen mit Nullinstanziierung sicher gut (vgl. etwa Fillmore 1986). Bei vielen Analepsen jedoch ist aus verschiedenen Gründen eine Identifizierung der nicht instanziierten Argumente im Kontext durch Frames nicht eindeutig möglich. So gibt es Fälle von indirekten Analepsen (vgl. Beispiel (4) in Abschnitt 3.2), bei denen potenziell passende Argumente aus dem Präkontext mit den tatsächlichen Bezügen nur indirekt in Verbindung stehen - in diesen Fällen sind 17 Dies betrifft viele Fälle analeptischer Äußerungen, z.B. propositions- oder prädikationswertige bewertende Äußerungen in der 3.P.Sg. wie is ja cool, schmeckt gut etc. 18 Sie eignen sich aber auch nur für post-hoc-Erklärungen, nicht für Voraussagen darüber, wie Frames das Verstehen folgender Äußerungen determinieren. Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 427 Inferenzen bei der Produktion und Interpretation von Analepsen notwendig, für die potenzielle Frame-Elemente nur die sprachlichen Anker bilden. Bisweilen können analeptische Äußerungen auch mehrere Instanziierungen möglich machen, da es mehrere passende Frame-Elemente im Kontext gibt - eine konkrete Instanziierung ist oft gar nicht rekonstruierbar und rhetorisch auch nicht gewollt (vgl. Beispiel (5) in Abschnitt 3.2). Beides ist nicht unbedingt ein theoretisches Problem für die Frame-Semantik, jedoch zeigt es, dass die Bedeutung von Analepsen bzw. ihrer nicht realisierten Argumente bisweilen interaktiv hergestellt wird und eine Identifizierung möglicher Frame- Elemente oft nur die Grundlage für die Identifizierung der tatsächlichen Referenz einer Analepse sowie der Analyse ihrer Funktion bildet. Das frequenteste Problem ergibt sich aber aus der Tatsache, dass die Mehrzahl der Analepsen mit Topik-Drop mit der Kopula sein geäußert wird (vgl. Helmer 2016), die selbst keinen Frame aufruft und keine eindeutige semantische Rolle vergibt. Je nach Instanziierung kann die Analepse sowohl syntaktisch als auch semantisch und pragmatisch anders verstanden werden. Eine bewertende Ad-hoc-Analepse mit Kopula wie ist schön etwa kann an eine NP mit Personen- oder Objektreferenz als Antezedens anschließen („Die Frau/ Die Hose ist schön“), an eine VP oder AP mit prädikativem Bezug („Zu Joggen/ Blau ist schön“) oder an einen Sachverhalt in Form eines propositionswertigen Antezedens („Dass er gestern da war, ist schön“). In diesen Fällen verhält es sich ähnlich wie in Beispiel (5) (Abschnitt 3.2): Es gibt mehrere mögliche Antezedenzien, für die situierte Interpretation des tatsächlichen Bezugs reichen Frames nicht aus. Aber selbst im Falle von Verben, die Frames aufrufen, ist die Analyse bzw. Interpretation auf der Basis von Frames nicht immer möglich (vgl. hierzu auch Proske i. Vorb.). Exemplarisch sei dies anhand des folgenden Beispiels gezeigt, in dem sich zwei Freundinnen am Telefon über ihre Katzen und deren Katzenfutter unterhalten: (7) FOLK_E_00084_SE_01_T_02_DF_01_00: 28: 08-00: 28: 44 Telefongespräch, FR = Finja, EG = Evelyn 01 FR mein kAter will jetz auch was zu ESsen. 02 °h un ich hab ihm (.) äh so CARny bestellt; = 03 =aber das HASST er. 04 (0.64) 05 FR carny [SE ]nior. 06 EG [ich hab_n] 07 (0.2) 08 EG ((lacht)) Henrike Helmer 428 09 SEnior. 10 wieso d[enn SEnior. ] 11 FR [°h ((lacht)) <<f,all>oh ] ! MANN! . 12 er IS halt schon- (.) 13 er WIRD jetz- (.) 14 er_s acht. ja? > 15 un das [is ] für (.) katzen ab ACHT. 16 EG [ja-] 17 (1.12) 18 FR un da dacht ich ich <<dim>kann ihm ja jetz mal SEnior bestellen.> 19 (1.28) 20 FR h° °h 21 <<: -)>findest du NICH? > 22 (0.3) 23 EG w WEIß nich.= 24 =bei h [henr]y dacht ich m mal ich (.) könnte ihm SEniorfutter kaufen. 25 FR [°h ] 26 EG aber; °hh 27 FR ach aber der ka[ter <<rall>beWEGT sich auch so we]nig.> 28 EG [der is ja auch schon ZWÖLF. ] 29 FR da dacht [ich <<lachend>(is vielleicht)] senior das RICHtige; > 30 EG [ja das SCHON; ] 31 (0.58) 32 EG ((lacht)) Finja erklärt ihrer Freundin Evelyn, dass ihr Kater nun etwas essen müsse. Sie erzählt ihr daraufhin, dass sie diesem ein neues Futter der Marke „Carny“ gekauft habe, er dieses aber nicht esse. Nachdem von Evelyn keine Reaktion erfolgt (Z. 04), spezifiziert Finja das Futter mit „carny SEnior.“ (Z. 05). Evelyn zeigt durch ihre dispräferierte Reaktion, nämlich durch ihr Lachen, ihre Echofrage und ihre explizite w-Frage (Z. 8-10) an, dass sie die Güte der Wahl des Katzenfutters bezweifelt - Finja interpretiert diese Reaktion ebenso als Zweifel bzw. Disaffiliation („oh ! MANN! “, Z. 11). Sie rechtfertigt daraufhin ihre Entscheidung mit dem Alter ihres Katers (Z. 12-18). Nachdem von Evelyn keine Reaktion erfolgt, stellt Finja die Frage „findest du NICHT? “ (Z. 21). Nach einem Zögern (Z. 22) äußert Evelyn die Analepse “w WEIß nich.” (Z. 23), an die sie direkt mit dem Bericht aus eigener Erfahrung anschließt und im Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 429 folgenden Verlauf andeutet, sie halte Seniorfutter nur bei deutlich älteren Katzen für sinnvoll (Z. 24, 26,2 28). Das Verb wissen bzw. seine negierte Form nicht wissen, kann mehrere Frames evozieren, etwa den AWARENESS -Frame, den FAMILIARITY -Frame oder den CERTAINTY -Frame (vgl. auch Zeschel, in diesem Band). Ohne die Berücksichtigung des Kontextes ist nicht entscheidbar, welcher Frame aufgerufen wird. Berücksichtigt man nun den lokalen sequenziellen Kontext, könnte man auf der Basis der Frage-Antwort-Sequenz annehmen (vgl. Helmer/ Deppermann/ Reineke, in diesem Band), dass nicht wissen im Beispiel epistemische Unsicherheit bedeutet und den CERTAINTY -Frame aufruft, laut dem Evelyn als „Cognizer“ Unsicherheit bezüglich des „Content“ (Ist Carny Senior geeignetes Katzenfutter für einen 8-jährigen Kater? ) ausdrückt. Berücksichtigt man jedoch die gesamte Sequenz, wird klar, dass Evelyn eine eindeutige und sichere Meinung zum Katzenfutter hat - sowohl vorher (Z. 08-10, Z. 22) als auch im weiteren Verlauf (Z. 24, 26, 28) zeigt sie an, dass sie die Wahl des Katzenfutters nicht gut findet. „w WEIß nich.“ ist hier eine Disaffiliation, also ein Widerspruch zu Finjas Wahl bzw. ihre Intention (vgl. Helmer/ Deppermann/ Reineke, in diesem Band). Mit der nicht wissen-Äußerung wird in diesem Fall also eher eine bewertende Aussage gemacht: Evelyn als „Assessor“ bewertet das „Phenomenon“ (den Kauf des Katzenfutters bzw. die zugrunde liegende Intention von Finja) als schlecht. Durch nicht wissen wird jedoch nicht der ASSESSING - Frame evoziert. Nur durch den weiteren Kontext wird klar, dass es sich bei der Analepse nicht um eine epistemische Nichtwissensäußerung handelt, sondern um einen Zweifel an der Güte der Idee bzw. um eine negative Bewertung dieser. Frames reichen für die Erfassung der Bedeutung von sprachlichen Äußerungen, insbesondere im Falle von nichtinstanziierten Argumenten, nicht aus: „viele Inferenzen beziehen sich auf über Frames hinausgehende, z.B. sequenzielle oder interaktionsgeschichtliche Aspekte des common ground“ (Proske i. Vorb.). Die Interpretation von Analepsen erfolgt also auf der Basis anderer Mechanismen bzw. kognitiver Prozesse. Sie kann nur rein situiert erfolgen und ist nicht abstrakt durch evozierte Frames möglich. Die Tatsache, dass der Kontextbezug unabdingbar ist, ob konkret (ko)referenziell (wie bei Ad-hoc-Analepsen) oder eher vage (wie oft bei social action formats), ist nicht so zu verstehen, dass Analepsen direkt syntaktisch an ihn anschließen müssen. Vielmehr muss auf die „Füllung“ der Nullinstanziierung bei Analepsen durch konzeptuelle Repräsentationen geschlossen werden, die auf der Basis des Kontextes gebildet werden, aber unmittelbar von der Form- und Funktionsseite der Analepsen abhängen. Dies wiederum führt jedoch zu der Frage, wie diese Repräsentationen schematisch dargestellt werden können und ob dies konstruktionsinhärent der Fall sein kann. Henrike Helmer 430 4.2.2 Grenzen einer konstruktionsinhärenten Beschreibung von Nichtinstanziierungen bei Analepsen Die Grundlage für eine konstruktionsinhärente Beschreibung von möglichen (Nicht-)Instanziierungen ist die Form-Funktions-Beziehung von Konstruktionen. Bezüglich der Kopplung von Form und Bedeutung als eine nicht zu trennende Einheit ergeben sich bei einigen Analepsen Probleme. Müller (2016) weist darauf hin, dass einige sprachliche Strukturen auf der Oberfläche formgleich sind, aber auf der Bedeutungsseite nicht. Dies sind etwa verschiedene Satztypen wie V1-Fragesätze und formgleiche V1-Analepsen. Ein Beispiel (modifiziert nach Müller 2016, S. 74) wäre die V1-Analepse „[ø] Hat er schon gegessen.“ und die form-äquivalente Entscheidungsfrage „Hat er schon gegessen? “, die beide sogar mit demselben Fokusakzent (auf HAT oder geGESsen) und fallendem Intonationsverlauf geäußert werden können (als Frage etwa auf eine mögliche vorherige Äußerung „Er wird gleich sicher keinen Hunger haben.“). Wenn auch formgleiche Konstruktionen mit unterschiedlicher Bedeutung je nach Interpretation von Goldbergs „principle of no synonymy“ (Goldberg 1995, S. 67) nicht prinzipiell ausgeschlossen sein müssen, muss zumindest konstatiert werden, dass oberflächenbasiert allein nicht entschieden werden kann, um welche Art von Konstruktion oder Instanziierung einer Konstruktion es sich jeweils handelt. Hinweise darauf liefert allein der Kontext. In anderen Fällen kann das Verb der jeweiligen Analepse sowohl transitiv als auch intransitiv gebraucht und die entsprechende (vollständige vs. analeptische) Struktur kontextlos unterschiedlich verstanden werden. Dies ist etwa der Fall beim mentalen Verb glauben. Eine Äußerung wie ich glaube auch/ nicht kann kontextfrei entweder als Meinungsäußerung (mit glauben als mentalem Verb) oder als Religionsbekenntnis (glauben im Sinne von gläubig sein, an Gott glauben) verstanden werden. Da die Bedeutungsseite von Konstruktionen auch pragmatische und diskursfunktionale Eigenschaften umfassen soll, ist ebenfalls problematisch, dass einige sprachliche Strukturen hinsichtlich Form und Semantik kovariieren, aber für verschiedenartige Verwendungen gebraucht werden. Ob nun jede Variation auf der Formseite zu einer neuen Konstruktion führt (wie bei der Radical Construction Grammar, vgl. Croft 2001) oder ob dies zu verschiedenen Subkonstruktionen führt, die miteinander verwandt sind: Die Unterschiede dieser (Sub-)Konstruktionen wären bei Formgleichheit nur auf einem Teil der Bedeutungsseite zu beobachten, nämlich der Pragmatik. Dies zeigt sich zum Beispiel bei social action formats wie was heißt x? (Günthner 2015), die je nach sequenzieller Umgebung unterschiedliche Funktionen übernehmen können (vgl. auch Imo 2007b zu siehste). Auch eine formelhafte Analepse wie passt Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 431 schon kann in verschiedenen Verwendungen vorkommen, z.B. als Beschwichtigung, als Antwort auf eine Frage, als Zustimmung nach einer Assertion, nach einem Vorschlag o.Ä. Diese Verwendungsunterschiede bei gleicher Form- und Bedeutungsseite der realisierten Elemente der Analepse sind für konstruktionsgrammatische Ansätze je nach Auslegung der Bedeutungsseite (mit oder ohne diskursfunktionale Merkmale) und “Radikalität“ bei der Einszu-Eins-Zuordnung von Form und Bedeutung problematisch. Schon häufiger haben Forscher auf die Wichtigkeit der „outer syntax“ (Linell 2009), im Sinne von Bedingungen für außerhalb einer Konstruktion liegende Antezedenzien oder folgenden relevanten Beiträgen und Elementen, hingewiesen (etwa Deppermann et al. 2006; Günthner/ Imo 2006). Eine Berücksichtigung solcher kontextuellen Bedingungen und Eigenschaften ist auch bei Analepsen notwendig, sei es, um vorherige Sprechhandlungen (wie Entschuldigung, Frage etc.) und damit spezifische Funktionen zu erschließen, sei es als Identifizierung konkreter Antezedenzien. Generell muss die konstruktionsgrammatische Annahme von Form-Bedeutungs-Paaren je nach Grad der Radikalität bei der Auslegung dieser Annahme mehr oder weniger stark aufgeweicht werden. Die Form-Bedeutungs-Korrelation wäre dann prinzipiell unproblematisch, wenn auch externe Kontextinformationen in irgendeiner Art konstruktionsinhärent beschrieben werden könnten. Dies schlagen etwa Ruppenhofer/ Michaelis (2010) vor. Die CNTXT -Merkmale enthalten Bedingungen hinsichtlich Topikalität des ausgelassenen Arguments, also informationsstrukturelle Merkmale und Genretyps (Ruppenhofer/ Michaelis 2010, S. 178). Während die Genre-Informationen stark restringieren, nämlich argument omissions auf bestimmte Auslassungen wie die des Subjekts in der 1.P. (ich/ wir) beim diary style oder dem entsprechenden Objekt bei labelese, ist dies bei Analepsen nicht möglich. Ein CNTXT -Merkmal könnte nur darauf verweisen, dass irgendeine relevante (Teil-)Äußerung im Präkontext zu finden ist. Welche dies aber genau ist, kann v.a. bei Ad-hoc-Analepsen nur situiert, nicht abstrakt herausgefunden werden. Auch andere Versuche, die relevanten Merkmale konstruktionsinhärent zu repräsentieren, schlagen bei einigen Arten von Analepsen fehl. So beschreiben etwa Michaelis/ Lambrecht (1996) Rechtsversetzungen wie „it is amazing, the difference“ konstruktionsinhärent: Sie nehmen für denselben (topikalen) Referenten zwei Instanziierungen („it“ und „the difference“) mit derselben Theta-Rolle an, die beide zusammen mit „amazing“ eine Prädikat-Fokusbzw. Topik-Kommentar-Konstruktion bilden (vgl. Abb. 4). Henrike Helmer 432 Abb. 4: Extrapositions-Konstruktion bei Michaelis/ Lambrecht (1996, S. 227) am Beispiel von „It is amazing, the difference“ Ebenso könnte man innerhalb einer Analepsen-Konstruktion eine Nullinstanziierung annehmen, die auf den topikalen Status verweist und zugleich auf eine passende und koreferenzielle Instanziierung im Präkontext. Spätestens indirekte Analepsen würden dann jedoch wieder Probleme bereiten, da keine Koreferenz vorherrscht. Auch die Entscheidung, welches von mehreren potenziellen Antezedenzien nun das „passende“ ist, kann, wie bereits beschrieben, nicht konstruktionsinhärent repräsentiert werden, sondern ergibt sich situiert. Diese Beispiele zeigen, dass eine konstruktionsinhärente Repräsentation aller notwendigen Form- und Bedeutungs-Informationen zumindest bei Analepsen eher unwahrscheinlich ist. Dass „Konstruktionen [...] in der Interaktion nicht einfach als fertige Einheiten reproduziert, sondern im Vollzug ihres Handelns flexibel an die Umstände der Interaktion angepasst [werden]“ (Deppermann 2011, S. 222), zeigt sich schon dadurch, dass Missverständnisse selten auftreten bzw. selten durch Nachfragen angezeigt werden. Nachfragen sind außerdem genau dann beobachtbar, wenn innerhalb des Kontextes und ohne weitere Explikation des Topiks die Analepse nicht interpretierbar ist (vgl. Helmer 2016, S. 181ff.). Auf den Kontext gehen Culicover/ Jackendoff (2005, S. 257ff.; 2012, S. 336ff.) bei ihrer Idee des „indirect licensing“ stärker ein. Sie gehen davon aus, dass elliptische Strukturen durch ihren Präkontext lizenziert werden, entweder durch 1) CONTRAST (bzw. „matching“) wie in „John drinks bourbon.