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Eros und Logos

2018
978-3-8233-9123-4
Gunter Narr Verlag 
Albrecht Classen
Wolfgang Brylla
Andrey Kotin

Die literarische Bearbeitung des Erotischen scheint eine der schwierigsten künstlerischen Aufgaben zu sein, hat aber stets noch provozierend und stimulierend gewirkt. Die damit verbundenen Probleme sind, abhängig von der Epoche, unterschiedlich: Im 19. Jahrhundert mussten sich die Autoren aller (un-)möglichen Metaphern bedienen, um Erotik zu verbildlichen. Andererseits stößt man in der mittelalterlichen Minnesang-Dichtung und in den Verserzählungen auf Manches, was die liberalsten Verleger auch heute noch in Verlegenheit bringen würde. Dieser Band zu den verschiedenen Sexualitätsbildern in der (deutschsprachigen) Literatur nimmt die historische Komplexität des Problemfeldes ,Sexualität' anhand ausgewählter Textbeispiele literaturästhetisch in den Blick und nutzt analytische Kriterien, um neues Licht auf die verschiedenen literarhistorischen Epochen und kulturellen Bedingungen literarischer Erotik zu werfen.

Eros und Logos Classen / Brylla / Kotin (Hrsg.) Eros und Logos Albrecht Classen / Wolfgang Brylla Andrey Kotin (Hrsg.) Die literarische Bearbeitung des Erotischen scheint eine der schwierigsten künstlerischen Aufgaben zu sein, hat aber stets noch provozierend und stimulierend gewirkt. Die damit verbundenen Probleme sind, abhängig von der Epoche, unterschiedlich: Im 19. Jahrhundert mussten sich die Autoren aller (un-) möglichen Metaphern bedienen, um Erotik zu verbildlichen. Andererseits stößt man in der mittelalterlichen Minnesang- Dichtung und in den Verserzählungen auf Manches, was die liberalsten Verleger auch heute noch in Verlegenheit bringen würde. Dieser Band zu den verschiedenen Sexualitätsbildern in der (deutschsprachigen) Literatur nimmt die historische Komplexität des Problemfeldes ‚Sexualität‘ anhand ausgewählter Textbeispiele literaturästhetisch in den Blick und nutzt analytische Kriterien, um neues Licht auf die verschiedenen literarhistorischen Epochen und kulturellen Bedingungen literarischer Erotik zu werfen. ISBN 978-3-8233-8123-5 Literarische Formen des sinnlichen Begehrens in der (deutschsprachigen) Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart Popular Fiction Studies 4 Popular Fiction Studies 4 Eros und Logos Popular Fiction Studies edited by Eva Parra-Membrives and Albrecht Classen volume 4 Albrecht Classen / Wolfgang Brylla Andrey Kotin (Hrsg.) Eros und Logos Literarische Formen des sinnlichen Begehrens in der (deutschsprachigen) Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart Mitfinanziert über Mittel der Universität Zielona Góra. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 2197-6392 ISBN 978-3-8233- 9 123- 4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 7 30 47 70 88 113 128 142 163 Inhalt Albrecht Classen Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte. Eine Diskussion universeller Lebensbedingungen im fiktionalen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cezary Lipiński Gott, der an Frauenbrüsten ruht. Zur Rolle der Erotik in der christlichen Mystik am Beispiel des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albrecht Classen Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters. Sprachwitz, Intelligenz, Spiel und sexuelle Erfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antonius Baehr Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius und Celerina im Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Brylla „Was ist erquickender als schoͤne Brust-Granaten“. Barocke Gelüste und lyrische Brüste oder Zu erotischen Gedichten des Barock . . . . . . . . . . . . . . . Andrey Kotin Umwege der Lust - Liebe und Sexualität in Friedrich Schlegels Lucinde . . . Anja Manneck „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“. Frank Wedekind und die Sprache der Erotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paweł Zimniak Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg . . . . . . . . . . . Elisa Meyer Die heiligen Gespräche in Der Mann ohne Eigenschaften als erotische Vereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 199 212 223 236 251 272 290 308 323 339 Marlene Frenzel Sinn und Sinnlichkeit Berlins. Zur Verortung von Sexualität und Erotik in ausgewählten Romanen der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karolina Rapp Inszenierungen von Geschlechtsidentitäten in der Lyrischen Novelle von Annemarie Schwarzenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maciej Walkowiak Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth - Versuch, eine Liebesgeschichte zu rekonstruieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oxana Matiychuk „Wir reichen uns der Liebe rote Beeren“ - Rose Ausländers frühe Liebesgedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arletta Szmorhun Frauenkörper als Tauschobjekt. Literarische Inszenierungen von Prostituiertenfiguren in Hans Falladas Der Alpdruck und Hans Werner Richters Du sollst nicht töten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Mackasare Horror in sexualibus. Interpretation von Ernst Jüngers Roman Die Zwille . Verena Zankl / Irene Zanol „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“. Joseph Zoderer - Eros und Logos im interkulturellen Kontext . . . . . . . . . . . Marta Wimmer Lust auf Verbotenes? Queeres Begehren anhand ausgewählter deutschsprachiger Gegenwartsprosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maciej Jędrzejewski Anormalität als Normalität. Sexualästhetik in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens Setz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rafał Biskup „Frauen sind für ihn die geheimnisvollste Gattung unter den Haustieren“. Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs Roman Morphin . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte Eine Diskussion universeller Lebensbedingungen im fiktionalen Kontext Albrecht Classen (Tucson, Arizona) I Erotik ist angesagt; sie war schon immer ein zentral menschliches Thema, in der Dichtung, in der visuellen Kunst, in der Musik und in anderen Medien und bewegt sowie begleitet den Menschen in zahllosen Situationen und unter ver‐ schiedenen Umständen. Erotik ist von solch grundlegender Bedeutung für alle Kultur, dass es gar keiner besonderen Erklärung bedarf, warum wir hier einen Sammelband mit literaturwissenschaftlichen Studien zu diesem Thema vorlegen und die Beziehung zwischen der Liebeserfahrung und deren poetischen Umset‐ zung eruieren. Wohin wir auch blicken, entdecken wir erotische Aussagen, Mo‐ tive, Sujets und literarische oder visuelle Materialien. Menschliches Leben ist getragen von Erotik und erreicht seine eigene Überhöhung mittels erotischer Energie. Es handelt sich dabei um einen ungemein wichtigen Motor in der hu‐ manen Existenz, der uns zunächst zutiefst in die materielle Dimension hinein‐ trägt, von dort aber überraschend auf ein spirituelles Niveau katapultiert. Reli‐ gion, Liebe, Lust, Ästhetik, Philosophie, Spiritualismus und Sinnlichkeit finden sich alle vereint in und bestimmt von Erotik. Inwieweit in der Vergangenheit über solche Aspekte mehr oder weniger deutlich gesprochen wurde, einschließlich der Sexualität und sogar der Porno‐ graphie, herrscht oftmals Unklarheit, weil man sich mit den relevanten Quellen nicht auseinandergesetzt hat, entweder aus Scheu vor heiklen Sujets, die sich dort finden, oder aus selbstverschuldeter Blindheit, denn gewisse Epochen sollen anscheinend allein von einer bestimmten Sichtweise her beurteilt werden. Dies trifft genauso auf das Mittelalter wie auf die Reformationszeit, auf den Barock und die Klassik zu. Die Literaturgeschichte hat uns da oftmals ziemlich starke Scheuklappen aufgesetzt. Betrachtet man sich z. B. die barocke Aneig‐ nung des Epithalamium an Palladius und Celerina von Claudius Claudianis (ca. 400 n. Chr.) durch Johann von Besser, Benjamin Neukirch, Christian Hölmanns und einen Anonymus, kann man nur staunen, wie drastisch die menschlichen Geschlechtsorgane und der ersehnte Koitus beschrieben und zugleich meta‐ phorisiert werden (vgl. dazu den Beitrag von Antonius Baehr). Zugleich gilt aber, dass sich die westliche Gesellschaft immer wieder vehe‐ ment gegen die öffentliche Behandlung von Erotik oder Sexualität gewandt hat, was zu einem wichtigen literarischen Thema gerade des 19. und 20. Jahrhunderts anwuchs, wobei doch nur natürliche menschliche Triebe unterdrückt wurden, wie die Werke von Frank Wedekind explizit zum Ausdruck bringen (vgl. dazu den Beitrag von Anja Manneck). Besonders problematisch ist dazu stets noch das literarische Bekenntnis zur Homosexualität gewesen, im Mittelalter weit‐ gehend vollständig unterdrückt, ja tabuisiert, selbst im 20. Jahrhundert mit großer Vorsicht gehandhabt, wie z. B. der Roman Lyrische Novelle (1933) von Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) gut veranschaulicht (vgl. dazu den Bei‐ trag von Karolina Rapp). In der modernen Großstadt wie Berlin während der 1920er Jahre gewann sie aber erheblich an Bedeutung, auch wenn sie in der Öffentlichkeit umstritten blieb (vgl. dazu den Beitrag von Marlene Frenzel). Wie es nicht anders zu erwarten war, spielt auch in der neuesten Literatur die Erotik bzw. das Sexuelle eine gewichtige Rolle, weil hierbei die eigene Iden‐ tität hinterfragt und neu ausgekundschaftet werden kann. Die Spannungen zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen oder einfach zwei Geschlechts‐ typen, um die Homosexualität bzw. Transsexualität mitzuberücksichtigen, kon‐ stituieren unablässig das Medium der Selbsterprobung, wie jetzt die polnischen Romane von Szczepan Twardoch eindringlich vor Augen führen (siehe dazu den Beitrag von Rafał Biskup). Gleichgeschlechtliche Liebe hat es immer gegeben, ist oft ein Teil der biolo‐ gischen Struktur des Menschen, auch wenn gerade die Kirchen stets heftig da‐ gegen gekämpft haben. Umso wichtiger ist das literarische Medium gewesen, in dem homoerotische Anliegen durchaus mehr oder weniger codiert häufiger zum Ausdruck gekommen sind. Wie auch immer, menschliche Kultur, Sprache (Logos) und Natur erweisen sich zutiefst von Erotik determiniert, wenn nicht sogar der Logos ein Ausdruck von Erotik sein dürfte, was uns dazu zwingen könnte, die Literaturgeschichte nach ganz anderen als den bisher verfolgten Kriterien (neu) zu schreiben, insoweit als die Sexualität allenthalben auftritt und eine viel wichtigere Rolle einnimmt, als es die Forschung noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wahrhaben wollte. Erotik dient vielmals als eine Brücke zwi‐ schen den Kulturen und ist häufig das Bindeglied zwischen fremden Gesell‐ 8 Albrecht Classen schaften gewesen, wie wir es u. a. in den Romanen Alfred Anderschs (1914-1980), der Renate Ahrens (geb. 1955) und Joseph Zoderers (geb. 1933) beobachten (zum letzteren vgl. den Beitrag von Verena Zankl und Irene Zanol). Die Liebe katapultiert das Individuum aus seinem vertrauten Lebensbereich, aber oftmals findet es sich dann selbst innerhalb der neuen Liebesbeziehung in einer spannungsreichen und konfliktgeladenen Situation. Ist denn Liebe als sol‐ ches nicht das Fremde schlechthin? Findet nicht derjenige, der liebt, Gott in sich selbst? In Krisenzeiten wie dem Ersten und Zweiten Weltkrieg intensivierte sich die Erotik beträchtlich, weil die Menschen angesichts des drohenden Todes dazu tendierten, traditionelle Normen zu vernachlässigen und danach strebten, im Hier und Jetzt sexuellen Gelüsten zu frönen. Polnische Romane, die den Ersten Weltkrieg behandeln, illustrieren dieses Phänomen in höchst eindrucksvoller Weise (vgl. dazu den Beitrag von Paweł Zimniak), aber wir entdecken es auch in der deutschen Barocklyrik (siehe die Beiträge von Wolfgang Brylla und An‐ tonius Baehr) oder im Zauberberg (1924) von Thomas Mann. Heinrich Witten‐ wilers Ring (ca. 1400) kommt uns hier genauso in den Sinn wie Bertolt Brechts Mutter Courage und ihre Kinder (1938 / 1939). Eros und Thanatos reichen sozu‐ sagen einander die Hände in der existentiellen Erfahrung von Extremen in der menschlichen Existenz. Szczepan Twardoch (geb. 1979) bietet jetzt ein gutes Beispiel dafür in seinem Roman Morphin (2012; siehe dazu die Studie von Rafał Biskup), in dem sozusagen das Goethesche Diktum vom ‚Ewigen Weiblichen‘ neu aufgegriffen und reflek‐ tiert wird. Die frühe Liebesdichtung von Rosa Ausländer (1901-1988), die von der Forschung oftmals eher ignoriert worden ist, vor allem weil sie diese Werke lieber nicht publiziert sehen wollte, verdient ebenfalls kritische Aufmerksam‐ keit, wie Oxana Matiychuk in ihrem Beitrag überzeugend belegt, denn wenn‐ gleich Ausländer, wie andere bukowinische Dichter ihrer Zeit, stark auf die romantische Tradition zurückgriff, gelang es ihr hier, fulminant die Liebeser‐ fahrung sprachlich anzusprechen und ausdrucksmächtig zu reflektieren. Hin‐ zuzufügen wäre auch die Gattung der Liebesbriefe, in denen sich die zwei Partner intensiv austauschen und ihre Gefühle formulieren - vgl. etwa die un‐ gemein aussagekräftigen Briefe zwischen Peter Abelard (gest. 1142) und seiner einstigen Geliebten, dann Ehefrau Heloise -, wie dies der Fall mit den erst jüngst veröffentlichten Briefen Gottfried Benns (1886-1956) an seine Geliebte Ursula Ziebarth war, von der aber nur drei Antwortschreiben an ihn erhalten sind (siehe dazu den Beitrag von Maciej Walkowiak in diesem Band). Benn pflegte diese Beziehung erst gegen sein Lebensende, obwohl er verheiratet war, aber dies entsprach seiner Lebensphilosophie allgemein, obwohl er dadurch immer 9 Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte 1 URL: http: / / www.bibel-online.net/ buch/ luther_1912/ hohelied/ 1/ . Die Bibel oder die Hei‐ lige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung Martin Luthers, Deut‐ sche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 1970 / 1982, S. 648. wieder einen Skandal auslöste. Für ihn war es aber eine zutiefst bewegende Erfahrung, im hohen Alter immer noch Liebe von einer viel jüngeren Frau zu erleben, was seine Vitalkräfte enorm steigerte. Zugleich aber ergaben sich, wo‐ rauf uns Walkowiak aufmerksam macht, sehr viele Spannungen zwischen Benn und Ziebarth, die intellektuell und sozial gesehen sich um einiges unterschieden. Liebe erweist sich also über alle Zeiten und in allen Kulturen als ein äußerst schwieriges Unterfangen, ungemein Glück vermittelnd, zugleich zutiefst Unzu‐ friedenheit, Frustration und sogar Zorn und Wut auslösend. Erotik und Sexualität haben aber immer unterschiedliche Reaktionen her‐ vorgerufen, wurden entweder idealisiert und sogar mystifiziert, wie wir es bei den Romantikern gut beobachten können (siehe dazu Friedrich Schlegels [1772-1829] Roman Lucinde [1799]; vgl. dazu den Beitrag von Andrey Kotin), oder grotesk physisch desavouiert, wie vor allem in der Moderne z. B. von El‐ friede Jelinek (geb. 1944) gestaltet. Beginnen wir aber chronologisch. Das Hohelied Salomos im Alten Testament setzt ein mit diesen erstaunlichen Versen: Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes; denn deine Liebe ist lieblicher als Wein. Es riechen deine Salben köstlich; dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe, darum lieben dich die Jungfrauen. Zieh mich dir nach, so laufen wir. Der König führte mich in seine Kammern. Wir freuen uns und sind fröhlich über dir; wir gedenken an deine Liebe mehr denn an den Wein. Die Frommen lieben dich. Und kurz darauf lesen wir: Da der König sich herwandte, gab meine Narde ihren Geruch. Mein Freund ist mir ein Büschel Myrrhen, das zwischen meinen Brüsten hanget. Mein Freund ist mir eine Traube von Zyperblumen in den Weinbergen zu Engedi. Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen. 1 Natürlich soll der Leser hier nicht erotisch erregt werden, aber diese Lieder aus der Zeit von ca. 300 vor unserer Zeitrechnung besitzen viele Ähnlichkeiten mit griechischer und ägyptischer Lyrik säkularer Herkunft und erfüllten daher si‐ cherlich einen doppelten Zweck: einerseits religiöse Metaphern für die Bezie‐ hung zwischen Mensch und Gott zu bieten, andererseits diese erotische Tradi‐ tion für den biblischen Diskurs funktionell zu machen. Wie dem auch sein mag, bestechen diese Verse durch ihre eindringliche Sprache, mit der das Liebesver‐ hältnis zwischen Mann und Frau höchst sinnlich beschrieben wird, und dies in 10 Albrecht Classen 2 Roy Gibson / Steven Green / Alison Sharrock (Hrsg.), The Art of Love: Bimillennial Essays on Ovid’s „Ars amatoria“ and „Remedia amoris“, Oxford University Press, Oxford, 2006. einem zutiefst religiösen Kontext, wo das Verhältnis zwischen dem göttlichen Liebhaber und dem Gläubigen erotisch ausgemalt wird. Erotik erweist sich mithin als ein Paradox, denn obgleich diese Energie materiell begründet zu sein scheint, ermöglicht sie dem Individuum, genau diese materielle Begrenztheit schnell zu überwinden und zu neuen Dimensionen aufzusteigen. Wir könnten aber noch weiter zurückschauen und z. B. die erotischen Pas‐ sagen in Homers Ilias identifizieren, um eine Bestätigung dafür zu finden, dass Erotik von Anfang an eines der Grundelemente jeglicher literarischen Aktivität gewesen sein dürfte (Entführung Helenas durch Paris nach Troja, was den nachfolgenden Trojanischen Krieg auslöste). Aus der römischen Klassik ist uns insbesondere das Meisterwerk von Publius Ovidius Naso bekannt, der die Grundlagen für die literarische Auseinandersetzung mit dem Universalthema ‚Liebe‘ schuf. Zwar starb Ovid um 17 n. Chr. in der Verbannung in Tomis am Schwarzen Meer - auch dies ist etwas umstritten - , aber zeit seines Exils konnte er weiter in Rom publizieren und so wichtige Werke wie seine Tristia und die Metamorphosen schreiben bzw. vollenden. Hier treten so bekannte Liebespaare wie Pyramus und Thisbe, Philemon und Baucis, Orpheus und Eurydike, Pyg‐ malion und Galatea und Leda und Medea auf, die der erotischen Phantasie in der westlichen Welt Tor und Tür geöffnet haben. Die Gründe für Ovids Ver‐ bannung mögen darin bestanden haben, dass er nach der Veröffentlichung seiner berühmten Abhandlung Ars amatoria ca. 2 n. Chr., in der das Verhältnis zwischen zwei Liebenden neu auf diskursive Weise ausgelotet wurde, indem er mehr oder weniger Gleichheit zwischen den Geschlechtern postulierte, seine Arbeit an dem Thema fortsetzte und schließlich seine Remedia amoris veröf‐ fentlichte, also seine Ratschläge, wie man die Gefahren und Verführungskünste von Liebe überwinden und hinter sich lassen könne. Wie die jüngere Forschung deutlich gemacht hat, diente der Bezug auf seine Remedia bloß als Vorwand, um die politischen Gründe für seine Verbannung zu kaschieren. 2 Ovid genoss aber seitdem das höchste Ansehen als Liebesdichter, auch wenn er schließlich eher satirisch die Kehrseite dieses Gefühls beschrieb. Etwas mehr als 1000 Jahre später verfasste dann der Kleriker Andreas Ca‐ pellanus seinen eigenen Traktat über die Liebe, Ars amatoria (ca. 1180-1190), der eine verblüffende Struktur aufweist, insoweit als zunächst definitorische Bemerkungen über Liebe und das richtige Alter der Liebenden geboten werden, darauf eine lange Reihe von Dialogen zwischen Mann und Frau, meist unter‐ schiedlichen Sozialstandes, die unterbrochen werden von geradezu juristischen 11 Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte 3 Albrecht Classen, „Andreas Capellanus aus kommunikationstheoretischer Sicht. Eine postmoderne Auslegung von ,De amore‘“, in: Mittellateinisches Jahrbuch, 29. 1, 1994, S. 45-60; ders, „Andreas Capellanus: Der große Experte auf dem Gebiet der Liebe - ein Satiriker, klerikaler Kritiker oder Philosoph? “, in: Ulrich Müller / Werner Wunderlich (Hrsg.), Künstler, Dichter, Gelehrte (Mittelalter-Mythen, 4), UVK, St. Gallen, 2005, S. 687-703. oder allegorischen Texten über die festen Regeln der Liebe außerhalb der Ehe. Zum Abschluss des zweiten Buches stoßen wir schließlich auf eine kurze artu‐ rische Erzählung, durch die der absolute Wert von Liebe im höfischen Rahmen erneut deutlich unterstrichen wird. Das Ergebnis besteht dann darin, dass die Gesetze, wonach sich die Liebenden richten müssten, in der ganzen Welt ver‐ breitet werden. Damit scheint jeder notwendige Aspekt angesprochen zu sein, aber das dritte Buch richtet sich auf einmal radikal gegen Liebe an sich und vor allem gegen Liebe außerhalb der Ehe, denn Gott habe diese streng verboten. Außerdem sei Frauen überhaupt nicht zu trauen, wie auch das Liebesstreben grundsätzlich abzulehnen sei. Bis heute fragt man sich daher in der Forschung, welche Intentionen der Dichter wirklich verfolgt haben mag, denn die Dialektik dieses Traktats stürzt uns mehr in Verwirrung, anstatt Aufklärung darüber zu vermitteln, wie das Phänomen der Liebe zu verstehen sei. 3 Zur gleichen Zeit entstand geradezu eine Flut an einschlägigen höfischen Liedern und Versromanen, in denen die verschiedensten Blickwinkel bezogen auf die Erfahrung in der Liebe (vor-, außer- und ehelich an sich) durchexperi‐ mentiert wurden. Mit am bekanntesten dürften die lais der Marie de France (ca. 1170-1190) oder der Tristan von Gottfried von Straßburg gewesen sein, wo eine höchst problematische Dreiecksbeziehung zur Sprache kommt, insoweit als Tristan und die irische Prinzessin Isolde, die aber mit dem König Marke von Cornwall, dem Onkel Tristans, verheiratet ist, eine heftige Liebesbeziehung miteinander pflegen, die soweit führt, dass sie schließlich vom Hofe verstoßen werden und in einer geheimen Liebesgrotte fern von jeglicher menschlichen Gesellschaft Zuflucht finden, wo sie gewissermaßen in eine Utopie geraten, ge‐ nießen sie ja genügend ihre gegenseitige Liebe und sind damit von allen kör‐ perlichen Bedürfnissen enthoben. Allerdings vermögen Tristan und Isolde nicht unbegrenzt dort zu verharren und sich an ihrer Idylle zu erfreuen, fehlt ihnen ja die Gesellschaft, und als sie zufällig von Marke entdeckt werden, der sich dabei erneut über ihre wahren Gefühle füreinander (freiwillig? ) täuschen lässt, kehren sie, weil ihnen die Erlaubnis gewährt wird, erneut an den Hof zurück. Die Utopie dauert nicht lang, aber in Cornwall bleiben die beiden Liebenden weiterhin erotisch unabwendbar aneinander gebunden, was schließlich zu 12 Albrecht Classen 4 Die Forschung zu diesem Versroman ist ungemein reich; siehe aber Tomas Tomasek, Die Utopie im ,Tristan‘ Gotfrids von Straßburg, Max Niemeyer, Tübingen, 1985; vgl. dazu die Beiträge in Christoph Huber / Victor Millet (Hrsg.), Der „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg: Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000, Max Niemeyer, Tü‐ bingen, 2002. 5 Peter K. Stein, Tristan-Studien, hrsg. von Ingrid Bennewitz, S. Hirzel, Stuttgart, 2001; Tomas Tomasek, Gottfried von Straßburg, Reclam, Stuttgart, 2007. 6 Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, 15., veränderte und um Fas‐ sungseditionen erweiterte Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns, hrsg. Thomas Bein, Walter de Gruyter, Berlin / Boston, 2013. Die Forschungstradition reicht mehr als 200 Jahre zu‐ rück; siehe aber Heike Sievert, Studien zur Liebeslyrik Walthers von der Vogelweide (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 506), Kümmerle, Göppingen, 1990; Horst Brunner / Gerhard Hahn / Ulrich Müller / Franz Viktor Spechtler, Walther von der Vogel‐ weide: Epoche - Werk - Wirkung, 2. Aufl., C. H. Beck, München 2009 [1. Aufl. 1996]. ihrem Unglück führt. 4 Marke ertappt sie schließlich in flagrante, was Tristan dazu zwingt, schnell abzureisen, ohne je zu seiner Geliebten zurückkehren zu können. Die sich anschließenden Komplikationen mit einer anderen Frau, eben‐ falls Isolde (Weißhand) genannt, mit der sich Tristan dann verheiratet, brauchen hier nicht gesondert diskutiert zu werden, reicht es ja hervorzuheben, mit wel‐ cher Intensität Gottfried die Erotik und Liebe im Leben von Tristan und Isolde auslotet und sie als den höchsten Wert für die höfische Gesellschaft hinstellt, so blasphemisch dies auch innerhalb des christlichen Weltbildes klingen mag. Aber bereits in seinem Prolog hatte Gottfried darauf aufmerksam gemacht, dass die Intention seiner Geschichte auf diejenigen in seinem Publikum zielt, die ein edles Herz und die nötige Tugendkraft besitzen, um den vorzustellenden Liebesstoff in seiner ganzen Paradoxie und Dialektik zu begreifen. 5 Nicht unbeachtet bleiben darf in diesem Kontext Walthers von der Vogel‐ weide berühmtes Lied Under der linden (Nr. 16 / L 39, 11), wo erotische Phantasie, Reflexionen über persönliche Erfahrungen intimster Art, Schamempfindung und Glückserfahrung in einzigartiger Weise eine Verbindung eingehen. 6 Nicht nur hat hier der Dichter eine weibliche Stimme gewählt, sondern zieht auch das Rollenspiel systematisch bis zum Ende durch, um ihre erotischen Erlebnisse vollständig im poetischen Gewand auszuformen. Wie sie berichtet, wartete ihr Geliebter bereits auf sie unter der Linde, dem klassischen Liebesbaum (so bereits bei Ovid), als sie sich verstohlen zur Wiese begab. Dort hatte er aus Blütenblät‐ tern und Gras eine Liebesstätte eingerichtet, wo sie sich beide miteinander ver‐ gnügten, wie die später daran Vorbeischreitenden deutlich am Eindruck, den ihre Körper hinterlassen haben, erkennen können. Erstaunlicherweise appelliert die Frauenstimme sogar an die Jungfrau Maria, deren Segen sie sich für diese Liebesbeziehung erwünschte (2. Strophe). Obwohl die Sängerin immer wieder darauf insistiert, dass es eine sehr private Affäre gewesen sei, und dass sie sich 13 Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte 7 Otfrid Ehrismann, „Ich het ungerne ,dicke bloz! ‘ geruefet: Walther von der Vogelweide, die Erotik und die Kunst“ in: Thomas Schneider (Hrsg.), Das Erotische in der Literatur (Gießener Arbeiten zur Neueren Deutschen Literatur und Literaturwissenschaft, 13), Peter Lang, Frankfurt am Main / Berlin, 1993, S. 9-28. Selten hat ein Philologe so kno‐ chentrocken, wenn auch gewiss wissenschaftlich solide, über dieses stark erotisch-vo‐ yeuristische Lied abgehandelt. schämen würde, wenn andere davon erfahren würden, was durch den onoma‐ topoetischen Refrain „tandaradei“ sehr eindringlich gespiegelt wird, erfahren wir doch nur zu deutlich, dass der Öffentlichkeit klar vor Augen geführt werden sollte, was hier geschehen war, denn „des wirt noch gelachet / inneclíche“ ( III , 4-5). Die Betrachter spotten nicht, sie lachen nicht hämisch, und sie drücken keinen Zynismus aus. Sie freuen sich inniglich, dass Liebe stattfand, erfüllt und in vollständiger Harmonie, wie der Augenschein unverkennbar vermittelt. Ob‐ wohl wir nicht vernehmen, wie sich die zwei Liebenden zueinander verhielten oder was sie miteinander trieben, erweist sich die ganze Szenerie als höchst erotisch und glückserfüllt: „Bî den rôsen er wol mac, / tandaradei, / merken, wâ mirz houbet lac“ ( III , 7-9). 7 Genauso macht sich dieses Phänomen in der ge‐ samten höfischen Literatur des hohen Mittelalters bemerkbar, ob wir die Trou‐ badourlyrik, den Minnesang, die Carmina Burana oder den Stil dolce nuovo berücksichtigen. Spielerisch wurde die sexuelle Anziehungskraft für erzieheri‐ sche und sozialisierende Zwecke eingesetzt und damit gesellschaftlich funktio‐ nalisiert. Wie diese große Faszination an Erotik innerhalb einer Gesellschaft, die zu dem Zeitpunkt bereits weitgehend von der christlichen Kirche durchdrungen war, so tiefgreifende Wurzeln fassen konnte, entzieht sich unserem Verständnis, aber die europäische Dichtung bietet über die Jahrhunderte hinweg eindring‐ liche Zeugnisse von der großen Bedeutung dieses Themas. Sowohl Wolfram von Eschenbach (Parzival, ca. 1205) als auch Dante (Divina Commedia, ca. 1320), sowohl Giovanni Boccaccio (z. B. Decameron, ca. 1350) als auch Geoffrey Chaucer (Canterbury Tales, 1400) stellten Liebesbeziehungen und -konflikte in den Mittelpunkt ihrer Werke, und jedesmal kommt auf sehr individuelle Weise zum Ausdruck, dass die Erotik als ein Katalysator von höchst komplexer Aus‐ sagekraft fungierte. Zur gleichen Zeit entstand die große Bewegung der euro‐ päischen Mystik, primär getragen von solchen Frauen wie Hildegard von Bingen (1089-1179), Mechthild von Magdeburg (gest. Ende des 13. Jahrhunderts), Mar‐ guerite de Porète (gest. 1310), Catarina di Siena (1347-1380), Julian of Norwich (ca. 1341-ca. 1416) oder Teresa da Ávila (1515-1582), die regelmäßig auf tradi‐ tionelle Bilder von höfischen Liebebeziehungen zurückgriffen, um ihre göttli‐ 14 Albrecht Classen 8 Peter Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter (Monographien zur Ge‐ schichte des Mittelalters, 23), Anton Hiersemann, Stuttgart, 1981; Peter Dinzelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters: Ein Studienbuch (de Gruyter Stu‐ dium), Walter de Gruyter, Berlin / Boston, 2012; Kurt Ruh, Geschichte der abendländi‐ schen Mystik, Vol. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, C. H. Beck, München, 1993. Auch hier ließe sich eine ganze Litanei weiterer einschlägiger Studien aufführen. 9 Einzelheiten dazu diskutiere ich in meinem Beitrag zu diesem Band; dort auch die ein‐ schlägige Forschung. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Wolfgang Brylla, der die hier verfolgte Thematik weit bis in den Barock fortführt und dort sogar stark pornographi‐ sche Aspekte entdeckt. Blickt man in die zeitgenössische Literatur in anderen Ländern, gibt es durchaus wichtige Parallelen z. B. in England; vgl. dazu Norbert Lennartz, My unwasht Muse: (De-)Konstruktionen der Erotik in der englischen Literatur des 17. Jahr‐ hunderts (Buchreihe der Anglia, 41), Walter de Gruyter, Berlin / New York, 2009. Vgl. auch Albrecht Classen, Sex im Mittelalter: Die andere Seite einer idealisierten Vergan‐ genheit, Wissenschaftlicher Verlag Bachmann, Badenweiler, 2011. Siehe auch Rüdiger Krohn, Der unanständige Bürger: Untersuchungen zum Obszönen in den Nürnberger Fast‐ nachtsspielen des 15. Jahrhunderts (Scriptor-Hochschulschriften: Literaturwissenschaft, 4), Scriptor Verlag, Kronberg i. Ts., 1974. chen Visionen zu umschreiben. 8 Erotik gewann hierbei eine ganz andere Be‐ deutung, insoweit als die physische Attraktion hin zu einer spirituellen führen sollte, womit Erotik zum Sprungbrett für religiöse Epistemologie umfunktio‐ niert wurde. Wie Cezary Lipiński in seinem Beitrag über Mechthild deutlich macht, erwies sich dabei oftmals die erotische Ausdrucksweise als effektives Medium, um die visionäre Gotteserfahrung auf epistemologische Weise sprachlich umzusetzen. Gerade weil Mechthild unbändig danach strebte, die apophatische Erfahrung systematisch zu analysieren und praktisch für sich selbst umzusetzen, sah sie sich immer wieder dazu gedrängt, sorgfältig kategoriale Konzepte der Liebe an sich zu entwickeln und diese für den Weg der Seele zu Gott hin anzuwenden. Im Grunde würde es schwerfallen, in der volkssprachlichen Literatur des Mit‐ telalters individuelle Werke zu finden, die nicht in einer oder anderen Art und Weise das Thema ‚Erotik‘ gestalten würden. Die jeweiligen Absichten und Ziele, die dabei verfolgt wurden, waren meist sehr unterschiedlich, ob religiös oder sexuell, aber das erotische Element an sich erweist sich geradezu als ubiquitär. Alle großen Sammelwerke mit Verserzäh‐ lungen (fabliaux, tales, novelle, mæren) oder Prosatexten (Schwänke) sind über‐ wiegend von erotischen Anliegen bestimmt, ohne dass eigentlich die Gefahr bestände, dass daraus plötzlich Pornographie oder Obszönität entstände, auch wenn wir Beispiele davon ebenfalls schon in der Literatur der Vormoderne finden können. 9 15 Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte 10 Herbert Van Uffelen (Hrsg.), Erotik in der europäischen Literatur: Textualisierung, Zensur, Motive und Modelle, Prasens Verlag, Wien, 2007; Christine Haug, unter Mitarbeit von Theresa Lang / Franz Adam (Hrsg.), Erotisch-pornografische Lesestoffe: Das Geschäft mit Erotik und Pornografie im deutschen Sprachraum vom 18. Jahrhundert bis zur Gegen‐ wart, Harrassowitz, Wiesbaden, 2015. 11 Siehe z. B. Wolfgang Beutin, Aphrodites Wiederkehr: Beiträge zur Geschichte der eroti‐ schen Literatur von der Antike bis zur Neuzeit, Peter Lang, Frankfurt am Main / Berlin, 2005. Es fällt freilich nicht leicht, sich in dieser Abhandlung zurechtzufinden, die sich gar nicht so sehr auf erotische Literatur bezieht, sondern sexuelle Motive aufgreift und diese bloß stichpunktartig behandelt: Aphrodite, Prostituierte, Don Juan, die Kriegerin und Transvestismus. Dies ist sowohl literarhistorisch als auch theoretisch etwas prob‐ lematisch und zu diffus, um wesentliche neue Erkenntnisse daraus zu gewinnen. Die Gründe für dieses konsistente Phänomen lassen sich mühelos aufzählen, ohne dass wir jemals ganz erschöpfend damit zurande kämen. Die erotische Attraktion zwischen den Geschlechtern - im Falle der Homosexualität zwischen den gleichen Geschlechtern, was hier durchgängig so verstanden werden soll - hat stets noch das menschliche Leben bestimmt, denn ohne sie käme es kaum zur Fortpflanzung. Die Erotik wäre als das Vorspiel zu bezeichnen, worauf dann die Sexualität folgt, und Dichter aller Zeiten haben stets noch intensiv darauf Rücksicht genommen, was schon vielfach in Spezialuntersuchungen zur Sprache gekommen ist. 10 Ein außerordentlich eindrucksvolles Beispiel aus der Romantik liegt uns mit Friedrich Schlegels Lucinde (1799) vor, wo die erotische Verführung der eigentlich sehr willigen Frau in höchst eindringlichen Dialogen vonstatten geht (vgl. dazu den Beitrag von Andrey Kotin). Im Vergleich zu den Gesprächen in Andreas Capellanus‘ De amore (ca. 1180-1190) gelingt es dem männlichen Sprecher, mittels seiner sprachlichen Strategien zum Ziele seiner Wünsche zu gelangen, die aber weit über dem Sexuellen darin bestehen, die Unterschiede zwischen Mann und Frau aufzuheben und im Erotischen die uni‐ versal-göttliche Vereinigung zu erreichen, was explizit dem bürgerlich-realisti‐ schen Ethos zuwiderstrebte und für viele Zeitgenossen als äußerst skandalös erschien. Erotik und Sexualität spielten also sowohl im Barock als auch in der Ro‐ mantik, sowohl in der Klassik als auch im Realismus gewichtige, wenn nicht zentrale Rollen. Wem wäre nicht Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) bekannt? Und von hier kann man mühelos zu Robert Musils Roman Mann ohne Eigenschaften (1930 ff.) springen, oder auf den Bestseller Der Vorleser von Bernhard Schlinck (1995) eingehen. Die Welt, wie sie in den Ro‐ manen oder Dramen, in den Gedichten oder Balladen vor unsere Augen tritt, ist von Liebessehnsucht und Liebeserfüllung bestimmt. 11 Das gleiche lässt sich ge‐ nauso gut für die Literaturen anderer europäischer Länder konstatieren (vgl. 16 Albrecht Classen 12 Karl Kurt Klein (Hrsg.), Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, 4., grundlegend neu bearb. Aufl. von Burghart Wachinger (Altdeutsche Textbibliothek, 55), Walter de Gruyter, Berlin / Boston, 2015, S. 193-195 [1. Aufl. 1962]. Szczepan Twardochs Morphin, 2012), und der Sprung nach Indien oder Japan auf der Fährte nach dem selben Phänomen erweist sich dann als genauso mü‐ helos. Zu fragen wäre aber sofort, ob es sich überall und zu allen Zeiten um dieselbe parallele menschliche Erfahrung handelt, ob wir also tatsächlich Gemeinsam‐ keiten bei der Auseinandersetzung mit dem Erotischen feststellen können. Worum handelt es sich bei Erotik an erster Stelle? Natürlich ändert sich dies von Mensch zu Mensch, von Gesellschaft zu Gesellschaft, von kultureller Epoche zur nächsten. Barockdichter haben auf ihre eigene Art das erotische Element in ihrer Lyrik eingesetzt und so dem Thema ihren eigenen Stempel aufgeprägt. Erotik in der Romantik war individuell anders als in der Klassik, und moderne Dichter des 20. und 21. Jahrhunderts bedienen sich neuer, idiosynkratischer Bilder und Interessen, um ihr erotisches Anliegen zu formulieren. Allen gemeinsam bleibt aber, dass die erotische Kraft das Bindeglied zwischen den Geschlechtern aus‐ macht und dass gerade das poetische Wort dazu dient, dem esoterischen, zu‐ gleich aber auch so physisch relevanten Phänomen Ausdruck zu verleihen. Wählen wir zwei scheinbar sehr weit auseinander liegende Beispiele zum Vergleich und zur Illustration. In einigen der Lieder Oswalds von Wolkenstein (1376 / 77-1445) vernehmen wir von Badefreuden, die er mit seiner frisch ge‐ trauten Frau Margaretha von Schwangau genießt. Obwohl das Lied Kl. 75 Wol auff, wol an offensichtlich mehr für den Privatgebrauch gedacht gewesen sein mag, gehört es trotzdem zu den öffentlich präsentierten Liedern, die in seinen beiden Prachthandschriften A und B (Pergament), später auch in der Papier‐ kopie c, enthalten sind. 12 Mehr noch als jemals zuvor sehen wir uns in eine höchst intime, zugleich extrem erotische Situation versetzt, denn das junge Ehepaar vergnügt sich in einer Badewanne, die offensichtlich auf einer Wiese aufgestellt worden ist. Nach einem intensiven, wenngleich immer noch topi‐ schen Natureingang, in dem die Vogelschar die frühlingshafte Umwelt bejubelt, melden sich Oswald und Margarethe zu Wort, die sich begeistert gegenseitig berühren und sexuell erregen: „,wascha, maidli, / mir das schaidli! ‘ / ‚reib mich, knäblin, / umb das näblin! / hilfst du mir, / leicht vach ich dir das rätzli‘“ (34-39). In der folgenden, dritten Strophe bewegt sich der Blick weg von der Badewanne hin zu den Pflanzen und Geschöpfen auf der Wiese, wo überall Freude und Zufriedenheit herrschen, weil der Winter verschwunden ist und dem lieblichen Mai gewichen ist, worauf alles wieder zu wachsen und zu sprießen beginnt. 17 Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte 13 Albrecht Classen, Sex im Mittelalter, 2011, S. 80-85; vgl. dazu Ulrich Müller, „Die Lieder Oswalds von Wolkenstein mit erotischer Thematik und das Problem der (auto)biogra‐ phischen Interpretation“, in: Ulrich Müller / Margarete Springeth (Hrsg.), Oswald von Wolkenstein: Leben - Werk - Rezeption, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 2011, S. 213-223. Erotik und Sexualität durchdringen diese Welt, die kaum deftiger beschrieben werden könnte, ohne ins Obszöne abzugleiten. Beim folgenden Gedicht, Kl. 76 Ain graserin durch küelen tou, wird man dies aber nicht mehr so sicher betonen wollen, denn der Dichter bedient sich nun einer kaum noch verhüllten Metaphorik, insoweit als die Arbeit beim Heuma‐ chen direkt zum sexuellen Austausch überspringt: „Ain graserin durch küelen tou / mit weissen blossen füesslin zart / hat mich erfreut in grüener ou; / dast ir sichel braun gehart“ (1-4). Nachdem der Liebhaber ihr geholfen hat, das Gatter zu richten - eine Metapher, die sich mühelos in ihrer Anspielung ausdeuten lässt -, bemerkt er, dass ihm die Zeit lang wird und es ihn danach dürstet, ihr erneut seinen Dienst anzubieten: „mein häcklin klain hett ich ir vor / embor zu dienst gewetzet, / gehetzet, netzet; wie dem was, / schübren half ich ir das gras“ (14-17). Während sich die beiden dann zusammentun, d. h. miteinander kopu‐ lieren, fordert er sie dazu auf, tüchtig mitzumachen: „,zuck nicht, mein schatz! ‘ simm nain ich, lieber Jensel‘“ (18), und so geht es dann noch eine ganze Strophe weiter. 13 Hat Oswald dabei die Grenze zum Anstand durchbrochen oder ein Meisterwerk der erotischen Lyrik geschaffen? Wer hieran Anstoß nehmen möchte, dem steht dies ganz frei zu, aber es würde nichts an dem hohen Ansehen ändern, dass Oswald genau für diese und andere Lieder genießt, weil sie so frisch autobiographisch wirken und die Dinge schlicht beim Namen nennen. Außerdem wäre zu bedenken, wie umfangreich zeitgenössische Dichter in Verserzählungen (mæren) auf Erotik und Sexualität eingingen, ob wir an Geo‐ ffrey Chaucer, Heinrich Kaufringer, Franco Sacchetti oder Poggio Branchetti denken. Einige Beispiele kommen in meinem eigenen Beitrag gesondert zur Sprache, in dem ich aufzeige, inwieweit spätmittelalterliche Dichter auf euro‐ päischer Ebene darum bemüht waren, Liebeslust, eheliche Liebe, persönliche Ehre, Geldgier und Profitstreben, Identitätsschwächen gerade männlicher Pro‐ tagonisten und sozialen Machtkampf zu thematisieren, fast so, als ob sie über unsere eigene Zeit vorausschauend geschrieben hätten. II Eine Gruppe von Beispielen aus der Zeit der Anakreontik, die Gedichte von Friedrich Hagedorn (1708-1754), bietet uns die Möglichkeit, sowohl die Wand‐ 18 Albrecht Classen 14 Hagedorns Poetische Werke (Sammlung der besten deutschen prosaischen Schriftsteller und Dichter, 16), Gottlieb Schmieder, Karlsruhe, 1775), Erstes Buch, S. 138. Die For‐ schung zu Hagedorn ist nicht sehr umfangreich; siehe z. B. Reinhold Münster, Friedrich von Hagedorn: Dichter und Philosoph der fröhlichen Aufklärung, iudicium, München, 1999; Ulrike Bardt, Literarische Wahlverwandtschaften und poetische Metamorphosen: Die Fabel- und Erzähldichtung Friedrich von Hagedorns, J. B. Metzler, Stuttgart / Weimar, 1999, vor allem S. 200-221. lungen als auch die Kontinuitäten in der erotischen Lyrik wahrzunehmen, wäh‐ rend Wolfgang Brylla Einschlägiges zur Barocklyrik beitragen wird, in der viel mehr deftige Erotik, ja Pornographie zu finden ist, als man gemeinhin vermuten würde. Stark auf die klassische Antike zurückgreifend (Horaz, Ovid etc.) operiert Hagedorn laufend mit erotischen Anspielungen, ohne dabei jemals schlüpfrig zu werden, auch wenn die Aussagen ziemlich eindeutig erotisch gezeichnet sind. In dem besonders bekannten humorvollen Gedicht Die Küsse (in Fabeln und Er‐ zählungen, Erstes Buch, zuerst gedruckt 1738) erfahren wir, dass sich Elisse jeden Kuss, den sie ihrem Geliebten Coridon gewährt, mit dreißig Schafen bezahlen lässt. Sie gewinnt Geschmack daran und begehrt nun selbst, von Coridon ge‐ küsst zu werden, so dass er dreißig Küsse für ein Schaf erwirbt. Allerdings er‐ kalten dann bei ihm die Gefühle, was für sie bedeutet, dass sie ihm alle Schafe zurückgeben muss, um überhaupt noch einen Kuss von ihm geschenkt zu be‐ kommen. Zuletzt aber geht dieses Liebesverhältnis in die Brüche, weil sich Co‐ ridon einer neuen Dame zugewendet hat, einer Doris, der er kostenlos seine Küsse gewährt. 14 Mit am intensivsten mag aber Hagedorn der musa iocosa ge‐ frönt zu haben, als er das Gedicht Der Blumenkranz verfasste, in dem wir erneut auf zwei Liebende stoßen, die sich in freier Natur aufhalten und miteinander zu schäkern beginnen, was schließlich zu den letzten erotischen Freuden führt, über die das poetische Wort aber verschwiegen wird: „Hier schließt sich Buch und Wald / sie huelfreich zu verstecken“ (Erstes Buch, S. 148). Ganz ähnlich wie bei Walther bekommen wir freilich nur Andeutungen mit‐ geteilt, denn Hagedorn gelingt es genauso gut wie seinen Vorläufern, die Erotik in der Schwebe zu halten, wenn er zum Abschluss formuliert: Man glaubt / sie thaten dieß / was einst Aeneas that / Als Dido und der Held in einer Hoehle waren. Was aber thaten die? Wer das zu fragen hat / Der ist nicht werth, es zu erfahren. (S. 148). Hagedorn bietet die gesamte Palette einschlägiger poetischer Sinnbilder und Motive, Themen und Stoffe auf, um sein Anliegen, Liebe, sexuelle Erfüllung, physische Freuden, Gesang und körperliche Schönheit zu besingen und wird 19 Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte 15 Seine Kritiker äußerten allerdings damals schon heftige Worte gegen ihn, vgl. dazu Bardt, Literarische Wahlverwandtschaften, S. 217-218. Auch in der englischen Renais‐ sance-Dichtung vom späten 16. und 17. Jahrhundert begegnen wir diesem Phänomen, wenngleich unter dem Deckmantel der religiös-mystischen Reflexion. John Donne (1572-1631) formulierte erstaunlich erotische Gedichte, um seine tiefreligiösen Vor‐ stellungen über Gott auszudrücken und einen Vorgeschmack auf die Erfahrung der Seele im Himmel zu vermitteln. Vgl. dazu jetzt Bernard McGinn, Mysticism in the Re‐ formation: (1500-1650) (The Presence of God: A History of Western Christian Mysticism, 6), The Crossroad Publishing Company, New York, 2016, S. 218-228. Vgl. dazu meine Rezension, demnächst in Sixteenth-Century Journal. 16 Goethes Sämtliche Werke, Bd. 6, Propyläen Verlag, Berlin, 1923, S. 24-41; siehe dazu on‐ line URL: http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ -3666/ 1 (letzter Zugriff am 11. Dezember 2016). 17 Klaus Adomeit, Ovid über die Liebe: sein Lehrgedicht „Ars amatoria“ - erläutert mit Hin‐ weisen auf Goethes Römische Elegien (Heidelberger Forum, 107), C. F. Müller, Heidelberg, 1999. damit zu einem der hervorragendsten erotischen Dichter seiner Zeit. Die Antike wirkte natürlich stark auf ihn ein, aber er besticht noch heute durch seine un‐ bändige Lust daran, das Leben in vollen Zügen so zu genießen, dass die Erotik zwar voll ausgeschöpft werden kann, aber ohne die Grenzen des öffentlichen Anstands zu übertreten. 15 Und von hier könnten wir mühelos auf viele zeitge‐ nössische deutsche, französische, italienische oder auch außereuropäische Au‐ toren ausgreifen, ohne zu wesentlich anderen Ergebnissen zu kommen, denn der erotische Diskurs übte allenthalben zutiefst Attraktion aus, wurde aber von Epoche zu Epoche unterschiedlich ausgeprägt. III Springen wir von hier zu Goethes Römischen Elegien, die während seines Auf‐ enthalts in der Ewigen Stadt und auf der Reise durch Italien 1786-1788 bzw. unmittelbar im Anschluss daran entstanden sind. Bereits die erste Elegie endet mit den vielsagenden Versen: „Eine Welt zwar bist du, o Rom; doch ohne die Liebe / Wäre die Welt nicht die Welt, wäre denn Rom auch nicht Rom“. 16 In der zweiten Elegie betont er sogleich, welch attraktive Position er bei der römischen Geliebten einnimmt, im Gegensatz zu den Einheimischen: „Mutter und Tochter erfreun sich ihres nordischen Gastes, / Und der Barbare beherrscht römischen Busen und Leib“. Mit deutlichem Rückgriff auf die römische Antike, d. h. wie‐ derum auf Ovids Metamorphosen  17 , hebt Goethe in der dritten Elegie das dort gebotene Vorbild für die unerwartete und überwältigende Liebeserfahrung, die sich aus der günstigen Gelegenheit ergibt, wie die vierte Elegie umschreibt, hervor. 20 Albrecht Classen 18 URL: http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ romische-elegien-3666/ 5 (letzter Zugriff am 11. Dezember 2016). Für kritische Kommentare siehe, z. B. Frank Hofmann, Goethes Rö‐ mische Elegien: Erotische Dichtung als gesellschaftliche Erkenntnisform, M & P, Stuttgart 1994; Niklas Holzberg, Die römische Liebeselegie: eine Einführung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2015. 19 Verena Neumann, Erotik in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (Epistemata. Würz‐ burger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft, 615), Könighausen & Neumann, Würzburg, 2008, S. 19. Der Höhepunkt ist aber erst in der fünften Elegie erreicht, wo Goethe davon berichtet, wie er zwar tagsüber durch Rom streift und die klassische Antike studiert, nachts aber bei der Geliebten liegt und durch die lustvolle Erfahrung mit ihr wesentlich tiefere Erkenntnisse gewinnt als alle theoretischen Studien es ihm sonst ermöglichen würden. Stärkste Sinnlichkeit durchglüht ihn, die es ihm erst ermöglicht, die ästhetische Dimension der alten Ruinen zu begreifen und poetisch selbst schöpferisch zu werden: „Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens / Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab? / Dann versteh ich den Marmor erst recht: ich denk und vergleiche, / Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand.“ 18 Unverhüllt und ganz selbstbewusst entwirft der Dichter ein Glückserleben höchst erotischer Art, wobei die Schön‐ heit des nackten Frauenkörpers unmittelbar mit der Schönheit der antiken Skulpturen in Verbindung gebracht wird und die erotische Empfindung als An‐ lass für eine ganze Kette an kreativen Leistungen dient. Der Dichter selbst vermag so erst vollständig die Ideen der Antike zu begreifen und auf diesem Wege innovativ neue Verse zu schaffen. Erotik entpuppt sich damit als ein we‐ sentliches Instrumentarium für die Schaffung neuer Lyrik, neuer Kunst und für die Entwicklung eines neuen Weltverständnisses. In Bezug auf moderne eroti‐ sche Gedichte definiert Veronika Neumann daher das erotische Element fol‐ gendermaßen: das nachhaltig Affizierende, d. h. das durch die Gestaltung des Gedichtes auf die Le‐ senden spezifisch erotisch Wirkende, zweitens eine Mittlerstellung des Erotischen zwischen den Bereichen Liebe und Sexualität, drittens der zugleich verhüllende und enthüllende sprachliche Schleier und viertens ein eingeschriebenes Streben. 19 Wie wir oben bereits gesehen haben, lässt sich genau diese Begriffsbestimmung auch auf die Werke der älteren Literaturgeschichte übertragen, womit interes‐ sante Gemeinsamkeiten kulturhistorischer Art zwischen allen Epochen auf‐ treten. Die Sprache, die Bildlichkeit, die äußeren Umstände, die Freiheit, mit der erotische Aspekte ausgedrückt werden, die Freude am Erotischen schlechthin usw. mögen alle immer etwas unterschiedlich gewesen sein, aber die mensch‐ liche Natur ist von jeher erotisch geprägt und bedarf des erotischen Gefühls, um 21 Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte 20 Schwester Monika: E. Th. A. Hoffmann zugeschrieben (orig. 1815), Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg, 1981. Zuerst nachgedruckt von Gustav Gugitz 1910, ND 1965. sich voll zu entfalten und die ganze Potenz auszuleben. Der poetische Diskurs bot sich schon immer außerordentlich fruchtbringend für dieses Phänomen an, wie die verschiedenen Studien in unserem Band vor Augen führen. Der Grat, den wir bei der Diskussion von Erotik beschreiten, erweist sich jedoch als schmal und droht, uns leicht bei einem Fehltritt in den Abgrund ab‐ stürzen zu lassen, was nicht unbedingt ein Werturteil darstellen soll. Der Fall von E. T. A. Hoffmanns (? ) Roman Schwester Monika (1815) illustriert dies ein‐ dringlich, denn an sich befinden wir uns hier schon auf dem Gebiet der Porno‐ graphie, so wenn an einer Stelle zu lesen ist: „Er zog ihr die zarten kleinen Lenden voneinander und befriedigte seine Lust so vollständig, als es ihm nur möglich war“ (S. 9), oder: „Ehe noch Franziska sich zu besinnen vermochte, stand sie schon mit nackendem Untertheil vor dem weiblichen Areopag, der, entzückt über die Schönheit ihres Hinterns, mit einem dreymaligen Händeklatschen sein Lob aussprach“ (S. 15). 20 Friedrich Schlegels Lucinde (1799) hingegen stellte den Versuch dar, das Ero‐ tisch-Sexuelle mit dem Göttlichen zu verschmelzen, was freilich erneut viele im zeitgenössischen Publikum brüskierte (vgl. dazu Andrey Kotins Aufsatz). Der Dichter projizierte jedoch zugleich eine selbständig agierende weibliche Prota‐ gonistin, die selbst bestimmt, wie sie sexuelle Lust erfahren will. Wollten wir aber diese Texttradition weiter verfolgen, kämen wir sofort vom Hundertsten zum Tausendsten, denn sexuell-orientierte Literatur gibt es in Hülle und Fülle bis in die unmittelbare Gegenwart, wie es z. B. der neue Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens Setz (2015) illustriert, in dem das Sexuelle in der Balance zwischen Normalität und Anormalität austariert und der sexuelle Trieb als Urgrund im menschlichen Dasein dargestellt wird (siehe dazu den Beitrag von Maciej Jędrzejewski; vgl. dazu auch die Studie von Rafał Biskup über den oberschlesischen Autor Szczepan Twardoch). Wahre Erotik zeichnet sich hingegen durch die kunstsinnige Verhüllung, das Spiel mit der Andeutung aus und verliert sich nicht in drastischer, rein körperlicher Reflexion über die menschliche Kopulation, was ins Gebiet der Pornographie gehört, die z. B. von Charlotte Roche in erstaunlicher und frecher Art und Weise in ihrem Roman Feuchtgebiete (2014) gestaltet wird. Gehört dies noch zur ‚gehobenen‘ Literatur, oder handelt es sich bereits um einen trivialen Text komerzieller Aus‐ richtung? Durchforsteten wir die verschiedensten Anthologien mit Lyrik oder Prosa, relevante literarische Zeitschriften oder selbständige Publikationen, würden wir 22 Albrecht Classen 21 Neumann, Erotik in der deutschsprachigen Lyrik; vgl. dazu Haug, Erotisch-pornografische Lesestoffe; Werner Schüßler; Marc Röbel (Hrsg.), Liebe - mehr als ein Gefühl: Philoso‐ phie - Theologie - Einzelwissenschaften, Ferdinand Schöningh, Paderborn, 2016. 22 URL: http: / / www.deutsche-liebeslyrik.de/ manuskript/ manuskript2/ manuskript2.htm; URL: http: / / www.lyrik-lesezeichen.de/ gedichte/ erotische_gedichte.php (letzter Zugriff am 13. Dezember 2016). Zu Karl Marx siehe jetzt Uwe Wittstock, „Karl Marx: ‚Men‐ schenleben‘“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 11. Juni 2017: http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ frankfurter-anthologie/ frankfurter-anthologie-karl-marx-menschenleben-15053862.html. auf eine große Zahl von mehr oder weniger erotischen Beispielen stoßen, und dies aus praktisch allen Epochen der Neuzeit. Verena Neumann macht u. a. auf Else Lasker-Schüler, Rosa Ausländer (vgl. dazu Oxana Matiychuk), Gottfried Benn (siehe die Untersuchung von Maciej Walkowiak), Marie Luise Kaschnitz oder Günter Kunert aufmerksam 21 , und wir könnten nun viele weitere Namen hinzufügen, denn das Thema ‚Erotik‘ erweist sich als unerschöpflich, als uni‐ versal und zeitlos und hat sich stets schon in Dichtung und anderen literarischen Werken niedergeschlagen. Sowohl im Druck als auch online finden sich immer weitere Gedichte und andere Texte, die stark durch Erotik geprägt sind und diese mysteriöse aber zentrale Erfahrung im menschlichen Leben gestalten, ob wir an Christian Morgenstern (1871-1914), Theodor Storm (1817-1888), Rainer Maria Rilke (1875-1926), Klabund (1890-1928) oder eine ganze Menge zeitgenössi‐ scher Dichter denken. Selbst vom jungen Karl Marx (1816-1883) ist eine große Zahl von Liebeslyrik bekannt, obgleich deren Qualität eher zu bezweifeln wäre, zeigt sich ja hier dieser später so berühmte Denker als ein Epigone durch und durch, der die späte Romantik in seinen Dichtungen explizit wieder aufleben lässt. 22 In der Literatur des Berlins während der Weimarer Republik dominierten Themen wie Prostitution, Vergewaltigung und Homosexualität, denn Sinnlich‐ keit und Erotik spielten eine zentrale Rolle (vgl. dazu die Beiträge von Marlene Frenzel und Arletta Szmorhun). Durchaus nachvollziehbar war wegen der schweren Lebensbedingungen Erotik im öffentlichen Diskurs nach dem Zweiten Weltkrieg weniger relevant oder präsent, aber die gründliche Durchsicht ein‐ schlägiger Publikationen beweist, dass zumindest seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein neues Interesse an und Bewusstsein von Erotik zum Vor‐ schein kam, so wenn wir an Marie Luise Kaschnitz (1901-1974), Günter Kunert 23 Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte 23 Wolfgang Braune-Steininger, „Erotik in der deutschen Nachkriegslyrik“, in: Thomas Schneider (Hrsg.), Das Erotische in der Literatur (Gießener Arbeiten zur Neueren Deut‐ schen Literatur und Literaturwissenschaft, 13), Peter Lang, Frankfurt am Main / Berlin, 1993, S. 177-194; vgl. auch die Beiträge in Christina Kalkuhl / Wilhelm Solms (Hrsg.), Lustfallen: Erotisches Schreiben von Frauen, Aisthesis Verlag, Bielefeld, 2003. 24 Steffen Jacobs (Hrsg.), Liederlich! Die lüsterne Lyrik der Deutschen, Eichborn, Berlin, 2008. (geb. 1929), Karl Krolow (1915-1999), Erich Fried (1921-1988) oder Ulla Hahn (geb. 1946) denken. 23 Warum aber fühlen sich so viele Dichter und Autoren von dem Thema ‚Erotik‘ zutiefst angesprochen und gestalten dann Texte darüber? Eine fast töricht zu nennende Frage, die genauso wenig zu beantworten sein wird wie die nach der Relevanz von Tod, nach Gott oder nach dem Sinn des Lebens. Die menschliche Kreatur ist eben wesentlich von dem Bedürfnis durchdrungen, solche esoteri‐ schen und doch tangiblen Phänomene sprachlich umzusetzen, womit die eigene Phantasie beflügelt wird und sich freier zu bewegen vermag. 24 Natürlich steht das Verlangen nach Genuss dahinter, imaginiertem oder re‐ alem, und die poetische Aussagekraft dient dazu, den kruden physischen Sexu‐ alakt zu überhöhen und ästhetisch zu steigern, wobei zugleich Glücksempfin‐ dung hinzukommt, oft auch religiöse Vision, denn die erotische Kraft transformiert den Menschen und lässt ihn zu einem neuen Wesen heran‐ wachsen. Kein Wunder, dass sich der Liebesdiskurs mit dem damit eng verbun‐ denen Prostitutionsdiskurs des 20. Jahrhunderts überschneidet, wie er von Hans Fallada und Hans Werner Richter in ihren Romanen behandelt wird (vgl. dazu den Beitrag von Arletta Szmorhun). Andererseits gehört das unendliche Sehnen nach sexueller Erfüllung dazu, was Dichter stets noch dazu angetrieben hat, mehr oder weniger deutliche ero‐ tische Anspielungen oder sogar derb-deftige Bemerkungen in ihre Werke ein‐ zuflechten (vgl. dazu den Beitrag von Wolfgang Brylla über die Barockdichtung). Dass in der neuesten Literatur auch anti-heteronormative Vorstelllungen von sexueller Identität zur Sprache kommen, wie Marta Wimmer in ihrem Beitrag dokumentiert, braucht dabei nicht mehr zu überraschen. Erotik nimmt schlichtweg immer und überall zentrale Bedeutung ein und spiegelt zugleich sozial-historische Veränderungen und sich neu austarierende Verhältnisse zwi‐ schen den Geschlechtern (hetero-, homo-, trans- oder intersexuell) wider. Daher soll hier zu guter Letzt noch das älteste erotische Lied der deutschen Literaturgeschichte angesprochen werden, um zu demonstrieren, um welch zeitloses und universales Thema es sich wirklich handelt und dass es unsinnig ist, aus modernistischer Sicht die Augen vor Dichtungen der Vormoderne zu 24 Albrecht Classen 25 Des Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. 38., erneut revidierte Auflage, Nr. VIII, Hirzel, Stuttgart, 1988, S. 21. verschließen. Selbst im vermeintlich so dominierend christlichen Mittelalter genossen die Menschen erotische und sexuelle Beziehungen, und die christliche Kirche war keineswegs in der Lage, hier einen festen Riegel vorzuschieben, pflegte man ja selbst im monastischen Kontext die ovidische Tradition im Sprachunterricht (vgl. dazu die Carmina Burana, ca. 1220 / 1240). Unter den namenlosen Liedern in der berühmten Sammlung Des Minnesangs Frühling finden wir auch den bezaubernden Sechszeiler Dû bist mîn, ich bin dîn, der den Schluss eines lateinischen Liebesbriefes wahrscheinlich einer Frau auf Blatt 114v der ehemals Tegernseer Pergamenthandschrift clm 19411 der Ba‐ yerischen Staatsbibliothek München bildet. 25 Die Frauenstimme beschwört den Geliebten darauf, dass sie beide eine Einheit bildeten, denn der andere sei fest in ihr Herz eingeschlossen, aus dem er niemals mehr herauskommen werde: „verlorn ist daz sluzzelîn: / dû muost ouch immêr darinne sîn“ (V. 5-6). Die poe‐ tische Stimme ist bestimmend, drängend, versprechend und zärtlich zugleich. Die Liebesempfindung ist hier im Herzen angesiedelt, und genau dort sollen sich die beiden Personen treffen und dann nie mehr sich daraus entfernen. Die Sän‐ gerin projiziert Glücksempfindung, aber sie drückt auch eine gewisse Besorgnis aus, denn der Geliebte befindet sich ja noch nicht im Herzen, soll erst dorthin gelockt werden; oder, anders gesehen, er befindet sich bereits dort - „dû bist beslozzen“ (V. 3) -, und soll jetzt nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Vereinigung der zwei Geliebten bereits geschehen sei, ein Zurück gebe es jetzt nicht mehr, denn der Schlüssel, der das Schloss zum Herzen öffnen könnte, sei verloren gegangen. Trotz des hohen Alters dieser Tegernseer Verse sprechen sie uns bis heute unmittelbar an, schwingen voller Erotik, Hoffnung und Glück, deuten aber zu‐ gleich die potentielle Gefährdung dieser Liebesbeziehung an. Nirgends macht sich sexuelle Thematik erkennbar, wenngleich diese sicherlich mitzudenken wäre, während die reine Liebesempfindung, also das Sehnen danach, mit der geliebten Person innig verbunden zu sein und zu bleiben, das ganze Gedicht beherrscht. Damit ist bereits damals die reine Erotik in höchster ästhetischer Form ausgedrückt worden. Der Dichter oder die Dichterin hat insoweit von vornherein der deutschsprachigen Literaturgeschichte einen bemerkenswerten Stempel aufgedrückt und explizit betont, wie zentral Erotik für alle poetischen Anstrengungen sei. Hans Castorp und Madam Clavdia Chauchat in Thomas Manns Der Zauber‐ berg (1924) bzw. Ulrich und Agatha in Robert Musils Der Mann ohne Eigen‐ 25 Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte schaften (1930-1943) hätten dem ohne weiteres zugestimmt, vor allem weil sie, wie Elisa Meyer in ihrem Beitrag bestätigt, durch ihre inzestuöse Beziehung eine neue Stufe der Erotik erzielen, die quasi religiös-sexueller Art zu sein scheint. Das Körperliche wird aber nicht ausgelebt, weil der sprachliche Austausch erst recht zur Intensivierung ihrer Gefühle füreinander beiträgt. Zugleich be‐ obachten wir die Entwicklung von literarischen Reflexionen über transnorma‐ tive erotische und sexuelle Beziehungen in den Werken neuester Autoren wie Matthias Hirth, Cornelia Jönnson und Jürgen Lodemann (vgl. dazu den Beitrag von Marta Wimmer). In der polnischen Literatur, die den Ersten Weltkrieg behandelt, treten be‐ merkenswert viele Konfliktsituationen auf, in denen Eros mit Thanatos ausba‐ lanciert werden muss, denn der Krieg droht stets noch, die traditionellen ethi‐ schen, moralischen und religiösen Bande aufzulösen, was angesichts des massenhaften Sterbens dazu führt, dass die Liebessehnsucht und das sexuelle Verlangen ungemein ansteigen (vgl. dazu den Beitrag von Paweł Zimniak). Die sexuelle Erfüllung, ob nun in Gedichten des 12. Jahrhunderts, in solchen der englischen Renaissance ( John Donne) oder in Romanen des 20. Jahrhunderts thematisiert, erweist sich mithin als ein Signament menschlicher Existenz schlechthin. Der Chor an Stimmen, die ein Loblied auf die Liebe im poetischen oder narrativen Rahmen gesungen haben, reicht also von der frühesten Zeit bis in die unmittelbare Gegenwart. Allerdings kann gerade Sexualität, also die physische Manifestation von Erotik, auch zum Zweck der Machtausübung eingesetzt bzw. missbraucht werden, wie es sich u. a. in Ernst Jüngers Roman Die Zwille (1973) zeigt, den Manuel Mackasare in seinem Aufsatz analysiert. Durchaus ähnlich wie in Hein‐ rich Manns Professor Unrat (1905) thematisierte Jünger die Rolle von Sexualität als Symbolon eines zusammenbrechenden gesellschaftlichen Systems, das zu‐ nehmend von Technokratie beherrscht wird, aus dem eventuell nur die Asexu‐ alität des Helden Clamor zu retten vermag. Welche tiefen und umfassenden Probleme die Unterdrückung von Erotik und Sexualität bewirken kann, hat bereits Frank Wedekind (1864-1918) besonders eindringlich in seinen Theaterstücken, Gedichten und theoretischen Refle‐ xionen zum Ausdruck gebracht (vgl. dazu die Studie von Anja Manneck). Wie mühsam besonders homosexuelle Dichter und Autoren um Anerkennung kämpfen mussten, illustriert das Werk der schweizerischen Autorin Annemarie Schwarzenbach (gest. 1942) (vgl. dazu den Beitrag von Karolina Rapp). Wir können aber auch in den früheren Jahrhunderten eine Reihe von Beispielen finden, selbst wenn dort meist das Siegel der Verschwiegenheit nur schwer zu lüften ist. Inzwischen scheint aber sexuelle Identität freier zur Verfügung zu 26 Albrecht Classen stehen, wie es die neueste Literatur vor Augen führt, in der sogar die unge‐ hemmte Verfolgung von sexuellem Genuss jenseits traditioneller Geschlechter‐ kategorien deutlich positiv gezeichnet wird (vgl. dazu den Beitrag von Marta Wimmer). Über diesen großen, sich unablässig wandelnden Komplex reflektieren nun die Beiträger zum vorliegenden Sammelband durch wissenschaftliche Spezial‐ untersuchungen von konkreten Fällen, die aus den verschiedensten Jahrhun‐ derten stammen und auf einer Tagung zum Thema „Eros und Logos: Sexuali‐ tätsnarrative in der deutschsprachigen Literatur“ vom 16. bis 17. November 2016 an der Universität Zielona Góra (Uniwersytet Zielonogórski), speziell am In‐ stitut für Germanistik (Instytut Filologii Germańskiej) in Zielona Góra, Polen, vorgestellt und diskutiert worden sind. Die Organisatoren, Wolfgang Brylla, Andrey Kotin und ich entwickelten während der Tagung und im Anschluss daran eine enge Kooperation über die Kontinente hinweg, deren Endresultat hiermit vorgelegt wird. Die Redaktion wurde zentral von mir übernommen, dies aber stets in enger Zusammenarbeit mit Brylla. Bibliographie Klaus Adomeit, Ovid über die Liebe: sein Lehrgedicht „Ars amatoria“ - erläutert mit Hin‐ weisen auf Goethes Römische Elegien (Heidelberger Forum, 107), C. F. Müller, Heidel‐ berg, 1999. Ulrike Bardt, Literarische Wahlverwandtschaften und poetische Metamorphosen: Die Fabel- und Erzähldichtung Friedrich von Hagedorns, J. B. Metzler, Stuttgart / Weimar, 1999. Wolfgang Beutin, Aphrodites Wiederkehr: Beiträge zur Geschichte der erotischen Literatur von der Antike bis zur Neuzeit, Peter Lang, Frankfurt am Main / Berlin, 2005. Wolfgang Braune-Steininger, „Erotik in der deutschen Nachkriegslyrik“, in: Thomas Schneider (Hrsg.), Das Erotische in der Literatur (Gießener Arbeiten zur Neueren Deut‐ schen Literatur und Literaturwissenschaft, 13), Peter Lang, Frankfurt am Main / Berlin, 1993, S. 177-194. Horst Brunner / Gerhard Hahn / Ulrich Müller / Franz Viktor Spechtler, Walther von der Vogelweide: Epoche - Werk - Wirkung, 2. Aufl., C. H. Beck, München 2009 [1. Aufl. 1996]. 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Beck, München, 1993, S. 257. 4 Hans Neumann, „Beiträge zur Textgeschichte des ‚Fliessenden Lichts der Gottheit‘ und zur Lebensgeschichte Mechthilds von Magdeburg“, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Altdeutsche und Altniederländische Mystik, Wissenschaftliche Buchhandlung, Darmstadt, 1964, S. 175-239, hier S. 175. Gott, der an Frauenbrüsten ruht Zur Rolle der Erotik in der christlichen Mystik am Beispiel des Fließenden Lichts der Gottheit Mechthilds von Magdeburg Cezary Lipiński (Zielona Góra) Zusammen mit der Antwerpener Begine Hadewijch und dem italienischen Franziskaner Jacopone da Todi wird Mechthild von Magdeburg zuweilen als das „Dreigespann der größten mystischen Dichter des 13. Jahrhunderts“ 1 be‐ zeichnet. Was sie als „hervorragende Vertreterin der Minnemystik oder mystique courtoise“ 2 erscheinen lässt, und ihr einziges Werk, das Bekenntnis- und Offen‐ barungstagebuch, das Fließende Licht der Gottheit, einzigartig macht, sei nach Kurt Ruh die Weiterentwicklung der nuptialen Mystik, die einerseits in der mit‐ tels der forcierten Dialogizität erstmals erreichten Aufhebung der Distanz zwi‐ schen Gott und Geschöpf, andererseits in der bezeichnenden, auf Direktheit und Rückhaltlosigkeit aufbauenden Weiblichkeit des Duktus Mechthilds zum Aus‐ druck komme. 3 Hinsichtlich der Bedeutung ihres Werkes im mystischen Para‐ digma Deutschlands sind sich die Gelehrten weitgehend darüber einig" dass „[f]ür die Erforschung der voreckhartischen deutschen Mystik […] unter den Texten in deutscher Sprache Mechthilds ‚Fließendes Licht‘ unbestritten an vor‐ derster Stelle“ 4 stehe. 5 Gisela Vollmann-Profe, „Mechthild von Magdeburg“, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hrsg. von Walther Killy, 15 Bände, Bertelsmann Lexikon Verlag, Darmstadt, 1988-1993, hier Bd. 8, S. 41. 6 Neumann, „Beiträge zur Textgeschichte“, S. 199. 7 Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2, S. 255. 8 Neumann, „Beiträge zur Textgeschichte“, S. 226. 9 Ebd., S. 199. 10 Vgl. Otto Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung - Stati‐ onen eines Konflikts, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2004, S. 235; vgl. McGinn, Die Mystik im Abendland, S. 403. 11 Neumann, „Beiträge zur Textgeschichte“, S. 176. 12 Vollmann-Profe, „Mechthild von Magdeburg“, S. 42. 13 Ebd. 14 Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 233. 15 Neumann, „Beiträge zur Textgeschichte“, S. 237. Aus diversen Gründen stellt Mechthild seit mehreren Jahrzehnten ein beson‐ deres Faszinosum für die Forschung dar. Ihr Leben und Werk bilden „eine in der deutschsprachigen Literatur vorher so nicht anzutreffende Einheit“ 5 , was auch den Charakter des „Tagebuch[s] ihrer Seele als historische Autobiographie mit Zahlen“ 6 begründet. Gleichzeitig besticht das sich „definierenden Gattungsbe‐ griffen“ 7 entziehende Fließende Licht, „ein sehr fraulich unsystematisches Werk“ 8 - um mit Hans Neumann zu sprechen - nicht nur durch „überall her‐ vortretende Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen gegenwärtigen Erleb‐ nissen und vergangenen Lebenszuständen“ 9 , sondern auch einen schwer zu überbietenden Formenreichtum, der sich von diversen Formen von Liedern, Gedichten und Merkversen über (Lehr-)Dialoge, (Streit-)Gespräche und quasi dramatische Szenen bis hin zu Reden, Erzählungen und Passagen in rhythmi‐ scher Prosa erstreckt. 10 Vervollständigt wird diese Vielfalt durch zahlreiche Bilder, Allegorien und eine die Möglichkeiten einer hoch entwickelten Meta‐ phorik nutzende „leidenschaftliche Minnesprache“. 11 Alle diese Elemente werden originell „in etwas Neues, Eigenes umgeschmolzen, das sich formal kaum einordnen“ 12 lasse. Geschöpft wird dabei mit vollen Händen nicht nur aus der Tradition der biblischen Literatur (das Hohelied), sondern auch der höfi‐ schen Dichtung. Dabei üben einerseits der paradoxe „minneweg der Seele“ 13 , der grob gesehen von der Weltflucht über die unio mystica bis zum freiwilligen Ver‐ zicht auf die gerade gewonnene Nähe des Bräutigams („Lassen Gottes“ 14 ) ver‐ läuft, andererseits die „Gewagtheit der erotischen Bildsprache“ 15 eine besondere Anziehungskraft auf den heutigen Rezipienten aus. Zahlreiche Versuche der Dichterin, nicht nur die Mannigfaltigkeit der As‐ pekte, Modelle, Erscheinungsformen und Modi der Liebe zu beschreiben, son‐ dern auch die Liebe selbst zu typologisieren, trugen im Fließenden Licht zur 31 Gott, der an Frauenbrüsten ruht 16 Vgl. Albrecht Classen, „Worldly Love - Spiritual Love. The Dialectics of Courtly Love in the Middle Ages”, in: Studies in Spirituality, 11, 2001, S. 166-186; ders. „Die flämische Mystikerin Hadewijch als erotische Liebesdichterin”, in: Studies in Spirituality, 12, 2002, S. 23-42; ders., „The Dialectics of Mystical Love in the Middle Ages: Violence / Pain and Divine Love in the Mystical Visions of Mechthild of Magdeburg and Marguerite Porète”, in: Studies in Spirituality, 20, 2010, S. 143-160. 17 Hans Neumann, „Mechthild von Magdeburg“, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Die deutsche Lite‐ ratur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 6: ‚Marienberger Osterspiel‘ - Oberdeutsche Bibeldrucke, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 2010 S. 260-270, hier S. 260. 18 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, aus dem Mittelhochdeut‐ schen übers. und hrsg. von Gisela Vollmann-Profe, Deutscher Klassiker Verlag, Frank‐ furt am Main, 2003. Alle weiteren angeführten Zitate aus dem Fließenden Licht der Gottheit gehen auf diese Ausgabe und diese Übersetzung zurück. 19 Neumann, „Mechthild von Magdeburg“, S. 260. 20 Neumann, „Beiträge zur Textgeschichte“, S. 236-237. Fundierung einer fortgeschrittenen Mystik und Philosophie der Liebe bei. So ist das eigentliche Ziel dieses Beitrags, auf das breite Spektrum der dort vorge‐ nommenen Funktionalisierung der Liebe einzugehen 16 . 1. Mechthild und ihr Werk Um 1207 (nach Neumann) in einer ritterlichen Familie in der westlichen Mit‐ telmarkt geboren und höfisch erzogen 17 , soll Mechtild Offenbarungen emp‐ fangen haben, die sie als den unmittelbaren Gruß des Heiligen Geistes gedeutet und über dreißig Jahre später zu verschriftlichen begonnen hatte: Ich unwirdigú súnderin wart gegruͤsset von dem heligen geiste in minem zwoͤlften jare also vliessende sere, do ich was alleine, das ich das niemer mere mohte erliden, das ich mich zuͦ einer grossen teglichen súnde nie mohte erbieten. Der vil liebe gruͦs was alle tage und machte mir minnenklich leit aller welte suͤssekeit und er wahset noch alle tage. (IV, 2, 228) 18 „[U]m 1230 [flüchtete sie] aus dem Elternhaus nach Magdeburg in ein Begi‐ nenhaus, um ein Leben in asketischer Heimatlosigkeit, Armut und Kasteiung zu führen“. 19 Neumann vermutet hinter dieser einschneidenden Entscheidung einen schweren inneren Konflikt: Die tiefbegriffene Gegensätzlichkeit von weltlichem Herrenturn und geistlicher Got‐ tesknechtschaft, die Unvereinbarkeit irdischer Ehre und religiöser Demut, die Ge‐ fährlichkeit der ästhetischen Lebensverwirklichung in Zeremoniell und Kunstübung für die Seele ist gerade das Zentralerlebnis ihrer Jugend und der Anstoß zu ihrer Flucht ins Beginentum gewesen. 20 32 Cezary Lipiński 21 Neumann, „Mechthild von Magdeburg“, S. 260. 22 Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2, S. 249. 23 Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum: Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Walter de Gruyter, Berlin/ New York, 1988, S. 53; Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 233-234; vgl. Neumann, „Beiträge zur Textgeschichte“, S. 187-188. 24 Neumann, „Mechthild von Magdeburg“, S. 262. Auf die Frage, warum sie nach der ersten, bereits um 1219 stattgefundenen und anschließend täglich wiederkehrenden Gotterfahrung so lange damit gewartet hatte, gesteht Mechthild am Anfang des vierten Buches ( IV , 2, 231), dass es „schon seit langer Zeit […] [ihr] Wunsch gewesen sei, ohne eigene Schuld er‐ niedrigt zu werden“ („Do hatte ich lange vor gegert, das ich ane mine schulde wurde versmaͤhet“). Nach ihrem ca. vierzig Jahre dauernden Aufenthalt im Be‐ ginenhof, dessen Vorsteherin sie später wahrscheinlich wurde, begab sie sich um 1270 aus nicht ganz ersichtlichen Gründen - vielleicht in Folge der Bestim‐ mungen „einer Magdeburger Dominikanersynode von 1261 gegen das Begi‐ nentum“ 21 , vielleicht - wie Kurt Ruh vermutet - „auf Anlaß der Familie bzw. ihres Bruders Balduin oder Heinrichs von Halle“ 22 , vielleicht aber - wie Ursula Peters und Otto Langer wollen - wegen der „Unsicherheit und Gefährdung der semireligiösen Existenz“ 23 - in das Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben, wo sie unter der Äbtissin Getrud von Hackeborn in die Ordensgemeinschaft aufgenommen wurde. Dort starb sie um 1282. 1250 hatte Mechthild mit der Niederschrift des Fließenden Lichts begonnen. Zwar wurde sie dazu direkt durch ihren Beichtvater, den Dominikaner Heinrich von Halle, bewogen, doch glaubte sie damit primär der Aufforderung Gottes („du hies mich es selber schriben“ [ II , 26, 136]; „Hette es got vor siben jaren nit mit sunderlicher gabe an minem herzen undervangen, ich swige noch und hette es nie getan“. [ III , 1, 156]) Genüge zu leisten. Die durch Neumann ermittelte Chronologie sieht drei Entstehungsstufen des Werkes: Bücher I-V (zw. 1250-1259), VI (zw. 1260-1270 / 71), VII (zw. 1271-1282). 24 Das niederdeutsche Original des Fließenden Lichts ist verschollen; auf uns gekommen ist nur eine lateinische, wahrscheinlich kurz nach Mechthilds Tod entstandene Übersetzung der ersten sechs Bücher und eine etwas spätere, auf ca. 1343 / 45 datierte ober‐ deutsche Übertragung des ganzen Textes. Der Mangel an tieferer Bildung, den die Mystikerin selbst als ein Handicap ansah und der die lateinunkundige Frau dazu zwang, sich bei der Niederschrift ihres Werkes mit einem deutschen Dialekt zu behelfen, erwies sich im Nachhinein als Glücksfall. Auch in dieser Hinsicht markiert Mechthilds Buch einen tiefen Einschnitt, da es „ein herausragendes 33 Gott, der an Frauenbrüsten ruht 25 Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 235. 26 Wolfgang Mohr, „Darbietungsformen der Mystik bei Mechthild von Magdeburg“, in: Hugo Kuhn / Kurt Schier (Hrsg.), Märchen, Mythos, Dichtung. Festschrift für Friedrich von der Leyen, C. H. Beck, München, 1963, S. 375-399, hier S. 393. 27 Neumann, „Beiträge zur Textgeschichte“, S. 216. 28 Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 233. 29 Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2, S. 271. 30 Ebd., S. 286-287; McGinn, Die Mystik im Abendland, S. 406. Beispiel für den in der Geschichte der abendländischen Mystik epochalen Schritt vom Latein zur Volkssprache“ 25 darstelle. 2. Zur Eigenart der Erotik im Fließenden Licht Den Namen der vielleicht „kühnste[n] erotische[n] Dichtung, die wir aus dem Mittelalter besitzen“ 26 verdiente sich das Fließende Licht nicht nur dank seiner „unverhüllt erotischen Metaphorik“. 27 Otto Langer stellt als eine besondere Ei‐ gentümlichkeit Mechthilds heraus, dass sie in ihrem „Ansatz Brautmystik und Passionsmystik zu einer spannungsvollen Einheit“ 28 verbinde. Gemeint ist die ausufernde Ekstatik des Liebeserlebnisses, aus der sich auf einer höheren Stufe dessen paradoxe Ambivalenz ergibt. Für die durch Gott liebevoll gegrüßte Seele stellt die traditionell höchste Stufe der mystischen Erfahrung, die unio mystica, d. h. die in Form einer mystischen Hochzeit vollzogene Vereinigung mit Christus als Bräutigam, hier lediglich eine Zwischenetappe dar. Die Bewusstwerdung der verworfenheit der Liebe, deren Ausformung Kurt Ruh übrigens für den origi‐ nellsten Beitrag Mechthilds hält 29 , führt zur freiwilligen Entfernung von Gott als Folge des graduell verlaufenden Entfremdungsprozesses. Als der Aufstieg in einen Abstieg umschlägt, sinkt die Seele in die Tiefe ab. Ihre „sinkende Demut“ lässt sie bis auf den Grund der Hölle fallen, wo sie einen Platz unter Lucifers Schwanz einnimmt. und bringet si denne an die stat, da si nit fúrbas mag, das ist under Lucifers zagel. Moͤhte si denne in der gerunge nach irem willen gotte ze eren da wesen, da woͤlte si nút fúr nemen. (V, 4, 328) Der Gedanke, dass die freiwillige, Gott zuliebe erlittene Not eine Steigerung der Liebe bedeutet, lässt sich bei Mechthild relativ früh finden. Einige Forscher 30 vermuten hinter dieser systemischen Denkfigur, die im Endeffekt darauf hi‐ nausläuft, die angenommene Qual als das schlechthinnige Glück der Seele zu verstehen, einen Nachhall der Idee der resignatio ad infernum. Diese später be‐ sonders durch Luther popularisierte Anschauung, die von den Gläubigen sogar bedingungslose Akzeptanz der Verwerfung durch Gott fordert, wird im dritten 34 Cezary Lipiński 31 Alois Maria Haas, „Mechthild von Magdeburg. Dichtung und Mystik: Struktur der mystischen Erfahrung“, in: ders.: Sermo mysticus. Studien zur Theologie und Sprache der deutschen Mystik (Dokimion 4), Universitätsverlag, Freiburg / Schweiz, 1979, S. 67-103, hier S. 108. 32 Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2, S. 272. 33 Zitiert nach Margot Schmidt, „Einleitung“, in: Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, 2. neubear. Übersetzung mit Einführung und Kommentar von Margot Schmidt, frommann-holzboog, Stuttgart / Bad Cannstatt, 1995, S. IX-XLIV, hier S. XV. Buch des Fließenden Lichts als eine „dialektische Versöhnung“ 31 von Liebe und Erniedrigung thematisiert: „von minnen wirt man schoͤne und lobesam, von smacheit wirt man vil hohe in gotte erhaben“ ( III , 24, 220, 222): „Das Heilsge‐ schehen setzt Freiheit voraus, die resignatio ad infernum ist ein Akt der Selbst‐ verantwortung.“ 32 Mit ihr schließt die große Epopöe, deren eigentlicher Sinn die Reifung der Seele ist. Sie kann zwar mittelfristig durch die Entbindung vom Körper geschehen; letztendlich führt aber kein Weg an der Selbstaufgabe der Seele vorbei: Als si alsus ufgestigen ist in das hoͤhste, das ir geschehen mag, die wile si gespannen ist ze irme lichamen, und har nider gesunken ist in das tieffeste, das si vinden mag, so ist si denne vollewahsen an tugenden und an helikeit. (V, 4, 330) Der hier grob skizzierte Prozess vermittelt zwar erste Einsichten in die ein‐ drucksvolle Spannbreite des Erotischen im Fließenden Licht, sagt aber wenig über den systemischen Ansatz Mechthilds mit all den einzelnen Etappen, Stufen und Facetten aus. Und die Mystikerin entpuppt sich hier als Morphologin und Systematikerin der Liebe, die nach scholastischer Art gern katalogisiert und systematisiert, schlechthin. So unterscheidet und charakterisiert sie u. a. sieben Stationen der Liebe (I, 44), sieben Formen der Gottesliebe ( II , 11), sechzehn Arten von Liebe ( III , 13), sieben Formen der Liebe ( III , 24), zwanzig Wirkkräfte der Gottesliebe (V, 30), zehn Wirkkräfte der Liebe (V, 31), vier Eigenschaften der lauteren Liebe ( VI , 30), sieben Aspekte des Liebesbegehrens ( VII , 45) u. a. m. Das typologische Dickicht macht den Eindruck, als ginge es um die Fundierung einer Wissenschaft der Liebe, eine Tendenz, deren Ursprung womöglich teilweise in der wissenschaftsfreundlichen Atmosphäre Helftas in der Zeit der Äbtissin Ger‐ trud von Hackeborn zu suchen wäre. Trotz ihrer Überzeugung, dass „wenn der Eifer für die Wissenschaft verloren geht, so werde auch die Pflege der Religion aufhören“ 33 , war das Fließende Licht für das auf dem materialistischen Axiom 35 Gott, der an Frauenbrüsten ruht 34 Gall Morel, „Vorrede und Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg oder das fliessende Licht der Gottheit, Georg Joseph Manz, Regensburg, 1869, S. XVI. 35 Ebd. 36 Vgl. McGinn, Die Mystik im Abendland, S. 418-419. aufbauende 19. Jahrhundert verständlicherweise schon eindeutig dem „Gebiet der Poesie als der Wissenschaft” 34 zuzuordnen: Poesie sind diese Ergüsse einer entzückten Seele und entbehren desswegen aller jener Formen der Wissenschaft, welche so oft nur zu sehr von dem Schönen sich entfernen. Es finden sich daher auch keine Citate, nicht einmal solche aus der heiligen Schrift, denn da ist Alles nur unmittelbare Schilderung innerer Seelenzustände. 35 Gleichwohl darf man die Tatsache nicht ignorieren, dass Mechthilds systema‐ tischer Einsatz nicht nur nicht im Widerspruch zum dichterischen Charakter ihres Werks steht, sondern ihn erst recht ermöglicht. Man nehme als Beispiel das achtzehnte Kapitel des siebten Buches von den „sieben Tageszeiten, die der Marter unseres Herrn gedenken“, in dem die Ordnung der Zeiten ein Anlass für ausgedehnte Metaphorisierungsmaßnahmen, Bilderreichtum und fortgeschrit‐ tene Literarisierung der Sprache ist. Die Liebe beschreibt Mechthild, indem sie sich generell der Metapher eines Weges bedient, der allerdings alles andere als einheitlich oder strikt auf einen Punkt ausgerichtet ist. Seine Heterogenität setzt nicht nur verschiedene Stufen und Etappen, sondern auch eine Vielfalt der Ziele voraus. Dass es sich am Ende dennoch um den einen Weg handelt, gibt den universellen Zusammenhang allen Streben, Dinge und Erscheinungen in Gott wieder. Paradigmatisch für die Ekstatik der liebevollen Vereinigung der Seele mit Gott steht der Verlauf ihrer Reise an den Hof des Herrn: So wiset er ir mit grosser gerunge sin goͤtlich herze. Das ist gelich dem roten golde, das da brinnet in einem grossen kolefúre. So tuͦt er si in sin gluͤgendes herze. Alse sich der hohe fúrste und die kleine dirne alsust behalsent und vereinet sint als wasser und win, so wirt si ze nihte und kumet von ir selben. Alse si nút mere moͤgi, so ist er minnesiech nach ir, als er ie was, wan im gar zuͦ noch abe. So sprichet si: »Herre, du bist min trut, min gerunge, min vliessender brunne, min sunne und ich bin din spiegel.« (I, 4, 26, 28) Das spielerisch-erotische Fundament der Szene bildet die für Mechthilds Ansatz wesentliche Komponente der Gegenseitigkeit. 36 Die Liebe stellt für die Seele nicht nur den Anlass dar, sich auf den Weg zu ihrem Geliebten zu machen, son‐ 36 Cezary Lipiński 37 Vgl. Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 238. 38 Vgl. Neumann, „Mechthild von Magdeburg“, S. 265. 39 Vgl. Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 238. dern lässt auch den himmlischen Bräutigam schmachtend nach ihr glühen. 37 Auf dem Höhepunkt des Liebesaktes wird die Seele durch Gott berührt, wodurch sie aus allen weltlichen Bindungen gerissen und ins Himmlische und Zeitlose (Vor‐ zeitliche? ) entrückt wird. Die betörende, sowohl die Sinne als auch das Be‐ wusstsein raubende Wonne des Einswerdens darf jedoch nicht von Dauer sein. Der abrupte Abbruch der Liebesvereinigung ist unumgänglich 38 , zum einen, weil es der Natur der Liebe entspreche, sich im Feuer des Trennungsschmerzes zu bewähren und durch das Streben nach der Wiederherstellung der verlorenen Glückseligkeit immer höhere Stufen zu ersteigen („Wiltu liep haben, so muͦstu liep lassen“ [ II , 23, 118]); zum anderen, weil das freie Schweben der Seele auf ihrem minneweg zu Gott wegen ihrer Körperverhaftung und Weltverfallenheit 39 nur auf tagtraumgleiche Momente der Entrückung beschränkt bleiben müsse: wenne der endelose got die grundelosen selen bringet in die hoͤhin, so verlúret sú das ertrich von dem wunder und bevindet nút, das si ie in ertrich kam. Wenne das spil aller best ist, so muͦs man es lassen. So sprichet det bluͤjende got: »Juncfroͮ, ir muͤssent úch neigen.« So erschrikket si: »Herre, nu hast du mich hie so sere verzogen, das ich dich in minem lichamen mit keinem orden mag geloben, sunder das ich ellende lide und gegen dem lichamen strite.« (I, 2, 22) Die hier geschilderte Erfahrung ist für die Seele prägend. Sie stellt den Ansporn für ihre groß angelegte Weltflucht als Ergebnis der Verwirklichung eines le‐ benspraktischen Programms, dessen Eckpunkte bereits im ersten Buch festge‐ legt sind, dar: „Swelch moͤnsch die welt úbersiget und sime lichamen allen un‐ nútzen willen benimet und den túvel úberwindet, das ist die sele, die got minnet.“ (I, 1, 32) Das schwierige Unterfangen bekommt im mystischen Idiom Mechthilds die Form eines erbitterten Kampfes gegen den die Liebe vergiftenden „hündischen Leib“ („huntlichen lichamen“ [ II , 23, 116]), „der tote hunt, min lichamen“ [ III , 5,170]). Er ist ein gefährlicher, bewaffneter „Feind“, der von Natur aus am Dies‐ seits klebt, d. i. mit seinen Bedürfnissen die Kommunikation zwischen der Seele und der geistigen Welt beeinträchtigt oder gar vereitelt und mit seinen kleinen Freuden vom Wesentlichen ablenkt. Um seine störende Vitalität zu brechen, wird er permanenten Qualen unterzogen: 37 Gott, der an Frauenbrüsten ruht 40 Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 239. do sach ich minen lichamen an; do was er gewaffent sere uf mine arme sele mit grosser vollede der starken maht und mit vollekomner naturen kraft. De sach ich wol, das er min viant was (IV, 2, 236). Einsichten in die beklemmende Grausamkeit der Praktiken jener übrigens bei Mechthild sehr reale Gestalt annehmenden Mortifikation vermittelt die Begine im vierten Buch: Do sach ich oͮch miner sele wafen an; was dú here matter únsers herren Jhesu Christi. Da mitte werte ich mich. Do muͦste ich steteklich in grossen vorhten stan und muͦste alle mine jugent grosse schimeschlege uf minen lichamen schlan, das was: súfzen, weinen, bihten, vasten, wachen, besemenschlege und betten steteklichen an. Dis waren dú waffen miner sele, da ich den lip mit úberwant also sere, das bi zwenzig jaren nie die zit wart, ich were muͤde, siech und krank allererst von rúwen und von leide, da nach von guͦter gerunge und vom geistlicher arbeit und dar zuͦ manig swere siechtag von nature. Hie zuͦ kam dú gewaltige minne und beschaste mich se sere mit disen wundern, das ich es nit getorste verswigen (IV, 2, 236). Der unerbittliche lebenslange Kampf gegen den eigenen Leib charakterisiert nur die edlen kühnen Seelen, während die „abgestumpften“ („stumpfen selen“ [ II , 23]) selbstzufrieden in der Welt ihrer Körperlichkeit ruhen („Ich ruͦwen in der welte mines lichamen“ [ II , 23, 116]), ohne jemals den Mut aufzubringen, sich in die Gewalt der „nackten Liebe“ zu begeben („das er sich ihr getoͤrre legen in die gewalt der nakkenden minne“ [ II . 23, 116]), um Gott Treue zu erweisen, indem sie in Liebe seinem Geist folgen („Wiltu got rehte trúwe leisten, so soltu in siner liebin volgen sinem geiste“ [ II , 23, 116]). Die Ausdauer im Kampf gegen die durch den Leib auferlegten Fesseln und die Unerschrockenheit im Sich-hinaus-Wagen auf das unbegrenzte Meer der göttlichen Liebe stellen die einzigen Wege dar, die wahre Freiheit, die kein Trugbild ist, zu erlangen. Sie setzen die Ablehnung der institutionalisierten, ritualisierten, an sich steifen und auf die Dauer jeglichen persönlichen Erlebnisses beraubten Formen der Gläubigkeit („Wiltu mit im wonen in edeler vriheit, so muͦstu e rumen diese wonunge der boͤsen gewonheit.“ [ II , 23, 116]) voraus. Der von Zuhause in die relative Ungebundenheit des Be‐ ginenlebens geflüchteten Mechthild durfte gerade dieser Aspekt nicht nur be‐ sonders wertvoll, sondern vor allem einleuchtend vorgekommen sein. Letzten Endes, „[d]ie Welt wählen bedeutet Gott verlieren, Gott wählen die Welt ver‐ lieren“. 40 38 Cezary Lipiński 41 Vgl. Neumann, „Mechthild von Magdeburg“, S. 265. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. auch u. a. III, 9, 175. Ein Umbruch in der Liebesauffassung Mechthilds tritt im zwölften Kapitel des vierten Buches ein. 41 Die ihrem Charakter nach beinahe bacchantische Lie‐ besverzückung (zum Beispiel: „Du hast mich gejagt, gevangen, gebunden und so tief gewundet, das ich niemer wirde gesunt“ [I, 3, 24]) der frühen Phase macht einer reiferen - was nicht bedeutet, ruhigeren 42 -, dafür dunkleren Konzeption der Liebe mit der Integration des Leids als deren auffälligem Charakteristikum Platz. Schon etwas früher hatte sich die Seele dazu hinreißen lassen, aus Liebe zu Gott im Fegefeuer die Qualen länger zu ertragen: „Nu, lieber herre, swenne ich stirbe, ich wil durch dine liebi gerne noch dar inne qweln. Dis spriche ich nit von sinne, es heisset mich die minne.“ [ IV , 2, 234] Damals waren es v. a. anhaltende Gewissensbisse wegen der Sünden der frühen Jugend, die den Anlass dazu gaben, jetzt ist es das Bewusstsein einer prinzipiellen Unwürdigkeit des Menschen. Mir smekket nit wan alleine got, ich bin wunderliche tot./ Dis smakes wil ich allerdi‐ kost gerne enberen, uf das er wunderlich gelobet werde; wand wenne ich unwirdiger mensche mit miner maht got nit kan geloben, so sende ich alle creaturen ze hofe und heisse si, das si got fúr mich loben mit aller ir wissheit, mit aller ir minne (IV, 12, 258, 260). 43 So wendet sich die liebende Seele wiederholt an Gott mit der Aufforderung, sie immer tiefer fallen zu lassen, weil ihr die einzelnen Stufen der Freudlosigkeit und Verlorenheit immer noch nicht schlimm genug vorkommen. Am Ende muss sogar die Liebe geopfert werden, sodass der Seele nur noch das herzzerreißende Fernsein Gottes („dine vroͤmedunge“) übrig bleibt: Eya selige gotz vroͤmdunge, wie minnenklich bin ich mit dir gebunden! Du stetigest minen willen in der pine und liebest mir die sweren langen beitunge in disem armen libe. (IV, 12, 264) Erst dann erreicht sie, die verstanden hat, dass je tiefer sie sinkt, umso süßer ihre Existenz wird, das erwünschte Niveau („Mere ie ich tieffer sinke, ie ich suͤssor trinke“ [ IV , 12, 264]). Die Wonne der unio mystica auf der einen Seite und der selbstquälerische Fall in die Gottesferne auf der anderen markieren die Aus‐ dehnung der erotischen Dimension der Liebe, die sich hier - paradox genug - trotz der zu erwartenden Selbstvergessenheit und sinnesraubenden Ekstase unter striktem Ausschluss des Körpers entwickelt. Die Neuausrichtung der an‐ fänglich liebesblinden Seele verläuft über die Erkenntnis des Ausmaßes der 39 Gott, der an Frauenbrüsten ruht 44 Vgl. auch „Aber herre, die suͤssekeit solt du von mir legen und la mich die vroͤmedunge han“ (IV, 12, 262). 45 McGinn, Die Mystik im Abendland, S. 419. 46 Ebd., S. 422. 47 Neumann, „Beiträge zur Textgeschichte“, S. 237. 48 Ebd., S. 237; vgl. ebd., S. 232. Aufopferungsbereitschaft der Liebe, die der Sohn Gottes der sündhaften Menschheit entgegengebracht hatte. Und weil jene per se nicht überbietbar ist, kann die Seele nur ihre Nachfolge, deren Ordnung im Gebot und Schema der Idee der imitatio Christi vorgegeben ist, antreten. Ein Engpass in Mechthilds Programm der geistigen Minne ist die nicht aus‐ zuschließende Gefahr der Liebesverliebtheit der Seele, die sich mitunter erdreistet, den nach ihr schmachtenden Gott zurückzuweisen, um nur in die süßen Qualen der Gottesfremdheit und Gottesferne zurückgeworfen zu werden. Selbst der viel zitierte Grundsatz „Wiltu liep haben, so muostu liep lassen“ 44 könnte aus dieser Sicht, als eine Warnung vor dem völligen Eintauchen in die Wonne der alles um sich vergessenden unio mystica interpretiert werden. So bleibt das Ri‐ siko, dass die Liebe, die als der Weg zu Gott legitimiert wird, sich in das Ziel per se verkehrt, latent vorhanden. Eines der Paradoxe des eigentümlichen Idioms Mechthilds ist der Versuch, die an sich ausschließlich geistig gedachte Vereinigung der liebenden Seele mit dem göttlichen Bräutigam mittels sprachlicher und ikonischer Instrumentarien darzustellen, die dermaßen mutige, körperlich-erotische Elemente und Anspie‐ lungen enthalten, dass in der Forschung zuweilen von einer „spirituellen Sexu‐ alität“ 45 die Rede ist. 46 Dennoch legen etliche Forscher nahe, „Mechthilds Visi‐ onen trotz mancher Gewagtheit der erotischen Bildsprache als rein geistige Erlebnisse“ 47 anzusehen, da sie „in ihrem Werk den Weg einer seelischen Subli‐ mierung“ 48 gegangen sei. Dies mag einerseits schon angesichts der spirituellen Natur des Bräutigams einleuchten, schafft aber andererseits an manchen Stellen, wie zum Beispiel im fünffachen Lob Gottes durch die Seele, zusätzliche Inter‐ pretationsprobleme: »O du giessender got an diner gabe,/ o du vliessender got an diner minne,/ o du brennender got an diner gerunge,/ o du smelzender got an der einunge mit dinem liebe,/ o du ruͦwender got an minen brústen! / Ane dich ich nút wesen mag! « (I, 17, 36). Ähnliche Schwierigkeiten entstehen im Zusammenhang mit dem häufigen Ge‐ brauch der Brust-, Blut-, Milchu. a. Metaphern 40 Cezary Lipiński 49 Morel, „Vorrede und Einleitung“, S. XIV. Trotz der klaren Ausrichtung auf das geistig-erotische Einswerden der Seele mit ihrem himmlischen Bräutigam erschöpfen sich die Funktionalisierungen des minnewegs nicht in seiner Beschaffenheit als der Weg zu Gott. Dass die Liebe auch den Modus des Zusammenseins der Seele mit Gott ausmacht, geht aus dem Ursprung der letzteren als der von Gott aus Liebe Geschaffenen hervor: „Ich bin in der selben stat gemachet von der minne. Darumbe mag mich enkein creature nach miner edelen nature getroͤsten noch entginnen denne allein die minne“ (I, 22, 40). Von dieser Anschauung leitet Mechthild eine ganze Gedankenkette ab, die sie in ihrer Zeit an die Grenze zur Häresie brachte. Noch Gall Morel stellte fest, dass „[d]ie Ansichten und Ausdrücke in diesem Buche […] allerdings oft gewagt [seien], und wer den streng dogmatischen Maßstab anlegen wollte, könnte leicht Häretisches herausfinden.“ 49 Die gefährliche Anschauungsweise beginnt bei Mechthild noch relativ harmlos im ersten Buch mit der Funktionsbestimmung der Liebe als den eigentlichen Impuls zur Erschaffung der Seele: „In dem jubilus der heligen drivaltekeit, do got nit me mohte sich enthalten in sich selben, do mahte er die selen und gab sich ir ze eigen von grosser liebi“ (I, 22, 40). Im ausführlichen neunten Kapitel des dritten Buches wird dann die pygma‐ lionartige Erschaffung der Menschen durch die Heilige Dreifaltigkeit mit allen Details geschildert. Auch dort spielt die Liebe eine entscheidende Rolle, nur dass sie im Gegensatz zur früheren Vorstellung nicht nur als der innere Anstoß, son‐ dern auch als der Modus und vor allem als die Substanz der Schöpfung fungiert. Do sprach der vatter: »Sun, mich ruͤret oͮch ein kreftig lust in miner goͤtlichen brust und ich doͤnen al von minnen. Wir wellen fruhtber werden, uf das man úns wider minne und das man únser grossen ere ein wenig erkenne. Ich wil mir selben machen ein brut, dú sol mich mit irem munde gruͤssen und mit irem ansehen verwunden; denne erste gat es an ein minnen! «/ […] Do neigte sich du helige drivaltekeit nach der schoͤpfunge aller dingen und mahte úns lip und sele in unzellicher minne. (III, 9,176) Besonders wegen des Wesens-Aspektes konnte Mechthild schmerzliche Konse‐ quenzen zu spüren bekommen haben, weil er den Eindruck der Identität Gottes und der Materie der Seele entstehen lässt. Danach war die der Heiligen Drei‐ faltigkeit immanente Liebe nicht nur der Anlass der Schöpfung, sondern auch das in ihrem Verlauf Geteilte, wie es an einer anderen Stelle aus demselben Kapitel stärker herausgestellt wird: „Der himmelsche vatter teilte mit der sele sin goͤtlich minne“ ( III , 9, 178). Noch eindeutiger wird die Aufhebung der Grenze zwischen Mensch und Gott in der wesensmystischen Aussage des Bräutigams 41 Gott, der an Frauenbrüsten ruht 50 Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2, S. 268; Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 248. an die Braut: „Froͮw sele, ir sint so sere genatúrt in mich, das zwúschent úch und mir nihtes nit mag sin“ (I, 44, 64). Ruh und Langer erinnern vor diesem Hinter‐ grund an ein zeitgenössisches Gutachten (1270 / 73) von Albertus Magnus, das deutlich machte: „Zu sagen, daß die Seele aus der Substanz Gottes genommen sei, ist manichäische Häresie.“ 50 Abgesehen von der gefährlichen Gratwanderung Mechthilds zwischen der theologischen Korrektheit und Ketzerei erscheint die Liebe auch in anderen Ka‐ piteln als das eigentliche Wesen bzw. die Substanz Gottes. So wird beispielsweise Gott im siebenfachen Lob Gottes durch die Seele als Liebe gepriesen: „Ich lobe dich mit dir selben in der minne“ ( III , 2, 160). Dass sie auch der menschlichen Seele nicht einfach eigen ist, sondern sie ausmacht, lässt die Liebe aus der menschlichen Sicht als etwas mehr als bloßen Konvergenzpunkt der Schöpfung erscheinen. Dieser sich aus der Partizipation an der Essenz Gottes ergebende Unterschied wird bereits im ersten Buch verdeutlicht. Im allegorischen vier‐ undvierzigsten Kapitel sucht die nach dem Verlobungstanz erhitzte Seele Küh‐ lung bei ihrem Bräutigam. Die Sinne bemühen sich, sie davon mit dem Verweis auf die alles verbrennende glühende Hitze der Gottheit abzuhalten. Die Seele weist aber die Bedenken zurück, indem sie die Kongruenz der Naturen, Gottes und ihrer eigenen in den Mittelpunkt rückt: Der visch mag in dem wasser nit ertrinken, der vogel in dem lufte nit versinken, das golt mag in dem fúre nit verderben; wand es enpfat da sin klarheit und sin lúhtende varwe. Got hat allen creaturen das gegeben, das si ir nature pflegen, wie moͤhte ich denne miner nature widerstan? Ich muͤste von allen dingen in got gan, der min vatter ist von nature, min bruͦder von siner moͤnscheit, min brútegoͮm von minnen und ich sin ane anegenge. (I, 22, 62) Ihre prägnanteste und dichterisch ansprechendste Form fand die Idee in der süßen Sehnsuchtsklage („suͤsse[n] jamerclage“): „Wer von minnen stirbet, den sol man in gotte begraben“ (I, 3, 26). Die Schilderung der Schöpfung legt ein beredtes Zeugnis davon ab, wie tief das Sezieren der Liebe durch Mechtild geht. Die Mystikerin begnügt sich nicht mit Oberflächlichkeiten und Allgemeinheiten; vielmehr unterzieht sie die Liebe einer Vivisektion, bis sie beruhigt sagen kann: „Herre, din bluͦt und min ist ein, unbewollen -/ din minne und minú ist ein, ungeteilet“ ( II , 25, 134). Mechthilds Vorliebe für Entdeckung und Beschreibung von immer neuen Funktionen, Modi und Aspekten der Minne, die letztlich auf eine eigenartige 42 Cezary Lipiński 51 Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, S. 250. Systematik hinausläuft, hat ihren Grund im hier hervorgehobenen Zusammen‐ hang zwischen Liebe und Erkenntnis: „Minne ane bekantnisse dunket die wisen sele ein vinsternisse, bekantnisse ane gebruchunge dunket si ein hellepin, ge‐ bruchunge ane mort kan si nit verklagen.“ (I, 21, 38) Die Überzeugung von ihrem sinnlichen Charakter durchzieht Mechthilds Werk vom ersten bis zum letzten, siebenten, Buch. Gleichgültig, ob die Liebe - wie im ersten Buch - der Er‐ kenntnis die Tür öffnet, Ich mag nit tanzen, herre, du enleitest mich. Wilt du, das ich sere springe, so muͦst du selber vor ansingen; so springe ich in die minne, von der minne in bekantnisse, von bekantnisse in gebruchunge, von gebruchunge úber alle moͤnschliche sinne. Da wil ich bliben und wil doch fúrbas crigen. (I, 44, 60) oder - wie im siebten - deren Voraussetzung darstellt, Sus sin wir aber mit gotte vereinet in annemmelichet liebin und demuͤtiger dankber‐ keit. […] So wirt únser herze minnenvol, so werdent únser sinne geoffenet und so wirt únser sele also clar, das wir sehen in die goͤtlichen bekantnisse als ein mensche sin antlize besihet in eime claren spiegel (VII, 7, 544, 546) es bleibt der Weg der Liebe mit dem Weg der Erkenntnis aufs engste verknüpft. Dies betrifft alles, sogar Gott, der - auf welche Art auch immer - wahrnehmbar und sinnlich greifbar sein muss: „An einem gedachten Gott ist Mechthild nicht interessiert, sie sucht den in den Affekten und mit den verwandelten Sinnen unmittelbar erfahrbaren Gott.“ 51 „[D]ú wise minne hat bekantheit“ ( II , 11, 98) stellt sie im zweiten Buch des Fließenden Lichts fest. Nur „die bekante minne git sich allen creaturen gemeine“ ( III , XXIV , 222); nur die „erkennende Liebe“ ist fähig, die Fesseln des Irdischen zu sprengen, zu Gott hinaufzusteigen oder den himmlischen Bräutigam unwiderstehlich an sich zu ziehen, und ihn nach sich schmachten zu lassen. Erst mit der Verwundung beginnt die wahre Liebe, sagt Gott im angeführten Zitat ( III , 9). Die Erkenntnis der Unvermeidbarkeit des Leids ist bei Mechthild ein fester Bestandteil des Schreckens der Liebe ( III , 24, 222), der eine notwendige Erfahrung jeder edlen, von „zergenglichen dingen“ ( III , 24, 222) befreiten, Gott suchenden Seele ist. Dies ist auch die ultimative Rekapitulation des die Liebe und Erkenntnis einschließenden Programms, das zwei Engel der Seele im letzten Buch des Fließenden Lichts verraten: „Wir wellen dich bringen von pine ze pine, von tugenden zuͦ tugenden, von bekantnisse zuͦ bekantnisse, von minnen ze minne.“ ( VII , 9, 550) 43 Gott, der an Frauenbrüsten ruht 52 Albrecht Classen, „The Quest for Knowledge Within Medieval Literary Discourse: The Metaphysical and Philosophical Meaning of Love”, in: ders. (Hrsg.), Words of Love and Love of Words in the Middle Ages and the Renaissance, Medieval and Renaissance Texts and Studies, 347, 2008, S. 1-51, hier S. 18-20, S. 43-44 (Tempe: Arizona Center for Me‐ dieval and Renaissance Studies). Schlussfolgerungen Alle einzelnen Aspekte und Funktionen der Liebe erscheinen bei Mechthild als eigentümliche Inszenierungen, die den Allzusammenhang in der Liebe deutlich machen: Dis buͦch ist begonnen in der minne; es sol oͮch enden in der minne, wand es ist niht also wise noch also helig noch also schoͤne noch also stark noch also vollekomen als die minne. (IV, 28, 312) Die Mystikerin selbst vertrat den Standpunkt, über die ihr geoffenbarten Dinge sprechen zu müssen („Ich muͦs sprechen got ze eren und oͮch durch des buͦches lere“ [ IV , 2, 228]). So verwickelte sie sich in eine paradoxe Situation: Sie fürchtete Gott, wenn sie nicht geschrieben hätte, sie fürchtete aber auch die Reaktionen der Menschen, wenn sie schrieb („Ich han da inne ungehoͤrtu ding gesehen, als mine bihter sagent, wan ich der schrift ungeleret bin. Nu voͤrhte ich got, ob ich swige, und voͤrhte aber unbekante lúte, ob ich schribe.“ [ III , 1,148]). Sie war sich darüber im Klaren, dass eine Lehre, die den Aufstieg der Seele zu ihrem Eins‐ werden mit Gott und darüber hinaus, ohne Vermittlung der Kirche, mitunter im Widerspruch zu deren bindenden Auslegung, auf Widerstand stoßen konnte. Trotzdem teilte sie mit, was sie glaubte geoffenbart bekommen zu haben: dass die Liebe der Weg zu Gott sei, dass sie den gemeinsamen wesenhaften Nenner darstelle, der Gott und den Menschen zusammenbringe; dass dem Ruf der Liebe nicht folgen zu wollen, ein Leben bedeute, in dem es keinen Platz für Erkenntnis und Freiheit gebe. 52 Bibliographie Albrecht Classen, „Worldly Love - Spiritual Love. The Dialectics of Courtly Love in the Middle Ages”, in: Studies in Spirituality, 11, 2001, S. 166-186. Albrecht Classen, „Die flämische Mystikerin Hadewijch als erotische Liebesdichterin”, in: Studies in Spirituality, 12, 2002, S. 23-42. 