“ - „No, scotch“; 2) implizite Argumente („sprouting“) wie in „John drinks.“ - „Yeah, Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 433 scotch.“; oder 3) ELABORATION wie in „John drinks scotch.“ - „Yeah, every day.“. Der für Analepsen mit Topik-Drop besonders relevante zweite Fall funktioniert natürlich nur, wenn im Präkontext ein Verb steht, das das Argument in der elliptischen Struktur regieren, also implizites Argument des Verbs sein kann (vgl. etwa Auer (2014) zu entsprechenden Analepsentypen und Strukturlatenzen). Im Falle von Analepsen, die selbst ein Verb enthalten, müsste es umgekehrt funktionieren, d.h. die Analepse sozusagen Elemente des Präkontextes lizenzieren, die aber im Zusammenhang mit der Analepse eine syntaktisch und semantisch vollständige Äußerung ergeben. Auch der Ansatz von Culicover/ Jackendoff (2005) würde jedoch nicht die Probleme der Interpretation von Ad-hoc-Analepsen, indirekten Analepsen oder anderen komplexen Analepsen lösen, die grammatisch und semantisch sehr unterschiedliche Antezedenzien haben können, für die es konstruktionsinhärent kaum geeignete Selektionsrestriktionen geben kann oder deren vermeintliche Antezedenzien nicht in der realisierten Form direkt in die Argumentstruktur der Analepse eingefügt werden könnte. Allein die Kenntnisnahme des Präkontextes reicht für die Interpretation analeptischer Strukturen nicht aus (wie auch Fillmore et al. 2012, S. 336 zugestehen). Stattdessen laufen zwischen der Produktion des Kontextes und der Produktion der Analepse kognitive Prozesse ab (bzw. beim Hörer während der Interpretation), die über die Form- Bedeutungs-Beziehung der Konstruktion selbst hinausgehen. Diese Prozesse sind z.T. durch die Flexion, z.T. durch die Semantik des analeptischen Verbs, z.T. durch pragmatische und sequenzielle Aspekte restringiert. Die Unterschätzung des lokalen und globalen sequenziellen Kontextes ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Datengrundlage der Autoren häufig ausgedachte Beispiele oder schriftliche Texte bilden (und dabei häufig einzelne, kontextfreie Sätze). Dies führt bisweilen dazu, dass die situierte Interpretation von constructs mit schematischen und in der Konstruktion repräsentierbaren semantischen Eigenschaften gleichgesetzt wird und diese dadurch in ihrer Leistung überschätzt werden. Deppermann vermutet, die „Vernachlässigung der sozialen und kontextuellen Dimension von Konstruktionen“ (Deppermann 2011, S. 221) liege an der kognitiven Ausrichtung, die dazu führe, dass der Interessensschwerpunkt konstruktionsgrammatischer Untersuchungen doch eher das linguistische System sei als das für die sprachliche Kommunikation relevante Wissen (ebd.). Zum anderen liegen die Tendenzen, argument omissions ohne den konkreten Kontext zu untersuchen, aber womöglich auch an den strukturellen Eigenschaften der englischen Sprache. Analepsen mit Topik-Drop mit Auslassungen des Erstaktanten, also mit V1-Stellung, sind im Englischen nicht möglich, dagegen im Deutschen weit verbreitet. Im Englischen sind eher andere Formen referenzieller Unterspezifizierung verbreitet (wie etwa sluicing mit ei- Henrike Helmer 434 nem w-Fragewort, oder bei Formen wie „I think so“), allerdings mit vorhandenem „Platzhalter“ auf grammatischer Ebene. Eine Auslassung auch auf grammatischer Ebene ist nicht üblich. 19 Goldberg etwa ist sich der Restriktionen der englischen Sprache durchaus bewusst: “Based on English alone it is hard to tell for sure what is going on in these cases” (Goldberg 2001, S. 516). Es bleibt festzuhalten, dass die Erklärung der Produktion und Interpretation von Analepsen ohne den Einbezug kontextueller i.S.v. sequenzieller und pragmatischer Aspekte nicht möglich ist. Sie kann damit durch konstruktionsgrammatische Ansätze allein nicht möglich sein. Eine Lösung, die die Kontextabhängigkeit sprachlichen Handelns explizit berücksichtigt, könnte Hilperts (2015) Gedanke sein, manche sprachliche Strukturen nicht als Konstruktionen zu fassen, sondern durch den Umgang mit Konstruktionen zu erklären. Er versteht Konstruktionen „nicht als Modell tatsächlich vorkommender Sprache [...], sondern als Modell dessen, was Sprecher aus dem Sprachgebrauch abstrahieren“ (Hilpert 2015, S. 38). Solche Abstraktionen oder Generalisierungen seien schematischer als die tatsächlich gesprochene Sprache, welche nicht nur aus dem Wissen um diese Generalisierungen resultiere, sondern auch aus „sozio-kognitiven Fähigkeiten und der Zeitlichkeit und Situiertheit sprachlichen Handelns“ (ebd., S. 39). Dies scheint eine fruchtbare Sichtweise von Analepsen zu sein. Sie wären damit aus dem Bereich der Konstruktionen allerdings entweder ausgeklammert bzw. nur selbst als konkrete constructs schematischer Konstruktionen anzusehen 20 oder aber sie wären hinsichtlich ihrer konstruktionalen Merkmale weit unterspezifiziert gegenüber der situierten Interpretation. 4.3 Die Darstellbarkeit einer Analepsen-Konstruktion in einem taxonomischen Netzwerk Festzuhalten bleibt, dass eine konstruktionsinhärente Beschreibung aller wichtigen Aspekte von Analepsen nicht möglich ist und auch Frames bei der Interpretation von Analepsen häufig nicht weiterhelfen. Es gibt jedoch gute Gründe, Analepsen dennoch im Rahmen konstruktionsgrammatischer Ansätze 19 Vergleichbar mit einigen Analepsen mit Topik-Drop sind jedoch Fälle im Englischen wie „Will you come tomorrow? “ - „Yes, I will [come tomorrow].“ mit Verwendung von will als Pro- Verb. Die diskutierten Studien thematisieren Auslassungen dieser Art allerdings nicht. Es kann trotz der Möglichkeit solcher Fälle auch im Englischen auf jeden Fall festgehalten werden, dass Topik-Drop im Englischen nicht in ähnlicher Form oder Frequenz verbreitet ist wie im Deutschen. 20 Dies würde allerdings weitere Probleme eröffnen, etwa die Frage, welche (formalen) Analepsen von welchen Konstruktionen lizenziert werden, welche wiederum nicht, und unter welchen kontextuellen Umständen dies geschieht. Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 435 beschreiben zu wollen: So sind Ad-hoc- oder auch formelhafte Analepsen möglicherweise nicht selbst Konstruktionen, sondern constructs - sie weisen auffallende Parallelen zu anderen, grammatisch vollständigen Strukturen (etwa mit der Anapher das) auf. Es gibt zudem eine Reihe von social action formats und weiteren usuellen Gebräuchen (etwa Analepsen mit Mentalverben in responsiver Verwendung), die hinsichtlich ihrer Form- und Bedeutungsseite deutlich restringierter bzw. schematischer sind als etwa Ad-hoc-Analepsen oder die in Abschnitt 3.2 beschriebenen komplexeren Analepsen und die hinsichtlich der Beschreibung als Konstruktion unproblematischer sind. Daher möchte ich hier skizzieren, wie eine Konstruktion aussehen könnte, die Analepsen schematisch darstellt bzw. sie als Instanziierung berücksichtigt und welche Probleme sich bei einem solchen Anwendungsversuch ergeben. Aus Gründen der offensichtlichen Zusammenhänge verschiedener Typen von Analepsen und verschiedener analeptischer sowie anaphorischer Konstruktionen erscheint der geeignetste Ansatz zu sein, ein taxonomisches Netzwerk anzunehmen, bei dem viele Subkonstruktionen durch Vererbung mit einer Mutterkonstruktion hierarchisch in Verbindung stehen. Zuerst wird dargestellt, inwieweit Analepsen überhaupt schematisierbar sind und wie dementsprechend eine Mutterkonstruktion aussehen könnte (4.3.1). Danach wird auf dieser Basis ein taxonomisches Netzwerk entworfen (4.3.2). Zum Schluss sollen alternative Modelle dargestellt werden, die die bei diesem Versuch aufkommenden Probleme u.U. umgehen können (4.3.3). 4.3.1 Abstrahierung einer analeptischen Konstruktion Um eine Abstrahierung einer potenziellen Analepsen-Konstruktion mit Topik- Drop zu erreichen, müssen zuerst Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten verschiedener analeptischer Äußerungen bzw. verschiedener Analepsentypen gefunden werden. topologisch Hinsichtlich der topologischen Stellung des Verbs sind Analepsen zwar prinzipiell variabel, aber die V1-Stellung ist (v.a. bei Topik-Drop-Analepsen) eindeutig präferiert. Auf der Formseite ist die V1-Stellung nicht nur deswegen ein bedeutendes Merkmal, weil sie die frequenteste syntaktische Form ist, sondern auch, weil sich durch sie unter Umständen Analepsen mit fehlendem Argument von Äußerungen unterscheiden, bei denen die Nichtrealisierung einer fakultativen Ergänzung lexikalisch lizenziert ist. Das klassische Beispiel einer lexikalisch lizenzierten und generisch/ existenziell interpretierten Auslassung ist ich hab gegessen. Die analeptische Auslassung hingegen ist i.d.R. ø hab ich gegessen. Henrike Helmer 436 syntaktisch Als zweites Merkmal gilt, dass es sich bei dem nichtrealisierten Argument um ein Subjekt oder ein direktes Objekt handeln kann. Dabei können sich diese Eigenschaften mit den oben genannten Merkmalen überlappen, d.h. sowohl Subjekt als auch Objekt sind entweder im VF oder im MF nicht realisiert. Die morphologischen und phonologischen Eigenschaften können zudem sehr variabel sein: Das Verb der Analepse kann prinzipiell in jeder Flexionsform und mit einer großen Varianz an phonologischen Eigenschaften wie möglichen Elisionen (haste vs. hast du bei fehlendem Objekt u.Ä.), unterschiedlichen Akzentuierungen etc. realisiert sein. semantisch Die Bedeutungsseite ist sehr variabel. Insbesondere die semantischen Eigenschaften sind durch die große Kontextvariabilität nur schwer abstrahierbar bzw. zu Clustern zusammenzufassen. Antezedenzien im Präkontext, an die Analepsen anschließen, können propositions- oder prädikationswertig sein, personelle Referenten oder Objekte etc. umfassen. funktional Pragmatische und interaktive Eigenschaften sind ebenso vielfältig und können Bewertungen, Antworten, Korrekturen etc. in allen Sequenzpositionen umfassen. Als Muster kann man z.B. responsive Analepsen (in der 2. oder 3. Sequenzposition nach einem Sprecherwechsel) von solchen differenzieren, die eher auf eine multi-unit-turn-interne Kohäsion abzielen wie bei Erzählfortführungen. Auch spezifischere Muster sind identifizierbar, etwa die regelmäßige Verwendung von responsiven bewertenden Analepsen in der second position mit V1- Stellung, der Kopula sein in der 3.P.Sg. und Fokusakzent auf dem folgenden Adjektiv (wie „na is doch SCHÖN; “ FOLK_E_00039_SE_01_T_01_DF_01_ c868), das als positives oder negatives Attribut einem Referenten oder einem Sachverhalt im Präkontext zugeschrieben wird. Die beschriebenen musterhaften Eigenschaften sind jedoch keine default-Eigenschaften: Ebenso gibt es bewertende Analepsen mit einer anderen Verbform und nicht realisiertem Subjekt als auch Objekt („schmeckt- (1.14) GUT,“, FOLK_E_00047_SE_01_T_01_DF_01_c1264; „find ich GUT,“, FOLK_E_00018_ SE_01_T_01_DF_01_c203). Auch sind Analepsen mit sein in der 3.P.Sg. und in der zweiten Sequenzposition frequent, die nicht bewertend sind („IS er nicht schon? “, Beispiel (1)). Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 437 Als allgemein gültige diskursfunktionale Eigenschaft von Analepsen, die ein Verb enthalten und in denen ein Argument dieses Verbs nicht realisiert ist, kann wohl gelten, dass es sich bei Analepsen um sprachliche Strukturen mit Topik-Drop handelt, die einen engen Kontextbezug anzeigen, also semantische Kohärenz und mitunter auch syntaktische Kohäsion. Dabei zeigen sie an, dass durch den Kontext eine (semantische) referenzielle Lücke zu füllen ist, die unter anderem durch die syntaktischen Eigenschaften der Formseite, aber natürlich auch der damit zusammenhängenden Bedeutungsseite restringiert ist. Die genannten syntaktischen und semantischen Eigenschaften sind bisher so allgemein formuliert, dass sie auch Ad-hoc-Analepsen umfassen können. Bei usuelleren Analepsen wie social action formats lassen sich einige weitere Merkmale spezifizieren: Bei ihnen ist die Formseite häufig hinsichtlich Stellung (V1), Flexion (tendenziell 3.P.Sg.) und Prosodie (Fokusakzent auf finitem Verb) relativ fixiert. Die Semantik der Analepsen selbst ist häufiger idiomatisch als bei Ad-hoc-Analepsen (z.B. wird schon, passt schon). Die Anzeige von semantischer Kohärenz erfolgt auch in diesen Fällen i.d.R. durch die V1-Stellung, jedoch ist die referenzielle Lücke eher vage zu füllen und tritt in den Hintergrund gegenüber pragmatischen Eigenschaften wie Beschwichtigung, Themenbeendigung etc. (vgl. Abschnitt 3.1). Bei Ad-hoc-Analepsen, die ohne spezifische Elemente im Kontext nicht einmal vage interpretierbar sind, ergeben sich für eine Abstrahierung größere Schwierigkeiten, da sie nur auf einer sehr hohen Abstraktionsebene darstellbar sind, wenn sie alle konkreten Fälle umfassen sollen. Die Ad-hoc-Analepse „IS er nich schon [vierzig]? “ (siehe Beispiel (1)) müsste abstrakt etwa dargestellt werden als VP NP [ADJP]. Diese schematische Konstruktion würde aber auch dann nicht alle Ad-hoc-Analepsen umfassen, sondern nur solche, die eine NP (und nicht realisierte ADJP) enthalten. Was alle bisher behandelten Ad-hoc-Analepsen gemein haben, ist lediglich das Vorkommen einer VP, d.h. eine Abstraktion müsste in etwa wie ø VP [X] aussehen, wobei ø das ausgelassene (und zu konkretisierende) Topik darstellen und [X] andeuten würde, dass nach der VP quasi Beliebiges (aber natürlich je nach VP Restringiertes) folgen kann. Diese Lösung wiederum würde aber nur Analepsen mit V1-Stellung umfassen. Es müsste also ebenfalls eine Konstruktion [Y] VP ø mit Topik-Drop (ø) im Mittelfeld geben oder eine andere Konstruktion, mit der sie kombiniert wird, die eine variable Linearisierung ermöglicht. In beiden Fällen ist problematisch, dass die große Wortfolgevariation im Deutschen zwar relevant sein kann 21 , aber nicht immer sein muss. Dies bereitet in jedem Fall eine besondere Problematik bei der Abstrahierung 21 Dies ist etwa der Fall bei weiß ich nicht vs. ich weiß nicht (vgl. Helmer/ Deppermann/ Reineke in diesem Band). Henrike Helmer 438 von Konstruktionen generell (vgl. auch Müller 2006) und in analeptischen Konstruktionen speziell: Dieser Aspekt ist in konstruktionsgrammatischer Literatur systematisch unterbeleuchtet (zumindest aus dem englischsprachigen Raum, in der Wortfolgevariation keine so große Rolle wie etwa im Deutschen spielt) oder wird bisweilen schon durch die Vorannahmen ausgeklammert, wie bei der Radical Construction Grammar (Croft 2001, 2013), für die jede Variation auf der Form- oder Funktionsseite zur Annahme einer neuen Konstruktion führt: „Any quirk of a construction is sufficient to represent that construction as an independent node.” (Croft 2001, S. 25). Neben unterschiedlichen Wortfolgevarianten ist wie erwähnt auffällig, dass analeptische Konstruktionen anaphorischen Konstruktionen mit der Realisierung von Pronomina formal, semantisch und funktional sehr ähnlich sind (etwa „das/ ø ist doch schön“). Während man u.a. aufgrund von verwendungsspezifischen Unterschieden (vgl. Helmer 2016, S. 197ff.) eher nicht davon ausgehen sollte, dass analeptische Äußerungen aus formal vollständigen (etwa anaphorischen Äußerungen) abgeleitet sind, sollte zumindest der enge Zusammenhang in einer Mutterkonstruktion berücksichtigt werden. 4.3.2 Ein mögliches taxonomisches Netzwerk Wie beschrieben ist eine große Vielfalt analeptischer Konstruktionen auszumachen, die sich bezüglich diverser Merkmale auf der Form- oder Bedeutungsseite überlappen, aber auch unterscheiden. Im Wesentlichen sind aber zwei Formvarianten auszumachen, nämlich Analepsen in V1-Stellung, also mit Auslassung im Vorfeld, und Analepsen mit ausgelassener Ergänzung im Mittelfeld. Zudem können, wie in Abschnitt 3.1 beschrieben, Ad-hoc-Analepsen, die nur auf einer sehr abstrakten Ebene Gemeinsamkeiten haben, von social action formats getrennt werden, die jeweils lexikalisch teil- oder sogar vollspezifiziert und mit schon in frühen Arbeiten untersuchten Konstruktionen (etwa let alone x, vgl. Fillmore et al. 1988) vergleichbar sind. Dabei stellt sich die Frage, wie verschiedene analeptische Konstruktionstypen miteinander zusammenhängen, etwa „PASST schon.“ als social action format aus Beispiel (2), „IS er nich schon? “ als Ad-hoc-Analepse mit prädikativem Bezug aus Beispiel (1), bewertende Analepsen wie „is doch GUT,“ aus Beispiel (3) und responsive Analepsen mit mentalem Verb wie „ich WEIß nicht.“ (FOLK_E_00011_SE_01_T_04_DF_01_c205) sowie eventuell jeweils vergleichbare Äußerungen mit der Anapher das. Alle müssten von einer abstrakteren Konstruktion lizenziert sein und zu dieser über Vererbung (inheritance) in einem hierarchischen Verhältnis stehen. Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 439 Wenn alle Subtypen analeptischer Konstruktionen innerhalb eines taxonomischen Netzwerkes miteinander verbunden sind, muss allerdings geklärt werden, wie die hierarchisch höchste „Mutterkonstruktion“ aussehen kann, die ihre Merkmale an alle anderen Subkonstruktionen weitervererbt. Angesicht der großen formalen und funktionalen Variabilität erscheint es fragwürdig, eine solche Mutterkonstruktion anzunehmen. Das einzige Merkmal, das alle untersuchen Analepsen gemein haben, ist das der Nichtrealisierung eines obligatorischen Arguments, das auf diskursstruktureller Seite mit Topik-Drop korreliert. Abbildung 5 zeigt eine Annäherung an ein taxonomisches Netzwerk, das einige der zuvor erwähnten Konstruktionen umfasst. Abb. 5: Der Versuch der Darstellung eines taxonomischen Netzwerkes der analeptische(n) Konstruktion(en) In der Skizze sind nicht annähernd alle Varianten möglicher analeptischer (Sub-)Konstruktionen dargestellt, die hinsichtlich Verbflexion, Verbklassen etc. immens variabel sind. Neben der Schwierigkeit, eine geeignete Mutterkonstruktion zu finden, verdeutlicht die Abbildung vor allem, wie komplex ein exhaustives taxonomisches Netzwerk sein müsste und dass es bei mehrdimensionalen Ähnlichkeitsbeziehungen nie alle Zusammenhänge sinnvoll darstellen kann. So spaltet sich dieses Netzwerk nach der Topologie des Topik- Drops (VF oder MF) auf, was dazu führt, dass Konstruktionen mit mentalem Verb unter zwei verschiedenen Knotenpunkten notiert werden müssen, obwohl ich weiß nicht und weiß ich nicht natürlich trotz funktionaler Unterschiede eng zusammenhängen und zumindest potenziell dieselben Funktionen übernehmen können (vgl. Helmer/ Deppermann/ Reineke in diesem Band). Henrike Helmer 440 Zudem ist ein weiteres Problem offensichtlich, das bereits angesprochen wurde: Es gibt Eigenschaften analeptischer Konstruktionen, die diese mit anaphorischen Äußerungen teilen, wie etwa die referenzielle Unterspezifiziertheit bzw. Kontextabhängigkeit und bei spezielleren Konstruktionstypen die typische Akzentuierung der Adjektive bei bewertenden prädizierenden Konstruktionen mit der Kopula sein (das/ ø ist GUT). Für beide Konstruktionstypen könnte aufgrund der Formunterschiede jeweils eine Mutterkonstruktion angenommen werden, 22 man könnte sie aber auch als Subkonstruktionen einer einzigen Mutterkonstruktion verstehen. In diesem Fall würde das taxonomische Netzwerk noch weiter verkompliziert. Nimmt man zwei unabhängige Konstruktionstypen an, handelt man sich zwar weniger deskriptive Probleme ein. Es ist aber ersichtlich, dass ein taxonomisches Netzwerk einer weiteren Konstruktionsfamilie, bei der lediglich statt ø ein das realisiert wäre, hinsichtlich der einzelnen Stufen genauso aussehen könnte wie in Abbildung 5 - wie eng die beiden Konstruktionsfamilien formal zusammenhängen, kann bei zwei getrennten Netzwerken nicht mehr dargestellt werden. Ebenso wenig kann sinnvoll illustriert werden, welche und wie große semantische, pragmatische und sequenzielle Unterschiede zwischen den Konstruktionstypen bestehen. Die genauere Betrachtung des einzigen gemeinsamen Merkmals aller Typen analeptischer (und auch anaphorischer) Äußerungen, nämlich des Topik-Status des zu rekonstruierenden Referenten, wirft zudem weitere Probleme auf, die in einem taxonomischen Netzwerk berücksichtigt werden müssten. Erstens sind Topik-Drop-Konstruktionen formal nicht zu unterscheiden von Objekt- und Subjektellipsen (wenn man nicht bestimmte Restriktionen der Instanziierung auf der Formseite repräsentieren will, vgl. aber Abschnitt 4.2.2). Zweitens sind analeptische Topik-Drop-Konstruktionen auch semantisch in manchen Fällen Ellipsen ähnlich, da die Interpretation des Topik-Drops bisweilen auch auf situativ zugänglichen Informationen beruhen. Die Trennung von Topik-Drop-Konstruktionen hinsichtlich ihres Typs als Ellipse oder Analepse und vor allem hinsichtlich der damit jeweils einhergehenden Semantik kann entsprechend nicht immer kategorial sein. Verschiedene Autoren (z.B. Barth-Weingarten 2006; Imo 2007b; Imo 2011) weisen darauf hin, dass es keine klar umrissenen Grenzen zwischen Konstruktionen gibt. Günthner (2010) stellt fest: „Je nach Feineinstellung trifft man auf fließende Grenzen und Übergänge nach innen (innerhalb einer Konstruktion) wie auch nach außen“ (ebd., S. 420; Hervorhebung im Original). Sie merkt diesbezüglich an, dass „zahlreiche Hybridformen und Überlappungen mit anderen Konstruktionen auftreten“ (ebd., S. 421). 22 Hierfür sprechen etwa verwendungsspezifische Unterschiede bei der Vollrealisierung vs. analeptischer Realisierung von Äußerungen (vgl. Helmer 2016, S. 197ff. und auch Helmer/ Deppermann/ Reineke in diesem Band). Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 441 Es erscheint insgesamt also eher unwahrscheinlich, dass alle Eigenschaften und Subtypen analeptischer Topik-Drop-Konstruktionen Schritt für Schritt in einem taxonomischen Netzwerk dargestellt werden können. Stattdessen erscheint eine Verbindung der Konstruktionsgrammatik mit anderen Ansätzen sinnvoller, um der großen Variabilität des Phänomens gerecht zu werden. 4.3.3 Alternative Modelle Imo (2007b, 2011) verbindet konstruktionsgrammatische Ansätze mit der Prototypentheorie. Eine radikale Auslegung der Konstruktionsgrammatik habe zur Folge, dass die Zahl grammatischer Konstruktionen explodiere, da nie alle Aspekte von Konstruktionen absolut identisch seien (Imo 2007b, S. 38). Es bestehe die Notwendigkeit, Zusammenhänge zwischen Konstruktionen zu sehen, die auf dem spezifischsten Level immer unterschiedlich sind, auf einer höheren Abstraktionsstufe jedoch Ähnlichkeiten aufweisen. Imo schlägt daher verschiedene Granularitätsebenen vor, auf denen Konstruktionen beschrieben werden können. Auf einer gröberen Ebene könnten Ähnlichkeiten erfasst werden, auf einer spezifischeren Ebene Unterschiede. Dies ist für Analepsen auf einer spezifischen Ebene insofern sehr zweckmäßig, als hier, wie beschrieben, verschiedene analeptische Konstruktionstypen auszumachen sind und man sich aus Forscherperspektive für spezifische Typen entscheiden kann (z.B. analeptische Bewertungskonstruktionen), ohne den Zusammenhang zur gröberen Granularitätsebene vernachlässigen zu müssen (z.B. die prototypische Analepse als V1-Äußerung mit Topik-Drop). Auch mit diesem Ansatz können Zusammenhänge zwischen spezifischeren Subkonstruktionen und das Problem der variablen Wortfolge aber nur schwer erfasst werden und eine holistische Sicht auf alle Analepsentypen erscheint zu komplex. Engelberg et al. (2011) nutzen Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit, um Zusammenhänge zwischen Konstruktionen auf eine nicht-hierarchische Weise darzustellen. Dies ist sinnvoll, um die Schwierigkeiten zu umgehen, die sich bei der Erstellung eines taxonomischen Konstruktionsnetzwerks auftun, also Schwierigkeiten bei der Abstraktion bis hin zu einer Mutterkonstruktion und Schwierigkeiten bezüglich der sinnvollen Darstellbarkeit von Zusammenhängen zwischen Konstruktionsfamilien und spezifischeren Subkonstruktionen. Beim konkreten Vorgehen werden in einem ersten Schritt Konstruktions-Cluster (z.B. auf der Basis von Verben) ausgemacht und alle nicht zu Clustern zusammenfassbaren Analepsen einzeln berücksichtigt. Danach werden Ähnlichkeiten hinsichtlich bestimmter Aspekte notiert (etwa Argumentrealisierung, syntaktische und pragmatische Merkmale) und dann der Ähnlichkeitsgrad bestimmt. Henrike Helmer 442 Die Familienähnlichkeit ermöglicht die Darstellung in einem nicht-hierarchischen Netzwerk, bei dem verschiedene Form-Funktions-Typen zusammenhängen können, ohne dass sie notwendigerweise