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(Hrsg.), Words of Love and Love of Words in the Middle Ages and the Renaissance (Medieval and Renaissance Texts and Stu‐ dies, 347), Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies, Tempe, 2008. Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters Sprachwitz, Intelligenz, Spiel und sexuelle Erfüllung Albrecht Classen (Tucson, Arizona) I Was wäre die Weltliteratur ohne das große und unerschöpfliche Thema von Erotik und Sexualität? Das menschliche Leben ist bis heute stets noch von dem Verlangen nach erotischer oder sexueller Erfüllung bestimmt, wenngleich sich die sozialen, ökonomischen, politischen und religiösen Rahmenbedingungen im Laufe der Zeit erheblich gewandelt haben. Liebe gehört zum A und O der menschlichen Existenz, wie uns bereits das Hohelied im Alten Testament deut‐ lich zu erkennen gegeben hat. Zugleich handelt es sich um eines der schwie‐ rigsten Probleme in unserem Dasein, das uns quält, beglückt, zufrieden oder unzufrieden stellt, leicht zu Hass und Streit führt und unablässig Unruhe, ja sogar Konflikte auslöst, immer wieder unendliche Freude bereitet und die Er‐ füllung all unserer Wünsche repräsentiert. 1 Ob wir an Ovid in der römischen Antike oder an Shakespeare im 17. Jahr‐ hundert denken, die Spannungen zwischen Liebenden oder Ehepartnern treten immer wieder auf, denn nicht nur gibt es gravierende Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sondern die Intensität und Art der Gefühle variieren unun‐ terbrochen. Das ganze menschliche Leben findet sich vielfach gebrochen und reflektiert vor allem im literarischen Diskurs über die Liebe, die als ‚Grundton 2 A. T. Hatto, Eos: An Enquiry into the Theme of Lovers’ Meetings and Partings at Dawn in Poetry, Mouton, The Hague, 1965. 3 Wenngleich leicht anders gelagert, argumentiert aber C. Stephen Jaeger, Enchantment: On Charisma and the Sublime in the Arts of the West, University of Pennsylvania Press, Philadelphia, 2012, doch dafür, wichtige Parallelen und Gemeinsamkeiten in der kul‐ turellen Entwicklung der westlichen Kultur von der Antike bis zur Gegenwart wahr‐ zunehmen. der Weltmusik‘ stets gleich bleibt, die aber im Laufe der Zeit in ihrer gesell‐ schaftlichen Ausprägung beträchtlichen Abwandlungen unterworfen ist. Hin‐ sichtlich des Liebesdiskurses können wir sogar einen gemeinsamen Nenner auf den verschiedenen Kontinenten über alle Zeiten hinweg feststellen, womit wir über soziale und kulturelle Barrieren hinweg ein gleichartiges Interesse im menschlichen Leben wahrzunehmen vermögen. So findet sich das Genre des Tageliedes auf der ganzen Welt verbreitet und hat noch jede Generation von Dichtern zu neuen Schöpfungen angeregt. 2 Wir dürfen trotzdem grob einschät‐ zend postulieren, dass das spezifische Wesen von Liebesbeziehungen als Cha‐ rakteristikum von kulturellen Epochen angesehen werden kann, was ja die bis‐ herige Forschung im großen Umfang und in korrespondierender Intensität sehr deutlich vor Augen geführt hat. Literaturwissenschaft ist oftmals mit nichts an‐ derem als mit dem Erotik-Diskurs beschäftigt, d. h. mit der zentralen Thematik des Lebens. Schließlich ergänzt ja das Streben nach Liebe den grundsätzlichen Überlebenstrieb, wobei die materielle Dimension mittels der Liebeserfahrung ihre faszinierende Überhöhung / Sublimierung erfährt. Bei genauerer Betrachtung wird man sicherlich zur Erkenntnis gelangen, dass Dichter oder Autoren über alle Zeiten hinweg meistens nur ganz wenige zen‐ trale Anliegen angesprochen haben, sei es die Gottessuche, Tod, Selbstfindung, Welterfahrung oder eben Liebe in ihren vielen Ausprägungen. Zugestandener‐ maßen lässt sich z. B. der höfische Roman nicht ohne weiteres mit einem Roman des 19. oder 21. Jahrhunderts vergleichen, und sicherlich differieren die politi‐ schen oder ideologischen Anliegen von Verfassern von Heldenepen beträchtlich von denjenigen von Dramatikern oder Lyrikern der modernen Epoche. Das zentrale Wesen des Menschen verändert sich aber nicht, insoweit als jeder schon immer nach Liebe und Glück, ausgedrückt durch das Grundmuster der Erotik, gesucht hat, was in literarischen Werken unablässig und in zahllosen Manifes‐ tationen zum Ausdruck kommt. 3 Die äußeren politischen, religiösen oder öko‐ nomischen Bedingungen wandeln sich natürlich ständig, aber nicht das Streben nach persönlicher Liebeserfahrung. Die vorliegende Forschung zum Cluster Erotik und Sexualität ist natürlich dementsprechend mittlerweile so umfangreich angewachsen, dass es absurd er‐ 48 Albrecht Classen 4 Siehe z. B. Albrecht Classen, Der Liebes- und Ehediskurs vom hohen Mittelalter bis zum frühen 17. Jahrhundert (Volksliedstudien, 5), Waxmann, Münster / New York / München/ Berlin, 2005; Judith J. Hurwich, Noble Strategies: Marriage and Sexuality in the „Zimmern Chronicle“ (Sixteenth Century Essays & Studies, 75), Truman State University Press, Kirksville, MS, 2006; Arndt Weber, Affektive Liebe als „rechte eheliche Liebe“ in der ehe‐ didaktischen Literatur der frühen Neuzeit (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, 1819), Peter Lang, Frankfurt am Main / Berlin, 2001. 5 Albrecht Classen, Deutsche Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts: Studien zu Martin Montanus, Hans Wilhelm Kirchhof und Michael Lindener (Koblenz-Landauer Studien zu Geistes-, Kultur- und Bildungswissenschaften, 4), Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier, 2009. scheint, auch nur den Versuch zu wagen, eine konzise Zusammenfassung der einschlägigen Literatur zu diesem Thema zu bieten. Sowohl im gesamten Mit‐ telalter als auch in der Barockzeit, sowohl in der Romantik als auch im Realismus begegnen wir fortlaufend Bemühungen von Dichtern unter anderen, den Fragen, Anliegen, Hoffnungen oder der Sehnsucht nach erotisch-sexuellen Er‐ füllungen poetischen Ausdruck zu verleihen. Im vorliegenden Aufsatz soll es aber darum gehen, in dem Rahmen einer besonderen Gattung mehr Aufmerk‐ samkeit zu widmen, weil wir hier ein wichtiges Übergangsphänomen identifi‐ zieren können, das recht gut die Transformation vom Mittelalter zur Renais‐ sance bzw. Reformationszeit auf der Ebene des Privatlebens, d. h. innerhalb des Diskurses über Erotik, Ehelehren und Sexualität zu erklären vermag. 4 Die Rede ist hier von den spätmittelalterlichen mæren, deren Ausgangspunkt bereits im Werk Des Strickers (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts) zu finden ist, die im Laufe der Zeit immer größere Beliebtheit genossen und letztlich die Grundlage für die Entstehung des prosaischen Schwanks darboten, der in großer Zahl die öffentliche Unterhaltung seit dem 16. Jahrhundert bestritt, oftmals ge‐ prägt von Witz und Erotik, Satire und derbem Spott. 5 Die meisten Werke wurden von uns fast ganz unbekannten Dichtern geschaffen, auch wenn wir öfters ihre Namen kennen. Wie populär sie wirklich gewesen sein mögen, können wir heute auch nicht mehr präzise einschätzen, denn der sehr wahrscheinliche Ver‐ lust von handschriftlichen Kopien hat dieser Kalkulation einen Riegel vorge‐ schoben. Aber die Überlieferung von einschlägigen Texten erweist sich insge‐ 49 Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters 6 Robert J. Clements / Joseph Gibaldi, Anatomy of the Novella: The European Tale Collection from Boccaccio and Chaucer to Cervantes, New York University Press, New York, 1977; Ursula Peters, Literatur in der Stadt: Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kul‐ turellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 7), Max Niemeyer, Tübingen, 1983; Victor Millet, „Märe mit Moral? Zum Verhältnis von weltlichem Sinnangebot und geistlicher Moralisierung in drei mittelhochdeutschen Kurzerzählungen“, in: Christoph Huber / Burghart Wachinger / Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Max Niemeyer, Tübingen, 2000, S. 273-290. Einige der wichtigsten Arbeiten zu diesem Genre sind: Hanns Fischer, Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 12), C. H. Beck, München, 1966; Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, 2. Aufl. hrsg. von Johannes Janota, Max Niemeyer, Tübingen, 1983; Karl-Heinz Schirmer (Hrsg.), Das Märe: Die mittelhochdeutsche Versno‐ velle des späteren Mittelalters (Wege der Forschung, 558), Wissenschaftliche Buchge‐ sellschaft, Darmstadt, 1983; Hans-Joachim Ziegeler, Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (Münchener Texte und Untersu‐ chungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 87), Artemis, München / Zürich, 1985; vgl. dazu Joachim Heinzle, „Kleine Anleitung zum Gebrauch des Märenbegriffs“, in: Klaus Grubmüller / Leslie Peter Johnson/ Hans-Hugo Steinhoff (Hrsg.), Kleinere Er‐ zählformen im Mittelalter: Paderborner Colloquium 1987 (Schriften der Universitäts-Ge‐ samthochschule-Paderborn, 10), Schöningh, Paderborn / München, 1988, S. 45-48. Für eine solide Textauswahl, siehe Novellistik des Mittelalters: Märendichtung, hrsg., über‐ setzt und kommentiert von Klaus Grubmüller (Bibliothek des Mittelalters, 23), Deut‐ scher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main, 1996. Der Kommentarteil erweist sich als sehr umfassend. Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos: Eine Ge‐ schichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau - Märe - Novelle, Max Nie‐ meyer, Tübingen, 2006; vgl. dazu Erotic Tales of Medieval Germany. Selected and trans. Albrecht Classen (Medieval and Renaissance Texts and Studies, 328), Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies, Tempe, AZ, 2007, rev. and expanded sec. ed., 2009. samt als sehr beeindruckend, und so manche der mæren lassen sich durchaus als Meisterwerke ihrer eigenen Art beweisen. 6 Viele dieser Verserzählungen sind bisher schon das Objekt kritischer Ana‐ lysen gewesen, während es mir hier nicht so sehr um die spezifischen Gat‐ tungsfragen oder inhaltlichen Aussagen geht, sondern darum, wie hier Erotik und Liebe gespiegelt werden und wie dieser Themenkomplex insgesamt dazu führte, dass intelligente Prozesse in die Wege geleitet werden können, die sich auf die individuelle Lebensbewältigung und das Arrangement mit der sozialen Struktur bzw. der Gesellschaft beziehen. Weiterhin soll dargestellt werden, wie stark einzelne Autoren der mæren darauf zielten, mittels ihrer ‚Liebesge‐ schichten‘ erkenntnisvermittelnd zu wirken, indem sie vor Augen führten, auf welche Weise das Medium Sprache dazu dienen konnte, um Verständnis davon zu entwickeln, wie religiöse, philosophische, ethische und moralische Aspekte 50 Albrecht Classen 7 Werner Röcke, Die Freude am Bösen: Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankro‐ mans im Spätmittelalter (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 6), Fink, München, 1987; ders., „Grotesque, Parody, Didactics - Aspects of the Literary History of Laughter in the Middle Ages“, in: Neohelico, 23. 2, 1996, S. 145-166; Klaus Grubmüller (Hrsg.), Novellistik, formuliert diese These folgendermaßen: „Freisetzung des Bösen: Der Weg ins Grotestke“ (S. 875). Darunter hat er eine ganze Gruppe von Erzählungen gesetzt, in denen es zwar gelegentlich zu beträchtlicher Gewaltausübung kommt, die aber thematisch gesehen doch sehr unterschiedlich sind und wo oftmals das Eheverhältnis neu durchdiskutiert wird. Vom ‚Bösen an sich‘ in einer von der The‐ odizee geprägten Welt kann gar nicht die Rede sein. im Leben zu bewältigen wären. Anstatt wie andere Forscher darauf zu insis‐ tieren, dass hier in dieser Gattung Elemente des Bösen, des Chaos und der De‐ konstruktion stark zutage treten, was gelegentlich wohl der Fall sein mag, 7 soll der Nachweis erbracht werden, dass über diese mæren ein fundamentaler Dis‐ kurs gepflegt wurde, wie die Erotik zum Einsatz gebracht werden konnte, um grundsätzliche Probleme in der Liebe, der Ehe und der Sexualität anzugehen und neuartig zu lösen bzw. zumindest kritisch zu umschreiben, um somit zur prag‐ matischen und glückserfüllten Lebensbewältigung beizutragen. Die Vielfalt an diesen Verserzählungen ist ungemein groß, aber bei genauerer Hinsicht entdecken wir doch, dass insgesamt nur einige wenige wichtige As‐ pekte zur Sprache kommen. Ich konzentriere mich zunächst auf Dietrichs von der Gletze Der Borte, wende mich dann Ruprechts von Würzburg Die Treueprobe zu, um schließlich Heinrich Kaufringers Die Suche nach dem glücklichen Ehepar anzugehen. Es handelt sich jeweils um einen narrativen Versuch, das Verhältnis zwischen Mann und Frau innerhalb einer Ehebeziehung auszuloten und auf ironische Weise Missverständnisse, persönliche Eitelkeiten, Minderwertig‐ keits-komplexe, Angstzustände und Unsicherheiten zu diskutieren. Während die höfische Lyrik weitgehend allein aus männlicher Sicht nur solche Liebesbe‐ ziehungen aushandelte, die nicht ehelich bestimmt waren, und während die hö‐ fischen Versromane zwar auch Eheverhältnisse berücksichtigten, diese aber nur im Hintergrund behandelten, geht es bei sehr vielen spätmittelalterlichen mæren viel mehr um die Frage, wie das persönliche Verhältnis zwischen den Geschlech‐ tern austariert werden konnte trotz zahlreicher Konflikte individueller und so‐ 51 Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters 8 Auch zu diesem Thema liegt bereits viel Forschung vor, die ich hier nur anzitieren kann. Siehe die Beiträge zu Hans-Jürgen Bachorski (Hrsg.), Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Literatur- Imagination - Rea‐ lität, 1), Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier, 1991; Neil Cartlidge, Medieval Marriage: Literary Approaches, 1100-1300, D. S. Brewer, Cambridge, 1997; Rüdiger Schnell, Frau‐ endiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs: Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit (Reihe „Geschichte und Geschlechter“, 23), Campus, Frankfurt am Main / New York, 1998; D. L. D’Avreay, Medieval Marriage: Symbolism and Society, Ox‐ ford University Press, Oxford, 2005; Classen, Der Liebes- und Ehediskurs. zialer Art, wobei der jeweilige Erzähler stets die Intention verfolgte, sein (oder ihr? ) Publikum zu unterhalten und intellektuell herauszufordern. 8 Genauso wie in der Gegenwart erwies sich bereits in der Vormoderne die Ehe als ein Ort zahlreicher Konflikte zwischen den Geschlechtern. Ganz gleich, ob eine Ehe freiwillig geschlossen oder von den Eltern arrangiert wurde, so be‐ handeln doch die mæren-Autoren das Verhältnis zwischen Mann und Frau durchwegs und konsistent als problemgeladen und schwierig, sei es, weil einer der Ehepartner unter Minderwertigkeitskomplexen leidet, sei es, weil die Kom‐ munikation zwischen ihnen nicht reibungslos funktioniert, oder sei es, weil materielle Schwierigkeiten die guten Beziehungen zwischen den Partnern zu stören drohen. Dazu kommen oftmals Altersunterschiede, die Interessen von Außenstehenden, mithin Ehebruch, Gewaltausbruch etc. Natürlich beobachten wir allenthalben noch viele andere Konflikte, vor allem häusliche Gewalt, di‐ verse Formen der Misshandlung, sexuelle Verführungen, Bedrohungen von au‐ ßerhalb und, was ein kontinuierliches und überall wahrnehmbares Problem ausmacht, Missverständnisse, Eifersucht, Angst und Sehnsucht. Wenn man die Fülle von mæren genauer betrachtet, wirkt es schließlich geradezu erstaunlich, wie verwandt die Anliegen zu denjenigen sind, die uns heute weiterhin be‐ schäftigen. Wir lachen und klagen mit den Protagonisten und können erstaun‐ lich leicht nachvollziehen, warum es zu Konflikten kommt und warum sich die dann gebotenen Lösungsvorschläge als produktiv erweisen, d. h. sogar an‐ wendbar für unsere eigene Welt. Zwar sind all diese Verserzählungen durch die sie tragenden historisch-kul‐ turellen Bedingungen geprägt, denn sie spiegeln eindeutig die Welt des euro‐ päischen Spätmittelalters wider, aber wir bedürfen nur weniger Übersetzungs‐ anstrengungen, um schnell wahrzunehmen, dass auch diese literarischen Werke für die eigene Gegenwart von Relevanz sind und Bedeutung besitzen. Gerade weil sie sich alle durch einen gewissen Grad an Fremdheit auszeichnen, die aber nicht unüberwindliche Hürden ausmacht, vermögen sie selbst heute noch aus‐ 52 Albrecht Classen 9 Albrecht Classen, "The Meaning of Literature - A Challenge of Modern Times - What the Sciences Cannot Teach Us. With Emphasis on the Gesta Romanorum, Boccaccio’s Decameron, Lessing’s Nathan the Wise, and the Verse Narratives by Heinrich Kaufringer“, in: Humanities Open Access file: / / / C: / Users/ classena/ Downloads/ humanities-05-00024.pdf (letzter Zugriff am 28. September 2016). Siehe auch die hilf‐ reiche Sammlung von Aufsätzen, Flemming G. Andersen / Morten Nøjgaard (Hrsg.), The Making of the Couple: The Social Function of Short-Form Medieval Narrative: A Sympo‐ sium, Odense University Press, Odensee, 1991. 10 Ursula Kocher, Boccaccio und die deutsche Novellistik: Formen der Transposition italieni‐ scher ‘novelle’ im 15. und 16. Jahrhundert (Chloe, Beihefte zum Daphnis, 38), Rodopi, Amsterdam, 2005; Luisa Rubini Messerli, Boccaccio deutsch: Die Dekameron-Rezeption in der deutschen Literatur (15.-17. Jahrhundert), 2 Bde. (Chloe. Beihefte zum Daphnis, 45), Rodopi, Amsterdam, 2012; Ingrid Bennewitz (Hrsg.), Giovanni Boccaccio: Italie‐ nisch-deutscher Kulturtransfer von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien, 9), University of Bamberg Press, Bamberg, 2015; Christa Bertelsmeier-Kierst / Rainer Stillers (Hrsg.), 700 Jahre Boccaccio: Traditionslinien vom Trecento bis in die Moderne (Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit, 7), Peter Lang, Frankfurt am Main / Bern, 2015. Zu den Cent Nouvelles Nouvelles, siehe jetzt die ausgezeichnete spanische Übersetzung, Las cien nuevas nou‐ velles, durch Cristina Azuela und Taiana Sule. Einführender Beitrag von Cristina Azuela, Universidad Nacional Autónoma de México, Mexico Stadt, 2016. Wie die jüngste For‐ schung zunehmend wahrnimmt, enthalten viele dieser Sammlungen von spätmittelal‐ terlichen Verserzählungen literarische Meisterwerke, die vielfach das Leben in der Stadt, d. h. innerhalb der Ehe spiegeln. gezeichnet als literarische Medien zu dienen, um zeitlose Fragen anzugehen und kritisch zu behandeln. 9 Obwohl wir uns hier auf deutschsprachige Beispiele beziehen, darf niemals vergessen werden, dass es sich um ein pan-europäisches Phänomen handelt, das stark beeinflusst, geprägt und gestaltet wurde durch so große Dichter wie den anonymen Verfasser der Gesta Romanorum (spätes 13. oder frühes 14. Jahrhun‐ dert), dann den Zisterziensermönch Caesarius von Heisterbach (Dialogus Mira‐ culorum, ca. 1220) und den italienischen Renaissance-Gelehrten Giovanni Boc‐ caccio (Decamerone, ca. 1351). Gerade letzter wurde stark in ganz Europa rezipiert, wie Geoffrey Chaucers Canterbury Tales (ca. 1400) und die Sammlung Cent Nouvelles Nouvelles (ca. 1450-1460) beweisen, und wie wir es zahlreich auch in deutschen mæren und dann Schwänken beobachten können. 10 Viele andere Namen und Werktitel wären hier noch zu erwähnen, es genügt dies alles aber bereits, um deutlich zu machen, wie intensiv besonders im Spät‐ mittelalter auf diesem literarischen Gebiet die Themen von Liebe, Ehe, Sexualität und dann natürlich viele andere damit zusammenhängende Problemen zwi‐ schenmenschlicher Art behandelt wurden. Der Diskurs jener Zeit appelliert weiterhin an uns heute, zwar nicht als eine direkte Antwort auf moderne Fragen oder Konflikte, dafür aber als ein relativ fremder, dennoch signifikanter Spiegel 53 Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters 11 Albrecht Classen, „The Erotic and the Quest for Happiness in the Middle Ages. What Everybody Aspires to and Hardly Anyone Truly Achieves“, in: Ian Moulton (Hrsg.), Magic, Marriage, and Midwifery: Eroticism in the Middle Ages and the Renaissance (Ari‐ zona Studies in the Middle Ages and the Renaissance, 39), Brepols, Tempe, AZ, und Turnhout, 2016, S. 1-33. 12 Auch dieses Thema hat in der Forschung viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, siehe z. B. die Beiträge in Lev Mordechai Thoma / Sven Limbeck (Hrsg.), „Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle“: Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern, 2009. Vgl. dazu Fontes Sodomitarum: Ausgewählte Quellen zur Homosexuellenverfolgung im christlichen Mittelalter, hrsg. und ins Deutsche übertragen von Bernd-Ulrich Hergemöller, Hergemöllers Historiographi‐ sche Libelli, Hamburg, 2013; Allen J. Frantzen, Before the Closet: Same-Sex Love from Beowulf to Angels in America, University of Chicago Press, Chicago, 1998. Zu diesem Thema liegt vor allem viel englischsprachige Forschung vor, die hier nicht im einzelnen aufgelistet werden muss wegen ihres Schwerpunktes auf historische Bedingungen. menschlicher Verhaltensformen. 11 Allerdings beschränken sich weder Boccaccio noch Chaucer, weder Kaufringer noch Poggio Bracciolini - siehe auch Franco Sacchetti, Johann Pauli, Marguerite de Navarre etc. - bloß auf das erotische Element, sondern führen von dort meistens schnell zu ethischen, religiösen, moralischen oder politischen Aspekten über, womit gerade die Erotik sich als ein Katalysator erweist, um globale soziale oder emotionale Probleme anzu‐ sprechen, die die Harmonie der spätmittelalterlichen Gesellschaft zu gefährden drohen. Gerade deswegen ist die Fülle von diesen Erzählungen bis heute höchst attraktiv geblieben, weil sie präzise die horazische Regel in die Tat umsetzen, auf der Grundlage von delectatio das prodesse nahezubringen. Schließlich trifft universal gesehen zu, dass uns immer schon Erotik interessiert hat, die parallel zu Religion ausschlaggebend alle Gesellschaften stark bestimmt hat. Aus der literarischen Unterhaltung oft pikanter Art entsteht dabei ein wichtiger Diskurs über philosophische oder theologische Anliegen. II In den letzten Jahren hat man sozusagen Dietrichs von der Gletze Der Borte neu entdeckt, ein mære, in dem der Erzähler ungemein spannende und bis heute wichtige Fragen zum Verhältnis von Mann und Frau aufwirft und sogar die Aufmerksamkeit auf das Thema ‚Homosexualität‘ lenkt, ohne dass diese tat‐ sächlich als identifizierbares Phänomen auftreten würde. Der Erzähler entwirft vielmehr eine Situation vor unseren Augen, in der die Ehefrau, die sich als Mann verkleidet hat, um ihren Mann wieder zurückzugewinnen, ihm vorwirft, sich schändlicherweise bereit erklärt zu haben, einen homosexuellen Akt zu be‐ gehen, um materiellen Gewinn daraus zu schlagen. 12 54 Albrecht Classen 13 Hans-Friedrich Rosenfeld, „Dietrich von der Glesse (Glezze)“, in: Kurt Ruh / Christine Stöllinger-Löser (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon, 2. Aufl. Bd. 2. 1-2, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 1978, S. 137-139; Otto Richard, Meyer, „Das Quellen-Verhältnis des ‚Borten‘“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 59, 1922, S. 36-46; Otto Richard Meyer, Der Borte des Dietrich von Glezze: Un‐ tersuchungen und Text (Germanistische Arbeiten, 3), Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg, 1915; hier zitiere ich aber nach Friedrich Heinrich von der Hagen (Hrsg.), Gesamtabenteuer: Hundert altdeutsche Erzählungen (orig. 1850), Bd. 1, Nr. XX, Wissen‐ schaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1961, S. 455-478 (auch zugänglich online); vgl. dazu Albrecht Classen, „Disguises, Gender-Bending, and Clothing Symbolism in Diet‐ rich von der Gletze’s Der Borte“, in: Seminar, XLV. 2, 2009, S. 95-110. Die Handlung basiert auf dem Problem des männlichen Protagonisten Kuonrât, dass er wohl wegen seiner jungen Jahre noch nicht genügend gesell‐ schaftliches Ansehen erworben hat, weswegen er sich von seiner Frau verab‐ schiedet, um in der Nähe an einem Turnier teilzunehmen. Während seiner Ab‐ wesenheit begibt sie sich in einen wohl topisch aufzufassenden Garten, als sich ein fremder Ritter nähert und um die Gunst der Dame wirbt, die sich aber stand‐ haft weigert, sie liebt ja ihren Mann und hat kein Interesse selbst an magischen Tieren (Windhunde, Jagdfalke, Pferd), mit denen jeder Besitzer leicht größte Ehre am Hof erwerben könnte. Erst als er schließlich seinen Gürtel anbietet, der demjenigen, der ihn trägt, überall den höchsten Preis eintragen würde - „Der wirdet nimmer êren blôz“ (V. 309) 13 - kann sie nicht mehr standhalten, weil sie genau diesen Gürtel für ihren Ehemann gewinnen möchte. Sie gibt sich also dem Ritter hin, worauf sie all seine wertvollen Tiere und den Gürtel erhält, womit sie später die höchsten Triumphe feiern kann. Wieso sie auf die ersten Angebote nicht eingeht, die ja den gleichen Effekt gehabt hätten, und erst dann nachgibt, als der Ritter den Gürtel anbietet, bleibt uner‐ findlich, es sei denn, wir akzeptierten die hohe symbolische, nämlich erotische Bedeutung eines Gürtels. Der Erzähler spielt offenkundig mit den unterschied‐ lichen Aussageebenen dieser Objekte / Tiere und kitzelt sozusagen die erotische Phantasie des Publikums, ohne eindeutige Erklärungen zu bieten. Das mære problematisiert aber sogleich diese Situation, denn die Dame sendet gerade nicht eine der Neuerwerbungen zu ihrem Mann, womit ihm sofort ge‐ holfen wäre. Sie wird vielmehr von einem Diener heimlich beobachtet, der da‐ rauf Kuonrât verrät, seine Frau habe Ehebruch begonnen, was formal gesehen stimmt. Dies bringt den letzteren dermaßen in Rage, dass er sich entfernt, sich zum Hof von Brabant begibt und dort verharrt, ohne jeglichen Versuch zu un‐ ternehmen, mit seiner Frau zu kommunizieren oder zu verhandeln. Diese wartet zwei Jahre geduldig, aber vergeblich, auf ihn und folgt ihm schließlich, ver‐ kleidet sich aber als Mann und taucht dann in Brabant als Heinrich von 55 Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters 14 So noch irrtümlich Andreas Kraß, „Das erotische Dreieck. Homosoziales Begehren in einer mittelalterlichen Novelle“, in: Andreas Kraß (Hrsg.), Queer denken. Gegen die Ord‐ nung der Sexualität (Queer Studies) (edition suhrkamp, 2248), Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2003, S. 277-297; dagegen Petrus W. Tax, „Zur Interpretation des ‚Gürtels‘ Diet‐ richs von der Glezze“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 124. 1, 2005, S. 47-62. Tax’ Analyse ist völlig triftig; darüber hinaus gibt es nicht mehr viel über mögliche Anspie‐ lungen auf Homosexualität in diesem mære zu sagen. Diese wird zwar erwähnt, ihre theoretische Realisierbarkeit sogar angedeutet und heftig kritisiert, aber weder Konrad noch Heinrich (seine Frau) sind homosexuell orientiert. Schwaben auf, der überall den Sieg davonträgt, besitzt er/ sie ja diese Wunder‐ tiere - vom Gürtel ist zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr die Rede. Genau dies trifft aber Kuonrât empfindlich, verlangt es ihn ja offensichtlich mehr als jemals zuvor danach, endlich die ersehnte Anerkennung als Ritter zu gewinnen, die ihm offensichtlich bis zu diesem Moment vorenthalten worden ist. Als die beiden neuen ‚Freund‘ in einer Kriegssituation gemeinsam einen Posten beziehen und somit ungestört sind, bittet Kuonrât den Fremden darum, ihm eines der Wundertiere zu schenken, die dieser noch nicht einmal dem Herzog hatte verkaufen wollen. Nach einigem Hin und Her scheint es aber zu einer Einigung zu kommen, denn Heinrich gesteht, dass es ihn in der Liebe nach Männern gelüste, und wenn sich ihm Kuonrât gefügig zeige, wolle er ihm den Jagdfalken überlassen. Genau dies zu tun, d. h. sich dem anderen als männlichen Prostituierten hinzugeben, erklärt er sich bereit, womit die kritische Wende in der Erzählung erreicht ist. Denn nun bricht es aus Heinrich heraus, als sich der andere bereits auf den Rücken gelegt hat: „ir sit worden mir ein spot: / Welt ir nû ein kezzer sîn / durch hunde und den habech mîn“ (V. 776-78). Wie eine Schimpfkanonade lädt es sich auf ihn ab, er habe sich schändlich und schmählich verhalten, er sei noch schlimmer als ein Ketzer, denn er habe allein materielle Ziele verfolgt und sei völlig unchristlich in seinem Denken, während sie kei‐ neswegs einen richtigen Ehebruch begangen habe, weil sie sich dem anderen Ritter nur deswegen überantwortet habe, um ihrem eigenen Mann in seinem Streben nach Ehre zu helfen: „Daz ich tet, daz was menschlîch“ (V. 795). Bei genauerer Hinsicht stellt sich natürlich heraus, dass Kuonrât keineswegs als ein wahrer Homosexueller zu bezeichnen wäre, denn er bedauerte sogar die sexuelle Orientierung Heinrichs - „ez muoz mîn klage immer sîn“ (V. 746) - und war allein deswegen zu dieser Transgression bereit, weil er eines der Zaubertiere für sich gewinnen wollte. 14 Sein Ehrenkonzept erweist sich mithin als stark ma‐ teriell orientiert und ermangelt von vornherein der ideellen Grundlage, während seine Frau sich als eine energische, selbstbewusste, zugleich opferbereite und dann dennoch zielstrebige Person entpuppt, die sogar zu dieser radikalen Tat zu schreiten bereit war, als Cross-Dresser aufzutreten, um ihrem flüchtigen Mann 56 Albrecht Classen eine Lektion zu erteilen und ihn so eines Besseren zu belehren. Genau dies trifft dann auch zu, er gibt klein bei, unterwirft sich ihr, gesteht seine Schuld ein und erkennt sie als ihm überlegen vor allem in ethischer Hinsicht an, womit eine neue Machtstruktur entsteht, die relevant für das Eheverhältnis in der Zukunft gewesen sein dürfte. Aber seine Frau ist nicht nachtragend, wirft ihm nur vor, der Hauptverant‐ wortliche in dieser ganzen Krise gewesen zu sein, übergibt ihm darauf all diese Wundertiere und den speziellen Gürtel, denn diese hatte sie ja nur seinetwegen erworben. Insbesondere betont sie dann, dass sie selbst für ihn eine gute Ehefrau sein wolle: „ich wil ouch, herre, lernen / Allen dînen willen“ (V. 808-809). Die Verserzählung klingt so aus, indem der Dichter betont, dass sie von da an „zuht und êre“ (V. 819) gemeinsam pflegten und sich inniglich liebten (V. 820). Dieser Ausgang klingt zu gut, um wahr zu sein, aber es geht ja im literarischen Diskurs nicht um den Wahrheits- und Realitätsgehalt, sondern um Problem‐ analyse und -lösung, indem extreme Verhältnisse und Situationen entworfen werden, die die Bedingungen auf dem Boden der Tatsachen in etwa spiegeln und Empfehlungen vermitteln, wie das zwischenmenschliche Leben besser ge‐ staltet werden könnte. An zentraler Stelle macht sich bemerkbar, wie schwach und unsicher Kuonrât ist, der weder auf dem Turnier in der Nähe von zu Hause noch in Brabant wirklich zum Mann heranreift und offensichtlich nirgends die Anerkennung gewinnt, die ihm so vonnöten ist. Aber er ist mit einer ihn lieb‐ enden, einer selbstbewussten und sehr intelligenten jungen Frau verheiratet, die selbst unter schwierigsten Bedingungen Wege und Möglichkeiten findet, um Alternativen bereitzustellen und Lösungen für die krisengeschüttelte Ehe zu entwickeln. Allerdings ist die Eheinstitution als solche gar nicht gefährdet, während in der Praxis die Ehe der zwei Protagonisten sich als unreif und instabil erweist. Wir können zwar nichts über die Identität des fremden, geradezu mysteriösen Ritters oder über die Herkunft der Zaubertiere bzw. des zentral als Motiv dienenden Gürtels sagen, aber all diese Elemente fungieren dafür, um das altbe‐ kannte, schwer anzugehende Problem in den Griff zu bekommen, wie sich ein Ehepaar vernünftig zusammenzuraufen versteht. Wie Dietrichs Verserzählung deutlich zum Ausdruck bringt, entstehen viele Konflikte dadurch, dass eine der zwei Personen innere Schwäche demonstriert, eine Identitätskrise durchläuft, sich vom anderen zu sehr herausgefordert sieht und sich in seinem / ihrem Ehr‐ gefühl gekränkt oder erniedrigt fühlt. Dietrich thematisiert zwar oberflächlich die Frage, wie eine Ehe konstruktiv gestaltet werden kann, lenkt aber letztlich seine Aufmerksamkeit auf die persönlichen Schwierigkeiten des Individuums, 57 Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters weswegen die Beziehung über die Geschlechtergrenzen hinweg gefährdet er‐ scheint. Zugleich betont aber der Autor, wie wesentlich das erfüllte Liebesverhältnis für die glückliche Ehe sei, denn nachdem das Ehepaar den schweren Streit über‐ wunden hat, finden sie harmonisch wieder zueinander und erfreuen sich anei‐ nander bis zu ihrem Tode. Das mære erweist sich mithin als eine Meistererzäh‐ lung, weil es fundamentale Probleme zwischen Mann und Frau aufgreift und sie auf überraschende und doch produktive Art und Weise zu lösen vorschlägt. Wie überaus deutlich wird, versagt Kuonrât vor allem deswegen, weil er seiner ei‐ genen Frau aus Eifersucht weniger traut als einem Diener, weil er Angst vor der Auseinandersetzung mit ihr hat und lieber vor ihr flieht, als sie mit der Anklage auf Ehebruch zu konfrontierten. Ob sich all dies letztlich als Rechtfertigung konstruieren ließe, dass sie in ihrer Entscheidung gerechtfertigt gewesen wäre, aus dem Grund mit dem fremden Ritter zu schlafen, um dessen Gürtel für ihren eigenen Ehemann zu erwerben, bleibt etwas in der Schwebe. Aber ob es sich bei diesem Ritter wirklich um eine wahre Person handelt, lässt sich auch nicht sicher bestätigen, denn sie spottet ja nach dem Geschlechtsverkehr, der seltsamerweise auch mit einem Kuss zwischen beiden endet, obwohl sie ihn vorher so ablehnend behandelt hatte, über ihn als Ritter, der all seine Attribute verloren und mithin gar nicht mehr als männlich angesehen werden könnte: „Irn’ sît niht wol ge‐ muot“ (V. 365). Wie dem auch sein mag, sie hat durch ihr kalkulierendes Handeln die wich‐ tigsten Instrumente gewonnen, um ihrem Ehemann dazu zu verhelfen, die höchsten gesellschaftlichen Ehren zu gewinnen. Im Grunde setzt Kuonrât na‐ türlich die gleiche Strategie ein, erweist sich aber als viel eher dazu bereit, seinen Körper zu prostituieren, um eines der Tiere zu gewinnen. Seine Frau verfolgt zwar eher ideelle Ziele, aber die Erzählung belässt es doch ziemlich unbeant‐ wortet, wer von beiden mehr verantwortlich für den schwerwiegenden Konflikt zwischen beiden anzusehen wäre. Von hier aus ergeben sich viele weitere Fragen, die den ganzen Text durch‐ ziehen, denn bei genauerer Betrachtung beobachten wir noch eine Reihe von Widersprüchen, die sich der leichten Erklärung entziehen. Entscheidend bleibt aber, worauf Dietrich an zentraler Stelle hinzielt, nämlich die Reflexion über ein gutes Eheleben, das niemals ganz einfach zu gewinnen ist. Wie unsere Verser‐ zählung deutlich vor Augen führt, leidet die innere Harmonie leicht darunter, wenn einer der zwei Eheleute innere Schwäche demonstriert und unsicher ist, vergeblich nach Anerkennung strebt und nicht genau weiß, wie er oder sie seine / ihre Rolle im Leben zu finden vermag. 58 Albrecht Classen 15 Zitiert nach Gesamtabenteuer, Bd. 3 (1991), Nr. LXVIII, S. 357-382. Für eine kurze aber hilfreiche Analyse bezogen auf die komplexe Themenverschränkung, die Rolle des Ge‐ ldes und Gottes siehe Grubmüller, Die Ordnung, S. 118-119. Im Grunde spielt sich hier vor unseren Augen ein dramatischer Kampf zwi‐ schen Mann und Frau ab, ohne dass ein wahrer Streitpunkt vorläge. Sie schläft mit dem fremden Ritter, um Kuonrât zu helfen; er vernimmt diese schlimme Nachricht, versteht aber nicht den Hintergrund und verurteilt sie daher von vornherein als Ehebrecherin. Seine Handlung darauf ist aber wiederum als schwächlich zu bezeichnen, denn er trennt sich nicht offiziell von ihr, er bestraft sie nicht, er spricht nicht mit ihr oder über sie und geht dafür sozusagen ins selbstgewählte Exil, wo sich jedoch für ihn gar nichts Besonderes ergibt, ja wo er sogar bei einem Turnier, an dem inzwischen auch seine als Ritter verkleidete Frau teilnimmt, kläglich gegen einen Briten scheitert, der ihn nur so von seinem Pferd fegt. Erst Heinrich zeigt, was einen ‚Mann‘ wirklich ausmacht, aber er / sie verfügt ja über Zaubermittel, was das gesamte Prozedere des Turniers und des Rittertums in ein etwas schräges Licht wirft, ohne dass dadurch die wichtigste Thematik vergessen werden würde, wie nämlich ein junges Ehepaar wirklich zueinander finden und eine harmonische, glückserfüllte Partnerschaft über viele Jahre hinweg entwickeln kann. III In Ruprechts von Würzburg Zwei Kaufmänner und die treue Hausfrau (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts) begegnen wir einer leicht anderen Konstellation, denn das junge Ehepaar leidet im Grunde niemals unter dem Problem der Eifersucht, ob‐ wohl gerade sie auf eine ungeheure Probe gestellt wird, die sie aber letztlich glänzend besteht. 15 Wir befinden uns hier in der Welt von Kaufleuten, und sogar die Ehe der Protagonisten wird fast kommodifiziert, denn der Wirt Hogier und Bertram wetten darum, ob die Frau des jungen Mannes, Irmengart, wirklich treu sein würde oder ob sie nicht wie alle anderen Frauen durch finanzielle Verspre‐ chungen verführt werden könnte (Prostituierung). Hogier ist davon überzeugt, dass das monetäre Angebot nur groß genug sein muss, um selbst die ehrenvollste Ehefrau dazu zu bringen, ihre Tugend hintanzustellen und den Gewinn einzu‐ streichen. In diesem Fall scheint aber der Plan des Wirtes nicht zu funktionieren, obwohl am Ende sogar die Verwandten und Eltern der jungen Frau sie ernsthaft davon überzeugen wollen, das große Geldangebot anzunehmen, auch wenn sie sich dafür dem fremden Mann hingeben würde. Keiner weiß aber von der Wette und den dahinterstehenden Bedingungen, die darauf hinauslaufen, dass Bertram sein gesamtes Vermögen abgeben müsste, wenn sich seine Frau tatsächlich ver‐ 59 Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters 16 Albrecht Classen, „A Woman Fights for Her Honor: Ruprecht of Würzburg’s Von zwein kouf mannen: Female Self-Determination versus Male Mercantilism“, in: Seminar, XLII. 2, 2006, S. 95-113. führen lassen würde. Hogier weiß also genau, warum es sich für ihn lohnt, seinen Einsatz immer höher zu schrauben, denn persönlich hat er ja gar kein Interesse an Irmengard, sondern er will nur Bertrams Besitz durch diese Wette gewinnen. In ihrer Verzweiflung wendet sich schließlich Irmengart an ihre Magd Amelin und überredet sie, an ihrer Statt die Liebesnacht mit Hogier zu verbringen - eine Operation, die sich häufiger in der Literatur des Mittelalters findet, so wenn wir an Gottfrieds von Straßburg Tristan (ca. 1210) oder an Heinrich Kaufringers Die unschuldige Mörderin (ca. 1400) denken. Der Wirt plant sein Vorhaben sorgfältig, genießt die Nacht mit seinem ‚Opfer‘, zückt jedoch am Ende ein Messer und schneidet der Sexpartnerin an seiner Seite im Bett den kleinen Finger ab, den er dann im öffentlichen Prozess als Beweis hochhält, dass er tatsächlich mit Ir‐ mengart geschlafen habe. Diese aber kann bei der Verhandlung ihre zwei heilen Hände vorzeigen und damit den Gegenbeweis erbringen, was Bertram höchst erfreut und damit schnell die Handlung zum Abschluss bringt, insoweit als das Ehepaar den gesamten Besitz von Hogier übernehmen darf, sich aber als gnädig zeigt und ihn mit der Magd verheiraten, die an Stelle ihrer Herrin die Liebesnacht mit dem Werber verbracht hatte. So schlicht auch diese Erzählung auf erstem Blick sein mag, ergeben sich doch viele spannende und aussagekräftige Fragen bezogen auf das Verhältnis des Ehepaars zueinander, bezogen auf die gesamte Kaufmannsfamilie und die Ge‐ sellschaft insgesamt, in der solch ein „Kaufkontrakt“ überhaupt als möglich oder befürwortbar angesehen wurde, dann bezogen auf männliche Vorstellungen von weiblicher Verführbarkeit und das grundsätzliche Verhältnis zwischen den Ge‐ schlechtern. 16 Obwohl Bertram und Irmengard ihre Heirat auf Wunsch der Eltern schließen, entwickelt sich offensichtlich ein herzhaftes und liebendes Verhältnis zwischen ihnen. Trotzdem ergeben sich signifikante Probleme, nicht aus Eifersucht, sondern aus dem übermäßigen Vertrauen des Ehemanns, denn Bertram gibt in der Fremde mit der Treue seiner Frau an und sieht sich damit dem Widersacher Hogier ausgesetzt, laut dessen Weltsicht Frauen generell schwach seien und sich leicht verführen ließen. Man könnte zwar Bertram Anerkennung dafür aussprechen, dass er sogar soweit geht, sein gesamtes Vermögen auf seine Frau zu setzen, auf die er sich vollkommen verlässt, aber es trifft trotzdem zu, dass er leichtfertig 60 Albrecht Classen mit dem Feuer spielt, denn er hat nicht mit der kommerziellen Mentalität seiner Familie gerechnet. Außerdem unterwirft er seine Gattin dem ungeheuren Druck des Werbers und dann zusätzlich der verschiedenen Familienangehörigen, die alle Irmengart dazu drängen, für die gebotene hohe Summe Hogier eine Lie‐ besnacht zu gewähren, obwohl dies vollkommen ihrer Ehrvorstellung wider‐ spricht. Mit anderen Worten, die Mitglieder dieser Kaufmannswelt verraten hem‐ mungslos all ihre eigenen Werte, wenn ein gewisser Profit daraus zu schlagen ist. Ironischerweise ist ihnen aber gar nicht bewusst, welch großer Verlust für Bertram eintreten würde, wenn seine Frau tatsächlich mit Hogier geschlafen hätte, wie ihre entsetzte Reaktion zeigt, als die Hintergründe des Abkommens zwischen den zwei Männern bekannt werden (900-901), Sie zeigen sich über‐ haupt nicht entrüstet wegen des vermeintlichen Ehebruchs, sondern sind zu‐ tiefst geschockt wegen des großen ökonomischen Verlusts, den sie mitver‐ schuldet haben könnten. Im Wesentlichen wird hier Sex verhandelt, denn für Hogier sind alle Frauen schlicht kaufbar, solange nur der richtige Preis geboten wird. Bertram hofft da‐ rauf, dass seine Ehefrau diesem Stereotyp misogyner Art nicht entspreche, aber er hätte fast die Wette verloren, wenn nicht Irmengart eine intelligente Gegen‐ strategie entwickelte, durch die alle Pläne Hogiers kläglich scheitern, obwohl die Magd den Verlust ihrer Unschuld und ihres Fingers hinnehmen muss. An der aufrichtigen Liebe zwischen dem Ehepaar wird niemals Zweifel ge‐ äußert, aber die Erzählung formuliert doch erheblich Kritik an Bertram, der sich sträflich leichtsinnig verhält, sein gesamtes Vermögen als Wetteinsatz benutzt im Vertrauen auf das Ehrgefühl seiner Frau, während seine gesamte Familie letztlich kläglich versagt, nur an den Gewinn denkt, den die einmalige Prosti‐ tuierung Irmengarts einbringen würde, und dadurch fast größten Verlust hätte einstecken müssen. Natürlich geht die Handlung erfolgreich für das Ehepaar aus, aber nur deswegen, weil Irmengard von einer so starken Ehrempfindung durchdrungen ist und sich klug und rational selbst in dieser höchst schwierigen Situation zu verhalten vermag. Insgesamt bietet also der Dichter Ruprecht hier eine beißende Kritik am fehl‐ geleiteten kapitalistischen Denken, das beinah dazu geführt hätte, dass Bertram sowohl sein Vermögen als auch seine Ehre, von seiner Ehefrau ganz zu schweigen, verloren hätte. Ruprecht lehnt allerdings nicht die Kaufmannswelt an sich ab, sondern warnt ihre Repräsentanten davor, mittels ethischer Trans‐ gression schnell einen Gewinn erzielen zu wollen, eine Form des Denkens, die freilich am Ende zum Fiasko geführt hätte, wenn nicht Irmengart jegliches ihr zur Verfügung stehendes Mittel eingesetzt hätte, um ihre Tugend und ihre Ehe 61 Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters zu bewahren. Innerhalb eines narrativen Rahmens, in dem primär merkantilis‐ tische Kriterien ins Spiel gelangen, wird dennoch die Frage ausdiskutiert, wie das erotische Verhältnis zwischen Mann und Frau gestaltet sein soll, ganz gleich, wie die ökonomische Situation aussehen mag. Wir erkennen deutlich, dass der Erzähler primär die Kaufmannsfamilie attackiert, d. h. die gesamte urbane Ge‐ sellschaft, die nur vordergründig die ökonomischen Kriterien wahrzunehmen vermag, das globale Bild jedoch gänzlich ignoriert und dazu auch die Bedeutung der erotischen Beziehung innerhalb der Ehe missachtet. So sehr auch Bertram seine Frau zu lieben scheint, versagt er doch kläglich angesichts der globalen Situation, in der er Irmengart als die treueste Person der Welt hinstellt und dies von sich aus unter Einsatz all seines Geldes zu beweisen versucht. Er gibt mit ihr in der Öffentlichkeit an und macht sie damit zu einem Ver‐ handlungsobjekt, ohne dass sie jeglichen Einfluss darauf hätte und so zum Spielball im Wettstreit der zwei Männer wird. Der Erzähler stellt aber deutlich dar, dass all diese ökonomischen Strategien fürchterlich gescheitert wären, wenn nicht Irmengart höchste ethische Ideale verfolgt hätte und unter Einsatz größter Bemühungen bewiesen hätte, dass sie nicht korrumpierbar ist. Sie vermag sich jedoch am Ende erfolgreich durchzusetzen, weil sie eine parallele Gegenstrategie einsetzt, bei der sie Hogier mit seinen eigenen Mitteln schlägt - der Betrüger wird von ihr raffiniert betrogen. Das Ehepaar pflegt offensichtlich eine enge Liebesbeziehung, wie es vielfache Bemerkungen des Erzählers nahelegen, aber dies verhindert nicht, dass Bertram trotz allem die Existenz Irmengarts und sogar seine Ehe aufs Spiel setzt, um sich gegen den misogynen und besitzgierigen Wirt Hogier durchzusetzen. Der kri‐ tische Anklagepunkt ruht jedoch letztlich auf dem Phänomen, dass die Familie hemmungslos Irmengart dazu drängt, das Angebot des Wirtes anzunehmen, weil sie nur an den Besitzerwerb denkt und nicht an ethisches Verhalten. Für sie ist die Ehe praktisch disponibel, während Irmengard verzweifelt nach Wegen sucht, um sich gegen die Verführungsversuche Bertrams zu verteidigen. Ironi‐ scherweise vermag gerade ihr Insistieren darauf, ihre Ehre zu bewahren, Bertram großes Vermögen zuzuspielen, womit merkantilistische mit ethischen Kriterien eng zusammengeführt werden. Ruprecht zeigt mithin auf, wie schwierig es für Eheleute sein kann, ihre erotische Beziehung von sozialen, ökonomischen oder gar politischen Bedingungen fernzuhalten. 62 Albrecht Classen 17 Marga Stede, Schreiben in der Krise: Die Texte des Heinrich Kaufringers (Literatur - Ima‐ gination - Realität, 5), Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier, 1993; Albrecht Classen, Love, Life, and Lust in Heinrich Kaufringer’s Verse Narratives (Medieval and Renaissance Texts and Studies, 467. MRTS Texts for Teaching, 9), Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies, Tempe, AZ, 2014; Coralie Rippl, Erzählen als Argumentationsspiel: Heinrich Kaufringers Fallkonstruktionen zwischen Rhetorik, Recht und literarischer Stoff‐ tradition (Bibliotheca Germanica, 61), Francke, Tübingen 2014. IV Durchaus vergleichbar dazu verfolgt auch Heinrich Kaufringer in seinem mære u.d.T. Die Suche nach dem glücklichen Ehepaar (ca. 1400) diese Thematik, wo ein Ehemann mit seiner Frau in einen Konflikt gerät, weil er sie als zu geizig beur‐ teilt, während sie ihn für seine übermäßige Freizügigkeit und Interesse, Freunde einzuladen und mit ihnen zu feiern, kritisiert. Als ihm schließlich der sprich‐ wörtliche Kragen platzt, begibt er sich auf die Suche nach einem Ehepaar ir‐ gendwo in der Welt, das tatsächlich glücklich miteinander lebt. Wenn er nicht erfolgreich sein würde, hat er nicht vor, zu seiner Frau zurückzukehren. Obwohl er zweimal glaubt, bei dieser Suche erfolgreich geworden zu sein, stellt sich jedes Mal heraus, dass diese vermeintlich glückliche Ehe durch die Strategie erkauft worden ist, dass der Mann mittels einer Illusion der Welt vor‐ gaukelt, vollkommen zufrieden zu sein. Unterdrückung, psychische Misshand‐ lung, Impotenz, Bestrafung und klägliche Hilflosigkeit machen sich sofort be‐ merkbar, als der Protagonist auf die wahren Verhältnisse aufmerksam gemacht wird. Am Ende wird ihm sogar deutlich vor Augen geführt, dass seine eigenen Probleme kaum wert sind, erwähnt zu werden im Vergleich zu denen, unter denen die vermeintlich glücklichen Ehemänner zu leiden haben. Sobald er diese Erkenntnis erworben hat, kehrt er sofort zu seiner Ehefrau zurück und akzep‐ tiert von da an ihre persönliche Schwäche, während er nachgibt und seine Fei‐ erfreude zum Teil zurücknimmt. Sie besitzt, wie der Suchende lernen muss, Ehre und öffentliches Ansehen, und ihre Sparsamkeit sei im Grunde kaum ein Cha‐ rakterfehler im Vergleich zu den Schwächen anderer Frauen. Im Laufe der Zeit erweist sich, dass sich die Spannungen zwischen ihnen aufzulösen beginnen, weil sich die Gegensätze abmildern und sich so am Ende doch eheliche Freude einstellt. Es geht also grundsätzlich um die Suche nach individuellem und sozi‐ alem Glück, das eigentlich viel näher liegt, als der Protagonist meint, denn auch wenn er selbst am Ende nicht vollkommen mit der Sparsamkeit seiner Frau zufrieden ist, weiß er sie doch nach seinen Erfahrungen in der Fremde viel mehr zu schätzen und kann so ein zufriedenes und freudenreiches Eheleben mit ihr führen. 17 63 Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters 18 Knapp dazu auch Grubmüller, Die Ordnung, S. 170-174. 19 Sebastian Coxon, Laughter and Narrative in the Later Middle Ages: German Comic Tales 1350-1525 (Modern Humanities Research Association and Maney Publishing, London, 2008. Er kategorisiert jedoch viel zu stereotyp und nimmt nur zwei Typen von Lachen wahr, das aus kurzzeitiger Transgression bzw. aus der Realisation sträflichen Verhaltens resultiert (S. 177-178), während doch die Masse an mæren wesentlich komplexer ge‐ staltet ist. 20 Vgl. dazu die Beiträge in Mark Chinca / Timo Reuvekamp-Felber / Christopher Young (Hrsg.), Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext: kulturwissenschaftliche Per‐ spektiven (Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie, 13), Erich Schmidt, Berlin, 2006. Siehe dazu Erotic Tales of Medieval Germany, selected and trans. by Albrecht Classen (Medieval and Renaissance Texts and Studies, 328), Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies, Tempe, AZ, 2007. Rev. and expanded sec. ed. (2009). Siehe auch meine Monographie Sex im Mittelalter: Die andere Seite einer idealisierten Vergangenheit. Literatur und Sexualität, Wissenschaftlicher Verlag Bachmann, Badenweiler, 2011. V Insgesamt liegt uns mit der Analyse dieser drei mæren interessantes Belegma‐ terial vor, das uns gut vor Augen führt, wie stark sich gerade der Themenkom‐ plex von Liebe, Ehe und Sexualität im Spätmittelalter als ein Objekt kritischen Diskurses herausstellte. 18 Eindeutige Negativurteile fallen aus, wenngleich viel gelacht und kritisiert wird. Wenngleich das Augenmerk oftmals auf dem Kör‐ perlichen ruht, besteht doch das zentrale Anliegen darin, die konstruktive Be‐ ziehung zwischen Frau und Mann als das Ergebnis von vielen kommunikativen Bemühungen zu identifizieren, wobei es meistens gar nicht so sehr um Sex geht, sondern um Ehre, gegenseitige Anerkennung und Unterstützung und darum, die Schwächen und Stärken des jeweils anderen wahrzunehmen und möglichst durch den Einsatz eigener Methoden zu kompensieren, ohne übermäßig zu kri‐ tisieren oder sogar den anderen rundherum zu verurteilen. Wenn wir noch andere Beispiele heranziehen würden, könnten wir gut fest‐ stellen, dass in dieser Gattung viel gelacht wird, insoweit als die erotische Paar‐ beziehung in ihrer Konstruktion bloßgestellt und doch als eine wesentliche Plattform für das gesellschaftliche Zusammenleben der zwei Geschlechter ak‐ zeptiert wird. 19 Deutlich kommt immer wieder zum Ausdruck, mit welchen He‐ rausforderungen und Schwierigkeiten das Individuum innerhalb der Gesell‐ schaft zu kämpfen hat, in der oftmals ökonomische oder politische Interessen mehr überwiegen als ethische und moralische Ideale, ohne die aber das wahre Glück innerhalb der Ehe nicht zu erzielen zu sein scheint. Auf den ersten Blick könnte die Gefahr bestehen, die Fülle an mæren bloß als Puzzlestücke eines sich ausfächernden literarischen Diskurses zu identifi‐ zieren. 20 Nimmt man aber noch mehr Beispiele in Augenschein, als es hier mög‐ 64 Albrecht Classen lich gewesen wäre, stellt man hinter der Maske des Komischen deutlich fest, wie intensiv nach persönlicher Erfüllung und Freude sowohl alleine als auch insbe‐ sondere innerhalb einer Ehebeziehung gestrebt wird. Diese Einsicht hilft uns, nicht nur größeres Interesse an den Vertretern dieser Gattung zu gewinnen, sondern außerdem auch eine Brücke zwischen dem Spätmittelalter und der Mo‐ derne zu schlagen, denn die Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern setzt sich ja fort und verlangt immerfort neue kritische Ansätze, um auch die tiefsten Feinheiten in dieser konfliktuösen, aber produktiven Konstellation wahrzunehmen, diese zu akzeptieren und dann zu lernen, mit den unterschied‐ lichsten Aspekten konstruktiv umzugehen. Auf diese Weise lernt auch der moderne Leser, diese literarischen Werke des Spätmittelalters in ihren zeitlosen Qualitäten wahrzunehmen, in denen dieser alte Diskurs selbstverständlich fortgesetzt wurde, wenngleich sich die themati‐ sche Orientierung zunehmend vom Hof in den bürgerlichen Bereich verlagerte. Die traditionellen Motive wie Misogynie, Minderwertigkeitskomplexe, Eifer‐ sucht, Geldgier etc. blieben aber letztlich die gleichen, und so auch die unabläs‐ sige Suche nach dem Glück für das Individuum und für ein Ehepaar. Das mære erweist sich mithin als ein höchst bemerkenswerter literarischer Ratgeber in Hinsicht auf die Erotik, Sexualität, das Eheleben und vielerlei soziale Konflikte. Das soziale Zusammenleben fand sich bereits damals aufgehoben und getragen von dem Bedürfnis des Individuums nach Gemeinschaft, nach der Er‐ füllung körperlicher Bedürfnisse, nach Kommunikation, gegenseitigem Respekt und schließlich auch Liebe. Die Autoren dieser mæren verraten uns, wie ein‐ dringlich all diese Aspekte im 14. und 15. Jahrhundert öffentlich diskutiert wurden, wobei jedoch zunehmend die erotische und sexuelle Komponente sich als Medium erwies, um ethische, epistemologische, soziale und philosophische Fragen im komischen Kontext zu diskutieren. Bibliographie Flemming G. Andersen / Morten Nøjgaard (Hrsg.), The Making of the Couple: The Social Function of Short-Form Medieval Narrative: A Symposium, Odense University Press, Odensee, 1991. D. L. D’Avreay, Medieval Marriage: Symbolism and Society, Oxford University Press, Ox‐ ford, 2005. Hans-Jürgen Bachorski (Hrsg.), Ordnung und Lust. 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Beobachtungen zur Ikonographie weiblicher Aktfiguren in der venezianischen Malerei des frühen Cinquecento, Akademie-Verlag, Berlin, 2008, der mit weiterführender Literatur besonders auf die ikonographische Re‐ zeption von Claudians Epithalamien eingeht: vgl. ebd. S. 23-62. 2 Die Claudian-Rezeption ist insgesamt bisher nur lückenhaft untersucht worden - vgl. Fritz Felgentreu, „Art. Claudian“, in: Christine Walde (Hrsg.), Der Neue Pauly. Suppl. Die Rezeption der Antiken Literatur, Bd. 7, J. B. Metzler, Stuttgart / Weimar, 2010, Sp. 253-262, hier Sp. 253. Ferner auch: Manfred Fuhrmann, „Claudian in der Neuzeit. Geschmacks‐ wandel und Übergang von der rhetorischen zur philologischen Betrachtungsweise“, in: Fritz Felgentreu / Stephen Wheeler / Widu-Wolfgang Ehlers (Hrsg.), Aetas Claudianea, Saur, München / Leipzig, 2004, S. 207-223. Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius und Celerina im Barock Antonius Baehr (Freiburg i. Br.) 1. Venus in Claudians Epithalamium an Palladius und Celerina (c.m. 25) Als Symbol für unermessliche Schönheit, Erotik und Sexualität wurde die Lie‐ besgöttin Venus in den bildenden Künsten und der Literatur immer wieder ab‐ gebildet und beschrieben. Vor allem die Dichtung des Barock hat ihr Bild häufig aufgegriffen und es fortwährend transformiert. Als wichtiges Vorbild für die Venusrezeption im Barock muss das Epithalamium an Palladius und Celerina (um 400 n. Chr.) von Claudius Claudiani gelten, das motivgeschichtlich deshalb eine wichtige Rolle spielt, weil es in der Eingangsszene die nackte, ruhende Venus darstellt, die von Statius (silv. 1,2) poetisch geprägt, von Ennodius (carm. 1,4) erotisch verschärft und fortan in der Malerei und Dichtung vielfältig nach‐ gebildet wurde. 1 Wie die Claudian-Rezeption insgesamt 2 ist die Rezeption des c.m. 25 noch nicht gewürdigt worden, obwohl Joachim Haertel bereits 1910 auf mehrere barocke Adaptionen des Motivs der nackten bzw. schlafenden Venus 3 Wilhelm Haertel, Johann von Besser. Sein Leben und seine Werke, Felber, Berlin, 1910, S. 57-59. Ferner weist Haertel auf die Claudian-Rezeption Hofmannswaldaus hin, der mit seinem Gedicht Die Schlaffende Venus/ bey dem Freytag-Rötelischen Hochzeitsfeste Claudians c.m. 25 im Filter Giambattista Marinos Venere Pronuba rezipiert. Zur Abhän‐ gigkeit Hofmannswaldaus zu Marino vgl. Lothar Noack, Christian Hoffmann von Hoff‐ mannswaldau (1616-1679): Leben und Werk, Max Niemeyer, Tübingen, 1999, S. 206. Au‐ ßerdem bietet Johann Rölings Hochzeitsgedicht Der Venus Freude über die glückliche Verbindung […] (1663), [VD17 1: 640531N] eine bisher unbekannte übersetzerische An‐ eignung des c.m.25, die hier aber nicht behandelt wird, weil sie den erotischen Gehalt nicht extrapoliert. 4 Vgl. Angelo George de Capua / Ernst Alfred Philippson (Hrsg.), Benjamin Neukirchs An‐ thologie Herrn Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener und bißher unge‐ druckter Gedichte, Bd. I-VII, Max Niemeyer, Tübingen, 1961-1991. Die Gedichte werden nachstehend abgekürzt zitiert mit: NS, Bandnummer, Seitenzahl. 5 Um die Aneignungsstrategien differenziert zu beschreiben, scheint mir die Termino‐ logie Peter Stockers geeignet, der zwischen zitieren, thematisieren und imitieren un‐ terscheidet. Vgl. Peter Stocker, Theorie der intertextuellen Lektüre, Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1998, S. 49-62. 6 Weil Heiduk in seiner einschlägigen Studie für viele der in der NS erschienenen Ge‐ dichte frühere Erscheinungsdaten festlegen konnte, ist eine frühere Datierung des ano‐ nymen Die Schlaffende Venus nach des Claudiani lateinischen zwar denkbar, aber nicht nachweisbar. Vgl. Franz Heiduk, Die Dichter der galanten Lyrik. Studien zur Neukirch‐ schen Sammlung, Francke, Bern, 1971, S. 76. aufmerksam gemacht hat. 3 Dazu gehören vier Gedichte, die alle zuerst in der Neukirchschen Sammlung  4 veröffentlicht wurden: Johann von Bessers Ruhestatt der Liebe/ oder Die Schooß der geliebten (1695), Benjamin Neukirchs Auff die Perlitz-Mühlendorffische Hochzeit (1695), das anonyme Gedicht Die Schlaffende Venus nach des Claudiani lateinischen (1697) und Christian Hölmanns Abbil‐ dungen der Schooß (1704). Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die vier Claudian-Rezeptionen in „dichten“ intertextuellen Lektüren vorzustellen. Gezeigt werden soll, mit wel‐ chen Aneignungsstrategien 5 die Bearbeitungen die Vorlage nachahmen oder überbieten, ganz nach den barocken Prinzipien der imitatio und aemulatio. Dabei wird vor allem die Eingangsszene des Claudian‘schen Epithalamium in den Blick genommen, um anhand der erotisierenden Rezeptionen exemplarisch den Wandel des erotischen Diskurses am Ende des 17. Jahrhunderts nachzuvoll‐ ziehen. Aufgrund der unsicheren Datierungen der Texte kann allerdings nicht von einer streng chronologischen Abfolge der vorgestellten Rezeptionen ausge‐ gangen werden. 6 Stattdessen wird mit dem anonymen Gedicht Die Schlaffende Venus nach des Claudiani lateinischen zunächst eine überbietende Imitation der lateinischen Vorlage analysiert. Anschließend wird mit Bessers berüchtigter Ruhestatt der Liebe eine gewagte Parodie auf Claudians Epithalamium vorge‐ 71 Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius 7 Ich zitiere das Claudians Epithalamium nach der kritischen Ausgabe von John B. Hall (Hrsg.), Claudii Claudiani carmina, Teubner, Leipzig, 1985, S. 358-365. 8 Vgl. Sabine Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, Saur, München / Leipzig, 2004, S. 191. 9 NS, Bd. II, S. 140-142. stellt, bevor gezeigt wird, wie sich die Claudian-Rezeption mit Benjamin Neu‐ kirchs Parodie Auff die Perlitz-Mühlendorffische Hochzeit und Christian Höl‐ manns Abbildungen der Schooß verselbstständigte. 2. Das c.m. 25 als erotisches Gedicht Der Inhalt des 146 Hexameter umfassenden Epithalamiums an Palladius und Celerina  7 lässt sich kurz zusammenfassen: In der Mittagshitze legt sich Venus in einer Grotte nieder; in ihrer Nähe schläft ihr Gefolge von Armoretti und Nymphen. Plötzlicher Lärm eines Hochzeitsfestzuges weckt die Liebesgöttin, die den Hochzeitsgott Hymen ruft. Weil sich dieser im Flötenspiel übt, anstatt die Ehe zu schließen, tadelt ihn Venus, um sich dann nach den Brautleuten zu erkundigen. Der Hochzeitsgott gibt in einer Lobrede auf die Familien des Ehe‐ paars Auskunft, worauf Venus zum Brautpaar fährt, um die Vorbereitungen für die Hochzeit zu treffen, den Brautleuten eine Anleitung zur sexuellen Vereini‐ gung vorzutragen und die Ehe mit dem Schuss zweier Liebespfeile in die Herzen von Braut und Bräutigam besiegelt. Damit gliedert sich das Gedicht grob in drei Abschnitte: Im ersten Teil - nach einer vorangehenden Praefatio - wird die ruhende Göttin Venus mit ihrem Ge‐ folge beschrieben (V. 1-24). Der zweite Teil umfasst einen Dialog zwischen Venus und Hymen, der dem Brautpaar huldigt (V. 25-99), während im dritten Abschnitt die Eheschließung geschildert wird (V. 99-145). Das im ersten Teil des Gedichts beschriebene Bild der schlafenden Venus wurde häufig „als Gleichnis für die noch zu erweckende eheliche Liebe und Sexualität“ 8 interpretiert. Nach‐ stehend soll gezeigt werden, wie gerade diese Eingangsszene in der barocken Rezeption deutlich erotisch aufgeladen und verschärft wurde. 3. Anonym: Die Schlaffende Venus nach des Claudiani lateinischen (1697) 9 Das Hochzeitsgedicht Die Schlaffende Venus nach des Claudiani lateinischen bietet eine nachahmende Aneignung der lateinischen Vorlage, wie sie seit Martin Opitz’ epochaler Poetik, dem Buch der deutschen Poeterey (1624), im ge‐ samten 17. Jahrhundert praktiziert wurde. Der Titel verweist metatextuell auf 72 Antonius Baehr die antike Vorlage und markiert den Bezug hinreichend und prägnant. Die He‐ xameter von Claudians Epithalamium gibt der anonyme Dichter in formvollen‐ deten Alexandrinern mit durchgehenden Mittelzäsuren wieder. Das Reim‐ schema, ein umarmender Reim mit einem darauffolgenden Paarreim (abbacc), wirkt strukturgebend: Das Ende gedanklicher Einheiten fällt mit dem Ende eines jeden sechsten Verses zusammen, wodurch die Paarreime pointierend wirken. Damit setzt der anonyme Verfasser ein Strukturelement ein, das der lateinischen Vorlage fehlt, und stellt die formalästhetische Überlegenheit seiner übersetze‐ rischen Aneignung unter Beweis. Bezeugt wird das Formbewusstsein auch durch die einheitlichen Kadenzen, die für alle umschließenden Verse stumpf, für die umschlossenen und paargereimten Verse klingend gestaltet sind. Inhaltlich gliedert sich die anonyme Übersetzung analog zur Vorlage: Im ersten Teil wird die ruhende Göttin Venus mit ihrem Gefolge beschrieben (V. 1-36); der zweite Teil gibt stark gekürzt den Dialog zwischen Venus und Hymen wieder (V. 37-66), während der dritte Abschnitt die Fahrt der Venus zum Braut‐ paar und die Eheschließung bietet (V. 67-90). Ein quantitativer Abgleich führt vor Augen, dass die anonyme Übersetzung den Fokus stärker auf den ero‐ tisch-voyeuristischen Charakter des Gedichts richtet. Inhalt Claudian Unbekannt Beschreibung der nackten Venus und ihrem Gefolge V. 1-24 V. 1-36 Dialog zwischen Venus und Hymen V. 25-99 V. 37-66 Fahrt der Venus zum Brautpaar und Eheschlie‐ ßung V. 99-145 V. 67-90 Der erste, die nackte Venus darstellende Abschnitt ist partiell amplifiziert, wäh‐ rend die letzten beiden Abschnitte stark reduziert sind. Nimmt in Claudians Epithalamium der Mittelteil mit der Hälfte der Verse noch den Großteil des Ge‐ dichts ein, sind die relativen Anteile der Abschnitte in der anonymen Überset‐ zung mit je ca. dreißig Versen gleichmäßig verteilt. Hymens Laudatio auf die Familien des Brautpaars, die bei Claudian in knapp vierzig Versen (V. 58-95) facettenreich Berufe und Vorzüge der Familienmitglieder schildern, gibt der Dichter pauschalierend, anonymisiert und drastisch gekürzt in sechs Versen wieder: Er sprach: mich wunderts sehr/ o göttin! daß solch eh 73 Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius 10 Übersetzung nach: Horstmann, Das lateinische Epithalamium, S. 190. Dir unbewust mag seyn; zwey hochberühmte häuser Verknüpfen würd‘ und glanz/ und flechten lorbeer-reiser Um ihre Scheitel rum; des ehrenstandes höh Erfordert gleich gedicht/ des bräutgams grosse tugend Verschonet auch zugleich der braut hochedlen jugend. (V. 61-66) Mit der anonymisierten Schilderung harmonisiert der Dichter das quantitative Verhältnis der drei Gedichtabschnitte. Darüber hinaus nutzt der anonyme Dichter die Reduktion dazu, das Epithalamium von dessen spezifischen Anlass zu lösen und es sich so anzueignen. Dagegen ist die Venusbeschreibung rheto‐ risch deutlich ausgedehnt. Bei Claudian ist die halbnackte Venus in nur sieben zurückhaltenden Versen dargestellt: 1 Forte Venus blando quaesitum frigore somnum Vitibus intexti gremio successerat antri Densaque sidereos per gramina fuderat artus adclinis tlorum cumulo; crispatur opaca 5 pampinus et musto sudantem ventilat uvam, ora decet neclecta sopor; fastidit amictum aestus et exuto translucent pectore frondes. (Zufällig hatte sich Venus, um in schmeichelnder Kühle Schlaf zu suchen, in den Schoß einer mit Weinreben bedeckten Grotte zurückgezogen und ihre strahlenden Glieder über den dichten Rasen ausgebreitet, gelehnt auf einen Haufen Blumen; das schat‐ tenspendende Weinlaub kräuselt sich und fächelt der vom jungen Wein schwitzenden Traube Kühlung zu. Der Schlaf schmückt das nicht zurechtgemachte Gesicht; die Hitze verschmäht das Gewand und durch das Laub schimmert ihre entblößte Brust.) 10 In der anonymen Übersetzung hingegen wird die voyeuristische Venusbeschrei‐ bung rhetorisch deutlich erweitert und fast auf die vierfache Länge amplifiziert: 1 Die Sonne hatte kaum den mittag heiß gemacht/ Als Venus gantz ermatt ihr eine höl erwehlet/ Wo weder schlaff noch ruh/ noch kühler schatten fehlet/ Und wo ein reben-blat gab dunckel-grüne nacht/ 5 In die ein linder west mit sanftem rauschen spielte/ Und so der göttin hertz und müde seele kühlte. Sie warf die sternen-pracht/ die glieder in das graß/ 74 Antonius Baehr Der blumen höchster wunsch war so gedrückt zu werden/ Die nelcke schien ein feur/ die ros’ ein stern der erden/ 10 Die veilg ein blau saphir/ die lilg ein spiegelglaß/ Und Venus goldnes haupt entschlieff nur auff narcissen. Iesminen legten sich zu pfül und unterküssen/ So lag die lust der welt ohn alle kleider bloß/ Indem die volle brust die trauben nachbar nennte/ 15 Und der belebte schnee von zwey rubinen brennte. Hold/ freude/ lieb und gunst ruht’ in der schönen schoos/ Der süß geschwollne mund war etwas aufgeschlossen/ Aus dem die zucker-bäch und nectar-quellen flossen. Den schlaf ergötzte noch ein angenehmer bach/ 20 Der sein bemostes haupt mit reinem silber tränckte/ Und nichts als liebligkeit auf grüne wiesen lenckte/ Der etwas zitternd floß/ und küsse nach und nach Dem lieben ufer gab/ das lorber-bäume zierten/ Um die die Gratien holdreiche täntze führten/ […] (V. 1-24) In kunstvoller Bildlichkeit umschreibt der Dichter den von Venus erwählten locus amoenus: Das von Claudian beschriebene „schattenspendende Weinlaub“ ist mit pars pro toto „ein reden-blat“, das „dunkel-grüne nacht“ gibt (V. 4), dar‐ gestellt; metonymisch ist die durch das Blätterdach fallende Sonne abgebildet. Dagegen haben die polysyndetischen Partikel „weder schlaff noch ruh/ noch kühler schatten fehlet“ (V. 3) eine mimetische Funktion. Weil sie mit den Ver‐ ssenkungen zusammenfallen, rhythmisieren sie den Alexandriner monoton und stellen dadurch das zur Ruhe kommende Gemüt der Venus dar. Die in den ersten sechs Versen hergestellte idyllische Atmosphäre steht der sich sprichwörtlich ins Blumenbeet werfenden Venus entgegen: „Die nelcke schien ein feur/ die ros’ ein stern der erden/ Die veilg ein blau saphir/ die lilg ein spiegelglaß.“ (V. 9-10). Das paradoxe Bild einer auch in der Dunkelheit der Höhle überlebenden Blu‐ menpracht spiegelt metaphorisch die nie verwelkende Schönheit der Venus, während in den Preziosen-Metaphern der evozierte locus amoenus weiter aus‐ geschmückt wird. Darauffolgend wird die nackte Schönheit hyperbolisch ab‐ strahiert: „So lag die Lust der welt ohn alle kleider bloß“ (V. 13), bevor die nackte Göttin dann tatsächlich beschrieben wird. Deutlich überbietet der anonyme Dichter den erotischen Gehalt der Vorlage, denn während die Venus bei Clau‐ dian noch ein „Gewand“ trägt und die Brust „durch das Laub schimmert“ (V. 6), ist die Venus in der Übersetzung unbekleidet und unbedeckt. In petrarkistischen Preziosen-Metaphern wird die völlige Nacktheit der Venus gemäß dem Zeitge‐ schmack beschrieben. Dabei dient vor allem die pittoreske Beschreibung der 75 Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius 11 NS, Bd. I, S. 220-226. leicht geöffneten Vulva dazu, das voyeuristische Moment des Gedichts maximal auszureizen (V. 17-18). Dies wird zusätzlich verstärkt, indem die sexuelle Hand‐ lung an der betrachteten Göttin über den personifizierten Fluss, „der etwas zit‐ ternd floß/ und küsse nach und nach Dem lieben ufer gab“ (V. 22-23), antizipiert wird. Die gewagte übersetzerische Aneignung überbietet Claudians lateinische Vorlage, indem darin die erotische Darstellung formal ästhetisiert und imagi‐ nativ ausweitet, so dass die nackte Venus zum imaginierten Objekt der Begierde wird. Trotz der metaphorischen Sprache ist die Mittelbarkeit der Erotik in der Rezeption also deutlich gesenkt, und damit wird die erotische Konnotation für die Leserschaft zu einem voyeuristischen Erlebnis. 4. Johann von Besser: Die Ruhestatt der Liebe / oder die schooß der geliebten (1695) Das berüchtigte, 240 Alexandriner umfassende Gedicht Die Ruhestatt der Liebe / oder die schooß der geliebten  11 von Johann von Besser beschreibt, wie Claudians Epithalamium eingangs eine nackte, schlafende Frau beobachtet. Allerdings substituiert Besser die Venus mit der Schäferdame Chloris, die nicht von dem Hochzeitstrubel, sondern von ihrem Verehrer Celadon durch eine nicht einver‐ nehmliche sexuelle Handlung geweckt wird. Daraufhin muss sich Celadon für sein Fehlverhalten rechtfertigen, schafft es durch seine apologetische Rhetorik jedoch, Chloris wieder für sich zu gewinnen. Das Gedicht endet mit dem ein‐ vernehmlich vollzogenen Beischlaf. Während der Götterapparat also getilgt und die Handlungsführung auf die beiden Liebenden verschoben ist, lässt sich die intertextuelle Beziehung der beiden Gedichte durch die Eingangsszene bei Besser nachweisen, in der er unmissverständlich die Eingangsverse von Clau‐ dians Epithalamium zitiert: 1 Bey diesen brennenden und schwülen sommertagen Ließ Chloris sich einmahl in ihren garten tragen/ Und suchte vor dem brand der sonnen eine klufft/ Von kühler witterung und schattenreicher lufft. 5 Sie setzte sich erhitzt bey einem baume nieder/ Und streckte bald darauff die perlen-volle glieder In das noch frische gras/ geruhiger zu seyn/ Und schlieff auch/ wie sie lag/ halb von der seiten ein. 76 Antonius Baehr 12 Vgl. Hall, Carmina, S. 359, V. 3. „Densaque sidereos per gramina fuderat artus“. 13 Nach Verweyen / Witting, ist eine Parodie „eine Schreibweise, bei der wichtige Elemente der Ausdrucksebene eines Einzeltexts […] übernommen werden, um diese Vorlage durch Komisierung herabzusetzen. […] Von der Travestie unterscheidet sich die Pa‐ rodie […] durch die Übernahme von Elementen der Ausdrucksweise.“ Vgl. Theodor Verweyen/ Gunther Witting, Einfache Formen der Intertextualität. Theoretische Überle‐ gungen und historische Untersuchungen, Mentis, Paderborn, 2010, S. 268. Das komische Element von Bessers Parodie entsteht vor allem dadurch, dass Besser die für das antike Epithalamium konstitutive lautatio des Brautpaars in eine ausschweifende Beschrei‐ bung des weiblichen Geschlechtsteils wendet und so die Gattung des Hochzeitsgedichts travestiert. Die Travestie der Gattung bedingt also die Parodie des Prätexts. Ihr alabaster-leib war nur mit flor bekleidet/ 10 Und weilen man den zwang nicht bey der hitze leidet/ Ward ihre blosse brust im grünen klee gespürt/ Die zur gemächligkeit sie eben auffgeschnürt. Der sanffte westen-wind/ bereit sie abzukühlen/ Ließ seinen othem gleich auff diese wellen spielen/ 15 Und bließ mit stillem hauch bey ihrer süssen ruh Ihr aus der floren hand die weichsten blumen zu. Es wiegte gleichsam sie sein angenehmes weben; Doch als er sich bemüht den leichten rock zu heben/ Riß endlich unversehns von der gestreckten schooß 20 Der vorgeschürzte flor mit seinem gürtel los. (V. 1-20) Das Bild der sich auf das Gras legenden Göttin 12 gibt Besser nahezu wörtlich wieder (V. 6-7), wobei er „sidereos“ nicht mit „glänzend / strahlend“ übersetzt, sondern preziös-metaphorisch mit „perlen-voll“ (V. 6). Ferner bieten die Verse 10-11 eine ziemlich getreue Übersetzung von Claudians Versen 6-7: „ora decet neclecta sopor; fastidit amictum aestus et exuto translucent pectore frondes“. Offensichtlich übernimmt Besser also nicht nur das Motiv der schlafenden, nackten Venus und projiziert es auf „Chloris“ (V. 2), sondern schließt auch tex‐ tuell wörtlich an die lateinische Vorlage an. Damit lässt sich Bessers Ruhestatt der Liebe eindeutig als Parodie von Claudians Epithalamium bestimmen. 13 In alexandrinischen Reimpaaren mit wechselndem Versgeschlecht amplifi‐ ziert Besser im epischen Ausmaß das erotische Moment und steigert es ins por‐ nographische. Dabei fokussiert die Beschreibung wie in der anonymen Über‐ setzung das weibliche Geschlechtsteil. Geschickt wird der Leser als Komplize in Mitwissenschaft gezogen, indem das lyrische Ich sich und den Leser dreifach mit „uns“ apostrophiert (V. 23-26), bevor die Betrachtung in 26 Versen bildlich beschrieben und dem Leser dadurch tatsächlich eine Art Mitsicht geboten wird. Die akkumulatio von petrarkistischen Preziosen-Metaphern („castell von 77 Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius 14 Vor allem im Hinblick auf erotische Lyrik erörtert Dirk Rose aufschlussreich Elemente der galanten Poetik, vgl. Dirk Rose, Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Lite‐ raturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes), Walter de Gruyter, Berlin / Boston, 2012, S. 239-250. marmor“ „in einem liljenthal“ „eingang von rubin“ „schatten-werck von myr‐ then“ „von helffenbein […] hüffte“ (V. 29-37)) spitzt Besser kunstvoll zu, indem er zwei abschließende Metaphern anaphorisch mit der antithetischen Pointe verklammert: Kein apffel kan so frisch sich an dem stengel halten/ Kein purpur-pfirsig ist so sanfft und zart gespalten/ Kein kleiner raum der welt hat so viel überfluß/ Als in der Chloris schooß der weisse nabel-schluß. (V. 41-44) Dabei ist dieses hyperbolische Zwischenfazit durchaus als selbstironischer Kom‐ mentar auf die eigene Programmatik zu deuten. Denn Besser stellt mit der wei‐ blichen Scham ohnehin ein pikantes Thema vor, weshalb die übermäßige Länge der Illustration übertrieben, fast unangemessen, wenn nicht gar pornographisch erscheint. Gerade dies ist jedoch Teil des galanten Programms, das Besser wie folgt zusammenfasst: „Das liebste/ das man kennt/ und doch sich scheut zu nennen/ Weil auch das blosse wort uns schon vermag zu brennen“ (V. 25-26). Paralyptisch täuscht das lyrische Ich Hemmungen gegenüber der selbst vor‐ gebrachten Thematik vor, um dann in epischer Breite das weibliche Geschlechts‐ teil zu beschreiben. Die ‚insistierende Nennung‘ ist hierbei jedoch Teil der ar‐ guten Technik, mit der die Beschreibung der weiblichen Scham künstlich überformt wird und an Schärfe verliert. Insofern ist Bessers Ruhestatt der Liebe als Probe aufs Exempel für die galante Poetologie zu verstehen 14 , die Besser freilich auf die Spitze treibt. Denn während in Claudians Epithalamium noch eine Anleitung für die Sexualität in der Ehe gegeben (V. 130-138) und in der Übersetzung die betrachtete Göttin zum Objekt der imaginierten Sexualität transformiert wird, gestaltet Besser auch den sexuellen Akt aus. Die raumdeik‐ tischen Demonstrativpronomen antizipieren die nachstehende Aktbeschrei‐ bung bereits in der vorhergehenden Naturschilderung: Die brunnen wollten sich durch diesen garten winden Die blumen glaubten hier ihr blumen-feld zu finden Die Nymphen waren selbst wie halb darein vernarrt. (V. 49-51) Doch dabei belässt es Besser nicht, sondern schildert in aller Deutlichkeit die Penetration durch Celadons Hand, die sich unmissverständlich als Vergewalti‐ gung herausstellt: 78 Antonius Baehr 15 Dirk Niefanger, „‚Allzu freye Gedancken.‘ Zur Sexualrhetorik in der Neukirchschen Sammlung“, in: Daphnis, 38 (3 / 4), 2009, S. 673-693, hier S. 693. 16 Ebd. 65 Was halff ihm alle furcht vor dem geliebten weibe? Die finger glitten aus auff dem polirten leibe/ Und rollten mit gewalt vor das gelobte land/ Das eine hole faust in allem überspannt. […] 81 Er wuste nicht was er vor hitze sollt beginnen; Er fieng wie weiches wachs vor ohnmacht an zu rinnen/ Und hätt/ ich weiß nicht was/ vor raserey vollbracht/ Wenn Chloris nicht davon zum unglück auffgewacht. 85 Sie stieß/ noch voller schlaffs/ mit ihren beyden händen/ Den frembd- und kühnen gast von ihren weissen Lenden/ Der ihre zarte schooß durchwühlet und verheert/ Und sprach/ als sie ihn sah: du bist des stranges werth. (V. 65-88) Claudians Gleichnis der schlafenden Venus für die erwachende eheliche Sexu‐ alität invertiert Besser ironisch-grotesk, indem er seine weibliche Protagonistin durch den Sexualakt erwachen lässt. Dirk Niefanger hat bereits darauf hinge‐ wiesen, dass „ein wesentlicher Teil der Barockerotik […] aus dem Reiz des Ver‐ deckens und der mehrstufigen Fiktionalisierung der Sexualität“ 15 entsteht. Ferner konnte er zeigen, wie Benjamin Neukirch in seinen Sylvia-Gedichten „die üblichen Grenzen erotischer Lyrik um 1700 - im Sinne einer aemulatio - über‐ schreitet“ 16 , indem er die Imagination des Sprechers in die Brüste der Frau pro‐ jiziert. Johann von Besser geht jedoch noch einen Schritt weiter, wenn er die Imagination in die Darstellung einer konkreten sexuellen Handlung überführt. Freilich hält er teilweise an den verdeckenden Fiktionalisierungsstrategien fest, die für die Barockerotik maßgeblich sind; mit dem extensiven Gebrauch von Metaphern z. B. stellt Besser eine Diskrepanz zwischen der konkreten Vorstel‐ lung des Geschilderten und der sprachlichen Realisierung her. Dagegen wird die sexuelle Handlung durch die drastische Beschreibung ihrer Folgen und der von Chloris gewünschten Konsequenzen unverkennbar deutlich und das Vexierspiel der vorangegangenen Fiktionalisierung dechiffriert: „Der ihre zarte schooß durchwühlet und verheert/ Und sprach/ als sie ihn sah: du bist des stranges werth“ (V. 87-88). So, wie Hymen bei Claudian vor der erwachenden Venus dafür Rechenschaft ablegen muss, dass er sie nicht früher über die bevorstehende Hochzeit infor‐ miert hat, muss sich Celadon für die an Chloris vorgenommene sexuelle Hand‐ 79 Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius 17 Zum Dialog bei Claudian vgl. Horstmann, Das lateinische Epithalamium, S. 200 f. lung rechtfertigen. Damit übernimmt Besser den rhetorischen Kunstgriff Clau‐ dians, der mit dem eingeleiteten Dialog den Gottheiten den Austausch über die Brautleute und damit den Einstieg in die Laudatio auf das Hochzeitspaar er‐ möglicht. 17 Während bei Claudian jedoch dem Brautpaar und den Eltern der Brautleute gehuldigt wird, nutzt Besser den Dialog, um in Cedalons apologeti‐ scher Rede den Sexualakt zu ästhetisieren. In einer dreistufigen Argumentation hält Celadon zunächst eine „laudatio“ auf die weibliche Scham (V. 97-124), führt dann Beispiele aus der Natur und der Mythologie an, die sein Handeln be‐ gründen und rechtfertigen (V. 125-208), bevor er Chloris selbst für seinen for‐ schen Vorstoß verantwortlich macht (V. 209-240) und sie schlussendlich be‐ sänftigt: 104 Durch jene Demmerung die um dein auge tagt/ Durch deine tulpen-schooß/ durch deine nelcken-brüste/ Durch die von beyden mir noch unbekandten lüste/ Durch deine schöne hand die mich jetzt von sich stößt? Was hab ich denn verwürckt/ das zephyr dich entblößt? Daß ich es mit beschaut/ was dessen hauch verübet/ 110 Daß ich es angerührt/ was erd und himmel liebet/ Was selbst der Götter mund begierig hat geküst/ Und was der inbegriff von deiner schönheit ist. Es ist ja deine schooß der auszug aller zierde/ Der enge sammel-platz der schmeichelnden begierde/ 115 Das rund/ wo die Natur zusammen hat gedrängt/ Was sich nur reitzendes den gliedern eingemengt. Hier ist der kleine schatz der deinen reichthum zeiget/ Der lebendige thron der alle scepter beuget/ Der süsse zauber-kreyß/ der unsern geist bestrickt/ Und deß beschwehrungs-wort die felsen auch entzückt (V. 104-120) In anaphorisch verklammerten Parallelismen und anspielungsreicher, bildlicher Sprache überformt Besser die weibliche Scham ästhetisch. Mit der Zentrierung auf die weibliche Scham travestiert er jedoch gleichzeitig das so häufig in ba‐ rocken Epithalamien vorgebrachte Schönheitslob. Vor allem die Metaphern, die das weibliche Geschlechtsteil mit Herrschaftsakzidenzien vergleichen, wirken komisierend, weil sie das Herrscher- und Frauenlob vulgär auf die weiblichen Geschlechtsteile bündelt. 80 Antonius Baehr 18 NS, Bd. I, S. 157. Gleichsam wirkt Celadons Anschuldigung, Chloris sei selbst für den Übergriff verantwortlich, grotesk, weil sie das Opfer zum Täter verkehrt. Während mit der ‚insistierenden Nennung‘ die Schuldzuweisung jedoch ironisch gebrochen wird (das lyrische Ich erklärt: „Er fuhr voll eyffers auff/ um dieses unrechts willen“ (V. 229), variiert Besser die petrarkistische Liebeskonzeption, für die die Ablehnung des Liebhabers und die Unerfüllbarkeit seiner erotischen Wünsche konstitutiv sind, überraschend. Die erzürnte Chloris kommt selbst zu Wort und willigt zur Liebesvereinigung ein: „Sie zog/ nunmehr erweicht/ nach dem be‐ zeugten haß/ Den ausgesöhnten feind mitleidig in das graß“ (V. 231-232). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Bessers Ruhestatt der Liebe als ae‐ mulatio in zwei Diskursbereichen eingebunden ist. Einerseits ist die Ruhestatt der Liebe als Claudian-Rezeption zu lesen und damit im Kontext der kulturpat‐ riotischen Nationalliteratur zu verorten, die seit Martin Opitz versucht, antike Vorbilder imitierend zu überbieten. Andererseits bricht Besser mit der streng imaginativen Tradition der erotischen Lyrik und damit auch ein eingängiges Tabu. Obwohl er mit den Preziosen-Metaphern das petrarkistische Liebesideal alludiert, sprengt seine Schilderung des sexuellen Übergriffs klar die Grenzen dieses Liebesideals, das die erfüllte Körperlichkeit höchstens imaginiert oder hypothetisch topisch (carpe diem) zulässt. 5. Benjamin Neukirchs Parodie: Auff die Perlitz-Mühlendorffische Hochzeit Mit Bessers Großgedicht nimmt die Claudian-Rezeption jedoch eine eigene Dy‐ namik an. Benjamin Neukirch nämlich veröffentlichte ebenfalls in dem ersten Band der Neukirchschen Sammlung sein Epithalamium Auff die Perlitz-Mühlen‐ dorffische Hochzeit.  18 In 100 kreuzgereimten Alexandrinern invertiert Neukirch die Handlung des Epithalamiums für Palladius und Celerina, indem er nicht mehr eine schlafende Dame, sondern einen schlafenden Mann beschreibt. Besonders pikant ist diese Inversion deshalb, weil sie vorgeblich eine biblische Geschichte neu erzählt: Der betrachtete Mann ist Adam und die betrachtende Frau Eva. Dass Neukirch die erotisierende Adaption Bessers parodiert, lässt sich zu‐ nächst durch inhaltliche Ähnlichkeiten hinreichend zeigen: Der Beschreibung des nackten Adams, der hier die Rolle der Venus bzw. der Chloris einnimmt, folgt Evas sexueller Übergriff, durch den Adam erwacht. Eine Rechtfertigung nötigt Adam seiner Eva nicht ab, stattdessen vollzieht er mit ihr den Beischlaf. Die Begründung für die Natürlichkeit der Sexualität, die bei Besser Celadon zu 81 Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius 19 Nach Stocker heißt eine Beziehung zwischen zwei Texten palintextuell, also durch Zitat oder Anspielung mit einander verbunden, wenn ein Text „spezifische Textelemente eines anderen […] im Wortlaut oder in abgewandelter Form zitiert“, vgl. Stocker, Inter‐ textuelle Lektüre, S. 54. Für barocke Texte ist zwar besondere Vorsicht geboten, topische Wendungen nicht mit Zitaten zu verwechseln, doch im vorliegenden Textausschnitt scheint mir dies nicht der Fall zu sein. seiner Verteidigung liefert, ist der Beischlafszene nachgestellt und fungiert als Aufforderung an das Brautpaar, sich ebenfalls zu vereinigen. Die intertextuelle Abhängigkeit zu Bessers Großgedicht und zu Claudians Epithalamium lässt sich neben der analogen Handlungsführung auch textuell nachweisen. Die den Schoß der Venus bedeckenden Weinreben (Claudian) transformiert Neukirch in „[d]as grüne feigenblatt/ das Adam vor sich nahm“ (V. 1), bevor Eva ihren Adam in einem Feld liegend findet. Während Venus bei Claudian „ihre strahlenden Glieder über den dichten Rasen ausgebreitet“ (V. 3) hatte und Bessers Chloris ihre „perlen-volle[n] glieder/ in das noch frische gras“ (V. 6) streckt, heißt es bei Neukirch: […] sie zu felde gieng Und ihren Adam fand im grünen grase liegen. 25 Sein leib war mehrenteils von kleidern unbedeckt/ Die glieder streckten sich/ wie silberne Colossen/ Nur diß/ was die natur zum zunder ausgesteckt/ War noch zu mehrer lust in rauches fell verschlossen. (V. 23-28) Die Beschreibung des im Grase liegenden Adams lässt sich nach Stocker trotz der getauschten Geschlechterrollen als Zitat ausweisen, das Neukirch eindeutig den Versen Claudians und Bessers nachgebildet hat. 19 Wirkungsvoll innoviert er das Motiv der nackten Venus, indem er das Bild der paganen Liebesgöttin in das des biblischen Stammvaters verkehrt und damit das erotisch-antike Motiv christlich verzerrt - die umgekehrten Geschlechterrollen potenzieren das Wagnis. Verstärkt wird das komische Moment dadurch, dass Eva der männli‐ chen Anatomie offensichtlich nicht gewahr ist. So folgert sie: Ey/ warum haben wir uns beyde doch verbunden? 5 Ist Adam so wie ich an gliedern auch bestellt/ So dürffen wir uns ja nicht vor einander schämen? Und führt er sonsten was/ das etwan mir gefällt/ Warum will die natur mir mein geschencke nehmen? Sie hätte noch vielmehr der sachen nachgedacht/ 10 Was aber ließ sie doch die kurtze zeit umfassen? 82 Antonius Baehr 20 Auch hier scheint sich Neukirch an Besser zu orientieren: „Die finger glitten aus auff dem polirten leibe/ Was halff ihm alle furcht vor dem geliebten weibe? “ (Besser, V. 65-66). Weil gleich den augenblick das urtheil ward gebracht: Sie solten beyderseits das paradieß verlassen. Nach diesem schlug das feur zwar frische flammen an/ Sie fand sich aber noch zu zeiten sehr betrogen; 15 Denn Adam war nunmehr mit peltzen angethan/ Und hatte leib und haut mit fellen überzogen. Wer war wohl ärmer nun als Eva dazumahl? (V. 4-17) Alleine ihre Gedanken an Adams Schoß begründen die Verbannung aus dem Paradies. Damit geht bisher jedoch noch keine sexuelle Handlung einher. Erst als sie Adam eben im Felde findet, kann sie nicht an sich halten und vergreift sich - so wie Bessers Celadon an Chloris - an Adam: Sie forschte weiter nach/ und blößte seinen schooß/ 45 Ihr finger rührte sich um seine weiche lenden; Da war sie völlig nun der alten sorgen loß/ Und schaute den betrug in ihren liljen-händen. Ja/ sprach sie/ voller scham/ das hab ich wohl gedacht/ Daß Adam nicht umsonst die blätter vorgenommen; 50 Wer aber hat ihm nur den plunder angemacht/ Und wo ist Adam doch zu diesem schaden kommen? Doch/ was bedenck ich mich? die brust ist ja zu klein; Vielleicht hat die natur mir meinen mann betrogen/ Und hat/ was sonsten soll am busen oben seyn/ 55 Durch ihre wunder-kunst biß unten hin gezogen. 20 Neukirch treibt die Komik auf die Spitze, wenn Eva die Bestückung Adams als Ausgleich für den fehlenden Busen in Betracht zieht. Anders als bei Besser re‐ agiert der erwachende Adam nicht entsetzt über Evas Vergehen, sondern muss „selbst der blinden einfalt lachen“ (V. 57) und schließt sie liebevoll „mit seinen armen ein“ (V. 58), bevor das biblische Paar den Beischlaf vollzieht. Mutet Johann von Bessers pornographische Beschreibung eines sexuellen Übergriffs auf die schlafende Chloris bereits gewagt an, gelingt es Neukirch, mit seiner Überfor‐ mung des Sündenfalls die Innovation Bessers zu überbieten. 83 Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius 21 Der gesamte Zyklus erschien in der NS, Bd. IV, S. 15-25. Die Abbildungen der Schooß ist abgedruckt: ebd. S. 22-25. 6. Christian Hölmann: Abbildungen der Schooß Einer anderen, aber nicht minder innovativen Strategie bedient sich Christian Hölmann in seinem Zyklus über weibliche Körperteile 21 , dessen pointierter Ab‐ schluss das Gedicht Abbildungen der Schooß bildet. Hier wird dem Leser nicht die voyeuristische Mitsicht auf eine entblößte Schlafende geboten. Stattdessen nimmt das lyrische Ich die Perspektive des weiblichen Schoßes selber ein und legt einen umfassenden Bericht über sich ab. Mit der veränderten Perspektive thematisiert Hölmann wie seine Vorgänger das Motiv der weiblichen Scham und stellt es ins Zentrum des Gedichts, in dem es in 84 kreuzgereimten Alexandri‐ nern beschrieben wird. Hatte Neukirch noch die Geschlechter der Persona von Bessers Ruhestatt der Liebe invertiert, verkehrt Hölmann die Kommunikations‐ situation und macht aus dem heimlich mitwissenden Leser nun den von einer Vagina apostrophierten: In meinen gründen ist die liebe ja gebohren/ Ich bin ihr erster Sitz/ ihr Stammhauß/ Vaterland/ 15 Mich hat zu dieser See selbst die natur erkohren/ An deren ufern sich das schöne Mädgen fand. Ihr glieder möget nun vor mir die seegel streichen/ Weil ich die Götter selbst durch mich hervor gebracht/ Ihr selber müstet auch im Mutterleib' erbleichen/ 20 Wenn nicht durch mich das Thor wär' in die welt gemacht. Es füllet meine frucht den Himmel und die Erde/ Ich mache daß der bau der wundergrossen welt/ Nicht vor der letzten zeit zu einer wüsten werde/ Die nichts als distel-sträuch und dörner in sich hält. (V. 13-24) Die Häufung der Personalpronomen konfiguriert unmissverständlich die sur‐ reale Kommunikationssituation, durch die die Beschreibung der weiblichen Scham surreal verzerrt wird. Während die bisher beschriebenen, voyeuristisch figurierten Prätexte Hölmanns auf das erotische Vorstellungspotential der Le‐ serschaft zielen, löst Hölmann das Gedicht aus seinem eigentlich erotischen Kontext, denn das beschriebene Motiv entzieht sich durch die Erzählsituation jeder realistischen Vorstellung. Eindeutig markiert Hölmann den intertextuellen Bezug zu Besser, wenn sich das lyrische Ich - Bessers Titel zitierend - metaphorisch als „[d]er liebe ruhe‐ 84 Antonius Baehr 22 Hesiod berichtet in der Theogonie (188-206), dass Kronos seinem Vater Saturnus mit einer Sichel das Glied abgeschnitten habe. Aus dem ins Meer tropfenden Blut und dem Schaum des ins Meer fallenden Glieds sei Venus entstanden, vgl. Maria Moog-Grüne‐ wald (Hrsg.), Der Neue Pauly. Suppl. Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 5, J. B. Metzler, Stuttgart/ Weimar, 2008, S. 97. stadt“ (V. 61) beschreibt. Da Hölmann den vierten und fünften Teil der Neu‐ kirchschen Sammlung selbst herausgab, ist anzunehmen, dass er auch die Ge‐ dichte der ersten beiden Bände gut kannte und den Bezug zu Claudians Epithalamium bewusst über das wirkungsmächtige Gedicht Bessers markierte. Die Konkurrenz zu den motivgeschichtlich verwandten Gedichten ist bei Höl‐ mann durchaus programmatisch: 1 Der geist des alterthums schrieb den beschaumten wellen Die künstliche Geburth der liebes-Göttin zu/ Und daß ein muschelhaus auf den gesalznen stellen So wohl zur überfuhr als ihrer ersten ruh 5 An statt der wiege sey damals bestimmt gewesen; Allein so wurde da die wahrheit eingehüllt/ Wer ihre Perlen nun wolt' aus dem schlamme lesen Der fand sie endlich zwar/ doch frembde vorgebildt. (V. 1-8) Den Geburtsmythos der Venus nach Hesiod 22 weist Hölmann als Verschleierung der Wahrheit aus und nimmt so auch die aemulatio mit der Antike auf. Bei den antiken Dichtergrößen könne man die „Perlen“ nur „frembd[…] vorgebildt“ aus „dem schlamme lesen“; für die Wahrheit solle man jedoch den „vorhang weg [ziehen] und […] die fabeln schweigen“ (V. 9) lassen. Durch die ‚sprachliche Handlung‘ lässt das lyrische Ich Hölmanns tatsächlich „alle Hüllen fallen“ und straft in seiner Offenheit alle Prätexte als eingehüllte Wahrheit ab. Da die Er‐ zählsituation aber wiederum fiktionalisierend wirkt, wird der Wahrheitsan‐ spruch ironisch gebrochen und das Motiv künstlich überblendet. Die aemulatio gelingt, weil Hölmann mit der neufigurierten Erzählsituation die technischen Möglichkeiten der extremen Gestaltung ausreizt und die Verhüllung neu di‐ mensioniert. 7. Fazit Wie gezeigt werden konnte, spitzen alle Claudian-Rezeptionen den erotischen Gehalt des Epithalamiums zu. Häufig wurden solche erotischen Dichtungen als manieristische Obszönitäten abgetan. Wie die Untersuchung jedoch zeigen 85 Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius konnte, birgt die Erotisierung der lateinischen Vorlage großes innovatives und provozierendes Potential, das erst vollständig ersichtlich wird, wenn der re‐ zeptionsästhetische Charakter der Dichtungen gewürdigt wird. Durch die Be‐ trachtung der Gedichte als Claudian-Rezeptionen zeigt sich ein stark ausge‐ prägtes Verständnis von Intertextualität, das die literarische Praxis der galanten Dichtung prägte. Bibliographie Angelo George de Capua / Ernst Alfred Philippson (Hrsg.), Benjamin Neukirchs Anthologie Herrn Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte, Bd. I-VII, Max Niemeyer, Tübingen, 1961-1991. Fritz Felgentreu, „Art. Claudian“, in: Christine Walde (Hrsg.), Der Neue Pauly. Suppl. Die Rezeption der Antiken Literatur, Bd. 7, J. B. Metzler, Stuttgart / Weimar, 2010, Sp. 253-262. Manfred Fuhrmann, „Claudian in der Neuzeit. Geschmackswandel und Übergang von der rhetorischen zur philologischen Betrachtungsweise“, in: Fritz Felgentreu / Stephen Wheeler / Widu-Wolfgang Ehlers (Hrsg.), Aetas Claudianea, Saur, München / Leipzig, 2004, S. 207-223. Maria Moog-Grünewald (Hrsg.), Der Neue Pauly. Suppl. Mythenrezeption. Die antike My‐ thologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 5, J. B. Metzler, Stuttgart / Weimar, 2008. Lothar Noack, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679): Leben und Werk, Max Niemeyer, Tübingen, 1999 Wilhelm Haertel, Johann von Besser. Sein Leben und seine Werke, Felber, Berlin, 1910. Franz Heiduk, Die Dichter der galanten Lyrik. Studien zur Neukirchschen Sammlung, Francke, Bern, 1971. John B. Hall (Hrsg.), Claudii Claudiani carmina, Teubner, Leipzig, 1985. Sabine Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, Saur, München / Leipzig, 2004. Peter Lüdemann, Virtus und Voluptas. Beobachtungen zur Ikonographie weiblicher Aktfi‐ guren in der venezianischen Malerei des frühen Cinquecento, Akademie-Verlag, Berlin, 2008. Dirk Niefanger, „‚Allzu freye Gedancken.‘ Zur Sexualrhetorik in der Neukirchschen Samm‐ lung“, in: Daphnis, 38 (3 / 4), 2009, S. 673-693. Dirk Rose, Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes), Walter de Gruyter, Berlin / Boston, 2012. Peter Stocker, Theorie der intertextuellen Lektüre, Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1998. 86 Antonius Baehr Theodor Verweyen / Gunther Witting, Einfache Formen der Intertextualität. Theoretische Überlegungen und historische Untersuchungen, Mentis, Paderborn, 2010. 87 Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius 1 Zur barocken Malerei siehe unter anderem: Dietrich Erben, Die Kunst des Barock, C. H. Beck, München, 2008, S. 27-48. 2 Auf die Unmöglichkeit, einen einheitlichen Barock-Begriff zu konstruieren in Anbe‐ tracht der verschiedenartigen Zugängen und Stilrichtungen, die im 17. Jahrhundert in Deutschland zu finden waren, machte Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 4 / I, Max Niemeyer, Tübingen, 2006, S. 14 ff., aufmerksam. „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ Barocke Gelüste und lyrische Brüste oder Zu erotischen Gedichten des Barock Wolfgang Brylla (Zielona Góra) „Eröffne mir das Feld der Lüste, / Entschleuß die wollustschwangre Schooß,“ ( Johann Christian Günther) Barocke sexuelle Revolution Auf dem Gemälde des italienischen Malers Bartolomeo Passerotti, Die verrückten Liebenden - Ende des 16. Jahrhunderts entstanden -, fasst von seiner Physio‐ gnomie her eher ein ruppig, fast eklig aussehender Mann die ausgemergelte nackte Brust seiner weiblichen Partnerin an. Beide Figuren entsprechen nicht dem damals gängigen Schönheitskanon und -ideal. Passerotti entwirft und skiz‐ ziert eine Mann-Frau-Konstellation, die von Kargheit und einer Unästhetik des Schönen geprägt ist, die wiederum im völligen Gegensatz steht zu den Werken von bspw. Velasquez - erwähnt sei bspw. Die Venus mit dem Spiegel - oder Ru‐ bens mit seinen Venusvorstellungen, in denen füllige aneinandergereihte Frau‐ enkörper in Feierlaune ausgiebig und unbeschränkt ihren Lüsten freien Lauf lassen. 1 In der Zusammenstellung dieser und ähnlicher barocken Bilder wird die innere Zerrissenheit der Epoche und das für sie so charakteristische Merkmal der Kontrastivität und Diffusität offensichtig. 2 Es gibt keine einzige Norm und keine einzig geltende Kunstregel, an die man sich hat halten müssen, obwohl 3 Siehe die Einzelbeiträge in: Eric Achermann (Hrsg.), Johann Christoph Gottsched (1700-1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft, Akademie Verlag, Berlin, 2014. 4 Siehe: Faramerz Dabhoiwala, The pattern of sexual immorality in seventeenthand eigh‐ teenth-century London, in: Paul Griffiths / Mark S. R. Jenner (Hrsg.), Londinopolis. Essays in the cultural and social history of early modern London, University Press, Manchester, 2000, S. 86-106; ders., Sex, social relations and the law in seventeenthand eighteenth-cen‐ tury London, in: Michael J. Braddick / John Walter (Hrsg.), Negotiating Power in Early Modern Society. Order, Hierarchy and Subordination in Britain and Ireland, Cambridge University Press, Cambridge, 2001, S. 85-101; ders., Lust und Freiheit. Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution, Klett-Cotta, Stuttgart, 2014. 5 Mit der Erotik-Problematik in der älteren deutschsprachigen Literatur befasst sich unter anderem der Sammelband Erotik, aus dem Dreck gezogen, der in der Reihe „Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik“ (Bd. 59) erschienen und von Johan H. Winkelman sowie Gerhard Wolf herausgebracht wurde (Rodopi, Amsterdam / New York, 2004). Johann Christoph Gottsched und seine anderen aufklärerischen Gleichge‐ sinnten im 18. Jahrhundert eben die Normativität des Barock und dessen kodi‐ fizierte Schemenpoetik scharfer Kritik unterzogen 3 ; der Schaffenskraft und dem Interpretationstrieb sind keine Grenzen gesetzt, der Mensch des 17. Jahrhun‐ derts legt die Moralfesseln ab und fängt an, ein Leben zu führen, das man als freizügig bezeichnen könnte. Vor kurzer Zeit hat der britische Historiker Fa‐ ramerz Dabhoiwala bewiesen, dass es in der Barockzeit zu einer Art sexuelle Revolution gekommen sei, in der Sexualität und Kopulation zu einer privaten Angelegenheit wurden, die nicht von höheren weltlichen oder sakralen In‐ stanzen gesteuert worden wären. 4 Sex wurde nicht mehr aus der Perspektive der Religion, sondern aus der Perspektive des persönlichen Welt- und Anschau‐ ungsbildes betrachtet, was heißt, dass die Kirche(n) in Sachen Sexualmoral keine relevante Rolle mehr spielte(n), sondern in den operativen Handlungshinter‐ grund gerückt ist / sind, aus dem sie keinen Einfluss mehr auf die Ausübung der rechten und der natürlicherweise aus dem Blickwinkel der Kirche korrekten Sexualität hat(te). Der im und durch den Barock ausgelöste Sexboom fand seinen Niederschlag in der Kunst, wenn er nicht sogar von der Kunst - der Malerei, der Poesie - mit eingeleitet wurde. 5 Schaut man auf die Unmenge von Gedichten, die in dieser Zeit verfasst worden sind, und vergleicht sie unter anderem mit den typischen barocken christlichen Lyrik-Texten, in denen Gott gehuldigt wurde, fragt man sich eigentlich, um es salopp auszudrücken, wie „deftig“ war eigentlich das Perlen-Zeitalter? Denn in vielen der Gedichte, die man in der Regel dem Barock zuschreibt und die in diesem Geiste geschrieben wurden, sind Szenen zu finden, die nicht nur an zarte Erotik und außergewöhnliche Sexualität erinnern, sondern auch in Richtung Perversität oder Gewaltmissbrauch gehen. Man orientierte sich nicht an Vorschriften, stattdessen schuf man sich neue, die einerseits sich auf das vorhandene Verhaltens-Reglement und das etablierte 89 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 6 Georg Rodolf Weckherlin, Garten Buhlschafft / oder Kraut Lieb, in: Fünfzig erotische Ge‐ dichte, ausgewählt von Harry Fröhlich, Reclam jun., Stuttgart, 2000, S. 12. In Daniel Caspar von Lohensteins An Calisten (in: Franz Blei (Hrsg.), Das Lust-Wäldchen. Galante Gedichte der deutschen Barockzeit, W. Heyne, München, 1978, S. 22-23) wird auch die Gartenmetapher bedient („Anmutsgarten“). Weltkonstrukt beziehen, andererseits damit auch bewusst brechen und im End‐ effekt in einem dialektischen Verhältnis stehen. Quasi antithetisch profiliert sich die deutsche Barocklyrik, indem sie mit Gegensätzen und textlichen Referenzen gezielt spielt, Stoffe und Inhalte ummodelt, um letztendlich die vonstatten ge‐ hende oder schon stattgefundene Bruchsituation offen zu legen. Mehr oder we‐ niger wird im Barock der Reflex der sexuellen Befreiung und Neubestimmung antizipiert, der für die Nach-Moderne prototypisch und symptomatisch er‐ scheint. Auch die Sprache, trotz eines 300 bzw. 400 Jahre langen Abstandes, ist ähnlich, die Metaphern und Symbolsemantik sowie -semiotik, die zur Verbild‐ lichung und Darstellbarkeit des Sexparadigmas zu Rate gezogen werden, fußen auf demselben verbalen Kern. „Schönes Fräulein Lust auf mehr / Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr / Schnaps im Kopf du holde Braut / Steck Bratwurst in dein Sauerkraut“, singt die Band Rammstein in dem lange indizierten Song Pussy. Dieses „Steck Bratwurst in dein Sauerkraut“, das ein eindeutiges Szenario vor Augen führt, hat einen barocken Vorläufer, und zwar bei Georg Rodolf Weck‐ herlin, der in Garten Buhlschafft / oder Kraut Lieb auch eine sexuelle Annährung beschreibt: Liebstöckel mögen wir auch wagen / Dieweil sie gut für die / die blaich / So stöck es tief in das Glidweich. Glidkraut mein glid mit lust durchdringet / Wan es kein Muterkraut mit bringet: Auch leb vnd süß ist die Manstrew / Mit Zapfen-kraut die frewd wirt new: […] 6 Wenn man Weckherlins Lyrik, also die eines Dichters an der Schwelle zum 17. Jahrhundert, als ästhetisch hochwertig bewertet - so die Tendenz -, da sie unter anderem in den kleinen Reclam-Gedichtband zum Thema Erotik heraus‐ gegeben von Harry Fröhlich aufgenommen wurde, dann müsste dasselbe Prinzip auch für die Industrial Metal-Band aus Ostberlin gelten. Überhaupt ist das Re‐ lationsgeflecht zwischen Rammstein und den Barockdichtern ziemlich eng ge‐ sponnen, es gibt Berührungspunkte und Überschneidungsflächen. So ist das Cover von Liebe ist für alle da eine Hommage an Rembrandt und an Rubens, die auf eine visuell-plastische Art und Weise mehrfach zitiert werden. „Ich schleich 90 Wolfgang Brylla 7 Weckherlin, Garten Buhlschafft / oder Kraut Lieb, S. 12. 8 „Die Dichter der deutschen Barockzeit erfreuen sich insgesamt einer sehr schlechten Reputation in allen Literaturgeschichten“, stellt Franz Blei, Vorwort, in: ders., Das Lust-Wäldchen. Galante Gedichte der deutschen Barockzeit, S. 9-11, hier S. 9, fest. Sie seien „[r]oh, schwülstig, platt, gemein, maniriert“ (ebd.). Das Ziel der Barockdichter und ihrer galanten Poesie bestand darin, „der Fraue zu dienen“ (ebd., S. 10). Allerdings, was anhand der ausgewählten Gedichte gezeigt werden soll, stand nicht nur der Frauen‐ dienst im Mittelpunkt aller Lebensaufgaben, sondern auch der egoistische Dienst für sich selbst, eine Art Un-Galanterie. 9 Deshalb ist es überraschend, dass Volker Maid dem Thema der galanten Lyrik in seinem Band Barocklyrik, J. B. Metzler, Stuttgart, 2008, S. 149-151, so wenig Platz gewidmet hatte. Siehe auch: Dieter Lohmeier (Hrsg.), Weltliches und geistliches Lied des Barock. Studien zur Liedkultur in Deutschland und Skandinavien, Rodopi, Amsterdam, 1979. mich an / Und rede fein / Wer ficken will / Muss freundlich sein“ heißt es in Liebe ist für alle da; ein ganz ähnlich anmutendes Diktum findet sich ebenfalls bei Weckherlin, bei dem die Redegewandtheit des jungen Mannes zum sexuellen Akt führen soll: Ach! was empfind ich in dem hertzen / Sprach sie / ich antwort / laß vns schertzen: Je läng’r je lieber bist du mir / Ja Tag vnd Nacht lieb bin ich dir / Laß vns mit maß vnd ohn Maßlieben / Laß vns das Nabelkraut verschieben / Das so süß / vnder deinen Schurtz. Ja Knabenwurtz vnd Ständelwurtz / Sprach sie / mir allzeit wol zu schlagen 7 Demgemäß soll in den Fokus der folgenden Bemerkungen die Frage nach den Darstellungsmodalitäten und lyrischen Inszenierungsmodi des Sexuellen und Erotischen in der Dichtung des deutschen Barock gestellt werden. Herausprä‐ parieren und bestimmen lassen sich dabei fünf Hauptkategorien, die in den Ge‐ dichten zum Ausdruck gelangen und die parallel dazu zueinander entweder im Widerspruch stehen oder in einen Dialog treten und somit auch das Gesamtbild und den Gesamteindruck vom „(un-)galanten“ Barock vervollständigen und er‐ neut die innere polarisierende Antonymie der Epoche belegen. 8 Dieses ‚Ge‐ spräch‘ wird nicht nur auf der Poetik-Ebene geführt, sondern vor allem auch auf der Rezeptionsebene, d. h. zwischen Autor, Text und Leser. 9 Zu unterscheiden sind folgende thematische Schwerpunkte, auf die man im Weiteren zu sprechen kommt, um den lyrischen Konturen des triebhaften Erotischen im Barock ge‐ recht zu werden, obwohl man sich stets dessen bewusst sein muss, dass die Vollständigkeit und Komplexität nur ein Schein ist, weil man nur einen kurzen 91 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 10 Auch andere Kategorien kämen infrage bspw. die Darstellbarkeit der Genitalien oder der Masturbation. Diese Themenfelder schneidet zumindest Hansjürgen Blinn, Nach‐ wort, in: Erotische Lyrik der galanten Zeit, ausgewählt von Hansjürgen Blinn, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1999, S. 99-121, hier S. 115, an. 11 Dirk Niefanger, Barock: Lehrbuch Germanistik, J. B. Metzler, Stuttgart / Weimar, 2012, S. 39-40. Dies trifft jedoch nicht ganz zu, denn auch die Literatur des Mittelalters ist gefüllt mit sehr erotischen Bildern, Motiven, Stoffen und Themen. Siehe dazu die Ein‐ leitung von Albrecht Classen und seinen Beitrag zu diesem Band. 12 Ebd., S. 39. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 40. 15 Ebd., S. 39. Ausschnitt aus der barocken Sexualitätsdichtung präsentieren kann: 1) Occasio, 2) Liebe, 3) Kuss, 4) Wollust, 5) Homo eroticus. 10 1. Occasio Wie Dirk Niefanger argumentiert, wurde das Erotische erst im Barock entdeckt, was im Zusammenhang mit der Entwicklung der Körperpflege und der Kör‐ perkosmetik zu erklären ist. 11 Die Kaprizierung auf die körperbetonte Ausei‐ nandersetzung mit dem eigenen Ich, mit dem Menschen, war laut Niefanger die simple Folge des „Prozesses der Zivilisation“ 12 , ein Endresultat der Umwäl‐ zungen, die im Mittelalter beginnen, dann während der Reformation Anfang des 16. Jahrhunderts weiterverfolgt wurde. Die Nacktheit als Medium der eigenen Identität war kein Grund fürs Schämen, das man lieber verhüllen sollte, sondern ein Mittel zur Selbstwahrnehmung und Selbstkonstitution. Offen zur Schau ge‐ stellte Brüste oder Geschlechtsorgane zeugten weniger von der Transzendenz, vielmehr von der Diesseitigkeit. 13 Dieses Phänomen des Hier-und-Jetzt war so‐ wohl an den königlichen oder fürstlichen Höfen zu bemerken als auch im Bür‐ gertum, das langsam emporkletterte, um Ende des 18. Jahrhunderts das Zepter in die Hand zu nehmen und mit den Schlagwörtern von liberté, égalité, fraternité für die Rechte der Mittelschicht gegen das patriarchalische Herrschaftssystem zu kämpfen. Im Barock ergatterte die Erotik eine „poetische Lizenz“; dieser Li‐ zenz lag die „Kultivierung des menschlichen Zusammenlebens“ 14 zugrunde, dieses machte wiederum mehr oder weniger eine „Kommunikationsform“ aus. 15 Sexualität wird als Form des Gedankenaustausches und als Form der manifes‐ tierten Freiheit des Körpers begriffen, der bis dato eingezwungen in Regelkor‐ setts keine Chance hatte herauszukommen. Das Entblößen und das erwähnte Verhüllen, diese skurrile Divergenz von offen und geschlossen, spiegelt sich in der ganzen Barockdichtung wider. Der barocken Metaphorik, meint Harry Fröh‐ 92 Wolfgang Brylla 16 Harry Fröhlich, Nachwort, in: Fünfzig erotische Gedichte, S. 106-114, hier S. 108. 17 Ebd. 18 Vgl. Niefanger, Barock: Lehrbuch Germanistik, S. 39. 19 Ingeborg Scholz, Deutsche Dichtung des Barock, C. Bange Verlag, Hollfeld / Ofr., 1989, S. 27-29. 20 Martin Opitz, Ach Liebste, laß uns eilen, in: Edgar Hederer (Hrsg.), Deutsche Dichtung des Barock, Carl Hanser, München, 1965, S. 17. 21 Vgl. Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Vergänglichkeit der Schönheit, in: Ero‐ tische Lyrik der galanten Zeit, S. 96. „Es wird der bleiche Tod mit seiner kalten Hand / Dir endlich mit der Zeit um deine Brüste streichen, / Die liebliche Korall der Lippen wird verbleichen; “ 22 Vgl. Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Wo sind die Stunden, in: Erotische Lyrik der galanten Zeit, S. 89-90. „Sie sind verrauscht, es bleibet doch dabei, / Daß alle Lust vergänglich sei.“ 23 Opitz, Ach Liebste, laß uns eilen, S. 17. lich, gehe es nicht ums Verstecken, sondern um die „Dialektik von Verbergen und Enthüllen, das eigentliche Wesen der Metapher und der Erotik“. 16 Anders gewendet, es geht ums Anziehen und Ausziehen, Ausziehen und Anziehen. In dieser bipolaren Ergänzungsstruktur von widersprüchlichen Komponenten, die eine Einheit bilden, in diesem Begehren der „Apologie der Lust“ kann man erste „Befreiungsversuche hin zu einer aufgeklärten Humanität entdecken“. 17 Mit der Apologie verbindet sich die Philosophie der Lust, die im Barock eine doppelte war und durch die Gegensätzlichkeit von Wollust und Erotik getragen wurde. Als Wollust versteht man die momentane Triebbefriedigung, als Erotik die Sinnhaftigkeit und langanhaltende Sinnlichkeit der körperlichen Berührung. 18 Auf den Punkt gebracht: Wollust ist Sex, Erotik ist zarter Sex mit Gefühlen. Auf diese Dualität rekurrieren direkt oder indirekt fast alle Barockdichter, die ero‐ tische Gedichte zu Papier brachten. Mit einem konkurrierenden Dualismus, mit einer Ambivalenz, bekommt man es schon bei Martin Opitz’ Ach Liebste / laß uns eilen zu tun, in dem das Motiv der Occasio, der „rechten Zeit“ 19 , nicht nur an das semantische Bedeutungskon‐ volut der Liebe, sondern vor allem an das Sterben, den Tod gebunden ist. Liebe wird als Rettungsanker vor dem Ableben verstanden. Das lyrische Ich, das sich als junger Mann identifizieren lässt, wendet sich mit einer Bitte an eine Frau, dass man sich endlich in die Arme fallen solle, denn die Zeit sei reif dazu und man habe keine Restzeit mehr: „Es schadet das verweilen / Uns beiderseit. / Der edlen Schönheit Gaben / Fliehn Fuß für Fuß“. 20 Die Schönheit vergeht 21 , die Lust vergeht 22 , die Gefühle vergehen. Um diesem Vanitas-Gedanken zu trotzen, um der Verbleichung der „Wangen Zier“ 23 nicht zusehen zu müssen, um das Alt‐ werden nicht zu erfahren, muss die Gelegenheit beim Schopfe gefasst werden, 93 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Scholz, Deutsche Dichtung des Barock, S. 29. 27 o.V., Willst du dein Herz mir schenken, in: Hederer, Deutsche Dichtung des Barock, S. 25-26. 28 Ebd., S. 26. man muss die Occasio nützen und „[d]er Jugend Frucht“ genießen. 24 Dieses Ge‐ nießen der Jugend gesellt sich zum Carpe diem, d. h. genieße den Tag, lebe und lass leben, liebe und lass lieben, gib und nimm: „Wo du dich selber liebest / So liebe mich / Gib mir, dass, wann du gibest / Verlier auch ich.“ 25 Das sich Anei‐ nander-Verlieren bedeutet zugleich ein Einander-Gehen. 26 Liebe oder besser gesagt der Wunsch nach Liebe wird bei Opitz durch ego‐ istische Denkmuster und egozentrisches Ich-Benehmen motiviert. Liebe ist da, man muss nur nach ihr greifen, sie drehen und wenden, sie anpassen. Durch solche sprachlich artikulierte Gewalteinwirkung lässt sich jedoch keine Liebes‐ beziehung generieren, sondern bloß ein Hauch von Liebe, eine Scheinliebe, denn Liebe ist nicht für alle da. Die Bittsprüche des jungen Mannes sind auch als Phantasiegebilde zu apostrophieren, als Wunschbilder, die in Erfüllung gehen können, aber nicht müssen. In Rammsteins Zeilen wird Ähnliches thematisiert: „Ich mach‘ die Augen zu dann seh‘ ich sie / Ich sperr‘ sie ein in meine Fantasie / Ich mach‘ die Augen zu / sie wehrt sich nicht / Liebe ist für alle da / Nicht für mich“. Das Schließen von Augen, was paradoxerweise das Sehen erst ermöglicht, lässt sich auch auf den Konnex von Sprechen und Schweigen übertragen, den man im Gedicht Willst du mein Herz mir schenken von einem unbekannten Dichter beobachten kann: Die Liebe muß bei beiden / Allzeit verschwiegen sein, / Drum schließ die größten Freuden / In deinem Herzen ein! / / Behutsam sei und schweige / Und traue keiner Wand, / Lieb innerlich und zeige / Dich außen unbekannt. 27 Über das Liebesgefühl muss ein Mantel des Schweigens ausgebreitet werden, weil „Die Lust, die wir genießen, / Muß ein Geheimnis sein.“ 28 Auszulegen ist dieses anonym verfasste Gedicht als Gedicht der Übergangsphase zwischen dem Nicht-Sagen-Dürfen und dem Sagen-Können, zwischen der Dunkelheit des Ges‐ 94 Wolfgang Brylla 29 o.V., Unglückseliges Gefängnis der Leidenschaften, in: Hederer, Deutsche Dichtung des Barock, S. 34-36. 30 Simon Dach, Brauttanz, in: Hederer, Deutsche Dichtung des Barock, S. 39-41. 31 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Albanie / gebrauche deiner zeit, in: Fünfzig erotische Gedichte, S. 19-20. 32 Ebd. tern und der Helligkeit des Jetzt, bevor man aus dem „unglückseligen Gefängnis der Leidenschaften“ ausbricht. 29 Dass die Gelegenheit zur Liebe genützt werden muss, ist auch bei Simon Dach zu erblicken. In seinem Brauttanz wird wie bei Opitz der „richtigen Zeit“ eine Relevanz beigemessen, die man nicht ungeachtet lassen kann: Wer der Jugend Kerzen / Trägt im frischen Herzen, / Hat zu tanzen Lust; […] Kinder, strebt nach Freuden, / Niemand wird euch neiden, / Nur der Ehrbarkeit / Und der Zucht indessen / Werde nicht vergessen; / Lebt und liebt allzeit, / Flieht dabei auch Müßiggang, / Seid der Wollust ernster Zwang, / So wird euer Werk für allen / Gott gefallen. 30 Dach korreliert die Liebe mit dem Glauben; es handelt sich dabei um eine Art geschenkte Liebe von Gott, um eine geschenkte Gelegenheit, eine geschenkte Occasio des Himmels. Bei Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau wird da‐ hingegen die „rechte Zeit“ zu „deiner Zeit“ umgewandelt, in der man „den liebes-lüsten freyen zügel“ lassen soll. 31 Die okkasionelle Zügellosigkeit der zwischengeschlechtlichen Beziehung im Gedicht Albanie / gebrauche deiner zeit wird als Profitieren von der gegenseitigen Körperlichkeit realisiert; der Frau‐ enkörper ist „vor uns nur zugericht“, das lyrische Ich spricht sein Anliegen aus, gemeinsam mit Albanie „die liebes-äcker“ zu pflügen und mit ihr die „süßigkeit“ des Augenblicks zu entdecken. Der „wollust-thau“, der „die glieder netzt“, er‐ weist sich als eine Momentaufnahme, die sich zu verflüchtigen droht und die deshalb an Ort und Stelle ‚geschmeckt‘ werden müsse. 32 95 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 33 Paul Fleming, An Anna, die Spröde, in: Hederer, Deutsche Dichtung des Barock, S. 56-57. 2. Liebe Die Liebe als ausgedrückte Emotion und als Gefühl der Zuneigung zu einem anderen, meistens weiblichen Subjekt ist in der barocken Lyrik in den meisten Fällen männlich konnotiert; es sind männliche Figuren, männliche lyrische Ichs, die ihr Liebesbegehren kundtun, ihre Liebe bekennen und auf die Erwiderung warten. Häufiger als eine geglückte Liebesliaison wird das Scheitern der Liebe dargestellt. Schuld daran haben die Frauen, die verschlossen gegenüber den Be‐ mühungen des anderen Geschlechts sind und auf alle Anpirschversuche mit Schweigen und Verachtung reagieren. In Paul Flemings An Anna, die Spröde wird der Fatalismus der Liebesbeziehung, das Gegenteil vom Triumph und Siegeszug der Liebe, die nur in Aussicht gestellt worden und nicht verwirklicht worden ist, bloßgelegt. Liebe wird als Gelächter der Götter geschildert, die mit den Men‐ schen ein böses Spiel führen: Nicht, nicht so ist mein Sinn gesinnet, / Bei mir ist alles umgewandt. / Ich liebe, die mir Böses gönnet, / Ich folge der, die nicht hält Stand. / Ich lauf, ich ruf, ich bitt, ich weine, / Sie weicht und schweigt und stellt sich taub; / Sie leugnets und ists doch alleine, / Die mir mein Herze nimmt in Raub. 33 Das lyrische Ich ist der „Sie“ zugetan, „Sie“ geht auf Distanz, bemerkt zwar die mühevollen und entwürdigenden sowie unritterlichen Handlungen des Mannes, der weint, bittet und ruft, nur um „Sie“ für sich zu gewinnen, aber „Sie“ ist diesen Liebesoperationen nicht erlegen. Das Sehnen nach der Gegenliebe ist a priori zu einer Niederlage verdammt, nicht wegen der Ausweglosigkeit der Beziehung selbst, sondern wegen der implizierten Charakterzügen der spröden Anna. Nicht der Mann ist für die Erfolglosigkeit der Liebesverbindung verantwortlich - es ist die Frau, die jedes Anwerben von sich abprallen lässt. Dasselbe Motiv findet sich bei Johann Christian Günther in dessen Als er seine Liebe nicht sagen durfte; es wird allerdings modifiziert; das Bemühen Flemings wird konterkariert durch den eingeschriebenen Verzicht Günthers. Das aussagende lyrische Sub‐ jekt ist sich seiner Gefühlswelt sicher, aber es kann sie nicht laut äußern: Ich leugne nicht die starken Triebe / Und seufze nach der Gegenliebe / 96 Wolfgang Brylla 34 Johann Christian Günther, Als er seine Liebe nicht sagen durfte, in: Hederer, Deutsche Dichtung des Barock, S. 229. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Johann Christian Günther, Die verworfene Liebe, in: Hederer, Deutsche Dichtung des Barock, S. 231-232. 38 Ebd., S. 231. 39 Hans Assmann von Abschatz, Die fremde Regung, in: Hederer, Deutsche Dichtung des Barock, S. 223. Der Schönheit, die mich angesteckt. / Der Traum entzückt mir das Gemüte, / So oft mir mein erregt Geblüte / Dein artig Bild auch blind entdeckt. 34 Dort Taubheit, hier Blindheit - die Liebe lässt fast alle Sinnes- und Wahrneh‐ mungsorgane in die Irre leiten und ausschalten. Aus Ehrfurcht kann die Liebe nicht bekannt werden; die Liebe setzt das fundierte Weltgerüst außer Kraft, missachtet Konventionsregeln. Der Einzelne, der im Stillen Leidende ist nur im‐ stande, vor sich selbst „heimlich gerne [zu] brennen“ 35 und das Zueinanderge‐ fühl zu bezeugen. „Die Schönheit dieser Welt“ 36 darf nur aus einem gewissen Abstand, im Kosmos des Schweigens, des Vakuums und des Nicht-Ausgespro‐ chenen bewundert werden, sonst wäre der anvisierte Weltzusammenbruch nicht nur Alternative, sondern auch Wirklichkeit. Deswegen wird bei Günther die Liebe mit dem Prädikat „verworfen“ versehen, weil die Liebe den Denkap‐ parat und die Rationalität verrückt spielen lässt: Komm, selige Freiheit, und dämpfe den Brand, / Der meinem Gemüte die Weisheit entwand. / / Was hab ich getan! / Jetzt seh ich die Triebe / Der törichten Liebe / Vernünftiger an; 37 Die „törichte Liebe“ wird mit „Falschheit“ umschrieben, die den Liebenden in den Abgrund stürzt, die Liebe selbst gleicht einem „zärtlichen Schmerz“. 38 In der binären Zusammenführung von Zärtlichkeit und Schmerz verbirgt sich die kontradiktorische Kraft der Liebe, auf die unter anderem Hans Assmann von Abschatz abhebt. Die fremde Regung, so einer seiner Gedichttitel, diskutiert die Liebe als „angenehmen Schmerz“, der durch Regungen und Triebe verursacht wird: „So glaub ich, daß ich liebe.“ 39 Geliebt sein bedeutet, Schmerzen produ‐ zieren, lieben bedeutet, Schmerzen ertragen. Das Schmerzliche und Schmerz‐ 97 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 40 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Abriß eines Verliebten, in: Hederer, Deut‐ sche Dichtung des Barock, S. 213-214. 41 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, So soll der purpur deiner lippen, in: Fünfzig erotische Gedichte, S. 21. 42 Ebd. hafte können unterschiedliche Gestalt annehmen. In Hoffmannswaldaus Abriß eines Verliebten wird das Wehtuende mit Krankheit oder Gefangenschaft gleich‐ gesetzt; dieser Schmerz ist jedoch ein notwendiger verspürter Schmerz: „Er ist ein Kranker, den ein sinnlich Fieber plaget […] / Ein arm Gefangener, der seine Fessel liebt“. 40 Dass die Liebe nicht entgegnet wird, nimmt man in Kauf; die Absicht besteht nicht in der Er-Werbung, sondern vielmehr in der Werbung um die Frauen, denen man Tribut zollen und um ihre Gunst kämpfen sollte. Der Moment des Verliebens wird bei Hoffmannswaldau als Moment des Freiheits‐ verlustes präsentiert: So soll der purpur deiner lippen / Itzt meiner freyheit bahre seyn? / Soll an den corallinen klippen / Mein mast nur darum lauffen ein / Daß er an statt dem süssen lande / Auff deinem schönen munde strande? / / Ja / leider! […] 41 Obwohl der Verliebte aufgrund der fehlenden Gegenliebe zugrunde geht, wird er bis zu seinem Lebensende diesem einmaligen Gefühl treu bleiben: Da will / so bald ich angeländet / Ich dir ein altar bauen auff / Mein hertze soll dir seyn verpfändet / Und fettes opffer führen drauff; / Ich selbst will einig mich befleissen / Dich gött- und priesterin zu heissen. 42 Die barocke Dichtkunst bietet zwei Möglichkeiten an, um aus dieser einseitigen Liebesmisere einen Ausweg zu finden. Möglichkeit 1: zu Gott beten, damit er durch seine Macht das Herz der liebkosenden Frau erwärmt und gefügiger macht. Diese Lösungsvariante taucht in Jacob Regnarts Brennendes Herz auf, wo es in der letzten von vier dreizeiligen Strophen heißt: „Ach Gott der Lieb, laß doch ihr Herz empfinden / Dein Feuer, tu sie gen mir in Lieb entzünden, / So will 98 Wolfgang Brylla 43 Jakob Regnart, Brennendes Herz, in: Bernd Jentzsch (Hrsg.), Liebeswerben - Liebesge‐ schrei. Von Weibern, Leibern und dem Lebhaftigen, Bd. 1: Ein Jungfrau liebt im Herzen ich, Chidher Verlag, Flamersheim, 2014, S. 28. 44 Christoph Demantius, Mein hertz hat sich verwirrt, in: Herbert Cysarz, Deutsche Lite‐ ratur in Entwicklungsreihe. Reihe Barock, Reclam, Leipzig, 1937, S. 96. 45 Erdmann Neumeister, Auf einen Kuß, in: Erotische Lyrik der galanten Zeit, S. 52. dein Lob ich ewiglich verkünden“. 43 Möglichkeit 2: zu Gott beten, damit er den Liebenden aus seiner verzweifelten Not rettet. Entweder mit dem Tod oder mit der Kittung des verwundeten Herzens, das wegen des abgeschossenen Cu‐ pido-Pfeils blutet. Christoph Demantius plädiert eher für die zweite Option: Mein hertz hat sich verwirrt, / In labyrinth verirrt / Der inbrünstigen liebe, / Der ich mich stetig übe; / Cupido durch sein schießen / Lässt mich kein gnad genießen […] / Rett mich aus solcher not / O Gott durch dein genad. 44 Die Bilder des Liebeswerks, auf die man in der Barocklyrik stoßen kann, haben wenig gemeinsam mit der Liebe definiert als glückliches Beisammensein von zwei Menschen. Konterfeit wird vielmehr die Liebe aus der Sicht der Unmög‐ lichkeit ihres weltlichen Bestehens, was den Rückschluss erlauben könnte: der Barock kennt die Liebe nicht. Überall dort, wo eine Liebesbeziehung problema‐ tisiert wird, überall dort wird sie als Minus-Beziehung, als Unlust taxiert. Denn wahre Gefühle bewirken nur Schmerzzustände, die man nicht zu heilen in der Lage ist. 3. Kuss „Es gibt eine Sache, die ich gar nicht leiden kann / kommen deine feuchten Lippen zu nah an mich ran“ - singen Die Prinzen a capella in Küssen verboten. Die deutschsprachige Barocklyrik verbietet nicht das Küssen, sie gibt sogar Hinweise und Patentrezepte, wie das Kussprocedere richtig und erfolgreich zu Ende geführt werden sollte, denn das „Küssen in der Liebe“ sei deren „Quintes‐ sence“. 45 In solcher lyrischen Kuss-Bedienungsanleitung wird allerdings das Küssen nicht als Vorstufe der Liebe bebildert, sondern als Widerhall und Aus‐ drucksmittel des gespürten und ausgelebten inneren Triebes bzw. der Leiden‐ schaft wie in Flemings O liebliche Wangen: 99 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 46 Paul Fleming, O liebliche Wangen, in: Hederer, Deutsche Dichtung des Barock, S. 52-53. 47 Paul Fleming, Wie er wolle geküsset sein, in: Hederer, Deutsche Dichtung des Barock, S. 53-54. 48 Ebd., S. 54. O liebliche Wangen, / Ihr macht mir Verlangen, / Dies Rote, dies Weiße, / Zu schauen mit Fleiße! / Und dies nur alleine / Ists nicht, das ich meine / Zu schauen, zu grüßen, / Zu rühren, zu küssen, / Ihr macht mir Verlangen, / O liebliche Wangen. 46 Ein Küssen-Manifest, das ebenfalls von Fleming stammt, verdeutlicht die Potenz des Kusses; der richtige Kuss setzt sich aus vielen verschiedenen Handlungsse‐ quenzen oder aus der nachvollziehbaren Dosierung des Kusses zusammen. Mit anderen Worten: Küssen wurde einerseits zur techne, andererseits zur Kunst, die ihresgleichen sucht: Nirgends hin als auf den Mund, / Da sinkts in des Herzen Grund. / Nicht zu frei, nicht zu gezwungen, / Nicht mit gar zu fauler Zungen. / / Nicht zu wenig, nicht zu viel, / Beides wird sonst Kinderspiel. / Nicht zu laut und nicht zu leise, / Bei der Maß ist rechte Weise. 47 Der richtig ausgeführte Kuss basiert auf diversen Verhaltensmaßnahmen, im Grunde auf einem Kuss-Knigge des Barock, der zwar in Rechnung gestellt wird, der allerdings simultan dazu auch Freiheiten im Kussprozess zubilligt. In der letzten Strophe bei Fleming wird die Kusslust von den kodifizierten Ketten be‐ freit: „Küsse nur ein jedermann, / Wie er weiß, will, soll und kann! / Ich nur und die Liebste wissen, / Wie wir uns recht sollen küssen“. 48 Als Augenblickerschei‐ nung hypostasiert wird der Kuss zum Symbol der Lust und Willenslust. Hoff‐ mannswaldaus Zehnzeiler Auf den Mund beginnt in jedem Vers mit der Anapher „Mund! “, die das Ziel und die Intention der angepeilten Tätigkeit unterstreicht und dem ganzen Gedicht einen spezifischen Rhythmus verpasst, einen 100 Wolfgang Brylla 49 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Auf den Mund, in: Erotische Lyrik der ga‐ lanten Zeit, S. 31. 50 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, An Clorinde, in: Blei, Das Lust-Wäldchen. Galante Gedichte der deutschen Barockzeit, S. 33-34. Kuss-Rhythmus von planmäßigem und fluktuierendem Küssen sowie Geküsst‐ werden: Mund! der die Seelen kann durch Lust zusammen hetzen, / Mund! der viel süßer ist als starker Himmelswein, […] / Mund! Ach Korallen-Mund, mein einziges Ergetzen! / Mund! laß mich einen Kuß auf deinen Purpur setzen. 49 Nicht mit Gewalt wird der Kuss vom Ich genommen, er wird erbeten; der Kuss resultiert aus der beiderseitigen Erlaubnis, aus der freien Entscheidung des Küs‐ senden und des Geküssten; zu einem Kuss kann man nicht gezwungen werden, denn eine brachiale Gewaltausübung zerstört die magische Dimension des Kusses, die letztendlich in die Wollust übergeht, um in der körperlichen Annä‐ herung zu münden. 4. Wollust Setzt man sich mit der barocken Liebeslyrik genauer auseinander, fällt die Di‐ versifizierung zwischen zwei Beschreibungsformen der Wollust als solche auf. Auf der einen Seite wird die Wollust, also der körperliche Akt der Liebesvoll‐ ziehung, mit rhetorischen Mitteln und Metaphern der Camouflage dargestellt, auf der anderen Seite wird die Wollust als Sex pur („ein Königreich voll Lust“ 50 ) ins Bild gesetzt, in dem die symbolische Mimikry der zarten Zuwendung zuei‐ nander durch schwülste und derbe Vergleiche sowie eine lyrische Wahrheit er‐ setzt wird, die nur eine Deutungsmöglichkeit zulässt. Die erste der oben er‐ wähnten Stilrichtungen und Schreibweisen im Hinblick auf die Beschreibbarkeit der Liebesmechanik lässt sich beispielsweise in den Gedichten von Hoffmanns‐ waldau erkennen, vor allem in dessen programmatischem Gedichtcredo mit dem eindeutigen Titel Die Wollust. Paradoxerweise fällt dort die Wollust, das gegen‐ seitige Begehren, nicht als Drang nach sexueller Befriedigung ins Auge, sondern als Inanspruchnahme der Freiheit, die der Menschheit von der Natur kredenzt wurde. Wollust wird zum Freiheitsgedanken, zur Selbstbestimmung und Selbst‐ konstituierung. Allerdings werden die autonomen Selbstverdinglichungsver‐ suche durch das geltende Gesetz gestört und zunichte gemacht; eine Stigmati‐ sierung des Ich macht sich breit: 101 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 51 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Die Wollust, in: Jentzsch, Liebeswerben - Liebesgeschrei. Von Weibern, Leibern und dem Lebhaftigen, S. 104-106. 52 Ebd. 53 Ebd. Nur das Gesetze will allzu tyrannisch sein. / Es zeiget jederzeit ein widriges Gesichte, / Es macht des Menschen Lust und Freiheit ganz zunichte / Und stößt für süßen Most uns Wermuttropfen ein. / Es untersteht sich, uns die Augen zu verbinden / Und alle Lieblichkeit aus unsrer Hand zuwinden. 51 Dabei geht es Hoffmannswaldau nicht um die Überwindung der herrschenden Gesetzgebung, sondern um den bloßen Vollzug der Naturgesetze, die die Wollust zulassen: Es schaut uns die Natur als rechte Kindern an, / Sie schenkt uns ungespart den Reichtum ihrer Brüste, / Sie öffnet einen Saal voll zimmetreicher Lüste. 52 Aus der Klarheit der Worte wird eine Metaphernwelt der Wollustsymbolik er‐ baut; die Konstruktion der heilen Welt der Gelüste ist als Gegenpart zu der zerstörten - der 30-jährige Krieg - Außenwelt des 17. Jahrhunderts zu deuten. Nur die Wollust kann man dieser infernalischen Welt-Hölle auf Erden entge‐ gensetzen: Die Wollust bleibet doch der Zucker dieser Zeit, / Was kann uns mehr denn sie den Lebenslauf versüßen? / Sie lässet trinkbar Gold in unsre Kehle fließen / Und öffnet uns den Schatz beperlter Lieblichkeit. / In Tuberosen kann sie Schnee und Eis verkehren / Und durch das ganze Jahr die Frühlingszeit gewähren. 53 Nicht zufällig wird in der letzten Zeile der einleitenden Strophe auf den Frühling hingewiesen, der in der Regel als Erwachen, als Erneuerung und Wiederaufer‐ stehung interpretiert wird. Die Wollust offenbart sich bei Hoffmannswaldau als endlose Frühlingszeit des permanenten Aufblühens, sie sei durch Unvergäng‐ lichkeit gekennzeichnet, weil sie nicht an die historischen oder politischen Au‐ ßenumstände gekoppelt ist und nicht von ihnen abhängt im Gegensatz zu der Vergänglichkeit der Lust wie in Verliebte Aue, wo die Lust aus dem Geisteszu‐ 102 Wolfgang Brylla 54 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Verliebte Aue, in: Hederer, Deutsche Dich‐ tung des Barock, S. 211-212. Das sexuelle Hier und Jetzt spielt auch eine wichtige Rolle in Hoffmannswaldau Mein Engel kannst du… (in: Blei, Das Lust-Wäldchen. Galante Ge‐ dichte der deutschen Barockzeit, S. 35-37). 55 Philipp von Zesen, Zugelassene Liebes-uͤbung, in: Fünfzig erotische Gedichte, S. 14-15. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 15. In Christian Felix Weises Als ich meiner Rosilis… (in: Blei, Das Lust-Wäldchen. Galante Gedichte der deutschen Barockzeit, S. 17) wird der Beischlaf als Element des frommen Lebens angesehen: „Ei, so schlaf einmal bei mir, / Sonsten muß ich es ge‐ stehen, / Daß ich niemals kann zu dir / Fromm und eingezogen gehen. / Soll ich fromm sein, meine Zier, / Ei, so schlaf einmal bei mir.“ stand des liebenden Betrachters herausgelotet und mit dem Wahrnehmungsho‐ rizont der „Gegenwärtigkeit“ kombiniert wird. 54 Gegen die Verbote, die die Welt, die Herrschaftsordnung und die Moralapostel aufwerfen und dem Menschen oktroyieren, zieht auch Philipp von Zesen ins Feld. In Zugelaßene Liebes-uͤbung wird der Kontrast zwischen der „schoͤnen Seele“ und der „bloͤden welt“ veranschaulicht. 55 Die „bloͤde welt“ quält die Men‐ schen, nur mit „wohl-lust“ kann man dem Eindringen dieser Welt in die per‐ sönliche Lebens- und Liebessphäre der Menschen Einhalt gebieten: Sie setzt den lastern straks zur seiten / das allerliebste Lebens-licht / und weil sie fluͤht die liebligkeiten / lebt sie auch selbst im leben nicht. […] / / Auf! laßst die augen laͤchlend fechten / uͤmhalset / schertzet / hertzt und kuͤsst / und spielt auch selbst bei allen naͤchten / was fuͤr ein spiel euch mehr geluͤst. / / Besucht aus suͤßen rasereien / das edle volk der liebes-lust / das euch im kummer kan erfreuen / und letzet lippen / hand und brust. 56 Das Konzept der „Liebes-uͤbung“, die bei von Zesen noch aus „suͤße[m] sinnen-pein“ 57 zusammengerührt wird und auf dem Konkurrenzkampf mit der Welt beharrt, wird bei Celander nicht nur relativiert, sondern erfährt eine weit‐ gehende Umgestaltung und Verschärfung. Celander kann man als Vertreter der anderen der zwei anfangs angedeuteten barocken Stilistiken klassifizieren, die das ummantelnde Herumgerede um die Sexualität durch ein Sex-Handeln sub‐ stituiert und enttabuisiert haben. Die metaphorisch umhauchte Ausdrucksweise eines Hoffmannswaldau, die an einen Sinnesleser adressiert ist, spielt bei Ce‐ 103 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 58 Celander, Als einer im Schlaff verschwenderisch gewesen, in: Fünfzig erotische Gedichte, S. 24. 59 Ebd. 60 Ebd. lander, der für die späte Phase des Barock steht, keine signifikante Rolle mehr. Mit Tollkühnheit verwandelt er die symbolische Magie der Worte in symbolische Magie der Taten, die häufig sich an der Grenze zur Perversität bewegen und die die Fragilität des Sexualitätsbewusstseins, das nicht ausgesprochen worden ist, infrage stellen. Celanders Lyrik ist nicht metaphernfrei; mehr noch, sie ist eher metaphern‐ reich, aber dieser Reichtum speist sich nicht aus der Palette von ausgeklügelten uneindeutigen Gleichnissen, sondern aus der Direktheit des Vergleichs. Und nimm die Perlen-Milch in deine Muschel ein; / Groß Schade / daß sie wird so liederlich versprützet / Da wo sie keiner Schooß / auch nicht den Tüchern nützet. 58 - heißt es in Als einer im Schlaff verschwenderisch gewesen. Die „Perlen-Milch“, mit der der männliche Samen gemeint ist, soll von der Muschel, der Vagina einer Frau, aufgenommen werden, um ihn nicht sinnlos zu verschwenden. Die Frau‐ engestalt wird nicht höfisch angehimmelt im Sinne einer Liebesminne, sondern sie wird als Spermienrestposten und Spermienlager betrachtet: Ach stelle doch mein Kind die Sprödigkeit nur ein! / Laß deine Muschel mir nicht mehr verschlossen seyn / Eröffne ihren Helm die Nahrung zu empfangen / Wo in dem Liebes-Thau / die Anmuths-Perlen prangen. 59 Celander stellt eine eigenwillige Werbungsart eines Mannes dar, der die Frau nicht mit Rosen zur Durchführung des Liebesaktes überzeugen will, sondern mit ‚nackten‘ Tatsachen, die körperlichen Couleurs sind: Vergönne mir hinfort in deinem Schosse Platz / Und laß den Liebes-Thau daselbsten sich ergiessen / Wo er mit größrer Lust wird als im Schlaffe fliessen. / Dein dürrer Acker wird alsdenn von Wollust feist / Die Brüste härten sich / die Lust entzückt den Geist; / Die Anmuth / die durchdringt des gantzen Leibes-Glieder / In Lachen steigt man ein / mit Kitzeln kommt man wieder. 60 Der auf diese Weise vorteilhaft beschriebene Geschlechtsverkehr für den Mann als auch für die Frau hat nur Vorzüge. Wenn in Johann Christian Günthers An 104 Wolfgang Brylla 61 Johann Christian Günther, An seine Schöne, in: Hederer, Deutsche Dichtung des Barock, S. 230-231. 62 Celander, Als einer im Schlaff verschwenderisch gewesen, S. 24. seine Schöne der Liebesverzehr noch vor der Folie einer schönen Landschaft in Gang gesetzt wird und sich ereignen soll („Die Nacht ist unsrer Lust bequem, / Die Sternen schimmern angenehm / Und buhlen uns nur zum Exempel; / Drum gib mir der Verliebten Kost, / Ich schenke dir der Wollust Most / Zum Opfer in der Keuschheit Tempel“ 61 ), dann wird bei Celander der Außenraum der Natur, der willig machen soll, durch den Innenraum der zwischenmenschlichen Be‐ ziehung abstrahiert, in dem nicht die Natur das Sagen hat, sondern der Mensch allein mit seinem Tonfall und seiner Überzeugungskraft. Sexualität wird dem‐ zufolge nicht durch die Umwelt beeinflusst, sondern durch eine In-Welt, in der es nicht auf Wortklauberei, Sentimentalität und kitschige Schwülstigkeit an‐ kommt, stattdessen nur auf die Wahrheit und Ungezähmtheit des Wortes: „So soll das Liebes-Safft mit süssen Quellen fliessen. / Und sich mit vollem Strohm in deine Muschel giessen.“ 62 Dass Celanders Gedichte - Celander ist ein Pseu‐ donym, man nimmt an, dass sich hinter ihm Johann G. Gressel versteckte -, die 1716 in Leipzig bei Christian Liebzeit unter dem Titel Verliebte-Galante er‐ schienen sind, frivol anmuten, liegt klar auf der Hand. Vom heutigen Standpunkt aus könnte man sie entweder als höchstmodern einschätzen, oder man könnte sie auch als billige Trivialware abtun, die auf die massive Schockierung der Le‐ serschaft aus war. Ein lyrischer Softporno im barocken Duktus. Das Pornohaftige in den Gedichten Celanders ist jedoch nicht auf die von ihm vorgestellten Sexszenen zurückzuführen, sondern auf den verwendeten Wort‐ schatz, der sich in einem Unkonvergenz-Verhältnis zu der lyrischen Sprache befindet. Celanders Sprachgenuss wird nicht durch rhetorische Feinheiten ge‐ tragen; er bildet vielmehr eine eigene sprachliche (F)Einheit des Obszön-Nor‐ malen, weil er Handlungen ans Licht bringt, die in dieser eindrücklichen und bestechlichen Beschreibungsform bis dato nicht vorhanden waren. Celanders lyrische Gemälde sind zwar konstruiert, in seinen Gedichten kommen immer wieder Wiederholungen, repetierende Reimschemata oder iterative Wort‐ gruppen vor, aber diese lyrische Komposition scheint gewollt zu sein, denn erst dank der Wiederholung des Gegebenen wird die sexuelle Thematik und deren textliche Handhabung vervollständigt. Das Metrum und der Zeilenaufbau von Celanders Gedichten gleicht dem Rein-Raus-Modus des sexuellen Aktes. Auch dort, wo der Gedichtanfang eher einen harmlosen Liebesstoff vermuten lässt, findet später eine Explosion von sexuellen Anspielungen statt. Lieben und ge‐ liebet werden ist das höchste Vergnügen zeigt diese Entwicklung von zarter Zu‐ 105 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 63 Celander, Lieben und geliebet werden ist das hoͤchste Vergnuͤgen, in: Johann Georg Gressel, Celanders Verliebte-Galante / Sinn-Vermischte und Grab-Gedichte, Christian Liebezeit, Hamburg / Leipzig 1716, S. 164-165. 64 Ebd. neigung über Fokussierung auf die Äußerlichkeiten / Körperlichkeiten bis hin zu den für Celander so charakteristischen Muscheln: Was ist Vergnuͤglichers im gantzen Rund der Erden, / Als Lieben / und zugleich mit Ernst geliebet werden? / Was ist annehmlichers als ein ambrirter Kuß? / Den reine Liebe schenckt aus innerm Hertzen-Fluß / 63 Nach diesen Anfangsversen folgt der sich einschleichende Übergang zur Sex‐ begegnung: Was ist erquickender als schoͤne Brust-Granaten / Worinnen Milch und Blut zur Küehlung hingerahten? / Was ist bezaubernders als der gewöelbte Schooß? / Der uns entzuͤcket, macht der satten Sinnen loß. / Was ist verzuckerter als feuriges Umhalsen, / Das Honig-Kuchen macht aus bittern Wermuths-Salsen. / Was ist anmuhtiger als ein polirter Leib / Von zarten Helffenbein zur Naͤchte Zeit-Vertreib? / Was ist gewuͤnscheters als Leib an Leiber leimen / Und feuchten Perlen-Thau in Liebes-Muscheln schaͤumen? / Was ist entzuͤckender als in der Muschel ruhn, / Wo Lust und Kitzelung der Wollust-Thor auf thun? 64 Der Perzeptionsblickwinkel von Celander ist männlich, das sexuelle Beisam‐ mensein ist in Wirklichkeit ein Samen-Sein, eine Samen-Ergießung. Sexuelle Vorlieben der Frauen werden außer Acht gelassen, die ganze Zeit geht es nur um die Einzelbefriedigung des männlichen Egos. Aus der maskulinen Perspek‐ tive reicht es nur zu lachen, zu grinsen und zu sprechen, um der Frau das Ja-Wort zum Koitus zu erzwingen wie in Als Mirando die kleine untersetzte Fulvine bey sich wegwatzscheln sahe: Du kleines dickes Pumpelmeisgen, / Du bist gewiß sehr artig ausgeschmückt, / Ach! laß mich in dein Vogelhäusgen, / Eh mir der Liebes-Safft entrückt, / Warumb wilst du vor meinem steiffen Stehen / 106 Wolfgang Brylla 65 Celander, Als Mirando die kleine untersetzte Fulvine bey sich wegwatzscheln sahe, in: Horst Hussel (Hrsg.), Celander. Verliebt=galante Gedichte, Eulenspiegel, Berlin, 1981, S. 34. 66 Celander, An Sambretten, als sie blaß sahe, in: Hussel, Celander. Verliebt=galante Ge‐ dichte, S. 35. 67 Celander, Man will die mannsüchtige Talestris im Bette sehen, in: Gressel, Celanders Ver‐ liebte-Galante / Sinn-Vermischte und Grab-Gedichte, S. 332-333. Dieses „Marmor-Meer der Lust“ kann jedoch eine ‚christlichere‘ Form annehmen wie in Erdmann Neumeisters An Lisetten (in: Erotische Lyrik der galanten Zeit, S. 70). Neumeister, der selbst lutheri‐ scher Pastor war, umschrieb das Beisammensein zwischen einer Nonne und einem Klosterbruder (! ) mit der Bezeichnung „Paternoster“. 68 Celander, Arismene verweiset ihm seine Dreistigkeit, in: Gressel, Celanders Verliebte-Ga‐ lante / Sinn-Vermischte und Grab-Gedichte, S. 47-51. 69 Celander, Man will die mannsüchtige Talestris im Bette sehen, S. 332-333. 70 Celander, Auf ihre Bruͤste, in: Gressel, Celanders Verliebte-Galante / Sinn-Vermischte und Grab-Gedichte, S. 214. 71 Celander, Als sie ihm selbst im Finstern die Hand auf ihre Bietzgen legte, in: Hussel, Celander. Verliebt=galante Gedichte, S. 37. So schleunig gehen? […] / Ich will dir nichts weiter thun, / Als nur ein kurtzes Viertel-Stündgen / In deinem Vögelhäusgen ruhn. 65 Was die Frauen gebrauchen würden, sind in Celanders Optik ein „steiffer Mann“ (An Sambretten, als sie blaß sahe), der das bleich gewordene Fräulein wieder erröten lässt: „Nimm mich ein eintzigmahl die Woche mit zu Bette, / Solst du bald wieder roth (geh nur den Vorschlag ein), / Ja, ja, weit schöner noch, als wie vor dessen seyn.“ 66 In anderen lyrischen Texten wird das weibliche Geschlechts‐ teil als ein „schoͤne[r] Port“ (Man will die mannsüchtige Talestris im Bette sehen) 67 im „Marmor-Meer der Lust“ (Arismene verweiset ihm seine Dreistigkeit) 68 beschrieben, in den man sein „Liebes-Schiff “ lenken kann (Man will die manns‐ üchtige Talestris im Bette sehen) 69 , die Brüste sind dagegen „feurge Rubinen“ (Auf ihre Bruͤste) 70 , die dem Mann Vergnüglichkeiten bereiten: „Die Brüste bleiben doch der Liebe schönstes Ziel“ 71 ; die Frauen sollten ihre Vorteile klar an den Tag legen und sie nicht vor den Männeraugen verstecken: Mein Kind / sey doch so bloͤde nicht / Laß deinen Busen offen / So sieht man / daß dir nichts gebricht / Daß alles eingetroffen: / 107 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 72 Celander, Das sie ihren Busen verste vermachte, in: Gressel, Celanders Verliebte-Galante / Sinn-Vermischte und Grab-Gedichte, S. 208-209. 73 Celander, Als er ihre Bruͤste kuͤßte, in: Gressel, Celanders Verliebte-Galante / Sinn-Ver‐ mischte und Grab-Gedichte, S. 28. 74 Auf der anderen Seite jedoch werden die Brüste als [l]iebesschwang’re Zuckerballen“ beschrieben, wie in einem anonym verfassten Gedicht unter dem Titel Auf ihre Brüste (in: Erotische Lyrik der galanten Zeit, S. 15-16), und zum „Liebe Zunder, / Wovon die Schönheit Nahrung nimmt“ erklärt (Heinrich Mühlpfort, Fach, Amaranthe, deine Ballen, in: Erotische Lyrik der galanten Zeit, S. 21-24). 75 Johann Friedrich Riederer, Der jungen Tochter einfältige Fragen an die Mutter, in: Blei, Das Lust-Wäldchen. Galante Gedichte der deutschen Barockzeit, S. 97-98. Sonst dencket man gewiß von dir / Du haͤttest nicht der Bruͤste Zier. 72 Reduziert auf Brüste oder Vagina wird das weibliche Geschlecht zum Spielball in den Händen des Mannes, zum Maskottchen und zur Marionette, gleichzeitig allerdings zum vergötterten Objekt. Brüste, die zu Altaren werden, werden als „Ambrosin und Nectar Safft“ 73 verehrt. 74 5. Homo eroticus Neben der Gewaltdichtung, in der sexuelle Übergriffe veranschaulicht werden wie in Riederers Der jungen Tochter einfältige Fragen an die Mutter, wo eine Mädchenfigur ihre Mutter fragt, wie man ihren Ehemann im Bett zufrieden‐ stellen sollte: Ach Mutter, ach Leanders Küssen / Schmeckt besser als der beste Sekt, / Ich möchte doch die Ursach wissen, / Und was er täglich an mir leckt, / Er greift mich an, er schnürt mich zu, / Er schwört, dass ers aus Liebe tu, - / Drum, liebe Mutter, sagt, ich bitt, / Was meint, was meint er wohl damit? 75 , stechen aus dem barocken Lyrikkompendium auch Gedichte heraus, die sich latent mit der homosexuellen Liebe beschäftigen. Stichwort: Lesbia. In einer Gedichtreihe von Hoffmannswaldau sowie bei Celander taucht die Figur der Lesbie auf, die verschiedenartig mit Blick auf ihre Funktion als auch mit Blick auf ihre Darstellungsweise exemplifiziert wird. Bei Hoffmannswaldau fungiert die Lesbe sozusagen als eine von Männern verehrte Göttin, der sich das männ‐ liche Geschlecht nähern will, da sie durch Schönheit - auch durch Schönheit 108 Wolfgang Brylla 76 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Er schauet der Lesbie durch ein loch zu, in: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesene und bißher ungedruckte Gedichte nebenst einer Vorrede von der deutschen Poesie, Thomas Fritsch, Leipzig, 1695, S. 12. 77 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Er ist ein uneguecklicher wecker, in: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesene und bißher ungedruckte Ge‐ dichte nebenst einer Vorrede von der deutschen Poesie, S. 12. 78 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, FLavie schaut meine thraenen, in: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesene und bißher ungedruckte Ge‐ dichte nebenst einer Vorrede von der deutschen Poesie, S. 343. ihrer Brüste - die anderen für sich einnehmen kann. Die Unwissenheit der Männer, die auf der Unkenntnis beruhte, dass sie mit homosexuellen Frauen in Berührung kamen, die wenig von ihrem männlichen Widerpart hielten, zieht sich wie ein roter Faden durch Hoffmannswaldaus lesbische Gedichte und ver‐ weist auf die Stringenz in der Aufbaustruktur der jeweiligen Texte. In den letzten Strophen von Er schauet der Lesbie durch ein loch zu, Er ist ein ungluͤcklicher wecker und Straffe des fuͤrwitzes werden die Männer mit dem Tatbestand, die Frauen seien nur für Frauen bestimmt, konfrontiert und erfahren eine Abfuhr: „sie sprach: du bist verlohren, / Zum schmertzen bist du dir / und mir zur pein erkohren: / Denn deine hoffnung hat ja gar zu schlechten grund“ 76 - heißt es in Er schauet…. Der „schlechte Grund“ ist der homosexuelle Hintergrund. Mit der herben Enttäuschung, dass „Auff morgenroͤthe folgt gar selten sonnenschein“ 77 , müssen die männlichen lyrischen Ichs zurecht kommen; ihre Anlockungsver‐ suche, die vor allem tätlicher und nicht verbaler Art sind - es wird angefasst und gegriffen bis zum Unfallen - werden abgewiesen; die Männer werden „aus dem paradieß“ 78 gestoßen, nicht weil sie handgreiflich wurden, sondern weil sie die homoerotische und homosexuelle Natur der angebaggerten Lesben nicht begriffen und verinnerlicht haben. Trotz der Dramatik des Absturzes und des Paradiesverweises werden allerdings die Verhaltensweisen der männlichen Fi‐ guren nicht gebrandmarkt; sie werden nur als Kurzschluss, als ein Fehler ange‐ sehen, da man sich als Mann an eine Lesbe nicht heranwagen soll, um ihre Tugenden nicht mit Füßen zu treten. Das Erscheinungsbild der (lesbischen) Frau ist bei Hoffmannswaldau aus Komponenten zusammenmontiert, an denen es den heterosexuellen Frauen in den barocken Gedichten mangelt: Stärke und Durchsetzungsvermögen. Lesben verteidigen ihr Recht auf ihre Liebesform und lassen sich infolge der Angriffe von außen nicht um ihre Lebensprämissen bringen. Bei Celander wird dahingegen die Frau immer noch als Spielzeug behandelt, das sich den Wünschen und den Trieben der Männer ergeben soll. Auf ihre Brüste stellt eindeutig unter Beweis, dass die Männerwelt, verirrt in dem Liebesumfeld 109 „Was ist erquickender als sch oͤ ne Brust-Granaten“ 79 Celander, Auf ihre Brüste, in: Hussel, Celander. Verliebt=galante Gedichte, S. 45. 80 Benjamin Neukirch, Anweisung zu Teutschen Briefen (Galante Briefe), in: Albrecht Schöne (Hrsg.), Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse, C. H. Beck, München, 1988, S. 495-498 81 Vgl. Niefanger, Barock: Lehrbuch Germanistik, S. 47. 82 Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, Band: Barock und Rokoko, C. H. Beck, Mün‐ chen, 1954, S. 164. 83 Christian Friedrich Hunold, Er ist gluͤcklich im Schlaffe, in: Fünfzig erotische Gedichte, S. 22-23. des Homosexuellen, auf das Einhalten von ungeschriebenen Gesetzen keine großen Stücke hält, wenn ihre Triebhaftigkeit und ihre Gelüste kaum mehr auf‐ zuhalten sind: Was darffst du, Lesbia, so schrecklich auf mich fluchen, / Will meine lincke Hand die zarten Bietzgen suchen […] / Ach! stosse mich nur nicht von deen rothen Spitzen, / Sonst möchte ich dich vielleicht mit einem Pfriemgen ritzen, / Und zwar an einem Ort, den man weit zärter nennt, / Dahin du keinem noch zu stechen je vergönnt. 79 Galante conduite und Sex conduite In der Dichtkunst des Hochsowie des Spätbarock zeichnet sich ein Spannungs‐ feld ab zwischen galanter Poesie, die in Benjamin Neukirchs Anweisung zu Teut‐ schen Briefen als Urquelle der Liebeswerbung in Erscheinung tritt, da sie mehr Wahres über die männlichen Absichten aussagt als eine Liebeserklärung, und exorbitanter sexueller Exzessivität. 80 Die symbolische Effekthascherei und „Af‐ fektenlehre“ 81 der barocken Galante conduite, die französischen Benimmrastern entstammt, erfährt gegen Ende der Barockzeit über kurz oder lang eine Sex conduite, in der die Bildlichkeit und die Sprachenergie durch Stilmittel der ap‐ pellativen Direktheit wie bei Celander ersetzt werden. Im Barock entwickelt sich die Sexual- und Erotikproblematik bis zum Rokoko hin zu einem „graziöse[n] Gesellschaftsspiel“ 82 , zu einem bewussten virtuosen einerseits und andererseits zu einem brachial durchgeführten Spiel mit den eigenen Trieben. Christian Friedrich Hunolds Er ist gluͤcklich im Schlaffe vermengt beide Perspektiven und mischt noch den Vanitas-Gedanken hinein, wenn er eine geträumte Schlafwelt schildert, eine „[e]rwuͤnschte Nacht! “ 83 , in der die Liebeswünsche des Ich endlich in Erfüllung gehen sollten. Mit einem galant klingenden Vokabular wird die Geliebte ins illusorische Bett gebeten, auf den „Liebe Sammel-Platz“. Hunold weiß die Sprachschönheit mit der Körperschönheit der Frau zu verbinden: 110 Wolfgang Brylla 84 Ebd. 85 Ebd. Umarme doch mit wollen weichen Haͤnden / Den heissen Leib / der sich nach Kuͤhlung sehnt […] / Erhebe dich mein Kind zwar allzu enge Schrancken / Allein es geht mit suͤssen Zwang hinein / Ach Zucker-Kost der kuͤtzlenden Gedancken / Dabey das Marck muß ausgezehret seyn. 84 Und auch der Vermerk der Ergießung des „suͤsse[n] Thau[s]“ und der unerhörte Schrei „Ach Kind! Ach Schatz! thu deine Muschel auf “ 85 tun dem ganzen Ga‐ lanterie-Stil keinen Abbruch, weil sie sich als letzter Hilferuf des unerfüllten und immer noch hoffenden Jünglings entpuppen. In diesem Sinne sind auch die ba‐ rocken Liebes- und Wollustgedichte als sexuelle Phantasielyrik zu beurteilen, denn im Großteil der Gedichte kommt es keineswegs zum Vollzug oder zur Stil‐ lung der sexuellen Gier. Man spricht zwar über den Geschlechtsverkehr, aber der entscheidende letzte Schritt wird nicht vollzogen, denn dieser ist nur in der Realität, in der menschlichen Existenz möglich. 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Aufsätze behauptet Marcel Reich-Ranicki Folgendes: Manche unserer Erzähler meinen offenbar, es komme, wenn man eine erotische Be‐ ziehung zeigen möchte, vor allem darauf an zu schildern, wie sich zwei Menschen im Bett miteinander beschäftigen. Aber ungleich schwerer und vielleicht auch ergiebiger ist es, die erotische Spannung zwischen zwei Individuen erkennbar zu machen, die sich, beispielsweise, am Kaffeehaustisch gegenüber sitzen oder in einem Großraum‐ büro. 1 Der Vorwurf scheint vorderhand ein strikt stilistischer zu sein. Reich-Ranicki kritisiert das ,Wie‘ der erzählten Sexualität im deutschsprachigen Kulturraum, also einzig die Form, die dem Prozess mehr Aufmerksamkeit schenkt als denje‐ nigen dezenten Mechanismen, welche diesen Prozess erst in Gang setzen. Es geht hier um die ästhetisch und konzeptionell fragwürdige verbale Entblößung des Körpers sowie den damit einhergehenden Verlust der Lust, den Reich-Ra‐ nicki verständlicherweise beklagt. Jedoch bezieht sich seine Kritik nicht einzig auf die künstlerische Darstellungsweise des Erotischen, sondern auch auf die ,Was‘-Ebene. Hier werden Reich-Ranickis Feststellungen besonders provo‐ kant. So behauptet er z. B. unter Berufung auf Goethe: „Liebe ist von allen Dingen/ Unser Thema, wenn wir singen.“ Er hat es ernst gemeint, er hat es nicht nur lauthals verkündet und verlangt, sondern auch mit seinem ganzen Werk verwirklicht […]. […] Daß er, der deutschen Literatur größter Erotiker, den‐ noch […] als Deutschlands größter Dichter anerkannt wurde, ist ein Wunder, von dem schon manche Romantiker nichts wissen wollten und von dem die heutigen Schrift‐ steller nichts wissen. […] Die Liebe - wo ist sie geblieben? […] Der Eros wird denun‐ ziert. […] Damit hängt es auch zusammen, daß der Sexualakt in der deutschen Literatur 2 Ebd., S. 33, S. 36. 3 URL: https: / / www.welt.de/ kultur/ pop/ article145777059/ Und-alles-was-wir-wolltenwar-Entjungferung.html (letzter Zugriff am 29. Oktober 2016). häufig zu einem Mysterium hochstilisiert oder als belanglose, wenn nicht gar ekelhafte Prozedur verunglimpft wird - was im Prinzip auf dasselbe hinausläuft. Franzosen und auch Amerikaner sind auch klüger: sie lassen die Kirche im Dorf. Mit anderen Worten: In diesen Literaturen erscheint die Liebe weder als etwas Göttliches noch als etwas Teuflisches. Sondern als etwas Menschliches. Ist es denn etwa unmöglich, die Liebe in deutscher Sprache zu besingen, ohne sie zu mystifizieren? Und sollte es so schwierig sein, sie darzustellen, ohne sie zu denunzieren? 2 Die Abwesenheit eines adäquat geschilderten Liebesdiskurses in der gesamten deutschen Literatur nach Goethe erklärt Reich-Ranicki mit der Denunzierung des Eros. Die misslungenen Versuche, den Liebesakt ästhetisch und psycholo‐ gisch darzustellen, folgen somit daraus, dass die Liebe auch als Gefühl immer wieder falsch betrachtet wird. Entweder kommt das Göttliche oder das Teufli‐ sche ins Spiel, das Menschliche aber fehlt. Bemerkenswert ist allerdings, wie aktuell Reich-Ranickis Thesen bis heute bleiben. Anscheinend habe ja die mo‐ derne Kultur die angesprochene Gut-Böse-Dichotomie in Bezug auf den menschlichen Körper und dessen Neigungen längst hinter sich gelassen. Doch gerade am Beispiel jüngerer literarischer Texte lässt sich gut beobachten, dass die alten Gewohnheiten nur scheinbar der Vergangenheit angehören. Die offi‐ zielle Einstellung zur Sexualität hat sich zweifelsohne radikal geändert. Umso erstaunlicher und interessanter ist nun die Tatsache, dass der von Reich-Ranicki formulierte Entweder-Oder-Grundsatz sich stets einer durchaus stabilen Be‐ liebtheit erfreut. Beide Extreme - das „Mysterium“ auf der einen Seite und die „ekelhafte Prozedur“ auf der anderen - sind beibehalten, obwohl der Ekel heut‐ zutage häufiger die erste Geige spielt, und zwar sowohl im Werk der Nobel‐ preisträgerin Elfriede Jelinek als auch bei den umstrittenen Experimenten von Charlotte Roche oder Stefanie Sargnagel. In der neueren Literatur ist mittler‐ weile sogar der Begriff „Ekelfeminismus“ entstanden. 3 Hier nur einige Beispiele davon: Eine rotgefärbte Drachenlady schiebt jetzt ihre leicht fettliche Rückseite ins Bild. An ihrer vermeintlichen Zellulitis arbeiten sich billige Masseure seit Jahren die Finger weg. […] sie massiert sich mit der rechten Hand, an die blutrote Krallen gesteckt sind. Links kratzt sie an ihren Brüsten herum. Sie zieht die Warze mit ihren spritzigen Kunstnägeln gummibandartig ein wenig vom Körper weg und läßt sie danach zu‐ 114 Andrey Kotin 4 Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin, 31. Auflage, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2004, S. 58-59. 5 URL: https: / / kurier.at/ kultur/ erste-zitate-aus-roches-schossgebete/ 718 112 (letzter Zu‐ griff am 23. Oktober, 2016). 6 URL: http: / / www.zeit.de/ 2015/ 48/ fitness-stefanie-sargnagel-feminismus-wien (letzter Zugriff am 23. Oktober 2016). rückschellen. Die Warze steht wie ein Fremdkörper vom Körper ab. 4 (Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin.) Ich hasse es, alleine zu sein mit diesen Gedanken, immer so ekelhafte Gedanken, ent‐ weder Tote oder anal, was anderes gibt's wohl nicht in meinem Kopf.“ 5 (Charlotte Roche, Schoßgebete.) Nach dem Absetzen der Pille hab ich endlich wieder diese kräftige Regel, diese wüsten, kriegerischen Blutschwalle mit den urigen Batzen, mit der ich mich viel besser iden‐ tifizieren kann.“ 6 (Stefanie Sargnagel, Fitness.) Die Liebesdarstellung in den Werken der deutschen Romantik nimmt in der von Reich-Ranicki vorgeschlagenen Gegensatzkonstellation eindeutig die Kontra‐ position zu den oben skizzierten extrem naturalistischen Versuchen ein. Bei den Romantikern (auf deren wohlbekannte Goethe-Skepsis Reich-Ranicki ironisch anspielt) wird ja der Sexualakt fast immer „zu einem Mysterium hochstilisiert“, und zwar bewusst. Die Gründe dafür sind anderer Natur und lassen daher keine allzu direkten Parallelen zwischen dem romantischen Blick auf die Liebe und ihrer Behandlung in den Texten provokationsorientierter Grenzgänger erzählter Physiologie ziehen. Es mag paradox klingen, aber für die Ästhetik des Eroti‐ schen, d. h. für dessen literarischen Wert, hat die Zensur vergangener Jahrhun‐ derte eine eher positive Rolle gespielt. Weiß ein Autor oder eine Autorin, dass er / sie sich nicht alles erlauben kann, dass er / sie aufpassen muss und nicht allzu direkt werden darf, so steht er / sie zwangsläufig vor einer phantasieerregenden künstlerischen Herausforderung. Falls er / sie nicht aufgibt (und ein richtiger Künstler gibt selten auf), so wird er / sie seine Liebesszenen nämlich so gestalten müssen, dass der Leser erst durch eine gewisse intellektuelle Anstrengung das Gemeinte hinter dem Beschriebenen, das Signifikat hinter dem Signifikanten erkennt. Stilistische Feinheiten und kunstvolle Metaphern werden bei diesem Prozess zu unausweichlichen Begleitern gewagter Ausweichstrategien. Friedrich Schlegels 1799 veröffentlichtes Romanfragment Lucinde liefert ein markantes Beispiel dafür. Selbstverständlich verfolgte Schlegel bei seinem Um‐ gang mit der Liebesdarstellung auch andere, persönliche Ziele, die dem ge‐ samten romantischen Welt- und Menschenbild entsprangen und sich durch bloße staatliche Aufsichtsstrenge nicht erklären lassen. Lucinde ist, ganz nach 115 Liebe und Sexualität in Friedrich Schlegels Lucinde 7 Włodzimierz Wiśniewski, Friedrich Schlegels „neue Mythologie” als poetologisch-kultur‐ kritischer Entwurf, in: Anna Dąbrowska / Katarzyna Jaśtal / Paweł Moskała/ Agnieszka Palej (Hrsg.), Variable Konstanten. Mythen in der Literatur, Neisse Verlag, Dresden / Wrocław, 2011, s. 143-150, hier S. 150. 8 Friedrich Schlegel, Lucinde, Reclam, Stuttgart, 1999, S. 43. den maßgebenden Universalpoesieforderungen ihres Autors, eine für ihre Ent‐ stehungszeit ziemlich innovative Mischung aus einer poetischen Liebesge‐ schichte, einem philosophischen Essay über die Natur der Liebe sowie einem literaturwissenschaftlichen Traktat über die Kunst des romantischen Romans, der eben alle aufgezählten Elemente enthalten soll. Insofern ist es ein autonomes Werk, welches die ,Wie‘- und die ,Was‘-Ebene eines literarischen Textes aufs Engste zu vereinen sucht. Im gewissen Sinn verkörpert Schlegels Werk die „frühromantische Theorie der dichterischen Sprache als eines selbstreferen‐ tiellen Ausdruckssystems“. 7 Darüber hinaus bietet der unvollendete Roman aber auch einige Szenen, welche die damaligen Zensurgrenzen auf eine überaus reiz‐ volle Art und Weise zu erweitern suchen. Im Kapitel unter dem Titel Treue und Scherz findet nämlich ein Gespräch zwischen dem männlichen Protagonisten Julius und seiner Geliebten statt. Dieser großenteils lustige, ja leichtfertige Wortwechsel wird auf pure Dialogform reduziert, ohne jegliche Eingriffe seitens des Erzählers, sodass ein Prosatext plötzlich die Merkmale eines Theaterstücks annimmt. Folgen wir dem Verlauf dieser höchst markanten Szene: - Du bist doch allein Lucinde? - Ich weiß nicht… vielleicht… ich glaube. - Bitte, bitte! liebe Lucinde. Weißt du wohl wenn die kleine Wilhelmine, Bitte, bitte! sagt, und man tut's nicht gleich, so schreit sie's immer lauter und ernsthafter, bis ihr Wille geschieht. - Also das hast du mir sagen wollen, darum stürzest du so außer Atem ins Zimmer und hast mich so erschreckt? - […] Gleich will ich dir antworten. Nur erst einen recht langen Kuß, und wieder einen, dann noch einige und viele andre mehr. - O, du mußt mich nicht so küssen wenn ich vernünftig bleiben soll. Das macht böse Gedanken. - Die verdienst du. Kannst du wirklich lachen, meine verdrießliche Dame? Wer hätte das denken sollen! 8 Der eigentliche Sinn der dargestellten Situation wird bereits in deren Auftakt klar: Julius besucht Lucinde mit dem Ziel, sie zu verführen. Die Intensität seines erotischen Verlangens vergleicht er mit der ungeduldigen Entschlossenheit eines kleinen Kindes, welches das Erwünschte unbedingt hier und jetzt be‐ 116 Andrey Kotin 9 Der Vergleich eines erwachsenen Mannes mit einem zweijährigen Mädchen ist künst‐ lerisch wie psychologisch ein offensichtlicher Fehltritt. Dessen Begründung liegt zwar in der romantischen Kindheitsverehrung, aber der Unterschied zwischen dem Anspruch eines Kindes auf ein weggenommenes Spielzeug und der sexuellen Begierde von Julius macht jegliche Vergleichsversuche eher fragwürdig. 10 Schlegel, Lucinde, S. 44. kommen will. 9 Das verbale Vorspiel dauert immerhin nicht lange. Sehr bald geht der Protagonist zu den Taten über und küsst Lucinde, die darauf distanziert-er‐ munternd reagiert. Sie sagt, er sollte sie nicht so küssen - wenn sie vernünftig bleiben soll - und Vernunft ist ja das Letzte, was einen entflammten romanti‐ schen Liebhaber angehen könnte. Lucinde spricht zwar von den „bösen Ge‐ danken“, aber auch eher im spielerischen Ton, den Julius gleich erwidert, nur in etwas härterer Form, wenn er seine Geliebte „meine verdrießliche Dame“ nennt. Diese kleine Atmosphärenerhitzung wirkt auf Lucinde durchaus motivierend. Sie scheint sich immer noch zu wehren, aber die Intensität ihrer Ablehnung lässt deutlich nach: - […] du närrischer Julius! […] deine Zärtlichkeit fließt heute ja wie ein Platzregen. - Wie dein Gespräch in der Nacht. - O das Halstuch lassen Sie nur, mein Herr. - Lassen? Nichts weniger als das. Was soll so ein elendes dummes Halstuch? Vorurteile! Aus der Welt muß es. - Wenn uns nur nicht jemand stört! - […] Warum schlägt dein Herz so unruhig? Komm laß mich‘s küssen. Ja du sagtest vorhin von Türen zuschließen. Gut, aber so nicht, nicht hier. Geschwind herunter durch den Garten, nach dem Pavillon, wo die Blumen stehn. Komm! o laß mich nicht so lange warten. - Wie Sie befehlen mein Herr! - Ich weiß nicht, du bist heute so sonderbar. - Wenn du anfängst zu mo‐ ralisieren, lieber Freund, so könnten wir eben so gut wieder zurückgehen. Lieber gebe ich dir noch einen Kuß und laufe voran. - O fliehen Sie nicht so schnell Lucinde, die Moral wird Sie doch nicht einholen. Du wirst fallen, Liebe! 10 Am Beispiel dieser Passage sieht man deutlich, wie ein entsprechend aufge‐ bauter Dialog das klassische Beschreibungsmuster erfolgreich ersetzen kann. „Gezeigt“ wird nichts, dagegen Vieles erzählt. Das Präludium entwickelt sich also weiter, und zwar auf einer fortgeschrittenen Ebene, denn jetzt wird Lucinde langsam ausgezogen, wonach die Beiden sich ins Pavillon begeben, um dort mehr Intimität genießen zu können. Dabei wird Julius von Lucinde mit „mein Herr“ angesprochen, was auf ihre - wiederum unbeschwerte - Ergebung hin‐ weist. Julius’ doppelsinniges, prognostizierendes Wortspiel - „Du wirst fallen, Liebe! “ - ist eine durchaus passende Antwort darauf. Doch plötzlich wechselt die Stimmung: 117 Liebe und Sexualität in Friedrich Schlegels Lucinde 11 Ebd., S. 45-46. 12 Gerrit Hoche, Utopische Liebesentwürfe der Moderne. Zur narrativen Produktion und Re‐ flexion von Geschlechterdifferenzen in Friedrich Schlegels „Lucinde“ und Ingeborg Bach‐ manns „Malina“, Peter Lang, Frankfurt am Main, 2010, S. 122. - O nein, Julius! laß, ich bitte dich, ich will nicht. - Darf ich nicht fühlen, ob du glühst wie ich? O so laß mich doch die Schläge deines Herzens lauschen, die Lippen in dem Schnee des Busens kühlen! … […] Sind wir nicht Kinder? Sprich doch! wie konntest du nur erst so gleichgültig und kalt sein, und nachher wie du mich endlich fester an dich zogst, machtest du in demselben Augenblick ein Gesicht, als wenn dir etwas weh täte, als ob es dir leid wäre, daß du meine Glut erwidertest. Was ist dir? du weinst? […] Sieh mich an, Geliebte! - O laß mich hier an dich liegen, ich kann dir nicht in die Augen sehen. Es war recht schlecht von mir, Julius! […] Wirst du mich nicht verlassen? kannst du mich noch lieben? - Komm zu mir, mein süßes Weib! hier an meinem Herzen. […] was ist dir, Liebe? bist du böse auf mich? - Auf mich bin ich böse. […] Aber bilden Sie sich nur nicht ein, mein Herr, daß du so unmenschlich liebenswürdig bist. Diesmal war es eigner Wille, daß ich meinen Vorsatz brach. - Der erste und der letzte Wille ist immer der beste. Dafür, daß die Frauen meistens weniger sagen, als sie meinen, tun sie bisweilen mehr als sie wollen. 11 Der sprunghafte Übergang von bebender Willensbereitschaft zu Tränen und Selbstbeschuldigung ist für das Verständnis von Schlegels Geschlechtsdicho‐ tomie äußerst bedeutend. Zwar plädiert er unzweideutig für die sexuelle Be‐ freiung des Menschen, aber diese Befreiung erfolgt bei der Frau anders als bei dem Mann. Julius’ Aufgabe besteht darin, die Vorurteile infrage stellend, Lu‐ cindes Begehren zu entflammen und ihr Denken von üblichen Moralvorstel‐ lungen zu befreien, was ihm auch perfekt gelingt. Dass dieses gegenseitige Ver‐ langen der Geliebten nacheinander als kein lüsterner Frevel, sondern als etwas Normales und sogar Erhabenes konzipiert wird, verleiht Schlegels Erotik einen frischen Hauch ethischer Erneuerung, worauf Gerrit Hoche zu Recht hinweist: Während der Frau bei Fichte ein eigenständiges sexuelles Begehren schlicht abge‐ sprochen wird, ist dieses bei Schlegel integraler Bestandteil des Liebesentwurfs. Dies wird etwa auch im Kapitel Treue und Scherz deutlich, an dessen Beginn auch Lucinde als sexuell Begehrende erscheint […] und auf ihre am Kapitelende aufgeworfene Frage „Wer ist wohl, leidenschaftlicher, Julius! Ich oder du? “ antwortet dieser: „Wir sind’s beide genug.” […] In diesem Punkt entfernt sich Schlegel auch deutlich von der Ar‐ gumentation Humboldts. Während dessen komplementäres Polaritätsmodell auf eine möglichst reine Stärkung des jeweiligen Geschlechtercharakters hinausläuft, zielt das Modell einer wechselseitigen Identitätssteigerung zweier Individuen auf die tendenz‐ ielle Abwertung geschlechtertypischen Eigenschaften […]. 12 118 Andrey Kotin 13 Ebd., S. 266. 14 Suok Ham, Zum Bild der Künstlerin in literarischen Biographien. Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“, Ginka Steinwachs’ „George Sand” und Elfriede Jelineks „Clara S.“, Königs‐ hausen und Neumann, Würzburg, 2008, S. 41. Für Schlegel wäre Lucinde jedoch keine ,wahre‘ Frau, wenn sie ihre spontane Hingabe, ihr lustvolles Verhalten später nicht bereuen würde. Nachdem er‐ kennbar wird, dass sie die kühnen Berührungen ihres Geliebten genossen hat, zieht sich Lucinde zurück und benimmt sich unerwartet keusch, indem sie Julius fragt, ob er sie noch lieben kann. Zugleich betont sie aber, dass es ihr eigener Wille war, den „Vorsatz“ zu brechen. Somit will Lucinde auch im Rausch eroti‐ scher Zuneigung, den sie als Schwäche empfindet, ihre Unabhängigkeit nicht verlieren. Deshalb ist sie nicht auf Julius, sondern auf sich selbst böse - ein klares Zeichen dafür, dass die Frau in der Romantik die Verantwortung für ihr sexuelles Leben übernimmt. Nichtsdestotrotz führt das bei Schlegel entworfene Frauen‐ bild oft dazu, dass Lucinde in feministisch orientierten Forschungen als ein nur scheinbar emanzipatorisches Werk kritisiert wird. Es geht dabei um die ten‐ denziöse Subjektivität des Schlegel‘schen Liebesideals, von dem in der Praxis einzig der männliche Protagonist profitiert: In autoritativer Bezugnahme auf ihre kosmologischen und poetologischen Gesetz‐ mäßigkeiten formuliert Julius als Schriftsteller und Liebhaber ein Ideal der Liebe, auf welches er Lucinde funktionalisierend festschreibt. […] Dabei wird sein romantischer Liebesentwurf als einseitig männliches Identitätsmodell transparent, über das sich lediglich seine Individualität frei entfalten kann. 13 Die Vorwürfe der feministischen Kritik sind einwandfrei artikuliert und zum Großteil berechtigt. Schlegel bemüht sich tatsächlich um keine Frauenbefreiung, geschweige denn um eine Genderrevolution im modernen Sinne des Wortes. Mehr noch: Das freie Gedanken- und Ideenspiel ist ihm, dem Erfinder des ro‐ mantischen Ironie-Begriffs, wesentlich relevanter als die Errichtung einer neuen Geschlechtsideologie. Sehr präzise äußert sich dazu Suok Ham: Das Rollentauschspiel in Lucinde dürfte eine progressive Spekulation sein, um die fest fixierten Geschlechtsrollen kritisch ans Licht zu bringen. Ein Mensch soll nicht in seinen geschlechtlichen Grenzen gefangen bleiben. Dennoch liegt diesem Austausch‐ spiel weit mehr daran, die Möglichkeiten eines ganzheitlichen Individuums zu phan‐ tasieren, als die reale Geschlechtergrenze aufzuheben. 14 Anders formuliert, bemüht sich Schlegel nicht um das Soziale, sondern um das Künstlerische und Metaphysische. Vielmehr als die Infragestellung geschlecht‐ licher Muster beschäftigt ihn die verlorene und wiederzugewinnende Andro‐ 119 Liebe und Sexualität in Friedrich Schlegels Lucinde 15 Vgl. Nikolai Berdjajew, Eros i ličnost’, Azbuka-Klassika, Moskau, 2006. 16 Inge Stephan, „Kunstepoche“, in: Wolfgang Beutin (Hrsg.), Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 7., erweiterte Auflage, J. B. Metzler, Stuttgart, 2008, S. 182-238, hier S. 207. 17 Novalis, Werke, hrsg. und kommentiert von Gerhard Schulz, C. H. Beck, München, 2001, S. 384. 18 Ebd. gynität, über die auch Nikolai Berdjajew, einer der bekanntesten russischen Exilphilosophen des 19. Jahrhunderts in seinen Überlegungen zu Eros und Person geschrieben hat. 15 Überraschenderweise hat dieses androgyne Dasein - wenigstens im Schle‐ gel’schen romantischen Diskurs - mehr mit privaten erotischen Phantasien eines konkreten Menschen zu tun als mit allgemeinen Gesellschafts- und Ge‐ schlechtstheorien, die Liebe und Sex zwar unaufhörlich erforschen und proble‐ matisieren, sie aber eben dadurch lediglich als soziale Phänomene betrachten. So gesehen hat Inge Stephan natürlich Recht, wenn sie behauptet: „Das Weib‐ liche wird nicht befreit, sondern ähnlich wie in klassischen Texten mythologi‐ siert und ästhetisch funktionalisiert.“ 16 Die Romantiker wollten ja die Welt nicht befreien, sondern romantisieren, worunter Novalis, der die Forderung - „Die Welt muss romantisiert werden“ 17 - als Erster formulierte, Folgendes verstand: Romantisieren ist nichts als eine qualit[ative] Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. […] Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnli‐ chen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten gebe, so romantisiere ich es - Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche - dies wird durch diese Verknüpfung logarithmisiert - es be‐ kommt einen geläufigen Ausdruck. […] Wechselerhöhung und Erniedrigung. 18 Es sei hier bemerkt, dass die Theorien der Romantiker, sobald sie in konkrete künstlerische Werke umgewandelt wurden, oft gerade deshalb scheiterten, weil die ursprünglichen Bestrebungen einfach zu groß waren, um im Rahmen eines lesbaren Prosatextes erfolgreich realisiert zu werden. So geschieht es auch mit dem Ideal des romantisierten Eros in Friedrich Schlegels Lucinde. Gerade deshalb ist es aber wichtig, das Geplante über das Realisierte hinaus wahrzunehmen. Denn es verhält sich mit der Romantik oft so, dass der einem naiv klingenden Text vorschwebende Gedanke nicht nur tiefsinniger und komplexer als das ge‐ druckte Resultat ist, sondern Letzteres gar in einem neuen Licht darstellen kann. Dies illustriert Eva Bockehheimer am Beispiel von Hegels kritischer Aussage über Lucinde: 120 Andrey Kotin 19 Eva Bockenheimer, Hegels Familien- und Geschlechtertheorie, Felix Meiner Verlag, Ham‐ burg, 2013, S. 201. 20 Schlegel, Lucinde, S. 33. In seiner Kritik an Schlegels Lucinde und Schleiermachers Vertraute Briefe über Fried‐ rich Schlegel’s Lucinde macht Hegel auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Vo‐ raussetzungen für Männer und Frauen aufmerksam, die dazu führen, dass die Ehe‐ schließung nicht für beide Geschlechter von derselben Bedeutung ist. Während das Eingehen der Ehe für das <Mädchen> existenziell ist - […] erst durch sie wird es zur Frau - hat der Mann „noch ein anderes Feld seiner sittlichen Tätigkeit […] ausser seiner Familie“, nämlich in Staat und bürgerlicher Gesellschaft […] Er wird nicht erst durch Hochzeit vom Jüngling zum Mann, sondern durch den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft als Volljähriger. Diese unterschiedlichen gesellschaftlichen Vorausset‐ zungen von Mann und Frau haben zur Folge, dass der sogenannte „Beweis“ der Liebe durch „sinnliche Hingebung“ (Geschlechtsverkehr) vor Eheschließung seitens des Mannes gar keinen Beweis darstellt. 19 Hegels Argumente sind natürlich unbestritten. Die Frage lautet jedoch: Ob man die von ihm vorgeschlagenen Kategorien und Problemstellungen an einen Text anwenden kann, der seinem aufmerksamen Rezipienten etwas ganz Anderes mitzuteilen hat? Lucindes Einwilligung in den Liebesverkehr mit Julius ist bei Schlegel nämlich als kein „Beweis der Liebe“ zu verstehen, sondern als deren obligatorischer, naturgetreuer (die geistige Natur inbegriffen) Ausdruck. Im Schlegel‘schen Liebes- und Eros-Entwurf ist das sexuelle Verlangen nach der geliebten Person für die Frau nicht nur genauso bedeutend wie für den Mann, sondern auch viel bewusster und absorbierender als bei dem Letzteren. Gerade den Frauen, im Gegensatz zu den Männern, mutet Schlegel zwar rein intuitive, aber umso exaktere Liebeskenntnis zu, und dies schon in ihren jüngsten Jahren: Ganz anders würde es mit den Frauen sein. Unter ihnen gibt es keine Ungeweihten; denn jede hat die Liebe schon ganz in sich, von deren unerschöpflichem Wesen wir Jünglinge nur immer ein wenig mehr lernen und begreifen. […] Auch das Mädchen weiß in ihrer naiven Unwissenheit doch schon alles, noch ehe der Blitz der Liebe in ihrem zarten Schoß gezündet, und die verschloßne Knospe zum vollen Blumenkelch der Lust entfaltet hat. Und wenn eine Knospe Gefühl hätte, würde nicht das Vorgefühl der Blume deutlicher in ihr sein, als das Bewußtsein ihrer selbst? […]  20 Das Verlangen nach der Eros-Liebe wacht in der Frau also früher als im Mann auf und entfaltet sich bald zum Hauptsinn des Lebens. Es gibt zwar, wie oben gezeigt wurde, einige geschlechtstypische Unterschiede in der Empfindung dieses Verlangens sowie in der Reaktion darauf. Schlegels letztendliche Inten‐ 121 Liebe und Sexualität in Friedrich Schlegels Lucinde 21 Hoche, Utopische Liebesentwürfe der Moderne, S. 104. 22 Schlegel, Lucinde, S. 18. 23 Ebd., S. 17. 24 Ebd., S. 49. tion ist aber, die Liebenden als einen zusammengesetzten, androgynen Orga‐ nismus darzustellen, dessen separates, hermetisches Dasein jenseits aller sozi‐ alen Normen und Probleme gedeiht. Um es mit Gerrit Hoche zu formulieren: „Liebe wird […] zwangsläufig zur Utopie im wahrsten Sinne des Wortes, zum Nicht-Ort, und kann an keine sozial-historische Realität rückgebunden werden.“ 21 Die Autorin sieht dies natürlich kritisch, aber die Interpretation an sich ist äußerst prägnant und textgetreu. Nur die Bezeichnung „zwangsläufig“ scheint hier etwas voreilig zu sein, denn das asoziale Fundament von Schlegels Liebesutopie wirkt durchaus beabsichtigt und wird im Roman konsequent aus‐ gearbeitet. Die romantische Liebe ist nämlich ihrer inneren Natur nach eben ein „Nicht-Ort“, ein vorzugsweise metaphysisches Phänomen, dessen wahre We‐ sensart im höchsten Sinne persönlich und nicht etwa sozial ist. „Wir beide werden noch einst in Einem Geiste anschauen, daß wir Blüten Einer Pflanze oder Blätter Einer Blume sind, und mit Lächeln werden wir dann wissen, daß was wir jetzt nur Hoffnung nennen, eigentlich Erinnerung war“ 22 , schreibt Julius an Lucinde, indem er über ihr weiteres Zusammensein nach dem physischen Tod reflektiert, in demjenigen Jenseitsreich, wo „die Sehnsucht voller befrie‐ digt“ 23 wird. Man sollte dabei betonen, dass nicht alle Liebenden zum derartigen Gefühl fähig sind, sondern einzig diejenigen „Adepten“ der romantischen Liebe, denen diese sich als ein transzendentes Mysterium offenbart. Der elitäre Cha‐ rakter romantischer Liebes- und Lebensempfindung findet in Julius’ Eifer‐ suchtskritik eine besonders frappante Ausprägung: Verzeih mir, Liebe! ich will nicht auffahren, aber ich begreife durchaus nicht wie man eifersüchtig sein kann […] Für mich ist das Glück gewiß und die Liebe Eins mit der Treue. Freilich wie die Menschen so lieben, ist es etwas anders. Da liebt der Mann in der Frau nur die Gattung, die Frau im Mann nur den Grad seiner natürlichen Quali‐ täten und seiner bürgerlichen Existenz, und beide in den Kindern nur ihr Machwerk und ihr Eigentum. Da ist die Treue ein Verdienst und eine Tugend; und da ist auch die Eifersucht an ihrer Stelle. Denn darin fühlen sie ungemein richtig, daß sie stillschwei‐ gend glauben, es gäbe ihres gleichen viele, und einer sei als Mensch ungefähr so viel wert wie der andre, und alle zusammen nicht eben sonderlich viel. 24 Die Grenze zwischen der bürgerlichen und der romantischen Liebe ist somit klar umschrieben. Eine Bürgerehe fungiert in erster Linie als ein soziales Institut und bleibt als solches gattungs- und gesellschaftsorientiert, d. h. zwangsweise un‐ 122 Andrey Kotin 25 Friedrich Schleiermacher, Vertraute Briefe über die Lucinde, Hoffmann und Campe, Hamburg, 1835, S. 123. persönlich. Eine kennzeichnende Charakteristik solcher Bindungen ist die po‐ tentielle Austauschbarkeit beider Partner. Daraus ergibt sich, so Julius, das Ge‐ fühl der Eifersucht, also die ständige (und durchaus berechtigte) Angst, dass sich ein besserer „Kandidat“ findet (ein reicherer Mann, eine schönere Frau usw.). Dass dieses distanzierte, ja herablassende Betrachten anderer Menschen, die dem exquisiten Liebesideal noch nicht gewachsen sind, auf manche Rezipienten abstoßend wirken mag, soll hier nur nebenbei angemerkt, nicht aber weiter diskutiert werden. Viel wichtiger ist im vorliegenden Kontext der in Lucinde postulierte konträre Unterschied zwischen dem üblichen und dem metaphysi‐ schen Ehekonzept. Bei einer romantischen Ehe, wie sie bei Schlegel geschildert wird, kann nämlich keine Eifersucht vorkommen, denn hier treffen und ver‐ lieben sich zwei einmalige, unersetzbare Persönlichkeiten. Ihr gemeinsames Ziel ist weder die Gründung einer konventionellen bürgerlichen Familie noch eine gleichberechtigte Partnerbeziehung, wie wir sie heute kennen. Daher schreibt Friedrich Schleiermacher in seinen Vertrauten Briefen über die Lucinde: „Vor der Liebe scheint mir eine Freundschaft zwischen Mann und Frau etwas unnatürli‐ ches und ein leeres, ja sogar sträfliches Unternehmen […]“ 25 . Schleiermachers Hierarchie teilt also Freundschaft von der Liebe radikal ab. Unter Freundschaft wird dabei ein zwar emotional und intellektuell gleichgesinntes, zugleich aber separates Verhältnis zweier voneinander unabhängiger Personen gemeint. Die Liebe ist hingegen als eine sakrale Vereinigung, ein gegenseitiges Sich-Verlieren zweier zu Personen entfalteter Individuen im transpersonalen Liebesideal zu verstehen. Schematisch lässt sich die beschriebene Opposition folgendermaßen resümieren: Liebe als Integration Liebe als Freiheit zu zweit in die Familie; in die Gesellschaft; in die Kirche. im „freien Bund der Ehe“; außerhalb der Gesellschaft; in der „Kirche der Natur“. eine Familie vs. andere Familien; eine Gesellschaftsgruppe vs. andere Ge‐ sellschaftsgruppen; eine Religion vs. andere Religionen. eine Ehe; ein Liebespaar jenseits aller Gesellschafts‐ gruppen; eine Religion (Gott = Liebe, Kirche = Natur). Man sieht also, wie eng das romantische Liebesideal mit der Emanzipation von jeglichen gruppierten Wertsystemen verbunden ist. Angesichts des freien Bünd‐ 123 Liebe und Sexualität in Friedrich Schlegels Lucinde 26 Hoche, Utopische Liebesentwürfe der Moderne, S. 104. 27 August Wilhelm Schlegel, Über dramatische Kunst und Literatur (Wiener Vorlesungen), in: ders., Kritische Schriften und Briefe, hrsg. von Edgar Lohner, Kohlhammer, Stuttgart, 1966, S. 25. nisses der Liebenden erweisen sich sowohl die Institution der Kirche als auch die säkularisierte Gesellschaft als machtlos und letztendlich als überflüssig: Julius und Lucinde konstituieren als Romanfiguren ihren eigenen isolierten Raum mit eigenen Normen und Konventionen […] Das dargestellte Liebesglück zwischen Julius und Lucinde gelingt nicht obwohl, sondern weil sie sich beide zunächst gegenüber der Gesellschaft verweigern. 26 Dies hat allerdings nicht zu bedeuten, dass eine solche Ehe von der gesamten Umgebung abgekapselt wird und keinen Kontakt zur Außenwelt hat. Ganz im Gegenteil: Die bürgerliche Ehe integriert den Menschen einerseits in eine be‐ stimmte Gemeinschaft (Kirche, Familie, Nation usw.), andererseits grenzt sie ihn eben dadurch von allen anderen Gemeinschaften ab. Die Bezeichnung ,mein Mann‘ bzw. ,meine Frau‘ wird in diesem Fall mit ähnlicher Bedeutungspalette ausgerüstet wie z. B. ,mein Haus‘, ,mein Volk‘ oder ,mein Glaube‘. Die Besitz‐ orientiertheit derartiger Denkstrategien ist gerade das, wogegen die Romantik rebelliert. Nicht zufällig behauptete Friedrich Schlegels Bruder August Wilhelm: „[…] die Poesie der Alten ist die des Besitzes, die unsrige die der Sehnsucht.“ 27 Man kann Lucinde daher Vieles vorwerfen - chaotischen Aufbau, Naivität oder einige unübersehbare Stilschwächen -, nicht aber die Unrealisierbarkeit des darin auf‐ gezeichneten Eros- und Liebesideals, denn Schlegel bemüht sich um kein reali‐ tätsnahes Handbuch. Als romantischer Denker weist er nur auf die Richtung hin, ohne den Anspruch auf ein Glücksrezept zu erheben. Immerhin wird an einer der schönsten und eindringlichsten Textstellen der verbale Umriss seines Liebesideals besonders aussagekräftig: Heute fand ich in einem französischen Buche von zwei Liebenden den Ausdruck: »Sie waren einer dem andern das Universum.« - Wie fiel mir’s auf, rührend und zum Lächeln, daß, was da so gedankenlos stand, bloß als eine Figur der Übertreibung, in uns buchstäblich wahr geworden sei! Eigentlich ist’s zwar auch für so eine französische Passion buchstäblich wahr. Sie finden das Universum einer in dem andern, weil sie den Sinn für alles andre verlieren. Nicht so wir. Alles, was wir sonst liebten, lieben wir nun noch wärmer. Der Sinn für die Welt ist uns recht aufgegangen. Du hast durch mich die Unendlichkeit des mensch‐ 124 Andrey Kotin 28 Schlegel, Lucinde, S. 97-98. 29 Svenja Briese, Die Universalpoesie von Friedrich Schlegel, Diplomica Verlag, Hamburg, 2012, S. 39. 30 Friedrich Schlegel (1799) zitiert nach: Hans Eichner, „Friedrich Schlegels Theorie der Literaturkritik“, in: Reinhold Grimm, Romantik heute. Friedrich Schlegel. Novalis. E. T. A. Hoffmann. Ludwig Tieck, Inter Nationes, Bonn / Bad Godesberg, 1972, S. 18-30, hier S. 20. lichen Geistes kennen gelernt, und ich habe durch dich die Ehe und das Leben be‐ griffen, und die Herrlichkeit aller Dinge. Alles ist beseelt für mich, spricht zu mir und alles ist heilig. Wenn man sich so liebt wie wir, kehrt auch die Natur im Menschen zu ihrer ursprünglichen Göttlichkeit zu‐ rück. 28 Dies ist zweifellos weder ein psychologischer noch belletristischer Ratgeber, sondern vielmehr eine Utopie (aber wiederum kein sozialer Zukunftsentwurf), die den ersehnten Liebeskern eher suggeriert, als dessen dogmatisch feste For‐ mulierung darstellt. Dass ein ideales Verhältnis zwischen zwei entgegenge‐ setzten Geschlechtern im Rahmen der von Zeit, Raum und Körper begrenzten menschlichen Existenz kaum realisierbar sei, spielt dabei eine sehr geringe Rolle. Die Sehnsuchtspoesie strebt, im Gegenteil zur Besitzpoesie, nicht danach, die Sehnsucht zu stillen, denn diese Letztere ist, so Svenja Briese, gerade die Quelle, aus der die Romantik ihre tiefste Inspiration und poetische Kraft schöpft: Das Werden ist Schlegel zufolge Wesenszug der Universalpoesie […] Da der Stoff des Lebens dynamisch und keinesfalls statisch ist, bedarf es einer adäquaten Poesie, also der progressiven Universalpoesie. 29 Der Konflikt zwischen dem Romantischen und dem Bürgerlichen ist der Kon‐ flikt zwischen Traum und Wirklichkeit. Es ist nämlich keine neue soziale Ord‐ nung, sondern der persönliche Dichter- und Denkertraum („Die Kritik soll die Werke nicht nach einem allgemeinen Ideal beurteilen, sondern das individuelle Ideal jedes Werkes aufsuchen“ 30 ), zu dessen Gunsten in Lucinde alle in der da‐ maligen Gesellschaft geltenden Normen und Gesetze verworfen werden. Man könnte deshalb vermuten, dass eben diejenigen Aspekte und nicht nur die kont‐ roversen erotischen Darstellungen für den berühmten Skandal um Schlegels Lucinde seinerzeit gesorgt hatten, was Julia Bobsin zutreffend akzentuiert: 125 Liebe und Sexualität in Friedrich Schlegels Lucinde 31 Julia Bobsin, Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe: Studien zur Liebesthematik in der deutschen Erzählliteratur 1770-1800, Max Niemeyer, Tübingen, 1994, S. 186. Nicht die literarische Gestaltung von Sexualität allein scheint den Zeitgenossen auf‐ gestoßen zu sein, sondern die Verbindung des Sexuellen mit dem Metaphysischen, die beanspruchte Dignität der Sinnlichkeit muß unerhört gewirkt haben. 31 Wie man den am Anfang dieses Beitrags vorgebrachten Überlegungen von Reich-Ranicki entnehmen kann, wirkte diese Sinnlichkeitsdignität nicht nur auf Schlegels Zeitgenossen abstoßend. Eros als Mysterium bleibt im weitverstan‐ denen pragmatisch-realistischen Aufklärungsdiskurs ein immer unerwünschter Gast. Bibliographie Nikolai Berdjajew, Eros i ličnost’, Azbuka-Klassika, Moskau, 2006. Julia Bobsin, Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe: Studien zur Liebesthematik in der deutschen Erzählliteratur 1770-1800, Max Niemeyer, Tübingen, 1994, Eva Bockenheimer, Hegels Familien- und Geschlechtertheorie, Felix Meiner Verlag, Ham‐ burg, 2013. Svenja Briese, Die Universalpoesie von Friedrich Schlegel, Diplomica Verlag, Hamburg, 2012. Hans Eichner, „Friedrich Schlegels Theorie der Literaturkritik“, in: Reinhold Grimm, Romantik heute. Friedrich Schlegel. Novalis. E. T. A. Hoffmann. Ludwig Tieck, Inter Na‐ tiones, Bonn; Bad Godesberg, 1972, S. 18-30. Reinhold Grimm, Romantik heute. Friedrich Schlegel. Novalis. E. T. A. Hoffmann. Ludwig Tieck, Inter Nationes, Bonn / Bad Godesberg, 1972. Anna Dąbrowska / Katarzyna Jaśtal / Paweł Moskała / Agnieszka Palej (Hrsg.), Variable Konstanten. Mythen in der Literatur, Neisse Verlag, Dresden / Wrocław, 2011. Suok Ham, Zum Bild der Künstlerin in literarischen Biographien. Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“, Ginka Steinwachs’ „George Sand” und Elfriede Jelineks „Clara S.“, Königs‐ hausen und Neumann, Würzburg, 2008. Gerrit Hoche, Utopische Liebesentwürfe der Moderne. Zur narrativen Produktion und Re‐ flexion von Geschlechterdifferenzen in Friedrich Schlegels „Lucinde“ und Ingeborg Bach‐ manns „Malina“, Frankfurt am Main, Peter Lang, 2010. Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin, 31. Auflage, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2004. Edgar Lohner (Hrsg.), Kritische Schriften und Briefe, Stuttgart, 1966. Novalis, Werke, hrsg. und kommentiert von Gerhard Schulz, C. H. Beck, München, 2001. Marcel Reich-Ranicki, Vladimir Nabokov: Aufsätze, Ammann Verlag, Zürich, 1995. 126 Andrey Kotin Inge Stephan, „Kunstepoche“ in: Wolfgang Beutin (Hrsg.), Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 7., erweiterte Auflage, J. B. Metzler, Stuttgart 2008, S. 182-238. August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hrsg. von Edgar Lohner, Kohl‐ hammer, Stuttgart, 1966. Friedrich Schlegel, Lucinde, Reclam, Stuttgart, 1999. Friedrich Schleiermacher, Vertraute Briefe über die Lucinde, Hoffmann und Campe, Ham‐ burg, 1835. Hans-Jürgen Schmitt (Hrsg.), Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Romantik I, Philipp Reclam jun., Stuttgart, 2003. Włodzimierz Wiśniewski, Friedrich Schlegels „neue Mythologie” als poetologisch-kultur‐ kritischer Entwurf, in: Anna Dąbrowska / Katarzyna Jaśtal / Paweł Moskała/ Agnieszka Palej (Hrsg.), Variable Konstanten. Mythen in der Literatur, Neisse Verlag, Dresden / Wrocław, 2011, S. 143-150. Websites https: / / www.welt.de/ kultur/ pop/ article145777059/ Und-alles-was-wir-wollten-war-Entjungferung.html (letzter Zugriff am 29. Oktober 2016). https: / / kurier.at/ kultur/ erste-zitate-aus-roches-schossgebete/ 718.112 (letzter Zugriff am 23. Oktober, 2016). http: / / www.zeit.de/ 2015/ 48/ fitness-stefanie-sargnagel-feminismus-wien (letzter Zugriff am 23. Oktober 2016). 127 Liebe und Sexualität in Friedrich Schlegels Lucinde 1 Vgl. hierzu auch Elke Austermühl, „War Wedekind ein Sexualapostel? “, in: Manfred Mittermayer; Silvia Bengesser (Hrsg.), Wedekinds Welt. Theater - Eros - Provokation, Henschel, Leipzig, 2014, S. 35-44. 2 Dabei handelt es sich neben über zwanzig vollendeten Dramen auch um zahlreiche Erzählungen, Lieder und Gedichte; zusätzlich fragmentarische Texte und Überarbei‐ tungen. 3 Frank Wedekind, Werke. Kritische Ausgabe in acht Bänden, Band V,1, Häusser, Darm‐ stadt, 1994-2013, S. 200. 4 Wedekind, Werke, Band V,1, S. 200-205. 5 Wedekind, Werke, Band II, S. 259-376. Das Drama gibt es in zwei Fassungen aus dem Jahr 1891 und 1906, wobei die letztere Ausgabe das für die Uraufführung in Berlin be‐ arbeitete, die drohende Zensur antizipierende Typoskript ist. Vgl. auch Wedekind, Werke, Band II, S. 763 ff. Im Folgenden beziehe ich mich, von expliziten Vergleichen abgesehen, auf den früheren und umfangreicheren Text. „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“ Frank Wedekind und die Sprache der Erotik Anja Manneck (Hamburg) 1. Einstieg und zentrale Thesen Frank Wedekind (1864-1918) gehört zu den meistgespielten Dramatikern der Frühen Moderne (1890-1930) und gilt gleichzeitig als Bürgerschreck, Erotoman und Provokateur. 1 Von seinem umfangreichen Œuvre 2 sind heute aber den meisten allenfalls Frühlings Erwachen und die Lulu-Dramen Erdgeist und Die Büchse der Pandora bekannt. Wedekinds Ruf ist nicht unbegründet, beschäftigen sich doch zahlreiche seiner Texte mit dem „eigenen Geist des Fleisches, den wir im allgemeinen Erotik nennen“ 3 , wie er selbst in Über Erotik  4 , dem Vorwort seines Erzählbandes Feuerwerk, schreibt. Tatsächliche sexuelle Handlungen werden dabei allerdings nur in den seltensten Fällen gezeigt. Eine der wenigen Ausnahmen bildet eben jene bekannte Kindertragödie Frühlings Erwachen, in der explizit masturbierende sowie sich küssende Jungen gezeigt werden und es zu heterosexuellem Geschlechtsverkehr zwischen den minderjährigen Prota‐ gonisten Wendla und Melchior kommt. 5 Häufiger aber wird auf der Bühne nicht 6 Wedekind, Werke, Band VI, S. 124. 7 Andreas Freinschlag, „Über Wedekinds Ruf als Provokateur und Skandalautor“, in: Manfred Mittermayer; Silvia Bengesser (Hrsg.), Wedekinds Welt. Theater - Eros - Pro‐ vokation, Henschel, Leipzig, 2014, S. 69-76, hier S. 74. 8 Wedekind, Werke, Band VI, S. 613. 9 Ebd., S. 613, S. 667 f. das aufgeführt, was ausgesprochen wird. Wenn Elfriede in Tod und Teufel (To‐ tentanz) fordert „Ich will auf dem Blutaltar sinnlicher Liebe geschlachtet werden.“ 6 , folgt dieser Forderung keine Schlachtung auf der Bühne. Sexualität findet also nicht in Handlungen, sondern in der Sprache statt. Die Metaphern und Bilder, denen sich diese Sprache bedient wie beispielsweise der „Blutaltar“, setzen Religion und Sexualität gleich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Da sich derart viele Texte Wedekinds - unabhängig ob Drama, Prosa, Lyrik - mit Sexualität und Erotik beschäftigen, können an dieser Stelle lediglich zentrale Strukturen sprachlicher Gestaltung aufgespürt, exemplarisch belegt und ihre funktionelle Anbindung ausgewertet werden. 2. Wedekind und die Zensur Ein Grund für die Abwesenheit von Szenen mit dezidiert sexuellen Handlungen ist sicher die Zensur, mit der Wedekind stets und folgenreich konfrontiert war - er gilt als einer der meist zensierten Dramatiker des beginnenden 20. Jahrhun‐ derts. 7 Als beispielsweise der Abdruck des 1903 entstandenen, mehrfach umbe‐ nannten Hans und Hanne in Die Fackel abgelehnt wird, schreibt er an Karl Krauss: „Daß Sie Hans und Gretel nicht würden drucken können, ahnte ich ja. Ich werde gelegentlich versuchen, den Dialog in eine hochmoralische Pastete einzubacken. Vielleicht wird er dann zollfrei“ 8 , was er dann mit seiner Umar‐ beitung zu Tod und Teufel (Totentanz) auch tut. Zum Kernstück, das fast voll‐ ständig als Spiel im Spiel erhalten bleibt, kommt eine Rahmenhandlung, in der der Zuhälter Casti Piani mit der alten Jungfer Elfriede von Malchus, Mitglied des Internationalen Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels, über die Be‐ deutung der Prostitution für die Emanzipation der Frau debattiert. Nach der Publikation in der Fackel 1905 erscheint der Einakter bei Albert Langen 1906 in Buchform. Der Antrag einer Beschlagnahme der Druckfassung wird in München und Berlin zunächst abgelehnt; später wird dieser Beschluss in München aufgehoben und Klage gegen Frank Wedekind und seinen Verleger erhoben. Die Uraufführung erfolgt zwar im Mai 1906 in Nürnberg, in Berlin und München wird Tod und Teufel (Totentanz) bis zu Wedekinds Tod 1918 jedoch insgesamt nur drei Mal in geschlossenen Veranstaltungen gespielt. 9 129 „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“ 10 Vgl. Bianka-Aimée Gericke-Pischke, „Franziska“ von Frank Wedekind: Die Einwanderung der Zensur in die Konstruktion des Textes, Hannover, 2006, S. 18, URL: http: / / edok01.tib.uni-hannover.de/ edoks/ e01dh06/ 511649495.pdf (letzter Zugriff am 19. März 2017). 11 Freinschlag, „Wedekinds Ruf “, S. 74. 12 Wedekind, Werke, Band VI, S. 205-232; siehe auch S. 850. Die Erstveröffentlichung er‐ folgt 1908, die Uraufführung 1909. 13 In diesem Prolog finden sich vier namenlose Figuren, „der normale Leser, der rührige Verleger, der verschämte Autor und der hohe Staatsanwalt“, wobei letzterer dem Au‐ toren mit dem „Paragraphen Einhundertvierundachtzig“ droht. In diesem Paragraphen des deutschen Strafgesetzbuches wird die Strafe - Geldstrafe oder Gefängnis, ggf. Ver‐ lust der bürgerlichen Ehrenrechte - für die irgend geartete Publikation „unzüchtiger Schriften, Abbildungen oder Darstellungen“ geregelt. Wedekind, Werke, Band III,1 S. 549 ff. und Band III,2, S. 1059 f. 14 Freinschlag, „Wedekinds Ruf “, S. 74. 15 Vgl. die unterschiedlichen Textfassungen in Wedekind, Werke, Band II, S. 259-376, sowie den umfangreichen Erläuterungsapparat S. 763-995. 16 Pschyrembel: Wörterbuch der Sexualwissenschaft. Stephan Dressler; Christoph Zink (Bearb.), Walter de Gruyter, Berlin / New York, 2003, S. 406 f. Seinen Stücken wird immer wieder vorgeworfen, „unmoralisch“ 10 zu sein, oder im Falle der Büchse der Pandora sogar, dass es sich „um ein pornografisches Machwerk“ 11 handle. Der Umgang der Obrigkeit mit seinen Werken wird immer wieder zum Ge‐ genstand der Texte, wie im Einakter Die Zensur  12 und im Prolog in der Buch‐ handlung, der der Ausgabe von Die Büchse der Pandora aus dem Jahr 1913 vor‐ gestellt ist. 13 Freinschlag fasst zusammen, dass in den Jahren 1908 bis 1916 sechs Stücke Wedekinds verboten wurden - darunter drei, bei denen das Verbot ex‐ plizit aufrechterhalten oder erneuert wurde; zu ihnen gehört auch Schloß Wet‐ terstein. Die Münchner Kammerspiele zogen zwei weitere Stücke zurück. Nur drei wurden für öffentliche Aufführungen genehmigt, mussten dafür aber teils abgeändert werden. 14 Unter den letzteren befindet sich die bereits erwähnte, explizitere Kindertra‐ gödie Frühlings Erwachen. Sie wird erst 1906, 15 Jahre nach ihrem ersten Er‐ scheinen, uraufgeführt - die Szene, in der Hänschen auf der Toilette masturbiert, sowie der homosexuelle Kuss werden gestrichen. 15 3. Pornographie und sexualmetaphorische Sprache Der Pschyrembel. Wörterbuch Sexualität definiert Pornographie als „Darstellung von Sachverhalten mit sexuellem Inhalt, die nach den jeweils zugrunde gelegten Normen als Obszönität gelten“. 16 Dieser heutigen Definition steht eine zeitge‐ nössische aus Meyers Konversationslexikon entgegen, die lautet: „Schriften, die 130 Anja Manneck 17 Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bib‐ liographisches Institut, Leipzig / Wien, 1902-1908, 6. Auflage, Band 16, S. 159. 18 Diese Aussage gilt für die Dramen, die ohnehin von der Zensur bedroht waren. Im lyrischen Werk finden sich durchaus recht explizite Verse: „Der Hunger kennt kein Machtgebot / Die Liebe keine Grenze / Drum danket Gott fürs Himmelsbrot / Und für die steifen Schwänze.“ Wedekind, Werke, Band I,1, S. 285. 19 Wedekind, Werke, Band VI, S. 31. 20 Eine andere Lesart vertritt hier Matthias Baum, „Hanns und Gretel: Zum Herrschafts‐ verhältnis der Geschlechter“, in text + kritik, 131 / 132, 1996, S. 63-69; hier S. 66. Er sieht „Wiesenbach“ und Brückensteg“ als „Ausdruck dieses antithetischen Verhältnisses von Dynamik und Stagnation“, wobei Hanne die Dynamik vertritt, die „sich nicht sehen [darf], wie sie ist, sondern sie wird gesehen, wie sie zu sein hat.“ Diese Bildlichkeit findet sich ähnlich im Werk Oswalds von Wolkenstein (gest. 1445), den Albrecht Classen in seiner Einleitung behandelt. Siehe auch die explizite Barockl‐ yrik, die Wolfgang Brylla in seinem Beitrag untersucht. sich in Ausmalung schlüpfriger Dinge bewegen; Dirnen-, Schmutzliteratur“. 17 Aufgrund dieser zweiten Definition ist anzunehmen, dass der Umgang mit Pros‐ titution und Sadomasochismus für das zeitgenössische Sittlichkeitsempfinden problematisch war. Bekannt waren beide Themenbereiche aus vielen Prosa‐ texten wie Zolas Nana (1880) oder Sacher-Masochs Die Venus im Pelz (1870) und Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906). Mit Tagebuch einer Verlo‐ renen (1905) von Margarete Böhme fanden diese erotischen Normverstöße Ein‐ gang in die Trivialliteratur und den Film - Tagebuch einer Verlorenen wurde mehrfach verfilmt, zuletzt 1929 mit Louise Brooks -, um nur einige Beispiele zu nennen. Die positive Bewertung, die Sadomasochismus und Prostitution im Wedekind’schen Œuvre erfahren, stellt aber eine Ausnahme dar. Die Sprache, die diese Normverstöße präsentiert, ist zwar vielerorts sexual‐ metaphorisch eindeutig, ohne aber plump oder vulgär zu wirken. Die genannten Obszönitäten durch explizites Vokabular oder medizinische Fachbegriffe fehlen also. 18 Der bereits erwähnte Dialog Hans und Hanne macht allerdings implizit von Anfang an deutlich, worum es geht: „Wiesenbach und Brückensteg / Können sich wohl leiden, / Drum thu das Wiesengatter weg / und laß den Rappen weiden! “ 19 Der Steg ist dabei eine eindeutig phallische Metapher; der (feuchte) Wiesenbach verweist auf die weibliche Geschlechtssphäre. 20 Das „Weiden“ ent‐ spricht einer Nahrungsaufnahme. Wie die Nahrungsaufnahme ist der Sexualakt die Sättigung eines körperlichen Bedürfnisses, das auf diese Weise klar als na‐ türlich und notwendig gekennzeichnet ist. Dieses körperliche Bedürfnis lässt sich als Sexualtrieb identifizieren, der durch den Rappen symbolisiert wird. Die 131 „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“ 21 Eine Ausnahme bildet Otto Weiniger, für den der Wunsch nach Fortpflanzung zwar natürlich bleibt, Sexualität aber nicht zwangsläufig daran gebunden ist. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, Matthes & Seitz, München, 1997. Bei diesem Text handelt es sich um eine erweiterte philosophische Doktorarbeit, bei der es - im Titel schon deutlich angelegt - um die Geschlechtscharaktere geht. 22 Wedekind, Werke, Band I,1, S. 283, Z. 28-31. Das aus dem Jahr 1890 stammende Gedicht umfasst in dieser Fassung insgesamt 26 Strophen. Wedekind, Werke, Band I,2, S. 1835-1840. 23 Wedekind, Werke, Band V,1, S. 200. 24 Ebd., S. 202 f. 25 Ebd., S. 200. 26 Ebd., S. 201. Fortpflanzungskomponente fehlt anders als im kulturhistorischen Denken voll‐ ständig. 21 Der Sexualakt ist als solcher ein eigenständiger Wert. Der letzte Vers dieser Strophe stammt aus dem Gedicht Mariechen: „Der Schlüssel und das Schlüsselloch / Die lassen sich nicht scheiden. / Drum Lieschen heb dein Röckchen hoch / Und laß den Rappen weiden.“ 22 Das Bild von Schlüssel und Schloss - der Schlüssel „penetriert“ das Schlüsselloch - sowie das unter dem Rock des Mädchens weidende Pferd unterstützen die sexualmetaphorische Lesart und zeigen gleichzeitig ein eindeutig heteronormatives Weltbild. 4. Sexualerziehung in essayistischen und literarischen Texten Wedekinds Im gleichnamigen Vorwort zum Erzählband Feuerwerk aus dem Jahr 1911 äußert sich Wedekind essayistisch Über Erotik. Darin teilt er die Menschen in zwei Ka‐ tegorien. Es gebe diejenigen mit dem Wahlspruch „Fleisch bleibt Fleisch - im Gegensatz zum Geist.“ 23 , wobei der Geist dem Fleisch übergeordnet ist, was zu einer Unterschätzung des „Fleisches“, also des Körperlichen und damit auch der Erotik führt. Die zweite Kategorie folge dem Wahlspruch „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“, den Wedekind konkret als Erotik identifiziert. Vorteile eines of‐ fenen Umgangs mit Sexualität seien glücklichere Paarbeziehungen, weniger Angst, ein ehrlicherer Umgang miteinander. 24 Neben dem natürlichen Umgang mit Sexualität bei Erwachsenen fordert We‐ dekind die sexuelle Aufklärung von Kindern und Jugendlichen. Dabei weist er der Schule die „genauere Aufklärung über Vorgänge und Gefahren der Sexua‐ lität“ 25 , also den wissensvermittelnden Teil zu, während die Familie die morali‐ sche und emotionale Sexualerziehung übernehmen soll, „daß es in der Natur überhaupt gar keine unanständigen Vorgänge gibt, sondern nur nützliche und schädliche, vernünftige und unvernünftige“. 26 Nur so können „wir nicht mehr 132 Anja Manneck 27 Ebd., S. 205. 28 Wedekind, Werke, Band II, S. 291. 29 Lediglich verwiesen sei an dieser Stelle auf das utopische Romanfragment Mine-Haha Oder über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen. Wedekind, Werke, Band V,2, S. 839-885. 30 Wedekind, Werke, Band II, S. 269f (I. Akt, 3. Szene) sowie S. 282-285 (II. Akt, 2. Szene). Während die Mädchen annehmen, die Ehe sei Voraussetzung für Kinder, versucht Wendla im Gespräch mit ihrer Mutter genauere Informationen zu erhalten. Statt sie aufzuklären, sagt Frau Bergmann ihrer Tochter, um ein Kind zu bekommen, müsse man den Mann, mit dem man verheiratet sei, von ganzem Herzen lieben (S. 285). 31 Im bereits genannten Gedicht Mariechen heißt es auch „Mariechen glaubt noch an den Storch, / Daß er die Kindlein bringe, / Drum läßt sie Tag und Nacht hindurch / Den Fuchs nicht aus der Schlinge.“ Wedekind, Werke, Band I,1, S. 283. Ihre mangelnde Aufklärung führt folglich dazu, dass sie häufigen Geschlechtsverkehr hat, der hier durch den Fuchs in der Schlinge als Zeichen für Penetration gelesen werden kann. 32 Wedekind, Werke, Band II, S. 305-308. (3. Akt, III. Szene). 33 Ebd., S. 290. Diese Szene weist Parallelen zu Gretchens Stube auf. Johann Wolfgang Goethe, Faust I, C. H. Beck, München, 1986, S. 107-109. Es gibt weitere intertextuelle Verweise auf Faust I; vgl. Kommentar in Wedekind, Werke, Band II, S. 818, S. 823, S. 825, S. 856. für unanständig halten, was […] vielleicht das allerwichtigste Gebiet unseres irdischen Daseins repräsentiert“. 27 Literarisch verarbeitet wird dieser Gedanke beispielsweise in Frühlings Erwachen: „Es hat etwas Beschämendes, Mensch ge‐ wesen zu sein, ohne das Menschlichste kennen gelernt zu haben. - Sie kommen aus Ägypten, verehrter Herr, und haben die Pyramiden nicht geseh’n? ! “ 28 Die Metapher der Pyramiden als wichtigstes Merkmal Ägyptens unterstreicht die Relevanz, die dem Sexuellen, „dem Menschlichsten“, zukommt, ohne wortwört‐ lich benannt zu werden. Die Kritik an der gesellschaftlichen Doppelmoral und die Forderung nach Aufklärung und ganzheitlicher Sexualerziehung findet sich in verschiedenen Texten verarbeitet. 29 Welche Konsequenzen unterlassene Sexualerziehung haben kann, zeigt die Kindertragödie ebenfalls. Denn weder in der Schule noch im Elternhaus erfahren die Mädchen, wie Kinder entstehen 30 , was die Protago‐ nistin Wendla aufgrund einer missglückten Abtreibung schlussendlich das Leben kostet. 31 Die Jungen haben einen besseren Zugang zur Bildung. So gelingt es Melchior dank seiner liberalen Mutter Fanny und seinen naturwissenschaft‐ lichen Beobachtungen, sich selbst aufzuklären. Die mit „Der Beischlaf “ betitelte Abhandlung, die seinen Freund Moritz aufklären soll, bringt Melchior einen Schulverweis ein. 32 Das unterstreicht die Sexualität verneinende Haltung der Bildungseinrichtung „Schule“. Nach dem Koitus mit Melchior sagt Wendla: „Ich weiß es ja nicht, ich finde nicht Worte…“ und „Ach Gott, wenn jemand käme, dem ich um den Hals fallen und erzählen könnte! “ 33 Ihr mangelt es sowohl an 133 „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“ 34 „Infolge von Unglücksfällen aller Art, Selbstmorden usw. drängt sich uns seit einigen Jahren das Problem der sexuellen Aufklärung auf.“, schreibt Wedekind in Über Erotik und illustriert dies mit Moritz’ Suizid und Wendlas gescheiterter Abtreibung in Früh‐ lings Erwachen. Wedekind, Werke, Band V,1, S. 200. 35 Die drei Einakter, In allen Sätteln gerecht, Mit allen Hunden gehetzt und In allen Wassern gewaschen werden im April 1910 fertiggestellt. Als Familientrilogie Schloss Wetterstein wird es 1912 erstveröffentlicht, Uraufführung 1917. Wedekind, Werke, Band VII,2, S 655-972, bes. S. 655-658 sowie S. 963. 36 Wedekind, Werke, Band VII,1, S. 88, S. 217; Wedekind, Werke, Band VII,2, S. 803 f. 37 Wedekind, Werke, Band VII,1, S. 207. einer Sprache für Sexualität als auch an einem Gesprächspartner. Obwohl sie keine Begriffe für das Erlebte hat, unterstrichen durch die als Auslassungszei‐ chen fungierenden drei Punkte am Ende des Satzes, ist ihr unbewusst klar, dass es mit einem Tabu belegt ist, über das sie nicht reden darf. Fehlende Sexual‐ sprache führt gemeinsam mit der Unkenntnis gesellschaftlicher Sexualkonven‐ tionen zum Scheitern mehrerer Figuren. 34 5. Wedekinds Erotikprogramm: Sexualität als Religion Direkte Zitate aus dem Vorwort Über Erotik finden sich auch im wenig be‐ kannten Drama Schloss Wetterstein  35 wieder 36 , in dem sich eine andere zentrale Äußerung zu Wedekinds „Erotikprogramm“ findet: Die „Liebesstufenleiter“. Erstens im Dunkeln, zweitens im Lampenschein - Sklavische Brut in verängstigter Pein! Drittens beim Tageslicht, viertens im Freien - Freuden, die wir auch im Tod nicht bereuen! Fünftens in Nacktheit, sechstens vor Spiegeln - Hei, wie im Sturm sich die Sinne beflügeln! Siebtens im Perlenschmuck, achtens im Festgewand - Längst sind die Sünden der Knechtschaft verbannt! Neuntens im Wettkampf, zehntens als Opfer‐ fest - Daß unsere Gottheit uns nicht mehr verlässt! 37 Allein der Titel dieses „Erotikprogramms“ legt nahe, dass sich Sexualität ent‐ wickelt und „aufsteigt“. Da die Leiter in ein nicht näher definiertes „oben“ führt, liegt die Annahme einer Zweiweltendichotomie, die in oben vs. unten und damit Himmel vs. Hölle teilt, nahe. Die Entwicklung verläuft von „Pein“ über „Freuden“ und „Sturm“ zu einem Selbstverlust im „Opferfest“. Weibliche Figuren werden im Wedekind’schen Œuvre für gelebte Sexualität häufig geopfert oder sie scheitern daran, obwohl ihre Sexualität positiv konnotiert ist. Beides zeigt sich beispielsweise in Tod und Teufel (Totentanz) und den bekannten Lulu-Dramen. 