durch Vererbung lizenziert sind. Angesichts der Vielzahl von Ad-hoc-Analepsen wird auch dieser Ansatz schwierig, wenn er eine exhaustive Erfassung von Analepsen leisten soll. Prinzipiell erscheint er aber eher operationalisierbar und bezüglich der Darstellung der Konstruktionsrelationen überzeugender als andere Ansätze. Ähnlichkeit Argumente Ähnlichkeit Flexion Ähnlichkeit Komplement Ähnlichkeit Pragmatik (mögliche pragmatische Funktionen der Konstruktion) Gesamt alle realisiert etwas fehlt 1.P. 2.P. 3.P. Subjekt realisiert Objekt realisiert Subjekt nicht Objekt nicht Bewertung Frage Bestätigung Aufforderung Antwort Widerspruch das weiß ich nicht / ich weiß es nicht × × × × × 5 das weiß ich nicht / ich weiß nicht × × × × 4 das weiß ich nicht / weiß ich nicht × × × × 4 das weiß ich nicht / das ist ADJ × × × 3 das weiß ich nicht / ist ADJ × 1 ich weiß es nicht / ich weiß nicht × × × 3 ich weiß es nicht / weiß ich nicht × × × 3 ich weiß es nicht / ist ADJ × 1 ich weiß es nicht / das ist ADJ × × × 3 ich weiß nicht / weiß ich nicht × × × × × × 6 ich weiß nicht / das ist ADJ × × × 3 ich weiß nicht / ist ADJ × × × 3 weiß ich nicht / das ist ADJ × × × 3 weiß ich nicht / ist ADJ × × × 3 das ist ADJ / ist ADJ × × × × × 5 [...] Tab. 1: Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Subkonstruktionen Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 443 Den Versuch einer Darstellung einiger Konstruktionen in einem solchen Netzwerk zeigen Tabelle 1 und Abbildung 6. Es handelt sich dabei nur um eine Annäherung, die nicht so komplex ist, wie sie bei einer exhaustiven Darstellung sein müsste. So wurde z.B. die Topologie des Topiks bzw. Topik- Drops ebenso wenig berücksichtigt wie die möglichen diskurssemantischen Bezugsarten, die das Verb der Analepse haben kann (propositional, prädikativ, Referent, metapragmatisch). Insgesamt zeigt der Versuch aber, dass das Familiennetzwerk viele Ähnlichkeiten (und Unterschiede) relativ übersichtlich darstellen kann. Das Problem nicht-hierarchischer Netzwerke ist allerdings (neben der Frage nach der Auswahl der zu berücksichtigenden Merkmale, ihrer relativen Gewichtungen usw.) prinzipiell, dass sie n-dimensional angelegt sein müssten und eine zweidimensionale (oder ggf. dreidimensionale Illustration) schnell an ihre Grenzen stößt. Abb. 6: Die Darstellung der Subkonstruktionen als Netzwerk auf der Basis von Familienähnlichkeiten 5. Fazit In konstruktionsgrammatischen Ansätzen sind interaktionale Aspekte lange Zeit eher unbeleuchtet geblieben. Entsprechend ist eine „Erweiterung der bisherigen eher (strukturalistisch orientierten) [sic] konstruktions-grammatischen Kategorien um interaktionale (wie Redezug, Sprecherwechsel, Sequenz, Diskursmarker, inkrementelle Ergänzungen etc.)“ (Günthner 2010, S. 419) notwendig. Die Behebung dieses Desiderats wird mittlerweile in Angriff ge- Henrike Helmer 444 nommen (z.B. Fischer/ Stefanowitsch 2006; Stefanowitsch/ Fischer 2008; Lasch/ Ziem 2011; Ziem/ Lasch 2015; Bücker/ Günthner/ Imo 2015). Dabei stoßen die Autoren aber immer wieder auf Schwierigkeiten (etwa Imo 2015; Günthner 2015), die sich auch bei der Beschäftigung mit Analepsen zeigen. Die Probleme, die eine konstruktionsgrammatische Betrachtung von Analepsen bereitet, hängen z.T. zusammen. Zum einen bleiben Unklarheiten, wie die Ablehnung leerer Kategorien überhaupt zu verstehen ist: Diese werden programmatisch abgelehnt. Sprachliche Strukturen mit argument omissions (DNI/ INI und auch Pro-Drop), deren Referenten semantisch und syntaktisch un(ter) spezifiziert sind, werden diesbezüglich aber nicht explizit von anderen leeren Elementen abgegrenzt. Mithilfe von Frames können die Nullinstanziierungen von Analepsen nicht „gefüllt“ werden. Dies ist insbesondere bei Analepsen offensichtlich, deren Verb selbst gar keinen Frame evoziert, deren Verb mehr als einen Frame evoziert, oder bei denen keine Koreferenz zwischen Präkontext und nicht realisiertem Argument der Analepse vorherrscht und die daher nicht einmal ein passendes Antezedens im Präkontext aufweisen, sondern nur durch Inferenzen interpretiert werden können. Auch die Frage, wie die Form-Funktions-Beziehung gestaltet ist und ob diesbezüglich alle für eine Interpretation von Analepsen notwendigen kontextuellen Merkmale konstruktionsinhärent repräsentiert sein können, bleibt problembehaftet. Gehen Konstruktionsgrammatiker von einer konstruktionsinhärenten Repräsentation aller nötigen Informationen aus, können sie insbesondere bei Ad-hoc-Analepsen und indirekten Analepsen nicht erklären, wie genau eine konstruktionsinhärente „Anweisung“, im Kontext nach einem passenden topikalen Element zu suchen, in der Praxis zu Identifizierung des tatsächlichen und konkreten Antezedens führen kann. Abgesehen von diesen grundsätzlichen Schwierigkeiten bieten Analepsen ein so großes Spektrum verschiedener potenzieller Subkonstruktionen mit höchst unterschiedlichen formalen und funktionalen Merkmalen, dass eine Analepsen-Konstruktion kaum sinnvoll so abstrahiert werden kann, dass man verschiedene Subkonstruktionen unter eine Konstruktion fassen bzw. sinnvoll deren jeweilige formale und funktionale Ähnlichkeiten aufzeigen könnte. Die Vorstellung von Vererbung von einer analeptischen Mutterkonstruktion hin zu verschiedenen Subkonstruktionen ist zudem diskussionswürdig. Was eine konstruktionsgrammatische Annäherung an analeptische Äußerungen aber auf jeden Fall leisten kann, ist, spezifische Subtypen von analeptischen Topik-Drop-Konstruktionen zu identifizieren, z.B. Analepsen in Erzählfortführungen, responsiv-bewertende Konstruktionen, Konstruktionen zur Be- Analepsen aus konstruktionsgrammatischer Perspektive 445 schwichtigung und Themenbeendigungen, Konstruktionstypen von Responsiven mit mentalen Verben usw. Der theoretische Rahmen (aber nicht unbedingt theoretische Details) der Konstruktionsgrammatik eignet sich damit gut für die Identifizierung und Beschreibung von Konstruktionen, die hinsichtlich ihrer Form und pragmatischen Funktion klare Beziehungen aufweisen. Für viele Ad-hoc-Analepsen ist dies jedoch nicht der Fall. Das hierarchisch übergeordnete verbindende Merkmal bei diesen ist der Topik-Drop. Dabei ist allerdings nicht außer Acht zu lassen, dass Topik-Drop selbst unterschiedliche Eigenschaften haben kann. Diskursbezogen gibt es z.B. Unterschiede hinsichtlich der Konkretheit des Antezedens (direkt, indirekt), der Art des fehlenden Bezugs (Sachverhalt propositional, prädikativ, Referent, metapragmatisch, multi-unit-Turns etc.). Bei Ad-hoc-Analepsen ist es daher schwer, spezifische Muster zu finden (wobei es sich bei der in Abschnitt 2.3 vorgeschlagenen Typologie nicht um eine diskrete, sondern stetige Skala von Ad-hoc-Analepsen hin zu verfestigten Analepsen handelt). Zusammengefasst gibt es Schwierigkeiten, Analepsen mit bestimmten theoretischen Aspekten konstruktionsgrammatischer Ansätze zu vereinbaren. Das Konzept der Familienähnlichkeit ist relativ gut geeignet, um die sehr komplexen Zusammenhänge des großen Form- und Funktionsspektrums und der Nähe zu formal ähnlichen Konstruktionen (wie anaphorische Äußerungen) auf einen Blick darzustellen. Auch diese Übersichtlichkeit hat aber natürlich Grenzen, wenn alle Analepsentypen betrachtet werden. Eine weitere Möglichkeit ist, zumindest Ad-hoc-Analepsen gar nicht als Konstruktion aufzufassen, da es keinen stabilen Form-Funktions-Zusammenhang gibt, sondern sie a) stattdessen als Umgang mit Konstruktionen und als Verfahren zu interpretieren, das die Zeitlichkeit und Situiertheit sprachlichen Handelns beinhaltet, 23 ohne dass es als Teil einer Konstruktion aufgefasst werden muss oder sollte (vgl. Hilpert 2015 zur kollaborativen Insubordination), oder sie b) lediglich als constructs von Konstruktionen zu betrachten. In diesem Fall würde es sich um unterschiedliche grammatische Argumentstrukturkonstruktionen handeln, von denen bestimmte Argumente unter geeigneten sequenziellen Umständen analeptisch ausgespart werden können. 24 Konstruktionsgrammatische Ansätze werden zu Recht als ein relativ gutes Beschreibungsinstrument gesprochener Sprache bewertet. Bestimmte sprachliche Strukturen wie Analepsen sind aber nur schwer oder gar nicht in ihren 23 Was dabei genau passiert und was dies für die Konstruktion und Interpretation von Analepsen bedeutet, bleibt dabei allerdings offen. Diese Fragen zu klären muss nach diesem Verständnis aber auch nicht Teil oder Ziel konstruktionsgrammatischer Ansätze sein. 24 Auch andere Autoren scheinen Ellipsen eher als Prozess statt als eine bestimmte Art von Struktur zu sehen (vgl. Zifonun et al. 1997, S. 409ff.). Henrike Helmer 446 interpretatorischen Rahmen einfügbar. Deshalb muss der theoretische Ansatz nicht als solcher und als Ganzes abgelehnt werden. Es ist möglich, sich an konstruktionsgrammatischen Ansätzen und Methoden zu orientieren, aber bestimmte Strukturannahmen abzulehnen. Für eine umfassende Grammatikschreibung wäre dies je nach Anspruch ein Problem, für individuelle Forschungsinteressen zwar u.U. weniger zufriedenstellend, aber prinzipiell möglich. 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Für nähere Erläuterungen des Vorgehens bei der Klassifikation vgl. Zeschel (in diesem Band a, b), jeweils Abschnitt 3.2.2. Die Kürzel unter den Belegen bezeichnen den Verwendungskontext, dem das jeweilige Beispiel entnommen ist: „[M-A]“ steht für „Mündlich: Alltagsgespräch“ (Belege aus FOLK), „[M-I]“ für „Mündlich: Institutionelle Interaktion“ (FOLK), „[K-M]“ für „Konzeptionell mündlich, medial schriftlich“ (DECOW2012QS), „[S-L]“ für „Schriftlich: Literarischer Text“ (DWDS) und „[S-W]“ für „Schriftlich: Wissenschaftstext“ (DWDS). 1. kommen Rang Lesart % Rang Lesart % 1 bewegung 52,4 17 fortschritt 0,6 2 folge 9,7 geburt 0,6 3 ereignen 5,6 19 qualifikation 0,5 4 dp (diskurspartikel) 4,3 20 ausgehen 0,4 5 herkunft 3,9 orgasmus 0,4 6 erscheinen 3,7 22 salienz 0,3 7 hinzutreten 3,1 überstehen 0,3 8 geraten 2,1 verlust 0,3 9 verursachung 1,9 25 entfallen 0,2 10 erlangen 1,8 gelegenheit 0,2 11 themenwechsel 1,7 venitiv 0,2 12 einfallen 1,6 28 ähneln 0,1 13 entstehen 1,3 durchschauen 0,1 14 skala 0,9 erstrecken 0,1 15 aufnahme 0,8 kosten 0,1 äusserung 0,8 Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 452 1.1 ähneln ‘ähneln’ Eine entität 1 ähnelt einer entität 2 . Beispiel: äh schwarz weiß gepunktet und die Hündin ist braun also ich weiß nicht nach wem der Hund kommt entität 2 entität 1 P.OBJ-nach SUBJ FOLK_E_00048_SE_01_T_01, c736 [M-A] 1.2 aufnahme ‘aufgenommen werden’ Ein mitglied beginnt, eine institution regelmäßig in einer bestimmten Rolle zu besuchen bzw. tritt seine Mitgliedschaft in einer bestimmten gruppe an einer Institution an. Beispiele: Sie sind Schulkameradinnen gewesen, denn nach Zerbombung ihrer Schule kam Gerda in die Oberstadt-Volksschule. mitglied institution SUBJ DIR Degenhardt, Franz Josef, Für ewig und drei Tage, Berlin: Aufbau-Verl. 1999, S. 235 [S-L] Als ich an die EOS kam, wollte ich unbedingt einen Fensterplatz. mitglied institution SUBJ DIR Berneburger, Cordt [d.i. Thomas Brussig], Wasserfarben, Berlin: Aufbau-Verl. 1991, S. 23 [S-L] 1.3 ausgehen ‘ausgehen’ Ein prozess nimmt einen (typischerweise negativen) ausgang. Beispiele: so kann es auch kommen ne ausgang prozess MOD SUBJ FOLK_E_00161_SE_01_T_04, c634 [M-A] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 453 seestraße wieso glück gehabt na ja gut könnte schlimmer kommen genau ausgang MOD FOLK_E_00011_SE_01_T_06, c1099 [M-A] 1.4 äusserung ‘anführen, vorbringen, mitteilen; geäußert/ vorgebracht/ mitgeteilt werden’ Eine äusserung wird (von einem sprecher) (gegenüber einem hörer) (mit einer frequenz) (in einer bestimmten art+weise) vorgebracht. Für die äusserung kann metonymisch auch ihr inhalt stehen. Beispiele: das kam dauernd von ihm äusserung frequenz sprecher SUBJ TMP DIR FOLK_E_00026_SE_01_T_03, c1149 [M-I] ich kann denen ja nun kaum mit der so oft erwähnten sprecher hörer äusserung SUBJ DAT P.OBJ-mit widerrufsbelehrung kommen, die hab ich ja entdeckt und auch formlos gekündigt. äusserung P.OBJ-mit DECOW2012: http: / / www.antispam-ev.de/ forum/ archive/ index.php/ t-11558.html [K-M] 1.5 bewegung ‘sich bewegen; bewegt werden’ Ein bewegungsträger bewegt sich selbst- oder fremdverursacht (von einem ausgangsort) (über einen pfad) (zu einem zielort). Beispiele: das heißt ich komm von der von der Lena direkt zu der Frau Müller bewegungsträger ausgangsort zielort SUBJ DIR DIR FOLK_E_00026_SE_01_T_01, c66 [M-I] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 454 Wir kamen sogar an den Gefängnissen vorbei, bewgegungsträger pfad SUB DIR von denen der Stollentroll berichtet hatte. pfad DIR Moers, Walter, Die 13 1/ 2 Leben des Käpt‘n Blaubär, Frankfurt a.M.: Eichborn 1999, S. 652 [S-L] Die Lesart bewegung wurde für alle Belege vergeben, die zumindest auch konkrete Bewegung im Raum implizieren (vgl. Zeschel, in diesem Band a, Abschnitt 3.2.2). 1.6 dp Diskurspartikel. 