134 Anja Manneck 38 Wedekind, Werke, Band II, S. 281 f. 39 Ebd., S. 282. Überlegungen und Unterhaltungen zu Sexualität finden auch ohne Fachbe‐ griffe statt. Der weibliche Orgasmus findet beispielsweise in Frühlings Erwachen eine recht deutliche Beschreibung, ohne als solcher bezeichnet zu werden: Das Mädchen wehrt sich dank seiner Veranlagung. Es hält sich bis zum letzten Au‐ genblick von jeder Bitterniß frei, um mit einem Mal alle Himmel über sich hereinbre‐ chen zu sehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es ein erb‐ lühendes Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch, wie der Quell, der dem Fels entspringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch kein irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen Inhalt es, wie er flammt und flackert hinunter‐ schlingt… 38 Aus diesem Zitat wird die Annahme deutlich, dass es im weiblichen Naturell liegt, sich zunächst gegen sexuelle Handlungen zu wehren; dass sich Frauen davor ängstigen, unterstreicht der Begriff „Hölle“. Die fehlende „Bitterniß“ be‐ zeichnet dabei vermutlich den von der sprechenden, männlichen Figur ange‐ nommenen fehlenden eigenständigen Sexualtrieb, der damit gleichzeitig aber auch nicht befriedigt werden will. Dennoch können Frauen sexuelle Erfüllung, in diesem Fall einen Orgasmus, erleben, der mit einem „Paradies“ gleichgesetzt wird. Auch der göttliche oder himmlische Nektar, Speise der griechischen Götter, stammt aus dem Wortfeld der Religion, in der es eine klare Gut-Bösesowie Oben-Unten-Dichotomie gibt. Einzig das „Hinunterschlingen“ ist negativ besetzt und zeigt eine mögliche zeitliche, den Genuss einschränkende Begren‐ zung; diese Einschränkung wird durch die drei Punkte, mit denen der Satz ab‐ bricht, abgeschwächt, schließlich handelt es sich um mutmaßliches weibliches Verhalten, über das die männlichen Jugendlichen aufgrund mangelnder Erfah‐ rung nur spekulieren können. Inwiefern diese These für Frühlings Erwachen bestätigt werden kann, ist uneindeutig: Wendla wehrt sich beim Sex mit Mel‐ chior, bis die Szene in einer Leerstelle endet - hier bleibt offen, ob der Ge‐ schlechtsverkehr als Vergewaltigung gelesen werden kann. In ihrer nächsten Szene wirkt Wendla verändert, glücklich. Ob sie also das Gewalterlebnis idea‐ lisiert oder die positive Wendung in die Leerstelle am Szenenende fällt, kann nicht entschieden werden. Die Annahme über die männliche Befriedigung erfährt im Gegensatz dazu eine Abwertung: „Die Befriedigung, die der Mann dabei findet, denke ich mir schaal und abgestanden.“ 39 „[S]chaal und abgestanden“ beziehen sich dabei, ähnlich wie der Nektar, auf ein Getränk. Der knappen Beschreibung fehlen wei‐ 135 „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“ 40 Wedekind, Werke, Band VI, S. 32. 41 Wedekind, Werke, Band II, S. 290-295. Ihr hedonistischer Lebensentwurf ist ähnlich wie Lisikas nicht auf ein langes Leben angelegt: „Bis es an euch kommt, lieg’ ich im Keh‐ richt.“ (S. 295). 42 Wedekind, Werke, Band VII,1, S. 229-490 in unterschiedlichen Fassungen; die Erstver‐ öffentlichung stammt von 1912. 43 Wedekind, Werke, Band VI, S. 123. 44 Ebd., S. 115. 45 Ebd., S. 116. tere Ausschmückungen oder eine ähnlich reiche Bebilderung wie für das weib‐ liche Sexualempfinden, was diesen Eindruck unterstützt. Diese männliche Sicht entspricht allerdings nicht der Art, wie weibliche Fi‐ guren über ihren eigenen Trieb sprechen. So formuliert die Prostituierte Hanne, prototypisch für andere Frauenfiguren: „Krieg ich Keile / Bis ich heule / Dann tobt mir im Blut / Höchste Liebesglut! “ 40 . Die verwendeten Bilder und damit die Vorstellung von positiver Sexualität sind geschlechtsspezifisch. Äußerungen, die männliche Figuren über weibliche Sexualität machen, unterscheiden sich deutlich von den Selbstaussagen. Weib‐ liche Figuren sprechen im Gegensatz zu männlichen Figuren nicht miteinander über Sexualität; das geht so weit, dass Wendlas Mutter sich mit der Begründung gesellschaftlicher Konventionen weigert, ihre Tochter aufzuklären. Weibliche Figuren äußern sich im Gespräch mit männlichen zwar über ihren eigenen Trieb, nicht aber über männliches Sexualempfinden. Die Frauenfiguren, die über Sexualität und ihre Bedürfnisse oder Erlebnisse sprechen, sind „leichte Mädchen“, wie Ilse aus Frühlings Erwachen  41 , Prostituierte, wie Lisiska aus Tod und Teufel (Totentanz) und Hanne in Hans und Hanne, oder Frauen, die gesell‐ schaftliche Konventionen ablehnen, wie Franziska, die Protagonistin des gleich‐ namigen Dramas. 42 Ihnen gemeinsam ist also, dass sie keinen festen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen. Positiv konnotierte Frauenfiguren sind häufig Prostituierte, die masochis‐ tisch aktiv sadistische Behandlung einfordern. Während die Erotikkonzeption Wedekinds für diese Personen Eros und Thanatos oft miteinander korreliert, wie beispielsweise die Äußerung der Prostituierten Lisiska nahelegt: „Mir ist als höchste Wollust längst ein Land / Urewger niegestörter Ruh bekannt. - / Ach, daß ich unter deinen Fäusten stürbe! “ 43 , steht bei den männlichen Figuren, die von sich aus meist nicht sadistisch sind, Erotik in Opposition zu Leid und Tod. Dies vermitteln ausdrucksstarke Metaphern: Sexualität bezeichnet Casti Piani, der Zuhälter aus Tod und Teufel (Totentanz), als „einzigen göttlichen Licht‐ strahl“ 44 , „einzige reine Himmelsblume in dem von Schweiß und Blut besudelten Dornendickicht des Lebens“. 45 Die idealisierte, fast naive Art, wie er Sexualität 136 Anja Manneck 46 Ebd., S. 123. 47 Ebd., S. 119. 48 Ebd., S. 123. 49 Ebd., S. 117. zunächst wahrnimmt, widerspricht dem, was von einem Zuhälter erwartet wird. Nachdem er Lisiskas Vorstellung von Sexualität gehört hat, erfährt er die „ta‐ geshelle Erleuchtung“. 46 Die Tilgung seines Weltbildes erträgt er nicht und er‐ schießt sich. Die Freier, die zu den Prostituierten kommen, sind oft sexuell unerfahren und wirken asexuell; so sagt Herr König in Tod und Teufel (Totentanz) zu Lisiska: „Zwar red ich wie ein Blinder dir von Farben…“ 47 In diesem Vergleich zeigt sich, ähnlich wie in der Formulierung Moritz’ „aus Ägypten zu kommen, ohne die Pyramiden gesehen zu haben“, ein Mangel oder ein Unwissen. Gleichzeitig wird ein Absolutheitsanspruch auf die Relevanz und damit einhergehend die hohe positive Bewertung von Sexualität erhoben. Diese Unerfahrenheit, aber grund‐ sätzliche Schätzung von Sexualität ermöglicht es der Prostituierten Lisiska, ihren Freier Herrn König „mürbe“ 48 zu machen, das heißt, die passive Figur in eine sadistische Rolle zu drängen. Vermutlich werden ihre Wünsche außerhalb des Textes umgesetzt, da diese Handlung aber in eine Leerstelle fällt, bleibt sie Spekulation. Die bereits genannten Zitate zeigen eine hohe Dichte an Symbolen in Form von Vergleichen und Metaphern: Die „Pyramiden“ beziehen sich auf kulturelles Wissen; so wie die Pyramiden die Sehenswürdigkeit Ägyptens, ihr zentrales Merkmal, darstellen, stellt das Sexuelle das Wesentliche des Menschen dar. „Schlüssel und Schlüsselloch“ kommen aus dem Bereich der Mechanik, deren Verwendung etwas Alltägliches, Selbstverständliches ist, das Bild der Penetra‐ tion kann hier heteronormativ gelesen werden. Besonders der anfangs zitierte „weidende Rappe“ ist vielschichtig: Das Bild entstammt der Tierwelt, mit einem Rappen kann ein kraftvolles, schönes, schwarzes Pferd - ein Hengst möglicherweise - assoziiert werden. Schwarz ist die Abwesenheit von Licht und das Antonym zum mit Unschuld konnotierten Weiß. Es steht im kulturellen Kontext für Tod, Trauer, das Böse oder Ungewisse. Die Kraft des Pferdes ist oft unkontrollierbar, insofern schwingt auch „wild“ mit. Dass der Rappe weidet, erklärt Sexualität als etwas Lebensnotwendiges: Ohne Nahrungsaufnahme verhungert ein Lebewesen. Sie ist aber gleichermaßen na‐ türlich und entspringt dem Selbsterhaltungstrieb. Das Motiv des Tierischen findet sich in Tod und Teufel (Totentanz) sogar noch expliziter: „Die Lust, das Ungeheuer, Tobt ewig ungezähmt in dieser Brust“. 49 Hier liegt der Querverweis auf Lulu, Wedekinds wahrscheinlich bekannteste 137 „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“ 50 Wedekind, Werke, Band III, S. 404-405. 51 Wedekind, Werke, Band VI, S. 112. 52 Ebd., S. 107. 53 Ebd" S. 112-114. 54 Ebd., S. 120. 55 Ebd., S. 116. 56 Vgl. dazu den Beitrag Wolfgang Bryllas. 57 Joh, 8,12. 58 Wedekind, Werke, Band VII,1, S. 207. Figur nahe, sie ist nicht nur „die Urgestalt des Weibes“, sie ist „[d]as wahre, das wilde, schöne Tier! “ 50 . Der Zuhälter Casti Piani teilt Frauen in Hündinnen, domestiziert, zur bür‐ gerlichen Gesellschaft gehörig und als Ehefrau geeignet, und Tigerinnen, wild und für die Prostitution geschaffen, ein. 51 Elfriede von Malchus bezeichnet sich selbst als Hündin 52 , was durch ihren angepassten Charakter und ihre die Ge‐ sellschaft repräsentierende Meinung den Typus der Hündin unterstreicht. Die „Tigerin“ korreliert mit dem „wilden, schönen Tier“, das Lulu darstellt. Sie ist unangepasst, selbständig und nicht auf einen versorgenden Ehemann ange‐ wiesen, denn die Prostitution ermöglicht, Casti Pianis Argumentation folgend, Frauen Unabhängigkeit. 53 Immer wieder finden sich zudem Wortfelder aus dem Bereich der Religion in den verschiedensten Texten für die Bezeichnung von Erotik und sexuellen Handlungen. Einerseits gibt es aus weiblicher Sicht die Bezeichnung „der höllische Trieb / Aus dem an Freude nichts übrig blieb“ 54 , der andererseits die männliche Be‐ schreibung als „einziger göttlicher Lichtstrahl“ und „einzige reine Himmels‐ blume in dem von Schweiß und Blut besudelten Dornendickicht des Lebens“ 55 gegenübersteht. Beide religiös konnotierten Beschreibungen unterstreichen die Zwei-Welten-Dichotomie. Die „Himmelsblume“ kann als Neologismus gelesen werden, der an die Ro‐ mantik oder an florale Muster des Barocks erinnert. 56 Das davon abgegrenzte „besudelte Dornendickicht“ stellt zusätzlich die Opposition „Reinheit vs. Schmutz“ her, in der das Leben dem Bereich „Schmutz“, Sexualität aber der „Reinheit“ zugeordnet wird, und weckt eine Assoziation zur Dornenkrone Jesu. Der „einzige göttliche Lichtstrahl“ ergänzt das Bild um „hell vs. dunkel“. Die Lichtmetaphorik führt diese Assoziation mit Jesus fort: „Ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben“. 57 Der Aspekt des Lichts findet sich auch in der „Liebesstufenleiter“: „Erstens im Dunkeln, zweitens bei Lampenschein […] Drit‐ tens beim Tageslicht“. 58 Bis in die Romantik hinein war eine symbolische Er‐ 138 Anja Manneck 59 Wedekind, Werke, Band VI, S. 116. 60 Ebd., S. 119. 61 Ebd., S. 124. 62 Dieser Gedanke weckt Assoziationen an die erotische Metaphorik in den Werken der mittelalterlichen Mystikerinnen wie Mechthild von Magdeburg; siehe die Einleitung von Albrecht Classen und den Beitrag von Cezary Lipiński. 63 Ebd., S. 116-117, S. 125. wähnung von „Licht“ häufig an einen christlichen Gott geknüpft, was die Über‐ tragung von „Sexualität“ zu „Göttlichkeit“ stützt. In ihrer Absolutheit, was die Bedeutung von Sexualität angeht, sind männ‐ liche und weibliche Figuren einander einig; Casti Piani nennt sie „das einzige ungetrübte Glück, die einzige reine lautere Freude […], die das Erdendasein uns bietet.“ 59 Lisiskas Beschreibung geht noch weiter: „Und die einmal geweckte Lust / Wuchs über alle Schranken / Über all meine Gedanken,/ Über all mein treues Gefühl in der Brust“. 60 Das geht so weit, dass die zehnte und letzte Stufe der „Liebesstufenleiter“ ein „Opferfest“ sein soll. Das „Opfer“ ist ein sich wiederholendes Motiv. An anderer Stelle will sich Elfriede von Malchus „auf dem Blutaltar sinnlicher Liebe schlachten lassen“. 61 Beide Zitate zeigen die Bereitschaft, sich für sexuelle Er‐ füllung zu opfern. Dieses Aufgehen im Selbstverlust ist eine weitere Besonder‐ heit im Wedekind’schen Weltbild. Blutopfer scheinen im christlich-westlichen Weltbild archaisch, besonders wenn es sich um Menschenopfer handelt, die sich selbst ihre Schlachtung wünschen. Der Wunsch, dank des Opferfests die dau‐ erhafte Anwesenheit der Gottheit zu sichern, kann als Wunsch dauerhafter Ekstase gelesen werden. 62 Das Bordell als Ort, in dem sexuelle Handlungen stattfinden oder stattfinden sollen, so beispielsweise in Tod und Teufel (Totentanz), weckt in den Texten We‐ dekinds kaum die Assoziation mit einem sündhaften Ort, vielmehr erinnert es an ein Kloster. Setzt man für die Deutung des Wedekind’schen Œuvres Religion und Sexualität gleich, werden die Parallelen deutlicher. In beiden Räumen wohnen und arbeiten Frauen, die ihr Leben dem widmen, woran sie glauben, sei es Gott oder die Erotik. Die „Mädchen“ in Tod und Teufel (Totentanz) tragen die gleiche schlichte Kleidung, ein weißes, bis zur Wadenmitte reichendes Gewand, schwarze Strümpfe und Lackschuhe. 63 Die Verwendung des Begriffs „Mädchen“ assoziiert Unschuld, Jugend und des grammatischen Geschlechts wegen auch Asexuali‐ sierung. Die gleichförmige Kleidung weckt den Eindruck von Uniformität und Überindividualität, der die persönlichen Merkmale der einzelnen Frauen nivel‐ liert, ähnlich wie es bei Nonnen der Fall ist. 139 „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“ 64 Ebd., S. 115. 65 Wedekind, Werke, Band II, S. 290. 66 Wedekind, Werke, Band VI, S. 850 f. Durch das Weiß und die schlichte, nicht aufreizende Kleidung wird Unschuld evoziert. Casti Piani charakterisiert „unschuldige Glückseligkeit und glückselige Unschuld“ 64 als Merkmale von Frauen, die sich zur Prostituierten eignen. Der Chiasmus „unschuldige Glückseligkeit“ und „glückselige Unschuld“ hebt noch einmal den bereits erwähnten Aspekt der Reinheit hervor. „Glückseligkeit“ als maximales Glücksempfinden lässt sich mit der zehnten Stufe der Liebesstufen‐ leiter, dem „Opferfest“ gleichsetzen und entspricht der Ekstase. Die Verbindungen zum Kloster finden sich nicht nur im assoziativen Bereich; in Frühlings Erwachen äußert Wendla nach dem Geschlechtsverkehr: „Mir wird ernsthaft wie einer Nonne beim Abendmahl“. 65 Das Abendmahl ist nicht nur das Zusammenkommen der Gemeinde. In der Wiederholung des letzten Abend‐ mahls ist es ein Hinweis auf den Tod, und gleichermaßen ist das Versprechen auf ewiges Leben angelegt. Bei einem Sexualakt geht es wie bei der Kommunion um Einswerdung, darum, etwas vom anderen in sich selbst aufzunehmen. Auch das Überdauern des eigenen Selbst ist durch die Fortpflanzung im heterosexu‐ ellen Sexualakt angelegt und kann in gewisser Weise als „ewiges Leben“ gelesen werden. Parallelen zwischen Sexualität und Religion finden sich immer wieder. Im Januar 1909 schreibt Wedekind an Georg Brandes, ihm schwebe „seit langer Zeit“ ein Stoff vor, „den ich aber bis jetzt noch nicht zu behandeln wagte: Die Wiedervereinigung von Kirche und Freudenhaus im sozialistischen Zukunfts‐ staate.“ 66 6. Fazit Die Vorstellung von Sexualität und damit das konkrete verwendete Vokabular sind in den Texten Frank Wedekinds geschlechtsspezifisch, dennoch werden die gleichen Wortfelder verwendet. Missverständnisse zwischen den Geschlechtern führen immer wieder zum Selbstverlust einzelner Figuren. Gespräche über Se‐ xualität finden häufig in Räumen außerhalb der Gesellschaft, in der Natur oder im Bordell statt. Zentrale Wortfelder und Metapherngeber stammen aus der Natur und dem Religiösen, wie „Licht“ „Blut“ „Himmel“ und „Hölle“, wobei letz‐ tere die Annahme von einer Zwei-Welten-Dichotomie mit Diesseits und Jenseits zeigen. Es lässt sich also sagen, dass „vielleicht das allerwichtigste Gebiet un‐ seres irdischen Daseins“, die Sexualität, in Wedekinds Œuvre den Platz der Re‐ ligion einnimmt, indem das Christentum als Folie für Sexualität und Erotik dient. 140 Anja Manneck Das erklärt auch die Korrelation von Bordell und Kloster, die durch Regiean‐ weisungen betont wird. Auf diese Weise wird Prostitution sakralisiert und damit im Vergleich zum allgemein gesellschaftlichen Ansehen aufgewertet. Sexualität ist etwas gänzlich Natürliches, während Scham und Schamgefühl als anerzogen und unnatürlich betrachtet werden. Sexualität stellt unabhängig von der Fort‐ pflanzung einen eigenen Wert dar, der als pars pro toto für das gesamte Mensch‐ sein betrachtet werden kann. Das entspricht auch der Relevanz, die Sexualität zugeordnet wird - sie kann im Selbstverlust, in der Aufgabe der eigenen Person in einer andauernden Ekstase enden. Dass dies auch klar werden kann, ohne andauernd kopulierende Paare auf der Bühne zu zeigen, verdeutlichen Wede‐ kinds Texte sprachlich - auch wenn das Fleisch seinen eigenen Geist hat, so hat es eben Geist. Bibliographie Elke Austermühl, „War Wedekind ein Sexualapostel? “, in: Manfred Mittermayer; Silvia Bengesser (Hrsg.), Wedekinds Welt. Theater - Eros - Provokation, Henschel, Leipzig, 2014, S. 35-44. Matthias Baum, „Hanns und Gretel: Zum Herrschaftsverhältnis der Geschlechter“, in Text + Kritik 131 / 132, 1996, S. 63-69. Andreas Freinschlag, „Über Wedekinds Ruf als Provokateur und Skandalautor“, in: Man‐ fred Mittermayer; Silvia Bengesser (Hrsg.), Wedekinds Welt. Theater - Eros - Provo‐ kation, Henschel, Leipzig, 2014, S. 69-76. Bianka-Aimée Gericke-Pischke, „Franziska“ von Frank Wedekind: Die Einwanderung der Zensur in die Konstruktion des Textes. Hannover, 2006, URL: http: / / edok01.tib.uni-hannover.de/ edoks/ e01dh06/ 511649495.pdf, (letzter Zugriff am am 19. März 2017). Stephan Dressler; Christoph Zink (Bearb.), Pschyrembel: Wörterbuch der Sexualwissen‐ schaft, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 2003. Johann Wolfgang Goethe, Faust I, C. H. Beck, München, 1986. Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bib‐ liographisches Institut, Leipzig, Wien, 1902-1908, 6. Auflage, Band 16. Frank Wedekind, Werke. Kritische Ausgabe in acht Bänden, Häusser, Darmstadt, 1994-2013. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, Matthes & Seitz, München, 1997. 141 „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“ 1 Vgl. Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 4. Aufl., Carl-Auer Verlag, Hei‐ delberg, 2008, S. 140 f., S. 156 f., S. 166, S. 334. Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg Paweł Zimniak (Zielona Góra) 1. Eros als Passion - Krieg als Profession Der menschliche Körper im Allgemeinen und der wahrnehmende und empfin‐ dende, liebende und liebespräparierte im Besonderen genießt in den Kulturwis‐ senschaften z.Zt. eine enorme Aufmerksamkeit, ein richtiges Konjunkturhoch. Bei der Verbindungslinie zwischen Eros, Logos und Thanatos geht es nicht nur um das ,Was‘ bestimmter Liebeswelten, sondern auch um das ,Wie‘, also in diesem Fall um die Frage, auf welche Weise Liebesbeziehungen und -vorstel‐ lungen, ein sehnsuchtsvolles, sinnliches Verlangen und dessen Realisierungs‐ möglichkeiten in der Todeszeit des Großen Krieges kommuniziert werden. Logos schließt auch die Frage ein - und dies betrifft den Textproduzenten als Beobachter erster und zweiter Ordnung gleichermaßen 1 -, welches sinnvolle Wort, welcher Begriff und welches Urteil geeignet ist, die mit Eros verbundene Sinnenlust und Sinnenfreude angemessen auszudrücken, der erotischen Faszi‐ nation eine Gestalt zu verleihen. Eros bedeutet nicht nur ,fleischliche‘ Lust, sondern auch Passion und Emotion, die sich mit der Erkundung des eigenen und fremden Körpers verbindet. Es geht dabei nicht zuletzt um ein Spannungsfeld zwischen menschlicher Natur und Kultur. Liebesbeziehungen verschiedener Art werden besonders dann auf die Probe gestellt, wenn sie mit dem Einbruch des Fremden konfrontiert werden, wobei die Erfahrung der Fremdheit nicht unbe‐ dingt als etwas Positives und Fruchtbares im Sinne einer Möglichkeit der Her‐ stellung von neuen Gleichgewichten und Stabilitäten gelten muss. Wenn Thanatos ins Spiel kommt und bewaffnete Konflikte ihr zerstörerisches Potenzial entwickeln, wird immer ein differenzverarbeitendes Umfeld generiert, das bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie gel‐ tende, geschlechtsspezifisch differenzierte Aspekte von Wahrnehmungen, Emp‐ findungen und Leidenschaften in Frage stellen kann, mithin (sexuelle) Frei‐ räume eröffnet, die zur Dynamisierung von Sexualitätsregungen und Geschlechterbeziehungen beitragen. Kriege und bewaffnete Konflikte ver‐ binden sich nämlich mit der Anwendung von verschiedenen Formen militär‐ ischer Gewalt, mit Vernichtungsaktionen und Gräueltaten auch sexueller Art. Militärische Handlungen verändern den Raum ihres Stattfindens und gehen an Zivilisten nicht spurlos vorüber. Sie verwandeln nicht nur ganze Landstriche in Landschaften der Verwüstung und Vernichtung, sondern hinterlassen auch dau‐ erhafte Spuren der Gewalt in der Psyche der Betroffenen, lassen alte Bezie‐ hungsstrukturen in die Brüche gehen und neue sich herausbilden. Dies kann wiederum längerfristig nicht nur eine Um- und Neubewertung von Rolleniden‐ titäten und Moralvorstellungen nach sich ziehen, sondern auch eine gesell‐ schaftsdynamische Energie entwickeln und einen sozialen Wandel beschleu‐ nigen. Bei der Analyse der Verbindungslinie von Eros, Logos und Thanatos im Kon‐ text des Großen Krieges ist herauszustellen, mit welchen Mitteln eine Semantik der Bedrohung und Benachteiligung von gewachsenen und sich entfaltenden Liebesbeziehungen und erotischen Emotionalitäten realisiert und mit Hilfe von welchen Unterscheidungen die Diskrepanz zwischen dem sinnlich-erotischen Wunschzustand und dem defizitären, kriegsbedingten Ist-Zustand markiert wird. Dabei werden auch entsprechende Gefühlslagen und emotionale Abwehr‐ reaktion eine Rolle spielen. Oder anders formuliert: In den einzelnen Analysen wird zu bestimmen sein, auf welche Weise eine bestimmte sinnlich-erotische, liebesbezogene Erwartungshaltung unter dem Druck kriegerischen Störungs‐ potenzials zustande kommt und sich behauptet und wie kriegsbedingte Unsi‐ cherheiten durch erosgeleitete Aktivitäten absorbiert werden können, wie die einzelnen Figuren kognitiv-emotiv modelliert werden, wie viel Belastung auf‐ grund verschiedener Machtausübungsformen und Gewalthandlungen durch sinnlich-erotische Traumwelten ertragen und wie mit Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen umgegangen wird, wie die Belastungsgrenzen und Re‐ aktionen aussehen und auf welche Weise sie in Abhängigkeit von sich än‐ dernden Umständen variieren. 2. Brutale Kriegswelt und sinnliche Wahrheitspräsenz erinnerter und vorgestellter Liebe Der Große Krieg fungiert in den analysierten Texten nicht nur als eine räumliche Kulisse, sondern auch als eine interessante Projektionsfläche für Kognitionen und Emotionen. Die Vermittlung der kognitiv-emotiven Erzählstruktur im 143 Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg 2 Józef Nawrocki, Do ziemi obiecanej [Ins gelobte Land - P. Z.], in: Widziały to sępy i kruki. Wybór nowel wojennych, z przedmową Stanisława Lama [Geier und Raben haben es ge‐ sehen. Kriegserzählungen. Auswahl, mit einem Vorwort von Stanislaw Lam - P. Z.]. Hrsg. von Drukarnia i Księgarnia św. Wojciecha [St. Adalbert - Druckerei und Buchhand‐ lung], Poznań, 1916, S. 41-58, hier S. 43. Polnische Originalfassung: „Zdzisław Żarecki kończył się właśnie ubierać. Stał przed wielkim zwierciadłem, w którem pod blask za‐ chodniego słońca odbijała się jaskrawa jego postać: biały gors koszuli, czarny żakiet i gładko uczesane włosy. W ciemnych, przymglonych oczach migotały ruchliwe iskierki, zdradzające podniecenie i niepokój. Szedł na wieczór do Łęckich, gdzie miała być Władzia Zasielska, jego przyszła narzeczona. Znali się od dawna, a od miesiąca byli po słowie, choć rzecz na razie jeszcze nie miała być jawną. Nagle wybuchła wojna. Trzeba iść na bój. Do tych, co mieli wkrótce wyruszyć, należał Zdzisław.” Konnex von Eros, Logos und Thanatos ist insoweit relevant, als der Druck des bewaffneten Konfliktes mit seinen Machtentfaltungsformen und Gewalter‐ scheinungen spezifische subjektive Wahrnehmungen und Empfindungen auch sinnlich-erotischer Art generieren und somit eine bestimmte relational-perfor‐ mative Organisation des Textes ergeben kann. Józef Nawrockis Do ziemi obie‐ canej (dt. Ins gelobte Land, 1916) stellt ein seltsames Mischverhältnis von mas‐ kuliner Brutalität und femininer Empfindsamkeit dar: Zdzisław Żarecki war gerade dabei, seinen Ausgehanzug zu komplettieren. Er stand vor einem großen Spiegel, dessen Tafel bei untergehender Sonne seine Gestalt be‐ sonders hell wiederspiegelte: weiße, gestärkte Hemdbrust, schwarze Herrenjacke und glatt gekämmte Haare. In seinen dunklen, etwas verschleierten Augen funkelte es, was Erregung und Unruhe verriet. Er war zu einer Abendgesellschaft bei den Łęckis verabredet, wo er auch Władzia Zasielska antreffen sollte, seine künftige Verlobte. Schon seit Langem kannten sie sich, und vor einem Monat gaben sie sich ein Jawort, was vorerst geheim bleiben sollte. Plötzlich ist der Krieg ausgebrochen. Man muss kämpfen gehen. Zu denjenigen, die bald aufbrechen sollten, gehörte auch Zdzisław [Übers. - P. Z.]. 2 Zdzisław Żarecki mustert sich im Spiegel, und dieser hochgradig heterotope Ort als Ort ohne Ort wird ihn auch im Krieg durch bestimmte ‚Spiegelvorstellungen‘ nicht verlassen. Er ist dabei, seine männliche Wirkungskraft, die Wirkungskraft seiner Erscheinung zu überprüfen, denn er soll bald seine Verlobte treffen und ist äußert aufgeregt. Für Zdzisław bedeutet der Kriegsausbruch eine abrupte Denormalisierung seines zivilen Lebens, eine Unterbrechung der Normalität. Der Krieg ist ein Störfaktor, der dem Mann einen Strich durch die Rechnung macht, so dass Privates auf dem Altar der Pflicht und einer höheren Verpflich‐ tung geopfert wird. Zdzisław zieht los, folgt dem (Auf)Ruf seines Bekannten namens Piotr und dem Ruf des Vaterlandes und wird mit seiner Einheit dem 144 Paweł Zimniak 3 Ebd., S. 47 f. Polnische Originalfassung: „I oto wewnątrz, pod czaszką, poza oczami, głę‐ boko dźwiga się ciche widzenie miejsc i ludzi pozostawionych daleko, a teraz nagle ujrzanych tu blizko, tuż przed sobą czy w sobie. I oglądają znów oczy, w przedziwnem zapatrzeniu, zaciszne wnętrze pokoju, wielkie, stojące zwierciadło, odbitą w niem postać i tam dalej, w lustrzanej głębinie, ujrzany wówczas w niecierpliwej wyobraźni majak: salon pełen gości, cień palmy pod oknami i, poza wachlarzem palmy, ją ze świe‐ żemi, rozchylonemi ustami i tem ciągłem oczekiwaniem w rozszerzonych źrenicach.” dritten Schützenbataillon eingegliedert. Das Wertesystem lässt den bewaffneten Kampf um die politische Wiederauferstehung des Vaterlandes als viel wichtiger als das private Glück erscheinen. Zdzisław bricht auf, ohne seine Verlobte ge‐ sehen zu haben, und ihr Vorstellungsbild in der Abendgesellschaft bei den Łęckis begleitet den Soldaten ständig, drängt sich in verschiedenen Momenten seiner Soldatenexistenz auf, ein schönes, unnahbares Phantom, ein luftiges Gebilde, das nicht wirklich und nicht mal in der Erinnerung, sondern in einer erinnerten Vorstellung existiert. Während Zdzisław Żarecki z. B. einmal in einem namen‐ losen Gebirgsdorf seine Uniform flickt, wird der Blick rückwärtsgewandt, und es tauchen plötzlich lebendige Vergangenheitsbilder auf, die ihn ganz erfüllen, seine Gedanken und Gefühle in Anspruch nehmen: Und im Inneren, unter dem Schädel, von den Augen unberührt, steigen vergangene Orte und Menschen behutsam empor, weit weg zurückgelassen und doch so nahe und sichtbar vor einem stehend oder in ihm erscheinend. Und die Augen betrachten wieder, in einer seltsamen Fixierung, das Zimmerinnere, eine Gestalt, sich in einem großen Stehspiegel besehend, und in der Spiegeltiefe erscheinen als Hirngespinst, da‐ mals in einer unruhigen Vorstellung heraufbeschworen, ein Empfangszimmer voller Gäste, der Schatten einer Palme an den Fenstern, und, außerhalb der fächerigen Pal‐ menblätter, sie, die Lippen halb geöffnet, frisch, in den geweiteten Pupillen eine stän‐ dige Erwartungshaltung [Übers. - P. Z.]. 3 Es ist eine erinnerte Vorstellung oder vorgestellte Erinnerung an eine Bezie‐ hung, die durch den Kriegsausbruch keine Chance auf ihre Entfaltung be‐ kommen hat. Zdzisław wird oft aus der Stille seiner Gedanken, aus der Versun‐ kenheit in seine Erinnerungen und Vorstellungen durch den Geschützdonner herausgerissen und mit dem Befehl angehalten, los- und weiterzumarschieren. In Erwartung einer Schlacht stellen die Vergangenheitsbilder, darunter vor allem das Erscheinungsbild seiner Verlobten unter Palmen am Fenster im Salon der Łęckis, einen Kontrapunkt zur Kriegsrealität dar. Zdzisław kann die sich auf‐ drängenden Vergangenheitsbilder, die sich seiner bemächtigen, nicht abwehren und nie ganz abschütteln. Er wird dadurch zu einer Reibungsfläche für atmo‐ sphärische Dissonanzen, zum Gefangenen seiner Vergangenheit, die in den am 145 Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg 4 Roman Hernicz, Z pamiętnika żołnierza wielkiej wojny. Nowele i szkice [Aus dem Tage‐ buch eines Soldaten des Großen Krieges. Novellen und Skizzen - P. Z.], Księgarnia „Stella” [Buchhandlung „Stella”], Cieszyn, 1915, S. 16. Polnische Originalfassung: „I naraz wyk‐ witła w mojej duszy - ona… moja droga, umiłowana Hala! […] Słoneczna postać Hali, stanęła przedemną! Chciała we mnie zawsze widzieć stalny hart, siłę woli! ” wenigsten vorhergesehenen Augenblicken seines Soldatendaseins nur kurz auf‐ taucht oder für längere Zeitspannen klare Konturen annimmt, als wäre sie Re‐ alität gegen die Nichtrealität von Spiegelbildern. Zeitlich entrückt und unwirk‐ lich geworden, üben diese Bilder eine Rückwirkung auf die Orte aus, an denen sich der Soldat befindet. Die körperlich-sinnlichen Erinnerungen festigen sich schließlich durch die Intensität der Erfahrung, durch die Kraft des Affektes, der Bindung, der wirklichen Zugehörigkeit oder der Zugehörigkeitsvermutung, aber sie können auch ihre Wirkungskraft entwickeln, ohne an die unmittelbare Erfahrung und eine sinnliche Wahrnehmung gekoppelt worden zu sein, weil ihre Intensität durch Zdzisławs Vorstellungskraft reift und gepflegt wird. Im Sterben kommt es noch zu einer Überlagerung von zwei Bildern: der sich für die leuchtende Wasseroberfläche eines kleinen Sees und die sich darin spie‐ gelnde Sonne begeisternde Blick wird in eine sich verbreitende Helligkeit ein‐ getaucht, aus der im letzten Lebensmoment die Figur der angebeteten Władka auftauchen soll. Zdzisław ist tot, hört nichts mehr und verschwindet in der Anonymität der Kriegslandschaft. Auch im Roman Hernicz’ Z pamiętnika żołnierza wielkiej wojny (dt. Aus dem Tagebuch eines Soldaten des Großen Krieges, 1915) sind es hauptsächlich ver‐ schiedene Frauenfiguren, die auf der Seite des Tagebuchschreibers und Haupt‐ akteurs individuelle Bildwelten generieren und für die sinnliche Wahrheitsprä‐ senz des Krieges verantwortlich zeichnen. Neben der Figur der alten Soldatenmutter, die nicht imstande ist, den allgemeinen Enthusiasmus bei der Generalmobilmachung zu teilen, wird im Tagebuch die Figur seiner geliebten Hala mehrmals und in unterschiedlichen Kontexten heraufbeschworen: „Und sie ist plötzlich in meiner Seele zum Vorschein gekommen - sie… meine liebe Hala! […] Halas sonnige Gestalt ist vor mir erschienen! Sie wollte in mir schon immer stählerne Härte und Willensstärke sehen! [Übers. - P. Z.]“ 4 Das imaginierte Bild lässt Hala in ihrer Körperlichkeit als eine bezaubernde Gestalt erscheinen. Halas Erscheinungsbild als eine Phantasievorstellung ent‐ wickelt nicht in dem Sinne eine sinnliche Anziehungskraft, als es Empfindungen und Phantasien sexueller Art generiert, deren Inhalt von einer erotischen Span‐ nung und Emotionalität leben würde. Die Figur der Frau kommt eher einer un‐ nahbaren Madonna gleich, die Abstand hält und sich jeglicher Vertrautheit ent‐ zieht. Bei deren körperlicher Präsenz spielen Weiblichkeit und Sexualität, 146 Paweł Zimniak 5 Ebd., S. 29. Polnische Originalfassung: „A najjaśniejszem wspomnieniem dla mnie - to moja Hala jedyna. W rozradowaniu upojnem, - patrzę, gdy mi się jawi w rozgorącz‐ kowanej wyobraźni jej obraz. […] I jedyne pytanie - jedyna trwoga, lęk… Czy ja jeszcze ciebie ujrzę, - moje kochanie? …” Lebendigkeit und Leidenschaft, Sinnlichkeit und Liebeslust, Zärtlichkeit und Wärme gar keine Rolle. Hala gilt als ein Kultobjekt, ein Objekt grenzenloser Bewunderung, Anbetung und Idealisierung, bei dem das Prinzip des Begehrens und einer erotischen Spannung - sie wäre aufgrund der Trennung und Sehnsucht durchaus ver‐ ständlich - außer Kraft ist. Sie erscheint plötzlich, durch die Intensität der Ge‐ danken herbeigerufen, und fordert, was sie angeblich schon immer von ihrem Freund gefordert hat: Härte und Willensstärke, Hartnäckigkeit und Unbeug‐ samkeit, Beharrlichkeit und Unerschütterlichkeit, Standhaftigkeit und Unbe‐ irrtheit. Damit ist die Erwartungshaltung an die Maskulinität fest fixiert. Der Soldat sieht sich gezwungen, dieser Vorstellung und diesem Anspruch gerecht zu werden. In fiebriger Eile wird Halas Bild gesucht, eine Phantasmagorie, die kraft der Erinnerung als real wahrgenommen und empfunden wird: Die leuchtendste Erinnerung war für mich die allerliebste Hala. Ich ergötze mich an ihrem Bild, das ich in meiner eifrigen Imagination trage, außer mir vor Freude. […] Und die einzige Frage - die einzige Furcht, die mich packt… Werde ich dich jemals wiedersehen, meine Liebe? … [Übers. - P. Z.] 5 Die imaginierten Bilder rufen eine Lustempfindung anderer Art hervor. Sie gehen mit körperlichem Wohlempfinden bereits zu einem Zeitpunkt einher, zu dem sie noch nicht bewusst erlebt und benannt werden können. Die Erinnerung an Hala nimmt eine blinde Zuneigung in Anspruch und besitzt in der düsteren Kriegsrealität eine kompensatorisch-besänftigende Funktion. Im Rückblick des Soldaten vollzieht sich eine individuelle Lesart der Frau, deren Erscheinungs‐ bilder - sie werden nie als Schimäre, als Trugbilder und optische Täuschungen aufgefasst - von einer himmlischen Herrlichkeit umgeben sind. Hala als Lie‐ besobjekt wird mit ihrer Idealität eine Unerreichbarkeit verliehen. Die Frau wird in einer fernen Welt platziert, die mit der Realität des Krieges nichts zu tun hat, zur unantastbaren Göttlichkeit erhoben, jeder Realität beraubt und damit restlos überfordert. Nach zwei Monaten im Feld holt sich der Soldat eine Lungenent‐ zündung. Im Lazarett wird er von Schwester Marta mit der Nachricht konfron‐ tiert, dass seine Hala zur Frau eines anderen Mannes geworden ist: „Nachdem ich diese Worte gehört hatte, tat sich vor mir ein schwarzer Abgrund auf, und ich fühlte, wie ich in diese Tiefe abstürze… Das Herz schlug rasend, das Hirn wurde von glühender Lava überströmt… ein verzweifeltes „Jesus, Maria“, ein 147 Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg 6 Ebd., S. 32 f. Polnische Originalfassung: „Kiedy usłyszałem te słowa, rozwarła się prze‐ demną czarna otchłań. - Czułem jak w tę otchłań lecę… Serce bije gwałtownie - mózg lawą piekącą zalany… rozpaczliwe: „Jezus - Marya” - krzyk - oddech trudny… stra‐ ciłem przytomność.” 7 Ebd., S. 37. Polnische Originalfassung: „Zginę teraz Haluchno! - Zginę i nie zamącę więcej ciszy Twojej […].” 8 Ebd., S. 39. Polnische Originalfassung: „O biedny żołnierzu - biedny synu ziemi, z wzrokiem oślepłym - ze sercem złamanem i duszą nieskończenie smutną! O biedny żołnierzu - straszna jest twoje tragedya, - ale czemże ona, wobec tego wielkiego dra‐ matu świata? … O biedny żołnierzu! ! ” 9 Roman Hernicz, Ostatnie chwile.(Szkic do noweli) [Die letzten Minuten - P. Z.], in: ders., Z pamiętnika żołnierza wielkiej wojny. Nowele i szkice [Aus dem Tagebuch eines Soldaten des Großen Krieges. Novellen und Skizzen - P. Z.], S. 75-79. Aufschrei entriss sich meiner Brust. Der Atem ging schwerer… Ich wurde ohn‐ mächtig [Übers. - P. Z.].” 6 Das Traumbild wird aber auch in diesem Moment nicht entzaubert. Die Referenz auf bestimmte Körperreaktionen (rasender Herz‐ rhythmus, Atmungsprobleme und Atemnot, Hitzewallung, Aufschrei und Ohn‐ machtsgefühl) zeugt zwar von einer tiefen Erschütterung, aber der Frau wird letztendlich vom edlen Polen großzügig verziehen. Der Soldat hadert nicht mit dem Schicksal eines betrogenen und im Stich gelassenen Mannes. Kurz darauf verfasst er einen Brief, der im Krakauer Tagesblatt publiziert wird und in dem er von Soldatenpflicht und Tod spricht sowie von Hala Abschied nimmt: „Jetzt werde ich sterben, Hala, und Deinen Frieden nicht mehr trüben! [Übers. - P. Z.]“ 7 Das Tagebuch endet mit einem den Soldaten bemitleidenden Kommentar eines anderen Handlungsbeteiligten, der nach der Erblindung des Tagebuch‐ schreibers sein Tagebuch fortsetzen soll und sein tragisches Schicksal in einen weiteren Kontext des Kriegsgeschehens einbettet: Oh armer Soldat, armer Sohn der Erde ohne Augenlicht, mit gebrochenem Herz und unendlich trauriger Seele! Oh armer Soldat - furchtbar ist deine Tragödie, aber was ist sie eigentlich angesichts dieses großen Weltdramas? … Oh armer Soldat! ! [Übers. - P. Z.] 8 Hala spielt auch in den letzten Lebensminuten des Soldaten Juliusz Żwirski eine besänftigende Rolle. In Ostatnie chwile (dt. Die letzten Minuten  9 ) liegt der schwer verwundete Żwirski in einem Krakauer Lazarett und wird von seiner verflos‐ senen Liebe, Hala Mirecka vom „Roten Kreuz“, gepflegt. Der Soldat ist über‐ glücklich, dass er die letzten Minuten seines Lebens in Halas Gegenwart ver‐ bringen kann. In seinen Gedanken geht Żwirski auch die Trennung von seiner Hala noch einmal durch. Er vergegenwärtigt sich seinen sozialen Abstieg, Trunksucht und Sexeskapaden, ohne sich darüber allzu sehr auslassen zu wollen, so dass Einzelheiten eher angedeutet als ausgesprochen werden, sieht 148 Paweł Zimniak 10 Ebd., S. 78. Polnische Originalfassung: „Szybkim pędem przebiegają mu w mózgu zdar‐ zenia ostatnich lat. Kochał ją, kochał szalenie, życie jej swoje chciał oddać. Długo trwało to miłowanie. Aż razu pewnego go opuściła! Podeptał swe ideały. Rozpił się i w bagnie rozpusty szukał zapomnienia. Do wszystkiego gnała go tęsknota za nią. Aż nareszcie wybuchła wojna! Święta wojna z zbrodniczym caratem. Zaciągnął się ochotnie w sze‐ regi Legionów.” dabei seine Niedergeschlagenheit und Einsamkeit als Motive an, gibt jedoch Hala an keiner Textstelle die Schuld für seinen Absturz: Im schnellen Durchlauf werden Ereignisse der letzten Jahre vergegenwärtigt. Er liebte Hala bis zum Verrücktwerden und würde sein Leben für sie opfern. Diese Leidenschaft dauerte lange an. Eines Tages hat sie ihn aber verlassen. Żwirski hatte daraufhin all seine Ideale mit Füßen getreten, begann zu trinken, um seine Verzweiflung zügellos im Sündenbabel zu ertränken, angetrieben durch eine große Sehnsucht nach der Frau. Und endlich ist der Krieg ausgebrochen, der heilige Krieg gegen die verbrecherische Zarenherrschaft! Żwirski ist freiwillig zu den Legionen gegangen [Übers. - P. Z.]. 10 Die Frage nach Beweggründen und Einflüssen, die eine Figur zur Ausübung bestimmter Handlungen veranlassen, ist immer eine Frage nach einer Wechsel‐ wirkung zwischen der figurenspezifischen, kognitiv-emotiven Konditionierung und den mitwirkenden situationsspezifischen Faktoren. Eine bestimmte figurale Handlungsbereitschaft und Handlungsweise ist auf die Realisierung von Hand‐ lungsabsichten und eine intendierte Situationsveränderung zurückzuführen. Żwirski trinkt, weil ihm der Abschied von seiner Hala zu schaffen macht und ihn völlig überfordert. Die figurenbezogene Handlungsbereitschaft zum Er‐ tränken der Sehnsucht im Alkohol verbindet sich mit der Feststellung eines in‐ neren Ungleichgewichts durch den Verlust von Hala. Durch den Kriegsausbruch wird der Mann regelrecht erlöst, und durch die veränderten äußeren Umstände und Einflüsse bekommt sein Leben eine positive Wendung, denn als solche wird die eröffnete Möglichkeit bewaffneten Kampfes gegen das verhasste Russland und den Zarismus angesehen. Auf diese Weise ist von einer unverhofften, int‐ rinsischen Motivierung zu sprechen, die Żwirskis Leben einen Sinn verliehen hat. Die Beweggründe des Handelns sind nämlich auf den inneren Antrieb und eine neue Leidenschaft zurückzuführen. Durch solche Gemengelagen entsteht ein Suchverhalten, das in seiner Finalität zur schweren Verwundung des Sol‐ daten führt und im Lazarett endet. Im letzten Moment seines Lebens greift Żwirski nach einem kleinen, schwarzen Kreuz an seinem Hals, das er von Hala bekommen hat. Dieses Erin‐ nerungsstück hat nicht nur die Verbindung zu Hala aufrechterhalten. Im letzten Lebensmoment wird die Wichtigkeit des Kreuzes bekräftigt, und es sind bei 149 Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg Hernicz oft unscheinbare religiöse Momente von Besinnung und Einkehr, die einen spezifischen Beeinflussungsraum entstehen lassen, politisch motivierte Interessengemeinschaften zu kleinen Gemeinschaften von ‚Gläubigen‘ machen und als Gegengewicht zur Kriegsgegenwart und Kriegsmächtigkeit fungieren. Der Verwundete spürt zum Schluss einen übermächtigen Schmerz in seiner Brust, ringt nach Luft, kann kein Wort ausstoßen, und nur ein Gewirr von kaum hörbaren Lauten ist zu vernehmen. Das Gesicht wird heller, vom leichten Lä‐ cheln gezeichnet. Hala küsst Julek sanft auf den Mund, eine Glückserfahrung, die durch nichts ersetzt werden kann. Und kurz danach windet sich Żwirski vor Schmerzen. Schaum kommt aus seinem Mund, und der Soldat haucht sein Leben aus. Das sanfte Lächeln verschwindet nicht aus dem Gesicht des Toten. 3. Liebe als Aufopferung - Platonische Liebeserweiterungen einer Dreieckgeschichte In Hernicz’ Ten trzeci… (dt. Der Dritte…, 1915) wird der Abschied ebenfalls zum strukturkonstituierenden Element des Textes. Jerzy Mielski - gebrochen und müde nach einigen Monaten im Kriegsgeschehen zum Fronturlaub zurückge‐ kehrt - soll wieder in den Krieg ziehen. Seiner kranken Ehefrau Jadwiga steht der Abschied von ihrem Mann unmittelbar bevor. Mielski ist kein Feigling und Drückeberger, kann sich aber mit dem Gedanken nicht anfreunden, wieder an die Front zu gehen und seine Frau zurückzulassen. In einem menschenleeren Cafè ist er seinen Gedanken überlassen und versucht, den Abschied hinauszu‐ zögern. Auf der einen Seite ist es die Soldatenpflicht, der Mielski Folge leisten möchte, zumal der Stellungsbefehl jederzeit erwartet wird. Auf der anderen Seite wird ihm der Abschied durch die Bindung an Jadwiga schwer gemacht, zumal die Frau auf die erneute Trennung von ihrem Jerzy völlig unvorbereitet ist und sie diese gar nicht wahrhaben möchte: Er sah Jadwiga ganz deutlich, wie sie mit verweinten Augen in sein trauriges Gesicht blickte und mit verzweifelter Stimme fragte: - Jerzy, du wirst nicht gehen, nicht wahr? Sag, dass du bleiben wirst! Mielski antwortete nicht, biss sich nur stillschweigend auf die Lippen. Mit unermesslicher Liebe erfasste er Jadwigas Seele, die den ganzen Ernst 150 Paweł Zimniak 11 Roman Hernicz, Ten trzeci… [Der Dritte - P. Z.], in: ders., Z pamiętnika żołnierza wielkiej wojny. Nowele i szkice [Aus dem Tagebuch eines Soldaten des Großen Krieges. Novellen und Skizzen - P. Z.], S. 61-69, hier S. 61. Polnische Originalfassung: „Wyraźnie widział Jadwigę, jak załzawionemi oczyma patrzyła w jego smutną twarz i rozpaczliwym głosem pytała: - Nie pójdziesz Jerzy? - Prawda, że zostaniesz! Nie odpowiadał. - Gryzł tylko wargi w milczeniu. Bezkresnem miłowaniem ogarnął duszę Jadwigi, która nie mogła zrozumieć całej grozy położenia. Teraz dopiero rozumiał, jak gorąco go kochała.” der Lage nicht verstehen konnte. Erst jetzt begriff er, wie hingebend sie ihn liebte [Übers. - P. Z.]. 11 Das Beziehungsdenken vollzieht sich in der angebotenen Perspektive über die bewusste Wahrnehmung von Abschied, der einen Abschied für immer bedeuten kann. Die Erfüllung der Soldatenpflicht geht für die Frau mit der Akzeptanz der Trennung von ihrem Ehepartner einher, was Jadwiga schwerfällt, weil der end‐ gültige Verlust der geliebten Person wahrscheinlich ist und ständig hinzuge‐ dacht wird. Der bewaffnete Konflikt entscheidet zwar über die Notwendigkeit der Auflösung von Bindungsligaturen, aber die Frau begehrt gegen ihr Schicksal auf, möchte ihren Jerzy zurückhalten, für sich behalten und nicht loslassen. Deshalb vergewissert sie sich, ob er wirklich gehen muss, aber es ist eher eine naive Frage, die ihre Vergeblichkeit eigentlich schon bei derer Formulierung anerkennt. Verweinte Augen, trauriges Gesicht, verzweifelte Stimme, zaghaft formulierte Fragen zur Klärung der Verhältnisse zeugen von einem innerlich ausgetragenen Kampf, der von Mielski wahrgenommen wird und ihm die Ent‐ scheidung noch schwerer macht. Mielski ist ein guter und sensibler Beobachter, der bestimmte Verhaltens‐ weisen seiner Frau und anderer Handlungsbeteiligter nicht nur registriert, son‐ dern auch wertet und bewertet. Dabei wird nicht nur Jadwiga wegen ihrer be‐ sonderen Empfindsamkeit und Verwundbarkeit diesseits des Opferraums situiert. Auch Jerzy Mielski, ihr Ehemann, und Stanisław Orwicz, Schwärmer und Jadwigas Verehrer, leiden unter dem Druck der historischen Zeit, in der sie ihre Entscheidungen zu treffen haben. Mielski ist verlegen und bedrückt, beißt sich unentwegt auf die Lippen, weiß, dass er sich vor der Pflicht nicht drücken kann - er ist schließlich Soldat und muss Befehle befolgen -, wird nachdenklich, grübelt, gibt Jadwiga keine Antwort, weil er ihr nichts versprechen kann, zieht sich zurück, bemitleidet Jadwiga und sich selbst. Orwicz versucht hingegen mit einer Doppelbelastung zurechtzukommen. Es ist nicht nur der Krieg, in dem er als Offizier ‚verfangen‘ ist, sondern auch die unerfüllte Liebe, in der er sich als Traumtänzer, Romantiker und Fantast verheddert hat. Jadwigas Anbeter und Bewunderer ist dabei ein Kavalier, der die geliebte Frau keiner Gefahr aussetzen würde. Deshalb führt er in ihrer Nähe 151 Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg 12 Ebd., S. 66 f. Polnische Originalfassung: „Na twarzy Jadwigi ukazał się cień. - Zerwała się z łóżka, - w pośpiechu zaczęła się ubierać - czuła dziwne zdenerwowanie. - I cóż ją właściwie Orwicz obchodzi? - Przecie ona nie może być odpowiedzialną, że mu się podoba, że jest żoną innego - i że w gruncie rzeczy żadnych wzajemnych uczuć do Orwicza nie żywi… Chyba trudno siebie o to winić - - A że przypadek zdziałał, że zamiast męża idzie Orwicz, - wobec tego chyba ona także bezsilna! ” ein Schattendasein, ist zwar da, aber nicht aufdringlich. Orwicz wird von den Eheleuten nie explizit zur Rede gestellt. Man hat sich mit seiner Anwesenheit abgefunden und toleriert sie. Mit der Erhaltung der Dreiecksgeschichte und der Vermeidung ihrer Beendigung gewinnt die Interaktion ihr eigenes Profil. Durch die ‚Dreierkombination‘ - die Liebe von Stach Orwicz zu Jadwiga Mielska ist rein platonischer Art - kommt es zu einer besonderen Dramatisierung der Ver‐ hältnisse, wenn Orwicz sich heimlich anstelle von Mielski zum erneuten Mili‐ täreinsatz meldet und somit als sein eigener ‚Ersatz‘ in den Krieg zieht. Jadwiga ist zwar erleichtert, dass es nicht ihren Jerzy getroffen hat, wird aber zugleich von einem unheimlichen Gefühl erfasst. In diesem Kontext gerät sie in einen Rechtfertigungszwang, wenn ihre Innenwelt ausgeleuchtet wird: Jadwigas Gesicht verfinsterte sich. Sie fuhr aus dem Bett und begann, sich in Eile anzuziehen, verspürte dabei eine seltsame Nervosität. Was geht sie eigentlich Orwicz an? Sie kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie ihm gefällt und Frau eines anderen ist, zumal sie im Prinzip kein zärtliches Gefühl für ihn hegt… Man kann sich ja nicht selbst dafür schuldig machen. Ein Zufall hat es gefügt, dass Orwicz an‐ stelle ihres Mannes geht, und auch in diesem Fall ist sie wohl machtlos! [Übers. - P. Z.]. 12 Jadwiga versucht sich selbst zu rechtfertigen. Ihr Körperverhalten gilt als Indi‐ kator für psychische Vorgänge. Die Frau ist zwar Orwicz gegenüber nicht frei für das Kommunikationsmedium ‚Liebe‘, so dass Mielski nicht mit einem Kon‐ kurrenten rechnen muss, der offen seinen Machtanspruch formuliert und ver‐ sucht, sich selbst viel offensiver ins Spiel zu bringen und das bestehende Gleich‐ gewicht zu (zer)stören. Orwicz’ Präsenz wird nur als eine psychisch internalisierte Selbstverständlichkeit anerkannt, die jedoch Unruhe produziert. Bei Jadwiga entsteht ein reflexiver Wahrnehmungszusammenhang, der mit einem (auf)störenden Potenzial gefüllt wird, wenn von einer seltsamen Nervo‐ sität, von der sie erfasst wird, die Rede ist. Ihr Körperempfinden und ihr sicht‐ bares, körperliches Handeln hängen mit einer spezifischen Exzitabilität zu‐ sammen, die sich durch Anspannung und Erregung, Gereiztheit und Ruhelosigkeit, Unsicherheit und Verwirrung manifestiert. Jadwiga befragt sich selbst und möchte sich entlasten, wenn ihre Gedanken um die Frage von Ver‐ 152 Paweł Zimniak 13 Ebd., 67 f. Polnische Originalfassung: „Tak chętnie wyznałby teraz wszystko! - Że ją ogromnie, bezpamiętnie kocha. Że przez nią, dla niej - idzie dobrowolnie w śmierć. Że wie, iż kocha męża. Chciał jej przeto oszczędzić bólu.” antwortung, Schuld und Zufall herumkreisen. Sie kann nämlich keine Schuld nur deshalb auf sich laden, so Jadwigas Perspektive im inneren Monolog, weil sie ohne ihr Zutun einem anderen Mann gefällt, zumal sie keine zärtliche Bin‐ dung an den Dritten entwickelt hat. Bei dieser Selbstbefragung stellt Stanisław Orwicz eine innerpsychische Realität dar, obwohl sich die Frau ständig einzu‐ reden versucht, dass Orwicz ihr völlig egal ist und sie sich für ihn gar nicht interessiert. Seine Entscheidung, sich freiwillig zum Fronteinsatz zu melden und statt Jerzy Mielski in den Kampf zu ziehen, ist jedoch nicht weiter zu ignorieren, denn sie läuft Jadwigas Erwartungsbildung entgegen und wirkt unruhestiftend. Das Gefühl einer gewissen Stabilität, das ohnehin durch den Krieg ein sehr fragiles Konstrukt bedeutet, wird durch Orwicz’ Entscheidung und sein offen‐ siveres Eintreten in die Zweisamkeit der Mielskis zusätzlich erschüttert. Die Erwartungssicherheit und Überzeugung, Jadwiga wird erneut von ihrem Mann Abschied nehmen müssen, werden durch die unvorhergesehene Wendung in Frage gestellt. Den Kulminationspunkt bildet eine Abschiedsszene auf dem Bahnhof. Jerzy Mielski wird von den auf den Zug wartenden Offizieren miss‐ trauisch angeschaut. Stanisław Orwicz wird für einen kurzen Augenblick mit Jadwiga alleingelassen, denn Mielski hat sich unauffällig zurückgezogen, aber seine Gedanken kreisen unablässig um mögliche Empfindungen des Kameraden und ‚Nebenbuhlers‘ Orwicz, der Jadwiga nun für sich allein hat und diesen Mo‐ ment für eine Liebeserklärung nutzen möchte: So gern möchte er sich jetzt dazu bekennen, dass er sie ungeheuer, bis zur Selbstver‐ gessenheit liebt und ihretwegen freiwillig in den Tod zieht. Er weiß sehr wohl, dass sie ihren Jerzy liebt, deshalb will er nicht, dass ihr Herz vor Kummer bricht [Übers. - P. Z.]. 13 Orwicz’ räumliche Präsenz und Nähe bedeuten kein Alarmsignal, aber sie for‐ dern das Paar heraus. Sein Verhalten wird nicht nur durch die Außenwelt des Krieges, sondern auch durch die unerfüllte Liebe spezifiziert. Die Vergegenwär‐ tigung seiner Entscheidung wirkt belastend. Jadwigas Wohl ist dabei das Hand‐ lungsmotiv, auf das sich Orwicz selbst verpflichtet hat, der Auslöseanlass und der Katalysator. Ihre Reputation besitzt eine hohe Bindungswirkung. In Orwicz’ Verständnis gibt es keine Offenheit für verschiedene Möglichkeiten des Be‐ nachteiligens, Schädigens oder Zwingens, denn es liegt auf seiner Seite keine Konfliktbereitschaft vor und ein Konflikt, der für eine andere Figurenkonstel‐ lation sorgen könnte, wird gar nicht gesucht. Es hat sich deshalb keine Gegner‐ 153 Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg 14 Vgl. ebd., S. 67. schaft und Feindschaft zwischen den Konkurrenten entwickelt, weil es zu keiner Aktualisierung von Möglichkeiten, die eine der Parteien benachteiligen oder schädigen könnten, gekommen ist. Ein Risikokalkül spielt für Mielski also keine Rolle, nicht zuletzt deswegen, weil das Dreigestirn keine Semantik der Konkur‐ renz generiert, d. h. es werden seitens Orwicz keine beziehungsbedrohenden Initiativen stimuliert, die leistungsmotivierend wirken und Mielski zur ‚Träg‐ heitsüberwindung‘ und Abwehr des Gegners und Konkurrenten zwingen würden. Es kann nicht einmal von erschöpfenden, auslaugenden und zermürb‐ enden ‚Grabenkämpfen‘ gesprochen werden. Orwicz’ räumliche Präsenz in der Nähe der Mielskis hat weder einen raumgreifend parasitären noch einen de‐ struktiven Charakter. Es handelt sich eher um eine positive Energie der Leiden‐ schaft und Opferbereitschaft, die in den eigenen Entscheidungsbereich ausge‐ lagert wird, auch wenn sie sich zu Ungunsten der eigenen Person entwickeln und sie benachteiligen sollte. In der interaktionsnah gebildeten Gemeinschaft wird die Konfliktwahrscheinlichkeit nicht gesteigert, sondern minimiert. Die Dreiecksgeschichte wird deshalb nicht auf eine scharfe, männliche Zweier-Gegnerschaft reduziert und auf der Ebene kurzfristiger Interaktionen absorbiert, sondern sie erzielt Breitenwirkung und wird für die Betroffenen weitreichende Folgen haben, weil sie auch nach dem Tod von Orwicz nicht auf‐ gelöst wird und verschwindet, sondern durch seine Entscheidung und das ge‐ brachte Opfer über seinen Tod hinaus weiterwirkt und das Ehepaar belastet. Orwicz wünscht sich bei seinem Abschiednehmen von den Mielskis, dass er von Jadwiga nicht vergessen wird, und Jadwiga erwidert daraufhin, dass er von der Front bestimmt zurückkehren werde. 14 Der Zug nimmt Fahrt auf, und im letzten Moment reicht Orwicz Mielski einen Zettel durchs Fenster des abfahrenden Zuges hindurch, der zwar Klarheit in die Verhältnisse bringt, aber keinesfalls entstörend wirkt: Lieber Herr Mielski! Gestern Abend habe ich mich freiwillig an ihrer Stelle gemeldet und dem Kommandanten erklärt, dass Sie krank sind und es meine Pflicht ist, sie zu ersetzen. Zugleich habe ich mir vorbehalten, unmissverständlich zu betonen, dass dieser Schritt durch keine Machenschaften inspiriert wird, und dass Sie in die Sache nicht eingeweiht sind. […] Sollte ich aus dem Einsatz nicht zurückgekehrt sein, sagen Sie meiner alten Mutter, dass ich bis zum Schluss in Gedanken bei ihr war. Vielleicht 154 Paweł Zimniak 15 Ebd., S. 68 f. Polnische Originalfassung: „Kochany panie Mielski! Wczoraj wieczorem zgłosiłem się dobrowolnie u komendanta - na pańskie miejsce, tłumacząc, że pan jesteś chory - i że jest moim obowiązkiem pana zastąpić. - Zastrzegłem się, że krok ten nie jest inspirowany - i że pan o niczem nie wie. […] Gdybym nie wrócił - to Matce mojej starej, mówcie - żem myślami był przy niej do ostatniej chwili. - Może pan pomoże biedaczce. Dla pani Jadwigi dużo serdecznych, ostatnich zdaje się, pozdrowień. - Bądźcie szczęśliwi […]. Orwicz.” 16 Ebd., S. 69. Polnische Originalfassung: „Porucznik Stanisław Orwicz trafiony gra‐ natem - legł na polu chwały.” 17 Ebd., S. 69. Polnische Originalfassung: „Cień wieczny - - cień gniotący - - aż na duszę Jagi - - Cień wieczny - - cień gniotący - - aż poza koniec smutnych dni żywota - -.” werden Sie der Armen helfen können. Für Ihre Frau Jadwiga viele herzliche, wie es scheint, letzte Grüße. Seien Sie glücklich […]. Orwicz [Übers. - P. Z.]. 15 Seitens Mielski wird im Moment des Abschieds kein Widerspruch kommuni‐ ziert, denn Orwicz’ Entscheidung stellt im Prinzip keinen Interessengegensatz dar und zieht keine Benachteiligung oder Schädigung der Beziehung zu Jadwiga nach sich. Der ‚Bekenntniszettel‘ bleibt jedoch nicht ohne Spuren und bean‐ sprucht die Aufmerksamkeit der Zurückgelassenen. Von der Möglichkeit der Verwendung von ‚Nein‘ und einer kommunikativen Ablehnung der von Orwicz gewählten Handlungsoption macht Mielski auch deshalb keinen Gebrauch, weil mit dem Abfahren des Zuges vollendete Tatsa‐ chen geschaffen und Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt werden, also sein Möglichkeitsbereich, nein zu sagen, zu protestieren, sich dem Willen von Orwicz zu widersetzen, wird mit dem Verschwinden des unglücklich verliebten Stö‐ renfrieds nicht erhöht, sondern praktisch auf Null reduziert. Und nach knapp zwei Wochen ist eine Todesnachricht eingetroffen: „Leutnant Stanisław Orwicz ist durch einen Granatsplitter getroffen worden und auf dem Ehrenfeld gefallen [Übers. - P. Z.].“ 16 Orwicz’ Geschichte und seine unerfüllte Liebe wirken über den Soldatentod hinaus und hinterlassen Spuren. Es liegt ein dunkler Schatten auf der Seele der betroffenen Zurückgelassenen und es gibt keine Anzeichen, dass er sich lichten sollte: „Der ewige Schatten, der drückt und bedrückt, sich auf Jagas Seele legt. Der ewige Schatten bis zum letzten, traurigen Lebenstag [Übers. - P. Z.].“ 17 Or‐ wicz’ zärtliche Empfindung für Jadwiga war seine Antriebskraft, und weder sie noch ihr Ehemann Jerzy Mielski haben es über sich gebracht, den Traumtänzer auf die Aussichtslosigkeit seines Verlangens hinzuweisen, ihn in einem offenen Gespräch zur Rede zu stellen und somit für die Klarheit der Verhältnisse zu sorgen, den ‚Seifenblasenakrobaten‘ zur Vernunft zu bringen oder ihn auf eine andere Weise zu verscheuchen und abzuschütteln. Es war genau das elektrisie‐ rende Gefühl der Liebe, das Orwicz ausharren und handeln ließ, sein Verhältnis 155 Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg zu Jadwiga mitbestimmte. Eine leidenschaftliche (Er)Regung ließ ihn auch die Eheleute unauffällig nach Italien begleiten, aber er war kein verwegener Mensch, der Jadwiga in reduktionistischer Weise als bloßes Eroberungsobjekt betrachtete und versuchen würde, sie Mielski abspenstig zu machen. Das Drauf‐ gängerische lag nicht in seiner Natur, denn er war ein Mann von Format und ein Ehrenmensch. Orwicz jagte jedoch einem Schatten nach und war sich wohl dessen bewusst, dass seine Liebe kaum eine Chance auf Erfüllung hat. Es reichte ihm aber aus, dass er sich in Jadwigas Nähe aufhielt - ein vom Gefühl geleitetes Streben und eine stille Hingabe. Jadwiga war nämlich eine nicht unmittelbar zu erreichende Lichtquelle und Orwicz ihr Schatten, der manchmal plötzlich aus dem Dunkel auftauchte, aber ständig im Schatten blieb und nur schemenhaft als Silhouette von weitem erkennbar wurde, um sich gleich wieder ganz zurückzunehmen und zu verschwinden. Und zum Schatten der beiden wurde er auch nach seinem Tod, wenn sich in den Schlusszeilen des Textes eine depressive Stimmung manifes‐ tiert und das Gefühl der Bedrücktheit nicht zu verbergen ist. Es wird nämlich seitens Mielski kein Gefühl der Erleichterung und Schaden‐ freude empfunden und geäußert, dass die kompetitive Komponente der Drei‐ ecksgeschichte mit dem Tod des Mitstreiters und Konkurrenten endgültig ver‐ schwunden ist. Keine Verhöhnung des unglücklich Liebenden ist zu notieren, sondern Anteilnahme, Scham, Niedergeschlagenheit und Beklemmung machen sich breit, weil der Krieg das Leben eines rechtschaffenen Menschen ausgelöscht hat. Orwicz’ Verhalten wurde die ganze Zeit durch von beträchtlicher Würde und Menschlichkeit getragen, obwohl er Mielski im letzten Moment eine ge‐ wisse Überlegenheit spüren lässt, wenn er das Geheimnis nicht mehr für sich behält, sondern es bei der Abfahrt des Zuges lüftet und den Ahnungslosen doch wissend zurückzulässt. 4. Liebe als Kosten-Nutzen-Kalkül In Juliusz Kaden Bandrowskis Łuk (dt. Der Bogen, 1919) wird das Bekenntnis zu einer freizügigeren Weiblichkeit Teil der kriegerischen Männerwelt, zu der auch Suchbewegungen nach sinnlichen Genüssen und akzeptablen Freiräumen für das Ausleben der Gelüste gehören. Es ist die weibliche Figur der Maryśka Mie‐ chowska, die das Warten auf den im Kriegsgeschehen unauffindbar verschwun‐ denen Zdzich nicht mehr als lebensfüllend und ihr Alleinsein als beengend empfindet, an das konventionelle Verständnis von Geschlechterordnung, Ehe und familiären Verpflichtungen eine Absage erteilt und in Regionen weiblicher Frivolität aufbricht, die in ihrem früheren, geregelten bürgerlichen Dasein nicht 156 Paweł Zimniak 18 Juliusz Kaden Bandrowski, Łuk [Der Bogen - P. Z.], Towarzystwo Wydawnicze w Wars‐ zawie [Verlagsgesellschaft in Warschau], Warszawa, 1919, S. 28 [In der Erstausgabe stehende Daten der Manuskriptverfassung: Krakau im Dezember 1917 - Krynica im September 1918], S. 229. Polnische Originalfassung: „Maryśka nic, - tylko - godność… Wtedy rzucił się na nią brutalnie i przemógł siłą… O ile ktoś uważa, że brutalne zgwał‐ cenie kobiety jest tryumfem, to owszem odniósł wielki tryumf… […] Nie było dobrze Maryśce z tem wszystkiem. […] Bo cóż się dzieje w końcu, gdzie ją prowadzi ten czas i co przynosi! ? … Gdy następnego dnia rano spostrzegła, że ma sińce na ramionach i na udach zgroza ją objęła… Czuła się źle, tak źle, jak się chyba muszą czuć te kobiety, które dają sobie za pieniądze gasić papierosy o uda, lub ramiona… .” mal in einem Möglichkeitsbereich gelegen haben. Ihr Verhalten hat einen mul‐ tifaktoriellen Ursprung, gehört zu kriegsbedingten Grenzüberschreitungen und kann insofern nicht als eine profitorientierte Sexualität betrachtet werden, als sie für die männliche Verfügung über ihren Körper kein Geld verlangt. Maryśkas sexuelle Begegnungen sind also keine richtigen Tauschgeschäfte. Sie hängen von situativen Konstellationen ab, vollziehen sich eher spontan als kalkuliert und meistens in einvernehmlichen Verhältnissen, obwohl die Grenze zwischen Zwang und Freiwilligkeit bei Geschlechtsakten mit Ciąglewicz eher fließend ist: Maryśka blieb unerschüttert - nur die Würde nicht verlieren… Dann hat er sich auf sie geworfen und mit Gewalt bezwungen… Sollte jemand meinen, dass eine brutale Vergewaltigung der Frau einen männlichen Triumpf bedeutet, dann hat er einen großen Sieg davongetragen… […] Maryśka litt darunter, wurde hin und her ge‐ rissen. […] Was passiert letztendlich, wo führt sie diese Zeit hin und was bringt sie mit sich! ? … Als sie am nächsten Tag morgens ihre Blutergüsse, blaue Flecken an Armen und Unterschenkeln betrachtete, war ihr unheimlich zumute, und ein Grauen erfasste sie… Sie fühlte sich schlecht, so schlecht, wie sich jene Frauen fühlen müssen, an deren Schenkeln oder Armen gegen Geld Zigaretten ausgedrückt werden… [Übers. - P. Z.]. 18 In der narrativen Verfasstheit der Mitteilung geht auch Maryśkas eigene psy‐ chische Verfassung auf, wenn sie eine bestimmte Aneignung ziviler Wirklichkeit vor dem Hintergrund des Großen Krieges schildert und sich mit Ciąglewiczs sexuellen Zugriff auseinandersetzt. Obwohl sich Maryśka ständig einredet, den Draufgänger Ciąglewicz durch ihre Unnachgiebigkeit und Abwehrreaktion unter Kontrolle halten zu können, um auf diese Weise ihre Tugendhaftigkeit und Würde zu bewahren, ist sie bei dem ersten sexuellen Annäherungsversuch - die eigene Wohnung stellt dabei den Tat- und Erleidensort dar - doch nicht imstande, die situative Dynamik zu beherrschen. Widerstandsfähigkeit und Verweigerung werden unter dem Druck der Situation aufgeweicht, sodass auf‐ grund einer gewissen ‚Schmerz-Lust-Ökonomie‘ der Unterwerfungsmecha‐ 157 Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg 19 Vgl. ebd., S. 227. nismus greift und die Frau sich überwältigen lässt. Sie versucht aber, der per‐ sönlichen Gewalterfahrung durch die (Selbst)Mitteilung einen Ausdruck zu verleihen, sie erzählerisch zu bannen, um die Unmittelbarkeit des Erlebten fest‐ zuhalten, aber die Anstrengung ihrer Objektivierung und ‚Archivierung‘ gelingt nur bedingt. Dass Gewalt in dieser Situation überhaupt zum Tragen kommt, ist in dem Spannungszustand begründet, der von den Beteiligten auf keinem an‐ deren Wege entladen wird. Ciąglewiczs Gewaltausbruch und grenzüberschrei‐ tender Zugriff bedeuten einen Kontrollverlust, haben aber auf jeden Fall nicht zum Ziel, Maryśka zu verletzen und zu demütigen, sie ihrer Würde zu berauben, denn es sind in dem Machtverhältnis keine schwerwiegenden Asymmetrien vorhanden, auch wenn man nicht von gleichstarken ‚Kontrahenten‘ sprechen darf. Darüber hinaus verhält sich Maryśka mindestens teilweise kollaborativ, weil die Möglichkeit, ihren Sohn Feluś durch einen Schrei zu wecken und auf diese Weise die Situation zu entstören, fallen gelassen wird. 19 Die Gewalthandlung zieht ein Gefühlschaos und eine Verunsicherung nach sich, sie hinterlässt auch eine Menge von Körperspuren in Form von Bluter‐ güssen und blauen Flecken an Armen und Schenkeln. Maryśka setzt aber auch nach dem ‚Ereignis‘ ihre Körperlichkeit ganz bewusst ins Spiel, so dass nicht von ihrer Eingebundenheit in eine Täter-Opfer-Relation gesprochen werden kann. Die zentrale Narration wird deshalb weder von dauerhafter Traumatisie‐ rung noch einer metaphorischen Wunde in der Seele der Betroffenen konstitu‐ iert. Die Frau wird zur Beute männlicher Eroberungspraxis, und diese verbindet sich mit der Erfahrung einer Grenzüberschreitung, einem kurzweiligen Schock, der aber in dem Moment abgemildert wird, in dem Maryśka dem Gewalttäter ein Versprechen abringt, dass sich Ähnliches nicht wiederholen werde. Der im Hintergrund wütende Krieg stellt eine situative Rahmung subversiver Hand‐ lungsspielräume einzelner Akteure dar und begünstigt individuelle Entwick‐ lungen, die in einer kriegsfreien Welt nur in ihrer Potenzialität angelegt wären und nur bedingt zur Entfaltung kommen könnten. Durch den Krieg wird die Welt aber in Aufruhr gebracht. Traditionelle Bin‐ dungssysteme bröckeln, und es werden bestimmte Anpassungsstrategien ent‐ wickelt. Als Motiv und Anreizvariable bei Maryśkas Suche nach neuen Bin‐ dungsmöglichkeiten gilt die allgemeine Instabilität der Verhältnisse: Ehemann an der Front und in Gefangenschaft, Vorhandensein vieler männlicher Be‐ kannter, materielle Notlage, häufiger Wohnungswechsel, Unsicherheiten hin‐ sichtlich der Mutterrolle. Im Laufe der Zeit sehnt sich Maryśka nicht mehr nach 158 Paweł Zimniak 20 Vgl. ebd., S. 275. 21 Vgl. ebd., S. 276. 22 Vgl. ebd. S. 371, S. 382. 23 Vgl. ebd., S. 412. ihrem Zdzich und hat fast vergessen, wie er aussieht, wie seine Stimme klingt. 20 Nach zahlreichen Liebschaften und Affären - die Frau bewegt sich nicht im männlichen Niemandsland - wohnt sie zur Untermiete bei den Karowskis und lässt sich auf eine Beziehung mit dem Gymnasiasten Adolf Karowski ein, dem sie auf diese Weise hilft, seine schwierige Adoleszenzphase mit Allmachtsphant‐ asien durchzustehen. 21 Von dem Adoleszenten, der unbedingt zum Militär gehen und in den Krieg ziehen will, wird Maryśka schwanger, entscheidet sich aber für einen Schwangerschaftsabbruch. 22 In der Schlussszene lässt sie sich nach einer feuchtfröhlichen Feier im Krakauer Magistrat von Professor Ramkie nach Hause begleiten. 23 Durch das Zusammentreffen von Krieg und Zivilgesellschaft kommt es in Juliusz Kaden Bandrowskis Der Bogen zwangsläufig zu einer Neuverhandlung von Normen und gesellschaftlichen Konventionen, zu denen u. a. auch die Ge‐ schlechterverhältnisse gehören. Obwohl sich Maryśka Miechowska an der Schnittstelle zwischen Normalität und Pervertierung, Normen und Normver‐ stößen, weiblicher Leidenschaftlichkeit und schamloser Fleischeslust bewegt, erregt ihr Verhalten kein öffentliches Ärgernis und wird nicht zum Skandalon. Der Krieg stellt nämlich einen erschütternden Vorgang, einen dauerhaften Aus‐ nahmezustand dar, der keine Rückkehr zur bürgerlichen Normalität ermöglicht, auch wenn er im Laufe der Zeit durch seine Dauerhaftigkeit als Normalität wahrgenommen wird. Er führt zu einem Wandel bestehender Ordnungen. Der Krieg birgt in dem Sinne ein befreiendes Potential in sich, als er für die Figuren - und das betrifft nicht nur die Hauptfiguren wie Maryśka Miechowska und Fran‐ ciszek Ciąglewicz, sondern auch zahlreiche Nebenfiguren wie Kotlarski, Ramkie, Smolarski, Nastka etc. - zugleich als ein Dispositiv fungiert, die eigenen Bedürfnisse neu zu definieren und sich selbst neu zu entwerfen. Gesteigerte Unruhe und Emotionalität lassen individuelle Hemmschwellen auf ein anderes Niveau absinken und ermöglichen somit eine Konstruktion von Persönlich‐ keiten, in die auch ein unkontrolliertes, freizügigeres, entgrenztes und ent‐ hemmtes Handeln integriert werden kann. 5. Kleine Ausdrucksformen von großen Liebeswelten - Fazit Der Große Krieg ist in den analysierten Texten an erlebende Subjekte gebunden und als figurenperspektivischer Wahrnehmungsraum nicht frei von ero‐ 159 Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg 24 Vgl. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, S. 147, S. 150, S. 156, S. 334. tisch-sinnlichen Regungen, Leidenschaften und Affekten, so dass die einzelnen Akteure beziehungsbezogen eine Art ‚Empfindungsmaterial‘ darstellen. Der Krieg erscheint dabei als ein spezifischer Raum des Denkens, Fühlens und Han‐ delns von Figuren und ist deshalb nicht ausschließlich kulissenhaft als zum Set‐ ting gehörend zu definieren - das wäre eine vereinfachende Reduktion -, son‐ dern seine textkonstitutive Funktion wird relational-performativ über die Entfaltung eines differenzierten Verhältnisses zwischen männlichen Soldaten‐ figuren und weiblichen Zivilisten realisiert. Die Figuren aktualisieren als kog‐ nitiv-emotive Systeme ihre eigenen Beobachterperspektiven, sie beobachten sich selbst und andere. 24 Ihre Unterscheidungen und Bewertungen betreffen auch die Gesamtstruktur des Systems, in dem sie zum Handeln gezwungen werden und das ihnen bestimmte Verhaltensweisen aufzwingt. Die Innerlichkeit der Vorgänge funktioniert im Zusammenhang mit externen Kriegsbedingungen. Die Kräfte, von denen die Figuren angetrieben werden, gehen dabei nicht nur von der Außenwelt des Krieges aus, sondern sind in ihrer Gedanken- und Gefühlswelt beschlossen, sodass die Figuren ihre fiktiven Rea‐ litäten nicht nur von außen nach innen, sondern auch von innen nach außen leben. Der Fokus fällt also einerseits auf einzelne Ereignisse in der Außenwelt, auf das so genannte Kriegswelttheater, andererseits wird die Innenwelt der Fi‐ guren ausgeleuchtet, denn sie denken, fühlen und handeln nicht in einem x-be‐ liebigen Raum, sondern in einem hochgradig spezifischen Macht- und Gewal‐ traum des Krieges. Figurale Unterscheidungen und Bewertungen betreffen deshalb nicht nur äußere Aktionen (Beschuss, Zeugenschaft des Todes und der Verkrüppelung), sondern auch die eigenen inneren Zustände, zu denen chroni‐ sches, inniges Leiden wegen unterbrochener oder abgebrochener Liebesbande gehört. Männliche und weibliche Akteure sind durch das Kriegschaos in ihren Be‐ zügen zur Umwelt ‚brüchig‘ geworden. Der Zustand erfahrener Verunsicherung verbindet sich jedoch nicht nur mit materiellen Defiziten und Notständen, son‐ dern auch mit dem Verlust an Gewissheit zwischenmenschlicher Bezugnahme im Sinne orientierender Relationen und relationaler Orientierungen. Wenn der Ehemann ins Feld ziehen muss oder auf einem der Schlachtfelder des Großen Krieges seinen (Helden)Tod findet, ist es für die weiblichen Zurückgebliebenen 160 Paweł Zimniak 25 Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht z. B. Celina in Stefan Żeromskis Charitas dar, die ihrem kriegsengagierten Ehemann Leszek Śnica nicht ‚nachtrauert‘ und den Kriegs‐ einsatz des Hausherrn als eine Erleichterung empfindet. Vgl. dazu Stefan Żeromski, Charitas, Towarzystwo Wydawnicze w Warszawie / Drukarnia Naukowa, War‐ szawa / Kraków, 1919, S. 152. eher selten eine glückliche Fügung. 25 Der Krieg diktiert den Figuren die Agenda, aber in der polnischen Literatur sind es oft männliche Soldatenfiguren, die zu ihrer emotionalen Lage, zu ihren Mangel- und Verlusterfahrungen, ihren Schwä‐ chen und Defiziten stehen. Der Kult des Maskulinen, der Jugendlichkeit, Stärke und Vitalität lässt auch körpernahe sinnliche Wahrnehmungen und Vorstel‐ lungen zu. Die Soldatenexistenzen leiden unter einem Auseinanderbröckeln ihrer Beziehungsgeschichten und finden sich nicht damit ab, dass die zurück‐ gebliebenen Frauen nicht nur weitgehend ihrem Schicksal überlassen werden, sondern auch meistens als fragmentarische Sinneseindrücke oder wirklichkeits‐ ferne Phantombilder existieren und somit praktisch unerreichbar bleiben. Die eigene Heimatwelt ist deshalb mit ihren Zugehörigkeiten und Bindungsliga‐ turen kein ultimum refugium mehr, kein Territorium, das orientierende Sinn‐ einbettungen menschlichen Handelns bietet, als Schutzraum gelten, Halt, Si‐ cherheit und Unversehrtheit garantieren kann. Das Gefühl von Sicherheit und Stabilität als psychisches Wohlbefinden ist deshalb nur ein Wunschdenken und kann höchstens in der Vorstellung existieren. Bibliographie Roman Hernicz, Z pamiętnika żołnierza wielkiej wojny. Nowele i szkice [Aus dem Tagebuch eines Soldaten des Großen Krieges. Novellen und Skizzen - P. Z.], Księgarnia „Stella” [Buchhandlung „Stella”], Cieszyn, 1915. Roman Hernicz, Ten trzeci… [Der Dritte - P. Z.], in: ders., Z pamiętnika żołnierza wielkiej wojny. Nowele i szkice [Aus dem Tagebuch eines Soldaten des Großen Krieges. Novellen und Skizzen - P. Z.], S. 61-69. Juliusz Kaden Bandrowski, Łuk [Der Bogen - P. Z.], Towarzystwo Wydawnicze w Wars‐ zawie [Verlagsgesellschaft in Warschau], Warszawa, 1919. Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 4. Aufl., Carl-Auer Verlag, Heidelberg, 2008. Józef Nawrocki, Do ziemi obiecanej [Ins gelobte Land - P. Z.], in: Widziały to sępy i kruki. Wybór nowel wojennych, z przedmową Stanisława Lama [Geier und Raben haben es gesehen. Kriegserzählungen. Auswahl, mit einem Vorwort von Stanislaw Lam - P. Z.]. Hrsg. von Drukarnia i Księgarnia św. Wojciecha [St. Adalbert-Druckerei und Buch‐ handlung], Poznań, 1916, S. 41-58. 161 Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg Ernst Piper, Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Propyläen, Ull‐ stein, Berlin, 2013. Niels Werber / Stefan Kaufmann / Lars Koch (Hrsg.): Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaft‐ liches Handbuch, J. B. Metzler, Stuttgart / Weimar, 2014. Paweł Zimniak, „1914: ‚Aufputschmittel‘ Krieg”, in: Kwartalnik Neofilologiczny 1, 2015, Polska Akademia Nauk / Wydział I Nauk Humanistycznych i Społecznych [Polnische Akademie der Wissenschaften, Abteilung I: Geistes- und Sozialwissenschaften], War‐ szawa, S. 27-41. Paweł Zimniak, Großer Krieg kleiner Leute. Perspektivierungen des Ersten Weltkriegs in der polnischen Literatur 1914-1920, Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen, 2016. Paweł Zimniak, „Verschwundener Staat. Zur Erfahrung des Ersten Weltkriegs in der pol‐ nischen Literatur 1914-1919“, in: Hans-Heino Ewers (Hrsg.): Erster Weltkrieg: Kind‐ heit, Jugend und Literatur: Deutschland, Österreich, Osteuropa, England, Belgien und Frankreich. (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien; Band 104), Peter Lang, Frankfurt am Main, 2016, S. 213-228. Stefan Żeromski, Charitas, Towarzystwo Wydawnicze w Warszawie / Drukarnia Nau‐ kowa [Verlagsgesellschaft in Warschau / Wissenschaftliche Druckerei], War‐ szawa / Kraków, 1919. 162 Paweł Zimniak 1 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1987. 2 Exemplarisch sind hier folgende Werke zu nennen: Gerhard Neumann, „Androgynie und Inzest. Robert Musils Theorie der Liebe“, in: Hans Weichselbaum (Hrsg.), Andro‐ gynie und Inzest in der Literatur um 1900, Müller, Salzburg, 2005, S. 151-180; Judith Burckhardt, „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil oder das Wagnis der Selbst‐ verwirklichung, Francke, Bern, 1973. Den aktuellsten Überblick bietet Birgit Nübels Eintrag im Musil-Handbuch: Birgit Nübel, „Sexualität und (Geschwister-)Liebe“, in: dies. / Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Robert Musil Handbuch, Walter de Gruyter, Berlin / Boston, 2016, S. 622-630. Die heiligen Gespräche in Der Mann ohne Eigenschaften als erotische Vereinigung Elisa Meyer (Wien) Das größte Rätsel in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften  1 ist nach wie vor die Beziehung zwischen Bruder und Schwester, Ulrich und Agathe. Musil-For‐ scher werden nicht müde, diese in immer neuen Interpretationsversuchen zu beleuchten. 2 Es besteht allgemein ein gewisser Konsens, dass Musil hier keinen Inzest beschreibt, sondern lediglich dessen Möglichkeit andeutet. Diese Inter‐ pretation wird in diesem Beitrag widerlegt. Es handelt sich bei der Beziehung nicht um ein rein platonisches Gedankenspiel, sondern um eine der erotischsten Darstellungen einer Beziehung in der Literatur der Moderne. Die heiligen Gespräche Zu Beginn wird die Textstelle betrachtet, auf die wir uns exemplarisch stützen, und die in der Sekundärliteratur immer wieder herangezogen wird. Es handelt sich dabei um die zwei Kapitel, die Musil unter dem Titel „Heilige Gespräche“ zusammengefasst hat. Das erste Kapitel heißt „Beginn“, das zweite „Wechsel‐ voller Fortgang“. Das erste Kapitel beginnt mit einer Beschreibung des Ablaufs dieser Gespräche. Die Metadarstellung deutet darauf hin, dass die Form der Ge‐ spräche von Bedeutung ist. Agathe stellt immer zuerst eine Frage persönlicher Natur. Sie ist von einem Drang nach Befreiung getrieben und Musil spart nicht mit metaphorischen Andeutungen auf Agathes Ähnlichkeit mit dem Feuer („un‐ 3 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 746. 4 Ebd., S. 747. 5 Ebd., S. 748. 6 Ebd., S. 749. 7 Vgl. ebd. gezügeltes Verlangen, ihren Mann zu beseitigen“, „Agathes Gemüt suchte nach einer anderen Möglichkeit, frei zu brennen.“ 3 ). Ulrich beantwortet die Fragen stets in Bezug auf die Moral und hält meistens kurz vor einem Beschluss oder einer Tat inne, was Agathe wiederum frustriert. Ulrich macht aus den persön‐ lichen Fragen also eine Art moralische Geschichte, ohne daraus konkrete Kon‐ sequenzen für sich und seine Schwester zu ziehen. „[…] aber dann, wenn sie aufhörten und schwiegen, kam eine viel aufgeregtere Spannung in ihre Ge‐ sichter.“ 4 Dieser Satz birgt den zentralen Hinweis auf die Ebene, die hier neben den verbalen Gesprächen zu beachten ist. Mimik und Gestik der Kommunizier‐ enden verraten mehr über das Geschehen als das offen Ausgesprochene. Die Körpersprache wird von Musil literarisch inszeniert. In diesen zwei Kapiteln ist die Verbindung von Logos und Eros besonders bemerkenswert, etwa wenn Ul‐ rich von der Moral spricht: „Unsere Moral ist die Auskristallisation einer inneren Bewegung, die von ihr völlig verschieden ist! Von allem, was wir sagen, stimmt überhaupt nichts! “ 5 Damit relativiert Ulrich das Gesprochene. Es erzeugt zudem offenbar eine besondere erotische Spannung, das innere Gefühl nicht zu äußern, also das Begehren zwischen den Geschwistern im Dunkeln zu lassen. Wie im Zitat angedeutet verändert sich das innere Gefühl, sobald es ausgesprochen wird. Um dies zu vermeiden, macht Musil das Gefühl im Text sichtbar, ohne dass es von den Geschwistern ausgesprochen wird. Damit entstehen zwei parallele Kommunikationsebenen, die sich in den zwei Kapiteln auf komplexe Art und Weise beeinflussen. Das erotische Verlangen manifestiert sich auf körperlicher Ebene, der intellektuelle Gedankenaustausch findet auf sprachlicher Ebene statt. Dies führt zu einem spannenden Wechsel‐ spiel zwischen Gedanken, Gesprochenem, Gesten und Gefühlen: „Der Zustand, in den die beiden auf diesen Wegen gerieten, trieb im Kreis, wie es eine Strömung vor einer Sperre tut, an der sie hochsteigt.“ 6 Dieser Prozess wird etwa durch eine einfache Geste angetrieben, als Agathe den Arm um Ulrich legt. Diese Geste wird als ungewohnte Zärtlichkeit be‐ schrieben. 7 Der Körper erhebt sich an dieser Stelle (und an vielen anderen Stellen) zu einer eigenständigen Instanz: „Seine Schulter empfand schon an der ruhenden Gewichtsverteilung die Schönheit ihres Arms, und an der Seite, die seiner Schwester zugewandt war, fühlte er schattenhaft die Nähe ihrer blonden 164 Elisa Meyer 8 Ebd., S. 749 f. 9 Ebd. 10 Zur Analyse früherer Entwürfe ist Walter Fantas Werk zu empfehlen: Walter Fanta, Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, Drava, Klagenfurt, 2015. 11 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 807. Achselhöhle […].“ 8 Die Schönheit und die intime Nähe des Armes der Schwester deuten ein erotisches Ahnen des nackten Körpers an. Ulrich kann sich nicht gegen diese Empfindung wehren, da sie automatisch von seinem eigenen Leib registriert wird. Diese Berührung versucht Ulrich mit einer eigenen Bewegung zu überdecken. Dabei äußert er ungehalten: „Weißt du, es ist etwas kindisch, was wir da reden. Die Welt ist voll tätiger Entscheidung, und wir sitzen da und reden in fauler Üppigkeit […]“. 9 Diese Gereiztheit bezieht sich nicht nur auf die moralische Unterhaltung, sondern vor allem auf die zarte Berührung, die den Anfang einer Tat darstellen könnte, die aber nie ausgeführt wird. In der Ge‐ reiztheit kann man die Dualität verorten, die Ulrichs Gefühl zu seiner Schwester prägt. Einerseits spürt er ein direktes Verlangen nach ihr, andererseits schreckt er aus moralischen und rationalen Gründen zurück. Als Agathe ihm körperlich noch näher kommt, gesteht Ulrich, dass er sich mit den Schriften der Mystiker beschäftigt. Es scheint, als müsse er die erotische Spannung im Logos, also im Wort sublimieren. Je aufgeladener die Stimmung ist, desto tiefgründigere Aus‐ sagen kommen zustande. Musil beschreibt im Mann ohne Eigenschaften niemals den Geschlechtsver‐ kehr, sondern deutet ihn nur an. Der Prozess von den ersten Romanentwürfen hin zum Original ging mit einer starken Sublimierung der Sprache einher. Damit nivellierte er alle Darstellungen von Gewalt und Sex. 10 Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Elemente nicht mehr vorhandenwären. In späteren Kapiteln wird die körperliche Interaktion zwischen Bruder und Schwester immer enger, das Eindringen in die Sphäre des Anderen wird immer deutlicher. Ulrich erinnert sich an anderer Stelle: „Die Vermutung, daß bei gesteigerter Empfänglichkeit ein Über- und Zurückquellen der Erlebnisse entstehen könne, das die Sinne grenzenlos und weich wie ein Wasserspiegel mit allen Dingen verbinde […]“. 11 Genau diese Empfänglichkeit wird erreicht, und nicht nur die einzelnen Sinne, sondern der gesamte Leib als eigener Sinn zersetzt die Trennung zwi‐ schen Ich und Anderem. Diese Verschmelzung erfährt ihren Höhepunkt in den unvollendeten Teilen, wird aber an zahlreichen Stellen im ersten Teil ange‐ deutet: Eine erotisch aufgeladene Spannung entsteht in folgender Szene, als Agathe in einem verklärten Augenblick Ulrich im Schlafanzug „Engel“ nennen will: 165 Die heiligen Gespräche in Der Mann ohne Eigenschaften 12 Ebd., S. 942. 13 Ebd., S. 1657. Und Agathe dachte: „Ein Mann im Schlafanzug sieht nicht wie ein Engel aus! “ Aber er sah wild und breitschultrig aus, und sie schämte sich plötzlich für den Wunsch, daß dieses von Haaren umhangene mächtige Gesicht ihre Augen verfinstern möge. Sie war in einer körperlich-unschuldigen Weise sinnlich erregt geworden; ihr Blut ging in heftigen Wellen durch den Leib und breitete sich, alle Kraft dem Inneren nehmend, in die Haut aus. Da sie nicht ein so fanatischer Mensch war wie ihr Bruder, fühlte sie, was sie fühlte. Wenn sie zärtlich war, war sie zärtlich; nicht gedankenhell oder mo‐ ralisch erleuchtet, obwohl sie es an ihm ebenso liebte wie scheute. 12 Die Erotik ist dieser Passage immanent. Es wird deutlich, dass Agathe leichter als Ulrich dazu in der Lage ist, die erotische Spannung im eigenen Leib zu emp‐ finden und zu akzeptieren. Die moralisch-gedankliche Sphäre, in der Ulrich sich meistens bewegt, verhindert anfangs noch diese Art des ursprünglichen Emp‐ findens. Der Höhepunkt und die Erfüllung des erotischen Verlangens werden in der folgenden Passage erzählt: Agathe lehnte halb ohnmächtig an Ulrichs Brust. Sie fühlte sich in diesem Augenblick von ihrem Bruder in einer so weiten, stillen und reinen Weise umarmt, daß es nichts Ähnliches gab. Ihre Körper bewegten sich nicht und wurden nicht verändert, dennoch floß ein sinnliches Glück durch sie, dessengleichen sie noch nie erlebt hatten. Eine seltsame, ganz übernatürliche Annehmlichkeit. Das war kein Gedanke und keine Ein‐ bildung! Wo immer sie sich berührten, sei es an den Hüften, den Händen oder einer Strähne Haars, drangen sie ineinander ein. Sie waren beide in diesem Augenblick überzeugt, daß sie den Scheidungen des Menschentums nicht mehr untertan seien. […] Sie waren untergegangen in diesem alles ausfüllenden Feuer; waren schwimmend darin wie in einem Meer von Lust, und fliegend darin wie in einem Himmel von Entzücken. 13 Da es den Geschwistern von außen verboten ist, sich zu vereinigen, entsteht eine gesteigerte Spannung und Glückseligkeit in den Momenten, in denen sie sich berühren. Alle Wahrnehmungskanäle sind in der Kommunikation mitei‐ nander sexuell aufgeladen, wie wir in den Beispielen gesehen haben. Damit wird der Leib als Ganzes zum Sexualorgan. Der Akt wird bereits in den zahlreichen Verschmelzungen während der ‚unschuldigen‘ Berührungen vollzogen, da es 166 Elisa Meyer 14 Deshalb ist die Vereinigung der Geschwister auch schon im ersten, fertig gestellten Teil festzustellen. Das letzte Beispiel aus dem Nachlass wurde hinzugezogen, damit die vollständige Vision Musils von der Vereinigung deutlicher wird und auch schon im ersten Teil wiedererkannt werden kann. 15 Eine unterhaltsame Beschreibung liefert Thomas Laqueur in seinem Kapitel „Orgasmus und Begehren“. „Zwar sind die Genitalien der sensibelste Anzeiger für die Gegenwart von Residuen, […] aber der Koitus ist eine generalisierte Reibung, die in einem körper‐ lichen Feuersturm kulminiert. Geschlechtsverkehr und Orgasmus sind das letzte Sta‐ dium […]. Das Aneinanderreiben von Organen oder auch schon ihr imaginiertes Strei‐ cheln während eines erotischen Traums lässt auf dem Weg durch die Blutgefäße Wärme sich durch den ganzen Körper hin verteilen“ (Thomas Laqueur / Jochen H. Bussmann, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Campus, Frankfurt am Main, 1992, S. 61). 16 Vgl. Thomas Pekar, Die Sprache der Liebe bei Robert Musil, W. Fink, München, 1989, S. 277. 17 Ebd. 18 Vgl. Robert Musil, Tagebücher, Bd. 1, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1983, S. 616 f. Musil zitiert an dieser Stelle Klages. Vgl. Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros, Günther, Stuttgart, 1951. hier um die ‚Einverleibung‘, also den Durchbruch zu und Kontakt mit dem an‐ deren Menschen geht. 14 Sexuelles Verlangen wird schon bei den alten Griechen als ganzkörperliches Ereignis dargestellt. Die Reduktion der Sexualität auf die primären Geschlechts‐ organe ist ein relativ rezentes Phänomen. 15 Thomas Pekar bemerkt ganz richtig, dass die erotische Vereinigung, die hier stattfindet, einem anderen, ursprüng‐ licheren Liebesideal folgt. Er vergleicht das neue Ideal Musils mit dem indischen Tantrismus. 16 Auch hier ist das oberste Ziel die Verschmelzung, bei der das Ge‐ schlechtliche als Dualismus aufgehoben wird. Interessanterweise wird dieser Zustand durch die Zurückhaltung der Ejakulation erzielt, was zu einer „Eroti‐ sierung des ganzen Körpers“ führt. 17 Dieser Zustand trägt also nicht mehr die Erotik des Begehrens in sich, sondern die Erotik der Zärtlichkeit. Das führt zu einem ruhenden Zustand, wie er auch im obigen Zitat beschrieben wird. Die Beziehung zwischen Ulrich und Agathe ist in diesem Moment zweckfrei und frei von jeglichen Begierden, dafür ist sie unendlich und maßlos. Man kann mit Musil von einer „Urform“ der sexuellen Begegnung sprechen. 18 Ulrich und Agathe unterhalten sich folgendermaßen zum Thema Erotik der Zärtlichkeit: „Wahrscheinlich verändert sich in den Jahren der Geschlechtsreifung unsere Eigen‐ liebe“ sagte er ohne Übergang. „Denn da wird eine Wiese von Zärtlichkeit, in der man bis dahin gespielt hat, abgemäht, um Futter für einen bestimmten Trieb zu gewinnen.“ „Damit die Kuh Milch gibt! “ ergänzte Agathe […]. „Es gibt also einen Augenblick, wo unser Leben fast alle seine Zärtlichkeit verliert, und diese zieht sich auf jene einzige 167 Die heiligen Gespräche in Der Mann ohne Eigenschaften 19 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 901. 20 Vgl. Nicola Mitterer, Liebe ohne Gegenspieler. Androgyne Motive und moderne Geschlech‐ teridentitäten in Robert Musils Romanfragment „Der Mann ohne Eigenschaften“, Leykam, Graz, 2007, S. 197. 21 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 754. 22 Ebd., S. 755. 23 Ebd., S. 754 f. Ausübung zusammen, die dann damit überladen bleibt: Kommt dir das nicht auch so vor, als ob überall auf der Erde eine entsetzliche Dürre herrschte, während es an einem einzigen Ort unaufhörlich regnete? ! “ 19 Die These hier besteht darin, dass diese Zärtlichkeit ursprünglich jedem Men‐ schen zu eigen ist, um dann von der Gesellschaft in patriarchalen Strukturen instrumentalisiert zu werden. 20 Mit der Befreiung von diesen kann sie jedoch wieder erweckt werden. Der zärtliche Ausdruck in Form von Gesten ist ein‐ deutig in den zwei Kapiteln festzustellen. Verschmelzung im Sinne der Phänomenologie Um den Text objektiv zu betrachten, ohne jedoch wesentliche erotische Kom‐ ponenten zu missachten, eignet sich die Methode der Phänomenologie beson‐ ders gut. Mit ihr können die verschiedenen Elemente der literarischen Beschrei‐ bung in Einzelteile zerlegt und ihre gegenseitige Wirkweise genau beschrieben werden. Mit dieser Methode lassen sich die „Heiligen Gespräche“ entschlüsseln. Es sind zuerst unterschiedliche Ebenen festzumachen: emotionale Regung, ra‐ tionales Gespräch, leibliche Kommunikation. Diese Ebenen werden teilweise vom Erzähler, teilweise von den Protagonisten selbst beschrieben. Beispiels‐ weise beendet Ulrich einen kurzen Monolog mit folgendem Satz: „Es ist ewig schade, daß keine exakten Forscher Gesichte haben! “ 21 Agathe forscht darauf hin nach, ob er es prinzipiell für möglich hielte. „Ich weiß es nicht; vielleicht könnte es mir geschehen! “ 22 Dieser Aussage lässt er ein Lächeln folgen, laut dem Erzähler um das soeben Gesagte zu relativieren. Allerding lächelt jetzt auch Agathe, denn ihr gefällt dieses Eingeständnis: „[…] sie schien nun die Antwort zu haben, nach der es sie gelüstete, und ihr Gesicht spiegelte den kleinen Au‐ genblick ratloser Enttäuschung wider, der auf das plötzliche Aufhören einer Spannung folgt.“ 23 Allein in diesem kurzen Abschnitt haben wir ein komplexes Zusammenspiel der erwähnten Ebenen von emotionaler Regung und leiblicher Kommunikation: Agathe hört aus Ulrichs Mund endlich das, was sie schon länger erwartet und erwünscht hatte. Das geht mit einer Mimik der Befriedigung einher. Ulrich sieht 168 Elisa Meyer 24 Ebd., S. 770. 25 Diese ist vor allem in seinem Hauptwerk Die Phänomenologie der Wahrnehmung zu finden. (Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Walter de Gruyter, Berlin, 1974). 26 Merleau-Ponty spricht immer von Leib im Gegensatz zum Körper, um die Lebendigkeit des menschlichen Körpers zu betonen. sich hier verbal zu einem Schluss gedrängt, der ihm selbst nicht ganz geheuer ist, und auf den er sich vorerst noch nicht festlegen will, daher sein Lächeln. Mit dem Aussprechen eröffnet sich jedoch ein weiter Raum an Möglichkeiten, näm‐ lich Versuche, diese Visionen oder diesen anderen Zustand selbst zu erleben. Wir können hier den Übergang von Gedanken über die Sprache zur Tat be‐ obachten. Denn beide Geschwister wollen etwas Außergewöhnliches erleben, das verrät der Leib (Agathes Leib noch mehr als Ulrichs). Die Weichen dazu werden jedoch zuerst verbal gestellt, der Tat geht das Wort voraus. Das zweite Kapitel schließt mit einem sehr wichtigen Ausspruch Ulrichs: [I]ch werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht. Ob ich davon zum Leben geweckt werde oder nicht. Ob bloß meine Zunge davon redet und mein Gehirn oder der strahlende Schauder in meiner Fingerspitze. 24 Der metaphorische oder wortwörtliche „Schauder in der Fingerspitze“ wird von Musil an vielen Stellen eingesetzt. Betrachtet man Musils Werk als phänome‐ nologische Schrift, kann man die allmähliche Entfaltung des literarischen Ge‐ schehens in den verbalen und leiblichen Gesprächen beobachten. Um die erotische Verschmelzung besser verstehen zu können, sei hier ein kurzer Exkurs in die Theorie Maurice Merleau-Pontys gegeben. 25 Er ist der erste Philosoph, der den Leib systematisch analysiert und als unabhängige Instanz im Erkenntnisprozess etabliert. Gemäß Merleau-Ponty bedeutet die Begegnung mit einem anderen Menschen automatisch das Betreten eines gemeinsamen Raumes. In der Begegnung mit einem Menschen, anders als mit einem Gegen‐ stand, beginnt der Körper sofort das Verhalten des anderen zu spiegeln und umgekehrt auch die eigene Reaktion im anderen zu suchen. Dadurch entsteht sofort eine unbewusste Kommunikation auf leiblicher Ebene. 26 Diese Kommu‐ nikation wird intensiver, sobald die Menschen miteinander interagieren, indem sie sich ansprechen, ansehen, betasten, usw. In diesem Wahrnehmungsraum, der jetzt entsteht, finden unzählige kleine gegenseitige Beeinflussungen statt, also der Austausch von Erfahrungen. Dies kann durch Sprechen, Hören, Fühlen, Riechen, Denken usw. geschehen. Grundlegend ist dabei die Intention, mit der sich zwei Menschen begegnen. 169 Die heiligen Gespräche in Der Mann ohne Eigenschaften 27 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 116. 28 Ebd., S. 218. 29 Vgl. ebd., S. 339. Dieser Vorgang lässt sich problemlos auf die Beziehungen im Mann ohne Ei‐ genschaften anwenden. Im Roman dient die Sprache als Mittel, einen engeren zwischenmenschlichen Kontakt herzustellen, ohne sich zu berühren. Sprache ist hier als transzendierte Geste zu betrachten, und wenn in einem Gespräch Harmonie herrscht, entsteht eine leibliche Verbindung und Öffnung zwischen den Menschen. Ist es wie im Fall von Ulrich und Agathe eine Begegnung auf gleicher Ebene, bei welcher der andere als gleichwertiges Subjekt angesehen wird, kann sich ein gemeinsamer Raum bilden. Dies drückt Musil im Mann ohne Eigenschaften folgendermaßen aus: Ein junger Mensch, wenn er geistig bewegt ist, […] sendet unaufhörlich Ideen in allen Richtungen aus. Aber nur das, was auf die Resonanz der Umgebung trifft, strahlt wieder auf ihn zurück und verdichtet sich, während alle anderen Ausschickungen sich im Raum verstreuen und verlorengehen. 27 Die Begierde nach Neuem spannt unzählige intentionale Fäden zwischen den kommunizierenden Geschwistern. Das Interesse zwischen den Beiden schwächt sich im Gegensatz zu Ulrichs anderen Liebschaften nie ab, da kein bestimmter Zweck erfüllt wird. Diese anderen Beziehungen Ulrichs sind durch eine Sub‐ jekt-Objekt Hierarchie geprägt. Er betrachtet seine früheren Geliebten nie als gleichwertig, sondern als Mittel zum Zweck, d. h. für die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Ein weiterer Unterschied zu Ulrichs bisherigen Begegnungen ist eine Art leibliche Synchronisierung zwischen ihm und seiner Schwester. Ulrich fühlt sich immer heimischer in Agathes Denken und umgekehrt, so dass sie irgendwann die Sätze gegenseitig beenden können: [Ulrich] begann sich danach zu sehnen, einmal mit einem Menschen zu sprechen, mit dem er ganz übereinstimmen könnte. Da werden die Worte von einer geheimen Kraft aus der Brust geholt, und keines verfehlt sein Ziel. Wenn man dagegen mit Abneigung spricht, steigen sie wie Nebel von einer Eisfläche auf. […] „Alles, was man denkt, ist entweder Zuneigung oder Abneigung! “ dachte Ulrich. Das kam ihm in diesem Au‐ genblick so lebhaft als richtig vor, daß er es wie einen körperlichen Zwang empfand, ähnlich dem berührenden Schwanken eng aneinandergeschlossener Menschen. 28 Rachel, eine andere Figur im Mann ohne Eigenschaften, vergleicht einmal Worte mit einem Schlüssel, der nur zu einer ganz speziellen, persönlichen Situation passt. 29 Dadurch, dass die Geschwister sich leiblich und intellektuell sehr nahe kommen, entsteht eine spezielle Gesprächskultur. Sie verfolgen die Gedanken‐ 170 Elisa Meyer 30 „Die Vermutung, daß bei sehr gesteigerter Empfänglichkeit ein Über- und Zurück‐ quellen der Erlebnisse entstehen könne, das die Sinne grenzenlos und weich wie ein Wasserspiegel mit allen Dingen verbinde, rief in ihm die Erinnerung an die großen Gespräche mit Agathe zurück […]“ (ebd., S. 807). Als Beispiel: „Man weiß nichts von dem Papier, man weiß nur von der Herde darauf - „Und plötzlich zerreißt das Papier! “ fiel Agathe ein.“ […] Und natürlich ist auch keine ‚Bildfläche‘ mehr da, sondern ir‐ gendwie geht alles grenzenlos in dich über.“ Nun übernahm wieder Agathe lebhaft die Beschreibung: „Jetzt brauchst du bloß statt Egoismus der Einzelheiten Egoismus der Menschen zu sagen“ (ebd., S. 762). 31 Ulrich, der sich sonst wenige Textpassagen auswendig merken kann, sieht plötzlich im Gespräch mit Agathe „ganze Satzgruppen“ vor sich stehen „und es verband sich mit seiner Schwester, die vor ihm stand, als sei es ihre Nähe, die diese Veränderung in ihm hervorrufe“ (ebd., S. 702). 32 Robert Musil, „Der deutsche Mensch als Symptom“, in: Adolf Frisé (Hrsg.), Robert Musil. Gesammelte Werke, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1978, S. 1353-1400, hier S. 1392. 33 Ebd., S. 1392 f. gänge des Anderen so genau, dass sie teilweise gar nicht mehr reden müssen, um sich zu verstehen, die Gedanken des Anderen vervollständigen sich im ei‐ genen Kopf. 30 Der gemeinsame Gesprächsraum fördert sogar das Gedächtnis. 31 Bei diesem Phänomen haben wir es mit etwas zu tun, das Musil selbst in seinen Essays theoretisch behandelt, nämlich wie sehr sich ein Mensch oder auch ein Objekt verändert, je nachdem mit welchem Blick oder mit welcher Absicht es betrachtet wird. Hier spielt also das Theorem der menschlichen Ge‐ staltlosigkeit eine Rolle. Nicht nur die kulturelle Umgebung prägt den Menschen vollkommen, sondern auch seine Kontakte zu seinen Mitmenschen. Mit fol‐ genden prägnanten Worten erklärt Musil: „Daß ein Mensch sich vollkommen verändert, je nachdem man ihn mit Sympathie oder ohne solche betrachtet, ist bekannt […]“. 32 So wundert es also nicht, dass Ulrich und Agathe in ihrer Be‐ ziehung einem ständigen Wandel unterworfen sind, weil sie sich gegenseitig formen. Musil beschreibt darüber hinaus, wie selbst leblose Gegenstände im Auge des Betrachters ihre Gestalt verändern: Ein Tonus und Duktus, eine Spannung und Färbung ändert sich an der Außenwelt je nach der Gefühlslage des Betrachters; Erfahrungen des täglichen Lebens wie die Be‐ obachtung von nervösen und mentalen Störungen scheinen es ebenso zu bestätigen wie die Beschreibungen religiöser Zustände, und an sich ist es ja auch nicht sonderlich zu verwundern, daß das Aussehen der Welt von emotionalen Faktoren abhängt, da dies doch von sensoriellen bekannt ist. 33 171 Die heiligen Gespräche in Der Mann ohne Eigenschaften 34 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 752. 35 Ebd., S. 751. Musils mystische Erotik: der andere Zustand Gehen wir nun näher auf Ulrichs Aussage ein, dass er sich mit den Lehren der Mystiker beschäftigen will. In den Büchern der Mystiker, die Ulrich liest, geht es vor allem um den anderen Zustand, den die Mystiker während einer Gottes‐ erfahrung erleben: „Es war wie eine Pein und dennoch mehr eine Süßigkeit als eine Pein zu nennen, denn es war kein Verdruß dabei, sondern eine seltsame, ganz übernatürliche Annehmlich‐ keit. Ich hatte alle meine Vermögen überstiegen bis an die dunkle Kraft. Da hörte ich ohne Laut, da sah ich ohne Licht. Dann wurde mein Herz grundlos, mein Geist formlos und meine Natur wesenlos.“ Es kam ihnen beiden vor, daß diese Worte Ähnlichkeit mit der Unruhe hätten, von der sie selbst durch Haus und Garten getrieben wurden. 34 Wie der Abschnitt zeigt, streben auch Ulrich und Agathe nach einem anderen Zustand, indem sie die „nicht-intentionale Liebesbeziehung“ bis zur letzten Konsequenz durchdeklinieren. Es geht bei diesem Zustand darum, sich im An‐ deren und in der ganzen Welt aufzulösen, die Grenzen des eigenen Ichs aufzu‐ weichen. Das Aufweichen der Grenzen zwischen Selbst und Fremdem geschieht auch im Gespräch der Geschwister: Ulrich dichtete wohl; doch das Feuer und die Festigkeit seiner Sprache hoben sich von ihrem zarten und schwebenden Inhalt metallen ab. Er schien eine Vorsicht abgeworfen zu haben, die ihn sonst beherrschte, und Agathe sah ihn erstaunt an, aber auch mit unruhiger Freude. 35 Ulrich wirft hier seine vorsichtige Haltung ab, da er sich vor Agathe verbal zu entblößen traut. Im Laufe dieser Gespräche kommen die Geschwister immer mehr von der Theorie zur Praxis. Sie integrieren die Erfahrungen der Mystiker in die eigene Beziehung und experimentieren damit im Gespräch und in der Berührung. Musil ließ sich für diese Beschreibungen von sprachlichen Ele‐ 172 Elisa Meyer 36 Bernd-Rüdiger Hüppauf hat ausführlich literarisch-mystische Elemente im Mann ohne Eigenschaften analysiert. Dies ist besonders interessant, da hier oft leibliche Erfah‐ rungen in mystischer Sprache ausgedrückt werden. Leiblichen Erlebnissen steht kein großer Wortschatz zur Verfügung. Wie beschreibt man zum Beispiel das Gefühl, an einem Ort ohne Raum und Zeit zu sein? Hüppauf gibt in diesem Kapitel Antworten auf solche Fragen. Er zeigt, wie Musil dieses sprachliche Problem zu lösen versucht (Bernd-Rüdiger Hüppauf, Von sozialer Utopie zur Mystik. Zu Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, W. Fink, München, 1971). 37 Dies ist vor allem in den „Ekstatischen Konfessionen“ von Martin Buber zu beobachten (Martin Buber, Ekstatische Konfessionen, Schneider, Heidelberg / Berlin, 1984. Erstaus‐ gabe Eugen Diederichs, Jena, 1909). 38 Musil, Tagebücher, S. 616. 39 Ebd. Musil zitiert hier wieder Klages. 40 Musil, Tagebücher, S. 166. 41 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 558. menten der mystischen Berichte inspirieren. 36 Wenn man die Beschreibungen der Mystiker genauer betrachtet, fällt auf, dass der mystische Zustand häufig sehr sexuell beschrieben wird, meistens im Bild des Eindringens oder des Auf‐ nehmens Gottes in den eigenen Körper. Es wird von einer geistigen und gleich‐ zeitig körperlichen Vereinigung berichtet, die ein durchdringendes Liebesgefühl auslöst. 37 Man muss diese gemeinsame Grundlage jedoch kennen, um sich dieser Konnotationen bewusst zu sein. Betrachten wir also nun die Ideen der Mystiker und wie Musil diese in den Mann ohne Eigenschaften integriert. Vor allem im erotischen Zustand „sind Raum und Zeit, die Trennenden, ein verbindender Ozean“. 38 Die Verschmelzung in der Erotik ist kein Gefühl, sondern „ein Offenbarwerden dessen ‚was unaufhörlich aus verborgenster Seele quillt‘. Gibt Teil am schöpferischen Geschehen.“ 39 Dass diese neue Idee der Liebe klar von der normalen Liebe zu unterscheiden ist, belegt ein Zitat aus Musils Tage‐ buch: Die beseelende Macht ist die Liebe. Nur große Erotik […] und Religion haben sie. […] Wer aus ganzer Seele liebt, fühlt sich stark genug, einen Erdball auf seiner Hand zu tragen, groß genug, Güte für das geringste Wesen zu hegen. Der Gegenstand der Liebe kann ein Wesen oder ein Werk sein. Die Liebe ist das höchste, entscheidenste Schicksal, von dem eine Seele bestimmt wird. 40 Ulrich beschreibt Liebe als folgenden grenzüberschreitenden Zustand: „Man versteht in diesem Zustand,“ sagte er „wo man aus den Grenzen tritt, die dem Verhalten sonst gezogen sind, alles, weil die Seele nur das annimmt, was zu ihr gehört“. 41 Hierzu passt auch der Ausdruck der Ektase. „Ist Liebe ein Gefühl? Ich 173 Die heiligen Gespräche in Der Mann ohne Eigenschaften 42 Ebd., S. 1130. Musil ist nicht der erste, der die Liebe als Mittel zur Ekstase sieht. Für einen kurzen anthropologischen Abriß vgl. Klaus Peter Köpping, „Ekstase“. In: Chris‐ toph Wulf (Hrsg.), Vom Menschen, Beltz, Weinheim, 1997, S. 548-567. „Im Vergleich zu dem feurigen Geist, der in die Höhe flackerte und immer danach strebte, wieder im anfänglichen Feuer Gottes aufzugehen, war das bewußte Ich ein dumpfes Ding, das durch die kalte Abwesenheit von Liebe erstarrt war.“ (ebd., S. 557). Vgl. hier auch die Analyse Annette Giesʼ des anderen Zustandes als Liebesekstase. Annette Gies, Musils Konzeption des ‚Sentimentalen Denkens‘. „Der Mann ohne Eigenschaften“ als literarische Erkenntnistheorie, Königshausen & Neumann, Würzburg, 2003. Hier das Kapitel „Das zweite Gesicht“, S. 207-224. 43 Vgl. Gies, Musils Konzeption, S. 186 f. Gies unterscheidet zwischen orgiastischer und kontemplativer Ekstase und verbindet Musil mit Klages‘ Werk Vom kosmogonischen Eros. 44 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 558 f. glaube nein. Liebe ist eine Extase.“ 42 Dabei ist zu beachten, dass es verschiedene Arten der Ekstase gibt. Hier gemeint ist die höchste Form der Ekstase, in welcher das Ich untergeht und wieder auftaucht. 43 Ulrich redet von einer inneren Tätig‐ keit, welche durch die Liebe angeregt wurde. Diese Tätigkeit wird beschrieben, wie folgt: Und ein lebloses Ding erkennen, heißt nicht, seine Eigenschaften eine nach der an‐ deren auszuspähen, sondern es heißt, daß ein Schleier fällt oder eine Grenze aufge‐ hoben wird, die der wahrnehmbaren Welt nicht angehören. Auch das Leblose tritt, unbekannt wie es ist, aber voll Vertrauen, in die Kameradschaft der Liebenden ein. Die Natur und der eigentümliche Geist der Liebenden blicken einander in die Augen; es sind das zwei Richtungen der gleichen Handlung, es ist ein Fließen in zwei Rich‐ tungen und ein Brennen von zwei Enden. Und einen Menschen oder ein Ding ohne Beziehung zu sich zu erkennen, das ist dann überhaupt nicht möglich; denn Kenntnis nehmen, das nimmt etwas von den Dingen, sie behalten ihre Gestalt, aber scheinen darin zu Asche zu zerfallen, es verdunstet etwas von ihnen, und es bleiben nur ihre Mumien. Darum gibt es auch keine Wahrheit für Liebende; sie wäre eine Sackgasse, ein Ende, der Tod des Gedankens, der, solange er lebt, dem atmenden Rand einer Flamme gleicht, daran Licht und Dunkel Brust an Brust liegen. Wie kann etwas ein‐ zelnes einleuchten, wo alles leuchtet? ! Wozu das Almosen der Sicherheit und Ein‐ deutigkeit, wo alles eine Überfülle ist? 44 Es gibt in diesem Zustand keine zwei Seiten einer Realität mehr, kein Du und Ich, denn es gibt keine Grenzen mehr. „Es ist ein Brennen von zwei Enden“ - das ist in diesem Abschnitt die Kernaussage. In den „Heiligen Gesprächen“ können wir das Entfachen dieses Feuers zwischen Ulrich und Agathe be‐ obachten. Der Dialog zwischen den Geschwistern ist bereits der erste Schritt zur 174 Elisa Meyer 45 Ebd., S. 940. 46 Pekar macht sehr übersichtlich den Unterschied zwischen dem üblichen gesellschaft‐ lichen Liebesdiskurs und Musils neuem Konzept deutlich. In seinem Kapitel „Unterwegs zu einer neuen Sprache der Liebe“ schreibt er: „Musil konfrontiert die gesellschaftliche Liebesordnung mit den Ansprüchen einer gesteigerten Sensibilität, die sich nicht mit den herkömmlichen Liebeseinrichtungen […] bescheidet, sondern eine Liebe sucht und erfindet, die sich den gesellschaftlichen Fassungen, die allesamt als Deformationen be‐ griffen werden, entzieht.“ (Pekar, Sprache der Liebe, S. 265 f.). mystischen Verschmelzung, er ist gleichzeitig die theoretische Thematisierung und die praktische Ausübung des Wunsches nach Verschmelzung. Erotik und Gesellschaft Um das revolutionäre Potential von Musils Erotik noch besser zu verstehen, ist ein Blick auf die zugrundeliegende Kritik am gewöhnlichen Beziehungsmodell zu werfen. Wenden wir uns der theoretischen Thematisierung von Liebe bei Musil zu: „Vielleicht macht es dir nur Spaß,“ gab Agathe zur Antwort „Bruder und Schwester zu spielen, weil du vom Mann und Frau Spielen übergenug hast? ! “ „Auch“ sagte Ulrich und sah ihr zu. „Die Liebe ist ursprünglich ein einfacher Annäherungstrieb und Greif‐ instinkt. Man hat sie in die zwei Pole Herr und Dame zerlegt, mit irrsinnigen Span‐ nungen, Hemmungen, Zuckungen und Ausartungen, die dazwischen entstanden sind. Wir haben von dieser aufgeschwollenen Ideologie heute genug, die fast schon so lä‐ cherlich ist wie eine Gastrosophie. Ich bin überzeugt, die meisten würden es gern sehn, wenn diese Verbindung eines Hautreizes mit dem gesamten Menschentum wieder rückgängig gemacht werden könnte, Agathe! Und bald oder später kommt ein Zeit‐ alter schlichter sexueller Kameradschaft herauf, wo Knabe und Mädchen ein‐ trächtig-verständnislos vor einem alten Haufen zerbrochener Triebfedern stehen werden, die früher Mann und Frau gebildet haben! “ 45 Musils radikale Entlarvung wirkt hier fast schon revolutionär, wenn er Ulrich von „schlichter sexueller Kameradschaft“ sprechen lässt. Er betont, wie sinnlos die Spannungen und Ausartungen im Werben um das andere Geschlecht sind, wie verfahren. Der Wunsch, den er Ulrich hier in den Mund legt, umfasst eine pragmatische Herangehensweise an den sexuellen Trieb auf der einen Seite und eine Dekonstruktion der Geschlechterrollen auf der anderen Seite. Er löst die Bereiche der Sexualität, der Beziehungen und der Emotionen voneinander. Musil dekonstruiert also das herrschende Liebesideal, welches alle drei Bereiche ver‐ bindet, und setzt stattdessen ein neues Konzept, das er an den Geschwistern ausprobiert. 46 In dieser Erotik der Kontemplation entfallen jegliche Erwartungs‐ 175 Die heiligen Gespräche in Der Mann ohne Eigenschaften 47 Weiter sagt er: „Es ist im Grunde nebensächlich, ob diese Liebe tatsächlich zum Inzest führt oder nicht. Wichtig ist allein, daß die Geschwister sich bewußt außerhalb aller bürgerlicher Normen stellen, weil sie deren Relativität erkannt haben. Ihr unkonven‐ tionelles Leben läßt sich nicht mit herkömmlichen moralischen Maßstäben messen, da es die Grundlage für den Versuch bildet, neue Formen des menschlichen Zusammen‐ lebens zu entwickeln.“ (Hüppauf, Von sozialer Utopie zur Mystik, S. 142 f.). 48 Georges Bataille, Der heilige Eros, Luchterhand, Darmstadt, 1963, S. 329: „[…] die Erotik, vielleicht die intensivste Emotion, ist für uns, insofern unsere Existenz in uns als Sprache (als Rede) gegenwärtig ist, nur so vorhanden, als gäbe es sie nicht.“ Für die Situation zwischen den Geschwistern stimmt diese Aussage. Keiner der beiden spricht über die erotischen Gelüste, dafür flammen sie umso mehr im Verborgenen auf. Vgl. außerdem das Kapitel „Das Rätsel des Inzests“. 49 Vgl. Pekar, Sprache der Liebe, S. 278 f. haltungen. Wie wir gesehen haben, liegt die mystische Vereinigung jenseits jeglicher Instrumentalisierung des Gegenübers. Die Bedeutung des Inzests ist hier nicht zu vernachlässigen. Durch die Dar‐ stellung der neuen Erotik zwischen Bruder und Schwester übt Musil auch eine scharfe Gesellschaftskritik: Die Liebe wird zu einem Mittel, Konventionen zu sprengen, und sie bietet die Mög‐ lichkeit zur schärfsten Form von Provokationen; denn die moralischen Maßstäbe werden in keinem Bereich der bürgerlichen Gesellschaft so streng gehandhabt wie gerade im erotischen und sexuellen. Der Angriff auf bürgerliche Lebensformen zeigt sich daher nirgendwo so offensichtlich und erregt nirgendwo so heftige Reaktionen wie in der Mißachtung der Monogamie, des Inzestverbotes oder ähnlicher als natur‐ notwendig definierter gesellschaftlicher Verhaltensweisen. 47 Das Inzestverbot wird hier also probehalber gebrochen, um die Geschwister von geläufigen Beziehungsmodellen zu befreien. In der Auseinandersetzung mit dem eigentlichen sexuellen Akt entsteht eine Intensität der Erotik, die bei einer so‐ fortigen Erfüllung nie entstanden wäre. Auch Georges Bataille ist der Meinung, dass die Ausgangslage einer inzestuösen Beziehung förderlich für den eroti‐ schen Austausch ist. Denn die Erotik in seinem Sinn kann nur in Ausnahmesi‐ tuationen gedeihen, sie entfacht sich am Geheimen und Verbotenen: „Sie kann nicht öffentlich sein.“ 48 Musil sprengt jegliche gesellschaftliche Codierung und Ordnung. 49 Er zeigt nicht nur eine erotische Verbindung zwischen Schwester und Bruder, sondern löst im Prozess der Annäherung auch die Rollen von Mann und Frau auf. Das geschlechtliche „Gebaren“ beider Figuren nähert sich immer mehr aneinander an, bis zu einer Verschmelzung von zwei androgynen Gestalten. Der Ge‐ schlechtsakt wird außerdem nicht in einem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen vollzogen, es findet kein Sex im üblichen Sinne statt. Stattdessen findet 176 Elisa Meyer 50 Vgl. Hüppauf, Von sozialer Utopie zur Mystik, S. 139. 51 Ebd., S. 134 f. eine Verschmelzung auf leiblicher und seelischer Ebene statt, die für die meisten Menschen unverständlich und dafür umso provokanter ist. Ich stimme mit Hüppauf überein, wenn er sagt, die Gespräche und Refle‐ xionen zielten darauf, den Menschen und die Gesellschaft planvoll weiterzu‐ entwickeln 50 : [S]o will Ulrich einen Weg erkunden, wie das Zusammenleben aller Menschen wieder harmonisch werden könnte. Seine Gedankenexperimente sind der Versuch, die Eman‐ zipation des Einzelnen zu fördern und Modelle für die Veränderung der Gesellschaft zu liefern. 51 Fazit Musil als Meister der subtil erotischen Darstellungsweise entwirft in den Kapi‐ teln „Heilige Gespräche“ ein spannungsgeladenes erotisches Vorspiel zu einem Höhepunkt, der nie stattfindet. Stattdessen beschreibt er eine neue Art von Eks‐ tase oder Trance, die er in Verbindung mit den Mystikern des Mittelaltersent‐ wickelt. Im Gespräch zwischen Ulrich und Agathe findet eine Vereinigung statt, bei der es zwar nicht zum Geschlechtsakt kommt, in der aber eine geistige, leib‐ liche und intellektuelle Durchdringung des jeweils Anderen stattfindet. Her‐ vorstechend ist die Erhebung der ‚platonischen‘ Erotik der Verschmelzung über den eigentlichen Geschlechtsakt als reine Triebabfuhr. Bibliographie Georges Bataille, Der heilige Eros, Luchterhand, Darmstadt, 1963. Martin Buber, Ekstatische Konfessionen, Schneider, Heidelberg / Berlin, 1984 (Erstausgabe Eugen Diederichs, Jena, 1909). Walter Fanta, Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans „Der Mann ohne Eigen‐ schaften“ von Robert Musil, Drava, Klagenfurt, 2015. Annette Gies, Musils Konzeption des ‚Sentimentalen Denkens‘. „Der Mann ohne Eigen‐ schaften“ als literarische Erkenntnistheorie, Königshausen & Neumann, Würzburg, 2003. Bernd-Rüdiger Hüppauf, Von sozialer Utopie zur Mystik. Zu Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, W. Fink, München, 1971. Klaus Peter Köpping, „Ekstase“, in: Christoph Wulf (Hrsg.), Vom Menschen, Beltz, Wein‐ heim, 1997, S. 548-567. 177 Die heiligen Gespräche in Der Mann ohne Eigenschaften Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros, Günther, Stuttgart, 1951. Thomas Laqueur / Jochen Bussmann, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Ge‐ schlechter von der Antike bis Freud, Campus, Frankfurt am Main, 1992. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Walter de Gruyter, Berlin, 1974. Nicola Mitterer, Liebe ohne Gegenspieler. Androgyne Motive und moderne Geschlechter‐ identitäten in Robert Musils Romanfragment „Der Mann ohne Eigenschaften“, Leykam, Graz, 2007. Robert Musil, „Der deutsche Mensch als Symptom“, in: Adolf Frisé (Hrsg.), Robert Musil. Gesammelte Werke, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1978, S. 1353-1400. Robert Musil, Tagebücher, Bd. 1, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1983. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1987. Gerhard Neumann, „Androgynie und Inzest. Robert Musils Theorie der Liebe“, in: Hans Weichselbaum (Hrsg.), Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900, Müller, Salz‐ burg, 2005, S. 151-180. Birgit Nübel, „Sexualität und (Geschwister-)Liebe“, in: dies. / Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Robert Musil Handbuch, Walter de Gruyter, Berlin / Boston, 2016, S. 622-630. Thomas Pekar, Die Sprache der Liebe bei Robert Musil, W. Fink, München, 1989. Anja Elisabeth Schoene, „Ach, wäre fern was ich liebe! “. Studien zur Inzestthematik in der Literatur der Jahrhundertwende (von Ibsen bis Musil), Königshausen & Neumann, Würzburg 1997. 178 Elisa Meyer 1 Mel Gordon, Sündiges Berlin. Die Zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang, übers. von Andreas Diesel, Index-Verlag, Wittich, 2011. 2 Karl Toepfer, „Perverse Erotik und die Vision der ekstatischen Stadt“, in: Gabriele Dietze / Dorothea Dornhof (Hrsg.), Metropolenzauber. Sexuelle Moderne und urbaner Wahn. Kulturen des Wahnsinns, Böhlau, Köln / Wien, 2014, S. 317-344, hier S. 319. 3 Die Referenz wird in allen ausgewählten Texten hergestellt, indem das Toponym ‚Berlin‘ genannt und die Stadt als Handlungsraum konstituiert wird. Zur Komplexität der nicht ganz unumstrittenen räumlichen Referentialisierung literarischer Texte siehe: Barbara Piatti, Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphant‐ asien, 2. Aufl., Wallenstein, Göttingen, 2009 [erste Aufl., 2008]. Sinn und Sinnlichkeit Berlins Zur Verortung von Sexualität und Erotik in ausgewählten Romanen der Weimarer Republik Marlene Frenzel (Potsdam) Mit dem Titel Sündiges Berlin: Die zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang legte Mel Gordon 2011 einen Band vor, der die Bedeutung von Sexualität und Erotik in der damaligen Hauptstadt auf bildreiche Art und Weise illustrierte 1 : Die Liberalisierung dieser Themen nach dem Zusammenbruch des Kaiser‐ reiches und der damit zusammenhängenden Demokratisierung Deutschlands war an keinem anderen Ort so deutlich spürbar wie in der boomenden Kultur‐ metropole Berlin - hier vollzog sich der „Triumph der sexuellen Moderne der Weimarer Republik“. 2 Literarische Werke können als kulturelle Selbstreflexion dazu Bezüge herstellen, indem durch die Imagination möglicher Handlungen zu derartigen sozialgeschichtlichen Phänomenen Probehandeln dargestellt sowie Semantisierungen vorgenommen werden. Somit können sie als fiktionales Deu‐ tungsangebot für Wirklichkeitsphänomene jeglicher Art fungieren, indem sie eine gewisse Referentialisierung - hier auf die Stadt Berlin - aufweisen. 3 Zu 4 Zur Begriffsverwendung: „In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Liebe als Ober‐ begriff verstanden, der Erotik und / oder Sexualität einschließen kann, aber nicht muss, insofern eine starke emotionale Bindung die Stimulanz sexueller Lust und körperliche Beziehungen nicht notwendigerweise einschließt. Sexualität ist gleichbedeutend mit geschlechtlicher Liebe, also körperlicher Zärtlichkeit bis hin zum Geschlechtsverkehr. Sexualität kann mit einer starken emotionalen Bindung einhergehen, die als Liebe be‐ zeichnet wird, sie kann aber auch ausschließlich der Befriedigung des körperlichen Bedürfnisses dienen. Erotik ist die angesprochene Stimulanz, die sexuelle Anziehung.“ (Stefan Neuhaus, Sexualität im Diskurs der Literatur, Francke, Tübingen/ Basel, 2002, S. 58). 5 Stefanie Stockhorst, „Intermediale Erzählstrategien im urbanen Kontext. Mediale Grenzüberschreitungen in Großstadtromanen der Weimarer Republik“, in: Wolf Ger‐ hard Schmidt / Thorsten Valk (Hrsg.), Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwi‐ schen 1918 und 1968, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 2009, S. 115-137, hier S. 115. 6 Walter Delabar, Klassische Moderne. Deutschsprachige Literatur 1918-1933, Aka‐ demie-Verlag, Berlin, 2010, S. 165. Sexualität und Erotik 4 in der Metropole beziehen unterschiedliche literarische Texte insofern Stellung, indem sich die Figuren zu den zahlreichen Angeboten positionieren, sie selbst praktizieren oder instrumentalisieren und die (dama‐ lige) Sexualmoral beurteilen. Das Erkenntnisziel dieses sozial- und mit Blick auf ‚Berlin‘ zugleich motivgeschichtlichen Beitrags besteht daher darin, zu zeigen, ob sich Divergenzen und Analogien zwischen den einzelnen Handlungen und Figuren mit ihren jeweiligen persönlichen Beziehungen, Intentionen und sozi‐ ologischen Hintergründen erkennen lassen. Dabei handelt es sich eher um eine thematisch-vergleichende, überblicksartige Untersuchung, sodass weder Voll‐ ständigkeit noch Betrachtungen der Einzelwerke, die diese aufgrund ihrer Kom‐ plexität verdienen, beansprucht werden können. Hier soll es vorrangig nur darum gehen, die literarischen Imaginationen von Sexualität und Erotik im Berlin der Weimarer Republik und ihre damit verbundenen handlungsspezifi‐ schen Semantisierungen sowie räumlichen Gestaltungen aufzuzeigen. Die Großstadt ist motivgeschichtlich ambivalent gekennzeichnet durch: „Sitten- und Seelenlosigkeit, ferner Kommerz und Konsum, Luxus und Rausch, Prostitution und Verbrechen, Pathologie und Abnormität, Technisierung und Rationalisierung sowie Vermassung und Anonymität“. 5 Daher erweisen sich narrative Texte der Weimarer Republik mit Berlin als Schauplatz als besonders produktiv für Sinnstiftungsangebote. Dies belegt auch die Aussage von Walter Delabar, der ein Changieren zwischen den Vorwürfen an und der Sehnsucht nach der Großstadt konstatiert: „Berlin wurde Paradigma des sich selbst mo‐ dernisierenden Deutschlands, für beide Seiten des politischen und kulturellen Spektrums: Der Moloch Berlin war ebenso geläufig wie das Faszinosum Metro‐ pole.“ 6 180 Marlene Frenzel 7 Die Bezeichnung eines wie auch immer gearteten ‚realen Berlins‘ versteht sich als ad‐ ministrativ-verwaltungstechnischer Begriff. Die toponymischen Begriffe beziehen sich daher im Folgenden auf die Gebietsgrenzen des Groß-Berlins von 1920. 8 Vgl. Herrmann Kähler, Berlin - Asphalt und Licht. Die große Stadt in der Literatur der Weimarer Republik, Dietz, Berlin, 1986, S. 43. 9 Bereits 1903 hat Simmel wie hinlänglich bekannt die Veränderungen des Geisteslebens durch die von Modernität geprägte Großstadt als ‚urbane Merkmale‘ dargelegt: Georg Simmel, „Die Großstadt und das Geistesleben“, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, 1903, S. 185-206 (= Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden 9). 10 Zur zeitgenössischen Betrachtung der Gründe siehe: Magnus Hirschfeld, „Der Erste Weltkrieg und sein Einfluß auf die Moral“, in: ders. (Hrsg.), Sittengeschichte des 20. Jahrhunderts. Begründet von Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld, Bd. II: Zwischen zwei Katastrophen, unter Mitarb. von Andreas Gaspar, neu bearb. von E. Friedrich Ziehlke, Schustek, Hanau am Main, 1966, S. 15-32. Ähnlich dichotom zeigen sich auch die sexuell-erotischen Semantisierungs‐ versuche in den untersuchten narrativen Texten, wobei sich die genannten Ka‐ tegorien weiter unterteilen lassen. Nach einem generellen Überblick zur sozi‐ algeschichtlichen Situation in Berlin folgt der Bereich ‚Private Intimitäten‘, an den sich die Aspekte ‚Prostitution‘ sowie ‚Homosexualität‘ anschließen. Die nachfolgenden Überlegungen zum realen Berlin 7 ersetzen dabei nicht eine his‐ torische Diskursanalyse, die von Nöten wäre, wollte man die Sittengeschichte in all ihren Facetten darstellen. Die Ausführungen resultieren lediglich aus der Konsultation von Forschungsliteratur aus den Bereichen der Stadt-/ Kultur- und Sexual-/ Sittengeschichte, die sich auf historische Quellen beziehen. Ein sittengeschichtlicher Ausschnitt Berlins Nach der Eingemeindung mehrerer Städte, Gemeinden und Gutsbezirke war Berlin 1920 nach New York und London die drittgrößte Stadt der Welt und hatte 1930 4,3 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 800 Quadratkilometern. 8 Neben einer wachsenden Bevölkerungszahl und der damit einhergehenden Anonymität in der Großstadt 9 , kam es darüber hinaus zu einer Veränderung des traditionellen Rollenbildes des Mannes (als arbeitender Ernährer) und der Frau (als domestizierte Hausfrau). 10 Durch die Übernahme von Aufgaben in Gesell‐ schaft und Arbeitswelt veränderte sich der Status der Frau, die nach 1918 nicht nur Wahlrecht, sondern auch die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit sowie der Ausbildung und des Studiums hatte, sodass dies auch einem neuen Selbstver‐ ständnis führte: Als Folge der politischen und wirtschaftlichen Neuerungen kann sich […] der Typ der selbstständigen und aktiven „Neuen Frau“ etablieren: Bubikopf, Zigaretten, saloppe 181 Sinn und Sinnlichkeit Berlins 11 Vanessa Dollenmaier, Die Erotik im Werk von Christian Schad (Dissertation), Freie Uni‐ versität Berlin, 2004, S. 96, URL: http: / / www.diss.fu-berlin.de/ diss/ servlets/ MCRFileNodeServlet/ FUDISS_derivate_000000001783/ 05_schad05_kap_05.pdf ? hosts= (letzter Zugriff am 7. Oktober 2016). 12 Franz X. Eder, Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, 2. Aufl., C. H. Beck, München, 2009, S. 198 [zuerst: Beck, München, 2009]. 13 Dollenmaier, Christian Schad, S. 100. 14 Gordon, Sündiges Berlin, S. 146. 15 Philip Ajouri, Literatur um 1900. Naturalismus - Fin de Siècle - Expressionismus, Aka‐ demie, Berlin, 2009, S. 188. Mode galten als Markenzeichen der modernen Frau, die den Gleichberechtigungs‐ grundsatz der Weimarer Verfassung ernst nahm und ihren Platz in Beruf und Öffent‐ lichkeit selbstbewußt ausfüllte. 11 Als modern und erstrebenswert galt die finanzielle Autonomie sowohl von Männern als auch von Familie; nüchtern, objektiv und schnell sollten Bezie‐ hungen geführt und beendet werden. Das Resultat dessen war unter anderem, dass Berlin zu der Zeit die wenigsten Geburten in ganz Deutschland verzeich‐ nete: „Die Bevölkerung Wiens und Berlins hatte in der Zwischenkriegszeit eine derart geringe Fertilität aufzuweisen, dass man sogar von den ‚unfruchtbarsten‘ Städten der Welt sprach.“ 12 Zwischen 1900-1930 kam es insgesamt zur Halbie‐ rung der Kinderzahl von vier auf zwei. Gründe waren die desillusionierte Le‐ benseinstellung nach dem katastrophalen Ersten Weltkrieg, die finanzielle Not, bessere und zugänglichere Verhütungsmittel, Ablehnung von Elternschaft auf‐ grund der sozialen Misslage sowie die höhere Scheidungs- und Abtreibungs‐ rate. 13 Darüber hinaus entwickelte sich auch die akademische Beschäftigung mit diesen Themen: Im Juli 1919 eröffnete [Magnus] Hirschfeld in Berlin sein Institut für Sexualwissen‐ schaften, das sich rasch zu einer der kuriosesten Sehenswürdigkeiten der Stadt ent‐ wickelte. […] Das Institut fungierte als Hospital und freie Universität in einem. 14 Hirschfeld und sein Institut trugen maßgeblich dazu bei, dass die Distanzierung von der bürgerlichen Sexualmoral, in der „Sexualität im Kontext von Ehe und Liebe gesehen und […] primär an die Funktion der Fortpflanzung gebunden [war]“ 15 , und somit die Abwendung von auf Dauer angelegten, romantischen Beziehungen weiter vorangetrieben wurde. Daran war in einem nicht unerheb‐ lichen Maß auch die Stadt selbst beteiligt, indem sexuelle Ungezwungenheit in Vergnügungsvierteln wie dem Kurfürstendamm mit diversen kulturellen Un‐ terhaltungsstätten sowie anderen Etablissements evoziert wurde. Dieses um‐ fangreiche Angebot an öffentlich präsentierter Sexualität und Erotik wird durch 182 Marlene Frenzel 16 Erhard Schütz, „‚Vermessenheit, Städte beschreiben zu wollen‘. Eigenarten, Allianzen und Konkurrenzen der Stadtprofile - Versuch einer Einführung an den Beispielen Berlin und Wien“, in: Dagmar Koštálová / Erhard Schütz (Hrsg.), Großstadt werden! Metropole sein! Bratislava, Wien, Berlin: Urbanitätsfantasien der Zwischenkriegszeit 1918-1938, Peter Lang, Frankfurt am Main, 2012. S. 11-28, hier S. 20. 17 Als Absicht zu einer Beziehung werden hier solche Figurenkonstellationen verstanden, in denen beide Figuren motiviert sind, dauerhaft zusammen zu leben; artikulieren, sich zu ‚lieben‘ oder ‚liebzuhaben‘ oder sich als ‚Freundin‘ bzw. ‚Freund‘ bezeichnen. 18 Vgl. Erich Kästner, Fabian. Die Geschichte eines Moralisten / Der Gang vor die Hunde, Atrium, Zürich, 2011 [zuerst: Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, Berlin, 1931], S. 204. 19 Vgl. ebd., S. 83 f. 20 Irmgard Keun, Das kunstseidene Mädchen, 12. Aufl., List, Berlin, 2013, [zuerst: Ullstein, Berlin, 1932], S. 78. Erhard Schütz’ Diagnose für Berlin „als Rummelplatz der Geschlechtsteile“ 16 illustriert. Diesen gilt es nun in den literarischen Werken zu untersuchen, wobei zunächst private Intimitäten betrachtet werden, die die drei folgenden Formen aufweisen. Private Intimitäten mit Bindungsabsichten Die privaten Intimitäten mit Bindungsabsichten, das heißt sexuelle Aktivitäten zwischen zwei Figuren, die in Berlin eine Beziehung eingehen wollen oder ein‐ gegangen sind 17 , scheitern. Verlaufen die Beziehungen hingegen erfolgreich, so verlassen die Paare die Großstadt. Der erstere Fall betrifft solche Beziehungen, die in Berlin von den Protago‐ nisten begonnen werden: In Erich Kästners Fabian. Der Gang vor die Hunde (1931) steht die gleichnamige Hauptfigur Jakob Fabian im Mittelpunkt, der als Reklamefachmann nicht nur seine Arbeit, sondern auch seinen besten Freund in Berlin verliert, wodurch sowohl sein Lebenspessimismus als auch seine Ab‐ neigung gegen die Metropole gesteigert werden, sodass er Berlin verlässt. 18 Im Laufe des Romans lernt er die nach Berlin gekommene Cornelia Battenberg kennen und verliebt sich in sie, obwohl beide aufgrund der moralischen Um‐ stände nicht an die Liebe glauben. 19 Während sie gleich den ersten Abend zu einer glücklichen Nacht machen, verlässt Cornelia Fabian, um ihre Schauspiel‐ karriere mithilfe ihres Mäzens voranzubringen. Auch die Protagonistin Doris in Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen (1932) kommt aus der Kleinstadt nach Berlin: Einerseits, weil sie einen Pelzmantel gestohlen hat und fliehen muss. Andererseits, weil sie, wie sie immer wieder betont, „ein Glanz“ 20 werden will. Die einzige romantische Verbindung, die Doris eingeht, beginnt nicht direkt mit sexueller Aktivität, sondern entwickelt sich erst allmählich. Als Doris und Ernst sich emotional annähern und sie aufrichtige Absichten für eine Beziehung hat, 183 Sinn und Sinnlichkeit Berlins 21 Keun, Mädchen, S. 209. 22 Vgl. Lili Grün, Alles ist Jazz, AvivA, Berlin, 2009 [zuerst: Herz über Bord, Paul Zsolnay, Berlin et. al., 1933], S. 173. 23 Vgl. Joe Lederer, Drei Tage Liebe, in: dies., Drei Tage Liebe. Bring mich heim, Desch, Wien, 1956 [zuerst: Universitas, Berlin, 1931], S. 7-131, hier S. 59. 24 Vgl. ebd., S. 131. 25 Vgl. Vicki Baum, Menschen im Hotel, 6. Aufl., Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2013 [zuerst: Ullstein, Berlin, 1929], S. 134 f. 26 Vgl. ebd., S. 316. scheitert diese jedoch, weil er sie beim Namen seiner verschwundenen Frau nennt, woraufhin Doris die Wohnung verlässt und wieder obdachlos wird. 21 Ähnlich ergeht es auch der Protagonistin Elli in Lili Grüns Roman Alles ist Jazz (1933), wobei diese den aktiven Part bei der Trennung übernimmt. Zwar gesteht ihr Freund Robert den Betrug, aber schon zuvor wird Ellis emotionale Distanz deutlich. Die Kompatibilität des Paares ist aufgrund der unterschiedlichen An‐ sprüche an das Leben und den beruflichen Erfolg nicht gegeben. 22 Ähnlich inkompatibel erweist sich zunächst auch das Paar Franz und Lena in Joe Lederers Drei Tage Liebe (1931). Als der Möbelpacker Franz das Dienstmäd‐ chen Lena zu einem Ball einlädt, unterhalten sich die beiden zwar kaum, aber sie nähern sich körperlich an. Nach dem sexuellen Akt in der ersten Nacht 23 kündigt sie sofort ihre Stellung und zieht bei ihm ein mit dem Wunsch, eine dauerhafte Beziehung zu führen. Da Lena sich jedoch Franz nicht ebenbürtig fühlt, stiehlt sie bei ihrer ehemaligen Dienstherrin einen Ring. Als Franz dies enthüllt, trennt er sich - mit sogleich einsetzendem schlechten Gewissen - lautstark von Lena, die daraufhin verwirrt und unaufmerksam auf der Fried‐ richstraße überfahren wird. 24 Ebenfalls mit dem Tod enden die beginnenden privaten Intimitäten in Vicki Baums Menschen im Hotel (1929). Der verarmte Baron Gaigern und die depressive Balletttänzerin Grusinskaja verwickeln sich zufällig in eine unerwartete leidenschaftliche Liebesnacht, obwohl er sie ei‐ gentlich nur berauben wollte. 25 Nach bereits entwickelten Zukunftsplänen währt das scheinbare Glück nur kurz, denn bei einem weiteren Raubversuch wird Gaigern erschlagen und erliegt den Folgen des Überfalls. 26 Die multiplen Beziehungen des Franz Biberkopf in Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf (1929) - die hier im einzelnen aufgrund des Umfangs nicht näher erläutert werden können - verlaufen vom Todschlag Idas bis zur Ermordung von Mieze durch Reinhold aus den unterschiedlichsten Gründen negativ, wobei die Atti‐ 184 Marlene Frenzel 27 Vgl. Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Roman, mit einem Nachwort von Moritz Baßler / Melanie Horn, 6. Aufl., Fischer, Frankfurt am Main, 2016 [zuerst: Fischer, Berlin, 1929]. 28 Vgl. Joseph Roth, Das Spinnennetz, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1988 [zuerst: 7. Oktober bis zum 6. November 1923 in der „Wiener Arbeiter-Zeitung“], S. 132. 29 Vgl. Hans Fallada, Kleiner Mann - was nun? , ungekürzte Neuausgabe mit einem Nach‐ wort von Carsten Gansel. Aufbau, Berlin, 2016 [entstanden: 1931 / 1932; andere Fassung, Rowohlt, Berlin, 1932], S. 437. 30 Keun, Mädchen, S. 84. 31 Vgl. ebd., S. 87. 32 Vgl. ebd., S. 99. tüde des Protagonisten zu Frauen zwischen Objekt des Tauschhandels und wahrem Liebesobjekt kaleidoskopisch wechselt. 27 Wenn sich private Intimitäten als erfolgreich erweisen, so verlassen die Paare Berlin. Dies geschieht zum einen freiwillig, wenn der radikal-nationalistische sowie gewaltbereite Theodor Lohse in Joseph Roths Das Spinnennetz (1923) die adlige und national-konservative Elsa von Schlieffen heiratet und mit ihr nach Potsdam zieht, wo er als Mitglied der geheimen Organisation SII bei der Reichs‐ wehr arbeitet. 28 Zum anderen muss auch das Paar Pinneberg und Lämmchen in Hans Falladas Kleiner Mann - was nun? (1932) Berlin verlassen, allerdings ge‐ zwungenermaßen. Als Pinneberg nach nur einem Jahr im Verkaufshaus Mandel wieder entlassen wird, können sie sich die Wohnung in Moabit nicht mehr leisten und ziehen aus der Stadt hinaus. 29 Private Intimitäten zur Kompensation mangelnder Bindung Fast alle Protagonisten haben schon vor den sich in Berlin entwickelnden und dann scheiternden Beziehungen erste sexuelle Erfahrungen gemacht. Hinzu kommt, dass diese Formen der privaten Intimitäten nicht immer zwangsläufig mit Intentionen zu festen Bindungen korrelieren, sondern auch nur zwanglos eingegangen werden. Doris hatte mit Hubert - wie Elli mit Henrik in Wien - in der Kleinstadt eine feste Beziehung und geht auch mehrmalig in Berlin mit Männern zum Zweck der „Erotik“ 30 aus oder schläft wegen der enormen Attraktivität mit einem Be‐ kannten der Familie, bei der sie babysittet. 31 Aus Mitleid und Sympathie schläft sie auch noch mit dem blinden Brenner, da sie ihm sein Schicksal nicht nur mit dem Erzählen der Stadt, sondern auch mit Sex ertragbar machen möchte. 32 Wendelin in Franz Hessels Heimliches Berlin (1927) war mit Maja zusammen und nähert sich auf dem Weg zu einem Restaurant Magda körperlich an, wobei die 185 Sinn und Sinnlichkeit Berlins 33 Vgl. Franz Hessel, Heimliches Berlin. Roman, in: ders., Sämtliche Werke in fünf Bänden. Bd. 1: Romane, hrsg. von Hartmut Vollmer / Bernd Witte, Igel, Oldenburg, 1999, S. 253-336, hier S. 302. 34 Vgl. Lederer, Liebe, S. 46. 35 Vgl. ebd., S. 114. 36 Vgl. Fallada, Kleiner Mann, S. 12. 37 Ebd., S. 287. 38 Erhard Schütz, Romane der Weimarer Republik, W. Fink, München, 1986, S. 180 39 Vgl. Kästner, Fabian, S. 10. 40 Vgl. ebd., S. 20. 41 Vgl. ebd., S. 173. Intimität nicht klar genannt wird. 33 Auch der Möbelpacker Franz in Drei Tage Liebe hatte vor Lena die Freundin Karla, ein kurzes sexuelles Intermezzo mit einer Kundin und eine Liaison mit einem Fräulein vom KadeWe. 34 Mehrere Sei‐ tensprünge vollzieht im gleichen Roman die Dienstherrin von Lena. 35 Pinneberg und Lämmchen symbolisieren zwar eine romantische Paarkonzeption, sind sich aber beide ihrer früh verlorenen Unschuld bewusst, deren Folge das uneheliche Kind ist. 36 Exemplarisch erscheint die Äußerung des heterodiegetischen Erzäh‐ lers, der die Stadt als Ursache für eine liberale Sozialisation sieht: „Er [Pinneberg] ist sicher nie besonders prüde gewesen, er war auch in sexuellen Dingen nie besonders schüchtern, o nein, im Gegenteil. Er ist in Berlin aufgewachsen“. 37 Eine besonders negative Kritik zeigt sich in Kästners Fabian, wie Schütz fest‐ stellt: „Sexualität ist im Roman Ausschweifung, Zügellosigkeit und ‚Perversion‘, Liebe ein Betrug, Selbstverkauf und Treuebruch.“ 38 Der Romaneinstieg mit Fa‐ bians Besuch im Institut für geistige Annäherung 39 , das zwar nur zum Kennen‐ lernen dient, führt ihn quasi direkt in das Schlafzimmer von Irene Moll, das er allerdings wegen ihres Ehemanns schnell wieder verlässt. 40 Kästners Protagonist geht dennoch weitere Flirts ein, als er beispielsweise mit Labude in Haupts Sälen ist, und mit der Figur Mucki sexuell aktiv wird, die er im Wedding auf einem Rummelplatz trifft, wobei dies als Kompensation der Trennung von Cornelia zu werten ist und durch das Erscheinen ihres Mannes beendet wird. 41 Mangelnde Private Intimitäten in bestehenden Bindungen In den wenigen Fällen, in denen es eine bestehende Ehe gibt, sind erotisch-se‐ xuelle Themen kaum oder nicht präsent. Dies zeigt sich in den Texten, die vor allem durch ein gutbürgerliches, finanzstarkes, mittelständisches Figurenen‐ semble gekennzeichnet sind, das in Villen oder großen Wohnungen lebt und Dienstpersonal beschäftigt. Weder sind die Eheleute innerhalb ihrer Beziehung sexuell aktiv noch sind Homosexualität oder Prostitution Gegenstand von Stadt‐ 186 Marlene Frenzel 42 Alice Berend, Der Herr Direktor. Roman, mit einem Nachwort von Britta Jürgs, AvivA, Berlin, 1999 [zuerst: Fischer, Berlin, 1928], S. 174. 43 Vgl. Hessel, Heimliches Berlin, S. 320. 44 Vgl. ebd., S. 335. 45 Gordon, Sündiges Berlin, S. 40. Siehe S. 40-51 für weitere Ausführung zu unterschied‐ lichen Modi operandi der Prostitution an spezifischen Orten. beschreibungen oder als Teil der Handlung zu finden. So zum Beispiel bei Wol‐ demar Bohlen und seiner Frau Magda in Alice Berends Roman Der Herr Direktor (1928) - sie schlafen in getrennten Betten, und nur Anspielungen über eventu‐ elle Affären, für die es keine Anzeichen gibt, deuten Sexualität und Erotik an. Lediglich die Begegnung mit der neuen Sekretärin am Ende des Romans weist auf Bohlens mögliche Jugendlichkeit hin, die im Text aber nicht ausgelebt wird. 42 Ähnlich desolat gestaltet sich die Ehe in Hessels Heimliches Berlin zwi‐ schen dem außerordentlichen Professor Clemens Kestner und seiner Frau Ka‐ rola, weil er nach der Geburt des ersten Kindes ihr und dem gesamten weiblichen Geschlecht entsagt hat. 43 Daraus resultiert ihre Begierde für den jungen, attrak‐ tiven Adligen Wendelin, die auf Gegenseitigkeit beruht und dazu führt, dass die beiden aus Berlin weggehen wollen, um zusammen zu sein, was jedoch aufgrund der Mutterliebe Karolas zu ihrem Sohn Erwin scheitert. 44 Die imaginierten privaten Intimitäten in Berlin erweisen sich insgesamt ge‐ sehen als unglücklich: die Handlungen mit Bindungsabsichten verlaufen negativ oder verlagern sich außerhalb der Stadt, sexuelle Freizügigkeit wird moralisch akzeptiert und zu verschiedenen Zwecken genutzt, und bestehende Bezie‐ hungen sind durch mangelnde Sexualität und Erotik gekennzeichnet. Die Gründe für die Krise erweisen sich dabei als spezifisch urban und zeitbezogen: das Vertrauen in die romantische Liebe wurde verloren, während sich die Fi‐ guren von einer alten Sexualmoral gelöst haben. Heirats- und Kinderwünsche werden nicht bewusst angestrebt, während gleichzeitig wechselnde sexuelle Aktivität legitim zu sein scheint. Promiskuität geht dabei einher mit einer hohen Anzahl an Handlungsschauplätzen und einer erhöhten Reichweite des figuralen Bewegungsraumes. Intime oder sexuelle Annäherungen finden dabei zwar in privaten Räumen statt, aber das Kennenlernen der Figuren geschieht weitest‐ gehend an öffentlichen Orten. Prostitution und Nudismus auf den Straßen Berlins „In Berlin gab es in den zwanziger Jahren insgesamt elf oder zwölf Sexzonen, die zwar nicht ‚offiziell‘ abgegrenzt waren, aber alle jeweils eigene Attraktionen und eine Atmosphäre der Zügellosigkeit zu bieten hatten.“ 45 Dies resultiert da‐ 187 Sinn und Sinnlichkeit Berlins 46 Vgl. ebd., S. 36. 47 Eder, Kultur der Begierde, S. 190. 48 Ebd., S. 190. 49 Vgl. Gordon, Sündiges Berlin, S. 26 bzw. S. 28. 50 Ebd., S. 122. 51 Toepfer, Perverse Erotik, S. 333. Auch wenn der Handel mit Nacktbildern schon um die Jahrhundertwende begann. 52 Vgl. Gordon, Sündiges Berlin, S. 30. 53 Ebd., S. 63. raus, dass es in Berlin anders als in anderen Metropolen, keine eindeutigen, durch Strich abgetrennten Rotlichtviertel gab 46 : Prostituierte wurden in das städtische Waren- und Konsumangebot integriert, ihr Körper als Tauschwert in der Warenökonomie platziert. Selbst wenn die Prostitution meist auf bestimmte Stadtviertel oder Straßenzüge beschränkt blieb, wurde sie in der Öffentlichkeit sichtbarer und stellte für die ehrbare Bürgerschaft bald den Inbegriff des moralischen und zivilisatorischen Niedergangs dar. 47 Prostitution galt als: „Fehlentwicklung der modernen urbanen Gesellschaft“. 48 Trotz dessen dachte man nicht an ein Prostitutionsverbot, da man Zugang zu Sex für Männer als medizinisch sinnvoll für den Triebabbau, wenn auch unmo‐ ralisch, erachtete, wobei vor allem nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund diverser Faktoren ein erheblicher Anstieg der Prostitution verzeichnet wurde. 49 Ähnli‐ chen Zuwachs erlebte auch die Freikörperkultur ( FKK ), die sich allein in Berlin in „vierzig Vereine und Clubs für Nacktkultur“ 50 organisierte. Sie waren „ein Forum zum Sammeln und Tauschen von Selbstportraits als Akt, oft mit porno‐ grafischem Gestus“. 51 Doch nicht nur in Vereinen, sondern auch in dreißig Lo‐ kalen, resp. in den Revuen gab es nackte Haut in Form des Nackttanzes 52 zu sehen: „Jedes der acht großen Revuetheater verfügte über seine eigenen At‐ traktionen und Darbietungsstile.“ 53 Die Käuflichkeit von sexuell-erotischer An‐ regung bis Stimulanz war im Berlin der damaligen Zeit insgesamt recht präsent. Mit Blick auf die Prostitution, die in den literarischen Texten verhandelt wird, kann resümiert werden, dass diese zu weiblichen Karrierezwecken, zum Zweck der männlichen Befriedigung genutzt wird oder aber zusammen mit der The‐ matisierung von Nudismus als Element der urbanen Kultur vorkommt. Prostitution zu (weiblichen) Karriere- oder Überlebenszwecken Im Leben von Keuns Doris beispielsweise gestalten sich sowohl ihre Bewer‐ tungen als auch ihr Verhalten gegenüber der Prostitution parallel zu ihrem Misserfolg, in Berlin ein besseres Leben finden zu wollen. Die Form der Prosti‐ 188 Marlene Frenzel 54 Vgl. Keun, Mädchen, S. 53. 55 Vgl. ebd., S. 125. 56 Vgl. ebd., S. 129. 57 Petra Fuchs, „Ein kunstseidenes Mädchen in der Charité - Wahrnehmung, Deutung und Umgang mit jugendlicher sexueller Devianz in der Metropole Berlin“, in: Gabriele Dietze / Dorothea Dornhof (Hrsg.), Metropolenzauber. Sexuelle Moderne und urbaner Wahn. Kulturen des Wahnsinns, Böhlau, Köln / Wien, 2014, S. 107-130, hier S. 115 f. 58 Keun, Mädchen, S. 219. 59 Kästner, Fabian, S. 154. Auch Flämmchen in Menschen im Hotel lässt sich auf ihren Vor‐ gesetzten Preysing ein, wobei dieses Vorhaben jedoch durch einen Einbruch unterbro‐ chen wird. Vgl. Baum, Menschen im Hotel, S. 280-287. 60 Ebd., S. 193. 61 Schütz, Romane, S. 175. tution ist dabei zunächst nicht von gewöhnlicher gewerblicher Natur, sondern dient nur inoffiziell zur Sicherung ihrer Existenz. Schon in der Kleinstadt lässt sie sich von diversen Männern aushalten 54 und auch in Berlin lebt sie luxuriös auf Kosten von Alexander, da Männer offenbar für die Begleitung einer Frau alle Ausgaben übernehmen, so Doris’ Einschätzung. 55 Im gleichen Moment schreibt sie dem männlichen Geschlecht die Schuld an der gewerblichen Prostitution zu, die sie abwertet und vor der sie sich fürchtet. Dieser Eindruck wird auch er‐ sichtlich in der Schilderung des kriminellen und gewaltbereiten Zuhälters Ran‐ nowsky, der seine Prostituierte Hulla erschlägt 56 : Keuns Protagonistin, die die Entscheidung für die Prostitution in einen direkten Zu‐ sammenhang zur ökonomischen Abhängigkeit der Frau stellt, erklärt sich solidarisch mit all jenen Frauen, die wie sie aus Geldnot gezwungen sind, ihren Körper zu ver‐ kaufen. 57 Dass Doris am Ende dennoch mit der gewerblichen Prostitution fast sympathi‐ siert und sich einmalig bezahlen lassen will, ergibt sich einerseits zwar daraus, dass sie nicht arbeiten möchte und auch die Aussicht auf einen finanzstarken Mann nicht gegeben ist, vor allem aber andererseits aus Resignation, eine ruhm‐ reiche Karriere anzustreben, denn, so der Schlusssatz: „Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so furchtbar an.“ 58 Auch Cornelia prostituiert sich zu Karrierezwecken, als sie für eine Beziehung mit dem Filmmenschen Makart Fabian verlässt, um Schauspielerin zu werden. Die Notwendigkeit ihrer Ent‐ scheidung ihres Verhaltens kommentiert Cornelia selbst mit: „‚Man kommt nur aus dem Dreck, wenn man sich dreckig macht.‘“ 59 Erhöht wird diese Absurdität dadurch, dass Fabian die Trennung zusätzlich mit 1000 Mark quittiert. 60 Recht offensiv mit ihrem freizügigen Lebensstil - der in der Forschung als Prostitution gewertet wird 61 - geht auch Mia Pinneberg, die Mutter von Johannes, um, die durch die Schaltung einer unzweideutigen Annonce gleichermaßen als Kupp‐ 189 Sinn und Sinnlichkeit Berlins 62 Vgl. Fallada, Kleiner Mann, S. 224. 63 Vgl. Döblin, Biberkopf, S. 118. 64 Hannah Kristina Weinbacher, Sexualmedizinisches im Werk des Arztes und Schriftstellers Alfred Döblin (1878-1957), Diss. Masch., München, 2011, S. 223. 65 Vgl. Döblin, Biberkopf, S. 41. 66 Weinbacher, Sexualmedizinisches, S. 72. 67 Sabina Becker, „Großstadtroman: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Bi‐ berkopf“, in: dies. (Hrsg.), Döblin Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, J. B. Metzler, Stuttgart, 2016, S. 102-123, hier S. 107. 68 Vgl. Weinbacher, Sexualmedizinisches, S. 280 bzw. S. 286. lerin fungiert. 62 Eine männliche Ausnahme in dieser Kategorie bildet Franz Bi‐ berkopf in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, der sich einmalig prostituiert, wenn er als Schnürsenkelvertreter für 20 Mark mit einer Witwe schläft, wobei es ihm nicht nur auf den Zuverdienst, sondern auf die Bestätigung seiner Männ‐ lichkeit ankommt. 63 Prostitution zum Zweck der (männlichen) Befriedigung Gleichermaßen zentral wie in Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen ist auch die Prostitution in Döblins Roman: „Beinahe alle weiblichen Personen in diesem Roman prostituieren sich, sei es gewerblich, sei es im Sinne einer vorübergeh‐ enden (Geschäfts-) Beziehung zu einem wohlhabenden Herrn.“ 64 Dabei werden die Dienste der Frauen vor allem zu Zwecken der männlichen Befriedigung in Anspruch genommen. Während Biberkopf zunächst an seiner Vitalität zweifelt, weil es bei einer Prostituierten nicht gleich klappt, fühlt er sich wieder belebt, als er Minna vergewaltigt. 65 Darin zeigt sich generell sein gestörtes Verhältnis zu Frauen. Die Prostituierten werden jedoch „[…] keineswegs als Verbreche‐ rinnen dargestellt, sondern […] im Gegensatz fast zu Heiligen stilisiert. Sie sind stark typisiert und verkörpern die beiden Frauentypen: Verführerin und Hei‐ lige.“ 66 Offenbar ist die Prostitution bei Biberkopf mehr noch als nur Befriedi‐ gung der sexuellen Lust, auch das Surrogat für mangelnde, stabile Beziehungen und dient ihm sogar im Falle von Mieze als Lebensunterhalt. 67 Es lässt sich dennoch ein klares hierarchisches Verhältnis der Geschlechter erkennen, da die Frauen in Berlin Alexanderplatz instrumentalisiert werden, damit sich die männlichen Figuren vor allem ihrer Männlichkeit bestätigt wissen. Dies zeigt sich sowohl an der Tötung Idas durch den im Alkoholismus und Affekt handelnden Biberkopf, als auch an Reinholds Mord an Mieze, der durch sadistische Züge geprägt ist und von der Forschung als Folge einer psy‐ chischen Erkrankung gesehen wird. 68 Ähnlich will sich auch Theodor Lohse - der Protagonist in Joseph Roths Das Spinnennetz - in seiner Männlichkeit be‐ 190 Marlene Frenzel 69 Roth, Spinnennetz, S. 10. 70 Vgl. ebd., S. 10. 71 Vgl. ebd., S. 40. 72 Kästner, Fabian, S. 132. 73 Vgl. Weinbacher, Sexualmedizinisches, S. 216. 74 Keun, Mädchen, S. 144. Auch in Kästners Roman wird Fabian auf der Jochaimsthaler Straße angesprochen, Vgl. Kästner, Fabian, S. 8. 75 Vgl. Keun, Mädchen, S. 9. 76 Vgl. ebd., S. 44. stätigt fühlen, deren er, so seine Überzeugung, nach dem verlorenen Krieg be‐ raubt wurde. Seine Chancen bei Frauen sind seither enorm gesunken, denn nur „[a]ls Leutnant hätte er sie besessen, alle“. 69 Als Verlierer muss er sich mit Pros‐ tituierten begnügen, die je nach finanzieller Lage entweder bei wenig Geld schnell im Norden auf der Straße 70 oder bei gutem Verdienst in den Lokalen oder am Potsdamer Platz beschlafen werden. 71 Eine weibliche Ausnahme bildet hier Irene Moll, die ein Männerbordell eröffnet, denn danach besteht offenbar er‐ höhter Bedarf: „‚Mein Verein unchristlicher junger Männer wird von Damen der Gesellschaft mit wahrer Leidenschaft frequentiert.‘“ 72 Ihr quasi Zuhälter-Projekt scheitert letztlich und sie muss fliehen. Prostitution und Nudismus als Element urbaner Kultur Neben der Funktion als relevanter Faktor für den Fortgang der Handlung kann die Prostitution auch als Realitätseffekt zur Evokation von Urbanität fungieren. Als Element erwähnter räumlicher Gegebenheiten ist die Prostitution bei Döblin beispielsweise am Alexanderplatz, der Prenzlauer Straße und am Stettiner Bahnhof Teil des Stadtbildes. 73 Gleich bei ihrer Ankunft in Berlin wird auch Doris mit Männern, die wie Mädchenhändler aussehen, mit dieser Thematik konfron‐ tiert. Im folgenden Zitat wird die Omnipräsenz der Prostituierten durch die Nennung verschiedener, referentialisierbarer Standorte deutlich: „Aber überall abends stehen Huren - am Alex so viele, so viele - aufm Kurfürstendamm und Joachimsthaler und am Friedrichbahnhof und überall.“ 74 Wesentlich dezimierter gehört die öffentliche Präsentation von Nuditäten zum Großstadtbild. Es gibt im Vergleich zur Prostitution nur geringe Erwäh‐ nungen davon, so zum Beispiel von der Exotikbar am Nollendorfplatz, deren Werbung Fabian als Taler auf der Straße entdeckt 75 , oder Haupts Säle in Kästners Roman. 76 Weitere derartige Etablissements suchen auch die Figuren in Falladas Roman in der Friedrichstraße auf und sind von den vierzig nackten Tänzerinnen 191 Sinn und Sinnlichkeit Berlins 77 Vgl. Fallada, Kleiner Mann, S. 381-396. Auch Flämmchen II in Baums Roman verkauft ihren Körper in Form von Aktbildern, wie ihr Vorgesetzter Preysing entdeckt; vgl. Baum, Menschen im Hotel, S. 296 f. 78 Wolfgang Brylla, Berlin als Raum. Falladas erzählte Großstadt, Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften, Saarbrücken, 2013, S. 357. in der Revue sehr erstaunt. 77 Besonders umfangreich zeigt sich einzig in diesem Text auch die Freikörperkultur als Teil der Großstadt, wie Wolfgang Brylla in seiner Studie zu Falladas Berlin umfangreich thematisiert hat. Es ist das Hobby von Pinnebergs Freund Heilbutt, sich selbst zu fotografieren und die Fotos dann zu verkaufen sowie zu eigenen Zwecken aufzuhängen. Der Handel mit Nackt‐ bildern erweist sich dabei im Zentrum Berlins als besonders lukrativ. Pinneberg selbst stört die Nacktheit, da sie die Schönheit des menschlichen Körpers dis‐ kreditiert. Gleichzeitig verweist aber Heilbutt darauf, so Brylla, dass nur die Freikörperkultur den notwendigen Ausgleich zur sozialen Misere der großen Stadt bietet. 78 Während die eher private Prostitution, die keineswegs so genannt wird, von den weiblichen Figuren zur Existenzsicherung geduldet wird, erfährt die ge‐ werbliche Prostitution überwiegend eine Disqualifikation im doppelten Sinne: Zum einen wird sie von den Frauen als minderwertig angesehen, zum anderen von Männern, die die Abwertung damit bestärken, als Machtinstrument gegen‐ über Frauen zur Triebbefriedigung eingesetzt. Die Thematisierung und Veror‐ tung der Prostitution an verschiedenen Standorten, aber immer mit dem Hand‐ lungsraum ‚Straße‘, dient ebenso zur Erzeugung des zeitgemäßen Großstadtkolorits, das mit den sittengeschichtlichen Beschreibungen überein‐ stimmt, und bestätigt daher die weitverbreitete Präsenz der Prostitution. We‐ sentlich seltener wird die stadtgeschichtliche Zunahme vom Freikörperkult und dem damit verbundenen käuflichen Erwerb reflektiert, die befremdlich und hoffnungsvoll zugleich geschildert wird. Homosexualität im realen Berlin Die Homosexualität zwischen Männern war seit 1872 durch den Paragraphen 175 unter Strafe gestellt, wogegen diverse Kräfte im Berlin der Weimarer Re‐ publik mit Erfolg ankämpften: Wichtig ist an dieser Stelle auch zu erwähnen, dass die Homosexuelle Subkultur, so‐ wohl die männliche als auch die weibliche, in der Weimarer Republik besser organi‐ siert ist und es zum Beispiel eine Vielzahl von entsprechenden Zeitschriften, Cafés 192 Marlene Frenzel 79 Dollenmaier, Die Erotik im Werk von Christian Schad, S. 95. 80 Gordon, Sündiges Berlin, S. 138. 81 Curt Moreck, Führer durch das ‚lasterhafte‘ Berlin, Verlag moderner Stadtführer, Leipzig, 1931, S. 134. 82 Gordon, Sündiges Berlin, S. 101. 83 Toepfer, Perverse Erotik, S. 340. 84 Vgl. Gordon, Sündiges Berlin, S. 87. Darüber hinaus gab es auch etwa dreißig Tra‐ vestie-Lokale, siehe dazu: ebd., S. 111. 85 Vgl. Hessel, Berlin, S. 324 f. 86 Vgl. Döblin, Alexanderplatz, S. 79. und Tanzbars gibt. Homosexualität wird in den Zwanzigerjahren stärker akzeptiert als in den Jahren zuvor. 79 Die Gründung des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees durch den Sexual‐ wissenschaftler Magnus Hirschfeld setzte sich ab der Jahrhundertwende für die Liberalisierung der Homosexualität und die damit verbundene Aufhebung der Strafverfolgung ein. 80 Gerade auch aus diesem Grund übte Berlin eine besondere Anziehungskraft auf Homosexuelle aus: Es gab etwa achtzig Lokale wie die Adonis-, Karls-Diele oder Zauberflöte für Männer 81 und fünfundachtzig Stätten wie Violetta, Café Dorian Gray oder Verona-Diele für Frauen 82 , wobei die lesbi‐ sche Kultur als chique galt und stärker akzeptiert war als die schwule, die noch immer als unmännlich empfunden wurde: „Deswegen erlangte lesbische Kultur besonders in Berlin eine weitaus größere Sichtbarkeit als männliche Homose‐ xualität und konnte sogar zu einer touristischen Attraktion werden.“ 83 Das Zentrum der etwa 350 000 Homosexuellen im Jahr 1930 84 war vor allem die Ge‐ gend um den Nollendorfplatz in Berlin-Südwest sowie in Charlottenburg. Männliche Homosexualität Nur in wenigen Erzähltexten ist männliche Homosexualität überhaupt vor‐ handen. Kurze Erwähnungen, an die sich keine für den Fortgang der Handlung bedeutenden Ereignisse anschließen, finden sich nur vereinzelt: In Heimliches Berlin gibt es im Norden Schwulenclubs, denen Wendelin nicht ganz abgeneigt ist. 85 Auch in Berlin Alexanderplatz wird die männliche Homosexualität zusätz‐ lich zu Reinhold-Handlungsstrang erzählt, etwa wenn Biberkopf eine Versamm‐ lung der homosexuellen Subkultur besucht. Dabei hat Biberkopf zwar Mitleid mit der menschenrechtlich schwierigen Situation aufgrund von § 175, diskredi‐ tiert diese sexuelle Neigung aber durch Lächerlichkeit. 86 Einen Ausnahmefall männlicher Homosexualität bildet - weil handlungsrelevant - der Missbrauch in Roths Das Spinnennetz, wo die homosexuellen Aktivitäten hierarchische 193 Sinn und Sinnlichkeit Berlins 87 Roth, Spinnennetz, S. 81. 88 Weinbacher, Sexualmedizinisches, S. 97. 89 Vgl. ebd., S. 281-286. Außerdem wird zum Teil das Verhältnis von Reinhold und Biber‐ kopf als homoerotisch interpretiert (vgl. Becker, Döblin Handbuch, S. 107). 90 Vgl. Hessel, Heimliches Berlin, S. 311 f. 91 Ebd., S. 294. 92 Vgl. Döblin, Alexanderplatz, S. 309. 93 Keun, Mädchen, S. 47. Machtverhältnisse widerspiegeln: Nachdem Theodor Lohse sich den Annähe‐ rungsversuchen und dem sich vollziehenden sexuellen Akt des preußischen Prinzen Heinrich willenlos ergibt, bekommt er zwar Zugang zu der geheimen nationalistischen Organisation SII , die schließlich seinen Aufstieg zu einer Art Führer ermöglicht. Gleichzeitig verdrängt er dieses Ereignis aber, wie auch den Missbrauch durch seinen späteren Vorgesetzten Klitsche und sieht beide Taten als Notwendigkeiten auf seinem Weg zum Erfolg an. 87 Auch in Berlin Alexan‐ derplatz hat die Homosexualität für die Handlung insofern eine besondere Funktion, als die Figur Reinhold […] eine wirkliche homosexuelle Beziehung mit einem Mann im Gefängnis ein[geht], […] doch die Beziehung […] ihm zum Verhängnis [wird], da der Freund in Freiheit Reinholds wahre Identität verrät und dieser daraufhin für den Mord vor Ge‐ richt gestellt wird. 88 Da er jedoch ansonsten auch Frauen begehrt, wird sein eher bisexuelles Ver‐ halten in der Forschung auf eine schizoide Persönlichkeitsstörung zurückge‐ führt. 89 Weibliche Homosexualität Die weibliche Homosexualität hingegen wird in den literarischen Texten von den Figuren ambivalent beurteilt. Während sie in den gehobenen Schichten als en vogue und interessant gilt, wird die gleichgeschlechtliche Liebe in den sozial schwächeren Milieus abgewertet. So nähern sich die gutbürgerlichen Fancy Freo und Karola in Heimliches Berlin tanzend an, während sie im Lokal ‚Schwestern‘ im südlichen Westen sind. 90 Die Figur Margot allerdings entwürdigt die dort praktizierte homosexuelle Auslebung: „Es soll eher rührend als großartig bei ihnen zugehen.“ 91 Gleichermaßen abwertend erscheinen bei Döblin die homo‐ erotischen Annäherungen zwischen Eva und Mieze, wobei Eva Mieze als ‚schwul‘ bezeichnet, diese aber eigentlich nur wegen Evas Kinderwunsch so in sie vernarrt ist. 92 Es entwickelt sich keine ernsthafte homoerotische Situation. Auch Doris bezeichnet Homosexualität mit dem Begriff „schwul“ 93 und möchte 194 Marlene Frenzel 94 Vgl. Grün, Jazz, S. 132. 95 Vgl. ebd., S. 150. 96 Kästner, Fabian, S. 82. 97 Ebd., S. 86. damit nicht in Verbindung gebracht werden. Ebenso ist Elli in Alles ist Jazz, als sie in der Sternenbar ein Engagement erhält, zunächst der Homosexualität ge‐ genüber abgeneigt und sieht dies lediglich als Möglichkeit, ihre Karriere voran‐ zutreiben. 94 Als sie aus Einsamkeit doch mit einer lesbischen Frau tanzt, die sie lieber als gute Freundin haben möchte, flieht sie schließlich, um weitere Annä‐ herungen zu verhindern. 95 Am prägnantesten wird die Abneigung gegen Ho‐ mosexualität in Kästners Fabian erkennbar durch die Titulierung des Ateliers der lesbischen Künstlerin Ruth Reiter als „Saustall“ 96 und die darauffolgende Diskreditierung beim Besuch des Lokals „Cousine“. 97 Insgesamt wird Homosexualität nicht als Beziehungs- oder Liebesalternative entworfen - die Heteronormativität bleibt trotz realweltlicher Liberalisierung in Berlin bestehen. Vielmehr wird sie in den literarischen Werken als einmalige interessante Abwechslung empfunden oder als Normabweichung im Vergleich zu ‚normalen‘ Frauen disqualifiziert - es handelt sich quasi nur um eine situative Homosexualität. Die männliche Homosexualität wird vergleichsweise wesent‐ lich geringer thematisiert und hat je nach Handlung eine individuelle Funktion, die einen bestimmten Zweck erfüllen soll. Interessant erweist sich die Tatsache, dass Homosexualität in den literarischen Texten teilweise im Norden, aber überwiegend im Westen und Charlottenburg - und dabei immer in Innen‐ räumen - lokalisiert wird, also den historischen Gegenden eigentlich entspre‐ chend, jedoch sind die Benennungen der Lokale nicht referentialisierbar, auch wenn sie den realen Vorbildern ähneln. Daran wird erkennbar, dass Homose‐ xualität im Stadtbild zwar präsent ist, aber diese auf der räumlichen Ebene nicht exakt abgebildet, sondern fiktiv inszeniert wird. Fazit Im Großteil der hier untersuchten Texte sind Sexualität und Erotik thematisch dominant, sie konditionieren handlungsrelevante Ereignisse und tragen gleich‐ zeitig - in wenigen Texten zum Teil ausschließlich - zur Evokation urbaner Kultur bei. Dabei zeigt sich eine Diskrepanz zwischen den konsumierten Mög‐ lichkeiten der sexuellen Aktivitäten sowie Angeboten und emotionaler sowie finanzieller Sicherheit, die durch die Sexualmoral und die liberalen, recht lo‐ ckeren Sitten der Stadt Berlin aufgerufen werden. Die Erzählschemata der pri‐ vaten Intimitäten verlaufen negativ, die Prostitution erfolgt in mehrfacher Weise 195 Sinn und Sinnlichkeit Berlins unter Zwang, und die Homosexualität ist keine Alternative zum so genannten normalen Begehren. In den literarischen Texten bleiben schließlich die Stigma‐ tisierung der Frau in Form ökonomischer Abhängigkeit vom Mann, die Stigma‐ tisierung der Prostitution als negative Notwendigkeit und die heteronormative Stigmatisierung der Homosexualität - alles Gegensätze zur sonst so gelobten sexuell-erotischen Liberalisierung und Demokratisierung der Goldenen Zwan‐ ziger im realhistorischen Berlin. Die Literatur verleiht der Sinnlichkeit Berlins also insgesamt eher einen kritischen Sinn. Bibliographie Philip Ajouri, Literatur um 1900. Naturalismus - Fin de Siècle - Expressionismus, Aka‐ demie, Berlin, 2009. Vicki Baum, Menschen im Hotel, 6. Aufl., Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2013 [zuerst: Ull‐ stein, Berlin, 1929]. Sabina Becker, „Großstadtroman: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biber‐ kopf“, in: dies. (Hrsg.), Döblin Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Metzler, Stuttgart, 2016, S. 102-123. Alice Berend, Der Herr Direktor. Roman, mit einem Nachwort von Britta Jürgs, AvivA, Berlin, 1999 [zuerst: Fischer, Berlin, 1928]. Wolfgang Brylla, Berlin als Raum. Falladas erzählte Großstadt, Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften, Saarbrücken, 2013. Walter Delabar, Klassische Moderne. Deutschsprachige Literatur 1918-1933, Aka‐ demie-Verlag, Berlin, 2010. Vanessa Dollenmaier, Die Erotik im Werk von Christian Schad (Dissertation), Freie Uni‐ versität Berlin, 2004, URL: http: / / www.diss.fu-berlin.de/ diss/ servlets/ MCRFileNodeServlet/ FUDISS_derivate_000000001783/ 05_schad05_kap_05.pdf ? hosts= (letzter Zugriff am 7. Oktober 2016). Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Roman, mit einem Nachwort von Moritz Baßler / Melanie Horn, 6. Aufl., Fischer, Frankfurt am Main, 2016 [zuerst: Fischer, Berlin, 1929]. Hans Fallada, Kleiner Mann - was nun? , ungekürzte Neuausgabe mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Aufbau, Berlin, 2016 [entstanden: 1931 / 1932; andere Fassung, Rowohlt, Berlin, 1932]. Petra Fuchs, „Ein kunstseidenes Mädchen in der Charité - Wahrnehmung, Deutung und Umgang mit jugendlicher sexueller Devianz in der Metropole Berlin“, in: Gabriele Dietze / Dorothea Dornhof (Hrsg.), Metropolenzauber. Sexuelle Moderne und urbaner Wahn. Kulturen des Wahnsinns, Böhlau, Köln / Wien, 2014, S. 107-130. 196 Marlene Frenzel Mel Gordon, Sündiges Berlin. Die Zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang, übers. von Andreas Diesel, Index, Wittich, 2011. Lili Grün, Alles ist Jazz, AvivA, Berlin, 2009 [zuerst: Herz über Bord, Paul Zsolnay, Berlin et. al., 1933]. Franz Hessel, Heimliches Berlin. Roman, in: ders.: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Bd. 1: Romane, hrsg. von Hartmut Vollmer / Bernd Witte, Igel, Oldenburg, 1999, S. 253-336. Magnus Hirschfeld, „Der Erste Weltkrieg und sein Einfluß auf die Moral“, in: ders. (Hrsg.), Sittengeschichte des 20. Jahrhunderts. 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Inszenierungen von Geschlechtsidentitäten in der Lyrischen Novelle von Annemarie Schwarzenbach Karolina Rapp (Zielona Góra) In Annemarie Schwarzenbachs (1908-1942) Roman Das glückliche Tal (1939) befindet sich der Ich-Erzähler im kargen Lahr-Tal Persiens und erzählt in re‐ flektierten Rückblenden über sein vergangenes Leben und seine persischen Abenteuer: Ich erinnere mich an alle Warnungen, die man mir zukommen liess, und an alle Rat‐ schläge. Aber ihr habt die Sprache verwendet, die ich nicht mehr verstand. Man hat auch Anklage gegen mich erhoben […]. Aber man vergass, mir zu sagen, wer der Richter sein würde. Ihr warft mir vor, dass ich mich mutwillig in Gefahr begebe, dass mir jedes Abenteuer recht sei, meine Kräfte daran zu verschwenden und jede Aufgabe eines „normalen Lebens“ zu schlecht, um sie daran zu erproben. Was ist, in eurer Vorstellung, das Abenteuer? Dieses Wort sagt mir nichts.[…] 1 Die Ich-Erzählfigur hatte ihre schweizerische Heimat verlassen, um an einer archäologischen Ausgrabung in Persien teilzunehmen. Trotz guter Gesellschaft, an der Einsamkeit leidend, kommt sie am Fuße des Bergs Demawend im „glück‐ lichen Tal“ zum Schluss, dass keine Tröstungen - das freie Herumreisen, die Liebe und das Morphium - sie aus ihrer aussichtslos scheinenden Lebenslage befreien könnten. Schwarzenbachs Werk, das als ihr literarisches Vermächtnis gilt, spiegelt die existentielle Selbstentfremdung der Schweizer Autorin wider, die zu Lebzeiten allerdings weniger als Schriftstellerin bekannt war, sondern vielmehr als Print- und Fotojournalistin. In ihren Arbeiten inszeniert sie eine schillernde Autorschaft, entfaltet verschiedene Ich-Identitäten und führt ihre Leser in einen Bereich zwischen Autobiographie und Fiktion. Viele ihrer Werke entstanden auf ausgedehnten Reisen, die der in der Atmosphäre des Züricher Großbürgertums aufwachsenden Tochter eines reichen Seidenfabrikanten er‐ 2 Ann-Kristin Dübner, „Verstellte Figuren. Camouflage und Maskerade als Konstituti‐ onsstrategien geschlechtlicher Identitäten bei Annemarie Schwarzenbach“, in: Ann-Kristin Dübner / Falko Schnicke (Hrsg.), Perspektive, Medium, Macht. Zur kultur‐ ellen Codierung neuzeitlicher Geschlechterdispositionen, Königshausen & Neumann, Würzburg, 2010, S. 139-158, hier S. 139. 3 Vgl. Walter Fähnders / Sabine Rolf (Hrsg.), Annemarie Schwarzenbach: Analysen und Eindrücke, mit einer Schwarzenbach-Bibliographie, Aisthesis, Bielefeld, 2005, S. 7. 4 Annemarie Schwarzenbach, Tod in Persien, Lenos Verlag, Basel, 1995, S. 37. 5 Uta Fleischmann (Hrsg.), Wir werden es schon zuwege bringen, das Leben. Annemarie Schwarzenbach an Erika und Klaus Mann. Briefe 1930-1942, Centaurus Verlag & Media, Pfaffenweiler, 1993, S. 131. möglichten, von den durch Familientradition und soziale Herkunft vorgezeich‐ neten Weiblichkeitsnormen zumindest räumlichen Abstand zu gewinnen. Un‐ terwegs war Schwarzenbach oftmals mit Frauen wie Erika Mann (1905-1969) oder Ella Maillart (1903-1997), die vergleichbare berufliche Projekte verfolgten. Innerhalb und außerhalb Europas beschritt sie in beruflicher wie privater Hin‐ sicht für eine Frau ungewöhnliche Wege in einer Zeit, die sich zwischen zwei Weltkriegen in enormen Umbrüchen befand. Die Wiederentdeckung der „ver‐ gessenen Schriftstellerin“ 2 begann mit einem unscharfen, von Marie Breslauer 1932 in Berlin aufgenommenen Foto, das 1987 die ganze Seite der Züricher Zeit‐ schrift Der Alltag einnahm und das die Autorin zur Ikone der Androgynie ge‐ macht hat. Wie gespalten zwischen Schwäche und Stärke ließ die Porträtierte eine mit Zweifeln gemischte Entschlossenheit und vor allem eine unergründliche Hoff‐ nungslosigkeit erkennen, die dieses Bild mit einer dunklen Note überzog. Als Teil der Berliner Künstlerbohème, als Rebellin, als homosexuelle Tochter einer konservativen Familie, als Ikone „unangepasster Weiblichkeit“ 3 , als moderne intellektuelle Nomadin, war Schwarzenbach eine Autorin, die wegen ihres schriftstellerischen Talents und ihrer exzentrischen Persönlichkeit andere zu‐ tiefst faszinierte. Klaus Mann setzte dem „Schweizerkind“, wie er Schwarzen‐ bach nannte, in zwei Romanen ein literarisches Denkmal: als Johanna in Flucht in den Norden (1934) und als Engel der Heimatlosen in Vulkan (1939). Kurz vor ihrem Tod schrieb Schwarzenbach an Klaus Mann: Viele haben mich um meine Freiheit […] beneidet. 4 Ich glaube, es war mein grund‐ sätzlicher und schwerwiegender Irrtum, Irrtum eines halben Lebens, dass […] ich immer mich beweisen und bewähren, immer eine Antwort wollte. Ein solches Le‐ bensverhältnis wie meins, kann nur mit einer Niederlage enden, oder es muss in Hass umschlagen. 5 200 Karolina Rapp 6 Zitiert nach Agnieszka Vojta, „Im Netz der Schicksalswege - Grenzüberschreitungen in den Texten von Annemarie Schwarzenbach“, in: Sibel Vurgun (Hrsg.), Gender und Raum, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, 2005, S. 275-286, hier S. 275. 7 Annemarie Schwarzenbach: Orientreisen. Reportagen aus der Fremde, Ebersbach & Simon, Berlin 2010, S. 125. 8 Andreas Solbach, „Von 1914 bis zum Zweiten Weltkrieg“, in: Peter Rusterholz (Hrsg.), Schweizer Literaturgeschichte, Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart, 2007, S. 174-205, hier S. 202. 9 Vgl. Roger Perret, „Ernst, Glück und Würde des Daseins“, in: Annemarie Schwarzen‐ bach, Lyrische Novelle, Lenos Verlag, Basel, 1993, S. 99-146, hier S. 106. 10 Alexis Schwarzenbach, Die Geborene: Renée Schwarzenbach-Wille und ihre Familie, Scheidegger und Spiess Verlag, Zürich, 2004, S. 42. Schwarzenbach fühlte sich lebenslang fremd in ihrer Familie, in der Gesell‐ schaftsschicht der sie angehörte, in der Schweiz, letztendlich in der eigenen Haut. In einem unveröffentlichten Prosastück mit dem programmatischen Titel Die zärtlichen Wege, unsere Einsamkeit (1940) schreibt sie: „Wenn du so einsam bist, dass dein einsames, dein unmenschliches Rufen kein Echo mehr hat, willst du Zeugen? Dafür? Erstick sie doch, deine nur von Felsenöde und leer wider‐ hallende Stimme! “ 6 Die Einsamkeit einer Frau, deren Bewegungsdrang mani‐ sche Züge trug, und deren unerfüllbare Sehnsüchte selbst mit unentwegter Be‐ schleunigung nicht zu kompensieren waren, spiegeln auch Schwarzenbachs Reiseberichte Orientreisen. Reportagen aus der Fremde wider. In Teheran stellt sie fest: „Jeder redet und redet und wendet sich an den Nächsten, den ersten Besten, - und ist nachher ärmer, allein wie Hund, denn seine eigentliche Not verschweigt man doch.“ 7 Der wichtigste Mensch im Leben der Autorin, der ihr einen genau bestimmten Lebensentwurf zugedacht hat, und der nach Annema‐ ries Tod ihr Testament missachtete und sämtliche an sie gerichtete Korrespon‐ denz sowie ihre Tagebücher eigenhändig vernichtete, hat ihr ganzes Leben ge‐ prägt. Renee Schwarzenbach, Annemaries eigensüchtig-tyrannische Mutter 8 , wünschte sich als Kind ein Junge zu sein und übertrug die unerfüllten Träume auf ihre Lieblingstochter. Annemarie bekam sogar den Spitznamen „Page Otto“, wenn sie sich in Theaterkleidern der Liebhaberin ihrer Mutter, der Opernsän‐ gerin Emmy Krüger, verkleidete. 9 „Sie hat mich wie einen Buben erzogen und wie ein Wunderkind“, erinnerte sich Annemarie Schwarzenbach später: Sie hat mich ja absichtlich allein gehalten, um mich bei ihr zu halten […]. Aber ich konnte ihr nie ausweichen, weil ich immer schwächer war als sie und mich doch wieder - weil ich argumentieren konnte - stärker fühlte als sie […]. Und weil ich sie liebe. 10 201 Inszenierungen von Geschlechtsidentitäten 11 Linsmayer, „Leben und Werk Annemarie Schwarzenbachs“, S. 5. 12 Dübner, Verstellte Figuren, S. 141. 13 Ebd., S. 141. Lebenslang gab Schwarzenbach ihr Bestes, um als männliche Gestalt überzeu‐ gend zu wirken. Sie trug: Hosen, als dies noch als „unweiblich“ galt, sie verkleidete sich am liebsten als Matrose, rauchte viel und sprach starken Spirituosen zu, galt als tollkühne Autofahrerin, Schwimmerin, Skifahrerin und machte durch abenteuerliche, äußerst strapaziöse Reisen in schwer zugängliche, abgelegene Länder von sich reden. Dieses Verhalten, vor allem aber natürlich ihre entsprechende äußere Erscheinung, verfehlte die Wir‐ kung auf die Mitmenschen keineswegs. 11 Schwarzenbachs Reiseberichte, Erzählungen und Romane bleiben ambigue, au‐ tobiographisch fundierte hybride Textformen, die Gattungs- und Intimitäts‐ grenzen in Frage stellen. Die provozierende Mehrdeutigkeit ihrer Texte beein‐ flusst auch das Erscheinungsbild ihrer androgynen Protagonisten - der verwirrt scheinenden Künstler, Reisenden, Figuren des Dazwischen und seltsamen Mischwesen 12 , die, Ann-Kristin Dübner zufolge, einerseits mittels narrativer Verfahren, von einer binären (grammatischen, sozialen und kulturellen) Ordnung ausgeschlossen werden, sich jedoch andererseits innerhalb dieser bewegen (müssen) und folglich entlang der Matrix von Geschlechterdispositi‐ onen und gesellschaftlich-sozialer Grenzen entwickelt werden. 13 Bei der Analyse der das autobiographische Selbst maskierenden ästhetischen Strategien der Autorin, die den Skandal einer homoerotischen Liebesgeschichte verhindern wollte, muss man zeitgenössische Kontexte berücksichtigen. Die bestehenden Lücken zwischen dem Selbst, dem Leben und dem Schreiben der Autorin sensibilisieren den Rezipienten für die Schreib- und Verfahrensweisen oder Mechanismen, die die Lücken zwischen Realität und Fiktion ihrer Texte verschleiern. Eine große Rolle spielen bei Schwarzenbach die Ausführungen von Marita Keilson-Lauritz und ihr Verhältnis von Fiktion und Erfahrung, Heinrich Deterings Begriff der Fiktionalisierung, die These vom Verschwinden des Autors und von der Auflösung der Geschlossenheit des Textes. In diesem Zusammen‐ hang bemerkt Stefan Schukowski: Demnach lassen sich in literarischen Texten zu Zeiten, in denen offenes und öffent‐ liches Schreiben über Homosexualität außerhalb juristischer und medizinischer Dis‐ kurse nicht ohne die Gefahr starker Repressionen möglich war, Strategeme nach‐ weisen, die sanktionsfreie Mitteilungen homoerotischer Inhalte demnach 202 Karolina Rapp 14 Stefan Schukowski, Gender im Gedicht: Zur Diskursreaktivität homoerotischer Lyrik, transcript, Bielefeld, 2013, S. 104. 15 Gerhard Härle / Maria Kalveram; Wolfgang Popp, Erkenntniswunsch und Diskretion: Erotik in biographischer und autobiographischer Literatur, Rosa Winkel Verlag, Berlin, 1992, S. 65. 16 Heinrich Detering, Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Wallstein Verlag, Göttingen, 2002, S. 225. 17 Anne Schülke, „Ein unpersönliches Tagebuch. Annemarie Schwarzenbachs Tod in Per‐ sien zwischen Autobiographie und Fiktion“, in: Monserrat Bascoy / Lorena Silos Ribas (Hrsg.), Autobiographische Diskurse von Frauen 1900-1950, Königshausen &Neumann, Würzburg, erscheint im Juni 2017, URL: http: / / www.anneschuelke.de/ pdf/ Annemarie_Schwarzenbach.pdf (letzter Zugriff am 10. September 2016). 18 Solbach, „Von 1914 bis zum Zweiten Weltkrieg“, S. 202. ermöglichen. Die sich in Form der Camouflage manifestierende literarische Produk‐ tivität des Verbotenen besteht demnach in einer zeitwertigen Textstrategie: Erstens werden homoerotische Inhalte auf eine subtextuelle Ebene verschoben, zweitens wird auf der Textoberfläche das eigentlich Gemeinte in einer Art und Weise codiert, dass sich nicht eingeweihten Rezipienten oder Zensurinstanzen lediglich ein unverdäch‐ tiger Text präsentiert; Eingeweihten hingegen wäre es möglich, die versteckte Bot‐ schaft zu decodieren. 14 Detering weist darauf hin, dass es für homoerotische Autoren in Reaktion auf gesellschaftliche Tabuisierung, Abwertung und Bestrafung von Homoerotik drei literarische Lösungstypen gibt: „Verstoß durch Tabubruch, Verschweigen oder Verstellung“. 15 Die Verstellung der homoerotischen Botschaft im Subtext der Novelle kompensieren bei Schwarzenbach die Möglichkeiten des Rollen‐ spiels und Doppelwesens 16 der Protagonisten. Aus der nötigen Verkleidung und Maskerade entstehen neue, differenzierte Ausdrucksformen, die zwischen Öf‐ fentlichkeit und Privatheit balancieren. Schwarzenbach schockiert allerdings nicht mit bildlichen Beschreibungen des Intimlebens, sondern benutzt das Au‐ tobiographische als Motiv und greift auf autobiographische Formen zurück: Das Bekenntnis, die vertrauliche Mitteilung, das Geständnis, das klärende Ge‐ spräch. 17 Die Lyrische Novelle (1933) thematisiert eine lesbische Liebesgeschichte, deren Melancholie und Ausweglosigkeit zu ihrer Zeit als oberflächlich wahr‐ genommen wurde, obwohl sie neben Erich Kästners Fabian (1931) und Marie‐ luise Fleißers Mehlreisende Frieda Geier (1931) eine der bedeutendsten Erzäh‐ lungen der Neuen Sachlichkeit ist. 18 Das Thema der Novelle ist die Liebe eines jungen, namenlosen Mannes zur Sängerin Sibylle, die sowohl seine zukünftige diplomatische Laufbahn als auch sein Selbstbewusstsein fast völlig ruiniert. Die 203 Inszenierungen von Geschlechtsidentitäten 19 Katrin Lehnert, „Die Darstellung der Fremde in der Prosa Annemarie Schwarzenbachs am Beispiel der Lyrischen Novelle, des Glücklichen Tals und der Novellensammlung Bei diesem Regen“, in: Elvira Willems (Hrsg.), Annemarie Schwarzenbach: Autorin - Rei‐ sende - Fotografin. Dokumentation des Annemarie Schwarzenbach Symposiums in Sils / Engadin vom 25. bis 28. Juni 1998, Centaurus Verlag & Media, Pfaffenweiler, 1998, S. 107-118, hier S. 116. 20 Dübner, Verstellte Figuren, S. 144. 21 Joanna Schoffer, Ambivalenzen der Sichtbarkeit: Über die visuellen Strukturen der Aner‐ kennung, transcript, Bielefeld, 2008, S. 58. Geschichte wird von dem installierten Ich-Erzähler nicht chronologisch erzählt. Sie bildet keine Einheit, sondern besteht aus mosaikartigen Rauschzuständen und fragmentarisch-assoziativen Sequenzen. Zum Zeitpunkt des Erzählens be‐ findet sich der Ich-Erzähler in einer kleinen Stadt auf dem Land, deren beklem‐ mende Atmosphäre seine Stimmung und seine emotionale Labilität repräsen‐ tiert. Im Landgasthof sitzend versucht er die psychischen und physischen Folgen seiner gescheiterten Liebe zu Sibylle zu lindern: Der Ich-Erzähler bedient sich vieler Rückblenden, um seine spannungsreiche Geschichte in die Gegenwart zu rücken. Auf diese Art und Weise entsteht ein labyrinthartiges Geflecht ineinander und nebeneinander laufender Erzähl‐ stränge. Der Leser wird mit Sequenzen himmelsschreiender Not, abgrundtiefer Verzweiflung, emotionaler Desorientiertheit und Hilferufen eines zu Tode Be‐ trübten konfrontiert und muss das Bild des Protagonisten - des Identitätsmus‐ ters der Schriftstellerin - konstruieren. Die Hybridisierung der Zeitebenen und Identitäten weist auf Lücken zwischen Selbst, Leben und Schreiben hin, die als symbolische Platzhalter für das Unausgesprochene und das ursprünglich Ge‐ meinte, auf die beabsichtigte Mehrdeutigkeit des Textes aufmerksam machen. „Thema ist hier, was nicht zur Sprache kommt.“ 19 Diese Leerstellen werden zum Möglichkeits- und Schaffensraum, zum idealen Schreibraum, in dem die Autorin immer wieder das wahre Ich entblößt. Diese gefühlsbezogene und wahrneh‐ mungssensible Leere sperrt sich gegen Präskriptionen, gegen Ein-Deutlich‐ keiten, perpetuiert die Veränderung und Neukonstruktion der Identität. Sie ist ein Spannungsfeld zwischen „eigentlichem Drucktext und intendierter Textbe‐ deutung.“ 20 Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit modulieren sich gegenseitig und die Produktion von Sichtbarkeit intensiviert immer auch die Produktion von Un‐ sichtbarkeit. 21 Die Leerstellen entstehen zusätzlich aus der Ich-Erzählsituation, aus den Schilderungen, Reflexionen, der Wiedergabe von nächtlichen Begeg‐ nungen mit Sibylle und den Gesprächen mit Freunden, in denen das Geschehen ausschließlich aus der Perspektive des Protagonisten dargestellt wird. Aus diesem Grunde verfügt der Leser über keine eindeutigen Informationen z. B. 204 Karolina Rapp 22 Schwarzenbach, Lyrische Novelle, S. 93. 23 Perret, „Ernst, Glück und Würde des Daseins“, S. 101. 24 Ebd., S. 101-102. 25 Zygmunt Mielczarek, „Annemarie Schwarzenbach. Aufbruch, Droge, und Homoerotik als Freisein und Alternanz“, in: Jattie Enklaar / Hans Enkler (Hrsg.), Viva Helwetia. Die Herausforderung einer nationalen Identität, Rodopi, Amsterdam / Atlanta, 1998, S. 208-212. darüber, warum Erik, ein Freund von Sibylle, damit droht, den Vater des Prota‐ gonisten zu benachrichtigen: Dann telephonierte Erik. Er wollte meinen Vater benachrichtigen. Ich schrie ihn an und bat ihn, es nicht zu tun. Ich sagte: „Ihr seid ja alle wahnsinnig geworden.“ Aber sicher hielten sie mich für wahnsinnig. Ich hasste Erik. 22 Geschlechts- und Intimitätsgrenzen werden durch Grenzüberschreitungen immer wieder verschoben und nicht mit einer Linie markiert, sondern mit einem leeren Feld. Die Handlung der Novelle spielt überwiegend in der Nacht - im Raum trüber Stimmungen, im Raum voller noch nicht entfalteter Möglichkeiten. An diesem dunklen, nächtlichen Tiefpunkt der Leere kann sich das Bewusstsein reinigen, neu formieren und mit neuen Inhalten anreichern. Bedeutend für die Lyrische Novelle ist das Motiv des Schlafens, der Krankheit und ermüdender Fieberanfälle, weil sie auf homoerotische Kontexte der Biographie Annemarie Schwarzen‐ bachs hinweisen. Im November 1931, im Entstehungsjahr der Lyrischen No‐ velle, reiste die Autorin wegen einer unglücklichen Liebesgeschichte mit einer Frau, wie sie selbst berichtet, „in der Dunkelheit ganz gegen meinen Wunsch und gegen meine Feigheit“ 23 , nach Rheinsberg bei Berlin, wo, so Schwarzenbach weiter, „ich alsbald 14 Stunden geschlafen […] habe.“ 24 Die in einer Schwelle zwischen Traum, Vision, Fieberphantasie und Wirklichkeit angesiedelte Hand‐ lung der Novelle macht auf die Konturlosigkeit der Protagonisten und auf den Verlust des Zeit- und Raumgefühls aufmerksam. Die Erfahrung der Begrenzt‐ heit, die in Launen, Ansprüchen des Lustbestrebens und depressiven Verstim‐ mungen an Intensität gewinnt, ähnelt nach Jean Baudillard einer „psychodra‐ matischen Reise“. 25 Der Nacht-Raum, den der Protagonist als Kontaktfläche der eigenen Emoti‐ onen und derjenigen Sibylles betrachtet, negiert den logoshaften Leib. Erst in diesem entkörperten Raum ist der Ich-Erzähler imstande, frei zu re-agieren. Ei‐ nerseits verbietet er dem Anderen, seine geschaffene Distanzzone zu verletzen, und andererseits signalisiert er, ihren Raum zu betreten, sich ihm zu nähern, weil er sich selbst zu einer Distanzverringerung möglicherweise nicht in der 205 Inszenierungen von Geschlechtsidentitäten 26 Schwarzenbach, Lyrische Novelle, S. 16. 27 Ebd., S. 71. 28 Ebd., S. 80. 29 Ebd., S. 21. 30 Ebd., S. 24. 31 Perret, „Ernst, Glück und Würde des Daseins“, S. 140. 32 Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, 2. Band, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1995, S. 27. 33 Mielczarek, Annemarie Schwarzenbach, S. 208. Lage sieht. Diese spannungsreiche Liebesbeziehung zwischen dem Erzähler und Sibylle und die Gesellschaftsnormen symbolisiert das Auto des Ich-Erzählers, in dem er viel Zeit mit Sibylle verbringt. Als Autofahrer kann der Protagonist the‐ oretisch „den eigenen Weg“ selbst bestimmen. In Wirklichkeit muss er aber sich doch an befahrbare Straßen halten, d. h. an Strecken, die der Mensch entspre‐ chend dafür vorbereitet hat. Das Auto als Maschine erscheint mithin in Schwar‐ zenbachs Novelle als überindividuelle und überpersönliche Gestaltungskraft, die durch und im menschlichen Bewusstsein wirkt. Es wird zur symbolischen Ausgestaltung des Bewusstseinssystems, das den Ich-Komplex als Inhalt ein‐ schließt. Es zeigt einen Übergang von der ich-zentrierten Sphäre menschlicher Wahlfreiheit zur Erfahrung übermenschlicher Schicksalsmächte auf. Das Motiv des Schlafens bzw. des dringenden Wunsches danach und die ständige an Wahn grenzende Übermüdung sind Teil des Leidens, der Vereinsa‐ mung und der Erfahrung des Andersseins: Hier auf dem Lande, verstehe ich Gides „Immoraliste“ und bin ihm verwandt, mit gleicher Sünde beladen, einer feindlichen, imaginären und fruchtlosen Freiheit aus‐ geliefert. - Die Leute wissen ja nicht, was Sünde ist. - Ja, nun schäme ich mich vieler Dinge und würde gern Gott um Verzeihung bitten. Wenn ich nur fromm wäre. 26 […] Nein, ich bin nicht wahnsinnig. Nein, ich bin einfach müde. 27 Sibylle ist für den Protagonisten eine kühle und distanzierte Traumgestalt. Auch wenn sie in seiner Gegenwart ist, träumt er von ihr 28 , von ihrem blassen Ant‐ litz 29 , dem Geruch ihrer Haut, ihren Atemzügen 30 . Wie im Traum ist die Liebe in der Lyrischen Novelle mehr ersehnt als erlebt. 31 Körperliche Berührung, Si‐ bylles Art zu sprechen, ihre Bewegungen, all das, was Michael Foucault als „fe‐ minine Morphologie“ 32 des Körpers eines Homosexuellen bezeichnet, gehören zum homoerotischen Liebesinstrumentarium und zur stark ästhetisierten Kom‐ munikation über den Körper. Die Besonderheit des fortwährenden erotischen Geständnisses ist „durch die Gegenüberstellung von sprechendem Liebenden und schweigendem Liebesobjekt gekennzeichnet.“ 33 Die Symbolik des Leidens, 206 Karolina Rapp 34 Schwarzenbach, Lyrische Novelle, S. 69. 35 Ebd., S. 78. 36 Ebd., S. 85-86. 37 Ebd., S. 48. 38 Ebd., S. 50. der Krankheit und des permanenten Schlafentzugs des Protagonisten steht für die unerfüllte Liebesbeziehung mit Sibylle, worauf der Erzähler verzweifelt re‐ agiert: Fahren wir doch! Sagte Sibylle. Sie bat mich beinahe darum. Ich schlug mit der Faust auf mein Steuerrad. „Aber was hat es für einen Zweck“, sagte ich. „Warum sollen wir nicht endlich einmal schlafen? Ich kann es nicht mehr aushalten. 34 An einer anderen Textstelle kommt die zweite Bedeutungsebene zum Vorschein. Im Gespräch mit Erik, dem schon oben erwähnten Freund von Sibylle, sagt der Ich-Erzähler: [Als] ich Erik ansah, begriff ich etwas und sagte: „Du bist weitergekommen als ich. Du kennst sie länger und dich hat sie geliebt. Mich liebt sie nicht.“ „Das weisst du also“ - sagte er beinahe streng. „Wenn es nötig für mich wäre, würde sie auch mit mir schlafen“, sagte ich und war sehr verletzt. Wir waren ganz verfeindet. „Du lügst ja, sagte Erik.“ 35 Der namenlose Protagonist, der in der Novelle nicht ausreichend als Mann ge‐ zeichnet (z. B. über eindeutig männliche Attribute) wird, entwickelt ein Kon‐ kurrenzverhältnis zu Erik. Er kämpft nicht nur gegen einen richtigen Mann mit einem männlichen Namen, sondern auch gegen Konventionen und Realität, gegen ein sozial akzeptiertes Liebesmodell und ein gesellschaftliches Tabu. Erik als Vertreter der Vernunft hebt die Bedeutung von Gesetzen hervor: Man hat mich angelogen: Ich hätte doch mit Sibylle leben können. Gut, die Welt wäre mit mir nicht einverstanden gewesen und ich wäre bestraft worden. Es gibt Gesetze, sagte Erik. Ich hasste ihn, weil er stärker war als ich […]. Er sagte mir, dass man gewisse Lebensnotwendigkeiten einsehen müsse. 36 Erik dagegen scheint den Protagonisten nicht als seinen Konkurrenten ernst zu nehmen und entwickelt eine „Fürsorge für den ständig kranken Ich-Erzähler“. 37 Trotz heftiger Hassgefühle Erik gegenüber gesteht der Protagonist schwermutig in der Stunde seiner größten Einsamkeit endlich selbst: „Ich weiss, dass es mir bei Sibylle nichts helfen konnte, wenn Erik wegging.“ 38 Der entscheidende Wen‐ depunkt, an dem der Protagonist endgültig einsieht, dass die Liebesbeziehung 207 Inszenierungen von Geschlechtsidentitäten 39 Ebd., S. 30. 40 Perret, „Ernst, Glück und Würde des Daseins“, S. 119-144. 41 Schwarzenbach, Lyrische Novelle, S. 9. 42 Perret, „Ernst, Glück und Würde des Daseins“, S. 114-115. mit Sibylle scheitern muss, ist die unmögliche Adoption des Kindes von Sibylle auf einem offiziellen Weg. Über Schlaf und Krankheit, die den Erzähler ursprünglich mit Sibylle ver‐ banden, entzieht er sich ihr endlich und geht aufs Land, um sich wieder an den Ablauf der Tage und an gesunden Schlaf zu gewöhnen. 39 Im Nacht-Raum bleibt nun für den Protagonisten etwas beruhigend Irdisches, was ihn von seinem Alltag, seiner Niedergeschlagenheit und seinem gesunkenen Lebensmut befreit. Alle Beziehungen in der Lyrischen Novelle kann man als Abhängigkeitsbe‐ ziehungen bezeichnen. Die kalte, manchmal zärtliche und meist unnahbare Si‐ bylle erscheint wie eine Inkarnation von Erika Mann - die größte und unerfüllte Liebe von Annemarie Schwarzenbach und gleichzeitig die einzige Person, die mit der Rolle der Mutter im Leben der Schweizer Schriftstellerin konkurrieren kann. Die Autorin unterzeichnet oft ihre Briefe an die Freundin mit „Dein Kind A.“ 40 Sie fühlte sich durch Erikas Temperament, ihre Vitalität und Leiden‐ schaft für das Leben, ihre lebensbejahende Lebenseinstellung und vermutlich sogar von ihrer Dominanz insgesamt sehr angezogen. Die einzige Hoffnung der Autorin auf Befreiung aus der fatalen Anhängigkeiten war das Schreiben, dessen Bedeutung und Rolle sie auch in der Lyrischen Novelle betont: „Boden kann man nicht wegnehmen. […] Ich werde für das, was ich heute schreibe, um die Nach‐ sicht bitten.“ 41 Ihr Territorium, das sie mit dem Schreiben erschaffen hat, konnte man ihr auch nicht wegnehmen und ein gedruckter Text entzog sich jeder Be‐ einflussung. 42 Indem ihre eigene Existenz literarisiert wird, werden Konflikte - die in der Auseinandersetzung mit der Außenwelt erlebten wie die innerpsy‐ chischer Art - erst erträglich. Das Schreiben hat vor allem eine identitätsstiftende und stabilisierende Funk‐ tion. Das Schreiben lässt Raum für den Brückenschlag von „Jetzt“ des Schaf‐ fensmoments zu Vergangenheit und Zukunft. Das Autobiographische ist also nicht nur der Schreibanlass, sondern auch ein Motiv des Textes. Der Schreib‐ prozess ist als raumkonstruierend zu verstehen, er ermöglicht das zeitweilige Heraustreten aus der einen zeitlichen Dimension in eine andere alternative zeitliche Dimension, schafft Distanz, mythische Raumebenen und bietet der Autorin so die Möglichkeit zu reflektieren. Der Schreibtisch erweist sich als derjenige Ort, an dem Schwarzenbach ihre problematische Konstruktion be‐ wusst wird: der notwendigen Verknüpfung der Selbst-Erfahrung mit der Erfah‐ rung des schlechthin Anderen. Ihre Texte bleiben ambigue und verweigern ein‐ 208 Karolina Rapp 43 Laura Kajetzke, Wissen im Diskurs: Ein Theorienvergleich von Bourdieu und Foucault, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2008, S. 79. 44 Jenny Bauer, Geschlechterdiskurse um 1900: Literarische Identitätsentwürfe im Kontext deutsch-skandinavischer Raumproduktion, transcript, Bielefeld, 2016, S. 51. 45 Vojta, „Im Netz der Schicksalswege“, S. 275-286. 46 Anne-Marie Heintz-Gresser, „Annemarie Schwarzenbach als Thomas-Mann-Gestalt“, in: Elvira Willems (Hrsg.), Annemarie Schwarzenbach: Autorin - Reisende - Fotografin. Dokumentation des Annemarie Schwarzenbach Symposiums in Sils / Engadin vom 25. bis 28. Juni 1998, Centaurus Verlag & Media, Freiburg i. Br., 1998, S. 79-92, hier S. 81. deutige Form- und Gattungsvorgaben. Dieser hybride Raum des Schreibens verweist auf Lücken, leere Stellen und wird zum Übergangsraum, der der intel‐ lektuellen Nomadin ihre Existenz sichert. Der versteckte homoerotische Sinn des Subtextes im Oberflächentext weist in der Lyrischen Novelle auf den von Foucault beschriebenen Zusammenhang von Macht und Wissen hin, die sich gegenseitig entweder stabilisieren oder neue Macht-Wissen-Formen produzieren. 43 In der Lyrischen Novelle herrschen scheinbar das Nichtwissen, das Eve Sedgwick als „Manifestation einer episte‐ mologischen Machtposition“ 44 definiert, und die Weigerung, bestimmte Wis‐ senselemente wahrzunehmen. 45 Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass das im Text camouflierte homosexuelle Begehren als Ausdruck der Gefühlslage der Er‐ zählinstanz zu verstehen ist, und dass die verborgenen Textelemente die Kon‐ zepte von Maske und Signal bzw. von Oberflächen- und Subtext entblößen. Schwarzenbach konfrontiert den Rezipienten mit der gesellschaftlich tradierten Ordnung und verweigert gezielt jene Eindeutigkeit. Aus diesem Grunde de‐ konstruiert sie auch die starre Geschlechterdichotomie und signalisiert das Un‐ behagen, das durch die Verweigerung geschlechtsspezifischer Attribute und die Androgynie ihrer Helden hervorgerufen wird. Das Geschlecht ist für sie weder Zuschreibung noch Verpflichtung, sondern es wird zu einem performativen, immer wieder neu zu konstruierenden Akt. Ihre Protagonisten sind an der Text‐ oberfläche männlich und in der Tiefenstruktur weiblich, jung, kreativ und and‐ rogyn im Sinne der Harmonie, der Suche nach Vollkommenheit. Im gender-entrückten Raum der Lyrischen Novelle herrscht eine Atmosphäre von tiefer Sehnsucht nach künstlichen Paradiesen, namenloser Ungewissheit und latenter Homo- und Bisexualität. Die Protagonisten können sowohl als Ge‐ schwister als auch als Geliebte wahrgenommen werden. 46 Erst an der Schwelle zwischen Traum und Realität ist die Infragestellung der üblich anerkannten Gesellschaftsnormen möglich, die in der Lyrischen Novelle dazu beigetragen haben, dass die Liebe an Konventionen, Intoleranz und Entfremdung scheitert. Im Dezember 1931 schreibt Schwarzenbach an Erika Mann: „Ich glaube über‐ haupt nicht mehr, E.- dass es so etwas wie eine glückliche Liebe gibt, es ist immer 209 Inszenierungen von Geschlechtsidentitäten 47 Zitiert nach: Vojta, „Im Netz der Schicksalswege“, S. 279-280. 48 Zitiert nach: Alexandra Lavizzari-Raeuber, Fast eine Liebe: Annemarie Schwarzenbach und Carson McCullers, Ebersbach & Simon, Berlin, 2008, S. 92. Siehe auch das von Robert Musil gestaltete Geschwisterverhältnis von Ulrich und Agathe in seinem Mann ohne Eigenschaften; vgl. dazu den Beitrag zu diesem Band von Elisa Meyer. scheußlich, ernüchternd u. grenzenlos vereinsamend.“ 47 Es bleiben nur die Sprache als einzige Hoffnung und, wie Klaus Mann in seinem Tagebuch notiert,: „ihr [Schwarzenbachs] schaurig sich verändernder Blick. Die verhängnisvolle Stelle zwischen den Augenbrauen“. 48 Bibliographie Jenny Bauer, Geschlechterdiskurse um 1900: Literarische Identitätsentwürfe im Kontext deutsch-skandinavischer Raumproduktion, transcript, Bielefeld, 2016. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1991. Heinrich Detering, Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Wallstein Verlag, Göttingen, 2002. Ann-Kristin Dübner, „Verstellte Figuren. Camouflage und Maskerade als Konstituti‐ onsstrategien geschlechtlicher Identitäten bei Annemarie Schwarzenbach“, in: dies./ Falko Schnicke (Hrsg.), Perspektive, Medium, Macht. Zur kulturellen Codierung neu‐ zeitlicher Geschlechterdispositionen, Königshausen & Neumann, Würzburg, 2010, S. 139-158. Walter Fähnders / Sabine Rolf (Hrsg.), Annemarie Schwarzenbach Analysen und Ein‐ drücke, Aisthesis, Bielefeld, 2005. Uta Fleischmann (Hrsg.), Wir werden es schon zuwege bringen, das Leben. Annemarie Schwarzenbach an Erika und Klaus Mann. Briefe 1930-1942, Centaurus Verlag & Media, Pfaffenweiler, 1993. Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, 2. Band, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1995. Areti Georgiadou, „Das Leben zerfetzt sich mir in tausend Stücke“ Annemarie Schwarzen‐ bach. Eine Biographie, dtv, München, 1995. Gerhard Härle / Maria Kalveram / Wolfgang Popp, Erkenntniswunsch und Diskretion: Erotik in biographischer und autobiographischer Literatur, Rosa Winkel Verlag, Berlin, 1992. Anne-Marie Heintz-Gresser, „Annemarie Schwarzenbach als Thomas-Mann-Gestalt“, in: Elvira Willems (Hrsg.), Annemarie Schwarzenbach: Autorin - Reisende - Fotografin. Dokumentation des Annemarie Schwarzenbach Symposiums in Sils / Engadin vom 25. bis 28. Juni 1998, Centaurus Verlag & Media, Freiburg i. Br., 1998, S. 79-92. 210 Karolina Rapp Laura Kajetzke, Wissen im Diskurs: Ein Theorienvergleich von Bourdieu und Foucault, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2008. Alexandra Lavizzari-Raeuber, Fast eine Liebe: Annemarie Schwarzenbach und Carson McCullers, Ebersbach & Simon, Berlin, 2008. 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Band: 1932-1945, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1986, 2. Band: 1945-1949, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1982 und 3. Band: 1950-1956, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1982. Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth - Versuch, eine Liebesgeschichte zu rekonstruieren Maciej Walkowiak (Poznań) 1. Zur Edition des Bandes Hernach. Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth Der Band mit Gottfried Benns Briefen an Ursula Ziebarth unter dem Titel Her‐ nach ist im Verlag Wallstein im Jahre 2001 erschienen. 1 Wir verdanken diese Edition Jochen Meyer, dem Leiter der Handschriftenabteilung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und auch der Empfängerin selbst, die ihre Einwilligung dazu nach einigem Zögern gegeben hat. Es sind insgesamt 252 Briefe, die in diesem Archiv aufbewahrt worden sind und die dank der ak‐ ribischen Arbeit Meyers publiziert werden konnten. In Ursula Ziebarths Anwe‐ senheit hat er alle Briefe Benns aus seiner nicht immer leicht lesbaren Hand‐ schrift in eine normierte Computerschrift übertragen. Diese mühselige Arbeit hat sich aber gelohnt: die Benn-Forschung hat einen neuen Forschungsstoff in der Buchform erhalten. Benn war bekanntlich ein begeisterter Briefschreiber und es sind schon auch andere Bände mit seinen Briefen herausgebracht worden, die in der Benn-Forschung ebenfalls Beachtung finden. Es sind unter anderem Benns Briefe an Friedrich Wilhelm Oelze - drei Bände, die von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder herausgegeben wurden 2 , Benns Briefe an Tilly 3 Marguerite Valerie Schlüter (Hrsg.), Gottfried Benn. Briefe. Briefe an Tilly Wedekind 1930-1955, Klett-Cotta, Stuttgart, 1986. 4 Marguerite Valerie Schlüter (Hrsg.), Gottfried Benn. Briefe. Briefe an Elinor Büller 1930-1937, Klett-Cotta, Stuttgart, 1992. 5 Bernd Witte (Hrsg.), Gottfried Benn. Briefe. Briefe an Astrid Claes 1951-1956, Klett-Cotta, Stuttgart, 2002. 6 Vgl. dazu: Ursula Ziebarth, Zuvor, in: HRN, S. 7. 7 Vgl. dazu: Joachim Dyck, Wir verstehn unter Liebe etwas anderes, URL: www.welt.de/ print-welt/ article474436 (letzter Zugriff am 9. November 2016). Wedekind 1930-1955 3 , seine Briefe an Elinor Büller 1930-1937 4 und an Astrid Claes 1951-1956. 5 Benns Briefe sind nicht nur ein Kommunikationsmittel - der Autor verwendet in ihnen unterschiedliche Selbstgestaltungsstrategien, die na‐ türlich in Briefen an Frauen anders geartet sind als in denen an männliche Emp‐ fänger. Insofern lassen sich seine Briefe in diesem Kontext in zwei solche Be‐ reiche einteilen. Dies betrifft natürlich auch Benns Briefe an Ursula Ziebarth. Der Band Hernach verdient dabei eine besondere Aufmerksamkeit. Die hier enthaltenen Liebesbriefe sind ein Zeugnis einer verwunderlichen Liebesge‐ schichte, die von einem der bedeutendsten Lyriker der Moderne, von dem Phä‐ notyp dieser Stunde, initiiert worden ist. Eigenartig ist an diesem Band auch, dass Benns Briefe mit Ursula Ziebarths Nachschriften versehen worden sind. Und so erhält der Leser nicht nur Benns Briefmaterial, sondern auch Ziebarths Kom‐ mentare und Ergänzungen, die nach gut vierzig Jahren verfasst worden sind. Sie selbst betrachtet es als einen quasi Dialog mit ihrem Liebhaber von damals, der in der hernach-Perspektive verläuft. Was aber die Rekonstruktion dieser Lie‐ besgeschichte wesentlich erschwert, ist der Mangel der Briefe von der anderen Seite: mit aller Wahrscheinlichkeit sind nur drei Briefe von Ziebarth erhalten geblieben und sie befinden sich auch im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. 6 Es gibt aber auch kritische Stimmen zum Konzept dieses Bandes: Joachim Dyck, Vorsitzender der Gottfried-Benn-Gesellschaft und zweifelsohne ein aus‐ gewiesener Benn-Kenner, stellt aus der wissenschaftlichen Position die Idee des Bandes in Frage. In seiner Perspektive ist es unberechtigt, Ziebarths Kommen‐ tare in einem Band dermaßen gelten zu lassen, der Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth im Titel führt. 7 Und hier ist noch ein Faktor erwähnenswert: Elinor Büller und Tilly Wede‐ kind waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Benns Briefen an sie nicht mehr am Leben. Am Rande sei hier ein noch schwierigerer Kontext angespro‐ chen: am Anfang der 1990er Jahre hat noch Benns Ehefrau, Dr. Ilse Benn, gelebt, die zwar von dieser Liebesaffäre sofort gewusst hat, aber die Absicht, diese Briefe nach langer Zeit erscheinen zu lassen, war ihr wahrscheinlich nicht unbedingt 213 Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth 8 Dr. Ilse Benn ist im Jahre 1995 in Berlin gestorben. gleichgültig. 8 Emotionen und Spannungen begleiten also diese Liebesgeschichte, auch nach über 40 Jahren. Der Band Hernach setzt sich aus folgenden Teilen zusammen: zuerst Ursula Ziebarths Einleitung, die Zuvor betitelt worden ist, dann kommt der Hauptteil mit Benns Briefen und Ziebarths Nachschriften, auf die dann der Anhang folgt mit Widmungen, Ziebarths Danksagung und Lebenslauf - von ihr selbst ver‐ fasst - und schließlich Jochen Meyers editorischer Kommentar. In einem wis‐ senschaftlich ambitionierten Band ist es allerdings auch aus meiner Sicht kon‐ trovers, Briefe zu veröffentlichen, die von Nachschriften begleitet werden. Einerseits ist es als ein Versuch aufzufassen, das Nichtvorhandensein von Zie‐ barths Briefen auszubalancieren, und andererseits ist es methodologisch frag‐ lich, inwiefern es berechtigt ist, auf die Briefe die Nachschriften folgen zu lassen, in denen Sich-Erinnern und Vergessen, Dichtung und Wahrheit unzertrennlich im autobiographischen Strom auftauchen. Diese Briefe aber mit eben diesen kontroversen Nachschriften bilden in dieser nachfolgenden kurzen Betrachtung die Basis für den Versuch, diese Liebesge‐ schichte zu rekonstruieren. Sie steht eindeutig unter dem Vorzeichen von Eros und Logos. Die zwei Hauptelemente beschattet jedoch der dritte große Mit‐ spieler: es ist der Thanatos. Diese Liebesgeschichte hat sich nämlich in den zwei letzten Lebensjahren Benns abgespielt. Mit seinem Tod im Jahre 1956 geht sie für Ursula Ziebarth unerwartet zu Ende. Unter vielen Liebschaften und Liebes‐ geschichten Benns ist sie also die letzte. 2. Der große Dichter und die hoch ambitionierte Autorin. Gottfried Benn und Ursula Ziebarth - zwei Welten, die sich nicht ohne Mühe nahekommen In der Benn-Forschung sind - wie bereits erwähnt - sehr viele Liebesaffären und Liebesgeschichten Benns bekannt. Gleichzeitig ist allerdings das bestätigte Wissen in dieser Hinsicht nicht ganz lückenlos. Biographisch gesehen ist es wichtig hier zu betonen, dass diese Liebesgeschichte zwischen Benn und Zie‐ barth in die Phase seines späten Ruhmes fällt, was für den Verlauf dieser Ge‐ schichte nicht ohne Bedeutung ist. Interessanterweise erscheint der Name Zie‐ barth recht selten in Benns Biographien, um hier nur die Klassiker anzuführen, wie etwa die Biographie von Friedrich Wilhelm Wodtke oder die von Walter 214 Maciej Walkowiak 9 Vgl. dazu: Friedrich Wilhelm Wodtke, Gottfried Benn, J. B. Metzlersche Verlagsbuch‐ handlung, Stuttgart, 1970 und Walter Lennig, Benn, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1986. 10 Vgl. dazu: Helmut Lethen, Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Rowohlt, Berlin, 2006. 11 Vgl. dazu: Ina Hartwig, Lass doch die Rosen, URL: www.fr-online.de/ literatur/ lass-doch-die-rosen (letzter Zugriff am 9. November 2016). 12 Vgl. dazu: Lethen, Der Sound der Väter, S. 264-267. 13 Ebd., S. 261. Lennig. 9 Auch bei Helmut Lethen, in seinem biographisch angelegten Werk unter dem Titel Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit erscheint ihr Name nicht. 10 Nichtsdestoweniger scheint es in vielerlei Hinsicht bedeutend und erkenntnisreich, den Versuch zu unternehmen, die Geschichte dieser intensiven Liebesbeziehung zu rekonstruieren. Gottfried Benns spätem Ruhm in den Jahren 1950-1956 ist schon in der For‐ schung viel Aufmerksamkeit gewidmet worden. Aber im Kontext des Erotischen soll noch auf einiges hingewiesen werden, um zuerst den Gesamtrahmen zu erkennen, in welchem sich die Hernach-Geschichte ereignen konnte. Generell vertritt Benn sein Leben lang den zynischen Standpunkt im Bereich des Eroti‐ schen, dass gute Regie besser sei als die Treue. Und so ist es vorgekommen, dass er auch parallele Liebesaffären gehabt hat, was auch Ina Hartwig in ihrem kurzen Beitrag zur Veröffentlichung des Bandes Hernach bemerkt hat. 11 Und obwohl seine Einstellung dazu eigentlich bekannt war, ist trotzdem aus der Ver‐ öffentlichung des Bandes Hernach ein Skandal in zweierlei Hinsicht geworden. Sie sind schon hier erwähnt worden - einerseits sind es die kontroversen Nach‐ schriften Ziebarths und andererseits ist es der Kontext seiner Ehefrau. Lethen diagnostiziert in seiner quasi Benn-Biographie zutreffend, dass Benn auch in der Spätphase seines Lebens und Schaffens eine recht amoralisch-me‐ chanistische Einstellung zum Erotischen und zur Liebe hatte. 12 Was dabei mit‐ klingt, sind seine expressionistischen Wurzeln und die Verabsolutierung des Kunstprinzips in der Nachfolge Nietzsches. Es schließt aber gleichzeitig bei ihm nicht eine spezifisch verstandene Allianz unter den Geliebten in jeder Liebes‐ affäre aus. Lethen nennt Benns große Wiederkehr am Anfang der 1950er Jahre „das größte Comeback seit Lazarus“ 13 und stellt dann im anschließenden Kapitel Bergpredigt des Tierischen Benns amoralische Grundprinzipien dar: Als Gegengift gegen das ideologische Geschwätz der Schöngeister, denen es auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder entweder um das Höhere geht oder die am Busen der (Provinz-)Natur liegen, scheint ihm sein Werk aus dem expressionistischen Jahrzehnt erneut nützlich zu sein. Es stürzt den Menschen vom strahlenden Sockel, auf dem er 215 Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth 14 Lethen, Der Sound der Väter, S. 264-265. Alle in Anführungszeichen gesetzten Zitate stammen aus: Gottfried Benn, Vorbemerkung zu: Frühe Lyrik und Dramen, in: Bruno Hillebrand (Hrsg.), Szenen und Schriften. In der Fassung der Erstdrucke, Fischer Taschen‐ buch Verlag, Frankfurt am Main, 1990, S. 283-285. 15 Benns Brief vom 6. August 1954 an Ursula Ziebarth, in: HRN, S. 10. sich gerne sieht, ins Dunkel seiner Existenz. Der Abbau humanistischer Arroganz ist wieder aktuell. „Ein kurzer Aufenthalt im Dunkel, auch im Gemeinen, schien dieser Stimme moralisch angebracht.“ Mögen die Schöngeister auch mit Schrecken konsta‐ tieren, dass Benn den Menschen tierischer gemacht hat und ihm höhere Pornographie nicht abzusprechen ist; sollen sie sich doch in ihren Naturidyllen verkriechen. Er selbst will eine Lyrik, die es im Ausland seit Mallarme und Henry Miller gibt, „ohne jede Rücksicht auf Schulbuchfähigkeit, Präsidententelegramme, Akademiebelohnungen und -belehrungen“. Darum beharrt Benn auch Oelze gegenüber auf der Veröffentli‐ chung der frühen Lyrik, inklusive der berüchtigten Wendung: Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch. Infernalisch ist der Spruch, nach Schwefel und Absinth schmeckt er, und er zieht sich wie ein Leitmotiv durch sein Werk: Im Dunkel leben, im Dunkel tun, was wir können; das ist Benns „Bergpredigt“. 14 Benns Statische Gedichte (1948) und andere Texte im Rahmen seines Spätwerks sind ein großes poetisches Resümee. Als er versucht hatte, poetische Bilanz aus seiner Vita zu ziehen, lernte er Ursula Ziebarth kennen. Es beginnt mit einem Brief Ziebarths an Benn: sie möchte, dass er nach Bremen komme, um aus seinem Werk zu lesen. Er antwortet mit einem höflichen Brief, in dem er sie um einen Anruf bittet. Dieser Brief trägt das Datum: der 5. August 1954, Berlin. Und das ist zugleich der Anfang dieser Liebesbeziehung. Nach diesem Telefonat treffen sie sich in einem Cafe zum Eis. Das Gespräch war für beide Seiten viel‐ versprechend und reizend. Dies kann man wenigstens Benns Briefen ent‐ nehmen, die er ihr kurz danach geschickt hat. Seine Begeisterung für sie ist nur teilweise in diesem kurzen Brief abgebremst worden: Sehr verehrtes gnädiges Fräulein, haben Sie vielen Dank, dass Sie mir an diesem heißen Tag zwei so reizende Stunden schenkten - eine schwarze Figur mit so viel spru‐ delndem Elan! Tausend Dank auch für ihre Beratung in Sachen Worpswede. Ob ich dorthin fahre, weiss ich im Augenblick noch nicht. Ich werde mir erlauben, Sie noch zu benachrichtigen u. um Vermittlung im Cafe W. zu bitten. Ich hoffe sehr, Sie wie‐ derzusehn und bin mit vielen Grüssen - Ihr sehr ergebener Benn. 15 Diese ereignisreiche Geschichte kann natürlich in dem bescheidenen Rahmen dieser kurzen Analyse nur skizzenhaft rekonstruiert werden. Und so werden nur ihre wichtigsten Aspekte aus dem ganzen inhaltlichen Dickicht hervorge‐ 216 Maciej Walkowiak 16 Vgl. dazu: G. Benns Brief vom 17. August 1954, in: HRN, S. 14-17. 