1.7 durchschauen ‘durchschauen’ Einem cognizer erschließt sich ein schwer zugänglicher sachverhalt. Beispiele: Die Versionen, wie der Pastor hinter die List kam, weichen voneinander ab, entweder cognizer sachverhalt SUBJ P.OBJ-hinter wurde er aufgrund der immer heiterer werdenden Stimmung misstrauisch, oder es wurde ihm versehentlich eine Tasse Kaffee mit Rumzusatz serviert. DECOW2012: http: / / www.nornirsaett.de/ deftiges-vonner-waterkant/ [K-M] So jedenfalls erklärte es mir einmal Warszawski, und ich mußte noch lange über diese Bemerkung nachdenken, wobei ich nie dahinter kam, cognizer sachverhalt SUBJ P.OBJ-hinter ob Warszawski Spaß gemacht hatte oder ob ihm in gewisser Weise Ernst sachverhalt P-OBJ-hinter damit gewesen war, also ob er Lanzman tatsächlich verachtete oder beneidete. sachverhalt P-OBJ-hinter Biller, Maxim, Harlem Holocaust, in: ders. Wenn ich einmal reich und tot bin, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 104 [S-L] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 455 1.8 einfallen ‘einfallen, gedanklich auf etwas stoßen’ Ein cognizer stößt auf einen gedankeninhalt. Beispiele: keine Ahnung wie ich dadrauf gekommen bin cognizer gedankeninhalt SUBJ P.OBJ-auf FOLK_E_00128_SE_01_T_04, c364 [M-I] Das Wort Drittländer muss dir im Schlaf gekommen sein, gedankeninhalt cognizer SUBJ DAT ich habe es hier niemals getippt. DECOW2012: http: / / www.alemannia-brett.de/ forums/ archive/ index.php/ t-2842.html [K-M] 1.9 entfallen ‘entfallen’ Einer menge steht (in einer population) eine vergleichsmenge gegenüber. Beispiele: wenn hundert Bewerber kommen auf eine Aktie jetzt mal vergleichsmenge menge SUBJ P.OBJ-auf übertrieben gesagt ist natürlich klar dass durch die hohe Nachfrage und das niedrige Angebot der Kurs gleich nach oben schießt an der Börse FOLK_E_00166_SE_01_T_01, c902 [M-I] So kamen in Nürnberg 1449 auf rund 20 000 Einwohner nicht weniger als population menge LOK P.OBJ-auf 446 Pfarrer und Mönche mit ihren Dienern. vergleichsmenge SUBJ Wittmann, Reinhard, Geschichte des deutschen Buchhandels, München: C.H. Beck 1991, S. 7779 [S-W] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 456 1.10 entstehen ‘entstehen, sich bilden, aufkommen’ Eine entität entsteht (zu einem zeitpunkt) (in einer domäne) (in einer art+weise). Bei der domäne kann es sich um einen konkreten oder auch abstrakten Ort handeln (inklusive eines experiencers). Beispiele: oh hier kommt ein Apple-Shop hin domäne entität domäne DIR SUBJ DIR FOLK_E_00048_SE_01_T_01, c1281 [M-A] Vor Lachen kamen Lisa die Tränen experiencer entität DAT SUBJ Jentzsch, Kerstin, Seit die Götter ratlos sind, Berlin: Verl. Das Neue Berlin 1994, S. 177 [S-L] 1.11 ereignen ‘sich ereignen, geschehen; erfolgen, sich vollziehen; eintreten’ Ein ereignis vollzieht sich (zu einem zeitpunkt) (in einer domäne) (in einer art+weise). Beispiele: Zum Bruch mit dem Mutterland war es jedoch noch nicht gekommen. ereignis - P.OBJ-zu SUBJ Busch, Werner, Das sentimentalische Bild, München: Beck 1993, S. 58 [S-W] Zur Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien kann ereignis P.OBJ-zu es daher nur in hinreichend großen, komplexen Gesellschaften kommen. - domäne SUBJ LOK Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 322 [S-W] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 457 1.12 erlangen ‘erlangen, in den Besitz kommen, Zugriff erhalten auf’ Ein besitzer kommt in den Besitz eines besessenen (ein konkreter Gegenstand, ein Gedankeninhalt, eine abstrakte Ressource oder ein Merkmal). Beispiele: Wie er zu seinem Studienplatz gekommen ist, das kannst du dir ja denken besitzer besessenes SUBJ P.OBJ-zu Jentzsch, Kerstin, Seit die Götter ratlos sind, Berlin: Verl. Das Neue Berlin 1994, S. 352 [S-L] aber ich weiß warum die Frauen nicht an die Führungsposition kommen besitzer besessenes SUBJ P.OBJ-an FOLK_E_00042_SE_01_T_01, c313 [M-A] 1.13 erscheinen ‘erscheinen, sich zeigen; angeboten, veröffentlicht oder gesendet bzw. in einem Medium materialisiert werden’ Ein stimulus erscheint (zu einem zeitpunkt) (an einem ort). Häufig bezeichnet der Ort ein Medium bzw. Format darin. Beispiele: Da kann man nicht abstimmen - es kommt ne Fehlermeldung. stimulus SUBJ DECOW2012: http: / / www.der206cc.de/ forum/ archive/ index.php/ t-3227.html [K-M] Neulich kam eine Sendung im Fernsehen über ein junges Mädchen, zeitpunkt stimulus ort stimulus TMP SUBJ LOK SUBJ das bis auf 39 Kilo! abgemagert war. stimulus SUBJ DECOW2012: http: / / www.almac.de/ forum/ archive/ index.php/ t-3598.html [K-M] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 458 1.14 erstrecken ‘sich erstrecken, reichen, verlaufen’ Eine entität erstreckt sich (von einem ausgangsort) (über eine distanz) (bis zu einem zielort). Beispiele: Ein dritter Trieb kommt direkt aus der Erde heraus und ist 2 oder 3 Jahre alt, entität ausgangsort SUBJ DIR soweit ich weiß. DECOW2012: http: / / gaertnerblog.de/ blog/ 2008/ yucca-augenweide/ [K-M] Kommt dann hinter dem Handschuhfach raus. ausgangsort DIR DECOW2012: http: / / www.seat-leon.de/ vboard/ archive/ index.php/ t-465.html [K-M] 1.15 folge ‘folgen, als nächstes an der Reihe sein’ Ein ereignis, eine entität oder ein zeitintervall folgt aus Sicht der temporalen Origo (zu einem zeitpunkt) (als ein sequenzelement) (in einer domäne) (in einer art+weise) (auf ein/ e andere/ s ereignis/ entität/ zeitintervall). Wird statt des ereignisses eine entität realisiert, ist sie Argument eines zu inferierenden ereignisses. Beispiele: so jetzt kommt der Herr Fischer wieder Herr Fischer zeitpunkt entität TMP SUBJ FOLK,E_00001_SE_01_T_01, c278 [M-I] so jetzt kommen aber die Prüfbedingungen zeitpunkt entität TMP SUBJ FOLK_E_00001_SE_01_T_02, c111 [M-I] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 459 1.16 fortschritt ‘vorankommen, voranschreiten; schaffen, erfolgreich bewältigen; sich fortentwickeln’ Ein agens legt in der Durchführung eines vorhabens bzw. ein geschehen im Verlauf seiner Entfaltung eine strecke zurück. Beispiele: daß es jemals so weit kommen würde, hätt ich nicht gedacht. geschehen strecke SUBJ MSS DECOW2012: http: / / www.lawblog.de/ index.php/ archives/ 2009/ 06/ 06/ wahrhaftig/ [K-M] Herr von Holsen, wie weit sind Sie mit den Umfragen zu unserer strecke agens vorhaben MSS SUBJ P.OBJ-mit neuen Serie „Deutsche sehen Deutsche“ gekommen? vorhaben P.OBJ-mit Jentzsch, Kerstin, Ankunft der Pandora, Berlin: Verl. Das Neue Berlin 1996, S. 205 [S-L] 1.17 geburt ‘geboren werden, zur Welt kommen’ Ein lebewesen wird zu einem zeitpunkt geboren. Beispiele: dann kamen Kinderlein zeitpunkt lebewesen TMP SUBJ FOLK_E_00143_SE_01_T_01, c204 [M-A] und dann ist die Sigrid gekommen das waren auch fünf zeitpunkt lebewesen TMP SUBJ FOLK_E_00143_SE_01_T_04, c694 [M-A] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 460 1.18 gelegenheit ‘Gelegenheit finden’ Ein agens findet (zu einem zeitpunkt) die Gelegenheit, eine handlung durchzuführen. Beispiel: Aus dem Urlaub zurückgekehrt, komme ich jetzt endlich wieder agens zeitpunkt SUBJ TMP dazu, Neues auf die Seiten zu bringen. handlung P.OBJ-zu DECOW2012: http: / / down.smugglersrun.de/ historie.html [K-M] aber dazu komm ich ned weil ich mir jedesmal vor lachen handlung agens P.OBJ-zu SUBJ in die hose mache wenn ich dich seh DECOW2012: http: / / regnum-forum.gamigo.de/ archive/ index.php/ t-15870.html [K-M] 1.19 geraten ‘geraten, erreichen, landen (in); zu etwas übergehen; es in etwas hinein oder aus etwas heraus schaffen’ Eine entität gerät (durch bestimmte umstände) (zu einem zeitpunkt) in eine situation bzw. aus einer situation heraus. Insbesondere wenn es sich bei der situation um ein gewohnheitsmäßig praktiziertes Ereignis handelt, kann dafür auch ein weiterer partizipant der situation stehen. Beispiele: Groot würgte immer noch einen Yeti, der sich sicherlich fragte, wie umstände MOD er in diese Situation gekommen war. entität situation SUBJ DIR Moers, Walter, Die 13 1/ 2 Leben des Käpt‘n Blaubär, Frankfurt a.M.: Eichborn 1999, S. 673 [S-L] sonst kommen wir jetzt auch ins Uferlose entität situation SUBJ DIR FOLK_E_00007_SE_01_T_02, c683 [M-I] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 461 1.20 herkunft ‘stammen, abstammen, entstammen; sein Zuhause/ seine Herkunft/ seinen Ursprung/ seine Quelle haben’ Eine entität oder ein stimulus entstammt einem ursprung. Der ursprung kann räumlicher (auch metaphorisch räumlicher) oder zeitlicher Art sein. Beispiele: und die kommen meistens aus problematischen Familien entität ursprung SUBJ DIR FOLK_E_00024_SE_01_T_07, c336 [M-I] Das Pfiepen kommt aus dem Inneren. stimulus ursprung SUBJ DIR DECOW2012: http: / / www.notebookjournal.de/ forum/ archive/ index.php/ t-10925.html [K-M] 1.21 hinzutreten ‘hinzutreten; dazuzurechnen bzw. zusätzlich zu berücksichtigen sein’ Eine entität oder ein sachverhalt treten (in einer domäne) zu einer (meist vorgenannten oder bloß inferierbaren) kategorie hinzu. Beispiele: Zum unverhältnismäßig kostspieligen Vertrieb kamen die aus Überzeugung kategorie entität P.OBJ-zu SUBJ gezahlten hohen Autorenhonorare, so daß das Schicksal des Literarischen entität SUBJ Comptoirs vorausbestimmt war: 1847 mußte Fröbel endgültig aufgeben. Wittmann, Reinhard, Geschichte des deutschen Buchhandels, München: C.H. Beck 1991, S. 8176 [S-W] Im Spätwerk kommen Anregungen der Pop Art und des Photorealismus domäne entität LOK SUBJ (z.B. in Farbauswahl und -auftrag) hinzu entität kategorie SUBJ P.OBJ-zu o.A., P, in: Harald Olbrich (Hg.), Lexikon der Kunst Band 1: Mosb - Q, Leipzig: Seemann 1993, S. 24675 [S-W] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 462 1.22 kosten ‘kosten’ Eine ware kostet einen preis. Beispiel: Der Rest kam dann doch noch „etwas“ mehr. ware preis SUBJ MSS DECOW2012: http: / / www.zafira-forum.de/ archive/ index.php/ t-4536.html [K-M] 1.23 orgasmus ‘einen Orgasmus haben’ Ein experiencer erlebt einen Orgasmus. Beispiele: ja dann ja dann kommst Du halt schneller oder experiencer SUBJ FOLK_E_00042_SE_01_T_01, c1289 [M-A] weil wir ewig nicht kommen wenn wir besoffen sind experiencer SUBJ FOLK_E_00042_SE_01_T_01, c1277 [M-A] 1.24 qualifikation ‘sich in einer Weise geben/ darstellen; einen bestimmten Eindruck machen, befunden werden als/ für’ Eine entität, ein sachverhalt oder das Verhalten eines agens erhält eine qualifikation (durch einen experiencer). Beispiele: Die Spiegelblende kommt ehrlich gesagt nicht sooo gut, entität qualifikation SUBJ MOD Ring für den Zigarettenanzünder fällt fast nicht auf! DCOW2012: http: / / www.celica-community.de/ archive/ index.php/ t-2522.html [K-M] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 463 Komm mir nicht theatralisch, Lisa . experiencer qualifikation DAT MOD Jentzsch, Kerstin, Seit die Götter ratlos sind, Berlin: Verl. Das Neue Berlin 1994, S. 165 [S-L] 1.25 salienz ‘in den Vordergrund treten, deutlicher werden, spürbar werden’ Ein qualität tritt in den vordergrund und wird dadurch (deutlicher) wahrnehmbar. Beispiele: Je nach Gegner und Spielsituation kommt diese damalige hitzige Stimmung qualität SUBJ teilweise heutzutage noch manchmal ein bisschen hervor vordergrund DIR http: / / www.alemannia-brett.de/ forums/ archive/ index.php/ t-14819.html [K-M] Bei einseitiger Aufhellung des Blaugrün kommt dieses jedoch qualität SUBJ nach vorn, und Rotorange weicht zurück. vordergrund DIR o.A., R, in: Harald Olbrich (Hg.), Lexikon der Kunst Band 1: R - Stad, Leipzig: Seemann 1994, S. 27648 [S-W] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 464 1.26 skala ‘einen Wert erzielen oder übertreffen’ Eine entität erzielt oder übertrifft (in einer domäne) im Rahmen eines unspezifizierten Prozesses einen bestimmten wert. Als wert kann auch die Anzahl der Wiederholungen einer Handlung auftreten. Beispiele: Trotzdem ich meine Dauerkarte zurückgegeben habe, komme ich entität SUBJ auf 10-15 Spiele pro Saison, die ich live sehe. wert P.OBJ-auf DECOW2012: http: / / forum.express.de/ archive/ index.php/ t-16823-p-28.html [K-M] Daß er USB 2.0 hat ist mir schon klar, aber ich habe schon USB 2.0 Sticks gesehen, die nur 3-4 MB/ s schaffen und andere, die über 20 MB/ s kommen entität wert SUBJ DIR DECOW2012: http: / / www.brainstormboard.de/ board/ archive/ index.php/ t-90939.html [K-M] 1.27 themenwechsel ‘zu sprechen kommen auf, übergehen zu’ Ein oder mehrere kommunikatoren wenden sich (zu einem zeitpunkt) einem neuen thema zu. Beispiele: und dann sind wir halt so irgendwie auf den Leo gekommen zeitpunkt kommunikator thema TMP SUBJ DIR FOLK_E_00050_SE_01_T_01, c262 [M-A] Dieser Mandryka kommt sehr schnell zum Grund seines Erscheinens kommunikator thema SUBJ DIR Fath, Rolf, Reclams Lexikon der Opernwelt Band 1, Stuttgart: Reclam 1998, S. 147 [S-W] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 465 1.28 überstehen ‘überstehen, überwinden’ Eine entität übersteht eine herausforderung. Beispiele: Mit 2 jungen IV´s kommst du einfach nicht durch 3 wettbewerbe. entität herausforderung SUBJ DIR DECOW2012: http: / / www.sofacoach.de/ forum/ archive/ index.php/ t-10-p-48.html [K-M] jetzt ist er noch gut durch den tüv gekommen entität herausforderung SUBJ DIR FOLK_E_00055_SE_01_T_02, c222 [M-A] 1.29 venitiv ‘ankommen und; Anstalten machen zu’ Ein agens bewegt sich auf den (ggf. auch deiktisch verschobenen) Standpunkt des Sprechers zu und führt dort eine handlung aus. Beispiel: Bei einer Aufbereitung mittels eigener Kopfstation kommt nämlich noch ein weiteres Problem hinzu: Dann wird die Eigentümergemeinschaft de facto Kabelprovider, und dann kommt VG Media erhebt Lizenzforderungen: agens handlung SUBJ PRED DECOW2012: http: / / www.vdr-portal.de/ board19-verschiedenes/ board10-verschiedenes/ 108473umstellung-analog-auf-digital/ index2.html [K-M] 1.30 verlust ‘verlieren, einbüßen’ Ein besitzer verliert ein besessenes. Beispiele: ja ja die ist ums Leben gekommen besitzer besessenes SUBJ P.OBJ-um FOLK_E_00066_SE_01_T_04, c61 [M-A] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 466 Und hätten die judenfressenden Hysteriker gewußt, wieviel Vergnügen ihm ihre Konspirationstheorien insgeheim machten, wären sie ganz um den Verstand gekommen besitzer SUBJ besessenes P.OBJ-um Biller, Maxim, Verrat, in: ders. Wenn ich einmal reich und tot bin, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 193 [S-L] 1.31 verursachung ‘bewirkt oder verursacht werden; sich so zutragen, dass es etwas geschieht oder entsteht’ Ein agens, ein wirkstoff, ein sachverhalt 1 oder ein in einer bestimmten art+weise verlaufendes Geschehen verursacht einen sachverhalt 2 bzw. ein ereignis. Beispiele: Dieser feige Angriff kam von den Ronin, ehemaligen Bürgern Japans. ereignis agens SUBJ KAU DECOW2012: http: / / www.tabletopwelt.de/ forum/ archive/ index.php/ t-96704-p-7.html [K-M] sie sagte auch das käme wohl von dem Dominal sachverhalt 2 wirkstoff SUBJ KAU FOLK_E_00118_SE_01_T_01, c410 [M-I] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 467 2. gehen Rang Lesart % Rang Lesart % 1 bewegung 42,7 12 themenwechsel 0,7 2 thema 20,5 14 massgabe 0,5 3 machbarkeit 14,6 zuteilung 0,5 4 akzeptabilität 4,3 16 behandeln 0,4 5 befinden 4,1 17 ergehen 0,2 6 erstrecken 2,6 geschehen 0,2 7 dauern 2 zustandswechsel 0,2 8 funktionieren 1,7 20 andativ 0,1 9 skala 1,4 belasten 0,1 10 wahl 1,2 kursieren 0,1 11 forcieren 1 lauten 0,1 12 ausrichtung 0,7 liiert_sein 0,1 2.1 akzeptabilität ‘akzeptabel sein’ Ein sachverhalt ist (in einer bestimmten realisierung) (mit anhaltender/ nicht mehr anhaltender fortdauer) (in einer domäne) akzeptabel. Beispiele: das geht ja noch ne sachverhalt fortdauer SUBJ TMP FOLK_E_00055_SE_01_T_03, c87 [M-A] äh nein das geht nicht bei Männern da wird es mir übel sachverhalt domäne SUBJ LOK FOLK_E_00042_SE_01_T_02_DF, c367 [M-A] 2.2 andativ ‘hingehen und; Anstalten machen zu’ Ein agens bewegt sich vom (ggf. auch deiktisch verschobenen) Standpunkt des Sprechers weg und führt dort eine handlung aus. Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 468 Beispiel: Susanne jetzt wenn jeder normale Mensch nein geht her agens SUBJ nimmt es Bügelbrett geht in das Wohnzimmer und bügelt handlung PRED FOLK_E_00020_SE_01_T_01, c881 [M-A] 2.3 ausrichtung ‘gerichtet sein, weisen; abzielen; tendieren’ Eine entität oder ein prozess hat eine Ausrichtung auf ein ziel. Ist die Entität eine überzeugung, kann dafür auch der cognizer stehen. Beispiele: Am Ende des Gangs ging eine Tür ins Freie, auf eine belebte kleine Wiese entität ziel ziel SUBJ DIR DIR mit Bäumen und Bänken. ziel DIR Schlink, Bernhard, Der Vorleser, Zürich: Diogenes 1995, S. 184 [S-L] Er wird gleich auf den ersten Seiten Heros, gar Herkules genannt, später mehrfach mit Jupiter verglichen; sein ganzes inneres Drängen geht nach Höherem, prozess ziel SUBJ DIR nach der heldischen Tat. ziel DIR Busch, Werner, Das sentimentalische Bild, München: Beck 1993, S. 66 [S-W] 2.4 befinden ‘in einer bestimmten Verfassung sein, sich fühlen’ Eine entität (typischerweise ein Lebewesen) befindet sich in einer verfassung. Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 469 Beispiele: ich glaube mir geht es wieder besser entität - verfassung DAT SUBJ MOD FOLK_E_00140_SE_01_T_01, c1061 [M-A] Deinem Dad geht es sehr schlecht Rory. entität - verfassung DAT SUBJ MOD DECOW2012: http: / / www.gilmoregirls.de/ forum/ archive/ index.php/ t-12212.html [K-M] 2.5 behandeln ‘sich dranmachen, sich anschicken, beginnen; etwas in einer bestimmten Weise adressieren’ Ein agens macht sich (in einer art+weise) an die Behandlung einer aufgabe. Beispiele: dann gehen Sie unter Umständen anders dran agens art+weise aufgabe SUBJ MOD P.OBJ-an FOLK_E_00007_SE_01_T_02, c254 [M-I] Wir gingen sofort daran, die Häuser untereinander aufzuteilen. agens aufgabe SUBJ P.OBJ-an Moers, Walter, Die 13 1/ 2 Leben des Käpt‘n Blaubär, Frankfurt a.M.: Eichborn 1999, S. 321 [S-L] 2.6 belasten ‘belasten, zulasten gehen; sich abträglich auswirken auf’ Ein ereignis oder ein sachverhalt belastet ein patiens. Beispiel: Ahhhhhhhhhh ... das ist aber jetzt ganz schön aufs Kreuz gegangen… ereignis patiens SUBJ P.OBJ-auf http: / / www.goneflowers.de/ archive_1503/ t-8683.html [K-M] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 470 2.7 bewegung ‘sich bewegen’ Ein agens bewegt sich (von einem ausgangsort) (über einen pfad) (zu einem zielort). Beispiele: weiter wenn du vom Platz a noch weiter Richtung Fluss a gehst agens ausgangsort pfad SUBJ DIR DIR FOLK_E_00049_SE_01_T_01, c716 [M-A] Lisa Meerbusch ging zu ihrem Lieblingsplatz unter den Olivenbaum. agens zielort SUBJ DIR Jentzsch, Kerstin, Seit die Götter ratlos sind, Berlin: Verl. Das Neue Berlin 1994, S. 260 [S-L] Die Lesart bewegung wurde für alle Belege vergeben, die zumindest auch konkrete Bewegung im Raum implizieren (vgl. Zeschel, in diesem Band a, Abschnitt 3.2.2). 2.8 dauern ‘dauern, sich zeitlich erstrecken’ Ein prozess verläuft (für eine dauer) (von einem beginn) (bis zu einem ende). Beispiele: ich glaube das geht eine Stunde oder so prozess dauer SUBJ TMP FOLK_E_00022_SE_01_T_02, c602 [M-I] Zunächst geht es bis Stufe 35, um den verdreckten Zauberstab zu finden prozess ende SUBJ TMP DECOW2012: http: / / board.pennergame.de/ archive/ index.php/ t-75415.html [K-M] 2.9 ergehen ‘ergehen; mitgespielt bekommen’ Ein patiens oder ein experiencer ist von einem ereignis oder einem sachverhalt in einer art+weise betroffen. Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 471 Beispiele: Das geht den meisten Kanaldrachen so. sachverhalt experiencer art+weise SUBJ DAT MOD Moers, Walter, Die 13 1/ 2 Leben des Käpt‘n Blaubär, Frankfurt a.M.: Eichborn 1999, S. 605 [S-L] Ich muss sagen, dass ich noch immer von dem Ergebnis total enttäuscht bin, und wenn ich mir die Gesichter nach dem Spiel angesehen habe, ging es vielen so. sachverhalt experiencer art+weise SUBJ DAT MOD http: / / www.alemannia-brett.de/ forums/ archive/ index.php/ t-14465.html [K-M] 2.10 erstrecken ‘sich erstrecken; reichen; verlaufen’ Eine entität oder ein ereignis erstreckt sich (von einem ausgangsort) (über eine distanz) (bis zu einem zielort). Beispiele: folie sieht meiner meinung nach nur gut aus , wenn sie entität SUBJ über die ganze fläche geht distanz DIR DECOW2012: http: / / forum.musikding.de/ vb/ archive/ index.php? t-27626.html [K-M] Obwohl in ihrem Wohnzimmer die Stapel der Rauchwarenpakete entität SUBJ bis an die Decke gingen, roch es nach Parfüm. zielort DIR Walser, Martin, Ein springender Brunnen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 258 [S-L] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 472 2.11 forcieren ‘etwas forcieren, vorantreiben, zuspitzen; forciert, vorangetrieben, zugespitzt werden’ Ein agens forciert einen (potenziell benennbaren, in der Regel aber impliziten) prozess (in einer domäne) bis zu einer ausprägung. Beispiele: Die französischen Materialisten des fortgeschrittenen 18. Jahrhunderts schließlich agens SUBJ gehen so weit , das Christentum als Krankheit des Geistes zu diskreditieren, als ausprägung MSS Ausgeburt verwirrter Leidenschaften: Glaube wird zur Form der Neurose. ausprägung MSS Busch, Werner, Das sentimentalische Bild, München: Beck 1993, S. 197 [S-W] Einige gingen in ihrer Ablehnung bis an die Grenze des strafrechtlich agens prozess ausprägung SUBJ LOK DIR Verwertbaren. ausprägung DIR Engler, Wolfgang, Die Ostdeutschen, Berlin: Aufbau-Verl. 1999, S. 316 [S-L] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 473 2.12 funktionieren ‘funktionieren, seinen Zweck erfüllen, ordnungsgemäß arbeiten’ Ein artefakt mit einer definierten Funktion kann diese Funktion (in einer art+weise) (mit anhaltender/ nicht mehr anhaltender fortdauer) erfüllen. Beispiele: Da war meine Weckersammlung aus den dreißiger und vierziger Jahren, da waren die Feuerzeuge mit den eingebauten Uhren von Buler, IWC und Dunhill, der Leuchtglobus, der leider nicht ging, die Bakelit-Kästchen, die schwarzen artefakt SUBJ Werkbank- und Bürolampen, die obszönen Keramikfigurinen, die Landkarten, die Pressglasvasen und der 3-D-Viewmaster mit den dazugehörenden Stereo-Dias (europäische Hauptstädte, Haustiere, Pflanzen, Walt-Disney-Motive). Biller, Maxim, Ehrenburgs Decke, in: ders. Wenn ich einmal reich und tot bin, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, S. 168 [S-L] auf jeden Fall irgendwann nachdem ich komisch ausgsehe habe habe ich das Ding dann weggeworfe das ging Gott sei Dank noch artefakt fortdauer SUBJ TMP FOLK_E_00006_SE_01_T_02, c424 [M-I] 2.13 geschehen ‘geschehen, sich vollziehen, sich ereignen’ Ein geschehen vollzieht sich (an einem ort) (in einer art+weise). Beispiele: dann weiß mal ja auch nicht was da so genau ging und so weißt du geschehen ort SUBJ LOK FOLK_E_00042_SE_01_T_02, c1262 [M-A] So geht das, bis meine Mutter mir, weil ich neben ihr sitze und art+weise geschehen MOD SUBJ nicht Sven, der ihr schräg gegenüber sitzt, eine scheuert. Dückers, Tanja, Spielzone, Berlin: Aufbau-Verl. 1999, S. 18 [S-L] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 474 2.14 kursieren ‘kursieren’ Eine information befindet sich im Umlauf (in einem bereich). Beispiel: Niemand wagte einen schlafwandelnden Yeti zu wecken, denn es ging das Gerücht, information SUBJ daß diejenigen, die es schon einmal gewagt hatten, den Weg ihrer Möbel gegangen waren. information SUBJ Moers, Walter, Die 13 1/ 2 Leben des Käpt‘n Blaubär, Frankfurt a.M.: Eichborn 1999, S. 502 [S-L] 2.15 lauten ‘lauten’ Ein text hat einen wortlaut. Beispiel: ging das nicht und er fuhr in einem fort gen Himmel text wortlaut SUBJ MOD FOLK_E_00066_SE_01_T_04, c679 [M-A] 2.16 liiert _ sein ‘liiert, ein Paar sein’ Eine person ist mit einem partner liiert. Beispiel: Wenn jemand sagte, er gehe mit Magda, sagte er nichts. person partner SUBJ P.OBJ-mit Walser, Martin, Ein springender Brunnen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 305 [S-L] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 475 2.17 machbarkeit ‘machbar sein’ Ein prozess ist (in einer art+weise) (mit einem mittel) (mit partizipanten) (mit anhaltender/ nicht mehr anhaltender fortdauer) (in einer domäne) machbar. Beispiele: Mit normalen Staublappen ging das nicht so gut. mittel prozess art+weise MOD SUB MOD http: / / wom.for-me-online.de/ de/ p/ swiffer/ 2010/ 07/ 02/ wie-sie-uns-von-ihren-erfahrungenberichten-konnen/ comment-page-5/ [K-M] kannst mir nicht erzählen dass das mit der Frau Bach nicht geht prozess partizipant SUBJ MOD FOLK_E_00024_SE_01_T_02, c641 [M-I] 2.18 massgabe ‘sich richten nach, sich orientieren an’ Die Beurteilung eines cognizers, die Funktionsweise eines artefakts oder der Vollzug eines prozesses richtet sich nach einer massgabe. Beispiele: Darüber braucht man denke ich nicht streiten und sieht seine Lage aktuell, geht man nach diversen Interviews, noch ganz entspannt. cognizer massgabe SUBJ P.OBJ-nach DECOW2012: http: / / www.breitnigge.de/ 2008/ 12/ 14/ von-ribery-schwaebischem-dusel-und-derherbstmeisterschaft/ [K-M] Die Uhr geht nach dem Mond: geht unzuverlässig, falsch, im Gegensatz zur artefakt massgabe SUBJ P.OBJ-nach Sonnenuhr, die die Tagesstunden zuverlässig anzeigt. Röhrich, Lutz, Mond, in: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Freiburg, Basel, Wien: Herder 1994 [1973], S. 4149 [S-W] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 476 2.19 skala ‘steigen, ansteigen, sich erhöhen, zunehmen; sinken, fallen, abnehmen, vermindern; landen’ Eine entität bewegt sich auf einer Skala (in einer domäne) (in eine richtung) (an eine position). Anstelle der bewegten Entität kann ein agens stehen. Beispiele: da bleibt er jung was glaabscht wie dem soin Blutdruck hoch ging entität richtung SUBJ DIR FOLK_E_00024_SE_01_T_03, c194 [M-I] da gehe ich mal auf siebzehn agens position SUBJ DIR FOLK_E_00021_SE_01_T_08, c822 [M-A] 2.20 thema ‘sich drehen um, handeln von; verhandelt werden, die Rede sein von’ Ein gegenstand ist (in einer domäne) thematisch oder anderweitig relevant. Beispiele: es geht ja um eine bestimmte Religion - gegenstand SUBJ P.OBJ-um FOLK_E_00060_SE_01_T_01, c564 [M-I] darum geht es ja bei dem Nukleus oder gegenstand - domäne P.OBJ-um SUBJ LOK FOLK_E_00015_SE_01_T_01, c764 [M-I] 2.21 themenwechsel ‘zu sprechen kommen auf, übergehen zu’ Ein oder mehrere kommunikatoren wenden sich (zu einem zeitpunkt) (über ein thema) einem neuen thema zu. Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 477 Beispiele: ich muss jetzt zu der nächsten Frage gehen kommunikator zeitpunkt thema SUBJ TMP DIR FOLK_E_00057_SE_01_T_01, c717 [M-I] okay äh gehen wir dann mal über Saussure kommunikator zeitpunkt thema SUBJ TMP DIR in den Prager Linguistenkreis thema DIR FOLK_E_00028_SE_01_T_01, c349 [M-I] 2.22 wahl ‘wählen, sich entscheiden für’ Ein agens wählt eine option aus einer Menge von Alternativen. Beispiele: ja null ist immer eine schwierige Position zum Verarbeiten ja deswegen geht man lieber auf eine leichte Plusspannung oder leichte negative Spannung agens option SUBJ DIR FOLK_E_00006_SE_01_T_01, c311 [M-I] Er kriegte die Zulassung, und Kohnert fragte ihn, in welche Fachrichtung er option agens DIR SUBJ gehen will, vielleicht Frauenarzt? Berneburger, Cordt [d.i. Thomas Brussig], Wasserfarben, Berlin: Aufbau-Verl. 1991, S. 156 [S-L] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 478 2.23 zustandswechsel ‘wechseln, übergehen’ Eine entität gerät in einen neuen zustand. Beispiele: sie ging dann schließlich um zehn Uhr in die Nachtbeurlaubung entität zustand SUBJ DIR FOLK_E_00114_SE_01_T_02, c496 [M-I] Wenn ich weg gehe und das erste bier auf dem tisch steht, geht der melder auf aus. entität zustand SUBJ DIR DECOW2012: http: / / www.funkmeldesystem.de/ foren/ archive/ index.php/ t-9939-p-2.html [K-M] 2.24 zuteilung ‘zugeteilt, vergeben, gesendet, adressiert werden’ Eine entität wird einem empfänger zugeteilt. Beispiele: rolfes geht zu Nico entität empfänger SUBJ DIR FOLK_E_00021_SE_01_T_05, c1374 [M-A] Diese gingen dann, in einem Original und zwei Durchschlägen, entität SUBJ an die entsprechenden Abteilungen. empfänger DIR Sparschuh, Jens, Der Zimmerspringbrunnen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995, S. 137 [S-L] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 479 3. denken Rang Lesart % Rang Lesart % 1 auffassung 42,1 8 erwägung 2,5 2 überlegung 21 9 erinnerung 2 3 vergegenwärtigung 7 10 dm 1,9 4 befinden 6,9 11 vorsehen 1,6 5 vorstellung 6,8 12 erwartung 0,6 6 bedenken 3,7 13 absicht 0,5 7 assoziation 3,4 14 argwohn 0,2 3.1 absicht ‘beabsichtigen, erzielen wollen’ Ein cognizer beabsichtigt, mit einer handlung einen effekt zu erzielen. Metonymisch für die Handlung kann ihr Produkt stehen. Beispiele: Willi wird sich schon etwas dabei gedacht haben. cognizer effekt handlung SUBJ DIR.OBJ P.OBJ-bei Jentzsch, Kerstin, Ankunft der Pandora, Berlin: Verl. Das Neue Berlin 1996, S. 147 [S-L] Aber was sich die Modellierer bei der Haut gedacht haben, effekt cognizer handlung DIR.OBJ SUBJ P.OBJ-bei bleibt mir verborgen. http: / / www.tabletopwelt.de/ forum/ archive/ index.php/ t-73080-p-2.html [K-M] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 480 3.2 argwohn ‘argwöhnen; vermuten, dass etwas Negatives der Fall ist’ Einem cognizer kommt angesichts eines sachverhalts ein verdacht. Beispiele: wir können stundenlang an der Bar hocken ohne dass sich jemand etwas dabei denkt cognizer verdacht sachverhalt SUBJ DIR.OBJ P.OBJ-bei FOLK_E_00143_SE_01_T_01, c469 [M-A] was hast denn Du schon wieder gedacht verdacht cognizer DIR.OBJ SUBJ FOLK_E_00125_SE_01_T_01, c302 [M-I] 3.3 assoziation ‘assoziieren, gedanklich in Verbindung bringen; jemandem (angeregt durch etwas) unwillkürlich in den Sinn kommen’ Einem cognizer kommt (angeregt durch einen auslöser) unwillkürlich eine entität in den Sinn. Beispiele: Ganz automatisch jedoch hat man bei diesem Typ Landschaft an ein klassisches Thema gedacht, cognizer auslöser entität SUBJ LOK P.OBJ-an etwa an die Geschichte von Cadmus. Busch, Werner, Das sentimentalische Bild, München: Beck 1993, S. 330 [S-W] ich dachte an den Jakob als ich das gehört habe cognizer entität auslöser SUBJ P.OBJ-an TMP FOLK_E_00024_SE_01_T_07, c302 [M-I] 3.4 auffassung ‘annehmen, vermuten, glauben; meinen, finden; planen’ Ein cognizer ist (auf Basis einer evidenz) der Auffassung bzw. Überzeugung, dass ein sachverhalt (bezüglich eines partizipanten) der Fall ist, sein sollte oder sein wird. Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 481 Beispiele: also ich denke da muss einfach die Schule jetzt auch mal Nägel mit Köpfen machen cognizer sachverhalt SUBJ DIR.OBJ FOLK_E_00026_SE_01_T_02, c1396 [M-I] ja genau so was denken die ich glaub bei jedem Pärchen sachverhalt cognizer partizipant DIR.OBJ SUBJ LOK FOLK_E_00048_SE_01_T_01, c869 [M-A] 3.5 bedenken ‘bedenken, beachten, berücksichtigen’ Ein cognizer schenkt einer entität oder einem sachverhalt (in einem zusammenhang) in seinen Überlegungen Beachtung. Beispiele: also nicht nur kognitive Lernziele Sie formulieren bitte auch psychomotorische und denken auch cognizer SUBJ an affektive Lernziele beim Ölwechsel entität P.OBJ-an FOLK_E_00007_SE_01_T_02, c448 [M-I] Kaum einer denkt dabei daran, cognizer zusammenhang sachverhalt SUBJ LOK P.OBJ-an dass das Leben für eine(n) Homosexuelle(n) noch bis in die 70er und 80er Jahre sachverhalt P.OBJ-an alles andere als Party war. sachverhalt P.OBJ-an http: / / www.tabletopwelt.de/ forum/ archive/ index.php/ t-31052-p-2.html [K-M] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 482 3.6 befinden ‘mit dem Verstand über etwas befinden, schließen, urteilen’ Ein cognizer nutzt seine mentale Fähigkeit des Erkennens und Schließens (zur Bildung eines Urteils über eine entität oder einen sachverhalt) (in einer art+weise). Beispiele: Es wäre unsinnig zu sagen, der Wilde denke über den Regen mystisch, wir dagegen wissenschaftlich. cognizer entität art+weise SUBJ P.OBJ-über MOD Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns - Band 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 74 [S-W] ich denke vielleicht zu sehr wirtschaftlich bei sowas cognizer art+weise sachverhalt SUBJ MOD P.OBJ-bei http: / / www.coder-board.de/ 5-streamen.html [K-M] 3.7 dm Die Kategorie dm („Diskursmarker“) subsumiert verschiedene Verwendungen mit pragmatisch spezialisierter, gesprächsstrukturierender oder interaktionskoordinierender Funktion, vgl. die Übersicht in Zeschel (in diesem Band b), Abschnitt 4.1.3. 3.8 erinnerung ‘sich einer Sache erinnern, etwas aus dem Gedächtnis aufrufen können’ Ein cognizer hat einen memorierten sachverhalt präsent. Die Lesart erinnerung schließt auch Verwendungen mit inferierten Prädikaten ein, bei denen der memorierte Sachverhalt eine auszuführende Handlung ist (‘daran denken, etwas zu tun’). Beispiele: vielleicht am besten an so einem festen Termin wo er dran denken muss dass er auf mich zukommen muss cognizer sachverhalt sachverhalt SUBJ P.OBJ-an P.OBJ-an FOLK_E_00026_SE_01_T_02, c766 [M-I] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 483 ich werde aber noch an Reißnägel denken cognizer sachverhalt SUBJ P.OBJ-an und zwar zum Befestigen von äh den Moskitonetzen FOLK_E_00030_SE_01_T_03, c406 [M-A] 3.9 erwägung ‘etwas ins Auge fassen; in Betracht ziehen, etwas zu tun oder herbeizuführen’ Ein cognizer erwägt die Realisierung einer handlung bzw. eines dadurch erzeugten sachverhalts. Für die Handlung kann metonymisch ein Partizipant des dann inferierten Ereignisses stehen. Beispiele: an solche Spieler denkst Du jetzt ernsthaft handlung cognizer P.OBJ-an SUBJ FOLK_E_00021_SE_01_T_15, c588 [M-A] Ich allerdings dachte noch gar nicht daran ihm zu folgen. cognizer handlung SUBJ P.OBJ-an DECOW2012: http: / / forum.animemanga.de/ archive/ index.php/ t-15990.html [K-M] 3.10 erwartung ‘erwarten, rechnen mit, für wahrscheinlich halten, dass etwas eintritt’ Ein cognizer hält das Zutreffen eines später evidenten sachverhalts (bezüglich eines partzipanten) im Vorhinein für wahrscheinlich. Beispiele: das habe ich mir gedacht dass die Frage jetzt kommt sachverhalt cognizer sachverhalt DIR.OBJ SUBJ DIR.OBJ FOLK_E_00038_SE_01_T_01, c708 [M-I] wenn sie das Gefühl hat dass das alles nichts bringt und sie ihre Tochter zum Beispiel bei der Frau Hauser zum ersten Mal auf eine Art und Weise gesehen hat von der sie nie gedacht hat dass es die gibt partizipant cognizer sachverhalt P.OBJ-von SUBJ DIR.OBJ FOLK_E_00024_SE_01_T_02, c726 [M-I] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 484 3.11 überlegung ‘sich etwas überlegen, sich innerlich etwas sagen’ Ein cognizer bildet einen gedankeninhalt (bezüglich eines sachverhalts oder einer entität) Beispiele: ich bin zu Fuß gegangen weil ich dachte es is so warm un so schönes Wetter cognizer gedankeninhalt SUBJ DIR.OBJ FOLK_E_00084_SE_01_T_01, c455 [M-A] da dacht ich auch kurz so boah krass ey cognizer gedankeninhalt SUBJ DIR.OBJ FOLK_E_00092_SE_01_T_01, c271 [M-A] 3.12 vergegenwärtigung ‘sich vor Augen führen; vor Augen haben; seine Aufmerksamkeit ausrichten auf’ Ein cognizer richtet ihre Aufmerksamkeit auf eine entität oder einen sachverhalt aus. Beispiele: denken Sie mal an den Ablauf des Schaltplanes cognizer entität SUBJ P.OBJ-an FOLK_E_00005_SE_01_T_02, c602 [M-I] Bo dachte jetzt nur noch an das Geld. cognizer entität SUBJ P.OBJ-an Jentzsch, Kerstin, Ankunft der Pandora, Berlin: Verl. Das Neue Berlin 1996, S. 259 [S-L] 3.13 vorsehen ‘für oder als etwas vorgesehen sein’ Eine entität oder ihre realisierung ist für einen zweck oder einen empfänger vorgesehen. Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 485 Beispiele: es ist für die Pinnwand gedacht zum Anheften entität zweck zweck SUBJ KAU KAU FOLK_E_00004_SE_01_T_01, c631 [M-I] Die Anordnung in Zeilen und mit Einrückungen ist nicht wesentlich, sondern nur realisierung SUBJ als Lesehilfe gedacht. zweck PRD Rechenberg, Peter, Was ist Informatik? , München: Hanser 1991, S. 95 [S-W] 3.14 vorstellung ‘sich vorstellen, sich ausmalen, imaginieren, (in einer bestimmten Weise) konzipieren’ Ein cognizer stellt sich die Gültigkeit eines sachverhalts (bezüglich eines partizipanten) bzw. die Gegebenheit einer entität (in einer bestimmten realisierung) vor. Beispiele: Die Medizin einer latent paranoiden Gesellschaft denkt den Körper cognizer entität SUBJ DIR.OBJ im Grunde als Subversionsrisiko. realisierung PRD Sloterdijk, Peter, Kritik der zynischen Vernunft Band 2, Frankfurt: Suhrkamp 1983, S. 631 [S-W] Es denkt sich selbst als friedlich erhellende Energie. cognizer entität realisierung SUBJ DIR.OBJ PRD Sloterdijk, Peter, Kritik der zynischen Vernunft Band 1, Frankfurt: Suhrkamp 1983, S. 161 [S-W] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 486 4. wissen Rang Lesart % Rang Lesart % 1 bekanntheit 52,9 7 desinteresse 1,2 2 unklarheit 26,9 8 unverständnis 0,6 3 dm 10,7 9 erfahren 0,5 4 erinnerung 3,2 10 bedenken 0,4 5 vermögen 1,8 11 entscheidung 0,2 6 sicherstellen 1,6 4.1 bedenken ‘bedenken, beachten, berücksichtigen’ Ein cognizer schenkt einem sachverhalt (unter bestimmten umständen) in ihren Überlegungen Beachtung. Beispiele: Man muss da halt schon wissen dass man mit hundertfünfzig halt nicht cognizer sachverhalt SUBJ DIR.OBJ in die Kurve fahren kann FOLK_E_00007_SE_01_T_01, c701 [M-I] Nun muß man wissen, cognizer SUBJ daß Martin und seine Tante Annette einander auf eine verdrehte Art schätzten. sachverhalt DIR.OBJ Degenhardt, Franz Josef, Für ewig und drei Tage, Berlin: Aufbau-Verl. 1999, S. 80 [S-L] 4.2 bekanntheit ‘Kenntnis von etwas haben; sich einer Sache bewusst, sich über eine Sache im Klaren sein; sich sicher sein, dass etwas der Fall ist’ Ein sachverhalt oder eine entität ist einem cognizer (aus einer quelle) (bezüglich eines partizipanten oder in einer domäne) (unter bestimmten umständen) bekannt. Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 487 Beispiele: woher weißt denn Du das quelle cognizer sachverhalt DIR SUBJ DIR.OBJ FOLK_E_00143_SE_01_T_01, c234 [M-A] wenn man sich jetzt über einen Problemfall unterhält und er weiß die information und gibt sie mir aber nicht weiter cognizer entität SUBJ DIR.OBJ FOLK_E_00004_SE_01_T_01, c917 [M-I] 4.3 desinteresse ‘sich nicht interessieren für, für etwas nicht aufgeschlossen sein, von etwas nichts hören wollen; jemandem nicht zugeneigt sein’ Ein cognizer interessiert sich nicht (bzw. nur in einem geringen ausmass) für eine entität oder einen sachverhalt. Beispiele: Zuerst wollte ich nichts von dem Buch wissen, cognizer entität SUBJ DIR.OBJ weil meine rege Phantasie den Titel dahin auslegte, daß Nils Holgersson mit Wildgänsen in Käfigen in der Eisenbahn reist. Lorenz, Konrad, Das Jahr der Graugans, München: Piper 1979, S. 160 [S-W] Ich möchte nicht wissen, wie es am Samstag ausgesehen haben muss. cognizer sachverhalt SUBJ DIR.OBJ http: / / www.mtb-news.de/ news/ 2011/ 09/ 05/ eurobike-2011-samstag-fuenfter-tag-dirt-jumpbesucheransturm-und-messeschnipsel/ [K-M] 4.4 dm Die Kategorie dm („Diskursmarker“) subsumiert verschiedene Vorkommen in Formeln mit pragmatisch spezialisierter, gesprächsstrukturierender oder interaktionskoordinierender Funktion, vgl. die Übersicht in Zeschel (in diesem Band b), Abschnitt 4.2.3. Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 488 4.5 entscheidung ‘entscheiden, festlegen’ Ein cognizer trifft eine Entscheidung bezüglich eines sachverhalts. Beispiele: Ganz abgesehen von den Kosten, jeder muss selber wissen was er für sein Hobby ausgeben will, cognizer sachverhalt SUBJ DIR.OBJ lest ihr die Hefte, stellt sie in den Schranck und vergesst sie oder blättert ihr immer wieder mal durch. http: / / www.comicforum.de/ archive/ index.php/ t-41749.html [K-M] Wenn ihr sie nicht beschaffen könnt, sorgt wenigstens für Sellerie, die grünen Stangen schneidet in Stücke; wie lang, das müßt ihr selbst am besten wissen! sachverhalt cognizer DIR.OBJ SUBJ Brückner, Christine, Wenn du geredet hättest, Desdemona, Hamburg: Hoffmann und Campe 1983, S. 64 [S-L] 4.6 erinnerung ‘sich erinnern, aus dem Gedächtnis aufrufen können’ Ein cognizer hat einen memorierten sachverhalt (bezüglich eines partizipanten) mit anhaltender/ nicht mehr anhaltender fortdauer präsent. Beispiele: wisst ihr noch die haben sich ja mal äh Speckstein gewünscht cognizer fortdauer sachverhalt SUBJ TMP DIR.OBJ FOLK_E_00024_SE_01_T_05, c42 [M-I] aber bei dem Neumanns Herbert das weiß ich partizipant sachverhalt cognizer LOK DIR.OBJ SUBJ nicht mehr so ganz genau fortdauer TMP FOLK_E_00143_SE_01_T_04, c402 [M-A] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 489 4.7 erfahren ‘erfahren, herausfinden’ Ein cognizer ist interessiert, einen sachverhalt (aus einer quelle) zu erfahren. Beispiele: Ich würde jetzt zu gerne wissen, was er denkt. cognizer sachverhalt SUBJ DIR.OBJ Merian, Svende, Der Tod des Märchenprinzen, Hamburg: Buntbuch-Verl. 1980, S. 285 [S-L] ich habe Ihnen hier mal die erste Schaltung aufgezeigt und möchte von Ihnen cognizer quelle SUBJ DIR jetzt mal gern wissen was fällt Ihnen an der Schaltung jetzt eigentlich auf sachverhalt DIR.OBJ wenn Sie die Überschrift lesen FOLK_E_00008_SE_01_T_01, c275 [M-I] 4.8 sicherstellen ‘sicherstellen; garantiert bekommen’ Ein cognizer möchte sicherstellen, dass sich eine entität oder ein sachverhalt in einem zustand befindet. Beispiele: denn jeder züchter möchte doch seine welpen in guten händen wissen! cognizer entität zustand SUBJ DIR.OBJ PRD http: / / forum.deine-tierwelt.de/ archive/ index.php/ t-3720.html [K-M] Allerdings möchte er die Sowjetunion cognizer entität SUBJ DIR.OBJ aus der internationalen Gemeinschaft ausgeschlossen wissen, da auch das russische Volk zustand PRD Frieden benötige und wünsche. o.A., Chronik deutscher Zeitgeschichte Band 2,1, Düsseldorf: Droste 1982, S. 7731 [S-W] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 490 4.9 unklarheit ‘jemandem unklar sein; sich über etwas unsicher sein’ Ein cognizer ist sich über einen sachverhalt oder eine entität (bezüglich eines partizipanten oder in einer domäne) (unter bestimmten umständen) im Unklaren. Beispiele: und irgendwie ist das letztens raus gekommen äh dass die Eltern sehr sehr religiös sind und das nicht wollen und äh der Freund von dem sie eigentlich nicht wusste dass er religiös groß ist partizipant cognizer sachverhalt P.OBJ-von SUBJ DIR.OBJ hat es dann anscheinend äh so übernommen FOLK_E_00047_SE_01_T_02, c270 [M-A] Japanischen Autoren, Lesern und Kritikern braucht man nicht zu unterstellen, sie wüßten nicht um diesen Sachverhalt, cognizer sachverhalt SUBJ P.OBJ-um aber sie scheinen dieses Wissen zu verdrängen, indem sie davon ausgehen, daß diese Unmittelbarkeit doch erreichbar ist. Hijiya-Kirschnereit, Irmela, Selbstentblößungsrituale, Wiesbaden: Steiner 1981, S. 135 [S-W] 4.10 unverständnis ‘etwas nicht nachvollziehen/ einsehen/ verstehen können’ Ein cognizer kann das Zustandekommen eines sachverhalts (angesichts bestimmter umstände) nicht nachvollziehen. Beispiele: die Schuhe sind doch so schön ich weiß überhaupt nicht was Du für ein Problem damit hast cognizer sachverhalt SUBJ DIR.OBJ FOLK_E_00027_SE_01_T_01, c1097 [M-A] Tut mir leid, aber ich weiß nicht was das Problem mancher Poster hier ist. cognizer sachverhalt SUBJ DIR.OBJ DECOW2012: http: / / www.masseffect-game.de/ content/ view/ 1451/ 23/ [K-M] Anhang I: Framesemantische Beschreibungen 491 4.11 vermögen ‘vermögen, können, in der Lage sein; es verstehen, etwas zu tun’ Ein agens ist zu einer handlung in der Lage. Beispiele: im Alltag wird man wahrscheinlich die deutsche Entsprechung irgendwie benutzen in der Hoffnung das Gegenüber weiß damit was anzufangen agens handlung SUBJ DIR.OBJ FOLK_E_00057_SE_01_T_01, c156 [M-I] Ich weiß das sehr zu schätzen. agens handlung SUBJ DIR.OBJ DECOW2012: http: / / www.elitepartner.de/ forum/ beziehung/ printfriendly5933.htm [K-M] ANHANG II: TRANSKRIPTIONSKONVENTIONEN NACH GAT 2 (Selting et al. 2009) 1 Verlaufsstruktur 01 Zeile Intonationsphrase oder Pause, die keinem Sprecher zugeordnet werden kann [ ] Überlappungen und Simultansprechen [ ] = unmittelbarer Anschluss neuer Intonationsphrasen (Latching) Pausen (.) Mikropause (unter 0,2 Sekunden) (0.2) gemessene Pause ab 0,2 Sekunden Hörbares Atmen °h, °hh, °hhh Einatmen (je nach Dauer) h°, hh°, hhh° Ausatmen (je nach Dauer) Sonstige segmentale Konventionen gab_s, könn_se Klitisierungen und Verschleifungen von Wörtern : , : : , : : : Dehnung, Längung (je nach Dauer) äh, öh Verzögerungssignale Ɂ Glottalverschluss Lachen <lachend> so> Lachpartikeln beim Reden haha hehe hihi silbisches Lachen ((lacht)) Beschreibung des Lachens Rezeptionssignale hm, ja, nee einsilbige Signale (ohne Akzentmarkierung) Ɂm_Ɂm mit Glottalverschlüssen, meistens verneinend 1 Selting, Margret et al. (2009): Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10, S. 353-402. www. gespraechsforschung-ozs.de/ heft2009/ px-gat2.pdf (Stand: Februar 2017). Anhang II: Transkriptionskonventionen nach GAT 2 494 Akzente akZENT Hauptakzent der Intonationsphrase, Fokusakzent (ganze Silbe groß) akzEnt Nebenakzent (nur Vokal der Silbe groß), optional ak! ZENT! besonders starker Akzent Tonhöhenbewegung am Intonationsphrasenende ? hoch steigend , mittel steigend - gleichbleibend ; mittel fallend . stark fallend Lautstärke- und Sprechgeschwindigkeitsveränderungen <<f> > forte, laut <<p> > piano, leise <<all> > allegro, schnell <<len> > lento, langsam <<cresc> > crescendo, lauter werdend <<dim> > diminuendo, leiser werdend <<acc> > accelerando, schneller werdend <<rall> > rallentando, langsamer werdend Sonstige Konventionen ((hustet)) para-/ außersprachliche Handlungen/ Ereignisse <<hustend> > sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse mit Reichweite <<erstaunt> > interpretierende Kommentare mit Reichweite (xxx) unverständliche Silben (solche) vermuteter Wortlaut (solche/ welche) alternative Vermutungen ((...)) Auslassung im Transkript Studien zur Deutschen Sprache Forschungen des Instituts für Deutsche Sprache herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Angelika Wöllstein Aktuelle Bände: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / www.narr-shop.de/ reihen/ s/ studien-zurdeutschen-sprache.html 49 Wolf-Andreas Liebert / Horst Schwinn (Hrsg.) Mit Bezug auf Sprache Festschrift für Rainer Wimmer 2009, 584 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6470-2 50 Daniela Heidtmann Multimodalität der Kooperation im Lehr-Lern-Diskurs Wie Ideen für Filme entstehen 2009, 340 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6471-9 51 Ibrahim Cindark Migration, Sprache und Rassismus Der kommunikative Sozialstil der Mannheimer „Unmündigen“ als Fallstudie für die „emanzipatorischen Migranten“ 2010, 283 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6518-1 52 Arnulf Deppermann / Ulrich Reitemeier / Reinhold Schmitt / Thomas Spranz-Fogasy Verstehen in professionellen Handlungsfeldern 2010, 392 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6519-8 53 Gisella Ferraresi Konnektoren im Deutschen und im Sprachvergleich Beschreibung und grammatische Analyse 2011, 350 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6558-7 54 Anna Volodina Konditionalität und Kausalität im Deutschen Eine korpuslinguistische Studie zum Einfluss von Syntax und Prosodie auf die Interpretation komplexer Äußerungen 2011, 288 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6559-4 55 Annette Klosa (Hrsg.) elexiko Erfahrungsberichte aus der lexikografischen Praxis eines Internetwörterbuchs 2011, 211 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6599-0 56 Antje Töpel Der Definitionswortschatz im einsprachigen Lernerwörterbuch des Deutschen Anspruch und Wirklichkeit 2011, 432 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6631-7 57 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia / Melanie Steinle (Hrsg.) Sprache und Integration Über Mehrsprachigkeit und Migration 2011, 253 Seiten €[D] 72, - ISBN 978-3-8233-6632-4 58 Inken Keim / Necmiye Ceylan / Sibel Ocak / Emran Sirim Heirat und Migration aus der Türkei Biografische Erzählungen junger Frauen 2012, 343 Seiten €[D] 49, - ISBN 978-3-8233-6633-1 59 Magdalena Witwicka-Iwanowska Artikelgebrauch im Deutschen Eine Analyse aus der Perspektive des Polnischen 2012, 230 Seiten 72, - ISBN 978-3-8233-6703-1 60 Kathrin Steyer (Hrsg.) Sprichwörter multilingual Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen Parömiologie 2012, 470 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6704-8 61 Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia / Christiane Schoel / Dagmar Stahlberg (Hrsg.) Sprache und Einstellungen Spracheinstellungen aus sprachwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Perspektive. Mit einer Sprachstandserhebung zum Deutschen von Gerhard Stickel 2012, 370 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6705-5 62 Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt (Hrsg.) Raum als interaktive Ressource 2012, 400 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6706-2 63 Annette Klosa (Hrsg.) Wortbildung im elektronischen Wörterbuch 2013, 279 Seiten €[D] 78, - ISBN 978-3-8233-6737-6 64 Reinhold Schmitt Körperlich-räumliche Aspekte der Interaktion 2013, II, 334 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6738-3 65 Kathrin Steyer Usuelle Wortverbindungen Zentrale Muster des Sprachgebrauchs aus korpusanalytischer Sicht 2014, II, 390 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6806-9 66 Iva Kratochvílová / Norbert Richard Wolf (Hrsg.) Grundlagen einer sprachwissenschaftlichen Quellenkunde 2013, 384 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6836-6 67 Katrin Hein Phrasenkomposita im Deutschen Empirische Untersuchung und konstruktionsgrammatische Modellierung 2015, 510 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6921-9 68 Stefan Engelberg / Meike Meliss / Kristel Proost / Edeltraud Winkler (Hrsg.) Argumentstruktur zwischen Valenz und Konstruktion 2015, 497 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-6960-8 69 Nofiza Vohidova Lexikalisch-semantische Graduonymie Eine empirisch basierte Arbeit zur lexikalischen Semantik 2016, ca. 340 Seiten €[D] ca. 88, - ISBN 978-3-8233-6959-2 70 Marek Konopka / Eric Fuß Genitiv im Korpus Untersuchungen zur starken Flexion des Nomens im Deutschen 2016, 283 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8024-5 71 Eva-Maria Putzier Wissen - Sprache - Raum Zur Multimodalität der Interaktion im Chemieunterricht 2016, 282 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8032-0 72 Heiko Hausendorf / Reinhold Schmitt / Wolfgang Kesselheim Interaktionsarchitektur, Sozialtopographie und Interaktionsraum 2016, 452 Seiten €[D] 138, - ISBN 978-3-8233-8070-2 73 Irmtraud Behr, Anja Kern, Albrecht Plewnia, Jürgen Ritte (Hrsg.) Wirtschaft erzählen Narrative Formatierungen von Ökonomie 2017, 280 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8072-6 74 Arnulf Deppermann, Nadine Proske, Arne Zeschel (Hrsg.) Verben im interaktiven Kontext Bewegungsverben und mentale Verben im gesprochenen Deutsch 2017, 494 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-8105-1 75 Nadine Schimmel-Fijalkowytsch Diskurse zur Normierung und Reform der deutschen Rechtschreibung Eine Analyse von Diskursen zur Rechtschreibreform unter soziolinguistischer und textlinguistischer Perspektive 2017, 460 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-8106-8 76 Eric Fuß, Angelika Wöllstein (Hrsg.) Grammatiktheorie und Grammatikographie 2017, 200 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-8107-5 77 Jarochna Dabrowska-Burkhardt, Ludwig M. Eichinger, Uta Itakura (Hrsg.) Deutsch: lokal - regional - global 2017, 474 Seiten €[D] 138, - ISBN 978-3-8233-8132-7 Arnulf Deppermann / Nadine Proske / Arne Zeschel (Hrsg.) Verben im interaktiven Kontext Bewegungsverben und mentale Verben im gesprochenen Deutsch Deppermann / Proske / Zeschel (Hrsg.) Verben im interaktiven Kontext 74 STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Der Band untersucht die Verwendung der Bewegungsverben kommen und gehen sowie der mentalen Verben wissen und denken im gesprochenen Deutsch. Anhand einer Kombination explorativer, mit der Schriftlichkeit vergleichender Korpusuntersuchungen und interaktionslinguistischer Analysen werden spezifisch mündliche Argumentrealisierungsmuster identifiziert und deren funktionale Motivationen beschrieben. Es zeigt sich, dass viele verbgebundene Konstruktionen diskursorganisatorische Funktionen erfüllen oder mündlichkeitsspezifische Bedeutungen haben und dass dabei reduzierte Formen besonders häufig sind.