17 Ursula Ziebarths Nachschrift zu Benns Brief vom 20. August 1954, in: HRN, S. 32-33. hoben. Was schon am Anfang relevant wird, ist der Altersunterschied zwischen den Liebhabern und die Art, wie sie damit umgehen. Ein anderer wichtiger Un‐ terschied ist hier die völlig andere Positionierung auf dem literarischen Markt. Benn ist ja auch offensichtlich ein unvergleichbar größeres literarisches Format. Es scheint bedeutend zu sein, weil Ursula Ziebarth eine große Aufstiegschance in ihrer literarischen Karriere gerade in der Liebesbeziehung mit Benn erblickt hat. Schließlich sind es beträchtliche mentale Differenzen, die diese Liebesge‐ schichte beschattet haben. Jedenfalls beginnen sie sich relativ regelmäßig zu treffen. Die erste wichtige Station auf diesem Wege ist Worpswede - die bekannte Künstlerkolonie bei Bremen. Benn besucht sie dort, aber er ist eigentlich von dem dortigen Künst‐ lerkreis wenig begeistert. Das Bürgerliche in ihm gerät in Kollision mit dem freien Kunstgeist in Worpswede. Diese Künstlergemeinde hat ihm im Prinzip Missbehagen bereitet. Aber im Gespräch mit Ursula hat er vor allem das schlechte Moorklima in diesem Ort betont. Benn geht aber bald mit seinen kri‐ tischen Ansätzen weiter: er schreibt ihr in einem Brief, dass sie unbedingt ihr Leben ändern müsse und dass ihr Leben in einer Ein-Zimmer-Wohnung deklas‐ sierend sei. Sie reagiert mit Staunen und Ärger: sie kennen sich erst knapp zwei Wochen und er stelle ihr schon eine dermaßen radikale Diagnose. 16 Eine neue Spannung bringt Benns Wunsch mit sich, ihre Liebesbeziehung in strenger Konspiration seiner Ehefrau gegenüber geheim zu halten. Und so bietet er ihr an, immer dem eigentlichen Brief an ihn einen kleinen geheimen Zettel beizulegen. Und so könnte er notfalls den eigentlichen Brief seiner Ehefrau vor‐ lesen und den kleinen Zettel nur für sich behalten. Ursula Ziebarth kommentiert es mit Unbehagen in ihrer Nachschrift zu diesem Brief: G. B. hatte mich dazu bewegen wollen, seiner Ehefrau wegen, ihm Briefe neutralen Inhalts zu schreiben, die er ihr zeigen konnte, Privates, uns Betreffendes aber auf einen Extrazettel zu notieren, den er für sich behielt. Ich hatte das deklassierender gefunden, als in nur einem Zimmer zu wohnen. Weder aus meiner Familie noch von meinen Freunden, auch von den Worpsweder Künstlern nicht, kannte ich solches Verheimli‐ chen. Mir gefiel das verdeckte Spiel nicht, in das ich gezogen werden sollte. Und wenn ich dann doch ein paar Mal solche neutralen Briefe mit beigelegtem Zettel ihm zuliebe schickte, trug das bei mir zu - wenn auch unterdrücktem - Unbehagen an der Bezie‐ hung zu Benn bei. 17 217 Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth 18 Benns Brief an Fr. W. Oelze vom 22. August 1954, in: HRN, S. 45. 19 Ursula Ziebarths Nachschrift zu Benns Brief vom 24. August 1954, in: HRN, S. 49. Ziebarth akzeptierte diesen Sachverhalt wohl aber mit dem Hintergedanken, in Zukunft offiziell Benns Ehefrau oder Lebensgefährtin zu werden. Benn aber versucht, diese Liebesbeziehung zu rechtfertigen - gegen sich selbst und gegen seinen Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze. Ziebarth stieß im Jahre 1980 auf Benns Brief an Oelze, in dem es geschrieben steht: Aber hören Sie mich an: wenn ein Mann meiner Jahre noch einmal auf etwas stösst, das ihm Freude macht, kann er es sich leisten. Richten Sie bitte Ihre Gedanken nicht in Richtung Erotik, sondern in der Richtung, dass es einen sehr berührt, wenn man als alter Mann überhaupt noch auf ein inneres Entgegenkommen bei reizvollen jungen Frauen stösst, auf eine Berührung der Sphären, zu denen natürlich auch die Erotik gehört, die aber etwas ganz anderes bewirken und bedeuten, nämlich eine Art Bewe‐ gung affektiver Schichten, die einen für eine Weile fortführen von Erstarrung, Mü‐ digkeit, Fettwerden, Ranzigwerden - von all diesen Dingen, in die ich geraten war und aus denen ich hier kein Entkommen sah. 18 Gottfried Benn hält offensichtlich die Ehe für eine gesellschaftlich-bürgerliche Konvention, die jede Existenz zwar stabilisieren kann, aber treu wollte er als Ehemann nicht bleiben. Diese zwiespältige Perspektive ist ein Beweis mehr dafür, wie kompliziert seine Persönlichkeitsstrukturen waren. Sie haben auch oft gegensätzliche Komponenten wie etwa Bürgerlichkeit und Antibürgerlich‐ keit enthalten. Auf jeden Fall braucht seine Künstlernatur permanent neuen Zündstoff und neue Inspiration, um weiter kreativ existieren zu können. Diese Liebesgeschichte entwickelt sich zwar intensiv, aber es mangelt ihr nicht an Spannungen und Missverständnissen. Es sind Kleinigkeiten oder auch größere Probleme. Harmonisch scheint sie nur in kurzen Phasen zu sein. Ein Beispiel aus dem Bereich der Kleinigkeiten: Benn schickt einmal Ursula zwei Paar Strümpfe - jedes Paar für eine andere Gelegenheit und verfehlt damit den erwarteten Effekt. Sie findet es merkwürdig, Strümpfe von ihm erhalten zu haben und infolgedessen fühlt sie sich fast verletzt. Sie schreibt dazu in ihrer Nachschrift zu Benns einschlägigem Brief: „Es war nicht nach meinem Ge‐ schmack, daß man mir Strümpfe schenkte.“ 19 Das viel größere Problem war es, dass sie wenig Interesse seinen literarischen Werken entgegengebracht hat. Zum einen war sie sehr auf sich selbst konzent‐ riert und zum anderen hat sie nicht ganz vermocht, seine Texte zu verstehen. Es war natürlich für Benn eine Kränkung in vielen Folgen, was er allerdings nur schlecht monieren konnte. Er hat ihr trotzdem seine Texte mit der Bitte um 218 Maciej Walkowiak 20 Ursula Ziebarths Nachschrift zu Benns Brief vom 30. Dezember 1954, in: HRN, S. 207. 21 Vgl. dazu: Benns Brief vom 5. Januar 1955, in: HRN, S. 213-215 und Ziebarths Nach‐ schrift zu diesem Brief, in: HRN, S. 215-216. Lektüre und Reflexion zugeschickt, aber die Resonanz war viel bescheidener als erwartet. Benns sarkastische, ironische oder gar schnöde Töne begeistern Ursula auch recht selten. Dabei fehlt es nicht an Missverständnissen in dieser Hinsicht: sie nimmt vieles in seinen Briefen allzu wörtlich oder sie ist schnell über solche Formulierungen entsetzt, die in ihrer Sicht unpassend sind. Ein interessantes Beispiel hierfür ist ihr brieflicher Gedankenaustausch über Walter Niemann, Künstler und Professor an der Bremer Hochschule, den sie beide persönlich gekannt haben. Benn nennt ihn in seinem Brief vom 30. Dezember 1954 einen „tadellosen Mann“. Ihre Reaktion darauf ist für Benn unerwartet negativ. In ihrer Nachschrift zu diesem Brief lesen wir: Aber der vorliegende Brief gab mir Zündstoff. Ich fand es empörend, dass er W., ge‐ meint ist Walter Niemann, einen „tadellosen Mann“ nannte. Der Hochmut in der For‐ mulierung brachte mich geradezu auf. „Einen tadellosen Mann“, so fand und finde ich, kann ein mittelständischer Unternehmer den LKW-Fahrer nennen, den er in Diensten hat, nicht aber konnte Benn einen Freund von mir so charakterisieren, der Benn, ich muß es so ausdrücken, an Loyalität, Fairneß weit überlegen war. Niemann war kein Beckmann und kein Klee, aber ein wirklicher Künstler. Als Professor an der Bremer Hochschule hat er die Studenten hervorragend gefördert. Benn war immer noch haltlos eifersüchtig auf ihn. 20 Auch Benns Tarnungsstrategien mochte sie auch nicht so sehr. Im Januar 1955 hatte er beispielsweise eine Lesung in Hamburg, wo er sich unter anderem mit seinem langjährigen Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze treffen sollte. Noch vor der Abreise in Bremen hat Benn Ursula gebeten, ihn in Anwesenheit Oelzes nicht zu duzen. Sie fand es merkwürdig und glaubte, dass es nicht nötig sei. In ihrer Nachschrift zu diesem Brief hat sie nach vielen Jahren diagnostiziert, dass Benn gesellschaftlich irgendwie eingezwängt und ängstlich gewesen sei. Jeden‐ falls fand sie damals eine Kompromisslösung und sie schlug ihm vor, die Un‐ terhaltung so zu führen, dass sie sich gar nicht anreden mussten. 21 Zu dieser Tarnung hat manchmal auch die eingeschränkte Postkommunika‐ tion gehört. Einmal sind zufällig einige Briefe Ziebarths an Benn in die Hände seiner Ehefrau geraten. Darauf bittet er sie ausdrücklich im nächsten Brief darum, ihm nicht jeden Tag zu schreiben: 219 Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth 22 Benns Brief vom 26. Januar 1955, in: HRN, S. 242. 23 Benns Brief vom 24. März 1955, in: HRN, S. 282 [Hervorhebung im Originaltext]. Schreibe bitte im Augenblick nicht jeden Tag. Neulich durch Zufall bekam Ilse 2 Tage hintereinander die Nachmittagspost in die Hände, am einen Tag waren 2 Briefe, am nächsten einer. Das gab natürlich Stoff zu allerlei Unterhaltungen u. im Augenblick kann ich absolut keine kritischen Konflikte brauchen. 22 Im März 1955 waren die Spannungen zwischen ihnen stark am Wachsen. Es ist infolgedessen zu der wohl größten Krise gekommen. Benn schreibt am 24. März 1955 an Ziebarth: Ich habe keine Lust, heute mehr zu schreiben. Es ist mir zuviel, jeden Tag Brief zu lesen u schreiben u Telefon u Telegramm usw. Wir verstehn unter Liebe etwas anderes, Du u ich. Für Dich heisst Liebe, alle seine Stimmungen, Reizungen, Vorwürfe, Forde‐ rungen dem andren aufzuladen, nichts mehr mit sich selber abmachen zu können (u. vor allem nicht zu wollen), anzunehmen, dass der andre böseartig ist, wenn er mal anders ist u handelt, wie man es wünscht. usw usw. usw. Habe heute keine Zeit mehr. Gut u lieb. Dein G. 23 Benn aber vermochte nicht, diese Liebesgeschichte zu Ende zu bringen. Sie waren durch intensive briefliche und direkte Kontakte zu sehr zusammenge‐ wachsen, als dass sie imstande gewesen wären, sich abrupt zu trennen. Diese Liebesbeziehung dauerte also bis zu Benns Tod im Juli 1956. Im Band Hernach folgen auf Benns Briefe an Ursula Ziebarth der Nachbericht der Geliebten und anschließend auch ihr Lebenslauf - beides ist von ihr selbst verfasst worden. Kontrovers und kurios wirken ihre beiden Texte in diesem Band. Sie berichtet da von ihrer Liebe zu Benn in einem naiv-geschwätzigen Ton und so muss die Frage danach gestellt werden, ob das Konzept dieses Bandes nicht etwa dadurch verfehlt sei. Aber sie hat auf jeden Fall ihr Ziel nach den langen Jahrzehnten erreicht: sie tritt in diesem Band quasi ebenbürtig neben dem großen Gottfried Benn auf und damit ist ihr großer Traum in Erfüllung gegangen. 3. Resümee Die Rekonstruktion dieser Liebesgeschichte war hier aus verständlichen Gründen nur partiell möglich. Sie schreibt sich in viele andere Liebesaffären Benns ein, aber da sie die letzte ist, verdient sie auch etwas Aufmerksamkeit. Parallel dazu hat sich noch eine andere Liebesgeschichte Benns abgespielt und 220 Maciej Walkowiak 24 Bernd Witte, „Nachwort“, in: Bernd Witte (Hrsg.), Gottfried Benn. Briefe. Briefe an Astrid Claes 1951-1956, Klett-Cotta, Stuttgart, 2002, S. 150-151. es war die ganz besondere Beziehung zu der Germanistin Astrid Claes. Sie war aber eher intellektuell-geistig geprägt und bleibt ein separates Kapitel. Gottfried Benn hat sich in der Liebesgeschichte mit Ursula Ziebarth nur teil‐ weise realisiert. Es hat zwischen ihnen Differenzen gegeben, die sich als un‐ überbrückbar erwiesen haben. Der wichtigste Störfaktor war wohl das spürbare Fehlen der tiefer gehenden, intellektuell-geistigen Interaktion. Aber auch ihre Vorstellungen von Liebe gehen im Laufe der Zeit weitgehend auseinander. Diese Beziehung steht allerdings unter dem Vorzeichen von Eros und Logos, aber am Horizont erscheint schon auch Thanatos, Sela, Psalmenende. Bernd Witte bemerkt zutreffend in seinem Nachwort zu dem Band, in dem Benns Briefe an Astrid Claes veröffentlicht worden sind: Literarisch hatte er schon vorher Bilanz gezogen. In dem Brief vom 16. März 1955, in dem er Friedrich Wilhelm Oelze sein Arrangement mit den beiden Frauen anvertraut, schließt er mit der Bemerkung: „Damit Sie aber sehen, dass ich wieder bei mir selbst u bei mir allein gelandet bin, alleiner als je, beifolgende Anlage: Tristesse, aus den letzten Zeiten.“ Das großartige Gedicht […] ist eine Beschwörung der Toten. >Die Schatten wandeln nicht nur in den Hainen,/ davor die Asphodelenwiese liegt,/ sie wandeln unter uns und schon in deinen/ Umarmungen, wenn noch der Traum dich wiegt.< Diese Zeilen sind durchtränkt von der Trauer über die Vergeblichkeit der Liebe. Sie führen zugleich die Erkenntnis mit sich, daß Schreiben Abwendung vom Leben bedeutet, aber dadurch auch das Gedächtnis der Toten rettet. In diesem Kontext hat endlich auch die unaufhebbare Einsamkeit des Menschen, die die Gedichte aus den dreißiger Jahren so martialisch und mit falschem Pathos beschwören, ihren be‐ rechtigten Ausdruck gefunden. Tristesse endet mit den Zeilen: >Und dann November, Einsamkeit, Tristesse,/ Grab oder Stock, der den Gelähmten trägt - / die Himmel segnen nicht, nur die Zypresse,/ der Trauerbaum, steht groß und unbewegt.< Als Unregelmäßigkeit in der sonst so melodischen Strophe ist der unmögliche Reim >Tristesse< - >Zypresse< stehen geblieben, ein Zeichen dafür, daß auch die Schrift nicht endgültig zu retten vermag. 24 Bibliographie Gottfried Benn, "Vorbemerkung zu: Frühe Lyrik und Dramen“, in: Bruno Hillebrand (Hrsg.), Gottfried Benn. Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Szenen und Schriften, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1990, S. 283-285. 221 Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth Gottfried Benn, Hernach. Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth, mit Nachschriften zu diesen Briefen von Ursula Ziebarth und einem Kommentar von Jochen Meyer, Wall‐ stein Verlag, Göttingen, 2001. Walter Lennig, Benn, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1986. Helmut Lethen, Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Rowohlt, Berlin, 2006. Marguerite Valerie Schlüter (Hrsg.), Gottfried Benn: Briefe. Briefe an Tilly Wedekind 1930-1955, Klett-Cotta, Stuttgart, 1986. Marguerite Valerie Schlüter (Hrsg.), Gottfried Benn: Briefe. Briefe an Elinor Büller 1930-1937, Klett-Cotta, Stuttgart, 1992. Harald Steinhagen; Jürgen Schröder (Hrsg.), Gottfried Benn: Briefe. Briefe an F. W. Oelze in drei Bänden, 1. Band: 1932-1945, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1986; 2. Band: 1945-1949, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1982 und 3. Band: 1950-1956, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1982. Bernd White (Hrsg.), Gottfried Benn: Briefe an Astrid Claes 1951-1956, Klett-Cotta, Stutt‐ gart, 2002. Bernd Witte, „Nachwort“, in: Bernd White (Hrsg.), Gottfried Benn: Briefe an Astrid Claes 1951-1956, Klett-Cotta, Stuttgart, 2002, S. 150-151. Friedrich Wilhelm Wodtke, Gottfried Benn, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stutt‐ gart, 1970. Internetquellen Joachim Dyck, Wir verstehn unter Liebe etwas anderes, URL: www.welt.de/ print-welt/ article474436 (letzter Zugriff am 9. November 2016). Ina Hartwig, Lass doch die Rosen, URL: www.fr-online.de/ literatur/ lass-doch-die-rosen (letzter Zugriff am 9. November 2016). 222 Maciej Walkowiak 1 Zitiert nach: Jürgen P. Wallmann, Nachwort zum Gedichtband von Rose Ausländer „Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2002, S. 175-180, hier S. 176. „Wir reichen uns der Liebe rote Beeren“ - Rose Ausländers frühe Liebesgedichte Oxana Matiychuk (Czernowitz) Das Alterswerk der bukowinischen Dichterin Rose Ausländer zählt zu den wichtigsten literarischen Zeugnissen der deutschsprachigen jüdischen Literatur der Nachkriegszeit; die Autorin steht in einer Reihe mit Nelly Sachs, Marie Luise Kaschnitz, Hilde Domin und Gertrud Colmar. Zu ihren zentralen Themen und Motiven gehören die Heimat - Bukowina und Czernowitz -, die Erfahrung der Vernichtung des europäischen Judentums - sie selbst verbrachte die Zeit vom Oktober 1941 bis März 1944 im Czernowitzer Ghetto -, die Sprache und das lyrische Wort als Existenzgrundlage. „Alles kann Motiv sein“ ist ihr dichteri‐ sches Motto und der Titel ihres poetologischen Essays. Ihr Frühwerk dagegen wird viel weniger rezipiert; das hat vielerlei Gründe. Ausländer selbst behaup‐ tete sogar, ihr erster Gedichtband Der Regenbogen (1939) sei in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verloren gegangen. Als der ebenfalls aus Czernowitz stammende Dichter Alfred Kittner 1977 eine Kopie dieses Büchleins an Jürgen Wallmann, einen der Rezensenten Ausländers Werke, schickte, zeigte sich die Autorin keinesfalls erfreut, sondern äußerst irritiert. Sie distanzierte sich von ihren frühen Texten - „unfassbar, dass ich jemals so geschrieben habe! “ - und verbot die Publikation dieser Gedichte: „Ich bin absolut gegen eine Publizierung jener Texte zu meinen Lebzeiten. Sie kommen als Nachlaß in Frage“ 1 . Dem Selbstanspruch der Autorin, welche einen radikalen poetologischen Wandel durchmachte, um sich auf der literarischen Szene Deutschlands seit 1965 zu etablieren, waren die frühen Texte lange nicht mehr gewachsen, so dass ihr Unmut über diesen überraschenden Fund gut nachvollziehbar ist. Unter den vor 1939 entstandenen Gedichten nimmt die Liebeslyrik einen be‐ sonderen Platz ein. Sie steht nicht im Zeichen des Holocausts, sie ist noch nicht durch die traumatischen Erlebnisse der mehrmonatigen Inhaftierung durch die 2 Ulrich Kittstein, „Sprachkunst und Liebesfeuer. Überlegungen zum Umgang mit Lie‐ besgedichten“, in: Ulrich Kittstein (Hrsg.), Die Poesie der Liebe. Aufsätze zur deutschen Liebeslyrik, Peter Lang, Frankfurt am Main, 2006, S. 9-34. 3 Ebd., S. 15. 4 Paul Celan im Brief an Erich Einhorn am 23. 6. 1962. in: Marina Dmitrieva-Einhorn (Hrsg.), Paul Celan - Erich Einhorn. Einhorn: du weißt um die Steine. Briefwechsel, Frie‐ denauer Presse, Berlin, 2001, S. 6. 5 Die Zusammenfassung der Liebesgeschichte erfolgt anhand des biografischen Werkes von Helmut Braun, „Ich bin fünftausend Jahre jung“. Rose Ausländer. Zu ihrer Biogra‐ phie, Radius Verlag, Stuttgart, 1999, S. 36-51. Sowjets 1940 oder die Ghettozeit überschattet. Der Auslöser für die zahlreichen, expressiv-leidenschaftlichen Liebesverse war ihre reale dramatische Liebesge‐ schichte. Die meisten Gedichte haben ein ganz konkretes Du, an das sie gerichtet sind; wir haben es hier also nicht mit Liebesgedichten im „anakreontischen Sinne“ 2 zu tun, in denen sich „das Objekt der Begierde häufig als aus‐ tauschbar“ 3 erweist. Das Liebesmodell ist hier ein in der abendländischen Dich‐ tung deutlich überwiegendes: Angesprochen wird ein Partner, der für die Spre‐ chende das Objekt einer großen, einzigartigen Liebe darstellt. Die Geschichte dieser Ausnahmebeziehung soll hier in Kürze rekonstruiert werden, da sie als Kontext relevant ist. Ausländers Gedichte sind sehr oft biografisch geprägt. Die Aussage von ihrem Landsmann und berühmten Dichter Paul Celan - „Ich habe nie eine Zeile geschrieben, die nicht mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte“ 4 , könnte im gleichen Maße auf ihr Werk bezogen werden. Ausländers Gedichte sind jedoch nie eindimensional; das Biografische ist stets ins Philosophische, Zeithistorische, Kollektive eingebettet, es ist nur eine der vielen Facetten ihrer lyrischen Texte. Nach ihrer Rückkehr aus den USA 1926 lernte Ausländer den damals in Czer‐ nowitz lebenden und zeitweise sehr erfolgreichen Graphologen - er wurde als Gutachter selbst von dem rumänischen Königshof beauftragt - und Kulturjour‐ nalisten Helios Hecht kennen. 5 Zum Zeitpunkt der Begegnung waren beide ver‐ heiratet. Ausländer (geborene Scherzer) heiratete in den USA ihren Schulfreund Ignaz Ausländer, der mit ihr von Czernowitz nach Amerika ging und mit ihr die Bitterkeit der ersten Emigrationszeit teilte. Die junge Frau langweilte sich jedoch in der Ehe, wie sie über diese wohl mehr Zweckgemeinschaft als ein aus Liebe entstandenes Bündnis später urteilte. Helios Hecht war 15 Jahre älter als Rosalie und ebenfalls verheiratet. Der Liebesfunke zwischen den beiden muss es von Anfang an gegeben haben; aus der Begegnung wurde eine leidenschaftliche Be‐ ziehung. Ausländer erklärte ihrem Ehemann sofort, dass ein gemeinsames Leben nicht mehr möglich sei. Gemeinsam mit Helios Hecht reiste sie zurück in die USA , um ihre Ehe scheiden zu lassen, was im Mai 1930 auch geschah. Die Ehe 224 Oxana Matiychuk 6 Rose Ausländer, Liebe VI, in: dies., Hinter allen Worten. Gedichte, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2002, S. 50. 7 Brief von Helios Hecht an Rose Ausländer vom 22. Januar 1935, Bestand Archiv des Heinrich-Heine-Instituts [Unterstreichung von Hecht]. von Hecht dagegen konnte nach dem rumänischen Recht ohne Einwilligung der Ehefrau nicht annulliert werden, diese vermochte er trotz der mehrfachen Ver‐ suchen nicht erlangen. So blieb der Traum von einer Eheschließung, einer Fa‐ milie, der Wunsch, sich „angehören vor allen Augen“ 6 - wie Ausländer in einem späten Gedicht als 80-jährige Frau schrieb - unerfüllbar. Nichtsdestotrotz waren die Gefühle stärker als womöglich die Verurteilung der Öffentlichkeit und die Unzufriedenheit der Verwandtschaft, sie zogen zusammen, lebten zunächst in Czernowitz und seit Ende 1933 in Bukarest, wo sie eine Stelle als Fremdspra‐ chenkorrespondentin fand. 1935 kam es zu einem großen Drama: Ausländer beendete die Beziehung nach einem „Vertrauensbruch“ durch Helios Hecht, wie sie das Verhalten des Geliebten nannte. Hecht fühlte sich angesichts des großen Altersunterschieds offenbar nicht nur in der Rolle des Liebhabers, sondern auch in der eines Vaters, wofür sich Indizien beispielsweise in den Briefen finden lassen. So heißt es in einem von Hecht verfassten Brief einige Tage nach der Trennung: Oh, halte ein, geliebtes Kind, nicht das wehe, ungläubige Lächeln Deiner traurigen Augen soll mir antworten… Du sollst mir vertrauen, mir, der nun Dein Vater und Bruder zu sein versuchen will. Ich habe kein Kind, vielleicht wäre ich ein treuer Vater! Ich kann ein guter Freund sein… frage alle, ob ich ein dauernder Freund sein kann. 7 Wahrscheinlich mit den besten Absichten, jedoch ohne seine Partnerin davon in Kenntnis gesetzt zu haben, veröffentlichte Hecht ein paar Gedichte von ihr und dazu noch eine graphologische Analyse ihrer Schrift. Diese Handlungs‐ weise kränkte die junge Frau zutiefst, sie fühlte sich wie ein unmündiges Kind behandelt. Keiner ihrer Texte durfte ohne ihre Absegnung von dem Schreibtisch in den Druck gelangen. Ihre Gedichte waren ihr stets ein Heiligtum, ohne dass es eine Übertreibung wäre; diese Einstellung zu den eigenen Texten blieb ihr ganzes Leben lang unverändert. Zwar schickte sie ihre Fassungen oft an Freunde und „Literaturexperten“ und bat um ihre Urteile und Verbesserungsvorschläge, die sie dann berücksichtigte oder auch nicht, die Entscheidung jedoch, wann ein Gedicht druckreif ist und „abgenabelt“ werden kann, blieb einzig ihr selbst vor‐ behalten. Die Trennung wurde zu einem großen Trauma für Rose Ausländer, Hecht blieb für immer die größte Liebe ihres Lebens, aber ein Zurück kam für sie nicht in Frage. Sie war eher bereit zu leiden, als mit einem Menschen zu leben, der sie einmal verraten hatte. Dass diese Liebe sie ihr ganzes langes Leben be‐ 225 Rose Ausländers frühe Liebesgedichte 8 Rose Ausländer, Czernowitz, Heine und die Folgen, in: dies., Die Nacht hat zahllose Augen. Prosa, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2001, S. 96-99, hier S. 96. schäftigte, ihre Gültigkeit niemals verlor, beweisen auch die Gedichte aus ver‐ schiedenen Jahren, die immer wieder an den Freund mit dem Sonnennamen gerichtet sind. Die Mehrheit der Liebesgedichte aus der Zwischenkriegszeit sind poetische Zeugnisse einer großen beinahe zehnjährigen leidenschaftlichen Beziehung, sie sind aus der Situation heraus entstanden und sind teilweise durch eine sehr freizügige - wenn auch stets metaphorische - Ausdrucksweise gekennzeichnet. Bei der Darstellung der Liebe und Leidenschaft handelt es sich um eine Intel‐ lektualisierung und Ästhetisierung des Liebesvorgangs; die Autorin arbeitet teils mit tradierten Metaphern und Bildern, teils sind es aber auch ihre eigenen euphemistischen (Er-)Findungen für die Verbalisierung der Gefühle und kör‐ perlichen Empfindungen. Ihre Liebesdichtung, wie auch die Mehrheit der frühen Gedichte generell - von denen mit den expressionistischen Anklängen abge‐ sehen, welche als Folge des Kulturschocks während des Aufenthalts in New York entstanden sind - steht vor allem in der romantischen Tradition. Ausländer und viele andere Czernowitzer Dichter der Zwischenkriegszeit behielten als litera‐ rische Orientierung in erster Linie die deutschen Klassiker und die österreichi‐ sche neoromantische und symbolistische Dichtung bei; es war eine natürliche Reaktion der deutschsprachigen „Dichtergemeinschaft“ der Stadt Czernowitz, welche sich nach 1918 in einer „Inselsituation“ in der immer stärker rumäni‐ sierten Bukowina befand und der rigorosen Sprachpolitik auf diese Art trotzte. „Unsere Hauptstadt blieb Wien, nicht Bukarest“ 8 , fasste Ausländer diese Haltung in ihrem Essay Czernowitz, Heine und die Folgen zusammen. Die Verankerung in der literarischen Tradition, der deutschsprachigen ins‐ besondere und der abendländischen im Allgemeinen, und ihre Weiterführung findet ihren Ausdruck unter anderem in der Hinwendung der Dichterin zu der klassischen, in der Renaissance entstandenen und für die Liebeslyrik jahrzehn‐ telang unumgänglichen Gedichtform - dem Sonett. Der Gedichtband Der Re‐ genbogen enthält einen Zyklus von Liebessonetten. Darunter finden sich sowohl einige in der deutschen „Idealform“ - jambische Fünfheber mit Blockreim sowie andere mit Kreuzreim. Als Beispiel hier ein Sonett mit einem hohen Abstrak‐ tionsgrad: Du bist ein Rätsel mir von fremder Art. Ich such mit allen Sinnen deinen Sinn, und finde, daß ich selbst ein Rätsel bin, gelöst vom Zauber deiner Gegenwart. 226 Oxana Matiychuk 9 Rose Ausländer, Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2001, S. 102. O schöne Seele, farbig angestrahlt! Geheimnisvolles Bild auf rotem Grund! O Lied der Linien! Süßer Harfenmund, von Götterhand mir ins Gemüt gemalt! Frag nicht mein Herz nach Ursprung, Sinn und Ziel! Laß frei das Wunder fließen, wo es muß, und schöpfe staunend aus dem Überfluß! Ich fühle nur: du bist mein Saitenspiel, der weisen Schönheit edles Ebenmaß, mein letzter Atemzug im Stundenglas! 9 Fast ausnahmslos sind alle Liebesgedichte von Rose Ausländer in einer Form verfasst, innerhalb deren sich die Ich-Form und die Du-Anrede ständig abwech‐ seln. Sie stellen also eine Kommunikationssituation dar, in der sich das lyrische Ich mitteilt und dann ein „Du“ angeredet wird; ein Dialog oder ein Gespräch zwischen den Liebenden kommen jedoch nicht zustande. In einigen wenigen Texten findet sich die „Wir“-Form. Das narrative Modell in der dritten Person Singular wird beinahe nicht benutzt. So kann man von einer monologisch auf‐ gebauten weiblichen Liebesbekundung sprechen, die eine Selbstmitteilung des lyrischen Ich sowie die Verherrlichung des Geliebten und der Stunden des ge‐ meinsamen Glücks verbindet. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass Ausländers Gedichte grundsätzlich dialogisch sind, sie richten sich an ein Du. Nicht selten impliziert diese Anrede auch eine Selbstanrede. In einigen Gedichten begegnen wir metaphorischen Beschreibungen, die sich eigentlich als die Darstellung des Liebesaktes aufschlüsseln lassen (zumindest „verleiten“ sie den Leser stark zu dieser Deutungsvariante). Einige Texte aus dieser Kategorie weisen eine inhaltliche Dynamik auf, deren Rahmenstruktur von zwei „Liebeszuständen“, zwei Polen gebildet wird. Man könnte sie als die „Annährung der Liebenden“ und den „Höhepunkt der Vereinigung“ bezeichnen; dazwischen findet ein leidenschaftliches Liebesspiel statt, bei dem sich die Lust der Liebhaber entfacht und steigert. Manchmal folgt auf den „Höhepunkt“ noch eine Schlussstrophe, in der das Liebesglück oder die Beziehung im Allgemeinen von dem lyrischen Ich noch einmal reflektiert werden, wie beispielsweise im folgenden Text: 227 Rose Ausländers frühe Liebesgedichte 10 Ebd., S. 120. Mund des Geliebten, du mein roter Kahn, lockst mich hinweg aus meinem Land der Ruh! Ich treibe wie ein weißer, schlanker Schwan dem süßen Abgrund meines Wahnes zu. Ein Sturm der Glut ballt sich zu einem Schrei zusammen, der durch meine Glieder brennt wie eine Melodie der Raserei, die Leib und Seele voneinander trennt. Ich fürchte nicht die steile Felsenwand, an der mein roter Wahn im Nu zerschellt. Ich fürchte deine leise, heiße Hand, die bis zum letzten Atemzug mich hält 10 . Mund des Geliebten ist aus meiner Sicht eines der besten „orgastischen“ Gedichte von Ausländer, antithetisch aufgebaut. Die emotionale Hochspannung wird durch die kontrastiven Formulierungen „Land der Ruh / Wahn“; „roter Kahn / weißer Schwan“, „Leib / Seele“, „im Nu / bis zum letzten Atemzug“ erzeugt. Die Farbe Rot, welche für Erotik, Leidenschaft, Wollust, Verführung, Begierde, Liebe schlechthin steht, taucht zweimal auf, bereits in der ersten Zeile gibt sie in Verbindung mit dem Wort „Mund und Kahn“ den erotischen Grundton an. In der zweiten Strophe wird außerdem die „Glut“ genannt, die ebenfalls mit der roten Farbe konnotiert wird. Oppositiv dazu steht die Wortverbindung „weißer Schwan“, welche die Assoziation von Unschuld, Reinheit, Anmut evoziert. Der Schwan ist darüber hinaus als der Vogel der Liebe und Treue bekannt. Dieses Bild - eines auf den Abgrund treibenden Schwans, der sich durch eine unwi‐ derstehliche, ja magische Anziehungskraft gelockt fühlt - erinnert an die Lo‐ relei-Situation, paradoxerweise umgekehrt: Der im Wasser treibende Kahn strahlt eine „Liebesmelodie“ aus, die ein Lebewesen ganz an sich fesselt und möglicherweise in den Tod reißt. Das Wasserelement symbolisiert die Welt der Träume, der Phantasie, der Triebe; es ist lebensspendend und zugleich eine Ge‐ walt, die Zerstörung und Tod bringen kann. Die Wortverbindung „Land der Ruh“ klingt wie ein Klischee; abgesehen vom Goethes berühmten Wandrers Nacht‐ lied, finden wir diese „Formel“ wörtlich beispielsweise bei Joachim Heinrich 228 Oxana Matiychuk 11 URL: http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ joachim-heinrich-campe-gedichte-4464/ 1 (letzter Zugriff am 18. Mai 2017). 12 URL: http: / / www.wortblume.de/ dichterinnen/ verlangn.htm (letzter Zugriff am 18. Mai 2017). Campe (Abendempfindung) 11 und Kathinka Zitz (Verlangen) 12 . Die zweite Strophe kann als das eigentliche Liebesspiel gelesen werden; die Wortwahl „Sturm“, „Schrei“, „brennen“, „Raserei“ ruft die Vorstellung von einem leiden‐ schaftlichen Liebesakt hervor; die dritte eröffnet eine neue Reflexionsebene, in den zwei Schlusszeilen wird eine Art Projektion in die Zukunft eingeblendet; stilfigurenmäßig eine elegante Kombination aus dem metonymisch-synästhe‐ tischen Bild „deine leise, weiße Hand“ und der Hyperbel „bis zum letzten Atemzug“. Die Beobachtung, dass die Intensität und die Bilderabfolge einiger Gedichte Ausländers eine Art literarische Nachzeichnung eines Liebesaktes darstellen, stammt nicht einzig von mir. Einige spannende Hinweise darauf sind im Brief‐ wechsel zwischen Ausländer und ihrem „literarischen Vater“, dem großen För‐ derer vieler bukowinischer Dichter, einem bedeutenden Intellektuellen und Schriftsteller in der rumänischen Bukowina der Zwischenkriegszeit Alfred Margul-Sperber enthalten. Margul-Sperber verhalf ihr nicht nur zu Publikationen in deutschsprachigen Periodika, sondern war - nach dem Wunsch der Autorin selbst - unmittelbar an der Erstellung ihres ersten Gedichtbandes be‐ teiligt. Auch wurde er von der jungen Dichterin regelmäßig gebeten, eine Rück‐ meldung über die Texte zu geben. Der Brief mit dem an dieser Stelle relevanten „Urteil“ von Margul-Sperber ist leider nicht erhalten geblieben oder war für die Publikation nicht zugänglich. Vollständig ist jedoch Ausländers Antwort auf sein Expertenurteil zu lesen, in dem sie wahrscheinlich das von ihm benutzte Wort „Orgasmus“ in Bezug auf einen Text (oder einige Texte) aufgreift und ve‐ hement gegen eine solche Wahrnehmung protestiert. Im Brief vom 28. Juli 1939 beteuert die Dichterin: Ich habe nie ein Liebesgedicht - auch das wildeste nicht! - auf Grund sexueller Vor‐ stellung geschrieben und nie dabei an den Geschlechtsakt denken können - so fern und anders bin ich, wenn ich dichte. Sie hingegen deuten alles so um: Liebesakt unten u. oben […] und: das Gedicht hat seinen Orgasmus! Ich weiß nicht, ob ein Gedicht einen Orgasmus haben muß - ich glaube nicht […]. Vielleicht sollte man doch naiver an ein Gedicht herantreten? […] Hoffentlich nehmen Sie mir die Frechheit, mit der 229 Rose Ausländers frühe Liebesgedichte 13 Rose Ausländers Brief an Alfred Margul-Sperber, in: George Guţu / Horst Schuller (Hrsg.), Rose Ausländers Briefe an Alfred Margul-Sperber. 1931-1939, II, in: Neue Lite‐ ratur, 9, 1988, S. 52-69, hier S. 56. 14 Ausländer, Wir ziehen mit den dunklen Flüssen, S. 101. ich zu Ihnen spreche, nicht übel, wie auch ich alles gern von Ihnen hinnehme, auch die gallenbitteren Pillen der Kritik. 13 Einen ähnlichen Aufbau der Inhaltsdynamik finden wir auch bei ein paar an‐ deren Gedichten der Autorin, beispielsweise Gib mir dein knospendes Gesicht, Wir reichen uns der Liebe rote Beeren, Ich leb' im Tal, du wohnst auf einem Berge, Wenn sich deine Worte vor mir neigen. Auf das Sonett, dessen erste Zeile für den Beitragstitel genommen wurde, soll hier auch kurz eingegangen werden: Wir reichen uns der Liebe rote Beeren, gereift am Glühen unsrer Leidenschaft. Ich will mit Inbrunst deinen Leib verzehren, und iß du mich mit aller Liebeskraft. Nun haben wir Ambrosisches genossen, und unsrer Seele quoll des Nektars Saft. Der träge Raum ist unter uns zerflossen und hält nicht länger uns in seiner Haft. Du bist mein angetrauter Sterngefährte. Wir nehmen alles, was uns einst gehörte: Des Lebens Lust, der Lust Unsterblichkeit. Wir werden uns unendlich noch genießen auf Erden und in fernen Paradiesen, wie wir uns liebten vor Beginn der Zeit 14 . Dem Gedicht liegt die Metaphorik des Essens, des (Sich)-Verzehrens, des phy‐ sischen Genusses zugrunde. Das Rot und das Glühen sind wiederum die Marker des emotionalen und physischen Zustandes; die einleitende erste Zeile be‐ schreibt einen sinnlichen Vorgang und mutet gleichzeitig etwas stereotypisiert an. Bemerkenswert ist der Tempowechsel innerhalb der ersten Strophe: Wäh‐ rend die ersten zwei Zeilen die Vorstellung von einem langsamen, genüsslichen, möglicherweise bewusst in die Länge gezogenen Vorspiel evozieren, also ein musikalisches Adagio sind, so klingen die dritte und die vierte Zeile wie ein wildes Presto, vermitteln das Bild eines unaufhaltsamen Liebeskampfes bis hin zur vollen Erschöpfung. Die Exklusivität dieser Liebe wird mit dem „Ambrosi‐ schen“ angedeutet, war doch die Speise der Götter den einfachen Menschen 230 Oxana Matiychuk 15 Ausländer, Hinter allen Worten, S. 50. vorenthalten. Das Vokabular für das Flüssige - „Nektar“, „Saft“, „quellen“ und „zerfließen“ gehört zu der einschlägig sexuell konnotierten Lexik. Die Auflö‐ sung des „trägen“ Raumes bedeutet die Aufhebung der Schwerkraft und folglich die Erlangung der Schwerelosigkeit und kann als der Liebeshöhepunkt gedeutet werden. Der philosophische Sinn des Gedichtes führt zu der Idee des (verlo‐ renen) paradiesischen Zustandes zwischen Mann und Frau, der Unschuld und der Unsterblichkeit, welcher durch die Vereinigung der liebenden Herzen zu‐ mindest situativ erreicht werden kann. Eine Art „Zurückverwandlung“ könnte man diesen Vorgang nennen, wenn man wiederum einen Begriff aus dem Ge‐ dicht Liebe VI von Ausländer aufgreift, in dem die Sehnsucht nach der lange der Vergangenheit angehörenden, nicht erfüllten Liebe thematisiert wird. 15 Auffällig ist das Rollenkonstrukt zwischen dem (weiblichen) lyrischen Ich und dem (männlichen) Du, das angesprochen wird. Das Du wird als eine dem lyrischen Ich überlegene Person bzw. Gestalt positioniert. Es wird als etwas Hohes, Festes, Königliches, ja sogar Göttliches dargestellt - das Ich hingegen nimmt die Gestalt von dem Untergebenen, Weichen, Erstarrten, sogar Leblosen an. Erst durch die Einwirkung des Du wird das weibliche lyrische Ich erlöst, angehoben, zum Leben erweckt. Eine Konstellation, die möglicherweise die Be‐ ziehungswirklichkeit der beiden widerspiegelt, was am Anfang kurz skizziert wurde: Eine leidenschaftlich verliebte junge Frau und ein fünfzehn Jahre älterer und - man wolle an dieser Stelle gewohnheitsmäßig denken - erfahrener, er‐ folgreicher Mann mit der Attitüde eines allwissenden, evtl. besserwisserischen Vaters und Beschützers. Nach diesem Prinzip ist zum Beispiel das Sonett Ich leb' im Tal, du wohnst auf einem Berge verfasst. Der Text lebt von den Naturbildern, die inhaltliche Logik ist dem poetologischen Gesetz dieser strengen Gedichtform untergeordnet: Ich leb' im Tal, du wohnst auf einem Berge. Der Adler kreist um deinen kühnen Blick, und schlägt den Schrei des Angriffs und der Stärke an deine Stirn: du schleuderst ihn zurück. Verklärte Lerchen werfen deine Flammen mir zu und nehmen meine zu dir mit. Die Kluft, die trennende, wächst heiß zusammen, und zärtlich wandeln wir im gleichen Schritt. 231 Rose Ausländers frühe Liebesgedichte 16 Ausländer, Wir ziehen mit den dunklen Flüssen, S. 100. 17 Ebd., S. 31. 18 Ebd., S. 29. 19 Ebd., S. 96. Bald bist du neben mir im sanften Tal, wir schmiegen uns ans Lied der Nachtigall, und fühlen uns erhoben in die Sterne. Bald stehn wir auf dem höchsten Felsengrat, und sehn uns an den Welten unten satt: Die Liebe ist die Tiefe und die Ferne! 16 Ein Schöpfungsakt, vollbracht durch den Gott, war für die Entstehung der Welt notwendig; die Schöpfungskraft „des Liebesgottes“ ist auch notwendig, damit eine Liebeswelt entsteht: „Von dir geliebt sein ist ein Schöpfungsakt“. 17 Diese Liebe empfindet das lyrische Ich als ein Erwachen zum richtigen Leben, als die Erlösung aus dem Zustand der Einsamkeit, der Kälte, der Starre, eines sinnlosen Daseins wie beispielsweise im folgenden Vierzeiler, in dem die Autorin vor allem in den ersten beiden Zeilen durch die Alliteration und Assonanz den Klang nu‐ anciert und zwischen den Ebenen abstrakter und konkreter Begrifflichkeiten wechselt: Mein Leben lebt durch deine Liebe auf. Die weite Welt ist wieder mir beschwert. Du bist mein Zeiger, ich dein Ziffernlauf; Dein Schreiten erst gibt meinen Zahlen Wert 18 . Auch im Gedicht In deinen Augen steht das Wort geschrieben wird dem Geliebten eine göttliche Schöpfungskraft zugeschrieben: In deinen Augen steht das Wort geschrieben das noch vor Gott als erster Ursprung war. Du biegst den Regenbogen deiner Liebe wie einen Glorienschein mir um das Haar 19 . Der intertextuelle Bezug zum Bibelanfang ist offensichtlich; darüber hinaus ist es interessant anzumerken, dass die Autorin hier das Bild eines Regenbogens einführt; es ist einerseits der Titel ihres Debütbuches, andererseits ein wichtiges Symbol im jüdischen Glauben - das Zeichen des Bündnisses zwischen Gott und Mensch als das göttliche Versprechen, dass er sein Volk nie mehr untergehen lässt, wie das in der Sintflut geschehen ist. Für eine jüdische Dichterin also ein mehrdeutiges und bedeutsames Symbol. 232 Oxana Matiychuk 20 Ebd., S. 116. 21 Ebd., S. 97. 22 Ebd., S. 98. 23 Ebd., S. 124. 24 Ebd., S. 122. 25 Ebd., S. 101. 26 Ebd., S. 119. 27 Ebd., S. 118. 28 Ebd., S. 99. Immer wieder spricht das lyrische Ich von einer hingebungs- und aufopfe‐ rungsvollen Bereitschaft, sich dem Geliebten ganz zu widmen, sich ihm restlos zu geben: Des Geliebten Nächte zu entzünden, will ich augenspendend süß erblinden. Des Geliebten Atem zu umkosen, wandelt sich mein Blut in tausend Rosen. Des Geliebten Liebe zu erhalten, möcht' ich mich in tausend Frauen spalten, daß er tausendfach nur mich begehre, alle liebend nur mir angehöre! 20 Leidenschaft und Eifersucht treffen hier aufeinander. Die hyperbolischen Bilder „Tausend Rosen“, „tausend Frauen“ und „tausendfach begehre“ sollen der In‐ tensität der Gefühle und Empfindungen des lyrischen Ich einen angemessenen Ausdruck verleihen. Die Zeitverhältnisse in den analysierten Texten sind unterschiedlich: Über das Stattgefundene wird in der Vergangenheit reflektiert - beispielsweise in Du reichtest mir den schimmernden Pokal  21 , Du warst so fern und immer hinter Falten  22 , Mein Herz erschauerte wie eine Saite  23 , Mein Herz ging nackt umher  24 ; die Gegenwartsformen suggerieren die Unmittelbarkeit des Geschehens: Wir reichen uns der Liebe rote Beeren  25 , Ich lege die Korallen deiner Wort  26 , Du reifst in mir durch tausende Qualen  27 , Das Leben braust in stürmischen Akkorden oder Du legst dein Licht in alle Farben. Die Metaphern, welche für den Liebesakt, das Liebesspiel und das Liebes‐ empfinden stehen, können in einige Kategorien unterteilt werden. Sie ent‐ stammen verschiedenen Natur-, Lebensbzw. Kunstbereichen. Zwei davon - Wasser und Essen - wurden bereits benannt. Darüber hinaus finden sich Musik - Das Leben braust in stürmischen Akkorden  28 , Mein Herz erschauerte wie 233 Rose Ausländers frühe Liebesgedichte 29 Ebd., S. 95. 30 Ebd., S. 115. 31 Ebd., S. 95. 32 Ebd., S. 130. 33 Ebd., S. 125. 34 Ebd., S. 103. 35 Wallmann, Nachwort zum Gedichtband von Rose Ausländer „Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte“, S. 176. 36 Alfred Margul-Sperber, „Jüdische Lyrik in der Bukowina“, in: Felix Weltsch (Hrsg.), Jüdischer Almanach auf das Jahr 5696, „Selbstwehr“ Jüdisches Volksblatt, Prag, 1936, S. 119-120, hier S. 120. 37 Wallmann, Nachwort zum Gedichtband von Rose Ausländer „Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte“, S. 179-180. eine Saite  29 , Licht / Feuer - Wenn sich deine Worte vor mir neigen  30 , Du legst dein Licht in alle Farben  31 , Naturerscheinungen und -vorgänge - Der Acker meines Herzens stand ganz kahl  32 , Die Bäume binden sich zu Kränzen  33 und Ich ging in dich hinein wie in ein Feld  34 . Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rose Ausländer in ihrer frühen Lie‐ beslyrik, wie auch im Frühwerk im Allgemeinen, „ganz Traditionalistin“ 35 , so Jürgen P. Wallmann, bleibt. Mag sein, dass manche ihrer poetischen Liebesbe‐ kundungen sogar Merkmale „primitive[r] Erotik“ 36 aufweisen, wie Margul-Sperber es in seinem Essay Jüdische Lyrik in der Bukowina feststellt. Aller‐ dings scheint das spätere Urteil über Ausländers frühe Dichtung von Wallmann ihr gerechter zu sein als das von ihrem Zeitgenossen Margul-Sperber: Einige dieser Gedichte, unter ihnen ein Zyklus von Sonetten, können sich durchaus messen mit dem, was in jenen Jahren von anderen, damals bekannteren Lyrikern geschrieben wurde. Hier zeigt sich zumindest im Ansatz jene poetische Kraft der Rose Ausländer, die sich erst dann voll entfalten konnte, als sich die Autorin aus den zu Fesseln gewordenen Mustern der Tradition und Konvention befreit hatte. 37 Es ist auch in Bezug auf ihre frühe Lyrik festzustellen, dass sie sich in ihren Versen eine große dichterische Freiheit und Offenheit als Frau erlaubte, selbst‐ bewusst an die europäische literaturästhetische Tradition anknüpfte und unter den vielen deutschsprachigen bukowinischen Autorinnen und Autoren wohl die kühnste „liebeslyrische Stimme“ darstellte. Bibliographie Rose Ausländer, Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2001. 234 Oxana Matiychuk Rose Ausländer, Die Nacht hat zahllose Augen. Prosa, Fischer Taschenbuch Verlag, Frank‐ furt am Main, 2001. Rose Ausländer, Hinter allen Worten. Gedichte, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2002. Helmut Braun, „Ich bin fünftausend Jahre jung“. Rose Ausländer. Zu ihrer Biographie, Ra‐ dius Verlag, Stuttgart, 1999. Helmut Braun, „Lieber Sperber! Ich wollte, ich könnte einmal in einer hellseherischen An‐ wandlung die Mysterien Ihres periodischen Schweigens ergründen. Bausteine aus dem Nachlass von Rose Ausländer zum Beziehungsgeflecht der Czernowitzer Dichter“, in: Andrei Corbea-Hoişie / Alexander Rubel (Hrsg.), „Czernowitz bei Sadagora“. Identi‐ täten und kulturelles Gedächtnis im mitteleuropäuschen Raum. Jassyer Beiträge zur Germanistik X, Hartung-Gorre Verlag, Konstanz, 2006, S. 255-293. Marina Dmitrieva-Einhorn (Hrsg.), Paul Celan - Erich Einhorn. Einhorn: du weißt um die Steine. Briefwechsel, Friedenauer Presse, Berlin, 2001. George Guţu / Horst Schuller (Hrsg.): Rose Ausländers Briefe an Alfred Margul-Sperber. 1931-1939, II, in: Neue Literatur, 9, 1988, S. 52-69. Helios Hecht, Brief an Rose Ausländer vom 22. Januar 1935, Bestand Archiv des Hein‐ rich-Heine-Instituts. Ulrich Kittstein, „Sprachkunst und Liebesfeuer. Überlegungen zum Umgang mit Liebes‐ gedichten“, in: Ulrich Kittstein (Hrsg.), Die Poesie der Liebe. Aufsätze zur deutschen Liebeslyrik, Peter Lang, Frankfurt am Main, 2006, S. 9-34. Alfred Margul-Sperber, „Jüdische Lyrik in der Bukowina“, in: Felix Weltsch (Hrsg.), Jü‐ discher Almanach auf das Jahr 5696, „Selbstwehr“ Jüdisches Volksblatt Prag, 1936, S. 119-120. Jürgen P. Wallmann, Nachwort zum Gedichtband von Rose Ausländer „Wir ziehen mit den dunklen Flüssen. Gedichte“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2002, S. 176-180. http: / / gutenberg.spiegel.de/ buch/ joachim-heinrich-campe-gedichte-4464/ 1 (letzer Zu‐ griff am 18. Mai 2017). http: / / www.wortblume.de/ dichterinnen/ verlangn.htm (letzter Zugriff am 18. Mai 2017). 235 Rose Ausländers frühe Liebesgedichte Frauenkörper als Tauschobjekt Literarische Inszenierungen von Prostituiertenfiguren in Hans Falladas Der Alpdruck und Hans Werner Richters Du sollst nicht töten Arletta Szmorhun (Zielona Góra) 1. Prostitution im Raster der Geschlechtermatrix Der Begriff der Erotik ist in verschiedene Diskurse eingebunden, so dass sich sein Phänomen mit einer häppchenweise servierten Definition nicht um‐ schreiben lässt und zu einer unklaren Begriffsverwendung bzw. zum Missbrauch des Begriffs führen kann. Dieser Umstand ist nicht zuletzt darauf zurückzu‐ führen, dass die Erotik nicht nur als Verfeinerung und Sublimierung des Trieb‐ verhaltens mittels spielerischer, metaphorischer und symbolischer Vermittlung von Sexualität zu verstehen wäre, sondern auch kreatürliche Entblößungen und obszöne Darstellungen einschließt, so dass die Befreiung von einer völlig ne‐ gativen Bewertung des Begriffs sich als schwierig erweist. Dies liegt dagegen darin begründet, dass der Körper als Objekt der Lust eines der wichtigsten The‐ menfelder darstellt, in denen die Erotik problematisiert wird und für ein Kon‐ fliktpotential sorgt. Am Beispiel literarischer Inszenierungen zeigt sich, dass der Körper in un‐ terschiedlichen Varianten verhandelt und oft auf seine Sexualität verdinglicht wird, so dass nicht nur romantische Liebesphilosophie, sondern auch obszöne Entwürfe Eingang in den literarischen Text und Diskurs finden. Der Körper erscheint mithin in Situationen des Bewunderns und Begehrens, des Verab‐ scheuens und Vernachlässigens, der Zügellosigkeit und Grenzüberschreitung sowie in verschiedenen Bedrohungs- und Verlustsituationen. Das für die Erotik ausschlaggebende Begehren, das mit den oben erwähnten Variablen aufs Engste korrespondiert, erhält auch und gerade in der geschlechtlichen Ungebundenheit Raum, so dass der Effekt der Aufspaltung von (zügelloser) Sexualität und Erotik kaum erreicht werden kann. Den Geschlechtern werden in diesem Schema feste 1 Vgl. Dietmar Schmidt, Geschlecht unter Kontrolle. Prostitution und moderne Literatur, Rombach Litterae, Freiburg i. Br., 1998, S. 15. 2 Vgl. ebd., S. 15 f. 3 Ebd., S. 16. Rollen zugeschrieben: Das Sex-Objekt ist meistens weiblich und es wird von einem männlichen Standpunkt aus begehrt bzw. verabscheut und kommentiert. Die literarisch entworfenen weiblichen Figuren begehren dagegen nicht auf, sie vermitteln vielmehr den Eindruck, als ob sie nach der Vollkommenheit einer Existenz als Objekt der erotischen Erfahrung und der sexuellen Begierde streben würden. Der auf seine Sexualität verdinglichte weibliche Körper tritt dabei nicht nur als junge, schöne und unberührbare Geliebte in Erscheinung, sondern er manifestiert sich auch im antagonistischen Bild der gespenstischen Dirne, die häufig mit den Metaphern des Animalischen charakterisiert wird und somit eine Art ‚schmutzige Erotik‘ kreiert. Da die Prostitution meistens weiblich ist, steht sie nicht nur im Zeichen einer geschlechtlichen Differenz, sondern sie verleiht dem Geschlechterunterschied zugleich seine spezifische Form. 1 Wenn sie als ein Stigma - so Dietmar Schmidt -, das keine andere Existenz mehr zulässt, ausschließlich Frauen betrifft, so wird gleichsam das ganze weib‐ liche Geschlecht von der Kontrolle kontaminiert: Es entsteht in der Gefahren‐ zone der Einschreibung, in der sich das männliche Geschlecht als Subjekt der Kontrolle zu positionieren vermag. 2 Diese sich deutlich unterscheidenden ge‐ schlechtlichen Positionierungen in der Rolle des kontrollierenden männlichen Subjekts und des kontrollierten weiblichen Objekts scheinen das Produkt des Prostitutionsdiskurses zu sein, der der Geschlechterdifferenz eine Struktur ver‐ leiht, die durch keine ‚Natur‘ gegeben sein kann, sondern als Manifestation kul‐ tureller Kodierungen und Symbolisierungen erkennbar wird: „Sie konstituiert sich [nämlich - A.Sz.] unter der Wirksamkeit der Einschreibung als Unterschied von Ermächtigung und Determination.“ 3 Die Prostituiertenfiguren bieten gera‐ dezu eine ideale Projektionsfläche für kulturelle Stigmatisierungen des Weibli‐ chen, die literarisch oft in die Inszenierung der „hungrigen“ Körperlichkeit münden und sich somit in spezifischen Praktiken der Wahrnehmung und der Zirkulation situieren. Die Körperlichkeit erscheint in diesem Zusammenhang nicht nur als gege‐ bene Natur, sondern auch als Effekt kultureller Semiose, als Mittel zum Zweck, als Oberfläche, die je nach Situation mit anderen Inhalten besetzt werden kann. Als kulturelles Bild zeugt die Dirne nicht nur von Dämonisierungsversuchen des Weiblichen und zudem von einem literarischen Diskurs, der einer restrik‐ tiven Sexualmoral mit der deutlichen Bevorzugung der Hure begegnet, sondern 237 Frauenkörper als Tauschobjekt 4 Vgl. Stephanie Catani, Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Ent‐ würfen und literarischen Texten zwischen 1885-1925, Königshausen & Neumann, Würz‐ burg, 2005, S. 101. 5 Vgl. ebd., S. 267. vielmehr von einer Versachlichung des Sexuellen, die auch das männliche Sub‐ jekt zu Ding und Sache werden lässt. 4 Dementsprechend wird in dem vorliegenden Beitrag der Frage nach der Text‐ ualisierung der Prostitution nachgegangen, d. h. der Frage nach literarischen Techniken, mit denen der Prostitution und den Prostituiertenfiguren in der Li‐ teratur Gestalt gegeben wird. In den Mittelpunkt geraten mithin auch die Schau‐ plätze der Prostitution, die ins Zentrum der Problematik einer diskursiven Ver‐ knüpfung von ‚Raum‘ und ‚Prostitution‘ führen. Darüber hinaus ist auch danach zu fragen, auf welche Weise die Rede über die Prostitution dem Geschlecht Be‐ deutung verleiht oder ihm Bedeutung entzieht. Als Untersuchungsgegenstand gelten hierbei die Texte Der Alpdruck von Hans Fallada und Du sollst nicht töten von Hans Werner Richter. 2. Großstadt als Schauplatz der Prostitution In Der Alpdruck von Hans Fallada (posthum, 1947) wird die Prostitution im ehe‐ lichen und außerehelichen Kommunikationsprozess verhandelt und am Beispiel der weiblichen Figur Alma Doll veranschaulicht. Die textuellen Informationen, auf deren Basis das Konstrukt von Alma Doll entwickelt wird, lassen eine be‐ merkenswerte Polarisierung des Frauenbildes beobachten, das idealisiert und gleichzeitig dämonisiert wird. So erscheint sie auf der einen Seite als bildschöne, blutjunge, schlagfertige, fröhliche und kampfeslustige Frau, die ihren 28 Jahre älteren Ehemann liebevoll zu umsorgen vermag. Auf der anderen Seite gibt es aber Situationen, in denen dieses positive Bild einer völligen Umgestaltung un‐ terliegt und ein verwerfliches Verhaltensrepertoire an den Tag legt. Versucht man in Almas Zwiespältigkeiten einen gemeinsamen Nenner zu finden, so scheint er darin zu bestehen, dass sowohl die Idealisierung als auch die Dämo‐ nisierung der weiblichen Figur weitgehend auf körperlichen Komponenten ba‐ siert und durch eine spezifische Raumdynamik angekurbelt wird. Es ist kaum zu übersehen, dass Almas Handlungsaktivitäten grundsätzlich an zwei Schauplätzen situiert werden und damit zwei Entwicklungsphasen ihres weiblichen und ehelichen Daseins markieren. Es ist vorerst die Existenz in der Kleinstadt, wo Alma - völlig auf die Karriere ihres Mannes fixiert - durch die ganzheitliche Präsenz ihrer Person zugleich die Autonomie des Wertemilieus von Ehe und Familie sichert. 5 Dieses eigenwillige Wertesystem gerät mit dem 238 Arletta Szmorhun 6 Siehe mehr dazu: Wolfgang Brylla, Berlin als Raum. Hans Falladas erzählte Großstadt, Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften, Saarbrücken, 2013, S. 344. 7 Hans Fallada, Der Trinker / Der Alpdruck, Aufbau Verlag, Berlin / Weimar, 1987, S. 396 f. 8 Vgl. Arletta Szmorhun, „Selbsterfahrung und Fremdbestimmung - Zur Fluktuation weiblicher Identität in Hans Falladas Alpdruck“, in: Carsten Gansel / Werner Nell (Hrsg.), Hans Fallada und die literarische Moderne, V&R unipress, Göttingen, 2009, S. 163-172, hier S. 171. Umzug nach Berlin deutlich ins Wanken. Der bis dahin zentrale Wertgesichts‐ punkt der ehelichen Exklusivität wird durch die so genannte offene Ehe ersetzt, in dem Sinne, dass außereheliche Adressen nicht nur zugelassen und geduldet, sondern zur Verhaltensnorm werden. Der mondäne Berlin-Raum erweist sich als Drogen- und Prostitutionssumpf und als Kontrastraum zum behaglichen Kleinstädtertum. 6 Im Text wird implizit darauf hingewiesen, dass Alma regel‐ mäßig auf den Strich geht, um Morphium, Schlafmittel, Alkohol oder Zigaretten zu besorgen: Ein Uhr [in der Nacht - A.Sz.] - gleich hatte sie wieder zurück sein wollen, und nun war schon eine ganze Stunde vergangen! Er mußte aufstehen, sie suchen, sich um sie kümmern! Aber er stand nicht auf. […] Später merkte er, daß sie sich wieder zu ihm auf die Couch legte. Sie war in bester Stimmung. Ja, eine Patrouille hat sie festgehalten, aber das waren Kavaliere gewesen. […] Nein, in das Haus des seltsamen Dr. Pernies war sie nicht hineingekommen, aber sie hatte einen anderen Arzt gefunden, einen sehr lebemännischen, zuvorkommenden Arzt, der ihr Pyjama geöffnet und sofort eine Spritze gemacht hatte. Sie lachte glück‐ lich. Für ihn hatte sie Tabletten mitgebracht, nein, sie vergaß ihren Mann nicht, nie. […] „Sieh, und hier sind sogar ein paar Zigaretten. Einer von der Patrouille hat sie mir geschenkt. Laß sehen, acht, zehn, zwölf Stück - ist das nicht anständig - ? […] Nicht so! wollte Doll protestieren. So geht alles einen falschen Weg. […] Aber er sagte nichts. […] Es half ja doch kein Reden: Alma würde immer tun, was sie wollte. 7 Mit Almas Prostitution wird die Autonomie der Ehe in zwei Richtungen relati‐ viert. Einerseits erfährt Doll, dass seine Frau Alma mit Eigenschaften ausge‐ stattet ist, die prinzipiell außerhalb der Ehe bleiben und vor ihm intentional verborgen werden. Andererseits wird Almas Verhalten aus der Sphäre des De‐ vianten in den Bereich der normativ empfohlenen Stabilitätsbedingungen ge‐ rückt, weil Doll dieses Verhalten nicht nur duldet, sondern auch davon profitiert und zwar in vielerlei Hinsicht. 8 239 Frauenkörper als Tauschobjekt 9 Fallada, Der Trinker / Der Alpdruck, S. 387. In den Szenarien der von Fallada entworfenen Prostitution tritt sein Prota‐ gonist Doll in einer Doppelrolle auf. Durch die bewusste Teilhabe an den von Alma unter dem Einsatz ihres Körpers ergatterten Rausch- und Genussmitteln wird er einerseits in der Zuhälter-Rolle positioniert und generiert mit dieser Perspektive und der daran gekoppelten Wahrnehmungstechnik eine besondere Tauschmodalität. Dolls städtische Existenz, die durch die Prostitution seiner Frau geprägt ist, erweist sich zwar als Ereignisraum eines Verlustes, weil das in der Ehe geltende Exklusivitätsrecht als Sexualpartner in der Großstadt nicht mehr greift. Andererseits aber verwandelt sich dieser Verlust in regelmäßigen Zeitabständen in einen Genuss, der weit über die Partizipation an Almas Beu‐ tegut hinausgeht und einen Rollenwechsel notwendig macht. In der Zeit, in der Alma - unter schweren Entzugserscheinungen leidend - nicht imstande ist, Rausch- und Genussmittel selbst zu besorgen, wird Doll zum Freier seiner ei‐ genen Frau. Für eine Morphiumspritze, die immer wieder von einem Arzt mitten in der Nacht ergattert wird, erkauft er sich Almas Körper, der ihm unter anderen Umständen vorenthalten bleibt: Sie zog sein Gesicht zu sich herunter, sie küßte ihn. […] „Ich mache dir schrecklich viel Mühe“, flüsterte sie. „Ich weiß, ich weiß alles. Aber ich mache es wieder gut, du kennst mich. Laß deine Alma nur erst wieder auf dem Damm sein, so verwöhne ich dich wieder, du weißt! “ „Meine große Verwöhnerin! “ sagte er zärtlich. „Ja, ich weiß, ich weiß alles“. Er küßte sie noch einmal. „Und nun gehe ich“. 9 Almas prostitutive Handlungsaktivitäten erscheinen in diesem Fall in Verbin‐ dung mit einem Versprechen, das durch seine verheißungsvolle Namhaftma‐ chung potenziert wird. Obwohl Doll sich dessen bewusst ist, dass das Bedürfnis seiner Frau nach narkotisierenden Spritzen immer größer wird und er diesen Umstand eindeutig als eine neue Last empfindet, bewegt ihn Almas nachdrück‐ liche In-Aussicht-Stellung von Verwöhnungspraktiken immer wieder zum Ein‐ lenken. Die Oberhand gewinnen in solchen Situationen seine körperlichen In‐ teressen, die durch die Erfahrung intensiviert werden, dass die ergatterte Morphiumspritze Almas Dankbarkeit in die ihrem Mann zeitweilig entgegen‐ gebrachte sexuelle Zuneigung verwandeln lässt und ihn als Sexualpartner wieder ins Spiel bringt. Die temporäre Unzulänglichkeit seiner Frau initiiert auf diese Weise eine Serie von Aufträgen, die Doll ohne größere Bedenken in An‐ spruch nimmt, weil mit der Ausführung des Auftrags die Intimität in die Ehe zurückkehrt. In der Vitalitätsphase wird nämlich Almas sexuelle Energie in au‐ 240 Arletta Szmorhun 10 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1981, S. 187. 11 Schmidt, Geschlecht unter Kontrolle, S. 169 f. [Hervorhebung im Originaltext]. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 514. 14 Vgl. Szmorhun, Selbsterfahrung und Fremdbestimmung, S. 171. ßerehelichen Kontakten aufgewendet. Die ökonomische Struktur, nach der sich die Regelung des städtischen Eheverhältnisses vollzieht, bringt einen Sonderfall all jener vielfältigen Tauschformen hervor, die sowohl materielle Güter als auch Rechte, Rollen und Personen umfasst und den Übergang von Natur zu Kultur markiert. 10 Sowohl in ehelichen als auch in außerehelichen Kontakten tauscht Alma ihren Körper gegen materielle Güter. Ihr Mann tauscht dagegen sein Exklusi‐ vitätsrecht als Sexualpartner gegen die Güter, die seine Frau durch die Prosti‐ tution erwirbt und besiegelt damit seinen Zuhälterstatus. Gleichzeitig erwirbt er aber selber ‚Rausch-Güter‘, ohne die Alma nicht auskommen kann, um sie dann gegen ihren Körper zu tauschen und damit die Reihen der sexuellen Kund‐ schaft seiner Frau zu stärken, indem er selbst zum Freier seiner eigenen Frau wird. In einem so konzipierten Tauschgeschäft kommt Almas doppelte Aus‐ tauschbarkeit zur Geltung, nämlich „ihre Substituierbarkeit als je bestimmtes Objekt und als Kategorie von Objekten.“ 11 Dies lässt sie dagegen zu arbiträren Orten eines differentiell bestimmten Zeichensystems werden, das durch die männlichen Akteure des Tausches hervorgebracht wird und eine egalitäre Part‐ nerschaft zwischen männlichen Subjekten stiftet. 12 Es ist nicht zuletzt auf das Prinzip der Gegenseitigkeit zurückzuführen, das bei Fallada als ein elementares Detail der Begegnung mit der Prostitution herausgestellt und in einem Netz von Wechselbeziehungen verhandelt wird. Das Band der Gegenseitigkeit, das mit Almas sexuellen Aktivitäten geknüpft wird, besteht hierbei nicht nur zwischen Alma und den Männern, sondern auch zwischen Männern mittels Alma, die den Hauptanlass dieser Beziehung bildet und eine ‚Freier-Kultur‘ entstehen lässt, zu der auch der eigene Mann gehört. Es ist aber festzuhalten, dass Almas eheliche und nichteheliche Prostitution zyklisch angelegt ist, d. h. sie geht mit ihrer Rückkehr zu Rauschmitteln einher. In den Phasen des Aufschwungs, in denen Doll sich von dem Schriftsteller Granzow und dem Verleger Mertens immer wieder finanziell helfen lässt und ein Buch schreibt, „auf das alle warten“ 13 , kehrt die Hermetik der Ehe und damit Almas Anständigkeit und ihre selbstlose erotische Zuwendung ihrem Mann ge‐ genüber erneut zurück. 14 Dieses Verhandlungsmodell von Prostitution veran‐ lasst zur Feststellung, dass Fallada seinen Prostitutionsdiskurs im Zeichen der 241 Frauenkörper als Tauschobjekt 15 Schmidt, Geschlecht unter Kontrolle, S. 209. 16 Madeline Morris, „By Force of Arms: Rape, War, and Military Culture“, in: Duke Law Journal, 45 / 4, 1996, S. 651-781. 17 Elisabeth Jean Wood, „Sexuelle Gewalt im Krieg. Zum Verständnis unterschiedlicher Formen“, in: Insa Eschebach / Regina Mühlhäuser (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Metropol Verlag, Berlin, 2008, S. 75-101, hier S. 92. Erlösung konzipiert, die zyklisch angelegt ist. Die Erlösung der sich prostitu‐ ierenden Alma, die mit der Austreibung ihrer Dirnenhaftigkeit einhergeht und ihr den Status einer ehrbaren (Ehe)Frau verleiht, legt jedoch einen in sich wi‐ dersprüchlichen Handlungsmodus an den Tag, weil der Statuswechsel, der mit ihm vollzogen wird, stets seine eigene Umkehrung denkbar macht. Ein so ge‐ führter Prostitutionsdiskurs lässt die Distinktionen des Weiblichen ins Flirren geraten: „Kann die Prostituierte gerettet werden, so muß nicht nur die ehrbare Frau als immer schon gerettet gelten, sondern umgekehrt auch die Prostituierte als eine gefallene ehrbare Frau.“ 15 3. Krieg als Schauplatz der Prostitution In Du sollst nicht töten von Hans Werner Richter (1955) erfolgt die Verhandlung des (Frauen)Körpers als Tauschobjekt im Kontext der Militärprostitution. Die auf die Bühne gesetzten Soldatenfiguren erhalten einen leichten und billigen Zugang zu sich prostituierenden Frauen ausländischer Herkunft, ohne dass die Art und Weise der Rekrutierung von weiblichen Figuren und ihre Unterbrin‐ gung in Bordellgebieten thematisiert wird. Ausgespart bleibt auch die Beteili‐ gung von Regierung und Militärkommandos bei der Einrichtung und Kontrolle der militärischen Sexindustrie. In Richters literarischem Prostitutionsdiskurs fällt dagegen das Konzept der „militärischen Männlichkeit“ 16 ins Auge, das - durch den Krieg diktiert - spezifische Wahrnehmungsarten produziert und ver‐ geschlechtlichte (Gewalt)Mechanismen in Gang setzt. Mit dem Konzept der mi‐ litärischen Männlichkeit wird u. a. begründet, warum Frauen der feindlichen Gruppe sexuelle Gewalt erfahren. Die Soldaten werden von den militärischen Führungskräften davon überzeugt, dass ‚ein richtiger Mann‘ der militärisch de‐ finierten Männlichkeit gerecht werden muss, um das Gemeinschaftsgefühl her‐ zustellen und es auch immer wieder aktualisieren zu können. In der Folge - so Elisabeth Jean Wood - realisieren die Soldaten die Unter‐ drückung des Gegners über eine extrem vergeschlechtlichte Vorstellung von Dominanz und setzen insbesondere sexuelle Gewalt gegen feindliche Bevölke‐ rungsgruppen ein. 17 In Erklärungsmustern, die Hans Werner Richter in seinen 242 Arletta Szmorhun 18 Hans Werner Richter, Du sollst nicht töten, Ullstein, Berlin, 1962, S. 55. Roman Du sollst nicht töten einfließen lässt, wird sexuelle Gewalt im Krieg so‐ wohl als Mittel zur individuellen Befriedigung als auch als Nebenprodukt eines vermeintlich notwenigen militärischen Trainings dargestellt. So bietet eine Polin in der Grenzaufsichtsstelle Glodowka in der Hohen Tatra den zum Zoll‐ grenzschutz abgestellten deutschen Soldaten ihren Körper an und wird einseitig in der Rolle eines Sexualobjekts betrachtet: Gerhard sah […] auf die Beine der bedienenden Polin, auf ihre Seidenstrümpfe, die überall Laufmaschen hatten, und auf ihre gewölbten Knie. Alle hatten mit ihr ge‐ schlafen, nur er und Lipski nicht. „Silberblick“, schrie der Postenführer, „komm, setz dich auf meinen Schoß! “ Die Polin setzte sich auf seine Knie, folgsam, betrunken und lachend wie alle. Jeder wußte, daß jetzt etwas Besonderes kommen würde. […] Er hatte seine Hand auf dem Knie der Polin, schob dabei ihr rotes, ärmliches Kleid zurück und tätschelte an ihren Schenkeln herum. „Paß auf, Silberblick. Mit wem von diesen Jungs hast du noch nicht im Bett ge‐ legen? “ […] „Mit dem da“, sagte die Polin. Ihre ausgestreckte Hand wies auf Gerhard, und Gerhard wurde verlegen und ärgerte sich. 18 Der polnischen Prostituierten, die aufgrund schielender Augen den Rufnamen „Silberblick“ bekommt, wird von außen und durch den männlichen Kommuni‐ kationsraum eine dienende Funktion zugewiesen. Die Figur der Polin begehrt jedoch gegen diese funktionale Zuweisung nicht auf, sondern sie fügt sich in die ihr zugeschriebene Rolle und bestätigt somit alle an sie herangetragenen Erwartungen und Wünsche deutscher Soldaten. Die Polin ist für den deutschen Männerblick ein ‚Empfindungs- und Begrapschmaterial‘. Die Einseitigkeit der Darstellung hindert sie daran, aus der narrativen Unschärfe hervorzukommen und einen eigenen Diskurs zu kreieren, der ihr Prostituiertendasein in einen kausalen Zusammenhang einbetten würde. Die Dynamik, von der die Figur der polnischen Prostituierten angetrieben wird, ist nicht in ihrer Gedanken- und Gefühlswelt beschlossen, sondern sie geht von der männlichen Außenwelt aus, so dass die Polin ihre fiktiven (Kriegs)Re‐ alitäten von außen nach innen lebt und im Zeichen des Unscheinbaren und Wertlosen steht. Im Figurenensemble ist die polnische Kriegsprostituierte als 243 Frauenkörper als Tauschobjekt 19 Vgl. Arletta Szmorhun, „Krieg und Eros. Zu textlichen Körperverhandlungen bei Hans Werner Richter“, in: Orbis Linguarum, 42, 2015, S. 213-221, hier S. 218. 20 Vgl. Regina Mühlhäuser/ Insa Eschebach, „Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangs‐ arbeit in NS-Konzentrationslagern“, in: dies. (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Ge‐ walt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Metropol Verlag, Berlin, 2008, S. 11-32, hier S. 28. 21 Ebd. eine bemitleidens- und bedauernswerte Existenz im sozialen Grau- oder Rand‐ bereich angesiedelt. 19 Ihre Entwertung kommt dabei nicht nur durch die ihr zugewiesene Rolle als Sexobjekt zustande, sondern sie manifestiert sich auch in der Beschreibung des weiblichen Äußeren, das mit gewölbten Knien, Seidenstrümpfen voller Lauf‐ maschen und ärmlichem Kleid einen schäbigen Eindruck vermittelt. Nichtsdes‐ totrotz erweist sich der Anblick der weiblichen Reize als verführerisch genug, um die ‚männliche Geilheit‘ auf Trab zu halten. Das Verhalten der Polin, die betrunken und lachend den Forderungen und Wünschen der Soldaten folgt und Gefallen daran zu finden scheint, begrapscht zu werden, soll dabei den sexuellen Kriegsaktivitäten den Charakter freiwilliger Prostitution verleihen. Die schein‐ bare Freiwilligkeit des körperlichen Zur-Verfügung-Stehens gerät jedoch in dem Moment ins Wanken, als von dem Postenführer die Frage formuliert wird, mit wem von den Jungs Silberblick noch nicht im Bett gelegen habe. Die Antwort der Polin, in dem zur Verteidigung des Postens abkommandierten Schutztrupp gäbe es nur zwei Soldaten, die die Polin (noch) nicht bedient habe, eröffnet eine Perspektive militärischer Sexualversklavung. Dieser seit einigen Jahren im in‐ ternationalen Gewaltdiskurs geprägte Begriff bezeichnet das Festhalten einer (weiblichen) Person zur sexuellen Verfügbarkeit über mehrere Tage, Monate oder Jahre. 20 Mit der Verwendung dieses Begriffs wird betont, dass Erfahrungen, die den Frauen in den Ruhe- und Erholungsstätten zuteilwerden, direkte und strukturelle Gewalt darstellen: Unabhängig davon, ob die einzelnen Frauen entführt, durch falsche Versprechungen angelockt worden waren oder sich entschieden hatten, als Prostituierte zu arbeiten, machte jede von ihnen Erfahrungen, die weder mit Arbeit noch mit Prostitution zu fassen sind. 21 Nichtsdestotrotz fungiert Silberblick in Richters Prostitutionsnarrativ als ein Freudenmädchen, dessen Rolle weder kritisch hinterfragt noch in kontextuelle Zusammenhänge mit den dahinterstehenden Zwängen eingebettet wird. Ein‐ gegangen wird dagegen auf militärische Hierarchie, die auch bei der (Aus)Nut‐ zung der Prostituiertenfigur eingehalten wird und auf die Normen, denen mi‐ 244 Arletta Szmorhun 22 Vgl. Regina Mühlhäuser, „Sexuelle Gewalt durch Wehrmacht und SS in den besetzten Gebieten der Sowjetunion 1941-1945“, in: dies./ Insa Eschebach (Hrsg.), Krieg und Ge‐ schlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Metropol Verlag, Berlin, 2008" S. 168-185, hier S. 175. 23 Vgl. Franz Seidler, Prostitution, Homosexualität, Selbstverstümmelung. Probleme der deut‐ schen Sanitätsführung, Kurt Vorwinkel Verlag, Neckargemünd, 1977, S. 55 f. litärische Männlichkeit unterworfen ist. Dem Verhalten des Postenführers und Befehlshabers, der kraft seiner Position Silberblick herumkommandiert und nach Belieben über ihren Körper verfügt, ohne dass mit einem Widerstand ge‐ rechnet werden muss, ist zu entnehmen, dass die Inanspruchnahme von sexu‐ ellen Diensten in einer hierarchischen Rangfolge vollzogen wird. Der Posten‐ führer ist nämlich aufgrund seines Ranges derjenige, der sich den weiblichen Körper als erster ‚aneignet‘, während die ihm unterstellten Soldaten seiner Leis‐ tung Respekt zollen und warten, bis sie an der Reihe sind. In der lebensbedroh‐ lichen Situation des Krieges - so Regina Mühlhäuser -, in der Männer extrem voneinander abhängig und aufeinander angewiesen zu sein glauben, bestätigen sie so ihren untrennbaren Bund und die Verlässlichkeit seiner Hierarchien. Mit einer Mischung aus Lust und Zerstörungsbereitschaft treffen sich die Männer nacheinander im Körper der Frau. In diesem Prozess reaffirmieren sie nicht nur ihre Männlichkeit und ihre sexuelle Potenz, sondern sie erhalten auch das ein‐ igende Gefühl der Kollektivität und Kameradschaft aufrecht. 22 Die dadurch er‐ zeugte Loyalität mit vergeschlechtlichten Verhaltensmustern gehört zum ak‐ zeptierten Normengefüge der Kriegführung und verstärkt die antrainierte militärische Männlichkeit, durch die das Gefühl der Verlässlichkeit vermittelt und immer wieder unter Beweis gestellt werden sollte. Daher ist der Posten‐ führer auch derjenige, der Silberblick dazu zwingt, denjenigen zu identifizieren, der in den Genuss des Beischlafs mit dem Freudenmädchen noch nicht ge‐ kommen ist. Damit wird ein neuer Zwang erzeugt, von dem sowohl die Polin als auch die Verweigerer betroffen sind. Gerhard, der als einer der wenigen Silberblicks Körper noch nicht ‚erkundet‘ hat, gerät aufgrund der Denunziation durch die Polin in Verlegenheit und Wut, weil seine sexuelle Handlungspassivität ihn nicht nur als unzuverlässig einstufen lässt, sondern vielmehr seine militärische Geschlechtsidentität in Frage stellt. Die Kontrollfragen des Postenführers ent‐ blößen die Prostitution als einen hoch ideologisierten Lebensbereich, der vom NS -Staat umfassend reguliert, kontrolliert und restriktiv reglementiert wird. Die Prostitution wurde gezielt eingesetzt, um die Wehrmachtsangehörigen moralisch aufzurüsten, ihren Glauben an den Endsieg zu stärken und der Ho‐ mosexualität Einhalt zu gebieten. 23 Die Heteronormativität galt als ein signifi‐ 245 Frauenkörper als Tauschobjekt 24 Vgl. Miranda Alison, „Sexuelle Gewalt in Zeiten des Kriegs. Menschenrechte für Frauen und Vorstellungen von Männlichkeit“, in: Insa Eschebach / Regina Mühlhäuser (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentra‐ tionslagern, Metropol Verlag, Berlin, 2008, S. 35-54, hier S. 36. 25 Ebd., S. 41 f. 26 Ruth Seifert, „Krieg und Vergewaltigung. Ansätze zu einer Analyse“, in: Alexandra Stiglmayer (Hrsg.), Massenvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main., 1993, S. 87-113, hier S. 101. 27 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2015, S. 127. kantes Element, das mit der Erwartung eines bestimmten Aggressionslevels und körperlicher Stärke das ultimative Ideal von (militärischer) Männlichkeit kon‐ stituierte. 24 Von dieser Perspektive aus lassen sich auch Verlegenheit und Wut von Richters Protagonisten erklären. Mit Gerhards Zögern, die sexuellen Dienste der Polin in Anspruch zu nehmen, wird nicht nur seine Loyalität zum Staat bzw. zu seiner Truppe, sondern auch seine heterosexuelle Männlichkeit in Frage gestellt. Der von deutschen Soldaten massenweise penetrierte Körper der Polin stellt jedoch nicht nur ein Genuss- und Befriedigungsmittel oder einen Beweis für die Einhaltung der heteronormativen Richtlinien dar. Er fungiert vielmehr als ein symbolisches Feld, auf dem die Kommunikation zwischen he‐ gemonialen und untergeordneten Männlichkeiten stattfindet. Aufgrund ihrer Rolle als biologische Reproduzentinnen des Kollektivs und als Repräsentantinnen des ethnisch-nationalen Unterschieds sind Frauen ein nahe liegendes Ziel bei dem Versuch, das feindliche Kollektiv zu beherrschen oder zu zerstören. 25 So stellt Silberblicks Körper „symbolische Repräsentation des Volkskörpers“ 26 und seine Eroberung die symbolische Eroberung des Kör‐ pers der von ihr repräsentierten Gemeinschaft dar. In diesem Zusammenhang lässt sich die sexuelle Inanspruchnahme ihres Körpers als eine Form Mann-Mann-Kommunikation deuten, die einen Maßstab für Sieg und Männ‐ lichkeit bildet. Der zur Verfügung gestellte Körper der Polin wird daher als Ziel und Ausdruck einer relationalen Anordnung von Diskursen und Praktiken, als Verknüpfung von individuellen und gesellschaftlichen Einschreibungen ent‐ worfen. 27 Diese Perspektive wird in den Worten eines deutschen Feldwebels bestätigt und fortgesetzt, der in Richters Roman über den andersnationalen Frauenkörper als Objekt und Verhandlungsort der Begierde und Macht an Ein‐ satzfronten deutscher Wehrmacht sinniert: Er [ Jürgen - A.Sz.] ließ sich auf den Rücken fallen und starrte in den nächtlichen Himmel. Feldwebel Knurr sprach von dem Thema, das sie das Thema Nummer eins 246 Arletta Szmorhun 28 Richter, Du sollst nicht töten, S. 151. 29 Vgl. Silke Wenk / Insa Eschebach, Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz. Eine Einführung. Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des national‐ sozialistischen Genozids, Campus, Frankfurt am Main / New York, 2002, S. 13-38, hier S. 24. nannten. Frauen in Frankreich, Frauen in Polen, Frauen in Rußland - aber es waren immer nur jene Frauen, die sie in den Bordellen antrafen und selten andere. 28 Dem angeführten Zitat ist zu entnehmen, dass die Figuren der Prostituierten den männlichen Kriegsraum auf eine spezifische Art und Weise markieren und ihn zugleich auflösen. Sie lassen ihn einerseits zu einem Erinnerungsraum werden, indem sie sich seiner als „Thema Nummer eins“ bemächtigen. Ande‐ rerseits aber wird dieser Erinnerungsraum nicht nur durch ihr unverhofftes Auftauchen und ihr ebenso plötzliches Verschwinden, sondern vielmehr durch ihre Andersnationalität als eine reduktionistische Erscheinung skandiert. Die männliche Figur namens Jürgen schränkt nämlich den andersnationalen Frau‐ enkörper, seine soziale Repräsentanz und Verfügbarkeit auf die Existenz in Bor‐ dellen ein. Es sind eben immer nur jene Frauen und selten andere. Der reduktionistische Darstellungsmodus des andersnationalen Frauenkör‐ pers lässt sich als eine der Implikationen des Kriegsgeschehens deuten, in dem Frauen zum asymmetrischen Kräfteverhältnis gehören und zu Schauplätzen des eroberten Territoriums werden. Die Nutzung der Prostitution in ihren vielen Formen und an vielen Kampforten, um Soldaten zu maskulinisieren, sie zu trösten, sie zu unterhalten, sie aufzurichten, ihre militärische Aggression und das Gefühl des Sieges aufrechtzuerhalten, durchzieht das männliche Kriegs‐ schicksal, in dem die Prostituiertenfiguren als unbestimmbare und unbelebte Existenzen den historisch spezifischen Wahrnehmungstechniken unterworfen sind. Im angebotenen Männerblick des deutschen Soldaten erscheinen anders‐ nationale Frauen immer in ihrer Anonymität, so dass geschlechterdifferente Erfahrungen und Perspektiven ausgeblendet werden. Zugunsten einer „Ver‐ ständlichkeit“ und „Anschaulichkeit“ werden stattdessen tradierte, mythische Weiblichkeitsbilder aus jenem „Stereotypenrepertoire“ wachgerufen, das Teil des sozialen Gedächtnisses der militärischen Kultur ist. 29 Es ist demnach von Frauen in Frankreich, Polen und Russland die Rede, von sich prostituierenden Frauen ohne Eigenschaften, die trotz ihrer narrativen Unschärfe den militär‐ ischen Erinnerungsraum dermaßen prägen, dass die kriegsbezogene Wahrneh‐ mung des männlichen Subjekts durch die Dominanz des Prostituiertenkörpers zunehmend erodiert. 247 Frauenkörper als Tauschobjekt 4. Fazit Am Beispiel der Romane Der Alpdruck von Hans Fallada und Du sollst nicht töten von Hans Werner Richter kann konstatiert werden, dass die Prostitution ein thematisches Motiv ist, das sich in Variationen durch literarische Texte zieht. Sie wird als soziale Instanz dargestellt und in ihren verschiedenen Erschei‐ nungsformen durchgespielt. In Falladas Darstellungen der über die Prostitution definierten Konstellati‐ onen gibt es keine Täter-Opfer-Verhältnisse. Die Beziehungsszenarien, die Fal‐ lada in seinem Roman entwirft, erlauben es nicht, von einer Anklage an eine männliche Dominanz über eine weibliche Körperlichkeit zu sprechen. Der tauschbare Körper ist zwar ein weiblicher, jedoch scheinen die Männer - ein‐ schließlich des Ehemannes - ebenso gefangen im Ausleben dieser Beziehungen wie die weibliche Figur Alma zu sein. Die Frau bestimmt das Tauschgeschäft durch das Einsetzen ihres Körpers. Beide Kräftefelder - das begehrende Subjekt und der begehrte Körper - sind gleichermaßen mit Macht versehen, und die ,Ob‐ jektwerdung‘ durch die Prostitution betrifft beide Beteiligten in diesem Tausch‐ geschäft. Indem Hans Fallada den Körper und die Sexualität als zu tauschende Ware vor Augen führt, stellt er die ‚Natürlichkeit‘ dieser Phänomene in Frage. Es ist nicht ausschließlich die Natur, die bestimmt, was der Körper ist, sondern dieser wird im sozialen Umfeld als Objekt verhandelt. Er wird inszeniert und situati‐ onsbedingt eingesetzt, um sich Vorteile zu verschaffen. Diese ‚kapitalistische‘ Sichtweise des Körpers vermischt sich in Falladas Roman mit einer sinnlichen Dimension, in der die Körperlichkeit durch sexuelle Triebkräfte geleitet wird. Diese zweite Dimension vermag es zwar, an das naturbestimmte Modell des Körpers anzuknüpfen, aber sie setzt zugleich einen anderen Akzent. Die sexuelle Triebkraft erscheint nämlich nicht als eine durchschaubare Kategorie, sondern vielmehr als eine unkontrollierbare Kraft, die in Notlagen ins Krankhafte aus‐ artet. Beide Kräfte - die Ökonomie als leitendes Prinzip zur Erfahrung der Kör‐ perlichkeit und zum anderen der Körper als sexuell beladenes Phänomen - be‐ stimmen die Darstellung der Sexualität und Erotik in Falladas Roman. Während Hans Fallada Sexualität und Körperlichkeit im Kontext ziviler Pros‐ titution verhandelt, verschreibt sich Hans Werner Richter dem Modell militär‐ ischer Prostitution, indem er eine Kriegsprostituierte auf die Bühne bringt und das Militär als Manifestation einer Verbindung von Sexualität und Gewalt kon‐ zipiert. In den Bedingungen einer von Männern beherrschten Welt wird Silber‐ blick zu dem gemacht, was sie ist, ohne jedoch einen eindeutigen Opferstatus zuerkannt zu bekommen. Am Beispiel der Szenen, die sich in Ruhe- und Erho‐ 248 Arletta Szmorhun 30 Vgl. Gaby Zipfel, „Ausnahmezustand Krieg? Anmerkungen zu soldatischer Männlich‐ keit, sexueller Gewalt und militärischer Einhegung“, in: Insa Eschebach / Regina Mühl‐ häuser (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Metropol Verlag, Berlin, 2008, S. 55-74, hier S. 66. lungszeiten der deutschen Soldaten abspielen sowie anhand soldatischer Wahr‐ nehmungs- und Erinnerungssplitter wird implizit darauf hingewiesen, dass se‐ xuelle (Verfügungs)Gewalt sich nicht regel- und ziellos ereignet. Sie hat jeweils spezifische Bedeutungen für die Gegner, Opfer und Angreifer. Frauen sollen nach dem Selbstentwurf des soldatischen Auftrags beschützt, verteidigt und von Kampfhandlungen ferngehalten werden: Eben dies macht sie jedoch zum per‐ fekten Angriffsziel. Sie symbolisieren nämlich das eigene, zu verteidigende Ter‐ ritorium, dessen Verletzung besonders demütigt. Der Körper der Frau wird aufgrund seiner Symbolik zum Schlachtfeld sowohl eines Mann-gegen-Mann-Kampfes als auch eines Kampfes gegen eine ganze ethnische, kulturelle oder religiöse Gemeinschaft. 30 Sexuelle (Verfügungs)Ge‐ walt gegen Frauen zählt somit nicht nur zum Traditionsbestand des Geschlech‐ terverhältnisses, sondern auch zum akzeptierten Normenkatalog der militär‐ ischen Auseinandersetzung. Bibliographie Miranda Alison, „Sexuelle Gewalt in Zeiten des Kriegs. Menschenrechte für Frauen und Vorstellungen von Männlichkeit“, in: Insa Eschebach / Regina Mühlhäuser (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzent‐ rationslagern, Metropol Verlag, Berlin, 2008, S. 35-54. Wolfgang Brylla, Berlin als Raum. Hans Falladas erzählte Großstadt, Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften, Saarbrücken, 2013. Stephanie Catani, Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885-1925, Königshausen & Neumann, Würzburg, 2005. Hans Fallada, Der Trinker / Der Alpdruck, Aufbau Verlag, Berlin / Weimar, 1987. Claude Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Suhrkamp, Frank‐ furt am Main, 1981. Martina Löw, Raumsoziologie, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2015. Madeline Morris, „By Force of Arms: Rape, War, and Military Culture“, in: Duke Law Journal, 45 / 4, 1996, S. 651-781. Dietmar Schmidt, Geschlecht unter Kontrolle. Prostitution und moderne Literatur, Rombach Litterae, Freiburg i. Br., 1998. Regina Mühlhäuser, „Handlungsräume. Sexuelle Gewalt durch Wehrmacht und SS in den besetzten Gebieten der Sowjetunion 1941-1945“, in: dies./ Regina Mühlhäuser (Hrsg.), 249 Frauenkörper als Tauschobjekt Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzent‐ rationslagern, Metropol Verlag, Berlin, 2008, S. 168-185. Regina Mühlhäuser / Insa Eschebach, „Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern“, in: dies. (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Metropol Verlag, Berlin, 2008, S. 11-32. Hans Werner Richter, Du sollst nicht töten, Ullstein, Berlin, 1962. Franz Seidler, Prostitution, Homosexualität, Selbstverstümmelung. Probleme der deutschen Sanitätsführung, Kurt Vorwinkel Verlag, Neckargemünd, 1977. Ruth Seifert, „Krieg und Vergewaltigung. Ansätze zu einer Analyse“, in: Alexandra Stigl‐ mayer (Hrsg.) Massenvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1993, S. 87-113. Arletta Szmorhun, „Krieg und Eros. Zu textlichen Körperverhandlungen bei Hans Werner Richter“, in: Orbis Linguarum, 42, 2015, S. 213-221. Arletta Szmorhun, „Selbsterfahrung und Fremdbestimmung - Zur Fluktuation weibli‐ cher Identität in Hans Falladas Alpdruck“, in: Carsten Gansel / Werner Nell (Hrsg.), Hans Fallada und die literarische Moderne, V&R unipress, Göttingen, 2009, S. 163-172. Silke Wenk / Insa Eschebach, Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz. Eine Einfüh‐ rung. Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozia‐ listischen Genozids, Campus, Frankfurt / New York, 2002, S. 13-38. Elisabeth Jean Wood, „Sexuelle Gewalt im Krieg. Zum Verständnis unterschiedlicher Formen“, in: Insa Eschebach / Regina Mühlhäuser (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexu‐ elle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Metropol Verlag, Berlin, 2008, S. 75-101. Gaby Zipfel, „Ausnahmezustand Krieg? Anmerkungen zu soldatischer Männlichkeit, se‐ xueller Gewalt und militärischer Einhegung“, in: Insa Eschebach / Regina Mühlhäuser (Hrsg.), Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern, Metropol Verlag, Berlin, 2008, S. 55-74. 250 Arletta Szmorhun 1 Medardus Brehl, „Die Zwille (1973)“, in: Matthias Schöning (Hrsg.), Ernst Jünger-Hand‐ buch. Leben - Werk - Wirkung, WBG, Stuttgart, 2014, S. 243-250. 2 Joachim Kaiser, „Ernst Jünger“, in: ders., Erlebte Literatur. Vom „Doktor Faustus“ zum „Fettfleck“, Piper, München / Zürich, 1988, S. 73-88, hier S. 87. 3 Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, Pantheon, München, 2009, S. 64. Vgl. Da‐ niéle Beltran-Vidal, „Zeitstruktur und sozialgeschichtliche Aspekte in Jüngers Erzäh‐ lung ‚Die Zwille‘“, in: Lutz Hagestedt (Hrsg.), Ernst Jünger. Politik - Mythos - Kunst, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 2004, S. 47-56, hier S. 47. Horror in sexualibus Interpretation von Ernst Jüngers Roman Die Zwille Manuel Mackasare (Bochum) Einleitung In dem Roman Die Zwille (1973) verdichtet der alternde Ernst Jünger seine Ein‐ schätzung des 20. Jahrhunderts. Der historische Schauplatz ist kein Selbstzweck, sondern dient einer Interpretation der Gegenwart. So reiht sich Die Zwille unter Jüngers philosophisch-prognostische Romane: Sie ist der Gegenwart gewidmet wie Gläserne Bienen (1957) der nahen, wie Heliopolis (1949) der ferneren und wie Eumeswil (1977) der fernsten Zukunft. Es handelt sich um ein hochbedeutsames Werk: Nicht nur im Zusammenhang mit dem Autor und dessen Oeuvre, sondern auch hinsichtlich des literarisch-ästhetischen Eigenwerts. Umso erstaunlicher ist die geringe Beachtung, die der Roman in der For‐ schung bisher gefunden hat. Nur wenige Studien nehmen ihn als eigenständiges Werk ernst, wobei eine überzeugende Annäherung an Struktur und Motivik insbesondere Medardus Brehl gelingt. 1 Indes verfehlen die beiden großen Interpretationslinien, die feuilletonisti‐ scher und wissenschaftlicher Diskurs bisher gezeitigt haben, den Kern des Ro‐ mans mehr oder weniger. Zum einen wird immer wieder der autobiographische Gehalt des Romans betont: Handle es sich nun um „altherrenhafte Erinnerungs‐ seligkeit“ 2 oder um „Darstellung und Reflexion jener Gegebenheiten […], die dem heranwachsenden Jünger die Schule zur Qual machten“. 3 In den beiden 4 Vgl. Michael Rutschky, Ein Jugendbuch, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, 28, 1973, S. 668-672, hier S. 671; Martin Meyer, Ernst Jünger, Carl Hanser Verlag, München / Wien 1990, S. 585; Kiesel, Jünger, S. 73. 5 Vgl. Manuel Mackasare, Kampf und Friede. Überlegungen zum Verhältnis von Literatur‐ wissenschaft und Psychogenese anhand zweier Schriften Ernst Jüngers, in: Gerd Jüttemann (Hrsg.), Psychogenese. Das zentrale Erkenntnisobjekt einer integrativen Humanwissen‐ schaft, Pabst Science Publishers, Lengerich, 2017, S. 125-134. 6 Vgl. Brehl, „Die Zwille“, S. 244. 7 Beltran-Vidal, „Zeitstruktur“, S. 51, S. 53; Kaiser, Jünger, S. 88; Kiesel, Jünger, S. 69-71; vgl. Klaus Prange, Vollendete Vergangenheit, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, 28, 1973, S. 667 f. 8 Keines der im Roman verhandelten Probleme geht auf solche Sozialstrukturen zurück. Diese werden gar nicht in dieser klischeehaften Weise dargestellt: Die traditionellen „Schulmänner“, Repräsentanten des 19. Jahrhunderts, sind durchweg als human cha‐ rakterisiert (Blumauer, Mez); brachialer Sadismus stellt einen Normverstoß dar (Zad‐ deck); subtiler Sadismus ist eine Eigenart des modernen, dem 20. Jahrhundert zugehö‐ rigen Typus (Hilpert). Das Militär wird durch seinen ranghöchsten Vertreter, den Major, in sehr positiver, ebenfalls humaner Weise repräsentiert. Die Sexualität schließlich hat ihren festen Platz in der Gesellschaft, lediglich im Zusammenhang mit dem weit seiner Zeit hinterherhängenden Superus könnte hier von Verdrängung die Rede sein; aber gerade der Superus ist ein Charakter, der Probleme nicht schafft, sondern lösen hilft. - Treffend bemerkt Helmuth Kiesel: „Clamors Leiden an der Schule ist ein primär indi‐ viduelles, nicht repräsentatives“ (Kiesel, Jünger, S. 67). Damit verträgt sich allerdings sein vorangegangener Interpretationsansatz nicht. Hauptfiguren Clamor und Teo seien zentrale Züge des Autors abgebildet. 4 Diese Auslegung erscheint dann doch grob simplifiziert - ohne der gegenwärtigen Lehrmeinung das Wort zu reden, Querverbindungen zwischen Autorenbiogra‐ phie und Werksinterpretation verböten sich per se. 5 Unabhängig von dieser Frage lässt sich jedenfalls feststellen, dass autobiographische Aspekte keines‐ wegs zentral für den Roman sind. 6 Zum anderen wird Die Zwille als Darstellung der „allgemeine[n] sozialge‐ schichtliche[n] Situation der Vorkriegsjahre“ (Beltran-Vidal) interpretiert: Man liest in Jüngers Roman das geläufige Narrativ einer von „Disziplin“ und „Zwang“ (Kaiser), von „Militarismus“ (Beltran-Vidal) und verdrängter Sexualität ge‐ prägten „wilhelminischen Gesellschaft“ (Kiesel) hinein. 7 Diese historisierende Auslegung verfehlt den Romangehalt komplett. 8 Richtiger ist, im Roman eine 252 Manuel Mackasare 9 Kiesel, Jünger, S. 64; Brehl, „Die Zwille“, S. 249. 10 Wobei der moderne - rationalistische - Kritikbegriff die Geisteshaltung, die aus Jüngers Oeuvre spricht, ziemlich verfehlt. Jünger geht es darum, historische Tendenzen und ihre Hintergründe zu erfassen. Zwar fallen ethische Werturteile, aber dennoch wird das Zeitgeschehen im Großen als historische Notwendigkeit begriffen. Im Zusammenhang mit dem vorliegenden Roman ließe sich diesbezüglich - vorgreifend - konstatieren, dass keine Kritik an der in Teo zutage tretenden Tendenz geübt, sondern die Hoffnung auf deren Überwindung geäußert wird. 11 Steffen Martus, Ernst Jünger, J. B. Metzler, Stuttgart, 2001, S. 116. 12 Jüngers Begriff des Sexus ist erotisch konnotiert, meint (auch) das Geschlechtsleben; in diesem Sinne soll er hier verstanden werden (siehe etwa Ernst Jünger, Strahlungen III (Sämtliche Werke 4), Klett-Cotta, Stuttgart, 2015, S. 609). allgemeine „Modernisierungskritik“ zu verorten, 9 die aber wohl in jeder spä‐ teren Schrift Jüngers zu finden wäre. 10 Die Interpretation des Romans bedarf einer metahistorischen Lesart. Wie Jüngers gesamtes mittleres und späteres Werk ist er weniger an konkreten his‐ torischen Begebenheiten interessiert; diese dienen lediglich physiologischen Studien, mittels derer den hintergründig wirkenden, an der Schwelle zum Me‐ taphysischen stehenden Kräften nachgespürt wird. Es verweist, wie Steffen Martus als Conclusio seiner knappen Bemerkungen zur Zwille sehr treffend feststellt, „das vordergründige Geschehen auf die großen, sich für Jünger im Mythos spiegelnden welthistorischen Umbrüche“. 11 Der Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert markiert eine Epochenwende; sozusagen retrospektiv präfigu‐ riert der Roman die historische Entwicklung bis in die Gegenwart der Roma‐ nentstehung - und vielleicht darüber hinaus, indem er die Möglichkeit einer Tendenzwende andeutet. Ziel der nachfolgenden Untersuchung ist es, den zentralen Gehalt des Romans offenzulegen und auf dieser Grundlage seine Interpretation vorzunehmen. Zu‐ nächst ist dafür eine romanimmanente Annäherung erforderlich, die primär auf die Charakteristik zentraler Figuren fokussiert ist: Sowohl (1.) der Antago‐ nismus der beiden Hauptfiguren Clamor und Teo als auch (2.) der Stellenwert des Zusammenhangs von Macht und Sexus 12 können aus dieser Perspektive be‐ leuchtet werden. Auf dieser Grundlage lässt sich zur Deutung schreiten, in deren Licht (3.) Teo die historische Tendenz des 20. Jahrhunderts verkörpert und deren Beschaffenheit klar erkennen lässt, während (4.) in Clamor eine Alternative zu derselben angedeutet ist. 253 Horror in sexualibus 13 Vgl. hierzu Beltran-Vidal, „Zeitstruktur“, S. 48-52; Brehl, „Die Zwille“, S. 246 f. Sehr überzeugend ist Brehls These, dass der komplexe Aufbau des Romans mit seiner un‐ klaren Chronologie mit Clamors Wahrnehmung korrespondiert. 14 Vgl. Ernst Jünger, Die Zwille (Sämtliche Werke 18), Klett-Cotta, Stuttgart, 1983, S. 115, S. 121. 15 Ebd., S. 15. 16 Vgl. ebd., S. 247. 1. Antagonisten: Clamor und Teo Der Roman weist eine recht komplexe Erzählstruktur mit zahlreichen Figuren, Nebensträngen und Anekdoten auf. 13 Seine Haupthandlung spielt in einer - na‐ menlos bleibenden - niedersächsischen Stadt des frühen 20. Jahrhunderts und dreht sich darum, wie der etwa 14-jährige Clamor von dem Primaner Teo für amoralische Unternehmungen instrumentalisiert wird. Die Charaktere scheinen grundverschieden: Clamor ist kränklich und geistig träge, Teo vital und hoch‐ intelligent; Clamor ein willensschwacher Mitläufer, Teo ein Anführer. Allerdings erweist sich Clamor als überaus ambivalente Figur. Beständige Andeutungen lassen vermuten, dass er ein ganz anderes Potenzial birgt als das während der Romanhandlung zutage tretende. Seiner Kränklichkeit steht sein offensichtlich muskulöser Körper gegenüber 14 , seine geistige Beschränktheit ist nur eine scheinbare, auf eine deviante Wahrnehmung der Welt zurückgehende, in der sich sein Verhältnis zur Gesellschaft andeutet: Clamor konnte Geschriebenes und Gedrucktes gut lesen, sah auch die Sterne klar. Selbst der Reiter auf der Deichsel des Großen Bären entging ihm nicht. Nur die Tafel oder die Bäume am Wegrand blieben undeutlich. Er hätte das nie als Fehler emp‐ funden, wenn man es nicht so genannt hätte. Wenn sich im Oktober das Laub färbte, war es eher schöner, bunte Wolken und Bänder zu sehen. […] Die Brille war unnütz; er trug sie nicht gern. 15 Auf das Nächste und Entfernteste hat Clamor einen scharfen Blick, selbst auf das Metaphysische („Reiter auf der Deichsel des Großen Bären“). Lediglich das in mittlerer Entfernung Befindliche, mitunter das ganze soziale Leben, wird in ein eigentümliches Farbenspiel aufgelöst; nicht ausgeblendet also, sondern an‐ ders als gewöhnlich wahrgenommen. Es ist der Blick des Künstlers, dem sich eine alternative - und vielleicht höhere - Wirklichkeit auftut. Der mechanisti‐ sche Eingriff, die Brille, vermag diesen ‚Fehler‘ nicht zu beheben: Clamor bleibt der Gesellschaft - übrigens schon im Dorf seiner Kindheit 16 - fremd, ihre Spiel‐ regeln sind ihm unzugänglich. Kausalität und Zeit, grundlegende Größen der 254 Manuel Mackasare 17 Vgl. ebd., S. 19. 18 Brehl, „Die Zwille“, S. 246; vgl. Martus, Jünger, S. 114. 19 Jünger, Die Zwille, S. 14. 20 Vgl. ebd., S. 18. 21 Ebd., S. 242. 22 Vgl. ebd., S. 129, S. 144, S. 199. 23 Vgl. ebd., S. 241. 24 Vgl. ebd., S. 119, S. 156. 25 Ebd., S. 249. modernen Gesellschaft, entziehen sich seiner Wahrnehmung gänzlich 17 ; er ist ein „Unzeitgemäßer“. 18 Aus dieser Fremdheit resultiert Außenseitertum, das Clamor als persönliche Schuld empfindet; außerdem wird er in seinem ihm völlig unverständlichen Umfeld „ohne Unterlaß“ 19 von Furcht bedrückt 20 . Daher lässt Clamor sich wi‐ derstandslos von Teo instrumentalisieren, der sich als Erlöser aus der Einsamkeit und als großer Beschützer anbietet. Nicht zuletzt die Wandelbarkeit sozialer Maßstäbe verwirrt Clamor: Seine Mundart und sein Name sind in der Stadt fehl am Platze. Den Beruf des Vaters, Mühlknecht, der im Dorf als ehrbar galt, verschweigt man auf dem Gymnasium besser. Aus diesem Mangel an fixen Orientierungsgrößen resultiert, dass Clamor der Amoralität Teos keinen Widerstand zu leisten vermag: Sophistisch setzt dieser sein Handeln in den Augen des Gegenübers stets in ein moralisch ein‐ wandfreies Licht. Die willkürliche Erschießung eines Spechts gerät zur guten Tat, weil so ungezählten Schmetterlingen das Leben gerettet worden sei. 21 In‐ tuitiv empfindet Clamor allerdings getanes Unrecht 22 , Mitleid ist überhaupt ein zentraler Zug seines Wesens. 23 Im Zuge seiner nach der Romanhandlung liegenden Entwicklung gelangt Clamor zu reflexiven Fähigkeiten, ohne dabei seine grundsätzliche Devianz dem sozialen Umfeld gegenüber einzubüßen. 24 Außerdem trägt er in sich das Poten‐ zial, aus seiner subaltern-passiven Rolle in eine gestaltende zu treten. Das Un‐ zeitgemäße ist zugleich das Überhistorische, das die Grenzen von Zeit und Raum zu überwinden vermag; der Zeitgeist bindet Clamor nicht. So stellt am Ende des Romans der scharfsichtige Zeichenlehrer Mühlbauer fest, „[d]aß hier etwas Un‐ gewöhnliches anhub, vielleicht sogar im zaghaften Spiel die Klaue des Löwen sich vorschob“. 25 Diesem eigentümlichen Charakter gegenüber ist Teo leichter fasslich. Es handelt sich um einen „Techniker der Macht“, der als Typus in Jüngers Oeuvre eine zentrale Rolle spielt: So Braquemart in den Marmorklippen, der Landvogt in Heliopolis, Fillmor in Gläserne Bienen. Wie diese ist Teo nihilistischer Tech‐ 255 Horror in sexualibus 26 Ebd., S. 60. 27 Ebd., S. 131. 28 Vgl. ebd., S. 113, S. 133. 29 Vgl. ebd., S. 198, S. 205, S. 214, S. 221 f., S. 241 f., S. 264 f. 30 Ebd., S. 130. 31 Auch Jüngers Großvater trug diesen Vornamen (Kiesel, Jünger, S. 31 f.). 32 Vgl. Brehl, „Die Zwille“, S. 247. 33 Vgl. Kaiser, Jünger, S. 87; Martus, Jünger, S. 115; Kiesel, Jünger, S. 70 f.; Brehl, „Die Zwille“, S. 248. 34 Jünger, Die Zwille, S. 44. 35 Ebd., S. 259. 36 Vgl. ebd., S. 37, S. 226. 37 Vgl. ebd., S. 202. 38 Vgl. ebd., S. 193 f. 39 Vgl. ebd., S. 265. 40 Vgl. ebd., S. 128, S. 130 f., S. 134, S. 178, S. 193 f., S. 195 f., S. 265. nokrat; er „kennt die Werte und verachtet sie“ 26 , ihm kommt es nur „auf die Spielregeln und ihre Technik […] an“. 27 Mittels hoher sozialer Intelligenz tritt er in ein rein mathematisches Verhältnis zu seinen Mitmenschen 28 : Diese fungieren als Schachfiguren in einem Spiel, das rein egozentrischen Zwecken dient. Teos von völliger Verantwortungslosigkeit geprägte Partien haben katastrophale Folgen für sein Umfeld; und doch gelingt es ihm stets, am Ende in vorteilhaftem Licht zu stehen und seine Macht zu erweitern. 29 Schon der Name impliziert, dass es sich um einen Gott des technokratischen Zeitalters handelt - „Teo ex ma‐ china“ 30 (also: deus ex machina) -, dessen heillosem Walten gegenüber sich Wehklagen - Clamor 31 - erhebt. 32 Welchen Zwecken dienen Teos unter feinsten Erwägungen und mit großer Finesse in Gang gesetzte Maschinerien? Ohne Blick auf die sexuelle Motivik des Romans kann diese Frage nicht beantwortet werden. 2. Macht und Sexus Die erzählte Welt der Zwille ist ungemein sexuell aufgeladen. 33 Nicht nur werden entsprechende Elemente auffällig betont - beispielsweise einschlägige Toilet‐ tenschmierereien 34 und Gesänge 35 sowie die Promiskuität insbesondere unterer Schichten 36 -, sondern es finden sich außerdem etliche Anekdoten, die das Thema vertiefen: Etwa zum Voyeurismus des Primaners Otto Linck 37 , den Über‐ griffen des Dorfschullehrers Zieger 38 , der Blutschande des Schäfers Wilke. 39 Deviante sexuelle Spielarten und Praktiken spielen dabei eine große Rolle, werden explizit aufgeführt oder immerhin angedeutet: Homosexualität, Sa‐ dismus, Pädophilie, Inzest, Sodomie. 40 Ganz überwiegend handelt es sich um 256 Manuel Mackasare 41 Vgl. ebd., S. 61. 42 Vgl. ebd., S. 62. 43 Vgl. Brehl, „Die Zwille“, S. 247. 44 Vgl. Jünger, Die Zwille, S. 69. 45 Vgl. ebd., S. 103, S. 123. asymmetrische Verhältnisse: Überlegene soziale Stellung, Erziehungsverhältnis oder auch nackte Gewalt erwirken sexuelle Verfügbarkeit. Macht und Sexus sind verknüpft. Das Sexuelle ist negativ konnotiert, trägt wesentlich bei zur dunklen Tönung der Kulisse, vor der die Haupthandlung spielt. Diese ist ihrerseits an zentralen Stellen von sexuellen Themen durchwirkt. Deren Analyse erfordert nicht nur die Betrachtung der beiden Hauptfiguren, sondern auch die des Su‐ perus’ und des Professors. Clamor und Teo stammen aus dem Dörfchen Oldhorst. Nachdem Clamor beide Eltern verloren hatte, nahm ihn der Pastor des Dorfes, Superintendent Quarisch (genannt „Superus“) auf. Der Superus ist der Vater Teos; das Verhältnis der beiden wird im Rückblick ausführlich beleuchtet. Während seines Heranwachsens ertappt Teo seinen Vater beim Onanieren; für beide handelt sich offenbar um ein Schlüsselerlebnis. 41 Für den Superus re‐ sultieren aus der Begegnung starke Schuldgefühle und eine bleibende Furcht vor der Onanie, während Teo das Machtpotenzial solcher intimen Einblicke er‐ kennt. Später besiegelt Teo die Umkehrung der häuslichen Machtverhältnisse, indem er sich, als sein Vater ihn züchtigen möchte, in dessen Intimbereich ver‐ beißt; auch die Mutter Sibylle anerkennt fortan ihren Sohn als den Herrn des Hauses. 42 Die Demütigung wird noch gesteigert, indem Sibylle ein Verhältnis mit dem Vikar Simmerlin eingeht - übrigens eine sprechende Amtsbezeich‐ nung 43 -, dem der Superus Obdach gewährt hat. 44 Der von Sohn, Frau und deren Liebhaber vollkommen Verachtete erträgt diese Zustände in stillem Leid. Als sie äußerlich ruchbar werden, schreitet der Bruder des Superus, Professor Quarisch, ein; Simmerlin flieht daraufhin mit Sibylle und Teo in den Orient. Nach einigen Jahren in Ägypten kehrt Teo allein zu seinem Vater zurück, der ihn und Clamor auf das städtische Gymnasium schickt. Dort vollzieht sich die Haupthandlung. Im Superus kämpft um das Ideal rigider (sexueller) Selbstkontrolle mit einem ausgeprägten sinnlichen Trieb; chiffriert ist dieser Zwiespalt als Dichotomie von Christentum und Philhellenismus. Äußerlich dominiert der christliche Zug voll‐ ständig; aus diesem resultiert die klaglose Bescheidung in die Lebensverhält‐ nisse. Innerlich jedoch wird der Superus von schweren Leidenschaften - in bei‐ derlei Wortsinn - bedrängt. Der Superus wird von seinem Umfeld als „Schlappschwanz“ wahrge‐ nommen; 45 unter anderem von seinem Bruder, dem Professor. Dieser befindet 257 Horror in sexualibus 46 Ebd., S. 192. 47 Ebd., S. 102. 48 Vgl. ebd., S. 81, S. 102, S. 208. 49 Ebd., S. 209. 50 Brehl konstatiert, dass „mit dieser offen klischeehaften Zitation die zeitgenössischen Stereotype und Niedergangschiffren reflexiv beleuchtet und dekonstruiert“ würden (Brehl, „Die Zwille“, S. 249). Das würde weder werkimmanent Sinn ergeben noch mit dem sonstigen Schaffen Jüngers in Einklang stehen. Vielmehr fällt auf, dass Jünger bei seinen Reisen in den arabischen Raum während der 70er Jahre gerade die (homo-)se‐ xuelle Zudringlichkeit der Einheimischen betont (etwa Jünger, Strahlungen III, S. 578 f.; Ernst Jünger, Strahlungen IV (Sämtliche Werke 4), Klett-Cotta, Stuttgart, 2015, S. 232). 51 Vgl. Jünger, Die Zwille, S. 142-146, S. 177. 52 Ebd., S. 118. Vgl. Brehl, „Die Zwille“, S. 248. 53 Vgl. Rutschky, Jugendbuch, S. 670. sich auf dem „Standort […] eines liberalen Konservativen“ 46 und verachtet den „horror in sexualibus“ 47 : Zwar müsse man der Jugend gewisse Grenzen setzen, solle aber nicht zu genau hinschauen. Die Finanzen seiner Zöglinge werden strikt limitiert, um Prostituiertenbesuche zu verhindern, harmlosere pubertäre Anwandlungen erfahren jedoch stillschweigende Duldung. 48 Im Professor ist das gelehrte Bürgertum des 19. Jahrhunderts repräsentiert: Auf Gemütlichkeit bedacht, der Sinnenfreude nicht abgeneigt - Liebhaberei des Tabakgenusses, des Essens, Trinkens, Kegelns; in sexuellen Dingen entspannt, auf einen gewissen Erfahrungsfundus der Jugend zurückblickend -, jedoch alles im rechten Maß, daneben Pflichttreue und Studieneifer. Demgegenüber sind der rapide techni‐ sche Fortschritt und der damit einhergehende gesellschaftliche Wandel zwar „theoretisch“ bewunderungswürdig, „in praxi“ jedoch „suspekt“. 49 Diese Moderne wird insbesondere durch Teo repräsentiert, dessen Charak‐ teristik noch um sein Verhältnis zum Sexuellen zu ergänzen ist. In Ägypten erlebte Teo nicht nur seine erotische Initiation, sondern wurde - wofür die Chiffre des Orients unter anderem steht 50 - mit der sexuellen Ausschweifung vertraut. 51 Im Sexuellen ist Teo ebenso indifferent wie im Moralischen. In diesem Sinne ist Teos prüfender Griff in Clamors Intimbereich zu verstehen sowie die doppeldeutige Aufforderung zur Hygiene: „Ich bin da heikel, und mit Leuten, die sich nicht den Hintern waschen, will ich nichts zu tun haben, besonders wenn ich mit ihnen schlafen soll.“ 52 Teo ist offensichtlich heterosexuell, jedoch liegt die homosexuelle Handlung im Bereich des Denkbaren - sei es aus Gründen der Triebbefriedigung oder der Machterweiterung. Demgegenüber ist Clamor in auffälliger Weise asexuell. Obwohl im puber‐ tären Alter, lässt er kein Verhältnis zur Sexualität erkennen. 53 Lediglich waltet 258 Manuel Mackasare 54 Vgl. Jünger, Die Zwille, S. 250; vgl. Martus, Jünger, S. 116. 55 Vgl. Prange, Vergangenheit, S. 667. 56 Vgl. Jünger, Die Zwille, S. 256-258. 57 Vgl. ebd., S. 263 f. 58 Vgl. ebd., S. 262. 59 Vgl. ebd., S. 134. ein starker pädagogischer Eros zwischen ihm und dem Zeichenlehrer Mühl‐ bauer, der jedoch rein geistiger Natur ist. 54 3. Teo ex machina: Der abendländische Sultan Es ist richtig bemerkt worden, dass die im Roman auftretenden Figuren typen‐ hafte Züge aufweisen. 55 So verkörpern der Turnlehrer Mez, der Major, Rektor Blumauer und Professor Quarisch das 19. Jahrhundert in verschiedenen Fa‐ cetten: Mez repräsentiert den ruppigen Geist der Bewegung um „Turnvater“ Jahn, der Major das preußische Militärwesen, Blumauer den traditionell-huma‐ nistischen Geist des Universitäts- und höheren Schulwesen, der Professor das gebildete Bürgertum. Allen ist ein humaner und streng rechtlicher Geist eigen: Als etwa Clamor mit seiner Zwille vor dem wiederholt eingeschossenen Fenster des Majors aufgegriffen wird, verzichtet dieser darauf, die Polizei zu infor‐ mieren, um dem vermeintlichen Übeltäter keinen dauerhaften Schaden zuzu‐ fügen - Straflosigkeit kommt allerdings ebenfalls nicht in Betracht. 56 Von den Genannten wird Clamor eher wohlwollend, jedenfalls nie schikanös behandelt, allerdings bleibt ein gegenseitiges Verständnis völlig aus. Bezeichnend ist die völlige Rat- und Hilflosigkeit des Rektors und des Pro‐ fessors angesichts der Katastrophe, des Selbstmords Paulchen Maibohms nach der andauernden Misshandlung durch den Konrektor Zaddeck. „[E]s wankten die Grundfesten“, beide spüren den Zusammenbruch der Ordnung, auf der ihre Charaktere gründen. 57 Dem Professor wird noch beiläufig kund, dass er das Ke‐ geln und die Zigarren um seiner Gesundheit willen aufgeben müsse; das lebe‐ männisch-vitale Zentrum seines Daseins schwindet dahin. 58 Die bürgerliche Welt und ihre Werte erweisen sich als inferior; ein neues, dämonisches Element bricht sich Bahn, die Tendenz des 20. Jahrhunderts. Die Gesellschaft der Zwille ist bereits im Umbruch begriffen: Alte Werte schwinden ersatzlos dahin, Sozialstruktur und gesellschaftliche Spielregeln wandeln sich. Reiche Liebhaber kaufen junge Soldaten und Primaner für ho‐ mosexuelle Dienste ein 59 : Exekutive Gewalt und Intelligenz geraten zur Frage des Geldes - dieses wird zu einem zentralen Medium der Macht. Letztere ist nicht mehr an die Frage der Legitimität gebunden - der Rechtlichkeit, der Erb‐ 259 Horror in sexualibus 60 Vgl. ebd., S. 139 f. 61 Vgl. ebd., S. 60. 62 Ebd., S. 179. 63 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Welt‐ geschichte, 50.-55. Aufl., C. H. Beck, München, 1927, S. 529 f. 64 Vgl. ebd., S. 628. 65 Zu Jüngers Nietzsche-Rezeption siehe Reinhard Wilczek, Nihilistische Lektüre des Zeit‐ alters. Ernst Jüngers Nietzsche-Rezeption, WVT, Trier, 1999 (Schriftenreihe Literatur‐ wissenschaft 47). Allerdings untersucht diese verdienstvolle Arbeit nur Jüngers Früh‐ werk. Für das mittlere und späte Werk und namentlich den vorliegenden Roman ist vor allem Nietzsches Nihilismus-Diagnose entscheidend: Das geschilderte Interregnum ist von der Verflüssigung aller Werte und Normen geprägt. folge -, sondern kann von beliebigen Charakteren ergriffen werden, die eben die Spielregeln der Gegenwart beherrschen; ähnlich dem „Sultan“, der „in einem Lastenträger erschien“, jedoch in neuer, abendländischer Variante, für die es „noch keinen Namen“ gibt. 60 „Wissen und Können“ sind für das gesellschaftliche Fortkommen entscheidend, „die Wendigkeit, der eklatante Erfolg“, während einem gutartigen Charakter - wie dem Clamors - keinerlei Bedeutung mehr beigemessen wird. 61 Die Macht wird ebenso willkürlich eingesetzt, wie sie ak‐ kumuliert und konzentriert wird: Keinen festen Gesetzen und Maßstäben fol‐ gend, sondern lediglich dem Gusto der modernen Sultane. Die Gesellschaft wird zur „fellachoide[n]“ Verfügungsmasse; Missbräuche und Ausbeutung in großem Stil kündigen sich an, nicht nur des Menschen, sondern auch der Natur. 62 Die Querverweise auf Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918-1922) sind überdeutlich: Dort markiert der Wechsel „vom Khalifat zum Sultanat“ die Ablösung der historisch gewachsenen, traditionalen Herrschaft durch „die voraussetzungslose, ganz persönliche Gewalt zufälliger Bega‐ bungen“. 63 Es handelt sich um einen Schritt, den, hier an der arabischen („ma‐ gischen“) Kultur exemplarisch illustriert, jede Hochkultur durchlaufe. Den Übergang zwischen Kalifat und Sultanat bilde „die Diktatur des Geldes“, das Primat wirtschaftlicher vor politischen Interessen; der Sultan (bzw. Cäsar) bricht es. 64 Genau in dieser Übergangsepoche spielt Jüngers Erzählung: Noch herrscht das Geld, jedoch kündigt sich die abendländische Version des Sultans bereits an. Spengler spielt für Jüngers gesamtes Oeuvre eine herausragende Rolle, die derjenigen Nietzsches kaum nachstehen dürfte und jedenfalls der Art des Um‐ gangs nach vergleichbar ist: Nicht das gesamte philosophische System wird adaptiert, sondern einzelne Philosopheme werden aufgegriffen, zum Teil modi‐ fiziert und dauerhaft dem eigenen Denken anverwandelt. 65 So etwa spielt das Fellachentum als Synekdoche eine herausragende Rolle (nicht nur in der Zwille). Fellachen sind eine agrarisch lebende Volksgruppe des vorderen Orients; 260 Manuel Mackasare 66 Spengler, Untergang, S. 125. 67 Laut Spengler steht dieses Stadium der abendländischen, der „faustischen“ Kultur noch bevor, Jünger findet die Fellachen offenbar schon „jetzt und hier“ (Zitat vgl. Ernst Jünger, Der Waldgang [Sämtliche Werke 9], Klett-Cotta, Stuttgart, 2015, S. 281-374, hier S. 283; Erstauflage 1951); diese Auffassung bricht mit Spenglers engerem morphologischen Modell der Kulturentwicklung. 68 Vgl. im Gegensatz dazu Clamors betonte Verbundenheit mit der Natur (etwa Jünger, Die Zwille, S. 158, S. 227, S. 233). 69 Vgl. ebd., S. 110. 70 Ebd., S. 264 bzw. S. 215. sie dienen Spengler als Exempel des Endstadiums jeder Hochkultur (hier der ägyptischen), die alle ihre Möglichkeiten realisiert hat und in die Geschichtslo‐ sigkeit zurückgesunken ist. 66 Fellachen sind also eine kraft- und willenlose Ver‐ fügungsmasse äußerer Mächte. 67 Im vorliegenden Roman repräsentiert diese Tendenzen der Zeitenwende vor allem Teo: In ihm kündigt sich der abendländische Sultan an. Mittels überrag‐ ender Intelligenz und sensiblen Instinkts durchdringt er die sozialen Mecha‐ nismen seines Umfelds; er bedient sich ihrer, stellt sie in den Dienst egozentri‐ scher Triebe, in völligem Nihilismus von keiner ethischen Erwägung gehindert. Die Ausbeutung der Mitmenschen wie der Natur - in den willkürlich getöteten Tieren ausgedrückt 68 - zeichnet sich bereits scharf ab. Noch ist Geldmangel Teos „neuralgische[r] Punkt“; die Anschaffung der Zwille verläuft nicht ohne Schwie‐ rigkeiten. 69 Aber Geld ist für Teo kein Selbstzweck, sondern - wie alle anderen sozialen Mechanismen auch - nur Mittel des Machtausbaus. Den Fruchtboden für Teos Aufstieg stellt die nihilistisch eingeebnete Fellachen-Gesellschaft dar: Nur dort, wo es keine feststehenden Werte gibt, gewinnen seine Sophismen Überzeugungskraft. Bedeutsam sind die Urteile, die der Rektor und der Professor über Teo fällen: „[E]in künftiger Herr“ bzw. „ein zukünftiges Kirchenlicht“. 70 Es handelt sich um treffende Prognosen einerseits, andererseits um eklatante Fehlurteile über den Charakter des Zöglings: Die Mächte des 19. Jahrhunderts lassen sich von der geschickten Selbstinszenierung des Sultans täuschen und verhelfen diesem zu Amt und Würden. Das geschieht, weil die Maßstäbe des Urteilens schwankend geworden, eben nihilistisch nivelliert sind. Der fest in christlicher Tradition wurzelnde Superus täuscht sich keine Sekunde über den Charakter seines Sohnes. Einige Figuren der Erzählung weisen ein doppeltes Entwicklungspotenzial auf: Die äußeren - gesellschaftlichen - Umstände determinieren den Weg, den sie einschlagen. Buz: Ein grobschlächtiger Subalterner - tüchtiger Soldat oder Tyrannenbüttel. Zaddeck: Ein Sadist - Zuchthausinsasse oder Schinderknecht 261 Horror in sexualibus 71 Ein besonders interessantes Exempel bietet die Nebenhandlung um die Misshandlung Paulchen Maibohms durch Zaddeck. Buz erfährt zufällig von dieser und thematisiert sie vor Teo - der längst Bescheid weiß - und Clamor. Selbst dem zur Brutalität nei‐ genden Buz ist dies Geschehen zuwider; ein untergründiges moralisches Empfinden ist intakt. Wie Clamor vertraut er darauf, dass Teo in dieser Sache einschreite. Teo sichert zwar zu: „Ich bin schon dabei“ (ebd., S. 195), ist aber „wenig berührt“ und führt zunächst etliche Gründe ins Feld, weswegen Paulchen eigentlich selbst schuld an seiner Miss‐ handlung sei. Beiläufig zeigt sich dabei, wie leicht Paulchen sogleich geholfen werden könnte (ebd., S. 196). Aber Teo verzichtet auf diese Hilfestellung; stattdessen nutzt er Paulchens Misere, um dem kriminellen Gebrauch der Zwillen, den er von Buz und Clamor fordert, einen rechtlichen Anstrich zu geben. Die Situation ist ihm auch deshalb ganz recht, weil er durch sein Wissen Macht über Zaddeck gewinnt. Teos Unterlassung fordert Paulchens Leben. Nachdem Zaddeck aufgeflogen ist, nutzt Teo die Gelegenheit, seine eigene Position zu verbessern (ebd., S. 264) - ohne auch nur den Anflug von Ge‐ wissensbissen. 72 Ebd., S. 142 f. 73 Vgl. ebd., S. 69. 74 Ebd" S. 55. 75 Vgl. Brehl, „Die Zwille“, S. 247. wie das Männlein am Fillerhorn der Marmorklippen. Friederike: Eine rüstige Heranwachsende - gute Hausfrau oder Spielball männlicher Lust. Sie alle neigen zur zweiten, der negativen Möglichkeit; und jedes Mal spielt Teo die maßgeb‐ liche Rolle. 71 Teos Sozialisation im Orient bringt ihn mit dem Typus des Sultans in Ver‐ bindung, aber auch in Kontakt mit den Fellachen: Hier lernt er den „Vorteil“ der „Fellachenmädchen“ kennen, nämlich „daß sie zu kaufen sind“. 72 Die entschei‐ dende Frage, was denn nun eigentlich jene Zwecke sind, um derentwillen Teo die Fäden der Gesellschaft in die Hand nimmt, führt eben zurück zum Bereich des Sexuellen. De facto wird im Roman nicht allein das Sexuelle betont, sondern die Ver‐ knüpfung von Macht und Sexus. Diese wirkt in beide Richtungen. Zum einen dient das Sexuelle als Machtmechanismus, wie insbesondere die Geschichte des Superus zeigt: Die intime Beobachtung sowie der intime Übergriff lassen Teo über seinen Vater dominieren, auch beschließt der Geschlechtsakt mit Sibylle den Triumph des Vikars über den Superus. 73 Zum anderen aber ist das Sexuelle auch letztendlicher Zweck der Machtausübung. Exemplarisch dafür ist der Nebenstrang um die fünfzehnjährige Friederike, die - sprechend - „Fiekchen“ 74 genannt wird. 75 Es handelt sich ebenfalls um eine Oldhorsterin, die im Hause des Professors als Hausmädchen arbeitet. Nachdem Teo eine subtile Veränderung ihres Wesens aufgefallen ist, lässt er sie von Clamor beschatten. Dieser beobachtet ein heimliches Treffen mit einem Pri‐ maner, dessen intimem Annäherungsversuch sich das Mädchen allerdings ent‐ 262 Manuel Mackasare 76 Vgl. Jünger, Die Zwille, S. 199-201. 77 Ebd., S. 105. 78 Ebd., S. 55. 79 Vgl. ebd., S. 260. 80 Ebd., S. 268. 81 Ebd., S. 123. 82 Vgl. ebd., S. 123-125; Der Spott über dasjenige, was für andere von höchstem Wert ist, die Unfähigkeit zu solch höchster Wertschätzung sowie der mangelnde Respekt vor derselben ist für Jünger ein Kennzeichen des Nihilismus (Zitat vgl. etwa Ernst Jünger, Eumeswil [Sämtliche Werke 20], Klett-Cotta, Stuttgart, 2015, S. 33 f., S. 85). zieht. 76 Offensichtlich befindet sich Friederike in einem starken Zwiespalt zwi‐ schen erwachtem Sexualtrieb und dem Anspruch sexueller Unberührtheit; schon ihr Vater hatte festgestellt, dass man „auf den Kranz“ 77 aufpassen müsse. Teo nutzt die aufwändig gewonnenen Informationen, den Widerstand Friede‐ rikes - die er „dat Peerd“ 78 nennt - zu geeigneter Stunde zu brechen und mit ihr intim zu werden. 79 Eine nachteilige Veränderung des Mädchens tritt ein; „die Stadtluft tat dem Kind nicht gut“ 80 , interpretiert der Professor. Teos hochkom‐ plexer, in ständigem Ausbau befindlicher Machtapparat, die subtilen Mecha‐ nismen, der hohe Aufwand an Intelligenz, der Verschleiß von Mensch und Natur dienen am Ende lediglich der Befriedigung primitiver Triebe. Die reine Tech‐ nokratie führt zurück zur Animalität. 4. Clamor: Klageruf, Geretteter, Hirte Jüngers Roman eröffnet also eine hochgradig kulturpessimistische Perspektive. Teo hat sich als „künftiger Herr“ angekündigt, die Instanzen des 19. Jahrhunderts haben dem nichts entgegenzusetzen. Ist die Katastrophe unvermeidbar? Einen Antagonisten hat Teo im eigenen Vater, dem Superus. Teo gibt ihm zwei Spitznamen: „Quappe“ und „Hannibal“. 81 Jener dürfte eine Variante des Schlappschwanzes sein, dieser spricht subtiler: Teo verhöhnt die Begeisterung des Superus für den kathargischen Feldherrn 82 , dessen historische Rolle der des Superus tatsächlich entspricht: Hannibal, so lässt sich interpretieren, trat als urwüchsige Kraft der technokratischen Ordnung des römischen Reichs ent‐ gegen, schließlich unterliegend; nach seinem legendären Zug gegen die Römer findet der Feldherr kein rechtes Betätigungsfeld mehr, die neue Ordnung der Welt bietet ihm keinen Platz. So hat sich auch der Superus, Repräsentant des tiefreligiösen Abendlands der frühen Neuzeit, überlebt. Als utopischer Anknüp‐ fungspunkt der Gegenwart scheidet er aus. Eine konservative Rückkehr zur 263 Horror in sexualibus 83 Ganz in diesem Sinne wäre es verkehrt, in dem Roman ein klischeebeladenes Kontrast‐ bild von idyllischem Dorf- und krankhaftem Stadtleben zu sehen: Vielmehr ruht die Dorfgemeinschaft - wie auch die Stadt - auf einem „zoologische[n] Fundament“ ( Jünger, Die Zwille, S. 187), ist mühsam domestiziert; Fremdenfeindlichkeit und Mord‐ lust, auch sexuelle Perversion, brechen sich immer wieder Bahn (ebd., S. 185-187, 265). Buz und Teo stammen wie Clamor aus Oldhorst, der sich übrigens dem Dorfleben ebenfalls unzugehörig fühlt (ebd., S. 247). 84 Erwähnt wird die Vorstellung des Geschlechtsaktes mit Klytämnestra in der Rolle Ägisths, der just den Agamemnon erschlug; nicht nur eine sexuelle, sondern auch eine Machtphantasie, die übrigens diametral der Rolle des Superus in seinem häuslichen Leben entgegensteht (ebd., S. 74). 85 Ebd., S. 262. 86 Paul Gerhard, „Die güldne Sonne“, in: Evangelisches Gesangbuch, Gütersloher Verlags‐ haus / Luther-Verlag / Neukirchener Verlag, Gütersloh / Bielefeld / Neukirchen-Vluyn, 1996, Nr. 449. ‚guten alten Zeit‘ ist weder möglich noch wünschenswert 83 , zumal auch der Superus defiziente Züge aufweist: Insbesondere das Verhältnis zur Sexualität, die brachiale Unterdrückung, stellt keine positive Alternative zum Exzess dar; nicht nur steht es im Zusammenhang mit der mangelnden Weltwirksamkeit des Superus, sondern es resultieren auch abgründige sexuelle Phantasien daraus, die das Ungesunde dieser Haltung verdeutlichen. 84 Im Angesicht der Kata‐ strophe allerdings, vor der die Vertreter des 19. Jahrhunderts nicht bestehen, legt der Superus eine ungeahnte innere Stärke an den Tag: Es war merkwürdig: wenn im sozialen Bereich, etwa mit der Frau, mit dem Sohn, der Gemeinde etwas schief ging, mußte der Professor einspringen. Wenn es aber ernst wurde, wenn, wie es im Lied heißt, „die Lüfte des Todes wehten“, war der Bruder stärker; er fußte noch wie die Väter auf altreformatorischem Grund. 85 Eine Zukunftsperspektive bietet der Superus also nicht, wohl aber die heilsame Kraft einer in der Moderne unterschätzten Vergangenheit. Der oben zitierte Vers ist Paul Gerhards (1607-1676) Lied Die güldne Sonne (1666) entlehnt, wo es im Zusammenhang heißt: Menschliches Wesen, / was ist’s gewesen? / In einer Stunde / geht es zugrunde, / sobald das Lüftlein des Todes drein bläst. / Alles in allen / muss brechen und fallen, / Himmel und Erden / die müssen werden, / was sie vor ihrer Erschaffung gewest. 86 Es geht also nicht nur um den Umgang mit dem Tod, sondern auch um die Vergänglichkeit alles Irdischen überhaupt. Der elementare Umbruch, wie ihn Spenglers Formel Der Untergang des Abendlandes beschreibt, bricht die in der Zeit wurzelnden Figuren: Alles, woran sich deren Überzeugungen banden, 264 Manuel Mackasare 87 Jünger, Die Zwille, S. 49. Aus Gerhards Lied stammen auch die Verse „Bist du doch nicht Regente, / Der alles führen soll! / Gott sitzt im Regimente / Und führet alles wohl.“ (Quelle, S. 243); vgl. Paul Gerhard, „Befiehl du deine Wege“, in: Evangelisches Gesang‐ buch, Gütersloher Verlagshaus / Luther-Verlag / Neukirchener Verlag, Gütersloh/ Biele‐ feld / Neukirchen-Vluyn, 1996, Nr. 361. Aus Gerhard Tersteegens Ich bete an die Macht der Liebe (1759): „Hersteller meines schweren Falles, / Für Dich sei ewig Herz und alles.“ ( Jünger, Die Zwille, S. 49.); vgl. Gerhard Tersteegen, „Ich bete an die Macht der Liebe“, in: Evangelisches Gesangbuch, Gütersloher Verlagshaus / Luther-Verlag / Neukirchener Verlag, Gütersloh / Bielefeld / Neukirchen-Vluyn, 1996, Nr. 661. Aus Joachim Neanders Lobe den Herren (1680): „Der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet“ ( Jünger, Die Zwille, S. 49); vgl. Joachim Neander, „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“, in: Evangelisches Gesangbuch, Gütersloher Verlagshaus/ Luther-Verlag / Neukirchener Verlag, Gütersloh / Bielefeld / Neukirchen-Vluyn, 1996, Nr. 317. Noch weitere evangeli‐ sche Lieder werden zitiert bzw. es wird auf sie angespielt, das Thema lohnte eingehender Untersuchung. 88 Vgl. Friedrich Wilhelm Bautz, „Art. Ebeling, Johann Georg“, in: Biographisch-Bibliogra‐ phisches Kirchenlexikon, Bautz, Hamm, 1976, Sp. 1441. 89 Vgl. Jünger, Die Zwille, S. 115. schwindet dahin. Es widersteht allein der Superus mit seiner Anbindung an überzeitliche Mächte. Diese überzeitlichen Mächte treten im Roman mittelbar, vor allem als Zitate von Kirchenliedern in Erscheinung. Auf das Betreiben des Superus hin hat Clamor einen großen Fundus entsprechender Textstellen verinnerlicht, die ihm in der Bedrängnis Trost spenden. Gleichzeitig präfigurieren sie auch den un‐ wahrscheinlichen Ausgang der Fabel: So beschreibt Paul Gerhards Befiehl du deine Wege (1653), eins der liebsten Lieder Clamors, den Weg durch irdische Drangsal, hinter der allerdings ein göttlicher Plan walte, der zur Rettung des Gläubigen führe. Jüngers Roman zitiert den entscheidenden Vers: „Er [Gott - M. M.] wird sich so verhalten, daß du dich wundern wirst.“ 87 Eine wunderliche und unwahrscheinliche Erlösung widerfährt am Ende auch Clamor. Das düstere Bild, das der Roman vordergründig zeichnet, ist untergründig durchzogen von einer durchaus metaphysisch zu verstehenden Heilsgewissheit: Die gegenwär‐ tige Entwicklung ist höchst bedrohlich, jedoch muss alles Irdische vergehen und am Ende steht der Sieg einer guten Macht. Allerdings erschöpft sich der Roman nicht in der Zuversicht auf individuelle Rettung. Nicht zufällig wurden Paul Gerhards Verse teilweise von einem Na‐ mensvetter Clamors vertont, dem Komponisten Johann Georg Ebeling (1637-1676). 88 Die frohe Botschaft paart sich hier mit dem Musischen, das zu ihrer Verbreitung führt; dadurch wird sie den Massen gespendet. Clamor Ebling (der sich auf dem Gymnasium Georg nennen soll 89 ), ein rein musischer Cha‐ rakter, birgt das Potential, in eben diesem Sinne wirksam zu werden. Clamor wird das Schöne in die Welt bringen und die Geister darin einen - mit dieser 265 Horror in sexualibus 90 Ebd., S. 269. 91 Jünger notiert im Erscheinungsjahr der Zwille: „Auch die Schönheit ist kein Ziel, son‐ dern ein Indiz.“ Gemeint ist ein Indiz für die Sinnhaftigkeit und Güte des Seins ( Jünger, Strahlungen IV, S. 121). Im Roman selbst erfährt Clamor, wie angesichts der Schönheit die Gefahr zu weichen beginnt ( Jünger, Die Zwille, S. 227 f.). 92 Ebd., S. 58. 93 Ebd., S. 52 f. 94 Vgl. William Coupe, The German illustrated broadsheet in the seventeenth century. His‐ torical and iconographical studies, Bd. 1, Heitz, Baden-Baden, 1966, S. 158-160; Wolfgang Menzel, Christliche Symbolik, Bd. 2, Manz, Regensburg, 1854, S. 148; Wilhelm Molsdorf, Christliche Symbolik der mittelalterlichen Kunst, 2. Aufl., Akademische Druck- und Ver‐ lagsanstalt, Stuttgart, 1926, S. 204-206. Die Auslegung der Allegorie differiert aller‐ dings: So kann die Mühle für Christus selbst stehen, für die Gottesmutter, aber auch für die Eucharistie. In jedem Fall ist der heilspendende Akt zentral. So ist auch das Symbol in Jüngers Roman aufzufassen. 95 Jünger, Die Zwille, S. 246. Gewissheit Mühlbauers endet der Roman: „Er würde teilhaben, denn das Schöne gehört uns allen; an ihm gibt es kein Eigentum. Es ist unteilbar; wir finden uns in ihm. Wir finden und vergessen uns im Anderen; wir sind nicht mehr al‐ lein.“ 90 Schönheit in diesem Sinne darf keinesfalls ästhetizistisch begriffen werden, sondern nähert sich der Interpretation des deutschen Idealismus an: Sie ist das sinnfällig gemachte Gute. 91 Im Künstler tritt ein Retter auf; Clamor ist, wie der Superus richtig beobachtet, eine „Hirtennatur“. 92 Von hier aus wird ein Symbol begreiflich, das im Roman immer wieder auf‐ taucht: die Mühle. Clamor, Sohn eines Mühlknechts, wurde in der Mühle sozi‐ alisiert, hatte den Müller „nächst seinem Vater geliebt“ und war von diesem „in seinem Testament“ (! ) bedacht worden, was Clamors gymnasiale Laufbahn erst ermöglichte. 93 Die Mühle aber ist ein frühneuzeitlich-christliches Symbol der messianischen Sendung: Christus macht das Korn, die Worte der alttestamen‐ tarischen Propheten, als frohe Botschaft den Massen bekömmlich. 94 Dem ent‐ spricht Clamors angedeutetes Potenzial als Heilsspender. Im Namen seines Adoptivvaters tritt es abermals zutage: Mühlbauer. Der Erzieher Clamors er‐ richtet die Mühle. Somit geht der Roman gewissermaßen auf Distanz zu dem weltflüchtigen Zug, der die zitierten Kirchenlieder durchweht; etwa drückt sie sich in Clamors Reaktion auf Neanders Lobe den Herren (1680) aus: „Clamor mußte die Augen schließen, der Glanz wurde zu stark. Jetzt war er sicher, an beiden Armen ge‐ leitet, der Doktor [Hilpert - M. M.] konnte ihm nichts anhaben. Doch gab es auch Farben nicht mehr.“ 95 Zwar ist im Metaphysischen unbedingte und letzte Rettung, jedoch die Farben, zu denen Clamor eine besondere Affinität hat und die die irdische Schönheit symbolisieren, existieren hier nicht. Nicht nur die 266 Manuel Mackasare 96 Ebd., S. 245. 97 Vgl. ebd., S. 112, S. 189. 98 Ebd., S. 245, vgl. S. 181. 99 Ebd., S. 264. Verantwortlichkeit für die Mitmenschen, sondern auch die - neben allem Leid vorhandene - Möglichkeit positiver Lebenserfahrung machen einen Rückzug aus dem „Jetzt und Hier“ nicht wünschenswert. Bereits im Zuge der Romanhandlung deutet sich ein charakterlicher Wandel Clamors an, und zwar in der Konfrontation mit seinem Intimfeind, dem Mathe‐ matiklehrer Hilpert. Hilpert hasst Clamor mit einer Intensität, die auf „Vernich‐ tung“ 96 zielt. Offenbar handelt es sich bei Hilpert um eine subalterne Variante Teos 97 : nihilistischer Technokrat, aber nicht von überragender Intelligenz. Hil‐ perts Hass hat keinen äußeren Anlass; vielmehr drückt sich darin der funda‐ mentale Antagonismus zwischen dem Typus des 20. Jahrhunderts und dem un‐ zeitgemäßen Clamor aus: „Die beiden wußten nicht, was und worum, doch sie wußten, daß hoch gespielt wurde.“ 98 Obwohl Hilperts Übergriffe subtiler Natur sind, ist er wesentlicher Anlass für Clamors Furcht: Blicke genügen, um Clamor in tiefsten Schrecken zu versetzen. Es kommt zur finalen Konfrontation, nachdem Clamor aus der Schule entlassen wurde: Er [Hilpert - M. M.] beugte sich herab und flüsterte ihm [Clamor - M. M.] ins Ohr: „Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich freue, daß ich dich losgeworden bin.“ Clamor erstarrte und fuhr zurück. Zum ersten Mal konnte er dem Doktor in die Augen sehen, bis auf den Grund hinab. Das war nicht die Begegnung zwischen Hund und Katze; es war die zwischen der Schlange und dem Ichneumon, die sich im Nilschilf treffen, wenn die Sonne senkrecht steht. Der Doktor erblaßte; sein Blick wurde unsicher. Er wandte sich ab und ging eilig davon. 99 Clamor entscheidet die Begegnung für sich; ihm ist ungeahnte Stärke zuge‐ wachsen. Freilich wurde hier erst eine Vorhut des Feindes geschlagen, aber es deutet sich an, wohin Clamors Weg führen wird und was von ihm erwartet werden kann. Teo, der noch nichts davon ahnt, hat einen Herausforderer ge‐ funden. Somit offenbart ein weiteres zentrales Symbol des Romans sich in neuen Di‐ mensionen: Der Weberknecht. Clamor empfindet Sympathie gegenüber den Spinnentieren, wird auch mit diesen identifiziert, indem seine Beine angesichts 267 Horror in sexualibus 100 Vgl. ebd., S. 245; Vgl. Kiesel, Jünger, S. 67. Zur Etymologie siehe Karl von Bahder, „Art. Weben“, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, Hirzel, Leipzig, 1922, Sp. 2620-2655. 101 Eine solche Auffassung entspricht Jüngers Begriff der Stereoskopie. Gemeint ist eine vieldimensionale, assoziative, dabei etymologisch sehr genaue Betrachtungsweise (vgl. Kiesel, Jünger, S. 360 f.). 102 Vgl. Jünger, Die Zwille, S. 115 f. 103 Zur Etymologie siehe Rosenhagen, „Zwille“, Sp. 1196 f. 104 Jünger, Die Zwille, S. 241; Vgl. Brehl, „Die Zwille“, S. 247. der Bedrohung durch Hilpert zu „weben“ - zu wippen - beginnen. 100 Auf der Erzähloberfläche scheint das Merkmal der Verletzbarkeit die Weberknechte mit Clamor zu verbinden. Tatsächlich aber ist der Weberknecht ein - wenig ge‐ liebter - Nützling, der die Stube von Schädlingen reinhält; eine Entwicklung in diese Richtung deutet sich auch bei Clamor an. Jedoch liegt die zentrale Deu‐ tungsdimension im modernen Bedeutungsgehalt des Webens: Es ist die Tätigkeit der Schicksalsgöttinnen, der Nornen oder Parzen. Das Kompositum zeigt ein Walten in deren Dienst an: Weber-Knecht. 101 Nicht zufällig wird das Dasein als Knecht als ehrenwertes markiert. 102 Von hier aus wird schließlich die Symbolik der Zwille verständlich. Etymo‐ logisch ist der Begriff auf das Zweifache zurückzuführen und bezeichnete ur‐ sprünglich die Astgabel, wovon die moderne Bedeutungsverengung zur Schuss‐ waffe abgeleitet ist. 103 Letztere wird schon im Roman in ihrer Doppeldeutigkeit vorgeführt: In den Händen Teos ist die Zwille ein Machtmittel, Clamor verletzt sich an ihr - der typologische Antagonismus beider ist damit scharf markiert. 104 Das entspricht der Auffassung des Volksglaubens, der der Zwille - als Astgabel - eine doppelte Potenz zuspricht: Sie könne den, der sich durch sie hindurch‐ zwänge, krank machen oder heilen. Das Symbol der Zwille nimmt also den Klimax des Romans vorweg: Clamor verletzt sich an der Waffe, in einem höheren Sinne führt diese Episode jedoch zu seiner Rettung. Zugleich aber steht die Zwille für zwei historische Optionen, die sich nur dem bildhaften Denken erschließen: Der Superus repräsentiert Herkommen und Tradition; in aufsteigender Linie folgen die Protagonisten des 19. Jahrhunderts, der Moderne, vor allem Professor und Rektor; sie bilden einen Scheidepunkt, von dem einerseits die Tendenz des 20. Jahrhunderts, Teo, abzweigt, andererseits aber auch die antagonistische Kraft, Clamor, in Erscheinung tritt. In diesem Sinne ist die Zwille die Entscheidung zwischen Teo und Clamor - zwischen Krankheit und Gesundheit auf höherer Ebene. 268 Manuel Mackasare 105 Betont werden muss, dass der Roman keine sinnenfeindliche Haltung vertritt, die etwa der des Superus entspräche. Die - für Jüngers Verhältnisse - Überbetonung sexueller Elemente markiert diese als widrige Varianten im o. g. Sinne, denen gegenüber auch wünschenswerte Sexualität existiert, jedoch unerwähnt bleibt oder subtil angedeutet wird - was auch Jüngers sonstiger Schreibpraxis entspricht. 5. Fazit Der Roman spielt während einer Epochenwende: In der Atmosphäre eines um sich greifenden Nihilismus, der wachsenden Wüste, gewinnt der Techniker der Macht Raum; alles deutet darauf hin, dass er sich zum abendländischen Sultan aufschwingen wird. Das Sexuelle ist ihm dabei Mittel zum Machtgewinn, jedoch ist auch einziger Zweck der erlangten Macht wiederum die Triebbefriedigung. Die Technokratie führt zurück ins Animalische. Wo auf solche Weise Macht und Sexus miteinander verknüpft werden, herrscht in der Tat ein „horror in sexua‐ libus“, wie ihn der Roman vorführt. 105 Vor dieser düsteren Kulisse des scheinbar unabwendbaren historischen Zwangs taucht als Hoffnungsschimmer die Möglichkeit einer unerwarteten Wendung, einer Rettung auf. Clamor trägt die Züge eines Heiligen: Dem ent‐ spricht seine Asexualität. Er durchläuft seine Passion, erfährt Erlösung und ver‐ körpert ein Heilsversprechen für seine Mitmenschen. Wie er aber genau wirken wird, ob er lediglich als Hirte Weniger auf- oder als Herausforderer des nihilis‐ tisch-technokratischen Zeitalters selbst antritt, darüber finden sich im Roman nur Andeutungen. Das sind Fragen, die zum Zeitpunkt der Romanentstehung offen sind. Die Zwille formuliert zentrale Philosopheme des alternden Jünger: Einerseits die Überzeugung, in einem Interim, einem Übergangszeitalter zu leben, das ge‐ prägt ist von Katastrophenerfahrungen titanischen Ausmaßes und dem Verfall althergebrachter Ordnungs- und Wertesysteme; andererseits die Gewissheit, dass über allem ein absolut Gutes schwebt, das die zeitgebundenen Mächte überdauern wird. Bibliographie Karl von Bahder, „Art. Weben“, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, Hirzel, Leipzig, 1922, Sp. 2620-2655. Friedrich Wilhelm Bautz, „Art. Ebeling, Johann Georg“, in: Biographisch-Bibliographi‐ sches Kirchenlexikon, Bautz, Hamm, 1976, Sp. 1441. 269 Horror in sexualibus Daniéle Beltran-Vidal, „Zeitstruktur und sozialgeschichtliche Aspekte in Jüngers Erzäh‐ lung ‚Die Zwille‘“, in: Lutz Hagestedt (Hrsg.), Ernst Jünger. Politik - Mythos - Kunst, Walter De Gruyter, Berlin / New York, 2004, S. 47-56. Medardus Brehl, „Die Zwille (1973)“, in: Matthias Schöning (Hrsg.), Ernst Jünger-Hand‐ buch. Leben - Werk - Wirkung, WBG, Stuttgart, 2014, S. 243-250. William Coupe, The German illustrated broadsheet in the seventeenth century. Historical and iconographical studies, Bd. 1, Heitz, Baden-Baden, 1966. Paul Gerhard, Befiehl du deine Wege, in: Evangelisches Gesangbuch, Gütersloher Verlags‐ haus / Luther-Verlag / Neukirchener Verlag, Gütersloh / Bielefeld / Neukirchen-Vluyn, 1996, Nr. 361. 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Zeitschrift für Kultur und Po‐ litik, 28, 1973, S. 668-672. 270 Manuel Mackasare Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltge‐ schichte, 50.-55. Aufl., C. H. Beck, München, 1927. Gerhard Tersteegen, Ich bete an die Macht der Liebe, in: Evangelisches Gesangbuch, Gü‐ tersloher Verlagshaus / Luther-Verlag / Neukirchener Verlag, Gütersloh / Bielefeld/ Neukirchen-Vluyn, 1996, Nr. 661. Reinhard Wilczek, Nihilistische Lektüre des Zeitalters. Ernst Jüngers Nietzsche-Rezeption, WVT, Trier, 1999 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 47). 271 Horror in sexualibus 1 Joseph Zoderer, Die Farben der Grausamkeit. Roman, Haymon, Innsbruck / Wien, 2014, S. 180. 2 Vgl. exemplarisch die biografische Notiz in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Joseph Zo‐ derer, München, 2010, S. 99 (text + kritik 188). „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“ 1 Joseph Zoderer - Eros und Logos im interkulturellen Kontext Verena Zankl / Irene Zanol (Innsbruck) 1. Joseph Zoderer wurde 1935 in Meran in Südtirol geboren und erlebte in seiner frühen Kindheit die Assimilierungs- und Italianisierungspolitik der Faschisten unter Mussolini - der südliche Teil Tirols war nach dem Ersten Weltkrieg an Italien gefallen. Familie Zoderer zog im Rahmen des von Hitler und Mussolini beschlossenen Umsiedlungsprogramms, der sogenannten „Option“, 1940 mit ihren fünf Kindern nach Graz. Joseph Zoderer besuchte dann ab 1948 in Widnau in der Schweiz ein humanistisches Gymnasium, die Matura legte er 1957 wieder in seiner Geburtsstadt Meran ab, wohin seine Eltern bereits 1949 zurückgekehrt waren. Nach diesen biografischen Stationen in Italien, Österreich und der Schweiz lebte Zoderer ein gutes Jahrzehnt lang in Wien, wo er Jura und Thea‐ terwissenschaft studierte und als Journalist arbeitete, bevor er in den 1970er Jahren wieder nach Südtirol zurückkehrte. 2 In die Wiener Zeit fallen seine ersten literarischen Arbeiten, Zoderer kündigte schon 1967 seine Festanstellung bei der Presse mit dem Ziel, eine schriftstelle‐ rische Karriere aufzubauen. Der literarische Durchbruch gelang ihm im An‐ schluss an seine Teilnahme am Bachmann-Wettbewerb 1982 mit dem Roman Die Walsche, der ihn als Autor von überregionaler Bedeutung etablierte. Aus diesem kurzen biografischen Abriss wird deutlich, dass die Bezeichnung „Fremdheitsspezialist“, die der Literaturkritiker Stefan Gmünder in einem Ar‐ 3 Stefan Gmünder, Joseph Zoderer: Der Fremdheitsspezialist, in: Der Standard online vom 25. November 2015, URL: http: / / derstandard.at/ 2000026391124/ Der- Fremdheitsspezialist (letzter Zugriff am 14. November 2017). Gmünder greift dabei auf ein Zitat Zoderers aus Die Walsche zurück. - Joseph Zoderer, Die Walsche. Roman, mit Materialien aus dem Vorlass des Autors sowie Beiträgen von Sigurd Paul Scheichl und Irene Zanol, Haymon, Innsbruck / Wien, 2016, S. 28. 4 Joseph Zoderer, Die Sprache der anderen. Vom Grenzgang der Sprache: Über die Seelenlage eines „österreichischen Autors mit italienischem Pass“, in: FF - die Südtiroler Wochenzei‐ tung vom 13. Dezember 2001. 5 Joseph Zoderer, „Von der Ambivalenz einer Sehnsucht“. Interview, Literaturhaus am Inn, Innsbruck, vom 7. März 2002. URL: https: / / orawww.uibk.ac.at/ apex/ uprod/ f ? p= 20090202: 21: 0: : NO: : P21_ID: 164 (letzter Zugriff am 14. November 2017). Siehe auch Sie‐ grun Wildner, Ethnizität und Identität in deutschsprachiger Literatur aus und über Süd‐ tirol, in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 15, 2004, URL: http: / / www.inst.at/ trans/ 15Nr/ 05_08/ wildner15.htm (letzter Zugriff am 10. November 2016). 6 Ebd. 7 Eintrag vom 28. März 1964. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Universität Innsbruck, Sig. 184-052-004. tikel zum 80. Geburtstag Zoderers im Standard wählt 3 , kein bloßes Etikett ist. Zoderer selbst bezeichnet sich als einen „von der österreichischen Kultur ge‐ prägte[n] Autor mit italienischem Pass“ 4 ; und er hatte seine Herkunftsregion Südtirol ab den 1970er Jahren schlussendlich als Wohnort gewählt, weil man in diesem „komplexen Kulturgefüge dreier ethnischer Gruppen“, so Zoderer, „immer wieder in die andere Fremdheit hineinkugelt“, „von einer Sprache in die andere wechseln“ 5 müsse. In einem Interview aus dem Jahr 2002 sagte er: Ständig in die Welt des anderen hinüberwechseln zu müssen, sich in die Bilder des anderen zu verlieren, sich selbst aufzugeben mit seinen eigenen Sprachbildern und Ghettos, und sich wieder zurückzuholen daraus - das war für mich der Ersatz für die „Stadt“. Es ist eine tägliche Übung. Und für mich als Schriftsteller ist es eine gute Situation an der Grenze zu leben. 6 Diese „Situation an der Grenze“ ist der Ausgangspunkt für den vorliegenden Aufsatz und die These, dass das Eros-Konzept in Zoderers Romanen stets mit kultureller Fremdheit verknüpft ist, oder anders gesagt, dass das erotische Be‐ gehren nach dem Anderen, das von Zoderer nahezu immer als exotisch ent‐ worfen wird, auch einen Grenzübertritt vor dem Hintergrund kultureller Fremd‐ heit darstellt. 2. „Sex (als Literatur-Objekt) ist heute alles andere als Tabu; Tabu ist alles andere“, schreibt Joseph Zoderer 1964 in sein Tagebuch. 7 Vier Jahre später hält er fest: 273 „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“ 8 Ebd. 9 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1983, S. 13 (Sexualität und Wahrheit 1). 10 Stefan Neuhaus, „‚Ihre Möpse sind weich. Ungewöhnlich schön liegen sie in der Hand‘: Zur Funktionalisierung von Erotik und Sexualität in der Gegenwartsliteratur“, in: Doris Moser / Kalina Kupczyńska (Hrsg.), Die Lust im Text. Eros in Sprache und Literatur, Prae‐ sens, Wien, 2009, S. 375-387, bes. S. 375 (Stimulus - Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik 2008). 11 Siehe dazu vor allem Bernhard Waldenfels, Studien zur Phänomenologie des Fremden [in zwei Bänden: Bd. 1: Topographie des Fremden, Bd. 2: Grenzen der Normalisierung], Suhr‐ kamp, Frankfurt am Main, 1997 und 1998 (stw 1320 und stw 1351) sowie Jacques Lacan, „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“, in: Dorothee Kimmich / Rolf G. Renner / Bernd Stiegler (Hrsg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Reclam, Stuttgart, 2008, S. 175-185 (RUB 18589). 12 Stefan Neuhaus, „Figurationen der Liebe“, in: ders. (Hrsg.), Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft, Königshausen & Neumann, Würz‐ burg, 2012, S. 5-17, hier S. 8 (Film - Medium - Diskurs 43). Vgl. auch die Einleitung zu diesem Band von Albrecht Classen. 13 Vgl. Plato, Das Gastmahl oder Von der Liebe, übersetzt von Kurt Hildebrandt, Reclam, Stuttgart, 1981 (RUB 927). „Meine einzige Chance: zu schreiben oder ich gehe drauf. Und zum Schreiben brauche ich ‚die Kraft des Eros‘.“ 8 Mit diesen Überlegungen zum Tabu-Thema Sex ist Joseph Zoderer ganz am Puls der Zeit. Die 1968er stellen in der Geschichte der Sexualität, die nach Fou‐ cault „in erster Linie als Chronik einer zunehmenden Unterdrückung“ 9 gelesen wird, eine Zäsur dar und rufen die sexuell befreite Gesellschaft aus. Infolge‐ dessen wird auch in der Literatur ein selbstverständlicherer Umgang mit Erotik und Sexualität angestrebt. 10 Wie aus den eben zitierten Tagebuch-Passagen aus dem Vorlass des Autors hervorgeht, spielt der Eros auch im Schreiben Zoderers von Beginn an eine zentrale Rolle. Die Perspektive, von der aus wir seinen literarischen Umgang mit Erotik und Sexualität analysieren wollen, rekurriert auf philosophische und psychoanaly‐ tische Theorien 11 und hat „ein klar konstruktivistisches Vorverständnis von Liebe“. 12 Der Liebesdiskurs baut - geprägt vor allem von Platon 13 - seit der An‐ tike auf der Annahme auf, dass der / die Liebende einen Mangel in sich verspürt, den er / sie durch die Verbindung mit dem Objekt seiner Liebe auszugleichen versucht, oder anders gesagt: Kommunikation ist grundlegend für die menschliche Existenz, das Ich braucht den Austausch mit Anderen, ohne alter würde ego keine Persönlichkeit ausbilden 274 Verena Zankl / Irene Zanol 14 Neuhaus, Ihre Möpse sind weich, S. 10. 15 Sieglinde Klettenhammer, „‚Diese Bewegung zwischen Abgestoßensein und Besitzen‐ wollen‘ oder Das Andere in Paarbeziehungen. Zoderers erzählerisches Werk aus ge‐ schlechterkritischer Perspektive“, in: dies. / Erika Wimmer (Hrsg.), Joseph Zoderer - Neue Perspektiven auf sein Werk. Studienverlag, Innsbruck / Wien; Bozen 2017, S. 293-310, hier S. 295 (Edition Brenner-Forum 13). 16 Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1997, S. 27 (stw 1320). 17 Ebd. 18 Ebd., S. 36 f. 19 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1994 (stw 1124). können. […] Wenn Menschen lieben, dann bedeutet das die intensivste Möglichkeit der Beziehung zwischen ego und alter, zwischen dem Ich und der / dem Anderen. 14 Der Eros dient der Vereinnahmung des Anderen durch das Ich, der Aufhebung der Fragmentierung (Lacan) oder anders: der Konstituierung des Eigenen durch das Fremde. Die Frage nach dem Fremden eröffnet wiederum „ein sehr weites Feld an theoretischen Bestimmungsversuchen“. 15 Einen Ansatz, der uns für eine Annä‐ herung an die literarisch-narrativen Konstruktionen des Fremden in Zoderers Werk geeignet erscheint, liefert Bernhard Waldenfels in seinen Studien zur Phä‐ nomenologie des Fremden. In seiner Beschreibung des Wesens der Fremdheit geht er auch auf die Fremdheit im Selbst ein: Er unterscheidet zwischen „intrasub‐ jektiver“ und „intersubjektiver Fremdheit“ 16 und gibt dieser Gegenüberstellung in Bezug auf die Fremdheit des Subjekts eine Entsprechung in der Unterschei‐ dung einer „intrakulturelle[n] Fremdheit im Gegensatz zur interkulturellen Fremdheit“ 17 . Außerdem führt Waldenfels den Begriff der „radikalen Fremdheit“ ein: Diese betrifft all das, was außerhalb jeder Ordnung bleibt und uns mit Ereignissen konfrontiert, die nicht nur eine bestimmte Interpretation, sondern die bloße „Inter‐ pretationsmöglichkeit“ in Frage stellen. […] Hierher gehören Grenzphänomene wie Eros, Rausch, Schlaf oder Tod […]. 18 So führt Eros also einerseits in die „radikale Fremdheit“ und verspricht ande‐ rerseits - jedenfalls im Luhmann’schen Konzept der „Liebe als Passion“ 19 , der romantischen Liebe, die bis heute den Liebesdiskurs bestimmt - die Aufhebung der Fremdheit. Dieses Paradoxon erleben auch Zoderers Protagonisten. 275 „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“ 20 Bernhard Waldenfels, Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1998, S. 164 (stw 1351) [Hervorhebung im Original]. 21 Ebd. [Hervorhebungen im Original]. 22 Ebd. 23 Luhmann, Liebe als Passion, S. 178. 24 Zoderer, Die Walsche, S. 115. Waldenfels definiert den Eros als „Ort zwischen Vertrautheit und Fremdheit, zwischen Alltäglichem und Außeralltäglichem“  20 : „Was Vertrautheit und Einge‐ wöhnung angeht, so kommt [sic] sie auf zweierlei Weise zustande. Da ist einmal der Weg der Spiegelung des Anderen im Ich. […] Vertrautheit und Eingewöhnung kommen andererseits zustande durch Unterordnung unter ein Über-Ich und Ein‐ ordnung in ein Wir, also durch Eingliederung in eine Sphäre der Gemeinsamkeit, der Verständigung, der Verrechtlichung […]“ 21 , die die „Liebe am Ende [zu] etwas Normale[m]“ 22 machen. Ebendies, Vertrautheit und Normalität, Erfüllung der Einheitssehnsucht durch das „Aufgehen im Anderen“ 23 , findet sich in den Paar‐ beziehungen der Romane Zoderers nicht. Inwieweit dies auch damit zusam‐ menhängt, dass die Projektionsfiguren der männlichen Protagonisten stets eth‐ nisch-kulturell anders und damit in einem doppelten Sinn fremd sind, soll die Analyse der Texte zeigen. 3. Bereits Die Walsche, der Roman, mit dem Zoderer 1982 reüssierte und der das einzige seiner Werke ist, in dem die Hauptfigur weiblich ist, ist geprägt von einer Grenzsituation: Olga hat das Südtiroler Bergdorf, in dem sie aufgewachsen ist, vor langer Zeit verlassen, ist in die Stadt gezogen, wo sie eine Beziehung mit einem Italiener, Silvano eingegangen ist. Nach dem Tod ihres Vaters kommt sie für drei Tage - von der Aufbahrung bis zur Beerdigung - in ihr altes Heimatdorf zurück, wo sie auf Ablehnung, Misstrauen und Hass stößt. Hier setzt sie sich mit ihrer Vergangenheit, ihrer Flucht in die Stadt, aber auch mit der schwierigen Beziehung zu Silvano auseinander, sie begibt sich auf die Suche nach ihrem Ich, nach ihrer Identität. Olga ist geprägt von einer ständigen Ambivalenz von Sehn‐ sucht nach Aufhebung der Fremdheit, nach Verschmelzung und einer positiven Sichtweise auf Fremdheit. Über ihre Beziehung mit Silvano heißt es: „Wahr‐ scheinlich machten die Missverständnisse sie auf eine gute Art fremder, sie ach‐ teten aufeinander mit Ängstlichkeit, und ihre Fremdheit machte sie zerbrechli‐ cher.“ 24 276 Verena Zankl / Irene Zanol 25 Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 20. Zoderer hat seit Die Walsche bis dato sieben Romane sowie drei Erzählbände veröffentlicht. In vielen dieser Texte tritt der Protagonist von Norden kommend eine Reise in den Süden an: nach Mexiko, Spanien oder Italien, um die Frau zu erobern, in die er sich ‚unsterblich‘ verliebt hat. In den meisten Fällen ist der Protagonist verheiratet und kehrt am Ende der Reise wieder zu seiner Frau zu‐ rück - die Suche nach der Angebeteten blieb entweder erfolglos oder der Pro‐ tagonist wurde zurückgewiesen. In jedem Fall handelt es sich um mehrfache Grenzüberschreitungen: im wört‐ lichen Sinn, indem der Protagonist ein anderes Land betritt; im übertragenen Sinn, indem er eine Frau aus einem anderen Kulturkreis begehrt, die zudem oft noch außerhalb der damaligen gängigen gesellschaftlichen Normen steht (sie ist unabhängig, stark und lebt promisk). Indem der Protagonist sich auf eine amouröse Beziehung mit der anderen Frau einlässt, übertritt er auch die Grenze von einer stabilen Partnerschaft zu einem Leben in (scheinbarer) Freiheit, ge‐ trieben und erneut gefangen in seinem Streben nach Vereinigung. Die folgende Analyse beschränkt sich hauptsächlich auf zwei Romane: Das Schildkrötenfest aus dem Jahr 1995 und Zoderers bis dato letzten erschienenen Roman Die Farben der Grausamkeit aus dem Jahr 2013, die - wie auch sein Roman Dauerhaftes Morgenrot aus dem Jahr 1987 und die Erzählung Die Nähe ihrer Füße 2006 - starke Ähnlichkeiten miteinander aufweisen: in Bezug auf die Figuren‐ zeichnung, das Begehren des männlichen Protagonisten nach dem Fremden bei gleichzeitigem Wunsch nach Sesshaftigkeit, den Reiz des Exotischen, die Ver‐ einigungssehnsüchte, die Schilderungen des Kennenlernens, die Liebesge‐ schichte, die sich in den Texten entspinnt, und nicht zuletzt in Bezug auf die Konflikte, die aus den Grenzüberschreitungen resultieren, sowie schlussendlich das Scheitern des Protagonisten an seinen ‚Einheitsphantasien‘. Der aus Südtirol stammende Rundfunkjournalist Richard in Die Farben der Grausamkeit ist verheiratet, hat zwei Kinder und führt seit Jahren ein Doppel‐ leben: Er hat eine Affäre mit der jungen Kollegin Ursula, die ihn schließlich wegen eines anderen Mannes verlässt. Richard hat für sich und seine Familie einen alten Bauernhof gekauft, den er gemeinsam mit seiner Frau renoviert - in Rückblicken wird die Liebesgeschichte mit Ursula erzählt, von der wir nicht viel erfahren, außer dass sie jung, unab‐ hängig und sexuell freizügig ist: eine Frau, mit der er ausschließlich in der Ge‐ genwart leben kann, wohingegen er mit seiner Ehefrau in der Zukunft lebt. 25 277 „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“ 26 Ebd., S. 30. 27 Ebd., S. 15. 28 Ebd., S. 160. Während die männliche Hauptfigur nach dem Ende der Beziehung mit Ursula versucht, sein Eheleben wieder zu stabilisieren, „die Wunde[, die sie] trennte“ 26 , zu heilen, der Familie eine Heimat zu geben und selbst dauerhaft sesshaft zu werden, erinnert er sich an Ursula. Die Begierde ist immer noch stark, die Sehn‐ sucht nach dem der Anderen und der Wunsch nach dem Ausbrechen aus der familiären Ordnung sind aufrecht geblieben: In den Monaten des Umbaus war das Haus etwas Halbfremdes, dem sie mit Schaufel und Spitzhacke zu Leibe rücken konnten. Zugleich auch ein romantischer Zukunfts‐ tempel der Liebe, ein Bollwerk der Geborgenheit für sie, eine Fluchtburg für ihn, aus der heraus die Vorstöße ins Unbekannte, ins gefährlich Fremde erleichtert, ja, geför‐ dert werden sollten, weil der Rückzug nicht nur Rekonvaleszenz von den erlittenen Verletzungen, sondern vor allem Rückzug zu Besinnung und Überblick versprach. 27 Im zweiten Teil des Romans nimmt Richard Jahre später eine Stelle als Aus‐ landskorrespondent an, was seiner Ehefrau mehr als widerstrebt. „Er wollte nicht verantwortungslos sein, aber er wollte unterwegs sein, zu einem Ziel, das er vielleicht selbst nicht kannte.“ 28 Und sogleich begegnet er in Berlin ganz un‐ vermittelt auf einer Feier Ursula wieder. Sie heißt nun Miguela und lebt ge‐ meinsam mit ihrem spanischen Ehemann in Barcelona. Miguela und Richard sind sofort wieder entflammt füreinander, verlassen die Feier und verbringen die Nacht miteinander in einem Hotel. Am nächsten Tag muss Miguela abreisen, nicht ohne aber Richard zu bitten, so schnell wie möglich zu ihr nach Barcelona zu kommen, um für immer bei ihr zu bleiben. Richard kehrt noch einmal nach Hause zurück und verlässt seine Ehefrau. Richard und Miguela verbringen ein paar Wochen miteinander, zuerst in Berlin, dann in Barcelona. Ein Happy-End ist nicht vorgesehen. Miguela beteuert ihm zwar immer wieder, dass er der Mann sei, den sie liebe und mit dem sie leben möchte, stellt gleichzeitig aber klar, dass sie ihren Ehemann niemals verlassen werde. Auch Richard lässt seine Familie nicht los, Anrufe seiner Ehefrau und die Erin‐ nerungen an die Kinder erwecken in ihm wieder den Wunsch nach dem alten, dem anderen, dem sesshaften Leben. Ohne Heimat geht es offensichtlich nicht, irgendein Brandmal mußt du vorzeigen können. Gegen all das andere mußt du was Eigenes haben. Es genügt nicht mehr, mit 278 Verena Zankl / Irene Zanol 29 Ebd., S. 68. 30 Ebd., S. 268 f. 31 Joseph Zoderer, Das Schildkrötenfest. Roman, mit Materialien aus dem Vorlass des Au‐ tors sowie Beiträgen von Sieglinde Klettenhammer und Andrea Margreiter, Haymon, Innsbruck / Wien, 2015, S. 30. 32 Ebd., S. 5. Spieß und Gewehr aufeinander loszugehen, wichtiger ist, daß du nachweist, woher das Messer kommt, mit dem du zustichst. 29 Als Miguela schließlich schwanger wird und das gemeinsame Kind abtreibt, mit der Begründung: „Weil ich dich liebe. Ich will dich nicht zugrundebringen, ich will dich lieben, und wenn es nur in der Erinnerung ist“ 30 , kehrt Richard zu seiner Ehefrau zurück, die ihn mit offenen Armen und ebenfalls mit der Nachricht empfängt, bald Vater zu werden. Genau diese Eroberungs-, Liebes- und Abschiedsszenen sind es, die in den genannten Texten in Variationen immer wieder neu erzählt werden. Dauerhaftes Morgenrot setzt da ein, wo der Protagonist seine Ehefrau verlassen hat, begleitet ihn dabei, wie er in einer namentlich nicht genannten Stadt am Meer herumirrt, um die Frau zu finden, für die er sich zwar entschieden hat, die er aber nicht finden kann, und endet bei der Rückkehr zu seiner Ehefrau. Die Nähe ihrer Füße erzählt die Entfremdung beim erfolglosen Versuch, die Frau zu erobern, die er zwar gefunden hat, die ihn aber nicht mehr liebt. Das Schildkrötenfest erzählt als einziger Roman die Liebesgeschichte chrono‐ logisch ab dem Kennenlernen, entführt in das Verwirrspiel einer kurzen Bezie‐ hung und endet - wie auch die anderen genannten Texte - mit dem Verlust der Geliebten. Der ebenfalls aus Südtirol stammende Protagonist Loris in Das Schildkröten‐ fest hat sich auf einer Busfahrt in die in Mexiko lebende Nives verliebt, die so‐ wohl spanische als auch französische Wurzeln hat. Loris ist unterwegs von den Vereinigten Staaten nach Mexiko, um einen Freund zu besuchen, er ist „frei wie nie zuvor“ 31 und ausgestattet „mit dem guten Gefühl, unterwegs zu sein“ 32 . Bei einem Zwischenstopp an der mexikanischen Grenze nimmt er Nives zum ersten Mal wahr oder glaubt zumindest rückblickend, dass er sie dort zum ersten Mal gesehen haben muss: Später dachte er, dass er […] sie so zum ersten Mal gesehen oder doch in den Blick‐ winkel bekommen hatte, stehend im schmalen Schatten eines Blechdaches, vielleicht lehnte sie mit einer Schulter an der Mauer und traf mit ihren Augen seinen Blick, er 279 „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“ 33 Ebd., S. 6. 34 Ebd. 35 Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 48. 36 Sieglinde Klettenhammer, „Nachwort“, in: Zoderer, Das Schildkrötenfest, S. 182-196, hier S. 194. Vgl. Luhmann, Liebe als Passion. 37 Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 16. 38 Ebd., S. 41. war sich dessen nicht mehr sicher und misstraute seiner Erinnerung, wahrscheinlich hatte er sich nur ein Bild gemacht […]. 33 Bereits am Ausgangspunkt des Romans befindet sich der Protagonist am Über‐ tritt in ein anderes Land. Das Überschreiten einer Grenze im wörtlichen Sinn begegnet der Leserin und dem Leser auch in den anderen genannten Texten: In Die Farben der Grausamkeit reist der männliche Protagonist von Berlin nach Barcelona, in Dauerhaftes Morgenrot von einem nicht genannten Ort im Norden an einen Ort im Süden; auch Die Nähe ihrer Füße führt an einen Zwischenort, nämlich den Flughafen einer spanischen Stadt am Meer. Das Ende des obigen Zitats - „wahrscheinlich hatte er sich nur ein Bild gemacht“ 34 - ruft Lacan auf, indem der Protagonist erkennt, dass es sich bei Nives nur um eine Projektions‐ fläche handelt. Die Augen, die genannt werden, spielen in Zoderers Romanen ebenfalls immer wieder eine Rolle. Auch bei der ersten sexuellen Annäherung an Ursula „blickte“ Richard in Die Farben der Grausamkeit vorher noch „in ihre Augen, die kastaniendunkel glänzten“ 35 . Die Protagonisten werden damit so‐ gleich „in eine privat-intime ‚Liebes-Passion‘ nach romantischem Muster N. Luhmann verstrickt“ 36 . Loris und Nives nehmen nebeneinander im Bus Platz, es entspinnt sich ein Gespräch über ihre Herkunft - Loris stammt aus Südtirol, Nives ist kulturell hybride -, beim nächsten Zwischenstopp kommen Loris und Nives einander an der Busstation näher: Er sah zu, wie sie, ohne mit ihm zu reden - obwohl es war, als redete sie ununterbro‐ chen mit ihm -, mit dem Glas an der Unterlippe entlangfuhr und es ein wenig anhob, es war wie ein Einverständnis, und tatsächlich streckte sie bald einen Arm aus und öffnete die Handfläche, in die er seine Hand hineinlegte. 37 Sie ziehen sich in ein Hotelzimmer zurück und auch hier erkennt Loris sofort eine Seelenverwandtschaft mit der begehrten Frau: „Sie beide waren aufeinan‐ dergestoßen wie zwei Steine, die plötzlich zusammenwuchsen, als wären sie Gras“ 38 . Der Protagonist ist auf der Suche nach seiner zweiten Hälfte; wie in der Erzählung Die Nähe ihrer Füße herrscht zwischen den beiden Liebenden „die selbstverständliche Vertrautheit, daß sie eins waren, als hätten sie die gleichen 280 Verena Zankl / Irene Zanol 39 Joseph Zoderer, „Die Nähe ihrer Füße“, in: ders., Der Himmel über Meran. Erzählungen, Hanser, München / Wien, 2006, S. 116. 40 Klettenhammer, „Nachwort“, S. 192. 41 Zoderer, Das Schildkrötenfest S. 21. 42 Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 25. 43 Joseph Zoderer, Dauerhaftes Morgenrot. Roman, mit Materialien aus dem Vorlass des Autors sowie Beiträgen von Johann Holzner und Verena Zankl, Haymon, Innsbruck / Wien, 2015, S. 18. 44 Zoderer, Das Schildkrötenfest, S. 30. Verstecke gekannt als Kinder“ 39 . Es klingt einmal mehr das antike Liebeskonzept an, in dem der Mensch nicht vollständig ist, sondern das Überbleibsel eines vollkommenen Kugelwesens, getrieben von dem Wunsch, die andere Hälfte zu finden, und zugleich wieder Lacan, indem Loris in Nives sich selbst zu erkennen vermeint. Nives wird „für Loris zur Projektionsfläche für sexuelle Fantasien und Imaginationen“ 40 . Was ihn verwirrte, war, dass Nives sich nicht fremd anfühlte, im Gegenteil, dass sie so vertraut über das Gleiche lachte wie er, sie redeten von den gleichen Ängsten, ihre Nähe machte ihn halb ohnmächtig, er leckte ihre Haut, er leckte ihren ganzen Körper ab, er leckte ihren Schweiß weg, ihr Salz, mit einem bürokratischen Genauigkeitssinn leckte er jeden Quadratmillimeter ihres Bauches, ihrer Brüste, er kroch mit seiner Zärtlichkeit über sie hinweg, auf alle Antworten lauschend, und schlich sich ein in die Achselhöhlen, als gehörte er seit je in diese Nähe, als gehörte er dazu, und kannte doch nichts davon. 41 Dieses manische Erkunden der Haut und der Wunsch, diese Grenze zwischen Außen und Innen zu durchdringen, sind als Versuch einer Verschmelzung zu deuten, die nicht gelingen kann. „Er kannte die Wärme dieses Körpers, kannte jeden Hautzentimeter, und doch fühlte er sich in einer Fremde, die ihn erstarren ließ, in einem Exil, in das er sich selbst verdammt hatte“ 42 ; diese Erfahrung durchlebt auch Richard in Die Farben der Grausamkeit. Die menschliche Haut bleibt eine Grenze, die aber umso intensiver durchstoßen werden möchte; so auch in Dauerhaftes Morgenrot: „Sie lässt ihn ihre Waden küssen, lässt ihn ihre Fußknöchel abschlecken, ihre Fußsohlen, die Haut zwischen ihren Zehen. Und er befeuchtet ihre Kopfhaare, er sucht mit der Zunge ihren Scheitel.“ 43 Am nächsten Morgen ist Nives verschwunden. Loris ist enttäuscht, steigt aber in den nächsten Bus und setzt seine Reise fort. Als er an seinem Ziel in Tepic in Mexiko ankommt, findet er im Hotel einen Brief von Nives: „Du kannst mich schlagen - aber ich will Dich wiedersehen. Ich melde mich - N.“ 44 Ein seltsames Spiel beginnt, in dem sich Nives immer wieder Loris annähert und wieder aus seinem Blickfeld verschwindet, ihm die Liebe verspricht und sich gleichzeitig 281 „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“ 45 Vgl. Klettenhammer, „Nachwort“, S. 190. 46 Ebd., S. 193. wieder zurückzieht - wie in Die Farben der Grausamkeit mit der Begründung, gerade deshalb nicht mit ihm zusammen sein zu können, weil sie ihn so sehr liebe. Auch Nives lebt bereits in einer Partnerschaft, die aber kein großes Hin‐ dernis zu sein scheint, denn sie beteuert Loris, zwei Männer lieben zu können. Die Ereignisse werden zunehmend verworrener und die Geschehnisse un‐ durchsichtiger - nicht nur für den Leser und die Leserin, sondern auch für Loris, der zwar immer tiefer in die Dorfstruktur eintaucht, sich gleichzeitig aber immer mehr bewusst wird, dass er niemals ganz eintauchen kann in Nives’ Welt, son‐ dern ein Fremder bleiben wird. Alkohol, Drogen und die zunehmende Hitze lassen schließlich die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit endgültig ver‐ schwimmen. Der Rausch gipfelt im Verspeisen einer alten Jahrhundertschild‐ kröte, die erst bestialisch ermordet, dann aufgeschlitzt und schließlich von den Dorfbewohnern gegessen wird, während im Zuge einer Razzia - es wird nicht ganz klar, ob diese politisch motiviert ist oder ob es sich um eine Drogenrazzia handelt - nicht nur Nives’ Lebensgefährte Rey ermordet wird, sondern auch Nives selbst für immer verschwindet. Die Grundkonstellation der Beziehung ist also die gleiche wie in Die Farben der Grausamkeit, auch Miguela ist verheiratet und möchte ihren Mann nicht verlassen, gleichzeitig aber trotzdem Richard nicht gehen lassen. Überhaupt scheinen die beiden Frauenfiguren miteinander verwandt zu sein. 45 Nives und Miguela sind jung, schön und freiheitsliebend, unnahbar, und zugleich trotzdem sehr fordernd, was Liebesbekundungen anbelangt. Sie haben sexuelle Erfah‐ rungen mit beiderlei Geschlechtern bzw. mit Transgender-Personen. Im Nachwort zu Das Schildkrötenfest stellt auch Klettenhammer fest: Nicht das Identische, sondern das außerhalb seiner Ordnung stehende Nicht-Identi‐ sche löst Loris’ erotisches Begehren aus. Dazu gehört Nives’ kulturelle Hybridität, ihr unkonventionelles Verhalten und die von ihr erzählte Lebens- und Familienge‐ schichte […]. Es ist nicht zu übersehen, dass diese Dichotomien, die in der Einführung der Protagonisten aufgespannt werden, auf die abendländische Geschlechterordnung rekurrieren, in der die Frau das genuin ‚Andere‘ und mithin auch die exotische Fremde repräsentiert, in die auch Loris nach seinem Grenzübertritt eintaucht, die er in Nives und in der körperlichen Vereinigung mit ihr ergründen und aufheben will. Sein Grenzübertritt in die Tropen wird somit auch zu einem Grenzübertritt und zu einer Reise in das trügerische Land des Begehrens, das die fremde tropische Natur versinn‐ bildlicht. 46 282 Verena Zankl / Irene Zanol 47 Zoderer, Das Schildkrötenfest, S. 38. 48 Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 182. 49 Klettenhammer, „Nachwort“, S. 10, S. 193. 50 Z. B. Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 42. 51 Ebd., S. 26. Die Lust auf das Fremde zeigt sich auch in den Exotisierungen bei den Beschrei‐ bungen der weiblichen Körper: Er blieb lange fast unbeweglich in ihr und verfolgte die Rede ihrer Augen. Wenn er die Augen schloss, brachen die Platanenblätter eins nach dem anderen zitronengelb vom Baum […]. Er fiel neben sie und atmete ihren Atem, hörte ihn, versuchte ihn einzusaugen in seine Nase, ihre Brüste waren größer als Pampelmusen […]. 47 Auch in Die Farben der Grausamkeit: „Ihre Haut roch wie ein wolliges Nest, und ihre Brüste waren kraftvoll und wie Blumen in den Gärten von Semiramis“ 48 . Wenngleich Egalitäten zwischen Nives und Loris konstruiert werden, so etwa über die gemeinsame Mehrsprachigkeit, wird in Nives dennoch der Topos des Fremden bzw. der fremden Frau aufgerufen und sie wird von Anfang an in Opposition zu Loris gesetzt. Nives kommt aus der „Wüste“, Loris aus den „Alpen“, zu Nives’ „vertraute[m] Element“ gehört „die Hitze“, zu Loris dagegen „der Schnee“. Nives - der für beide Geschlechter gebräuchliche Vorname - impliziert zudem „Schnee“, also jenes ‚Ele‐ ment‘, das Loris vertraut ist und von dem Nives, wie sie sagt, „immer […] wie von etwas wunderbar Fremdem“ (S. 10) geträumt hat. 49 Auffallend oft geht die Annäherung auch mit dem gemeinsamen Akt des ge‐ nussvollen Essens einher, dem offensichtlich eine erotische Komponente zu‐ kommt und bei dem die exotische Küche durch zahlreiche sinnliche Eindrücke erfahrbar gemacht wird. Während es bei der körperlichen Vereinigung immer nur bei dem Versuch bleiben kann, miteinander zu verschmelzen, gelingt die Aufnahme des gemeinsamen Essens umso gewisser. Während es mit der Ehefrau zuweilen nur bei einem Salat bleiben muss 50 , wird das Essen mit der Geliebten zu einem deutlich sexuell konnotierten Bild verdichtet: Auch wenn draußen ein winterblauer Sonnenhimmel strahlte, aßen sie bei Kerzenlicht (der Strom war abgeschaltet) in der Küche Rohschinken und Parmesanbrocken, ließen eine Prosecco-Flasche knallen und liebten sich im kalten Bett des Zimmers. 51 Im Schildkrötenfest ist es die alte „Jahrhundertschildkröte“, die von den Dorfbe‐ wohnern und auch dem Liebespaar verspeist wird, in den anderen Texten irrt der Protagonist durch das Nachtleben und zwielichtige Bars, wobei die Sehn‐ sucht nach der Geliebten ungestillt bleibt und schlussendlich stattdessen ein 283 „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“ 52 Auf diese Szene hat bereits Hans-Georg Grüning hingewiesen: „Ein weiterer mediter‐ raner Zug, der als ein eher materiell erscheinender Motivstrang besonders in diesem Roman erscheint, ist das Kulinarische […], das allerdings nicht nur als ein Mittel des Lokalkolorits, sondern als archetypisches, mit den anderen Grundfunktionen des menschlichen Lebens wie der Liebe verbundenes Element vorgestellt wird […].“ - Hans-Georg Grüning, „Zwischen Alpenheimat und Mittelmeersehnsucht. Zur Topo‐ grafie in Joseph Zoderers Romanen“, in: Arnold (Hrsg.), Joseph Zoderer, S. 33. 53 Zoderer, Dauerhaftes Morgenrot, S. 95 ff. gemeinsames Essen als Ersatz für die Vereinigung gewählt werden muss. Be‐ sonders ausführlich wird dies in Dauerhaftes Morgenrot geschildert 52 : Sie essen zuerst Seeschnecken, Gianna hat eine üppige Auswahl zusammengestellt, nacheinander bringt die Kellnerin immer neue Leckerbissen auf weißen Tellern, mit einer Gabelzinke versucht Lukas das dunkle Fleisch der Meeresschnecken aus den kaum zwei Zentimeter langen Einsiedlerhörnchen herauszuspießen, aber er zerstü‐ ckelt damit nur den schlappen Kopf mit den winzigen steifgekochten Fühlern, also greift er wie Gianna nach dem Zahnstocher und sticht damit Schnecke um Schnecke flink und sicher aus dem Gehäuse, in voller Körperlänge baumeln die winzigen Happen am Zahnstocherholz, die würzige Sauce tropft auch über die fadendünnen Exkremente, die er und Gianna mitessen, seine Finger glänzen von dem schmierigen Saft, er leckt sie von Zeit zu Zeit ab, neben den zierlichen Tritonhörnchen liegen auch einige größere Schnecken, kaum kleiner als Frühjahrsbirnen, das schmale Ende kommt ihm vor wie eine geschlitzte Flöte, es sind auch einige Miniaturzimbeln da‐ runter, gestachelte Meereszimbeln, und aus diesen Meeresmusikhäusern zupfen sie beide die toten Meeresmusikanten, die gekochten und geschmorten Zimbelbe‐ wohner […], die Einsiedlerkrebse essen sie wie gebratenes Kalb- oder Rindfleisch, wie Huhn oder Schaf, essen wir mit Genuss die in Netzen oder Reusen oder mit der Hand gefangenen Meereseinsiedler, und von einem anderen Teller kosten wir panierte, in Olivenöl gebackene Krabben, ich beiße in pelzige, haarige Wasserspinnen und in die geschälten Kraken, und er hebt das Glas und fährt damit durch die Luft über dem Tisch zu Giannas Gesicht, so dass auch sie zum Glas greift und es mit leisem Klingeln an seines stößt. Und wir sitzen da, in dieser Haltung, mit den Gläsern in den Händen, und da zögern wir, die Gläser zum Mund zu führen und warten wie auf etwas Un‐ vorhergesehenes, um uns dann erstaunt anzuschauen, bevor wir wieder lächeln, uns zulächeln und trinken, Lukas nimmt einen kleinen Schluck, und gleich noch einen, das halbe Glas, sie könnte mir ihr Glas ins Gesicht schütten vor Freude. 53 Am Ende sind die Protagonisten in Zoderers Romanen wieder allein bzw. in ihr altes Leben zurückgeworfen. Loris in Das Schildkrötenfest hat sein Scheitern schon zu Beginn anerkannt: „Ich bin in einem fremden Land, sagte er, ohne die 284 Verena Zankl / Irene Zanol 54 Zoderer, Das Schildkrötenfest, S. 55. 55 Waldenfels, Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, S. 36. 56 Dass Zoderer in der literarischen Umsetzung dieses Themas auch stark mit Klischees arbeitet, sei hier nur angedeutet. 57 Waldenfels, Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, S. 158. 58 Ebd. S. 165. 59 Vgl. Neuhaus, Ihre Möpse sind weich, S. 11 f. 60 Luhmann, Liebe als Passion, 1994, S. 203. 61 Waldenfels, Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, S. 27. Lippen zu bewegen, aber auch in seinem eigenen wäre er sich jetzt fremd ge‐ wesen.“ 54 Fazit Der Blick auf die analysierten Romane in der Chronologie ihres Erscheinens verdeutlicht, dass das Thema des mehrfachen Grenzübertritts vom Eigenen in das Fremde - auf personeller wie auf ethnisch-kultureller Ebene - schon in Die Walsche 1982 da war. Hier verlässt Olga ihr Dorf und geht in die Stadt, sie bewegt sich an einer Grenze, bricht auf in einen neuen Raum und kehrt - jedenfalls für eine Zeit lang - wieder zurück. Ähnlich der Protagonist in Das Schildkrötenfest 1995: Er reist nach Mexiko und übertritt die Grenze in die „radikale Fremd‐ heit“ 55 , geprägt von Eros und Rausch. In Die Farben der Grausamkeit kehrt der Protagonist auf den Berg zurück, versucht seinen durch den Grenzübertritt ent‐ standenen Verlust zu kompensieren, will sesshaft werden, wieder zu einer Ord‐ nung zurückfinden. 56 Doch er leidet weiterhin unter der Ambivalenz seines Be‐ gehrens und Nicht-Begehrens, unter der Sehnsucht nach Vertrautheit und Sesshaftigkeit bei gleichzeitiger Ablehnung all dessen, da die „Entzauberung des Eros“ 57 einsetzt, sobald er beherrscht wird. Es bestätigt sich die These Walden‐ fels’: „Ohne einen Alltag der Liebe, in dem diese sich bewährt, bleibt nur der erotische Salto mortale, ein Todessprung, der irgendwo endet, jedenfalls nicht beim Anderen“ 58 , gleichermaßen wie die von Luhmann konstatierte Paradoxie moderner, durch radikale Individualisierung geprägter Beziehungen 59 : Das lange Schmachten vor der Erfüllung wirkt lächerlich. Das Sicheinlassen auf se‐ xuelle Beziehungen erzeugt dagegen Prägungen und Bindungen, die ins Unglück führen. Die Tragik liegt nicht mehr darin, daß die Liebenden nicht zueinander‐ kommen; sie liegt darin, daß sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und daß man weder nach ihr leben noch von ihr loskommen kann. 60 Die intersubjektive Fremdheit ist in Zoderers Romanen immer zugleich auch eine interkulturelle Fremdheit im Sinne Waldenfels’. 61 Die Zahl der Paare, die 285 „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“ 62 Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter, Suhrkamp, Berlin, 2011, S. 9 (stw 4412). 63 Ebd., S. 33 f. 64 Ebd. 65 Joseph Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung. Roman, Hanser, München / Wien, 2002, S. 181. 66 Ebd. sich aus Personen verschiedener Nationalitäten oder unterschiedlicher Kulturen zusammensetzen, hat durch den Globalisierungsprozess und den damit einher‐ gehenden gesellschaftlichen Wandel stark zugenommen. „Weltfamilien“, so Ul‐ rich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim in ihrer Studie Fernliebe, erstrecken sich heute über alle Kontinente, sie werden „im Binnenraum des eigenen Lebens mit der Welt konfrontiert“. 62 Die Konstellation, wie sie z. B. in Die Walsche ge‐ schildert wird (eine aus dem deutschen Sprachraum stammende Frau lebt mit einem italienischen Mann zusammen), mutet heute bei weitem nicht mehr so fremd an, wie es im Südtirol der 1980er Jahre noch der Fall war. Doch die Pola‐ rität der Reaktionen auf gemischte Paare ist gleich geblieben: Interkulturelle Beziehungen werden nach wie vor auf zweierlei Weise von der Politik und der Gesellschaft (der Familie, den Nachbarn etc.) aufgenommen. Entweder mit Ab‐ lehnung, da sie als „Verrat an der eigenen […] Nation, als Verstoß gegen Rasse und Blut“ 63 gesehen werden, oder mit Freude, weil sie „als Hoffnungsträger von Toleranz und Verständigung“ aufgefasst und als Beitrag zu einer „bunte[n], bes‐ sere[n] Welt“ 64 verstanden werden. Auffällig ist, dass Zoderers Protagonisten zwischen diesen beiden möglichen Reaktionen keine eindeutige Position ein‐ nehmen. Sie wollen das als Konstruktion erkannte Fremde zwar nicht fern‐ halten, um das Eigene zu schützen, sondern wollen es vereinnahmen. Dennoch können sie sich von Patriotismus und Feindseligkeit gegenüber dem vertrauten Fremden nicht völlig freimachen. So lässt sich etwa der Südtiroler Jul in Der Schmerz der Gewöhnung durch die Aussage eines Italieners „Siamo in Italia“ (dt.: „Das hier ist Italien“) 65 derart provozieren, dass er - der Ehemann einer Italie‐ nerin, der linksstehende Intellektuelle - sich in einen Wutausbruch ergibt: Von diesem Moment an wütete er wie ein Privatbesitzer, als wäre er der Eigentümer dieses Almlandes. Jul tobte wie ein Heimatverteidiger, wie ein Stammtischgroßmaul - er war plötzlich auf der Seite jener, die er seit Jahren […] mit seinen Kommentaren und Glossen zu entlarven versucht hatte als Verhinderer eines toleranten, weltoffenen Lebens. Jetzt war er selbst ein hosenlederner Hinterstubenpatriot, der wutschäumend das fremde, stadtbleiche Gesicht des Italieners näher und näher vor sich sah und gleichzeitig - soll ich? dachte. 66 286 Verena Zankl / Irene Zanol 67 Ernest W. B. Hess-Lüttich, „Art. Interkulturalität“, in: Harald Fricke (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II: H-O, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 2000, S. 163-165, hier S. 163. 68 Zoderer, Das Schildkrötenfest, S. 135. Der Hass Juls gegenüber dem fremden Italiener überträgt sich auch auf seine italienische Ehefrau. Ihre Verbindung vermag es nicht, die Dualität aufzuheben. Zwar dient Eros in interkulturellen Paarbeziehungen auch als ein Medium der Verständigung, als ein Durchbrechen von „kommunikative[m] Routinehan‐ deln“ 67 , das eine Brücke hin zur Transkulturalität bauen soll. Doch noch bevor sich die Brücke als tragfähig erweisen kann, reißen sie Zoderers Protagonisten stets wieder ein, entscheiden sich für eine ambivalente Rückkehr oder einen neuerlichen Aufbruch. Als paradigmatisch kann das Ende von Das Schildkrö‐ tenfest gelesen werden: Der Protagonist hat Nives und damit seine Projektions‐ fläche und sich selbst wieder verloren und befindet sich erneut am selben Ort, an dem der Roman eingesetzt hat, an der Grenze zwischen Mexiko und den USA . Das Leitungswasser rann über sein Gesicht, über seine geschlossenen Augen, über seine verkrustete Haut […]. Er riss Blatt um Blatt von der Papierrolle, trocknete das Gesicht und sah sich nur noch schemenhaft im Spiegel, verdunkelt durch die Son‐ nenbrille. 68 Bibliographie Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Joseph Zoderer, München, 2010 (text + kritik 188). Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter, Suhrkamp, Berlin, 2011 (stw 4412). Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1983 (Sexualität und Wahrheit 1). Sigmund Freud, „Das Ich und das Es (1923)“, in: Alexander Miterscherlich / Angela Ri‐ chard / James Strachey (Hrsg.), Sigmund Freund. Studienausgabe. Bd. III: Psychologie des Unbewußten, S. Fischer, Frankfurt am Main, 1975. Stefan Gmünder, Joseph Zoderer: Der Fremdheitsspezialist, in: Der Standard online, 25. November 2015, URL: http: / / derstandard.at/ 2000026391124/ Der-Fremdheitsspezialist (letzter Zugriff am 13. November 2016). Hans-Georg Grüning, „Zwischen Alpenheimat und Mittelmeersehnsucht. Zur Topo‐ grafie in Joseph Zoderers Romanen“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Joseph Zo‐ derer, München, 2010, S. 29-38 (text + kritik 188). 287 „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“ Ernest W. B. Hess-Lüttich, „Art. Interkulturalität“, in: Harald Fricke (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II: H-O, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 2000, S. 163-165. Sieglinde Klettenhammer, „Topographie des Fremden. Zu Joseph Zoderers Romanen Die Walsche, Lontano, Das Schildkrötenfest und Der Schmerz der Gewöhnung“; in: Gün‐ ther A. Höfler / Sigurd Paul Scheichl (Hrsg.), Joseph Zoderer, Droschl, Graz / Wien, 2010, S. 35-66 (Dossier 29). Sieglinde Klettenhammer, „Nachwort“, in: Joseph Zoderer, Das Schildkrötenfest. Roman, mit Materialien aus dem Vorlass des Autors sowie Beiträgen von Sieglinde Kletten‐ hammer und Andrea Margreiter, Haymon, Innsbruck / Wien, 2015, S. 182-196. Sieglinde Klettenhammer, „‚Diese Bewegung zwischen Abgestoßensein und Besitzen‐ wollen‘ oder Das Andere in Paarbeziehungen. Zoderers erzählerisches Werk aus ge‐ schlechterkritischer Perspektive“, in: dies. / Erika Wimmer (Hrsg.), Joseph Zoderer - Neue Perspektiven auf sein Werk, Studienverlag, Innsbruck / Wien / Bozen 2017, S. 293-310 (Edition Brenner-Forum 13). Jacques Lacan, „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psy‐ choanalytischen Erfahrung erscheint“, in: Dorothee Kimmich / Rolf G. Renner / Bernd Stiegler (Hrsg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Reclam, Stuttgart, 2008, S. 175-185 (RUB 18589). Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1994 (stw 1124). Stefan Neuhaus, „‚Ihre Möpse sind weich. 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Bernhard Waldenfels, Studien zur Phänomenologie des Fremden [in zwei Bänden: Bd. 1: Topographie des Fremden; Bd. 2: Grenzen der Normalisierung], Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1997 und 1998 (stw 1320 und stw 1351). Joseph Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung. Roman, Hanser, München / Wien, 2002. Joseph Zoderer, „Die Nähe ihrer Füße“, in: ders., Der Himmel über Meran. Erzählungen, Hanser, München / Wien, 2006. 288 Verena Zankl / Irene Zanol Joseph Zoderer, Die Farben der Grausamkeit. Roman, Haymon, Innsbruck / Wien, 2014. Joseph Zoderer, Dauerhaftes Morgenrot. Roman, mit Materialien aus dem Vorlass des Au‐ tors sowie Beiträgen von Johann Holzner und Verena Zankl, Haymon, Inns‐ bruck / Wien, 2015 [erstmals: Hanser, München / Wien, 1987]. Joseph Zoderer, Das Schildkrötenfest. Roman, mit Materialien aus dem Vorlass des Autors sowie Beiträgen von Sieglinde Klettenhammer und Andrea Margreiter, Haymon, Innsbruck / Wien, 2015 [erstmals: Hanser, München / Wien, 1995]. Joseph Zoderer, Die Walsche. Roman, mit Materialien aus dem Vorlass des Autors sowie Beiträgen von Sigurd Paul Scheichl und Irene Zanol, Haymon, Innsbruck / Wien, 2016 [erstmals: Hanser, München / Wien, 1982]. 289 „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“ 1 Volkmar Sigusch, Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perver‐ sion, Campus, Frankfurt am Main / New York, 2005, S. 30. 2 Vgl. ebd., S. 7. 3 Als neue Parameter des Sexuellen nennt Sigusch u. a. Prothetisierungen des Sexuellen. Mit diesen ist die medizinische Unterstützung z. B. durch Viagra oder Östrogen-Präpa‐ rate gemeint. Vgl. ebd., S. 30, siehe dazu auch S. 32. Lust auf Verbotenes? Queeres Begehren anhand ausgewählter deutschsprachiger Gegenwartsprosa Marta Wimmer (Poznań) Sexuelle Vielfalt ist seit den 1980er Jahren ein viel erforschtes Feld der Sexual- und Geschlechterforschung. Ausgegangen wird von der Erosion traditioneller Sexualpraktiken; die Pluralisierung des Sexuellen, die Ausbildung und neue Sichtbarkeit einer bisher unbekannten Fülle legitimer sexueller Lebens- und Er‐ lebniswelten sind eine anerkannte Tatsache. Weniger Konsens herrscht jedoch hinsichtlich der Frage, ob, in welchem Umfang oder in welchen Formen sexuelle Diversifikation in einer Gesellschaft, die weiterhin durch dichotome Geschlech‐ terordnung und heteronormative Geschlechterphantasmen geprägt ist, (aus-)gelebt werden kann. 1 In den letzten Jahrzehnten lassen sich grundlegende Veränderungen inner‐ halb westlicher Gesellschaften beobachten. Ablösung der Sexualität von Fort‐ pflanzung und Ehe, die Gleichstellung von Frauen und Männern, Abbau der Diskriminierung Homosexueller und zunehmende Toleranz gegenüber abwei‐ chendem Begehren. Die Herausnahme des Reproduktiven aus der sexuellen Sphäre, konstatiert Volkmar Sigusch, hatte bewirkt, dass man von der „zweiten kulturellen Geburt“ der Sexualität, einer „scheinbar eigentlichen“, „reinen“ Se‐ xualität ausgehen kann. Die von Sigusch diagnostizierten Neosexualitäten, die neue Freiräume eröffnen, zugleich aber neue Zwänge erzeugen 2 , bestehen vor allem aus Geschlechterdifferenz, Selbstliebe, Thrills und Prothetisierungen. 3 Nichtdestotrotz melden sich immer wieder Stimmen zu Wort, die darauf ver‐ weisen, dass dies nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass das Sexuelle wei‐ terhin durch eine hierarchisch geprägte Geschlechterordnung, den Primat der 4 Cornelia Koppetsch / Sven Lewandowski, „Einleitung“, in: Cornelia Koppetsch / Sven Lewandowski (Hrsg.), Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter. Beiträge zur Soziologie der Sexualität, transcript, Bielefeld, 2015, S. 7-25, hier S. 7. 5 Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1991, S. 38. 6 Vgl. Koppetsch; Lewandowski, „Einleitung“, S. 7. 7 Christoph Niepel, „Nicht-Heterosexuelle Identitäten - empirisch-psychologische Be‐ trachtungen“, in: Martin Schneider / Marc Diehl (Hrsg.), Gender, Queer und Fetisch. Kon‐ struktion von Identität und Begehren, Männerschwarm Verlag, Hamburg, 2011, S. 54-67, hier S. 54. 8 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 39. 9 Matthias Hirth, Lutra lutra. Roman, Voland & Quist, Dresden / Leipzig, 2016, S. 9 f. Paarbeziehung und das Regime der Heterosexualität strukturiert ist. 4 Folgt man Judith Butler, so bringen sich das System der Zweigeschlechtlichkeit und das System der Heterosexualität gegenseitig hervor. Die „heterosexuelle Fixierung des Begehrens erfordert und instituiert […] die Produktion von diskreten, asym‐ metrischen Gegensätzen zwischen »weiblich« und »männlich«, die als expres‐ sive Attribute des biologischen »Männchen« (male) und »Weibchen« (female) verstanden werden.“ 5 Dementsprechend wird die Vorstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit durch diese geprägt, gleichzeitig aber auch bestätigt. 6 Die ‚heterosexuelle Matrix‘ mag zwar eine machtvolle, jedoch keine notwendige Konstruktion sein, was in den im Rahmen dieses Beitrags anvisierten Prosatexte (Matthias Hirths, Cornelia Jönnsons und Jürgen Lodemanns) manifest wird. Gefragt wird nicht nur nach den Möglichkeiten der Narrativierung des non-kon‐ formen Begehrens, sondern es wird zugleich auf die Frage eingegangen, inwie‐ fern sich diese in den Diskurs über den Umgang mit Andersartigkeit ein‐ schreiben sowie ob diese zur Denaturalisierung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität beitragen können? Die Auffassung von Sexualität und Liebe ist wandelbar und das Verständnis, was sexuell erwünscht bzw. unerwünscht ist, variiert je nach historischem Kon‐ text und dem jeweiligen Kulturkreis, so Christoph Niepel. 7 Heterosexualität wird weiterhin von vielen als der natürliche Ausgangspunkt aufgefasst und als die einzige der sozialen Norm entsprechende Form der Sexualität betrachtet. Alle im Rahmen dieses Beitrags analysierten Texte widersetzen sich aber der Praxis der „Zwangsheterosexualität“ 8 , einer davon ist der im Schwulenmilieu angesiedelte Roman Lutra lutra, dessen Hauptfigur Fleck ist. „Fleck ist einund‐ dreißig, ein Alter, in dem in den letzten Jahren des alten Jahrtausends die Mid‐ life-Crisis quasi vor der Tür steht“ 9 und der Protagonist des 2016 erschienenen Romans von Matthias Hirth, dessen Handlung an der Jahrtausendschwelle, konkret zwischen den Jahren 1999 und 2000, also in Zeiten, wo „Sexualität 291 Lust auf Verbotenes? 10 Sigusch, Neosexualitäten, S. 22. 11 Vgl. Martin Ingenfeld, Im Jahr des Otters. Über Matthias Hirths grandiosen Roman „Lutra lutra“, URL: http: / / literaturkritik.de/ hirth-lutra-lutra-im-jahr-des-otters-uebermatthias-hirths-grandiosen-roman-lutra-lutra,23000.html (letzter Zugriff am 31. März 2017). 12 Hirth, Lutra lutra, S. 11. 13 Ebd., S. 71. 14 Eberhard Falcke, Matthias Hirt: Lutra lutra, URL: http: / / www.swr.de/ swr2/ literatur/ buch-der-woche/ matthias-hirth-lutra-lutra/ / id=8316184/ did=17577708/ nid=8316184/ 15mzv0b/ (letzter Zugriff am 31. März 2017). selbstverständlicher, ja banaler [ist]“ und „nicht mehr so stark mystisch über‐ höht wie zur Zeit der sexuellen Revolution [wird]“ 10 , angesiedelt ist. Es ist si‐ cherlich kein Zufall, dass der Autor ausgerechnet die Zeit, in der die eingetra‐ gene Lebenspartnerschaft nicht rechtlich verankert ist und die Homosexualität nicht mitten im Mainstream angekommen ist 11 als Hintergrund für seine Ge‐ schichte wählt. Dies ermöglicht ihm die Frage aufzuwerfen, ob man an der Schwelle zum 21. Jahrhundert noch von Grenzüberschreitungen im Bereich der Sexuellen ausgehen kann bzw. welche „Abweichungen“ noch möglich seien, und stellt zugleich die Moral der postmodernen Gesellschaft in Frage. Hirth schickt seinen Hauptprotagonisten auf einen Selbstfindungstrip und lässt ihn seine neu entdeckte Homosexualität ausleben, wodurch augenscheinlich wird, dass die sexuelle Anziehungskraft nicht an das jeweilige Geschlecht gebunden ist, son‐ dern zu einer Variablen degradiert wird und als ein Persönlichkeitsexperiment aufgefasst werden kann. Warum Hirths Figur den Weg der Homosexualität einschlägt, bleibt unklar, zu Beginn des Romans versteht er sich nicht als schwul, verkehrt jedoch in Kreisen der Homosexuellen, gegen Ende des Buches fühlt er sich den Schwulen offenkundig zugehörig. Auslöser für diesen Sinneswandel könnte ein Mädchen, das sich nach ein paar unschönen Vorfällen aus seinem Leben verab‐ schiedet hat, [sein]. Eine Abtreibung spielte eine Rolle. Er hat selbst gestaunt, wie sehr ihn diese Trennung aus dem Tritt gebracht hat. Etwas wegmachen zu lassen bedeutet eben nicht, dass es auch tatsächlich weg ist. 12 Fleck (eigentlich Fleckenstein) verabschiedet sich aus seinem bürgerlichen Leben und seinem Arbeitsalltag in einer Werbeagentur und stürzt sich - dank einer Erbschaft, die ihm ein Leben frei von finanziellen Sorgen ermöglicht - ins Nachtleben und dieses „lebt davon, dass man sich inszeniert“ 13 , so im Roman. Das gewagte Experiment der Hauptfigur kann sicherlich als eine Art „Suche nach einer verschärften Wahrnehmung seines selbst“ 14 gesehen werden. Eine weitere Erklärung, warum sich die Figur zur Homosexuellen-Szene angezogen 292 Marta Wimmer 15 Hirth, Lutra lutra, S. 92. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 48. 18 Ebd., S. 128. fühlt, liefert die folgende Aussage, allerdings wird hier durch die Verwendung des Konjunktivs eine eindeutige Kategorisierung in Frage gestellt: „»Schwulsein ist doch gerade Mode«, sagte Fleck. »Oder? Jeder durchschnittliche Hetero hat da seinen Sommernachtstraum und posaunt ihn herum. Wieso sollte ich so al‐ bern sein und nicht dazu stehen, wenn ich’s wäre? “ 15 An einer anderen Stelle fügt der Protagonist hinzu, dass er „Schwulsein cool“ 16 finde. Ob der Leser aus diesen Aussagen schlau wird und man diese als eine Erklärung für die plötzliche Homosexualität der Figur gelten lassen kann, bleibt dahingestellt. Dem homosexuellen Begehren wird in Hirts Roman viel Platz eingeräumt, doch welche Funktion wohnt den Schilderungen sexueller Handlungen jenseits der Geschlechterkonventionen inne? Der Autor scheut nicht vor expliziten Sexbeschreibungen, was damit begründet werden könnte, dass seine homosexuellen Figuren von sich selbst behaupten, sie seien „sexfi‐ xiert“. 17 Viele von den geschilderten Szenen sind sicherlich nichts für Zartbe‐ saitete, denn der Autor stellt nicht nur unverblümt Sex zwischen Männern dar, sondern bedient sich an manchen Stellen eines ins Vulgäre abdriftenden Voka‐ bulars: Fleck fragt nicht, es lohnt nicht, passt nicht, interessiert nicht wirklich, der andere ist ein Zweiter ohne Namen und Biografie, lieber drückt er seinen Mund auf die festen, dunklen Lippen. Gleich nach der ersten Berührung steht Flecks Rolle fest: Der Araber geht vor ihm auf die Knie, sieht zu ihm hoch, nimmt seinen Schwanz in den Mund. Er legt sich mit nacktem Rücken auf den Fliesenboden, der, wie Fleck die eigenen Fuß‐ sohlen verraten, eisig kalt ist. Fleck geht zwischen den ausgebreiteten Beinen auf die Knie und lässt die ganze Wut des Abends an ihm aus. Der Araber gibt sich hin, total und ohne Schranken, stöhnt, windet sich, dreht sich auf den Bauch und zieht sich die Arschbacken auf, um Fleck das Eindringen zu erleichtern. […] Für Momente, für Mi‐ nuten liegt eine gewalttätige Innigkeit im Raum, eine brutale, sich steigernde Har‐ monie, bis beide der Orgasmus für immer trennt. Sperma läuft aus dem Arsch des Arabers, sie haben kein Kondom benutzt, er angelt nach Klopapier und putzt sich ab. Das war’s, auf Wiedersehen, tschüss und Hose hoch. Und wenn sie sich je wieder‐ sehen, werden sie sich nicht grüßen. 18 Die expliziten Schilderungen der sexuellen Abenteuer des Protagonisten führen vor Augen, dass bei Hirth das Begehren von Liebe abgekoppelt wird, denn im Vordergrund der Narration steht die Körperlichkeit bzw. die sexuelle Anzie‐ 293 Lust auf Verbotenes? 19 Ebd., S. 47. 20 Ebd., S. 48. 21 Ebd., S. 47. 22 Ebd., S. 406. 23 Ebd., S. 405. 24 Ebd., S. 74. hungskraft, mit der Fleck stets konfrontiert wird. Als das Problem der Schwulen wird „die totalitäre Sexualisierung“ 19 genannt, was zur Folge hat, dass man die Entscheidung zwischen Liebe und Treue oder der promisken Sexualität treffen muss: „Entweder Liebe und Treue und Miteinanderalt-Werden und das ganze Ding, oder losgelöste, rauschhafte, promiske Geilheit, jeder mit jedem und jeden Tag mit einem anderen. Es gibt das eine nur oder das andere“. 20 Beides scheint in der von Hirth geschilderten Welt nicht möglich zu sein, die Homosexu‐ ellen-Szene wird klischeehaft als ein Universum festgehalten, in dem die reine Körperlichkeit zählt und wo die Sexualität exzessiv ausgelebt wird: Das Problem von uns Schwulen ist die totalitäre Sexualisierung. […] »Die Schwulen exerzieren die Marktgesetze so perfekt und genau sie können. Im Stechschritt, sozu‐ sagen. Was das angeht, sind sie Automaten. Und die sind stolz darauf. Sie sind eben Männer. Männer wollen perfekt sein. Anpassung ist ihnen das Wichtigste. Homose‐ xualität ist die sexuellste aller Sexualitäten. Du bist hier in einem Maschinenpark.« […] »Stampfende Leiber, Exzess, Spaß ohne Grenzen, Hormonproduktion auf Hochtouren. Im Maschinenpark des Begehrens. Du kannst hier Sachen erleben, von denen deine braven Heterokollegen nicht mal träumen. Du kannst an einem Wochenende so viel Sex haben wie die im ganzen Jahr. Du kannst hier rumsauen, gleich dahinten im Darkroom, kannst dich im Sex vergessen und hast nur Gleichgesinnte um dich.« 21 Platz für Dauerhaftigkeit gibt es hier keinen, Hirths Figur glaubt nicht daran, „dass es unter Männern Liebe und Beziehung geben könnte“ 22 und versucht, sich selbst davon zu überzeugen, dass Liebe sowieso nicht sein Ding wäre, er „be‐ wirtschaftet [dagegen] das sexuelle Feld“. 23 Die Überlegungen des Protago‐ nisten, denen die strikte Trennung zwischen Liebe und Begehren zugrunde liegt, werden durch die aufgeworfene Frage, ob ein guter, rücksichtsvoller und lie‐ benswerter Mensch überhaupt erotisch sein kann, zusätzlich auf die Spitze ge‐ trieben. In Opposition zur Dauerhaftigkeit und Gewissheit steht der „voll‐ ständig[e], fanatisch[e], fantastisch[e], alles umfassend[e] Spaß. […] Sich in der Intensität verlieren, sich vollkommen in Intensität auflösen, das ist der Inbegriff von persönlicher Kraft“ 24 und dies scheint auch der Motor des Handelns der Hauptfigur Hirths zu sein. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in den meisten Fällen die Anonymität die Bedingung dafür ist, dass die Sexualität 294 Marta Wimmer 25 Tomas Vollhaber, Das Nichts. Die Angst. Die Erfahrung. Untersuchung zur zeitgenössi‐ schen schwulen Literatur, Verlag rosa Winkel, Berlin, 1987, S. 62. 26 Vgl. ebd., S. 63. 27 Ebd. 28 Obwohl es sich im Falle des Begriffes ‚Ghetto’ um einen Internationalismus handelt, muss an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass ‚ein schwules Ghetto” als ein Aus‐ druck dafür verstanden werden soll, dass es eine gesellschaftliche Gruppe gibt, die sich in ihrer Sexualität aber auch in ihren Ritualen, kulturellen Gepflogenheiten, in ihrem Lebens- und Kleidungsstil von anderen soziologisch zu konstruierenden Gruppen un‐ terscheidet. Siehe Dirk Naguschewski, „Von der Gesellschaft ins Ghetto? Guillaume Dustan und die Schwule Literatur in Frankreich“, in: ders./ Sabine Schrader (Hrsg.), Sehen. Lesen. Begehren. Homosexualität in französischer Literatur und Kultur, Verlag Walter Frey, Berlin, S. 251-272, hier S. 251 f. Siehe dazu auch: Michael Pollak, „L’homo‐ sexualité masculine, ou: le bonheur dans le ghetto? “, in: Communications, 35, 1982, S. 37-55. stattfinden kann, sie scheint nämlich das Mittel zu sein, um die durch soziale Konventionen, Moral, Erziehung auferlegten Schranken zu überwinden. Sie kann zugleich aber als ein Garant dafür betrachtet werden, dass „die Phantasie ungestört wirken kann.“ 25 Im Weiteren könnte man davon ausgehen, dass der Anonymität eine weitere Funktion innewohnt, nämlich, dass diese als das ge‐ eignete Mittel fungieren könnte, um sich mit dem homosexuellen Begehren nicht zu identifizieren, sondern dieses bei einem exterritorialen und extempo‐ ralen Zwischenfall zu belassen. 26 Die Sexualität wird bei Hirth entsubjektiviert, abgesehen von wenigen von dem Autor geschilderten sexuellen Annäherungen, spielt weder die Individualität des Begehrten noch des Begehrenden eine Rolle, wodurch augenscheinlich wird, dass „der Trieb das allerunpersönlichste an uns ist“. 27 Diese Schilderungen führen die Gedanken vor Augen, die der Soziologe Mi‐ chael Pollak in seinem 1982 erschienenen Aufsatz formuliert hat. Er geht näm‐ lich davon aus, dass die von Anonymität geprägte Schwulenszene, wo Orgasmus gegen Orgasmus ausgetauscht wird, nach Marktgesetzen funktioniere. Dieser Handel unterliegt eigenen Regeln und einer eigenen Semiotik, wobei zugleich beachtet werden muss, dass dadurch auch Schuldkomplexe und Selbsthass ver‐ festigt werden. Pollak geht von der Prämisse aus, dass die Vorstellung vom ir‐ dischen Glück an die Normen der Heterosexualität gebunden bleibt, was dazu führe, dass sich in der Schwulenszene auch eine gewisse Sehnsucht nach einer intakten Zweierbeziehung beobachten lässt, was in Hirths Roman sicherlich nicht vordergründig ist, aber doch thematisiert wird. Die besonderen Lebens‐ umstände führen zu einer Ghetto-Bildung 28 , die sich besonders in den Verein‐ igten Staaten zu diesem Zeitpunkt beobachten lässt und in Europa um einiges schwächer ausgeprägt ist, so Pollak. 295 Lust auf Verbotenes? 29 Hirth, Lutra lutra, S. 24 f. 30 Ebd., S. 69. 31 Ebd., S. 88. 32 Ebd., S. 404. Das Verlangen und die Sexualität durchziehen - wie bereits erwähnt - den ganzen Roman; Hirth verortet die Handlung seines Buches im Nachtleben, wo‐ durch das Exzessive umso deutlicher an die Oberfläche tritt: In einer Art Wahrnehmungsverschiebung hatte er auf einmal das Gefühl, ins Innere einer Pralinenschachtel geraten zu sein. Die Pralinen tanzten, hüpften zur Musik auf und ab, sie schrien und johlten, zeigten ihre glitzernde Verpackung mit der Rosa Schleife und sangen: Nimm mich, nimm mich, nicht die anderen, mich musst du aus‐ packen, mich, ich bin ganz besonders süß. Eine Praline sang es der anderen zu, und die sang es wieder zurück, sie sangen es in Gruppen, auf verschiedene Stimmen ver‐ teilt, im Chor […]. 29 An einer anderen Stelle liest man: Alles im Nachtleben hat mit Sex zu tun. Die Nachtleben-Kommunikation spielt auf einer öligen Flirtschicht, auf der alles herumrutscht und jeder Inhalt beliebig ver‐ schiebbar ist, in einem Feld unspezifischer, ungerichteter, quasi un- oder überpersön‐ licher Erotik. Es geht nicht darum, dass zwei miteinander in der Kiste landen, sondern um ein Möglichkeitsspiel. Die Körper sprechen zueinander, nicht die Hirne. Was ge‐ sagt wird, muss zum Erotischen hinführen, nicht von ihm weg. 30 Ausgelebt wird die neu entdeckte Homosexualität der Figur überwiegend in Schwulenbars, SM -Kellern oder auf diversen Techno- und Fetischpartys, an‐ fangs könnte man davon ausgehen, dass der Protagonist von der Neugier ge‐ trieben wird, im Laufe der Zeit wird er immer extremer, rücksichtsloser und gieriger. Seine Männerbekanntschaften werden dagegen als Variable geschil‐ dert, wodurch die gängigen Moralvorstellungen zusätzlich seziert werden. Die auf hedonistische Befriedigung ausgerichtete Existenz Flecks kann sicherlich auch als ein Dorn im Auge der Mehrheitsgesellschaft betrachtet werden, da „[f]ür den Großteil der Leute Schwulsein immer noch als Krankheit [gilt]“ 31 , so im Roman. Seine Forderung, sich im Sex aufzulösen, „im Sex [zu] verschwinden, [s]eine persönlichen Merkmale [zu] verlieren und im Überpersönlichen auf[zu]gehen“ 32 , mag zwar für den Leser nicht ganz nachvollziehbar sein, doch ausgerechnet die Tatsache, dass der Autor die Figur mit Extremen ausstattet, ermöglicht ihm, einen kritischen Blick auf die vorherrschende Gedankenwelt zu werfen. Der gesellschaftskritische Ton des Autors lässt sich ebenfalls in sol‐ 296 Marta Wimmer 33 Hirth, Lutra lutra, S. 51. 34 Sigusch, Neosexualitäten, S. 197. 35 Siehe dazu: Madeleine Marti, Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945, J. B. Metzler, Stuttgart, 1992. chen Aussagen erkennen, in denen auf die Perpetuierung der gängigen Klischees verwiesen wird: Vielleicht hatte es ja wirklich seinen Reiz, dieser Schweinchensekte beizutreten, bei der alle sofort an Aids und Analverkehr dachten. Gerade bekam er richtig Lust. Konnte man das Kreischige, Peinliche, Pralinenhafte der Schwulen nicht ganz anders sehen, als er es bisher gesehen hatte? Als Ohrfeige für die bürgerliche Wohlanständigkeit, als Tritt ins Gesicht all der braven Funktionsidioten, für die es nichts Schlimmeres gab, als aufzufallen. 33 Schwulsein wird von vielen ausschließlich als abwegige, verruchte, abwei‐ chende aber auch gefährliche Form von Sexualverhalten empfunden, wobei es zu beachten gilt, dass selbstbewusst auftretende Homosexuelle als Vorreiter der neosexuellen Revolution angesehen werden könnten, denn sie lebten beinahe alles vor, was auch später Heterosexuelle taten: Distanz zur Herkunftsfamilie und Fortpflanzung, Verwandlung des Körpers in einen Erotikkörper und entsprechende Drapierung, Assoziation bisher als unvereinbar an‐ gesehener seelischer und sozialer Modalitäten, egoistische Suche nach dem schellen, umstandslosen sexuellen Thrill. 34 Einen anderen Weg, wenn es um die Narrativierung des gleichgeschlechtlichen Begehrens geht, hat die 1980 in Lörrach geborene Cornelia Jönnson in ihrem Erzählband Fischfang. Liebesgeschichten eingeschlagen, die mit ihren Ge‐ schichten gegen das Unsichtbarwerden des lesbischen Begehrens anschreibt. Bereits die erste Erzählung aus dem Band betitelt Eva thematisiert eine Affäre zwischen einer Jura-Studentin und einer deutlich älteren Fotografin namens Eva, der trotz ihres Alters und entgegen der gesellschaftlichen Norm Attrakti‐ vität zugestanden wird. Hier wird die Zuneigung zum gleichen Geschlecht von Anfang an als etwas Natürliches empfunden und nicht als ein Ergebnis einer langwierigen Identitätssuche. Diese Herangehensweise an das Thema gleich‐ geschlechtlicher Liebe zwischen Frauen haben viele um die Jahrtausendwende entstandene Texte gemeinsam. 35 Obwohl die Protagonistinnen in heterosexu‐ ellen Beziehungen leben, lassen sie sich auf eine Affäre ein, die allerdings zu‐ mindest von einer Seite aus nicht ausschließlich sexueller Natur zu sein scheint. Jönssons Figuren nehmen ihr biologisches Geschlecht unhinterfragt an und empfinden sich, rein körperlich betrachtet, als weiblich. Die Begegnung der 297 Lust auf Verbotenes? 36 Cornelia Jönsson, Fischfang. Liebesgeschichten, konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen, 2013, S. 11. 37 Ebd., S. 14. 38 Ebd., S. 24. 39 Vgl. Petra Schwer, Die Darstellung der Frauenliebe in der zeitgenössischen österreichischen Literatur am Beispiel von Helga Pankratz und Karin Rick, Magisterarbeit, Universität Wien, 2014, S. 68. 40 Jönsson, Fischfang, S. 11. Ich-Erzählerin Simone mit der Fotografin hatte zur Folge, dass ihr Körper „plötz‐ lich für [sie] so präsent wie lange nicht mehr [war]“. 36 Die sexuelle Annäherung zwischen ihr und Eva bleibt kein dunkles Geheimnis, sondern wird dem Freund gebeichtet, dieser reagiert durchaus entspannt auf die Tatsache, dass seine Freundin mit einer Frau geschlafen hat: Florian fand das nicht schlimm, ganz im Gegenteil, Florian hoffte, es könnte mich locker machen. […] Und vielleicht könnte er mal zusehen. Und vielleicht wäre ich jetzt weniger eifersüchtig. Und Sex - was ist schon Sex. 37 Jönnsons Figuren haben ein heterosexuelles Vorleben und identifizieren sich nicht eindeutig als lesbisch bzw. es erfolgt keine eindeutige Kategorisierung auf der Ebene des Textes. Die Affäre scheint für sie eine zeitweise Alternative zu einem nicht ganz befriedigenden Beziehungsleben zu sein, was dadurch bestä‐ tigt wird, dass Eva die Romanze mit den Worten: „Ich kann dir nicht geben, was du von mir willst, dann ist es besser, wir beenden das, bevor es noch schwerer wird“ 38 , abbricht sobald sie merkt, Susanne hat sich in sie verliebt. Simone scheint sich zu Beginn der Erzählung ihrer lesbischen Neigung gar nicht bewusst zu sein, doch die Vorstellung, von einer Frau begehrt zu werden, versetzt sie in eine Art Ausnahmezustand, löst jedoch keine Angst aus. Das Ende der Erzählung lässt schlussfolgern, dass die gleichgeschlechtliche Liebe ein einmaliges Erlebnis für Simone bleibt und diese sich wahrscheinlich keine neue sexuelle Identität aneignen will oder kann. 39 Die Körperlichkeit mag zwar in Jönnsons Erzählung keine dominante, doch eine wichtige Rolle spielen, aus feministischen Gründen vermeiden viele Auto‐ rinnen den reduktionistischen Gestus, mit dem ihre Figuren ausschließlich auf ihre Körperlichkeit und Attraktivität herabgesetzt werden. Das Thema bleibt jedoch nicht gänzlich ausgespart, erwähnt wird nämlich das Aussehen der Figur, das mit solchen Attributen wie „schön“ 40 bezeichnet wird. Darüber hinaus wird klar, dass die Figuren ihre Weiblichkeit und ihre Körper so präsentieren und inszenieren, wie dies von der Mehrheitsgesellschaft erwartet wird und was den erotischen Reiz zusätzlich erhöht. Bei den Schilderungen sexueller Annähe‐ 298 Marta Wimmer 41 Ebd., S. 14. 42 Ebd., S. 17. 43 Vgl. Schwer, Die Darstellung der Frauenliebe in der zeitgenössischen österreichischen Li‐ teratur, S. 56 f. 44 Jönsson, Fischfang, S. 106. 45 Ebd. 46 Ebd. rungen werden erotisch besetzte Körperteile wie „Taille“, „Lippen“, „Brüste“ 41 erwähnt, doch anderes als bei Hirth werden in diesem Fall die Details ausgeblen‐ det. Die Benennung der Genitalien in Sexszenen wird zwar nicht ganz unter‐ lassen, die Autorin bedient sich jedoch verhüllender Ausdrücke wie z. B. der „Schoss“. 42 Gewagter werden die Liebesszenen in einer weiteren Erzählung aus dem Band geschildert. Der Gast erzählt von einer sexuellen Beziehung zwischen Dana und ihrem kubanischen Kindermädchen; auch hier wird die lesbische Af‐ färe als ein Abenteuer einer verheirateten Figur geschildert 43 : Nadias Scham war ein schwarzes Dreieck. Dana strich über die Haut außen rum und Nadia öffnete ihre Schenkel. Nadia war ein Angebot. Nadia ließ ihr Becken kreisen in einem schläfrigen Rhythmus. Sie schmiegte ihren Kopf an Dana, drückte ihre Nase an ihre Brust, die Schulter in ihren Schoss. Nadia fasste sich selbst zwischen die Beine. Sie spreizte ihre Schamlippen, sodass Dana es glänzen sah. Sie nahm mit ihren warmen Fingern Danas kühlere von ihrem Schenkel und führte sie zum Zentrum. […] Dana war fasziniert. Das also war Weib‐ lichkeit. Nadias Geschlecht war viel größer als ihr eigenes, die Schamlippen fleischiger und die Klitoris unter ihren Fingern fest. 44 Die Autorin scheut diesmal nicht davor zurück, die Geschlechter erregter Frauen zu schildern, indem sie diese als „weich, geschmeidig, glitschig“ 45 beschreibt. Das „[E]rtasten und [E]rfühlen“ 46 eines fremden sowie des eigenen Körpers hat nahezu einen Erkenntnischarakter und ermöglicht der Figur, das Terrain der Empfindungen zu betreten, die ihr bisher völlig fremd waren. Bei der Darstel‐ lung sexueller Handlungen bedient sich jedoch die Autorin eines nüchternen, um nicht zu sagen medizinisch-neutralen Vokabulars: von vulgären Ausdrü‐ cken, vor denen Hirth in seinem Roman nicht zurückschreckt, fehlt bei Jöhnsson jegliche Spur. Ähnlich wie im Falle der ersten Erzählung kann man hier die Figuren nicht eindeutig als lesbisch einstufen, der Aussage Nadias lässt sich allerdings entnehmen, dass sie sich sowohl Frauen als auch Männern gegenüber hingezogen fühlt. 299 Lust auf Verbotenes? 47 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 38. 48 Siehe: Buchumschlag. Jürgen Lodemann, Salamander. Ein Roman, Klöpfer & Meyer, Tübingen, 2011. 49 Siehe dazu: Marta Wimmer, „‚Eine Elementarfrau in einer Anderswelt.‘ Non-konformes Begehren in Jürgen Lodemanns ‚Salamander‘“, in: Studia Germanica Posnaniensia, 36, 2015, S. 97-107. 50 Angelika Baier / Susanne Hochreiter, „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Inter*geschlechtliche Körperlichkeiten. Diskurs / Begegnungen im Erzähltext, Zaglossus, Wien, 2014, S. 9-33, hier. S. 9. 51 Vgl. Kim Scheunemann, „Über die (Nicht-)Zusammengehörigkeit von Geschlecht, se‐ xuellen Praktiken und Begehren“, in: Cornelia Koppetsch / Sven Lewandowski (Hrsg.), Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter. Beiträge zur Soziologie der Sexua‐ lität, transcript, Bielefeld, 2015, S. 127-150, hier S. 132. In beiden hier erwähnten Erzählungen handelt es sich nicht um Schilde‐ rungen homoerotischer Spannungen zwischen Frauen, sondern es werden ge‐ lebte erotische Frauenbeziehungen thematisiert. Die Schilderungen ähneln Mo‐ mentaufnahmen ihrer Gefühlswelt und werden nicht ausschließlich auf den sexuellen Aspekt reduziert, obwohl die Autorin keine Berührungsängste zeigt, wenn es um die Darstellung von Sexszenen geht. Ganz im Gegenteil, sie schildert ungeniert die zwischen ihren Figuren entfachte Leidenschaft, was allerdings auf viele neuere Texte mit ähnlichem thematischem Schwerpunkt zutrifft. Die Tat‐ sache, dass in den ausgewählten Erzählungen kein Gedanke daran verschwen‐ det wird, ob das Verhalten der Figuren gegen soziale Konventionen verstößt, resultiert wahrscheinlich aus der Überzeugung, dass die „heterosexuelle Fixie‐ rung des Begehrens“ 47 keine notwendige Konstruktion ist und sich somit der Hegemonie der Heterosexualität widersetzt. Ein weiteres Beispiel, wenn es um die Schilderung des non-konformen Be‐ gehrens geht, stellt der als „spannender Gesellschafts- und Politroman” 48 ange‐ priesene Roman Salamander von Jürgen Lodemann aus dem Jahre 2011 dar. 49 Diesmal wird der Umgang mit geschlechtlichem Binarismus anhand der Ge‐ schichte der intersexuellen Figur Alexa illustriert, wodurch die binäre Zweige‐ schlechtlichkeit, die die zwei Geschlechter, die durch ihr heterosexuelles Be‐ gehren aufeinander bezogen sind und in ihrem Gegenstück Vereinigung suchen, als komplementär denkt, in Frage gestellt wird. Hinsichtlich intergeschlechtli‐ cher Körperlichkeiten, also solcher, „die sowohl männlich als auch weiblich konnotierte Geschlechtsmerkmale aufweisen“ 50 , wird zumeist von einem ab‐ weichenden bzw. problematischen Begehren und einer ebensolchen Sexualität ausgegangen, was auf die Tatsache zurückgeführt wird, dass die geschlechtliche und sexuelle (Selbst-)Verortung ein fester Bestandteil der Lebensqualität und -zufriedenheit sind, wobei diese bei intersexuellen Personen weniger gegeben seien. 51 Diese These wird jedoch in Lodemanns Roman widerlegt, indem der 300 Marta Wimmer 52 Im Weiteren wird auf die im Kontext der Intersexualität gängige „die / der*-Markierung” verzichtet. Die Protagonistin wird als „sie” bezeichnet, da sie auch als „sie / Frau” auf der Textebene figuriert. 53 Lodemann, Salamander, S. 173. 54 Ebd., S. 228 f. 55 Ebd., S. 289. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 153. 58 Ebd. Autor seiner Figur mit der Möglichkeit eines fließenden Überganges im Bereich des Sexuellen ausstattet. Die Geschichte beginnt mit einem Mord, dessen Genese dem Leser erst peu à peu ersichtlich wird, und endet mit einem unerwarteten Tod des Erzählers. Die Ermittler gehen davon aus, dass zwischen den drei Beteiligten (Alexa Undine Brandes 52 , Tansel Korasmar und Bob Goldberg) „eine sexuelle Irritation virulent gewesen sein müsse”. 53 Die Achse der Geschichte bildet - wie bereits erwähnt - die intergeschlechtliche dreiundzwanzigjährige Alexa Undine Brandes, ein Ein‐ zelkind, das anfangs Alexander, später Alexa Undine - als Hinweis auf das Extra - hieß. Dem Großonkel und Beschützer Harry bleibt das Geständnis, dass Alexa intersexuell ist, zunächst verwehrt. Erst nachdem er ihr Vertrauen ge‐ wonnen hat, entblößt sie sich vor ihm und an ihrem sanften, an ihrem makellos weiblichen Körper prangte, im gleißend rötlichen Licht, umrissscharf, ein zweifellos männliches Gemächt. Unter wenigen Handgriffen wuchs das zu klassischer Größe. - Harry, dies ist mein ›Punckt‹. Der Punkt mit dem ›ck‹. Den mein Vater zu gerne aus dem Verkehr gezogen hätte. - Sah ihn an, sah seine erstarrte Sprachlosigkeit. Zog das grüne Linnen wieder über das stattliche Teil, das auch unterm Grün dokumentierte, worum es ihr und ihren Eltern gegangen war und ging, und auch dem Junior und Bob Goldberg und Mi und und. - Sorry, nun hab ich dich geschockt? - Holterhoff holte die Atemluft von sehr viel tiefer als sonst. - Das gibt es nicht. - Doch, das gibt es. Und nicht mal selten.« 54 . Die Ansicht eines „Männerding[s]“ 55 an einem Körper, den man eindeutig weib‐ lich zuordnen würde, „dies Lustding an einem hinreißend femininen Körper“ 56 , überrümpelt Holterhoff, doch dann nach und nach führt ihn Alexa, die „Ele‐ mentarfrau“ 57 in ihre „Anderswelt“ 58 ein. Die attraktive Blondine, ein klassischer Vamp und eine Großstadtgöre, ver‐ lässt Berlin, da sie sich von ihrem Verehrer, dem Deutsch-Türken Tansel Ko‐ rasmar, bedrängt fühlt. Der verliebte Schönling kann die Abweisung nicht ak‐ zeptieren und mutiert zu einem Stalker, der seine Besitzansprüche nicht im Griff 301 Lust auf Verbotenes? 59 Ebd., S. 221. 60 Ebd., S. 167. 61 Ebd., S. 258. 62 Ebd., S. 226 f. 63 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1983, S. 203. 64 Lodemann, Salamander, S. 177. 65 Ebd. hat und seine „Wunderdame” 59 mittels neuester Technik allmählich in die Enge treibt. Begründet wird die Jagd nach der verflossenen Liebe durch die Annahme, „[s]o wie meine Gefühle nicht verglüht sind, so sind es auch die der Undine nicht, ich bin sicher. Was mal loderte, ist unmöglich tot.” 60 Ergriffen von der Liebeshitze und auf seine „Zauberfrau” 61 fixiert, sieht er sich als Opfer dieser. Die Faszination bzw. eine gewisse Sucht des Protagonisten wird auf der Ro‐ manebene mehrmals zur Sprache gebracht: In eurem Wort Sehnsucht, so habe ich gelesen, darin sind zwei Wörter »sehr« und »Sucht«. […] Will dir nur klar machen, dass meine »Sucht« sehr »sehr« ist. Über‐ menschlich. […] Und nun, so willst du mir sagen, nun bist du das Opfer einer Sucht? Wie bei einer Droge? Einer Droge mit dem Namen Undine? […] Droge mit dem Namen Undine. Stimmt. Bin auf Entzug. 62 Die zitierte Passage lässt an Niklas Luhmanns These denken, dass „[die] Tragik nicht mehr darin [liegt], daß die Liebenden nicht zueinanderkommen; sie liegt darin, dass sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und daß man weder nach ihr leben noch von ihr loskommen kann.“ 63 Gibt es demnach keinen Ausweg aus diesem Dilemma, so gibt es ganz gewiss verschiedene Weisen, mit diesem zu‐ grundeliegenden Konflikt umzugehen. Die Sucht, die als die höchste Form der Abhängigkeit aufzufassen ist, entsteht paradoxerweise aus der radikalen Sehn‐ sucht nach Unabhängigkeit und aus dem Wunsch nach Befreiung aus gesell‐ schaftlichen und / oder familiären Zwängen. Als Medium hierfür könnte man in diesem Fall sexuelle Begegnungen betrachten. Es muss jedoch auf zwei Seiten der Medaille hingewiesen werden, wo man Liebe mit unerträglicher Abhängigkeit gleichsetzt, wird diese als eine bedroh‐ liche Gefahr empfunden. Dies hat zur Folge, dass spätestens dann die Libido vom Objekt abgezogen wird, was in dem Roman wie folgt zur Sprache gebracht wird: „Er bewundert dich, liebt dich, begehrt dich, findet dich einmalig, ist be‐ sessen von dir” 64 ; „Für dich war er offenbar nur schön, sexy und blen‐ dend […].” 65 Im Hinblick auf das Ausleben der Sexualität könnte man in dem Fall von sexueller Hörigkeit ausgehen, da Korasmar bei Alexa geheimste Wünsche 302 Marta Wimmer 66 Vgl. ebd., S. 303. 67 Ebd., S. 208. 68 Ebd., S. 182. 69 Ebd., S. 227. 70 Ebd., S. 154. 71 Ebd., S. 185. 72 Koppetsch / Lewandowski, „Einleitung“, S. 7. erfüllt bekommt, von denen er nun besessen ist 66 : „Beim Sex gefiel ihm alles, auch das, was nicht als »männlich« gilt. Nicht als herrschaftsmäßig. Bei man‐ chen noch immer als »weibisch«. Insgeheim ist halt auch dieser Mann namens Tansel anders.“ 67 Er hatte „seine Machorolle zurückzunehmen” 68 und hatte nicht mehr den ak‐ tiven Part zu spielen, was für ihn sicherlich neu war. Doch er begriff, war lern‐ fähig. In einem Gespräch mit Alexas Großonkel gesteht Tansel Korasmar, sie sei eine „Zauberin” und das, was sie kann, einfach „irre”. 69 An mehreren Stellen im Roman nennt Korasmar Alexa seine „schwarzblaue Rose”, womit auf die Ein‐ zigartigkeit dieser und dessen, was die beiden verbindet, verwiesen wird: „Was zwischen ihr und mir lief und läuft, das, so muss ich das jetzt sagen, das ist so ungewöhnlich, so schwarzblau phantastisch, das es ein Heiligtum ist.” 70 Für ihn verkörpert Alexa ein Wesen, das nur in der Phantasie, jedoch nicht in der Natur vorkommt. Sie symbolisiert das Außergewöhnliche, dem er hoffnungslos aus‐ geliefert zu sein scheint. Auch Mi ist sich dieser Einmaligkeit bewusst, was sie in einem Gespräch mit Holterhoff zur Sprache bringt: „Nimmst du eigentlich Alex zur Kenntnis? Wie einmalig die ist? […] Was Triebhafteres als Alex hattest du in deiner Wohnung nie.” 71 Die intersexuelle Alexa wird somit als ein Faszi‐ nosum inszeniert, dessen Körperlichkeit eine besonders starke Anziehungskraft ausübt. Sexualität wird im Roman zwar als gelöst von dem veralterten patriarchalen Partnerschafts- oder gar Eheparadigma dargestellt, jedoch schwingt der kultu‐ relle Hintergrund hier mit. Der türkischstämmige Tansel Korasmar kann seine Leidenschaft zu der intersexuellen Alexa, deren Körper mit einer faszinierenden Vagheit ausgestattet ist, nur deswegen ausleben, da Alexas Äußeres keinen Zweifel an einer heterosexuellen Liebesbeziehung zulässt. Die Einschreibung von Geschlechtsidentitäten erfolgt - worauf Cornelia Koppetsch und Sven Le‐ wandowski verweisen - überwiegend über den Körper, „d.h. über die gesell‐ schaftliche Zurichtung von Körperhaltungen, Aussehen und Körpersprache, die als weiblich oder männlich […] angesehen werden.” 72 Obwohl Alexas Körper als Grundlage für Weiblichkeit nach den Regeln der Konvention nur bedingt funk‐ tioniert, wird sie als (über)weiblich dargestellt: langbeinig und vollbusig mit 303 Lust auf Verbotenes? 73 Vgl. Elisabeth Holzleithner (mit Einmischung von Susanne Hochreiter). „Unmögliches Leben. Intergender in Ulrike Draesners Mitgift. Ein Essay“, in: Angelika Baier / Susanne Hochreiter (Hrsg.), Inter*geschlechtliche Körperlichkeiten. Diskurs / Begegnungen im Er‐ zähltext, Zaglossus, Wien, 2014, S. 97-124, hier S. 104. 74 Ebd. 75 Lodemann, Salamander, S. 314. 76 Ebd., S. 291. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 177. 79 Ebd., S. 183. 80 Ebd., S. 56. 81 Ebd., S. 210. 82 Ebd., S. 182. 83 Ebd., S. 351 f. 84 Ebd., S. 297. 85 Vgl. Holzleithner, „Unmögliches Leben“, S. 104. hohem schmalen Hals und langem hellen Wellenhaar. 73 An mehreren Stellen im Roman wird die Schönheit der Protagonistin betont, was laut Elisabeth Holz‐ leithner ein Klassiker im Diskurs über Hermaphroditen ist. 74 Weniger Aufmerksamkeit wird dem Verhältnis zwischen dem „Sexprotz” 75 Dr. Bob Goldberg, Anglist und, wie sich später herausstellt, CIA -Agent zur Ter‐ roristenabwehr, und Alexa geschenkt, doch auch dieses ist voller Begehren und Lust. Für Bob ist ihr Extra „fabelhaft, ein Spiel“ 76 ; er behauptet, „Frauen können das Ding sowieso viel besser handhaben.“ 77 Der „Paradiesvogel“ 78 Alexa, der „[…] ständig von interessanten Herren, einer blendender und egozentrischer als der andere belagert […]“ 79 ist, vermag mit drei Personen eine intime Beziehung zu pflegen. Neben Bob Goldberg, dem Nebenbuhler von latent schwulem Tansel ist Alexa in einer Beziehung mit Mi, mit der sie erste sexuelle Erfahrungen geteilt hat. Über ihr Verhältnis mit Mi / Miriam sagt sie, dass sie „siamesische Zwillinge seien, untrennbar“. 80 Mit ihr ist alles „unsäglich, das wechselseitige Einverleiben. Dies durchtriebene Stück, das raunte von „kommunizierendem Röhren“ 81 und auch mit ihr läuft Sex „[m]it Schmackes und mit Liebe.“ 82 Die Intersexualität eröffnet vor Alexa ein ganzes Spektrum sexueller Mög‐ lichkeiten und Erfahrungen jenseits der vom Sexualitätsdispositiv festgelegten Positionen auf eine entweder hetero- oder homosexuelle Identität. 83 Die Prota‐ gonistin äußert sich zu ihrer Doppelseitigkeit und betont, für sie sei diese „dop‐ pelt lustvoll“ 84 , sie nutzt die in ihrem Körper angelegten Möglichkeiten als Po‐ tenzial. 85 Der Sex wird von ihr als ein Element der individuellen Erregungs- und Glückssuche empfunden. Alexa, die eine Sexualität jenseits der medizinisch-ju‐ ridischen Festlegung repräsentiert, bezeichnet die Besonderheit ihres Körpers 304 Marta Wimmer 86 Lodemann, Salamander, S. 296. 87 Ebd., S. 294 f. 88 Ebd., S. 292. 89 Siehe dazu: Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. 90 Vgl. Holzleithner, „Unmögliches Leben“, S. 112. 91 Lodemann, Salamander, S. 296. 92 Vgl. Beata Ziółkowska, „Słowo od redaktorów”, in: Beata Ziółkowska / Anna Cwoj‐ dzińska / Mariusz Chołody (Hrsg.), Ciało w kulturze i nauce, Wydawnictwo Naukowe SCHOLAR, Warszawa 2009, S. 7-8, hier S. 7. als eine „wundertätige Zugabe”, 86 und sie will unbedingt so sein, wie sie ist, „[w]eder Frau noch Mann, sondern so was wie beides.” 87 Offensichtlich hat Alexa kein Problem mit ihrer Andersartigkeit, auch die identitäre Selbstverortung der Protagonistin scheint kein Problem darzustellen, sie selbst betont: „[s]auwohl fühle ich mich. Natur ist halt launisch.” 88 Sie war von Anfang an in der Lage, eine intelligible Subjektposition für sich zu kreieren 89 , was jedoch keine Selbst‐ verständlichkeit ist. Dem allzu sehr Andersartigen droht Abschiebung, obwohl der Wunsch nach Anerkennung trotz des gesellschaftlich verordneten Ab‐ jekt-Status stets präsent ist. 90 Lodemanns intersexuelle Figur, die die Routine der Geschlechterkonstruktion unterbricht, balanciert zwischen den Geschlechtern und genießt den fließenden Übergang, den ihr ihre Konstitution - ein „Frauen‐ lustkörper” mit „Männerlust” 91 ermöglicht. Die Intersexualität eröffnet für Alexa ein ganzes Spektrum sexueller Erfah‐ rungen, sie ist als zweigeschlechtliches Wesen aufgewachsen und auch in diesem Sinne wurde sie sexuell aufgeklärt. Die Inszenierung der interge‐ schlechtlichen Körperlichkeit im Roman steht der häufig in der Pornographie aufgegriffenen Utopie der libidinösen Omnipotenz nahe, die der medizinischen Annahme, das Inter-Genitale sei beschämend, widerspricht. Lodemann hinter‐ lässt keinen Raum für Berührungsängste, das Begehren sowie das Ausleben dieses bilden ein Element der Selbtsrealisation, wobei auch hier sichtbar wird, dass biologische sowie gesellschaftlich-kulturelle Mechanismen, derer Wirkung der Körper ausgesetzt wird, nicht selten widersprüchlichen Gesetzen (Sexual‐ trieb vs. ethischer Imperativ) unterliegen. 92 Die Gemeinsamkeit, die alle im Rahmen dieses Beitrags anvisierten Texte aufweisen, ist, dass sie sich gegen das Konstrukt der Heteronormativität und somit gegen eine starre und einengende Kategorisierung, gegen das Denken in Dichotomien Frau / Mann, konform / deviant richten. Obwohl das non-konforme Begehren - wie bereits im Titel angekündigt - nicht selten als etwas Verruchtes und Verbotenes betrachtet wird, kann man die analysierten Erzähltexte als einen Versuch auffassen, gegen die gängigen Klischees, auf die die Autorinnen und Autoren direkt oder indirekt rekurrieren, anzuschreiben. Von dieser Prämisse 305 Lust auf Verbotenes? ausgehend könnte man die Feststellung wagen, dass sich diese Texte nicht nur in den Diskurs über den Umgang mit Andersartigkeit einschreiben, sondern gleichzeitig einen Beitrag zur Denaturalisierung der Zwangsheterosexualität leisten. Bibliographie Angelika Baier / Susanne Hochreiter, „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Inter*geschlechtliche Körperlichkeiten. Diskurs / Begegnungen im Erzähltext, Zaglossus, Wien, 2014, S. 9-33. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1991. Eberhard Falcke, Matthias Hirth: Lutra lutra, URL: http: / / www.swr.de/ swr2/ literatur/ buch-der-woche/ matthias-hirth-lutra-lutra/ / id=8316184/ did=17577708/ nid=8316184/ 15mzv0b/ (letzter Zugriff am 31. März 2017). Matthias Hirth, Lutra lutra. Roman, Voland & Quist, Dresden / Leipzig, 2016. Elisabeth Holzleithner (mit Einmischung von Susanne Hochreiter). „Unmögliches Leben. Intergender in Ulrike Draesners Mitgift. Ein Essay“, in: Angelika Baier / Susanne Hochreiter (Hrsg.), Inter*geschlechtliche Körperlichkeiten. Diskurs / Begegnungen im Erzähltext, Zaglossus, Wien, 2014, S. 97-124. Martin Ingenfeld, Im Jahr des Otters. Über Matthias Hirths grandiosen Roman „Lutra lutra“, URL: http: / / literaturkritik.de/ hirth-lutra-lutra-im-jahr-des-otters-ueber-matthias-hirths-grandiosen-roman-lutralutra,23000.html (letzter Zugriff am 31. März 2017). Cornelia Jönsson, Fischfang. Liebesgeschichten, konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tü‐ bingen, 2013. Cornelia Koppetsch / Sven Lewandowski, „Einleitung“, in: Cornelia Koppetsch / Sven Le‐ wandowski (Hrsg.), Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter. Beiträge zur Soziologie der Sexualität, transcript, Bielefeld, 2015, S. 7-25. Jürgen Lodemann, Salamander. Ein Roman, Klöpfer & Meyer, Tübingen, 2011. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1983. Madeleine Marti, Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutsch‐ sprachigen Literatur seit 1945, J. B. Metzler, Stuttgart, 1992. Dirk Naguschewski, „Von der Gesellschaft ins Ghetto? Guillaume Dustan und die Schwule Literatur in Frankreich“, in: ders./ Sabine Schrader (Hrsg.), Sehen. Lesen. Be‐ gehren. Homosexualität in französischer Literatur und Kultur, Verlag Walter Frey, Berlin, S. 251-272. Christoph Niepel, „Nicht-Heterosexuelle Identitäten - empirisch-psychologische Be‐ trachtungen“, in: Martin Schneider / Marc Diehl (Hrsg.), Gender, Queer und Fetisch. 306 Marta Wimmer Konstruktion von Identität und Begehren, Männerschwarm Verlag, Hamburg, 2011, S. 54-67. Michael Pollak, „L’homosexualité masculine, ou: le bonheur dans le ghetto? “, in: Com‐ munications, 35, 1982, S. 37-55. Kim Scheunemann, „Über die (Nicht-)Zusammengehörigkeit von Geschlecht, sexuellen Praktiken und Begehren“, in: Cornelia Koppetsch / Sven Lewandowski (Hrsg.), Sexu‐ elle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter. Beiträge zur Soziologie der Sexua‐ lität, transcript, Bielefeld, 2015, S. 127-150. Petra Schwer, Die Darstellung der Frauenliebe in der zeitgenössischen österreichischen Li‐ teratur am Beispiel von Helga Pankratz und Karin Rick, Magisterarbeit, Universität Wien, 2014. Volkmar Sigusch, Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion, Campus, Frankfurt am Main / New York, 2005. Tomas Vollhaber, Das Nichts. Die Angst. Die Erfahrung. Untersuchung zur zeitgenössischen schwulen Literatur, Verlag rosa Winkel, Berlin, 1987. Marta Wimmer, ‚„Eine Elementarfrau in einer Anderswelt.‘ Non-konformes Begehren in Jürgen Lodemanns ‚Salamander‘“, in: Studia Germanica Posnaniensia, 36, 2015, S. 97-107. Beata Ziółkowska, „Słowo od redaktorów”, in: Beata Ziółkowska / Anna Cwojdzińska / Mariusz Chołody (Hrsg.), Ciało w kulturze i nauce, Wydawnictwo Naukowe SCHOLAR, Warszawa 2009, S. 7-8. 307 Lust auf Verbotenes? 1 Zur Biografie von Clemens Johann Setz vgl. die erste Fußnote meiner Publikation „Zwischen Gesellschaftskritik, Provokation und Pornografie. Die Erotik im literari‐ schen Werk von Clemens Setz“, in: Edward Białek / Monika Wolting (Hrsg.), Erzählen zwischen geschichtlicher Spurensuche und Zeitgenossenschaft. Aufsätze zur neueren deut‐ schen Literatur, Neisse Verlag, Dresden, 2015, S. 341-367, hier S. 342 f. 2 Vgl. Maciej Jędrzejewski, „»Es geht generell sehr viel um Freiheit« - Ein Interview mit dem österreichischen Schriftsteller Clemens Setz“, in: Studia Niemcoznawcze - Studien zur Deutschkunde, Bd. 56, 2015, S. 311-327, hier S. 311 ff. Anormalität als Normalität. Sexualästhetik in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens Setz Maciej Jędrzejewski (Warszawa) 1. Einleitung, Zielsetzung und Methodologie Als ich mich mit dem österreichischen Schriftsteller Clemens Setz 1 im Sommer 2015 in Wien zu einem Gespräch traf 2 , verriet er mir sein Schreibkonzept: Es ist in der Idee begründet, Anormalität als Normalität darzustellen. Man kann dieses Darstellungsprinzip markant in der Figurenzeichnung erkennen. Desgleichen manifestiert sich auf der Ebene der aufgegriffenen Themen und Motive. Hier‐ unter subsumiert sich auch die Erotik, die sich wie ein roter Faden durch Setz’ gesamtes literarisches Schaffen zieht und auch in seinem jüngsten Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre Ausdruck findet. Ziel der Studie ist es, das eben genannte Werk im Kontext der dort vorhan‐ denen erotischen Textfragmente zu analysieren, neben ihrer Interpretation vor allem Aufschlüsse über ihre Funktion wie auch Bedeutung zu gewinnen. Meine These lautet, dass Setz’ literarische Bearbeitung des Erotischen, die in Richtung von Pornographie, Perversion und Sadismus tendiert, eine literarisch-ästheti‐ sche Ausdrucksweise entwickelt und eine Provokation bezweckt. Allerdings wird dies erst durch eine entsprechende - kontrastierende - künstlerische Ge‐ staltungstechnik erreicht, in der der Schriftsteller abweichendes Sexualver‐ halten als übliches menschliches Handeln geltend macht. Außerdem vermittelt Setz den Eindruck, dass der Mensch trotz modernster kultureller Entwicklungen immer noch seinen niedrigeren tierischen Trieben unterliegt. 3 Die vorliegende Studie wurde im Dezember 2016 beendet. Bis zum Abschluss der Arbeit habe ich außer journalistischen Artikeln keine kontextuell wichtigen wissenschaftli‐ chen Arbeiten über Setz bzw. den Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ge‐ funden. Allerdings muss gesagt werden, dass ich bereits selber eine Publikation über die Erotik bei Setz veröffentlicht habe, und zwar ist es jene, die ich hier in der ersten Fußnote genannt habe. Jedoch fehlt dort eine Perspektive auf den hier analysierten Roman, der zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht veröffentlicht war. In gewisser Weise versteht sich die hier vorliegende Untersuchung daher auch als Ergänzung wie auch Anknüpfung an die vorherige Studie über die erotischen Elemente in Setz’ Schaffen. Wesentlich für den uns jetzt interessierenden Zusammenhang sind auch meine dort vorgelegten theoretischen Annahmen in Bezug auf das Erotik-Motiv, die aber in gekürzter Form wiederholt werden sollen, um auch denjenigen Lesern diese theoretischen Reflexionen darüber vorzustellen, die keinen Zugang zur der vorherigen Studie haben. 4 Vgl. unter anderem Der Literatur Brockhaus, Bd. 1, F. A. Brockhaus GmbH, Mannheim, 1988, S. 620; Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Kröner, Stuttgart, 2001, S. 234. 5 Vgl. unter anderem Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Bd. 2, Harenberg Le‐ xikon-Verlag, Dortmund, 1989, S. 879. In dem oben veranschaulichten Sinne ergeben sich daher unter anderem fol‐ gende Fragestellungen, auf die versucht wird, Antworten zu finden: 1. Was wurde kontextuell beschrieben und wie wurde das Erotische in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre dargestellt? 2. Welche Funktion und Bedeutung übernimmt die Erotik im Roman? 3. Wie kann das Motiv interpretiert werden? Zur Begründung der Notwendigkeit der Studie ist anzumerken, dass bislang eine derartige Untersuchung in der germanistischen Forschung fehlt 3 , zugleich er‐ hebt aber diese Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zudem ist zu be‐ achten, dass vor dem analytischen Teil ein theoretischer Überblick über den Begriff ‚Erotik‘ als literaturwissenschaftlicher Gegenstand gegeben werden soll. Das Gleiche betrifft auch den fraglichen ‚Normalitätsbegriff ‘, und zwar was unter Normalität und Anormalität verstanden werden kann, insbesondere im Zusammenhang mit der hier relevanten Problematik. 2. Theoretische Überlegungen zur Erotik in der Literatur Der Begriff ‚Erotik‘ sollte literaturwissenschaftlich nicht als eigenständiges Genre betrachtet werden, sondern er bildet lediglich einen literarischen Stoff, 4 allerdings einen der ältesten überhaupt. 5 Das zeigt sich vor allem auch darin, dass unzählige literaturwissenschaftliche Studien darüber vorhanden sind und entsprechend viele Definitionsversuche unternommen wurden. Am tref‐ 309 Anormalität als Normalität 6 Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 234. 7 Vgl. Der Literatur Brockhaus, Bd. 1, S. 620; Horst Daemmrich / Ingrid Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur, Francke Verlag, Tübingen / Basel, 1995, S. 137; Wil‐ pert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 234. 8 Vgl. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 625. 9 Vgl. Daemmrich / Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur, S. 137. 10 Vgl. Der Literatur Brockhaus, Bd. 3, S. 113; Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 624; Thomas Hecken, Gestallten des Eros. Die schöne Literatur und der sexuelle Akt, West‐ deutscher Verlag, Opladen, 1997, S. 25. fendsten umschreibt den Begriff meines Erachtens Gero von Wilpert in seinem Sachwörterbuch der Literatur: T]hemat[ische] Sammelb[ezeichnung] für Werke aller lit[erarischen] Gattungen mit stärkerer Betonung des Körperl[ich]-Sinnlichen und Sexuellen in den Geschlechter‐ beziehungen jeder Art, mit fließenden Übergängen zur mehr seel[isch]-geistigen und gefühlhaften Liebesdichtung, in der das Sinnliche kaum Erwähnung findet, einerseits und den rein auf die Beschreibung sexueller Vorgänge als Selbstzweck und Stimulans abzielenden Werken der Pornographie andererseits. 6 Vor diesem Hintergrund erscheint es noch wichtiger zu ermitteln, wie erotische Fragmente interpretiert werden können. Warum stellen Schriftsteller Erotisches dar? Die Forscher sind sich einig, dass die literarische Bearbeitung des Eroti‐ schen von der Präsentation bloßer Sinnenfreude bis hin zu einer humoristisch, satirisch, kontrastierend oder gesellschaftskritisch angelegten Schilderung reicht. 7 Sexuelle Elemente können auch eine provozierende und emanzipatorische Funktion haben. 8 Die entsprechende Deutung ist dabei oftmals von ihrer zeitli‐ chen Implikation abhängig, da in bestimmten Zeiträumen bestimmte künstleri‐ sche Aufarbeitungen und Interpretationsverständnisse populär waren. 9 Zugleich gibt es auch Unterscheidungsschwierigkeiten zwischen erotischer und pornografischer Literatur - auf die es hier wegen des begrenzten Umfangs der Studie unmöglich ist, detailliert einzugehen -, die unter anderem auf wir‐ kungsästhetische Zielstellungen zurückgehen. Als Faustregel kann dabei ange‐ nommen werden, dass die ‚pornografische Literatur‘ vorwiegend einen porno‐ grafischen Auftrag hat. 10 3. Zwischen ‚Anormalität‘ und ‚Normalität‘ Die Feststellung, was als Normalität und Anormalität - im Allgemeinen oder auch auf Sexuelles bezogen - identifiziert werden kann, ist potenziell eine Arbeit ad infinitum - gerade wenn man auch die verschiedenen Kontexte, Bezug‐ 310 Maciej Jędrzejewski 11 Erwin J. Haeberle, Die Sexualität des Menschen, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 1985, S. 290. 12 Vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Van‐ denhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2006, S. 19 ff., S. 33-50 bsd. S. 50. 13 Vgl. ebd., S. 452 f. nahmen und Möglichkeiten der Betrachtung innerhalb jener Differenzierungs‐ kategorien berücksichtigt. Es ist Erwin Haeberle deshalb durchaus zuzu‐ stimmen, wenn er in Die Sexualität des Menschen etwa folgende Gegebenheit unterstreicht: „Wir wissen aus der Geschichte, daß es Kulturen gab, bei denen nahezu jedes Sexualverhalten als göttlich inspiriert und somit als natürlich galt“. 11 Im Wesentlichen werde ich mich auf Jürgen Links systematische und histo‐ risch fundierte Operationalisierung des Normalitätsbegriffs stützen, die er in Versuch über den Normalismus herausarbeitete. Dabei ging Link unter anderem davon aus, dass Normalität als Kategorie bzw. Verstehensnetz ständiger Wand‐ lung oder diversen Einflüssen ausgesetzt ist 12 , denn einer seiner wohl wich‐ tigsten Leitgedanken war: Abweichend von vorwissenschaftlich, aber auch von manchen wissenschaftlich ver‐ tretenen Auffassungen handelt es sich bei der so präzisierten Normalität nicht um eine ahistorische, jederzeit spontan von der anthropologischen oder gar biologischen Natur generierte Entität, sondern um eine spezifische, historisch-kulturelle Emergenz der westlichen Moderne. Insbesondere ist Normalität nicht identisch mit beliebigen Alltagen, sondern nur mit historisch sehr spezifischen Alltagen - solchen nämlich, die durch Normalisierung der schwindelerregenden Dynamiken der Moderne allererst hergestellt werden müssen […]. Es handelt sich demnach beim Normalismus nicht um einen umfassenden Gesellschaftstyp, sondern um einen (historisch zudem stark va‐ riablen) »Archipel«. 13 Vor diesem theoretischen Umriss ist es aber immer noch problematisch, exakt zu bestimmen, wo in Setz’ Die Stunde zwischen Frau und Gitarre eine Über‐ schreitung der Normalitätsgrenze in Bezug auf das Sexuelle stattfindet. Dass allerdings eine derartige Intendierung vorliegt, resultiert - logisch gesehen - allein schon aus dem Schreibkonzept des Autors. Erforderlich ist daher, näher darauf einzugehen, was sich als sexuelle Anormalität bezeichnen lässt. Hier kann auf Willibald Pschyrembels erhellende Begriffsdeutung des ‚abweich‐ enden Sexualverhaltens‘ verwiesen werden, die in Pschyrembel Klinisches Wör‐ terbuch zu finden ist und Folgendes herausstellt: 311 Anormalität als Normalität 14 Willibald Pschyrembel, Pschyrembel Klinisches Wörterbuch mit klinischen Syndromen und Nomina Anatomica, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 1990, S. 1537. 15 Vgl. Pschyrembel Wörterbuch Sexualität, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 2003, S. 499. 16 Ebd. [Hervorhebung M. J.] Während früher in Medizin u[nd] Sexualwissenschaften normabweichendes Sexual‐ verhalten häufig als psychopathol[ogisch] relevant u[nd] daher therapiebedürftig be‐ trachtet od[er] mit wertenden u[nd] moralisierenden Begriffen definiert wurde (s. Perversion), wird a[bweichendes] S[exualverhalten] heute als eine praktizierte Sexu‐ alität verstanden, in der Befriedigung (ausschließlich) auf hochspezialisierten Wegen zustande kommt u[nd] gängige sexuelle Signale ihre erregende Wirkung weitgehend verlieren. Dies gilt z. B. für die Bevorzugung v[on] sexuellem Verkehr mit Tieren od[er] sexuelle Befriedigung ausschließlich unter Schmerz, Qual od[er] Demütigung (Masochismus). Demgegenüber wird die auf Partner gleichen Geschlechts speziali‐ sierte Homosexualität auch deshalb nicht mehr als a[bweichendes] S[exualverhalten] gedeutet, weil kein Therapiebedürfnis besteht. A[bweichendes] S[exualverhalten] stellt im Unterschied z[ur] sexuellen Funktionsstörung eine funktionierende, lediglich im Triebziel eingeengte Form der Sexualität dar. 14 In Pschyrembel Wörterbuch Sexualität wird dazu ebenfalls - um noch an Link anzuschließen - davon ausgegangen, dass die gesellschaftliche Wertung, was sexuelle Abweichung darstellt und was nicht, steter Wandlung unterlegen ist und diesbezüglich eine Schwierigkeit der Klassifizierung vorliegt 15 , gerade des‐ halb auch partiell zu intuitiven, subjektiven Kriterien der Einordnung zwingen könnte. Somit heißt es auch nicht zu Unrecht: Heute ist eine klare Tendenz erkennbar, einerseits nicht in erster Linie die Hand‐ lungen selbst als Abweichungen zu betrachten (z. B. gelten Oralod[er] Analverkehr nicht mehr als „abweichend“), sondern deren soziale Folgen zu betrachten (z. B. gilt Vergewaltigung auch innerhalb der Ehe als „abweichend“), andererseits die verschie‐ denen Formen abweichenden Verhaltens differenzierter zu benennen; eine eindeutige u[nd] konsensfähige Klassifikation wird allerdings in zahlreichen Einzelfällen durch die erhebliche Streubreite menschlichen Sexualverhaltens verhindert. 16 4. Analyse der erotischen Elemente im Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre Die Stunde zwischen Frau und Gitarre bringt Symptomatisches für Setz’ Schreiben zutage, das bereits aus früheren Werken wie Die Frequenzen oder Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes bekannt ist: die Literarisierung von por‐ 312 Maciej Jędrzejewski 17 Vgl. Jędrzejewski, „»Es geht generell sehr viel um Freiheit«“, S. 312. 18 Ebd. nografisch-derber Erotik, Promiskuität, Homosexualität und außergewöhnli‐ chen, drastischen, oftmals sadistischen oder irrational bedingten Sexualprak‐ tiken. Obwohl die wiederholend anzutreffenden Sexualitätsnarrative in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre keine tragend-elementare Funktion für den Verlauf der Handlung übernehmen, sind sie wichtiges Element der literarisierten gesellschaftlichen Realität - denn das Sexuelle beeinflusst dominierend das Denken und Handeln der Figuren. Dabei ist es zweifellos nicht ironisch, komisch oder grotesk dargestellt, sondern offenbart die Fassaden- und Doppelmoral der Handlungsträger. Das wird wohl am signifikantesten im Denken und Handeln der Protagonistin Natalie Reinegger sichtbar, die nach außen hin hilfsbereit, freundlich und sozial integriert ist, im Innern von Sexbesessenheit und Perver‐ sion geleitet wird und ausschließlich in sexuellen Kategorien denkt. Aus interpretativer Sicht könnte man zunächst einmal von einer gesell‐ schaftskritischen Ausrichtung von Die Stunde zwischen Frau und Gitarre aus‐ gehen, was einerseits die im methodologischen Teil aufgezeichneten literatur‐ wissenschaftlichen Erkenntnisse bestätigen würden, was andererseits auch die Narrationsform des Romans suggerieren kann, weil das Werk in der personalen Erzählform verfasst wurde - dem Rezipienten wird dadurch in gewisser Weise die Identifikation mit der Hauptfigur erschwert, stattdessen wird er automatisch zum distanzierten, äußeren Wahrnehmenden. Man darf vermuten, dass Setz den Antagonismus zwischen äußeren und inneren Repräsentanten der Menschen offenbaren will. Dabei lässt er - literarisch gesehen - zugleich aber auch einen Freiraum in der Bewertung und Deutung, ohne zu moralisieren. An dieser Stelle sollte man allerdings darauf verweisen, dass dieser Interpre‐ tationsversuch nicht mit der Intention des Schriftstellers korrespondiert. Im von mir durchgeführten Interview mit dem Autor antwortete er auf meine Frage, ob er sich als Gesellschaftskritiker bzw. Chronist der Zeit verstehe 17 , nämlich Fol‐ gendes: „Nein, das machen eh schon so viele. Die deutsche Literatur quillt über vor Chronisten und Gesellschaftskritikern.“ 18 Es stellt sich dementsprechend die nächste Frage, welche andere Funktion die literarisierte Erotik übernehmen könnte, weil eine gesellschaftskritische Intention zwar logisch interpretierbar erscheint, aber anscheinend nicht vom Autor angestrebt ist. Einen interessanten Anhaltspunkt für die Deutung lieferte wiederum Setz’ Aussage auf meine Frage, ob die Aufarbeitung von Erotik Provokation oder So‐ zialkritik sei, denn er erläuterte: „In meinen Büchern kommt Sexualität nicht als allgemeine gesellschaftliche Frage vor. Sie hat mehr mit der Figurenpsychologie 313 Anormalität als Normalität 19 Ebd. 20 Vgl. Clemens Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, Suhrkamp, Berlin, 2015, S. 53-59. 21 Vgl. ebd., S. 118, S. 212, S. 215, S. 331, S. 333, S. 334. und der konkreten Geschichte zu tun.“ 19 So sollte man sich auch dementspre‐ chend auf die Figuren- und Handlungsebene konzentrieren, was anscheinend Erkenntnisgewinn verspricht. Es sei hier nur am Rande bemerkt, dass Setz in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre großen Wert auf die Beschreibungen der Äußerlichkeiten wie Innerlichkeiten seiner Figuren legt, was z. B. das Kapitel Die Betreuerin belegt, in dem sehr detailliert das Personal des Pflegeheims be‐ schrieben wird. 20 Verfolgt man diese Spur weiter, dann zeigt sich, dass das Erotische in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre generell in zwei thematischen Komplexen manifest wird, die mit der Figuren- und Handlungsebene verbunden sind: Ei‐ nerseits offenbart es sich latent in der dargestellten Beziehung zwischen dem Homosexuellen Stalker Alexander Dorm und Christopher Eric Hollberg, um deren mysteriöse Konstellation der ganze Roman aufgebaut ist und in der ho‐ mosexuelle und sadistische Aspekte mitschweben, andererseits - und dieser Punkt ist entscheidend und bedeutend wichtiger als der vorherige - zeigt es sich explizit in der Protagonistin Natalie. Im zweiten Bereich tritt - getreu dem Schreibkonzept des Schriftstellers - abweichendes Sexualverhalten in Erschei‐ nung, das als Normalität hingestellt wird. Denn Natalies sexuelle Befriedigung wird ausschließlich durch spezifische erotische Praxen erreicht, die aufgrund der häufigen Implementierung im Lebensalltag zu einer Alltäglichkeit der Ge‐ danken und Gewohnheiten mutiert sind. In diesem Zusammenhang ist festzu‐ halten, dass die Protagonistin permanent nach neuen sexuellen Grenzerfah‐ rungen sucht, um ihr Interesse an den seltsamen Eigenarten des eigenen Körpers und der menschlichen Psyche zu stillen, das auf gängige Art nicht erreicht werden kann. Auch hier können zwei Dimensionen ihrer Sexualhandlungen ausgesondert werden, und zwar ein körperliches und ein psychisches. Die körperlich-leibliche Sphäre wird durch zahlreiche erotische Praktiken bzw. Spiele fundiert, wie z. B. das sogenannte ‚Streunen‘ 21 , womit Oralsex mit zufälligen Fremden gemeint ist. Das Streunen wird als routinierte menschliche Umgangsform und unbedeu‐ tende Nebensächlichkeit literarisch veranschaulicht, obwohl es Anzeichen se‐ xueller Pervertierung trägt. Ein Zitatbeispiel soll dies beweisen, wo zum ersten Mal im Roman derartige Handlungen beschrieben werden: 314 Maciej Jędrzejewski 22 Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, S. 35 f. 23 Jan Wiele, „Neuer Roman von Clemens Setz. Wer ist hier eigentlich krank? “, URL http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ rezensionen/ belletristik/ clemens-setz-die-stunde-zwischen-frau-und-gitarre-13782080.html? printPagedArticle=true#pageIndex_2 (letzter Zugriff am 5. Dezember 2016). Manche jungen Männer wollten sie [Natalie - M. J.] nur küssen, das war wunderbar, andere wollten in ihren Mund ejakulieren, auch das war okay. Manchmal, wenn die Männer etwas zu gepflegt wirkten oder nach Herrenparfüm rochen, bemühte sie sich, sie auf Distanz zu halten. Aber sie lehnte nur selten jemanden explizit ab, zumindest nicht in Streunernächten. In ihrer alten Gegend, als sie noch im Bezirk Lend gewohnt hatte, war sie in den Genuss eines gewissen Rufes gekommen. Den musste sie jetzt wieder aufbauen. Aber diese neue Gegend hier war für Begegnungen und deren Zu‐ fallsmusik im Grunde viel geeigneter, auf den Straßen waren mehr Leute unterwegs, und es gab diese Konzentrationspunkte, wo man abends zusammenkam und vielge‐ staltig aufeinander einwirken konnte. Sie bevorzugte sexuelle Praktiken, die sie mit ihrem Mund ausführen konnte. Und wahrscheinlich war das, streng genommen, gar kein richtiger Sex, keine Ahnung, also war sie doppelt aus dem Schneider und oben‐ drein noch total krank, das fühlte sich gut an. Oberkörper, Geweihe. Es gab bestimmt Broschüren über die komplexe Störung, die sie verkörperte. Sie war glücklich. 22 Man könnte meinen, dass gerade die anmutende verharmlosende Darstellungs‐ weise des Sexualitätsverständnisses der Protagonistin ohne anscheinende Pro‐ vokation vorgeführt wird, aber gerade hier liegt das provokative Wirkungspo‐ tential. Denn wie bereits unterstrichen: Anormalität wird zur Normalität stilisiert - das ist die Intention von Setz, falls man heutzutage derartigen künst‐ lerischen Verfahren noch provokative Kraft zubilligen könnte. Nebenbei zeigt sich auch, dass im Roman noch eine weitere in diesem Zusammenhang relevante Frage aufgeworfen wird, die Jan Wiele in seiner Rezension Neuer Roman von Clemens Setz. Wer ist hier eigentlich krank? zur Sprache brachte und die im letzten Satz des folgenden Zitats formuliert wird: Dieser Natalie folgt der Leser in die hintersten Winkel ihrer Wahrnehmung, ihrer sexuellen Vorstellungen, die für die meisten wohl als ekelhaft gelten, ihrer Assozia‐ tionen, die nach medizinischer Definition wohl manifeste Zwangsneurosen sind. Aber genau das stellt der Roman mit aller Sprachphantasie in Frage: was eigentlich normal und was krank ist. 23 In alldem deutet sich bereits an, dass in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ein Ansatz von Dekadenzdenken bzw. Kulturpessimismus vorliegt, weil das Erotische Anzeichen sozial konnotierter Entartung trägt. Es basiert nämlich 315 Anormalität als Normalität 24 Ebd., S. 160. 25 Ebd., S. 611 f. nicht auf zwischenmenschlicher Liebe, sondern auf Destruktion, animalischem Willen und vor allem auf dem Willen zur Exploration persönlicher sexueller Grenzerfahrungen. In diesem Zusammenhang erhält die Triebbefriedigung eine oftmals irrationale, homosexuelle oder sadistische Form. So lassen sich im Roman auch zahlreiche Szenen finden, die diese Argumentation stützen: Man kann die Darstellung von irrationalen Sexualhandlugen, Homoerotik und Sa‐ dismus ausfindig machen. Im Folgenden sollen jeweils dafür ausgesuchte Text‐ belege präsentiert werden. Als Erstes soll ein Beispiel für sexuell-bedingte Irrationalität angeführt werden: Natalie hatte ein respektabel gefülltes, verknotetes Kondom in der Tasche, das sie später genauer untersuchen würde. Es war eine gelblich dickflüssige Ladung, die sie einem älteren Betrunkenen abgenommen hatte, an der Radwegunterführung. Das Kondom bildete so etwas wie ein zweites Herz in ihrer Tasche. Es vermittelte ihr Sicherheit und Wärme. 24 Auch wenn dieses Fragment hier aus dem Kontext gerissen präsentiert wird, bleibt im Roman unklar, in welchem Sinne Natalie das mit Sperma gefüllte Kondom Sicherheit und Wärme bietet. Es fehlt hier jede Art von Logik und Nachvollziehbarkeit, weshalb es als irrational aufgefasst werden kann. Die literarische Bearbeitung von Homoerotik offenbart wiederum folgendes Zitat: Natalies Orgasmus war zu laut, zu heftig. Sie musste sich an irgendetwas festkrallen. Sie bekam Marias Haar zu fassen. Diese wimmerte auf. Babygeschrei. Maria löste sich von ihr. Zimmerkälte flutete in sie hinein. Gott, ich muss weg. Au. Zu weit rein. Ich muss gehen. Ich hab Dienst morgen, heute. Natalie legte eine Hand auf ihre triefend nasse Öffnung. Wie viel Finger waren da drin gewesen? Sie war unerhört offen. Au. Offen, so ein Wort. Sie kicherte verwirrt. Das mochte sie sonst nicht, dieses tiefe Ein‐ dringen, Finger in ihr, mein Gott, was für ein Unfug. What time is it, beneath my wings. Natalie stand auf. Sie war etwas wackelig, aber sie hielt sich, mit etwas Konzentration, auf den Beinen. Ein warmer Tropfen lief ihren Schenkel hinab. Vor ihr im Zimmer war ein religiöses Bild entstanden: Frau mit Kind. Sogar der Name passte: Maria. Sie hielt ihr Baby im Arm und wiegte es hin und her. Und das, wo sie doch wenige Se‐ kunden zuvor. Natalies Hand war nass. Und alles voller Geruch, das ganze Zimmer, die eigene Hand. Maria trug nur einen netzartigen Slip. Ihre Brüste waren groß und voll. 25 316 Maciej Jędrzejewski 26 Ebd., S. 125. 27 Vgl. ebd., S. 75. 28 Ebd., S. 215 f. Die Aufarbeitung von Sadomasochismus belegt dagegen folgende Textstelle, in der die Protagonistin einen fremden Mann dazu animiert, sie beim Oral-Sex zu würgen, wenn sie etwa zu ihm sagt: Du musst richtig dran [Natalies Strähne - M. J.] ziehen, damit ich nicht abrutsche oder so zurückgehe mit dem Kopf. Das ist ein automatischer Reflex, wenn man keine Luft mehr bekommt. Außerdem war gerade Allergiezeit, und meine Mundwinkel reißen ständig ein. Also nehme ich an, sie werden auch bei dir einreißen, also nicht wundern, falls Blut kommt, das geht gleich wieder vorbei. Oh, und warte, wenn du kommst, ja? Dann musst du auf jeden Fall ganz rein, damit ich mich nicht verschlucke. Ich meine, du willst doch, dass das Zeug am Ende in meinem Magen landet, oder? 26 Der psychische Aspekt zeigt sich im Kontrast dazu in einer umfangreichen Se‐ xualisierung von Gedanken, Erinnerungen und Sprachspielen, die ebenfalls von Natalies Perversion zeugen. Es sei nur am Rande darauf verwiesen, dass allein schon Natalies Username im Kommunikationsprogramm Skype - nomen est omen - ‚NatalyaFuckpig‘ 27 lautet, also einen starken vulgären Sexualitätsbezug enthält. Gleichwohl kann man auch für das psychische Ausmaß der Erotisierung Belege angeben, wie Nachstehendes deutlicht macht: Nichts war so angenehm wie das Gefühl von Loslösung und Geborgenheit nach einer erfolgreichen Nachtstreunerei entlang der dunklen Radwege. […] [S]ie [Natalie - M. J.] fühlte sich zuhause in ihrer Kleidung, bewegte sich mit ihr statt bloß in ihr, und ihr Mund und ihr Kiefer erinnerten sich an die Bewegungen, die sie die letzten zwei, drei Stunden ausgeführt hatte: Es war dasselbe Prinzip wie in einem Sessellift oder einem Flugzeug. Hatte man zum Beispiel einen mehrstündigen Flug hinter sich und lag am Abend zuhause im Bett, dann war der Körper irgendwie immer noch im Flug‐ zeug, reproduzierte das Hin-und-her-Rollen im Jetstream, die Anflüge von Schwere‐ losigkeit und das sanfte Hineingepresstwerden in den Sitz. Es war genau dasselbe Prinzip, nur eben mit Blowjobs. Gott, wie lächerlich. Lippen- und Mundhöhlenge‐ dächtnis. 28 Hierzu noch ein weiteres Beispiel, in dem Sexvorstellungen die Oberhand ge‐ winnen: Nach der Arbeit hatte sie nur einen Gedanken. Betäuben, sich ausklinken, die eigene Haut ablegen, irgendetwas anderes spüren. Trinken. […] Was auch immer. Whatever. 317 Anormalität als Normalität 29 Ebd., S. 763. 30 Ebd., S. 273. 31 Ebd., S. 274. 32 Ebd. Das Beste wäre jetzt, einfach gevögelt zu werden. Gleich so, wie sie war, ohne Klei‐ derausziehen und Kennenlernen. Richtig durchgefickt. 29 So werden Natalies Überlegungen und Erinnerungen oftmals durch sexualisierte Assoziationen begleitet. Erinnert sie sich z. B. an einen Sommer in den Schulfe‐ rien, dann ruft sie sich ins Bewusstsein, wie ihr Jugendliche das Sexspiel ‚Cum-Cookie‘ zeigten, bei dem es - um mit Setz zu sprechen - um Folgendes ging: „Man onanierte und spritze immer auf dieselbe Stelle ab, und dann wurde mit der Zeit ein kleines Medaillon daraus.“ 30 Das interessante aber an dieser „Ekel-Zärtlichkeit“ 31 , wie sie in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre bezeichnet wird, ist Natalies Haltung dazu, die zwischen Erstaunen und Wissbegierde driftet, aber überhaupt keine Abneigung erzeugt. Dabei ist gerade ihr Versuch der Deutung dieser speziellen sexuellen Spielart interessant, wenn etwa Setz folgendermaßen Natalies Verständnisdimensionen expliziert: Jahre später entwickelte Natalie dazu eine Theorie: Wenn junge Männer merken, dass sie beim Sex zu früh zum Höhepunkt kommen, müssen sie - so schreibt es ihnen die Etikette vor - in ihrem Kopf brutal an den Zügeln reißen und schnell an etwas un‐ glaublich Ekelhaftes denken, damit die Frau aufholen kann: ein säurezerfressenes Ge‐ sicht, Inzest mit den eigenen Eltern, ein von Krankenhausschläuchen durchbohrter Körper. Im Augenblick des nahenden Orgasmus jahrelang an solche Dinge zu denken - erklärt sich daraus vielleicht die so oft bejammerte Vorliebe von Männern für brutale, unwahrscheinlich ekelerregende Vorgänge? Ihre Höflichkeit gegenüber Frauen, die ihnen so wichtig sind wie sonst nichts auf der Welt, hat möglicherweise zu diesem verhängnisvollen Kurzschluss geführt. Und er wurde dann evolutionär weitergegeben. Denn derjenige, der an ekelhafte körperliche Dinge schon früh mit größerer Selbstverständlichkeit und Zärtlichkeit denkt, ohne dass sie ihn wirklich zum Kotzen bringen, kann den Zügel-Trick natürlich nicht anwenden, kommt also zu früh - und schwängert eine Frau nach der anderen. Natalie wusste: Irgendwo war da ein Knoten in der Argumentation. Aber sie hatte ihn nie gefunden. 32 Um zu einer generalisierbaren Aussage zu kommen, kann Folgendes festge‐ halten werden: Das sexuelle Erleben hat für die Protagonistin eine allgemein-motivierende Funktion und ist ein prägender Teil ihres Lebens. Als Interpretationsansatz ist denkbar, dass hierbei auf die Dominanz niederster sexueller Triebe beim Men‐ 318 Maciej Jędrzejewski 33 Ebd., S. 168. schen hingewiesen wird, obwohl sich Setz’ Akteure in einer technologisch und gesellschaftlich hoch entwickelten Kultur befinden. Symbolisch wird der tech‐ nische Fortschritt durch Natalies Technikbegeisterung ausgedrückt, insbeson‐ dere durch die ständige Benutzung ihres iPhones. Insofern wird - in Anlehnung an meine am Anfang angefügten theoretischen Überlegungen - ein kontrastie‐ rendes Bild der literarisierten gesellschaftlichen Realität präsentiert, die simultan technokratische und stark animalische Züge aufweist. Insofern könnte man in‐ terpretativ weiter feststellen, dass die Technokratie zur Animalität und auch zur Irrationalität des Menschen führt. Mit anderen Worten: Der Schriftsteller will aufzeigen, dass das Tierische im Menschen niemals aufhören wird. Überdies wird nicht mit den Trieben ‐ gekämpft, sondern im Gegenteil, man will sie möglichst oft erforschen, ausleben, intensivieren und neue ausgetüftelte sexuelle Praktiken finden. So fragt sich Natalie z. B.: „Wie schwer war es wohl, zu dieser Musik [Benny-Hill- Themen-Melodie, M. J.] zu masturbieren? “ 33 Derartige Ideen sind für die Haupt‐ figur signifikant, sie werden gesucht und herausgefordert. Infolgedessen werden die spezialisierten sexuell-erotischen Handlungen einerseits zu per‐ versen Handlungen, andererseits aber aufgrund ihrer ständigen Wiederholbar‐ keit zur Konvention. Genau diese Konstellation und Kontraststellung ist - wie bereits mehrmals angedeutet - repräsentativ für Setz’ Literatur, sie bildet den vom Autor angestrebten künstlerischen Ausdruck und offenbart das eben auf‐ gezeigte kritische Potential seiner Werke. Interessant ist in diesem Sinne aber auch, wie begeistert die Figuren zugleich von den technischen Errungenschaften sind, die in einem bestimmten Verständnis auch eine Dehumanisierung zur Folge haben, wenn etwa in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre über das Chatten als Form der menschlichen Kommunikation zu lesen ist: Chatten war wie eine Sprache, in der man nicht heulen und auch nicht ohnmächtig werden konnte, oder nur indirekt. Man musste es anzeigen, aber dann war es schon nicht mehr echt. Es war möglich, nebenher etwas anderes zu tun, das für den Ge‐ sprächspartner unsichtbar blieb: Stricken, lautes Singen, Müsli essen mit gleichzeitiger Selbstmassage der Kopfhaut, Petersilienbüschel frisieren. Man war so frei wie der erste Mensch. Und doch kam eine echte Unterhaltung zustande - und noch dazu eine mit perfektem Gedächtnis! Wo hatte man das sonst? Man konnte im Gesprächsverlauf zurückgehen, und da stand alles schwarz auf weiß. Es gab nie diesen saudummen Moment, wenn einer sagt: So hab ich das nicht gesagt - und man sich dann streiten musste, wer recht hatte. Es war ganz einfach: scroll… Ein rasender Expresslift durch Hunderte Gesprächsstockwerke, bis zum richtigen Satz. Es gab nur Oberfläche, und 319 Anormalität als Normalität 34 Ebd., S. 490. 35 Ebd., S. 228. 36 Ebd., S. 1001. 37 Ebd., S. 811. das war die größte Errungenschaft überhaupt. Man konnte sich nicht abwenden. Das heißt, man konnte schon, aber es war sinnlos, nicht mehr als ein kleiner, nur einen selbst unterhaltender Tanzschritt. 34 Nicht vergessen werden darf, dass die pessimistische Gesellschaftsvision in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre als Marketingmechanismus gedeutet werden kann. Denn das, was Setz darstellt, kann Spannung und Willen des Verständ‐ nisses wecken, kurbelt in diesem Sinne die Verkaufszahlen an, so dass der Schriftsteller im Endeffekt von seiner Literatur leben kann. Andererseits kann der kulturkritische Akzent aber Unsicherheit und Angst hervorrufen, weil die Aussagekraft des Werks darin verborgen ist zu offenbaren, dass Perversion, Ir‐ rationalität und niederste Triebe Kontrolle über die Menschen erlangen. Man scheint sich in eine Zeit der Dehumanisierung zurückzuentwickeln, obwohl die gesellschaftliche Entwicklung weit fortgeschritten ist. Das ist auch - wie schon angemerkt - der kritische Impetus von Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Es geht dem Schriftsteller darum zu zeigen, was passiert, wenn Menschen in hoch‐ modernen Gesellschaften durch tierische Instinkte geleitet werden. Um es mit den Worten von Setz zu sagen: „Menschen sind grausame Aliens“ 35 und „der menschliche Geist sei manchmal echt unheimlich, richtig creepy, richtig scary.“ 36 Diese Urinstinkte werden immer wieder sichtbar. Setz versuchte es mit fol‐ gendem Beispiel zu argumentieren: Also, es gebe da ein bestimmtes Muskelkrampf-Phänomen bei Patienten mit multipler Sklerose oder mit Verletzungen des Gehirnstamms, erklärte Marcel. Diese Krämpfe bestehen aus einer stunden-, manchmal sogar tagelang anhaltenden Vibration des Gaumensegels und anderer Muskelstränge. 120 beats per minute. Drrrrr. Gaumense‐ gelnystagmus laute der Name oder branchialer Myoklonus. Und dieses Vibrieren ent‐ spreche genau der Bewegung, die Fische mit ihren Kiemen machen. Es sei also nichts anderes als der urzeitliche Fisch in uns, der, geweckt durch eine tiefe, an seine seit Jahrmillionen verschüttete Seele rührende Verletzung, vergeblich nach Luft zu schnappen versuche. 37 Es ist deshalb Thomas Andre durchaus zuzustimmen, als er in seiner Rezension Stalking-Roman von Clemens J. Setz. Was seid ihr kaputt über den Roman Fol‐ gendes schrieb: 320 Maciej Jędrzejewski 38 Thomas Andre, „Stalking-Roman von Clemens J. Setz. Was seid ihr kaputt“, URL: http: / / www.spiegel.de/ kultur/ literatur/ stalking-roman-von-clemens-setz-stunde-zwischen-frau-und-gitarre-a-1051228.html (letzter Zugriff am 5. Dezember 2016). 39 Vgl. Setz, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, S. 1021. 40 Ebd., S. 454. Setz hat die Ästhetik des Unheimlichen nachhaltig in der deutschsprachigen Gegen‐ wartsliteratur verankert. Seine erzählerischen Tableaus sind stets auf überzeugende Weise auf eine bestimmte Form des intellektuellen Grusels ausgelegt. 38 5. Ausblick Es wäre zudem interessant zu untersuchen, inwieweit sich das in der Danksa‐ gung des Romans angedeutete „Elsterntum“ 39 auf das Erotische bezieht, d. h. wie viel Epigonentum und Pionierarbeit Die Stunde zwischen Frau und Gitarre im literaturgeschichtlichen Vergleich zu anderen Werken in Bezug auf die hier un‐ tersuchte Thematik beinhaltet. Das wäre eine eigene Publikation wert. Man kann aber davon ausgehen, dass Setz als ehemaliger Germanistikstudent dazu prädestiniert scheint, aus dem reichen Reservoir der vielfältigen künstlerischen Bearbeitungen des Erotischen zu schöpfen, die von der antiken Dichtung bis hin zu neuesten literarischen Strömungen wie der Popliteratur reichen. Das wird umso deutlicher, wenn man sich die Gedanken der Figur Markus Haase vor Augen hält, die im folgenden Zitat zum Sprachrohr des Schriftstellers gemacht wurde, wenn sie etwa die innige Hochschätzung von Schriftstellern ausdrückt: Für Markus waren seine Lieblingsautoren eine spezielle Untergattung der Menschheit, die sich so weit in das Mysterium des Lebens hineingewagt hatten, dass ihr Tod einen persönlich angriff und schmerzte, als verlöre man einen alten Freund. Diese Leute waren ganz allein mit ihren Gedanken über das Sonnensystem und die merkwürdige Einrichtung der Lebensphasen und mit ihrer Angst vor dem Tod spätnachts, aber man wusste das über sie, weil sie es aufschrieben und pausenlos weitererzählten, während man über die meisten anderen Menschen nur Vermutungen anstellen konnte. 40 Bibliographie Thomas Andre, „Stalking-Roman von Clemens J. Setz. Was seid ihr kaputt“, URL: http: / / www.spiegel.de/ kultur/ literatur/ stalking-roman-von-clemens-setz-stunde-zwischen-frau-und-gitarre-a-1051228.html (letzter Zugriff am 5. Dezember 2016). 321 Anormalität als Normalität Horst Daemmrich / Ingrid Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur, Francke Verlag, Tübingen / Basel, 1995. Der Literatur Brockhaus, Bd. 1-3, F. A. Brockhaus GmbH, Mannheim, 1988. Erwin J. Haeberle, Die Sexualität des Menschen, Walter de Gruyter, Berlin / New York, 1985. Thomas Hecken, Gestallten des Eros. Die schöne Literatur und der sexuelle Akt, Westdeut‐ scher Verlag, Opladen, 1997. Maciej Jędrzejewski, „»Es geht generell sehr viel um Freiheit« - Ein Interview mit dem österreichischen Schriftsteller Clemens Setz“, in: Studia Niemcoznawcze - Studien zur Deutschkunde, Bd. 56, 2015, S. 311-327. Maciej Jędrzejewski, „Zwischen Gesellschaftskritik, Provokation und Pornografie. 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Wer ist hier eigentlich krank? “, URL: http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ rezensionen/ belletristik/ clemens-setz-die-stunde-zwischen-frau-und-gitarre-13782080.html? printPagedArticle=true#pageIndex_2 (letzter Zugriff am 5. Dezember 2016). Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Kröner, Stuttgart, 2001. Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Bd. 2, Harenberg Lexikon-Verlag, Dortmund, 1989. 322 Maciej Jędrzejewski 1 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, hrsg. von Albrecht Schöne, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1994, S. 464. 2 http: / / universal_lexikon.deacademic.com/ 224920/ Das_Ewigweibliche (letzter Zugriff am26. März 2017). Eine tiefgründigere Deutung dieses Begriffes unternimmt Albrecht Schöne in seinen Kommentaren zu den zwei Teilen von Faust. Bei Schöne heißt es: „Nicht um eine an die Geschlechter gebundene und sie unterscheidende Zuordnung geht es in der Chorus mysticus-Rede vom Ewig-Weiblichen, sondern […] eher wohl um die Zusammenführung komplementärer Grundverhaltensweisen zu einer Totalität des Menschen. Während im Binnenspiel der Tragödie das irrend Strebende, Tätige und Ge‐ waltsame doch geradezu als ein ‚Ewig-Männliches‘ dargestellt wird, offenbart sich die gnädige, hilfreiche, rettende Liebe hier im Gleichnis des Ewig-Weiblichen: »unter einer weiblichen Form«.“ Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, kommentiert von Albrecht Schöne, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1994, S. 817. „Frauen sind für ihn die geheimnisvollste Gattung unter den Haustieren“ Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs Roman Morphin Rafał Biskup (Wrocław) 1. Einführung „Das Unbeschreibliche, / Hier ist‘s getan; Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.“ 1 Über das Goethesche „Ewig-Weibliche“ erregten sich nur allzu oft die Gemüter von Wissenschaftlern und Faust-Interpreten. Welche Bedeutung Goethe dem „Ewig-Weiblichen“ beimisst, erklärt sich allein schon durch die Tatsache, dass er mit diesem Ausruf sein Lebenswerk abschließt. Das online Universal-Lexikon deutet das Ewig-Weibliche auf zweierlei Weise: Die Bezeichnung »das Ewigweibliche« knüpft an die unmittelbar vorhergehende An‐ rede des Doctor Marianus an die Mater gloriosa an: »Jungfrau, Mutter, Königin,/ Göttin«. Heute wird oft der weitere Kontext »Das Ewigweibliche zieht uns hinan« zitiert, wobei meist sehr vordergründig die Anziehungskraft der Frauen angesprochen wird, die die Männer zum Streben nach Höherem anspornt. 2 3 Szczepan Twardoch wurde am 23. Dezember 1979 in Żernica (Deutsch Zernitz) in Ober‐ schlesien geboren. Heute lebt und arbeitet er in Pilchowice (Pilchowitz). Nach dem Roman Morphin erschien im Rowohlt-Verlag auch die Übersetzung seines Romans Drach (2016), für Anfang 2018 ist die Veröffentlichung des Romans Der Boxer (Król, 2016) geplant. Twardoch definiert sich selbst nicht als Pole, sondern als in polnischer Sprache schreibender Schlesier. 4 Szczepan Twardoch, Morphin, Rowohlt Verlag, Berlin, 2014. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. 5 Ebd., S. 87. 6 Marta Kijowska, „Die Sprache in mir“, in: Neue Züricher Zeitung vom 2. Juni 2014, S. 31. Bei der Auseinandersetzung mit den Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs 3 Roman Morphin  4 würde sowohl die erste wie auch die zweite Deu‐ tung des „Ewig-Weiblichen“ in der angeführten Definition zutreffen, was der folgende Aufsatz veranschaulichen und beleuchten soll. Frauen sind für ihn die geheimnisvollste Gattung unter den Haustieren: nur halb ge‐ zähmt, zur Wildheit neigend, bedrohlicher als ein unkastrierter Hengst, fürchterlicher als ein tollwütiger Hund. Es braucht einen Mann, um sie zu zügeln, so wie es Mut, Erfahrung und Selbstsicherheit braucht, um ein Rennvollblut sicher zu besteigen. 5 So behandelt Konstanty Willemann, der Hauptprotagonist des Romans Morphin, das weibliche Geschlecht. „Es braucht einen Mann, um sie zu zügeln […]“. Ei‐ gentlich. Denn umso mehr man sich in die Handlung hineinvertieft und die um Willemann kreisenden Frauen kennenlernt, umso mehr bekommt man als Leser den Eindruck, dass der Hauptprotagonist kein aktives Subjekt, sondern ein pas‐ sives Objekt seiner Handlungen, Gedanken, ja seines ganzen Wesens ist. Es sind Frauen, die Träger von Sinngehalten und Bedeutungen sind, und es ist das Weibliche, das das männliche Handeln - besonders des Haupthelden - bedingt. Der Eros ist die zentral einwirkende und alles prägende Kraft. Am Beispiel von Konstanty Willemann werden einzelne Einwirkungsachsen des Weiblichen konstruiert, die auf verschiedenen Ebenen auf den Hauptprotagonisten ein‐ wirken. Und auch wenn Frauen im Roman oft als das schwächere Geschlecht dargestellt werden, ist eben das Weibliche die bedeutungstragende Kraft. 2. Weiblichkeitsdarstellung in Szczepan Twardochs Morphin Konstanty Willemann lernt der Leser im September 1939 kennen, als Warschau von Nazideutschland besetzt ist. Er ist „ein demobilisierter Reservist, ein Mor‐ phinist, innerlich unruhig, zerrissen zwischen Ehefrau und Geliebten“ 6 , ein dro‐ genabhängiger Dandy, der sich in dieser äußerst schwierigen Zeit zurechtzu‐ finden versucht. Diese ‚Auffindung‘ wird durch seine Identitätszerrissenheit 324 Rafał Biskup 7 Ebd. [Hervorhebungen: R. B.]. 8 Twardoch, Morphin, S. 79-80. 9 Kijowska, „Die Sprache in mir“, S. 31. erschwert, da Willemann sich aufgrund seiner deutsch-schlesischen Abstam‐ mung nur schwer zum Polentum bekennen kann - und will. Die Konstellationen der weiblichen Protagonisten tragen zu diesem ‚Identitätschaos‘ maßgeblich bei. In Rezensionen des Romans wird immer wieder - und zurecht - die bedeu‐ tungstragende Rolle der Frauenfiguren im Verhältnis zum Hauptprotagonisten hervorgehoben. In der bereits erwähnten Rezension aus der „Neuen Züricher Zeitung“ wird Willemann wie folgt beschrieben: Willemann ist also eine höchst irritierende und zugleich tragische Gestalt, zerrissen zwischen seinem preussischen Vater und seiner schlesischen, doch fanatisch für das Polentum votierenden Mutter, zwischen den Zwängen des Familienlebens an der Seite der starken und reinen Hela und den Verlockungen des Nachtlebens, personifiziert durch die dämonische Kurtisane Sala. 7 Twardoch skizziert in Morphin also eine Art ‚Weiblichkeitsachse‘, zu der die eben genannten drei Protagonistinnen gehören: Willemanns Ehefrau, Helena Wille‐ mann; Salomé, eine jüdische Prostituierte, deren Körperlichkeit der Hauptpro‐ tagonist hemmungslos verfällt; Konstantys Mutter, „Katarzyna Willemann, primo voto Strachowitz von Gross-Zauche und Camminetz de domo Wille‐ mann“. 8 Die Bildung dieser ‚Weiblichkeitsachse‘ ist an sich nur den Schwächen, Abhängigkeiten, ja einer Art innerer Leere des Haupthelden zu verdanken. Marta Kijowska äußert sich über Willemann und die Frauen so: Nicht zufällig ist sein [Twardochs] Protagonist ein in jeder Hinsicht schwankender Mensch - ein gescheiterter Künstler, ein untreuer Ehemann, ein schlechter Vater, ein falscher Freund. Ein Mann ohne Eigenschaften, den die eigene Persönlichkeits‐ schwäche schlaflose Nächte kostet: „[…] Warum bin ich ein Mistkerl, ein Schwein, eine moralische Null, ein gemeiner Hund […] Ich trinke, berausche mich und zeichne Weibsbilder und jede nackte Frau, die ich zeichne, ist meine Besiegerin.“ Letzteres gilt für alle Frauen, die Willemann umgeben, von der schizophrenen Mutter bis zu der kokettenhaften Geliebten. 9 In der Sonntagsausgabe der „B. Z.“ vom 27. April 2014 wurde Morphin zum „Buch der Woche“ gekürt. In einer Kurzdarstellung des Romans liest man: Polen 1939: Das Warschau dieses Romans ist eine sündige Stadt. Ex-Offizier Konstanty Willemann hat eine schöne Frau und einen kleinen Sohn. Doch das Familienglück ist 325 Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs Roman Morphin 10 „Buch der Woche“, B. Z. am Sonntag vom 27. April 2014. 11 Ina Hartwig, „Kein ganz gewöhnlicher Freier“, in: Die Zeit vom 10. April 2014. 12 Es handelt sich um das Gedicht „Katechizm polskiego dziecka“ [„Katechismus eines polnischen Kindes“] von Władysław Bełza, das jedoch unter dem Titel „Kto ty jesteś? Polak mały“, den Anfangsversen des Gedichtes, bekannt ist. Konstantys Empörung kann noch die Tatsache steigern, dass die letzte Frage des Gedichtes „Was bist du ihm [Polen] schuldig? “ vom „polnischen Kind“ beantwortet wird: „Die Opferung meines Lebens.“ Willemanns Sohn ist der einzige Lebenssinn des Protagonisten, und dass sein Kind das Leben opfern sollte, ist für Willemann unvorstellbar. weit entfernt. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs flüchtet sich der Deutsch-Pole in die Arme der Hure Salome und in die Abhängigkeit von einer zersetzenden Droge. 10 Mit der „Sündigkeit“ Warschaus lag der Autor der Skizze auf jeden Fall richtig, worauf noch später hingewiesen wird. Nur oberflächlich dagegen skizziert er das Ehefrau-Prostituierte-Schema. Mit Helena wird der „kleine Sohn“ assoziiert wie auch das „Familienglück“, mit der Prostituierten Salomé die „Abhängigkeit von einer zersetzenden Droge“. Dies ist jedoch ein etwas verfälschtes Schema. 2.1 Helena Willemann - zwischen Eros und Nation „Hela, die saubere, spröde, aus stolzem nationalpolnischem Hause stammende Ehefrau, die Konstanty entweder gar nicht liebt oder nur sporadisch“ 11 , heißt es in einer Rezension von Ina Hartwig. Mit der Feststellung der sporadischen Liebe Helena Willemanns zu Konstanty liegt Hartwig vollkommen richtig, denn Hela verkörpert nur sporadisch die Geborgenheit und Wärme einer liebenden Ehefrau und fürsorgenden Mutter. Meistens sieht der Leser in ihrer Gestalt das Bild des traumatisierten und durch den Angriff von Nazideutschland verwundeten Po‐ lentums. Ihren Lebenssinn erblickt Helena vor allem auf zwei Ebenen: a) in einer aktiven Teilnahme am polnischen Freiheitskampf, und b) in der patriotischen Erziehung ihres Sohnes, Jureczek. Das Beibringen patriotischer Gedichte ist für Helena das Selbstverständlichste, obwohl sie damit den Unmut Konstantys weckt und sich und ihre Familie gleichzeitig in Gefahr bringt: Ein Gedicht aufsagen. Hela bringt ihm »Wer bist du? « 12 bei, ich hatte nicht mal Lust zu protestieren, obwohl es schrecklich dumm ist, richtig verantwortungslos in solchen Zeiten, einem Dreijährigen so furchtbaren Kitsch einzutrichtern. Ein Dreijähriger ist noch kein Pole, ein Dreijähriger ist kaum ein halber Mensch, ein halbes Tierchen, verrücktes Äffchen, kein Pole. Aber Hela meint, das sei wichtig. Soll sie es ihm bei‐ bringen, soll es beim Großvater oder der Großmutter hören, die jeden zweiten Tag zu Besuch kommen und ihn mit ihrem patriotischen Geseiche volllabern. Pflicht. Polni‐ 326 Rafał Biskup 13 Twardoch, Morphin, S. 28. 14 Ebd., S. 103. 15 Ebd., S. 104. 16 Ebd. sche Frau, Mutter, Hygiene. Künftige Generationen. Die Kinder sind das Wichtigste, sind die Zukunft des Volkes. 13 In Konstantys Augen (und wohl in den Augen der meisten Leser) definiert sich Helas Weiblichkeit einzig und allein durch ihren ‚reinen‘, sterilen Patriotismus. Ihre Körperlichkeit wird mit der Mutterschaft gleichgesetzt, die Mutterschaft wiederum ordnet sich dem Wohle und Nutzen der eigenen Nation unter. Diese Tatsache führt der Ehemann auf die patriotisch-konservative Erziehung des El‐ ternhauses zurück, die die Weiblichkeit der Tochter „erstickt“ habe. Infolge‐ dessen scheint Helena den Eros geradezu unterdrücken zu wollen / müssen. Der Schoß seiner „eugenischen Frau“ sei, so Willemann, „so rein wie ein polnischer Altar“, „wie eine Blumenwiese“. 14 Lust, Begierde, Verlangen meidet Helena um jeden Preis: Hela bei der Kopulation: auf dem Rücken, das Gesicht zur Seite gedreht, umfasst meinen Hals, keine Küsse - denn Küsse sind rein, gehören also zu einer anderen Welt -, mit den Beinen umfängt sie meine Hüften und nimmt mich auf, so passiv, willenlos und rein, sie zittert nicht einmal, Hela gestattete mir eher, etwas mit ihr zu tun, als dass sie etwas mit mir getan hätte, und nur manchmal, am Schluss, lief ein Schauder, den sie zu unterdrücken suchte, durch ihren Körper wie ein ferner Ruf jener anderen Weiblichkeit, die die Erziehung in ihr erstickt hatte. 15 Es ist eben nicht Helas Körperlichkeit selbst, die Konstanty abschreckt, sondern Helas Verhältnis zu ihrer Körperlichkeit. Vor dieser Sterilität, vor dieser - vor allem körperlichen, aber / infolgedessen ebenfalls emotionalen - Unerreichbar‐ keit flieht der Hauptprotagonist: Am Anfang reichte mir Einfaltspinsel das, aber später lernte ich die nuttigen Kunst‐ stückchen kennen, das geile Winden und Stöhnen, das dreckige Wackeln mit dem Hintern und die verdorbenen Zärtlichkeiten, die säuisch geschickten Händchen auf meinem Körper, das ganze falsche Spiel, und doch, wie wohl tut es, wenn so mit einem gespielt wird. 16 Die Fähigkeit zur körperlichen Hingabe ist bei Helena vorhanden, diese Hingabe macht sie jedoch von äußeren Umständen abhängig, in erster Linie von der konspirativen Aktivität Konstantys: 327 Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs Roman Morphin 17 Ebd., S. 174-176. 18 „Ich werde nass. Würde mich gern im Schokoladenhaus in mein Bett legen, hätte gern, dass die einzige Frau, die ich geliebt habe und liebe [Hervorhebung: R. B.], am Kopfende dieses Bettes sitzt und mir das Haar streichelt und mit leiser, tiefer Stimme zu mir sagt, alles wird gut, hätte gern, dass meine Mutter verschwindet - und meine Salomé, das Morphin, der Krieg, Polen […]“ (ebd., S. 151). 19 Ebd., S. 33. 20 Ebd., S. 173. Ich werde konspirieren, Pläne aushecken, und wenn nötig, werde ich töten. Für Polen. […] Deine Frau schlüpft unter deine Decke, Kostuś. Warum hast du so wenig von ihr gehalten? Fünf Jahre Ehe sind nicht wenig, hat sie dir nicht viel Gutes gegeben? Ihre schmalen, schlanken Hände auf deinem nackten Bauch, weiter unten, sie be‐ rühren deine fragwürdige, erschöpfte Männlichkeit, in Hurenleiber getaucht, und ob sie es weiß oder nicht, du hast es ja nicht gesagt, aber so viele Male kamst du nach Hause mit den Kratzern von Hurenfingernägeln auf dem Rücken, mit den Malen der Hurenlippen am Hals, und so lange hast du sie überhaupt nicht anrühren wollen, angewidert hat dich ihr Körper, weil er gut und rein war, vor allem aber deshalb, weil sie ihn für dich aufbewahrt hatte. Sie hat dir ihre erschrockene, schmerzlose Jung‐ fräulichkeit gegeben, erst nach der Trauung, und du hast sie besudelt, indem du mit all diesen Nutten schliefst, Kostek. […] Und wie hat sie sich dir hingegeben? Das hatte nichts von der schmutzigen Suche nach eigener Lust, nein. Sie hat dich in sich aufgenommen, hat nichts gesucht, nichts von dir gewollt, wollte dir nur sich selbst geben und hat es getan. 17 Konstantys und Helenas Gefühle zueinander unterscheiden sich in ihrem Wesen. Neben Konstantys Liebe 18 (zeitweise aber auch Begierde: „Sogar meine Liebe zu Hela, zu ihrem Leib, gesund wie eine griechische Skulptur.“) 19 gehen ständige Untreue, Besuche bei Prostituierten und das Vernachlässigen familiärer Pflichten einher, seine Liebe zu Helena ist jedoch zwecklos, mit seiner Ehefrau assoziiert er einzig und allein die Wärme und das Geborgensein eines Zuhauses: Nach Hause, schlafen. Dort ist kein Krieg. Gibt es keine Deutschen. Keine Leichen und keine Schüsse, nur Hela, meine wunderbare Hela, die mich über alles liebt und die ich liebe, und Jureczek. […] Wie falsch du sie eingeschätzt hast, Kostek, hast sie vor dir selber angeschwärzt, hast die Liebe dieser guten Frau befleckt nicht nur durch Salomés Schmutz, sondern auch mit bösen Gedanken. Und sie streift dir jetzt die Jacke ab, knöpft die Krawatte auf, Hemd und Hosenschlitz und zieht dir alles vom Leib, der noch nach böser Hure riecht, und sie sieht, dass du nicht geschlafen hast, deshalb geleitet sie dich behutsam ans Bett, legt seinen wunden Leib auf das kühle Laken, es ist kalt in der Wohnung […]. 20 328 Rafał Biskup 21 Ebd. [Hervorhebung: R. B.]. 22 Ebd., S. 174. [Hervorhebung: R. B.]. 23 Ebd., S. 99. 24 Ebd., S. 100. Helena Willemann lässt Intimität nur gewähren, wenn sie mit gewissen poli‐ tisch-konspirativen Taten des Hauptprotagonisten einhergeht und dem damit verbundenen Risiko und der Lebensbedrohung. Dazu kann die Ablieferung eines sehr wichtigen Pakets zählen, die durch die Abstammung und die Deutsch‐ kenntnisse Konstantys ermöglicht wird: Keine Fragen. Sie weiß sofort, sie sieht, dass ich das Paket abgeliefert habe, doch jetzt verstehe ich: Das interessiert sie gar nicht. Sie hat mich nur darum gebeten, weil ihr Vater sie gebeten hat, mein eugenisch-hygienischer Schwiegervater, deshalb freut sie sich, dass ich es getan habe, aber nicht dafür liebt sie mich. 21 ‚Doch, genau dafür liebt sie dich! ‘, möchte man an dieser Stelle den Gedanken Konstantys erwidern. Die Liebe Helas wird immer durch äußere Umstände be‐ dingt, in erster Linie durch den polnischen Widerstandskampf. Es ist diese „spo‐ radische Liebe“, von der bei Ina Hartwig die Rede ist. Nur wenige Sätze später stellt Konstanty fest: Helena liebt mich so, wie ich bin, sie ist nicht ihr eugenisch-hygienischer Vater. Helena würde mich auch als Verräter, als Abtrünnigen lieben. Sogar als Deutschen würde sie mich lieben. Nein, als Deutschen vielleicht nicht, aber das ist unwichtig. 22 Der hervorgehobene Satz mag für den Leser etwas ironisch klingen, jedoch schildert er die wahre Gefühlslage Helenas, die eher einen „Verräter“ oder „Ab‐ trünnigen“ lieben würde als einen Deutschen. „Vaterland ist Blödsinn“ 23 , sagt Twardoch aus dem Mund seines Hauptprotagonisten. Dieser Satz steht im deut‐ lichen Gegensatz zu der Wahrnehmung der Nation bei Helena, die ihr gesamtes Leben - samt ihrem Eros - der Nationalfrage unterstellt. Helas „glücklichster Augenblick [ihres] Lebens“ war der Moment, als Konstanty, „ihr Ehemann, Pole und Offizier“ in den Krieg aufbrach, „da stieg er ein, der Ulan, da fuhr er hin im Zug zum Krieg. Fallen kann der Ulan oder einen Orden nach Hause bringen“. 24 Sowohl ihre Liebe zu Konstanty aber auch ihre Begierde erreichen in diesen Stunden - wortwörtlich - ihren Höhepunkt: Damals notierte Hela sich im Gedächtnis jede Sekunde dieser Begegnung, die kleine Uhr an ihrem Handgelenk zählte die Sekunden, und Hela schrieb mit in Gedanken, später in ihrem kleinen Tagebüchlein. Mit schmalen, eleganten Buchstaben wird sie geschrieben haben, wie sie heute Kostek verabschiedet hat, auch von ihrer inneren 329 Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs Roman Morphin 25 Ebd. [Hervorhebungen: R. B.]. 26 Ebd., S. 221-222. [Hervorhebungen: R. B.]. 27 Ebd., S. 223. Zerrissenheit, einerseits die Liebe, andererseits Polen, dass sie mich gern dabehalten hätte, aber Polen überlassen musste […] Das helle Fenster hat durch die Lider ge‐ leuchtet, und sie hat sich selbst gespürt, so zufrieden von ihrem Drama, so glücklich mit sich als Polin, dass ihr reiner Schoß Polen den kleinen Jureczek schenkte und ihr reines Herz mich Polen gegeben hat. 25 Genau in dem Augenblick, als Konstanty die Entscheidung fällt, für den polni‐ schen Widerstand ins Feld zu ziehen, entfacht sich in Helena eine bis dahin für ihn noch nie gekannte Lust und Verlangen: Sie knöpft mein Hemd auf, dieses Opfer muss man bringen, ich erkenne sie gar nicht wieder, sie küsst meinen Hals, kein Mann wird sie berühren, wir werden uns treffen, Kostek, und was ist mit Jureczek? Jureczek erzählen wir eine kleine Lüge, dass der Papa wegfahren musste, und wenn die Kinder auf dem Hof ihm sagen, der Papa ist ein Scheißdeutscher geworden, dann lasse ich ihn nicht mehr auf den Hof, Kostek, sie küsst meinen Bauch, wie sie ihn nie geküsst hat, liebkost meinen Körper, wie noch nie, liebkost mich so, als wäre sie ein Mann und ich die Frau, die es zu entflammen gilt, doch du wirst ihn sehen können, wenn er schläft, Kostek, du wirst ihn zudecken, und später, nach dem Krieg, sagen wir ihm alles, und er wird einen Helden zum Vater haben, sie knöpft mir die Hose auf, zieht sie vorsichtig herunter, zieht meine Unter‐ wäsche aus, ich bin gespannt, ob sie mich so küssen wird, wie mich bis jetzt nur Salomé geküsst hat, sie nimmt mich in die Hand, und ihr Blick trifft meine Augen, wenn ich sie jetzt ermuntern würde, würde sie, aber ich will nicht, ihr Mund soll rein bleiben, also ziehe ich sie hoch zu mir, sie küsst mich auf den Mund, ich würde dich lieben, Kostek, sogar wenn du wirklich ein Deutscher werden würdest, denn du bist meine ganze Welt, ich könnte dich nicht nicht lieben, mich gibt es ohne dich nicht, Ko‐ stek. 26 Nach dem Geschlechtsakt kommt Helena jedoch schnell zum Kern der Sache: „»Nie habe ich dich so geliebt wie jetzt, Konstanty. Deshalb. Aber jetzt geh, nimm die Papiere, sie sind im Arbeitszimmer, in der unteren Schreibtischschub‐ lade, nimm die Papiere und geh.«“ 27 Helenas Vorstellungen reichen sogar bis in Todessehnsüchte, in denen sie Konstanty opfert. Das Wohl der Nation stellt sie über das eigene Glück: Sie war schon jetzt in diesem Augenblick bereit, eine schöne schwarze Witwe mit strengem Gesicht zu werden, falls schwarze, deutsche Vögel auf den Zug herabstoßen sollten […] So glücklich in diesem Entsetzen und wahrhaft entsetzt und wahrhaft 330 Rafał Biskup 28 Ebd., S. 100-101. 29 Mathias Schnitzler, „Vaterland ist Blödsinn“, in: Berliner Zeitung vom 3. Mai 2014, S. 10. 30 „Salas Gesicht. Schön wie die Schönheit Beiruts, Jerusalems und Damaskus’, auch wenn ihr Teint hell ist, also vielleicht eher Kalabriens, Siziliens und Kretas Schönheit, aber ihr Gesicht macht in diesen unseren Zeichnungen nichts aus.“ (Twardoch, Morphin, S. 34). 31 Ebd., S. 30. 32 Ebd., S. 31-32. glücklich, dass ich umkommen könnte, dass sie allein bleiben könnte, deshalb stand sie auf dem Bahnsteig und weinte, jede ihrer Tränen wie ein Diamant. Wie ein Bohr‐ kopf. 28 Parallelen zwischen ihr und dem Archetypus von „Matka Polka“, der „Mutter Polin“, sind unübersehbar. Helena ist jedoch keine Mutter, die beschützt, die Sicherheit spendet - im Gegenteil. Sie würde ihr Leben, das Leben Konstantys, aber auch das Leben ihres Sohnes für das Land opfern. Die blinde Hingabe an die Nation, oder mehr an den romantischen Mythos von der Opferrolle Polens in der Geschichte, verursacht, dass das Menschliche bei ihr in den Hintergrund, während das Nationale auf den ersten Plan rückt. 2.2 Salomé - Eros als Körperlichkeit „Am besten kommen noch die Prostituierten weg, ihre Gefühle sind ehrlicher als die der anderen“ 29 , so Mathias Schnitzler in einer Rezension des Romans aus der „Berliner Zeitung“. Schnitzler bringt es mit seiner Aussage auf den Punkt: die Prostituierte Salomé verkörpert - fernab der gängigen Vorstellungen über käufliche Liebe und den „ältesten Beruf der Welt“ - für Konstanty die Quintes‐ senz der Weiblichkeit und den Eros schlechthin. Es ist jedoch nicht nur das Kör‐ perliche, das ihre Persönlichkeit ausmacht, sondern ihr ganzes Wesen, ihre Stimme, ihr Blick. 30 Sie schafft es, Konstanty das zu geben, was seine Ehefrau nicht imstande ist, und - wie eben erwähnt - weit über das Körperliche hinaus‐ geht: „Begehren, Versprechen, Freude liegen in diesem Flüstern, wie immer, wenn ich zu ihr komme. Aber es ist noch etwas mehr, und das ist Liebe.“ 31 Im Verhältnis Willemanns zu Salomé spielt besonders ein Faktor eine wich‐ tige Rolle: Willemann liebt es, Salomé zu zeichnen, sie auf seinen Bildern zu verewigen. Sie ist es, die Willemann nicht nur als Liebhaber, sondern auch (oder vor allem) als Künstler ansieht: „»Aber du zeichnest mich? « Ihr Tonfall, weich wie die Steppen von Dnjestr bis zum Don. »Ja? « Sie zeigt auf die Skizze über der Tür, die erste meiner Zeichnungen von Sala, am ersten Tag unserer Bekannt‐ schaft gemacht, kurz bevor sie meine Geliebte wurde.“ 32 Dem Geschlechtsakt geht der künstlerische Akt voran. Gerade in dieser Symbiose vollzieht sich die 331 Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs Roman Morphin 33 Ebd., S. 33. 34 Ebd., S. 35. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 39. Verschmelzung von Eros und Logos. Konstanty nämlich ist ein gescheiterter Künstler (oder besser gesagt: ein Möchtegernkünstler), der sich durch seine Bilder selbst zu definieren versucht. In Salomé findet er erstens ein Zeichnungs‐ objekt, vor allem aber ist sie diejenige, die seine ‚Kunstwerke‘ zu schätzen und zu würdigen weiß, sie nicht auslacht. Willemann selbst beschreibt das erste von ihm gemalte Bild, auf dem Salomé verewigt wurde, folgendermaßen: Es ist keine gute Zeichnung, weder kompositorisch noch im Detail, kein guter Strich - aber sie erzählt die Wahrheit über Sala. Und die Wahrheit über Sala ist die Wahrheit über die Frauen überhaupt […] Alle meine Geliebten sind auf dieser Zeichnung, alle, auch wenn es gar nicht so viele waren, wie die Gerüchte der Vorkriegszeit sagen […]. 33 Es sind Archetypen der Weiblichkeit, die Willemann auf diesem einen Bild zu erkennen glaubt. Während des im Roman dargestellten Treffens malt Wille‐ mann ein weiteres Bild von Salomé. Wie oben bereits angedeutet wird der Zeichnungsakt zu einer Ankündigung des geschlechtlichen Aktes: Wenn die Kohle auf dem Karton anders zu quietschen beginnt, wenn ich die Zeichnung zu Ende bringe, hört sie das, und ihre Hüften werden regsam, und mein Blut beginnt zu perlen, und für einen Augenblick vergesse ich das Fläschchen voller Güte und Glück, denn ein Stück davon, sein Vorzeichen, erwartet mich dort, zwischen ihren weißen, fülligen Schenkeln. 34 Beide Akte, der Zeichnungsakt und der Geschlechtsakt, gehen ineinander über (Konstanty malt Salomé immer vor oder nach dem Sex). Das Zweite, was Salomé kennzeichnet, ist ihre masochistische Veranlagung, „Sala will Weisungen, Sala kann nur mit einem Mann sein, dessen Willen und Macht sie in Befehlen hört. Ein bittender, flehender Mann ist für Sala ein Un‐ mann.“ 35 Und so kommt es, dass Konstanty nicht selten gewalttätig ihr gegen‐ über wird: Ich gebe ihr eins mit der flachen Hand auf die Wange, ein Schlag wie mein eigener Sturz. Salomé auf dem Boden, das kupferne Haar dramatisch auf ihre Schultern und das Parkett wallend, als hätte sie diesen Sturz geübt, nackte Frau, bekleideter Mann, ich gehe. 36 332 Rafał Biskup 37 Ebd., S. 34. 38 Ebd., S. 105-106. 39 Ebd., S. 38-39. Aus körperlicher Gewalt schöpft Salomé sexuelle Lust, Konstanty wiederum ist dieser brutalen Umgangsweise nicht abgeneigt: Sala musste ich einmal ins Gesicht schlagen, als sie bei einem Streit schon unsere Nummer über die Zentrale bestellt hatte, um Hela am Telefon alles zu gestehen. Sie stürzte sich mit Fäusten auf mich, und als ich ihre Unterarme packte, drückte sie sich mit dem Körper gegen mich, heiß wie eine läufige Katze, und biss mir in die Lippen. Ich konnte nicht nach Hause, wie hätte ich die blutenden Lippen erklären sollen? 37 Es ist eher unwahrscheinlich, dass Salomé Konstanty Ehefrau tatsächlich an‐ rufen wollte, viel wahrscheinlicher ist eine von ihr angestrebte Provokation. Sie ahnt, wie Willemann auf solch eine Art Andeutung reagieren wird - nämlich mit körperlicher Gewalt, und genau das strebt sie an. Gewalt wird im Verhältnis zwischen Salomé und Konstanty mit der Zeit zu etwas beinahe Alltäglichem, dabei scheint sich Konstanty sogar auf den nietzscheanischen Spruch zu be‐ ziehen: […] Ich hämmere, würde das dünne Holz zerbeißen, doch sie macht auf, steht vor mir, die Hure, Salomé, also gebe ich ihr schon im Flur eins ins Gesicht, so muss man mit ihr reden, habe die Peitsche nicht vergessen, da ich zur Frau gehe, ich bin Konstanty Willemann, und mein ist die Kraft, und sie, Salomé, muss diese Macht anerkennen und tut das auch, wieder bin ich der Konstanty, den sie kennt, den sie erobert und um den Finger gewickelt hat und dem sie sich in ihrer Eroberung gleichzeitig unterworfen hat. 38 Vollkommen unterschiedlich gestalten sich die Körperbeschreibungen bei He‐ lena und Salomé. Während Helenas Körperlichkeit von Konstanty als etwas Steriles, Kaltes und Distanziertes dargestellt wird, ist Salomés Körperlichkeit authentisch und nicht retuschiert: Als ich mir schon an der Tür die Schuhe zubinde, kommt Sala aus dem Schlafzimmer. Nackt, die Augen Spalten, die Lider wie mit dem Messer aufgeschlitzt, nackt, mit zer‐ zaustem Haar, sie versucht gar nicht erst, die Brust oder den Schritt zu bedecken. Mich widert der Anblick ihrer Brüste an, dralle Hautkugeln, die Warzen darauf wie die Köpfchen von Geschwüren, und mich widert der Anblick des haarigen Urwalds an, der bis auf die Schenkel reicht und sich in dunkler Linie gefährlich dem abscheulichen Knäuel des Nabels nähert. 39 333 Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs Roman Morphin 40 Ebd., S. 34. 41 Hartwig, „Kein ganz gewöhnlicher Freier“, S. 58. 42 Katrin Hillgruber, „Szczepan Twardochs Roman „Morphin“ ist fatalistisch“, in: Badische Zeitung vom 9. Mai 2014. 43 Joanna Maj, „Schlesische Identität als das Fehlen oder die Vielheit von Identitäten. Szczepan Twardochs Morphin“, in: Rafał Biskup (Hrsg.), Schlesien - Grenzliterarisch, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig, 2015, S. 178. 44 Twardoch, Morphin, S. 83. „Ich glaube, alle Frauen sind gleich, Salas Abneigung gegen die Treue und Helas Hass auf die Untreue sind ein und dieselbe Emotion, dasselbe Prinzip, die Essenz der großen Allfrau“ 40 , lässt Twardoch seinen Haupthelden sagen. Helena und Salomé bilden zwei Gegenpole. „Zwei perfekt abgestimmte Klischees: hier die ‚Allfrau‘ Sala, orientalisch, verdorben und lüstern, dort die beherrschte, pflicht‐ bewusste Hela, deren Sinne stumm bleiben“, so Ina Hartwig. 41 Katrin Hillgruber dagegen stellt in ihrer Rezension folgendes fest: In Wahrheit nämlich wird der 30-jährige Konstanty von zwei anderen Frauen be‐ herrscht: seiner als Teufelin oder „weiße Adlerin“ dargestellten Mutter, die ihn immer noch finanziell unterstützt und dadurch an sich bindet […] und seiner jüdischen Ge‐ liebten Salome. Die rothaarige Edelprostituierte zeichnet der Autor als ein orgiasti‐ sches Vollweib sondergleichen. Dabei spart er nicht an entsprechenden Attributen, die den pornographischen Kitsch nicht scheuen: „später ließ sie die Zeichnung rahmen und hängte sie über die Tür, geraffter Rock, die dunkle Stelle darunter, Urheimat der Männer, die Hände auf den weißen Schenkeln, nah am Schritt, als würde sie sich selbst die trägen Beine auseinanderdrücken.“ 42 2.3 Katarzyna Willemann - zwischen Eros und Wahnsinn Den Archetypus der psychisch gestörten Weiblichkeit verkörpert in Twardochs Roman Konstantys Mutter, Katarzyna Willemann. Joanna Maj betont, dass ge‐ rade die „körperliche, atavistische Ordnung“ das Wesen von Konstantys Mutter bestimmt: „Sie wird von biologischen Instinkten gelenkt, sie gehorcht ihrem Körper, seinen Launen und seinem Verlangen.“ 43 Auch in ihrem Fall spielen mütterliche Instinkte eine tragende Rolle, wenn es um die Definierung ihrer Weiblichkeit geht. Diese Instinkte haben jedoch krankhafte, perverse Züge, um‐ schrieben werden sie mithilfe einer Blut-und-Boden Narration. Sexuell angezogen wird Konstantys Mutter vor allem durch eins: durch kör‐ perliche Kraft. Ihre erste sexuelle Erfahrung hatte Katarzyna mit sechzehn Jahren mit dem fünfundzwanzigjährigen Efik, „einem gedrungenen Kerl, der sich um die Pferde und den Wagen des Vaters kümmerte […]“ 44 : 334 Rafał Biskup 45 Ebd., S. 84. 46 „Und jetzt sprach sie von diesen Geliebten: von polnischen Funktionären, deutschen Offizieren, jüdischen Kaufleuten und ihren beschnittenen Pimmeln, von Schleppern und Bergleuten, Lumpen und Grafen und davon, dass keiner, keiner es geschafft hatte, in ihrem Leib neues Leben zu zeugen und dass sie keinen haben wollte, obwohl alle sie sofort geheiratet hätten.“ (ebd., S. 86-87). 47 Ebd., S. 84-85. [Hervorhebungen: R. B.]. Und sie wurde fündig: Er war weder besonders groß noch besonders klein, aber viel, viel größer als bei den griechischen Skulpturen, die sie heimlich in den Bildbänden des Vaters betrachtete - was sie leicht überraschte, zugleich ungeheuer erregte, er war ganz schlaff und weich, denn Efik hatte Angst vor dem alten Willemann, er begehrte seine Tochter nicht. Und doch musste er ja gewusst haben, wozu er mit ihr in den Stall ging. Die kleine Katarzyna untersuchte dieses gesunde männliche Glied mit der Neu‐ gier einer Naturwissenschaftlerin, und es gedieh gut unter dieser Neugier und gefiel ihr so sehr, dass sie es am Ende küsste und Efik einen Augenblick lang aufhörte, den alten Herrn Willemann zu fürchten, er nahm das Mädchen bei der Hand, legte es auf einen Hafersack, schob hoch, was hochzuschieben war, riss auf, was aufzureißen war und zerriss, was nur einmal zerreißt. 45 Katarzynas Sexualität ist von nymphomanischen 46 und voyeuristischen Zügen durchdrungen, was auch ihrem Vater nicht entgeht, der seine Tochter bei einem Geschlechtsakt überrascht, der jedoch nicht imstande ist, darauf entsprechend zu reagieren: Danach gab sie sich ihm viele Male hin, bis sie schließlich der Vater überraschte, der seit langem den Verdacht hatte, dass seine Tochter krank sei. Hysterikerin. Nympho‐ manin. So viele Male hatte er durch die angelehnte Tür gesehen, wie sie sich selbst unter der Decke oder beim Bad berührte. Und jetzt sah er die prallen Hinterbacken des Stallknechts, seine breiten Schultern und über diese Schultern das Gesicht der eigenen Tochter. Und sie sah ihn und wusste, was kommen würde, beschloss dennoch, keine Angst zu haben, und hatte auch keine. Sie schaute dem Vater direkt in die Augen, über Efiks Schulter hinweg, legte die Hände auf sein Gesäß und zog ihn an sich, und der Vater stand wie gefroren da, stand ohnmächtig, Scham, die beim Anblick der Schamlosigkeit gerann wie Natrium an der Luft. 47 Ähnlich wie bei Helena Willemann ist auch bei Katarzyna die Sphäre des Wei‐ blichen eng mit der Sphäre des Nationalen verflochten. Katarzyna Willemann beschloss in ihrer Jugend Polin zu werden, und sie versucht, ihre nationale Ge‐ sinnung an Konstanty (jedenfalls zu Anfang des Romans) zu vererben: ihr Sohn soll Samenspender sein, er soll so viele Frauen wir möglich ‚befruchten‘. Bei der Wahl der Partnerinnen soll sich der Sohn nach folgenden Kriterien richten: 335 Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs Roman Morphin 48 Ebd., S. 81. 49 Ebd., S. 90. 50 Ebd., S. 229. 51 Maj, „Schlesische Identität als das Fehlen“, S. 178. Denk daran, dich jetzt mit vielen Frauen zu paaren, such dir die Wollüstigen, Geilen und Verdorbenen, Fötzchen, die viele männliche Glieder beherbergt haben, reine Frauen rühr nicht an, Jungfrauen saugen deine Manneskraft aus. Dein Polentum ver‐ langt Gülle, verlangt Jauche als Dünger, nicht die unfruchtbare Weiblichkeit der Jung‐ frauen. 48 Und weiter: Denk daran, mein Sohn, wenn Du in ihre [polnischen] Möschen eindringst, befriedigst du nicht nur Dein Tier, dann vollziehst Du die Vereinigung mit der Essenz von Polen. Denk nicht an diese Frauen, sie sind nur Fleisch: Denk dann an Polen. 49 Vor allem jedoch ist bei Katarzyna Willemann die Zugehörigkeit zu einer Na‐ tion / einem Volk eine Entscheidungsfrage: Du kannst es nicht verstehen: Zwischen der damaligen Entscheidung, Polin zu werden, und der jetzigen, Deutsche zu werden, verläuft eine gerade Linie: Deine Mutter ist der reine Wille, deine Mutter kommt dem Göttlichen nahe, und wenn sie wollte, könnte sie mit ihrem Willen Hitler aufhalten, könnte der Sonne am Horizont Einhalt gebieten. 50 Katarzyna Willemann ermuntert ihren Sohn pausenlos dazu - bevor sie im Laufe des Romans „die Seiten wechseln wird“ und sich wieder als Deutsche zu defi‐ nieren beginnt - durch den geschlechtlichen Akt, wie Joanna Maj feststellt, „das metaphysische Polentum“ zu durchdringen: Zum sexuellen Verkehr mit polnischen Frauen rät die Mutter Konstanty, um das me‐ taphysische Polentum zu erfahren. Die Nationalität bedeutet hier die Gemeinschaft mit dem Ethnos. Die Vereinigung mit ihm wird physiologisch, biologisch erlangt. 51 2.4 Eine Droge als Erzählerin? Im Roman Morphin wird nicht ausdrücklich gesagt, wem die weibliche Erzäh‐ lerstimme gehört, die sich so oft an den Haupthelden richtet, das Geschehen kommentiert, ins Unterbewusstsein der Protagonisten eindringt. Sicher ist, es ist eine Frauenstimme. „Sie ist weiblich und hat erotische Anwandlungen. Eher 336 Rafał Biskup 52 Schnitzler, „Vaterland ist Blödsinn“, S. 10. 53 Twardoch, Morphin, S. 286. 54 Kijowska, „Die Sprache in mir“, S. 31. 55 Schnitzler, „Vaterland ist Blödsinn“, S. 10. Schutzteufelin als Schutzengel […]“ 52 , so Mathias Schnitzler. In Morphin heißt es: Ich sehe, wie die dunkle Substanz, die unter der Haut der Welt pulsiert, ihre Fühler ausstreckt […] Ich bin die schwarze Göttin. Ich spreche in der Zunge der Menschen und der Engel. Ich lasse die Fühler steigen, lasse sie unter der Tür durchgleiten, lasse sie in Konstantys Schlafzimmer dringen, unter die Bettdecke. 53 Marta Kijowska beschreibt in der „Neuen Züricher Zeitung“ die „stärkste“ (! ) weibliche Protagonistin im Roman folgendermaßen: Am, stärksten von allen ist aber die geheimnisvolle, ungenannte Schicksalsgöttin, die ihn ständig begleitet. Eine zweite Erzählinstanz, „seine einzige Freundin, seine wahre Geliebte“, die auch seine Vergangenheit und seine Zukunft kennt. Er sieht sie nicht, doch er weiß, es sei „ein weibliches Element, das der Erde, der Feuchtigkeit und des Mondes.“ 54 Ohne an dieser Stelle ein letztes Urteil fällen zu wollen, ist die „allwissende Erzählerin“ niemand - oder nichts - anderes als die Droge selbst. Zwar ist der Name nicht einer Göttin, sondern Morpheus entliehen, der Sexus von Morphin ist jedoch in polnischer Sprache ein Femininum (ähnlich wie in deutscher Sprache die Droge). Die Droge also relativiert alles, sie agiert außer Raum und Zeit. Einerseits verweist sie auf das Dämonische (schwarze Göttin), andererseits auf das Göttliche (Ich spreche in der Zunge der Menschen und der Engel - Verweis auf das Hohelied der Liebe aus dem 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs (1 Kor 13,1-13 EU ) des Paulus von Tarsus). 3. Schlussfolgerungen Über die weiblichen Figuren in Twardochs Morphin schreibt Mathias Schnitzler Folgendes: „Ausnahmslos alle Figuren in diesem Roman sind pathologische Cha‐ raktere: die Männer auf jämmerliche Weise, die Frauen perfide und eiskalt. Mutterkomplexe, Impotenz, körperliche und sexuelle Gewalt (auch weib‐ liche) […] sind an der Tagesordnung.“ 55 Twardoch spielt mit Archetypen des Weiblichen und setzt diese der schaffenden Kraft des Logos gegenüber (Salomé als Zeichnungsobjekt). Das Weibliche setzt Twardoch ebenfalls dem Nationalen entgegen. In Morphin ist gerade diese Verbindung von tragender Bedeutung. Die 337 Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs Roman Morphin ‚Achse des Weiblichen‘ ergänzt nicht nur den Haupthelden, sondern bestimmt seine Identität und sein Wesen. Bibliographie „Buch der Woche“, B. Z. am Sonntag vom 27. April 2014. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, hrsg. von Albrecht Schöne, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1994. Ina Hartwig, „Kein ganz gewöhnlicher Freier“, in: Die Zeit vom 10. April 2014. Katrin Hillgruber, „Szczepan Twardochs Roman „Morphin“ ist fatalistisch“, in: Badische Zeitung vom 9. Mai 2014. Marta Kijowska, „Die Sprache in mir“, in: Neue Züricher Zeitung vom 2. Juni 2014. Joanna Maj, „Schlesische Identität als das Fehlen oder die Vielheit von Identitäten. Szczepan Twardochs Morphin“, in: Rafał Biskup (Hrsg.), Schlesien - Grenzliterarisch, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig, 2015, S. 177-183. Mathias Schnitzler, „Vaterland ist Blödsinn“, in: Berliner Zeitung vom 3. Mai 2014. Szczepan Twardoch, Morphin, Rowohlt Verlag, Berlin, 2014. http: / / universal_lexikon.deacademic.com/ 224920/ Das_Ewigweibliche, (letzter Zugriff am 26. März 2017). 338 Rafał Biskup Autorenverzeichnis Antonius Baehr Studierte Germanistik und Anglistik (Staatsexamen höheres Lehramt) an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg im Breisgau. Seit 2016 arbeitet er an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg / i.Br. an seinem Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel Venus-Dichtungen im Barock. Zu seinen Forschungsschwer‐ punkten gehören: Antike- und Mythenrezeption, Intertextualität und Interme‐ dialität, Barocklyrik. Rafał Biskup Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wrocław. Forschungsschwer‐ punkte: die deutsche Literatur im 18. und 19. Jahrhundert, die Literatur Schle‐ siens, Regionalismus und Erforschung von Grenzräumen. Herausgeber u. a. von dem Band Schlesien - Grenzliterarisch (Leipzig 2015). Wolfgang Brylla Studierte Germanistik an der Universität Zielona Góra und der Justus- Liebig-Universität Gießen. Promovierte 2013 über Hans Fallada im Kontext der Raum- und Erzähltheorie (Berlin als Raum. Hans Falladas erzählte Großstadt) - für diese Arbeit wurde er 2014 mit dem 1. Preis der Polnischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Literatur und Kultur deutschsprachiger Länder an der Universität Zielona Góra. Albrecht Classen Ph.D., University Distinguished Professor an der University of Arizona. Seit 1987 Lehrstuhl für die Literatur des deutschen Mittelalters und der Frühneuzeit. Autor von mehr als 90 wissenschaftlichen Büchern über deutsche und europä‐ ische Dichter und Texte vom 8. bis zum 18. Jahrhundert. Zuletzt erschienen u. a. Reading Medieval European Women Writers: Strong Literary Witnesses from the Past (2016), Bodily and Spiritual Hygiene in Medieval and Early Modern Literature (Hg., 2017) und Water in Medieval Literature: An Ecocritical Reading (2017). He‐ rausgeber der Zeitschriften Mediaevistik und Humanities Open Access. Marlene Frenzel Seit 2015 Doktorandin an der Universität Potsdam. Sie promoviert als Stipen‐ diatin des Landes Brandenburgs und der Potsdam Graduate School zu Berlin in der Erzählliteratur der Weimarer Republik. Publikationen zu Berlin als literari‐ scher Raum, der Verbindung von Literatur und Geographie sowie zu Hans Fal‐ lada. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur der Weimarer Republik, literaturwissenschaftliche Raumtheorie, Gedächtnis- und Erinnerungskonzepte sowie Angewandte Literaturwissenschaft (Literatur- und Kulturmanagement). Maciej Jędrzejewski Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Warschauer Universität. Seine Forschungsinteressen konzentrieren sich v. a. auf die gegen‐ wärtige deutschsprachige Literatur. Zu den wichtigsten Publikationen gehört die Dissertation »Und siehe, der Rebell kam, sah und siegte«. Zum Leben und Werk Jörg Fausers. Versuch einer Monografie (Warschau 2011). Andrey Kotin Germanist, tätig an der Universität Zielona Góra (Fachgebiet: Literaturwissen‐ schaft). Magisterarbeit über die Entwicklung des Protagonisten in sechs ausge‐ wählten Romanen von Hermann Hesse. Doktorarbeit zu den Außenseiterfi‐ guren in der deutsch- und russischsprachigen Prosa des 19.-21. Jahrhunderts. Habilitation zum Thema »Vladimir Nabokov und Deutschland« (Arbeitstitel: Deutsche Schatten in Nabokovs Licht) ist aktuell im Entstehen. Cezary Lipiński Germanist, Professor an der Universität Zielona Góra. Forschungsschwer‐ punkte: deutsche Mystik, Literatur und Kultur Schlesiens, Verhältnis zwischen Kunst und Religion, deutsche Literatur des Barock und der Romantik, Litera‐ turdidaktik. Manuel Mackasare Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhls Neugermanistik und Didaktik der Literatur an der Ruhr-Universität Bochum. In seiner Dissertationsschrift Klassik und Didaktik 1871-1914 befasste er sich mit Schnittstellen literarischen, anthropologischen und pädagogischen Wissens. Die Arbeit wurde mit dem Dis‐ sertationspreis 2017 des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen ausge‐ zeichnet. Sein gegenwärtiges Interesse gilt anthropologischen Vorstellungen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Letzte Publikation: Klassik und Didaktik 1871-1914. Zur Konstituierung eines literarischen Kanons im Kontext des deut‐ schen Unterrichts (Berlin 2017). Anja Manneck Arbeitet nach dem Studium des höheren Lehramts mit den Fächern Deutsch und Chemie an der CAU Kiel seit 2010 als Studienrätin am Wolfgang-Borchert-Gym‐ nasium in Halstenbek. Aktive Vortragstätigkeit im In- und Ausland. Forschungs‐ 340 Autorenverzeichnis schwerpunkte: Romane der 1950er Jahre, Filmanalyse im Deutschunterricht sowie das Dissertationsprojekt »Erotikkonzeption im Werke Frank Wedekinds« an der Universität Passau. Oxana Matiychuk Germanistin. Lehrt ausländische Literaturgeschichte an der Jurij Fedkowytsch Universität Tscherniwzi / Czernowitz (Ukraine). Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur der Bukowina, deutschsprachige Literatur nach 1945 und Poetologie. Publikationen u. a. über Rose Ausländer, Handschriftenfor‐ schung und poetologische Lyrik. Elisa Meyer Arbeitet an der Universität Wien als Doktorandin und wissenschaftliche Assis‐ tentin zu Robert Musils Fragment Der Mann ohne Eigenschaften. Forschungs‐ schwerpunkte: Identitätskonzepte, das Konzept der Leiblichkeit, Phänomeno‐ logie, leibliche Kommunikation und Sexualität. Karolina Rapp Germanistin. Promovierte 2015 an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań. Seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Uni‐ versität Zielona Góra. Forschungsschwerpunkte: Reiseliteratur, Postkolonia‐ lismus, Transkulturalität und Literatur sowie Räume der Hybridisierung von Kultur und Literatur. Arletta Szmorhun Prof. Dr. habil. Studierte Germanistik an er Universität Wrocław. 2016 habili‐ tierte sie sich an der Neophilologischen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Univer‐ sität in Poznań zum Thema Häusliche Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte: österreichische Literatur nach 1945, neueste deutschsprachige Literatur, Literatur und Gedächtnis, Gender Studies, Macht- und Gewaltdiskurs, Raumdiskurs, Körperdiskurs. Maciej Walkowiak, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Adam-Mickiewicz Universität Poznań, wo er 1984-1989 Germanistik studierte. 1998 promovierte er zum Thema Kunst, Geschichte und der Standort des Intellektuellen. Gottfried Benn und die Kontro‐ versen der Moderne. 2008 erschien seine Habilitationsschrift Ernst von Salomons autobiographische Romane als literarische Selbstgestaltungsstrategien im Kontext der historisch-politischen Semantik. Ausgewählte Forschungsschwerpunkte: Li‐ teratur der Weimarer Republik und im Dritten Reich, die deutschsprachige Exil‐ literatur und die Literatur der inneren Emigration, W. G. Sebald, Fragen der li‐ terarischen (Post-)Moderne. Mitglied des Verbands Polnischer Germanisten. 341 Autorenverzeichnis Marta Wimmer Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Österreichische Literatur und Kultur an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań. Forschungsschwer‐ punkte: Manifestationen des Hasses, österreichische Literatur nach 1945, deutschsprachige Literatur des 21. Jahrhunderts, Gender und Queer Studies. Letzte Buchveröffentlichung: Poetik des Hasses in der österreichischen Literatur. Studien zu ausgewählten Texten (2014). Verena Zankl Mitarbeiterin des Forschungsinstituts Brenner-Archiv an der Universität Inns‐ bruck, aktuell im FWF -Projekt »Der Südtiroler Autor Joseph Zoderer - Neu‐ verortung und kritische Neubewertung des Gesamtwerks unter Einbeziehung des erstmals zugänglichen Vorlasses«. Sie promovierte 2014 zum Thema »Chris‐ tine Busta und Johannes Urzidil. Briefwechsel 1957 bis 1970. Kritischer Text und Kommentar«. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Editionsphilologie, Briefforschung, Literatur der Nachkriegszeit und der 1950er und 1960er Jahre in Tirol und Österreich, Literatur aus Südtirol. Irene Zanol Mitarbeiterin des Forschungsinstituts Brenner-Archiv an der Universität Inns‐ bruck, aktuell im FWF -Projekt »Der Südtiroler Autor Joseph Zoderer - Neu‐ verortung und kritische Neubewertung des Gesamtwerks unter Einbeziehung des erstmals zugänglichen Vorlasses«. Mitherausgeberin der Sämtlichen Werke Ernst Tollers (Wallstein, 2014) und der Kommentierten Ausgabe der Briefe Ernst Tollers (ebd., 2017). Forschungsschwerpunkte: Editionswissenschaft, Brieffor‐ schung, Zeitschriftenforschung, Österreichische Literatur und Literatur aus Südtirol, Digital Humanities. Paweł Zimniak Prof. Dr. habil. Studierte Germanistik 1984-1989 in Zielona Góra und Berlin, promovierte 1995 und habilitierte sich 2007 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsaufenthalte an den Universitäten in Tübingen, Er‐ langen-Nürnberg und Gießen. Seit 2006 Direktor des Instituts für Germanistik der Universität Zielona Góra. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Ge‐ dächtnis, Macht- und Kriegsdiskurse, Narratologie, literarischer Regionalismus. Letzte Publikation: Großer Krieg kleiner Leute. Perspektivierungen des Ersten Weltkriegs in der polnischen Literatur 1914-1920. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2016. 342 Autorenverzeichnis Eros und Logos Classen / Brylla / Kotin (Hrsg.) Eros und Logos Albrecht Classen / Wolfgang Brylla Andrey Kotin (Hrsg.) Die literarische Bearbeitung des Erotischen scheint eine der schwierigsten künstlerischen Aufgaben zu sein, hat aber stets noch provozierend und stimulierend gewirkt. Die damit verbundenen Probleme sind, abhängig von der Epoche, unterschiedlich: Im 19. Jahrhundert mussten sich die Autoren aller (un-) möglichen Metaphern bedienen, um Erotik zu verbildlichen. Andererseits stößt man in der mittelalterlichen Minnesang- Dichtung und in den Verserzählungen auf Manches, was die liberalsten Verleger auch heute noch in Verlegenheit bringen würde. Dieser Band zu den verschiedenen Sexualitätsbildern in der (deutschsprachigen) Literatur nimmt die historische Komplexität des Problemfeldes ‚Sexualität‘ anhand ausgewählter Textbeispiele literaturästhetisch in den Blick und nutzt analytische Kriterien, um neues Licht auf die verschiedenen literarhistorischen Epochen und kulturellen Bedingungen literarischer Erotik zu werfen. ISBN 978-3-8233-8123-5 Literarische Formen des sinnlichen Begehrens in der (deutschsprachigen) Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart Popular Fiction Studies 4 Popular Fiction Studies 4